Alexander Grasse • Carmen Ludwig • Berthold Dietz (Hrsg.) Soziale Gerechtigkeit
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Alexander Grasse • Carmen Ludwig • Berthold Dietz (Hrsg.) Soziale Gerechtigkeit
Alexander Grasse Carmen Ludwig Berthold Dietz (Hrsg.)
Soziale Gerechtigkeit Reformpolitik am Scheideweg Festschrift fur Dieter EiBel zum 65.Geburtstag
VS VERLAG FUR SOZIALWISSENSCHAFTEN
Bibliografische information Der Deutschen NationalblblJothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikatlon in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im internet uber abrufbar.
Das vorliegende Buch wurde gefordert durch die Max-TraegerStiftung, wissenschaftliche Stiftung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Die Stiftung, benannt nach Max Traeger (1887-1960), dem Grtindungsvorsitzenden der GEW, fordert die wissenschaftliche Erforschung von Erziehung, Schule, Hochschule und Weiterbildung. Die Herausgeber bedanl<en sich hiermit herzlich fur die gewahrte finanzielle Untersttitzung zur Realisierung des Projel
1. Auflage September 2006 AHe Rechte vorbehalten © VS verlag fur Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Frank Schindler / Nadine Kinne Der VS Verlag fur Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Buslness Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschlieBlich aller seiner Telle ist urheberrechtlich geschiJtzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfaltigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten waren und daher von jedermann benutzt werden diirften. Umschlaggestaltung: KiinkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: MercedesDruck, Berlin Gedruckt auf saurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN-10 3-531-15021-9 ISBN-13 978-3-531-15021-5
Fur Dieter Eijiel zum 65. Geburtstag am 15. September 2006
Inhalt
Klare Positionen und starkes Engagement Ein Grufiwort von Klaus Fritzsche
13
1 Einleitung Alexander Grasse / Carmen Ludwig /BertholdDietz Problemfeld „soziale Gerechtigkeit" - Motive, Inhalte und Perspektiven
17
Ernst-Ulrich Huster Solidaritat und Gerechtigkeit als Lebensentwurf - eine personliche Hinfiihrung
37
2 Anspruch und Wirklichkeit von Gerechtigkeit in der deutschen Gegenwart Friedhelm Hengsbach SJ. „Wer siegt, hat Recht"? Das kapitalistische Regime unter dem Anspruch der Gerechtigkeit
53
Benjamin Benz /Jurgen Boeckh Theorie, Struktur und Zukunft des Sozialstaats
71
Gottfried Erb Reichtum - ein Tabuthema. Wachsende soziale Ungerechtigkeit in Deutschland
89
Berthold Dietz / Carmen Ludwig Armut in Deutschland
99
3 Aktuelle Diskussionen, Politikfelder und territoriale Aspekte Christoph Butterwegge Generationengerechtigkeit - politischer Kampfbegriff oder sinnvolle Neuinterpretation der sozialen Frage? Kritische Anmerkungen zu einem Kemaspekt des aktuellen Gerechtigkeitsdiskurses in Deutschland
117
Alexander Grasse Territoriale Gerechtigkeit im deutschen Bundesstaat - Reformen im Spagat von Wachstums- und Verteilungsproblemen
129
Rudolf Hickel Offentliche Armut im privaten Reichtum - Kritik der allokativen und distributiven Wirkungen des Systemwechsels zu einer einheitlichen Untemehmensbesteuerung
151
Gerhard Backer Niedrig- und Kombi-Lohne: soziale Spaltung start Abbau der Arbeitslosigkeit
167
Jutta Trdger Soziale Gerechtigkeit fiir Familien und Frauen in Deutschland - umdenken im Bereich der staatlichen Forderungspolitik!
179
Bernd Kafiebaum Bildung und soziale Gerechtigkeit
191
Peter Henkenborg Freiheit bewaltigen - politische Bildung und die Herausforderung der Gerechtigkeit
203
Peter Schmidt /Phillip Winkelnkemper /Elmar Schluter / Carina Wolf Welche Erklarung fiir Fremdenfeindlichkeit: relative Deprivation oder Autoritarismus?
215
Adalbert Evers / Claudia Wiesner Das Programm „Soziale Stadt" in Hessen - veranderte Konzepte der Armutsbekampfiing verlangen neue Formen lokaler Politik und Steuerung
225
4 Europaische Entwicklungen und Internationale Perspektiven Karl Georg Zinn Kulturelle Unterschiede als EinfluBgroBen auf das wirtschafts- und gesellschaftspolitische Handeln - zu den nationalen Differenzen in der Wahmehmung sozialer Gerechtigkeit
243
Jeremy Leaman Soziale Gerechtigkeit in GroBbritannien - ein Modell fiir Deutschland und Europa?
257
Christine Stelzer-Orthofer / Johann Bacher Sozialabbau und Neokonservativismus in Osterreich
271
Ewa Rokicka / Wielislawa Warzywoda-Kruszynska Social Justice and Social Inequalities - Analysis of the Public Discourse in Poland
285
Procopis Papastratis Aspects of Unemployment in Greece
303
Udo Bullmann /Johannes Loheide Europa als entscheidendes Feld sozialer Auseinandersetzungen
311
Jorg Huffschmid Emeuerung des Sozialstaates gegen die Herrschafl der Finanzmarkte Herausforderungen demokratischer Wirtschaftspolitik in Europa
331
Margit Schratzenstaller Steuergerechtigkeit und personliche Einkommensbesteuerung - aktuelle Entwicklungen in europaischer Perspektive
345
Hanne-Margret Birckenbach Soziale Gerechtigkeit als Menschenrecht: zum Europaischen des europaischen Sozialmodells
359
Reimund Seidelmann Soziale Gerechtigkeit im intemationalen System - eine Problemskizze
373
Uta Ruppert Geschlechtergerechtigkeit in der Globalisierung: von Ungleichheitslagen zu Gerechtigkeitsanspruchen
383
5 Anhang Verzeichnis der Schriften von Dieter EiBel
397
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
411
Abkiirzungsverzeichnis
AEMR AHC ALG ALLBUS ALQ AWO BAG BafbG BEIGEWUM BFSFJ BGB BHC BIP BIS BMAS BMBF BMFSFJ BMGSS BSHG BVerfG BVJ CCCS CDU CGT CGIL CIT COMP CSU DASS DGB Difti DIW DPWV EAGL EBA ECOFIN ECTS ECVET EFRE EG EGV EMRK EP ESC ESF ESPHCA
10
Allgemeine Erklamng der Menschenrechte After Housing Costs Arbeitslosengeld Allgemeine Bevolkerungsbefragung der Sozialwissenschaften Arbeitslosenquote Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. Bundesausbildungsfbrderungsgesetz Beirat fiir gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Altemativen siehe BMFSFJ Burgerliches Gesetzbuch Before Housing Costs Bruttoinlandprodukt Bank fiir intemationalen Zahlungsausgleich Bundesministerium fiir Arbeit und Soziales Bundesministerium fiir Bildung und Forschung Bundesministerium fiir Familie, Senioren, Frauen und Jugend Bundesministerium fur Gesundheit und Soziale Sicherung Bundessozialhilfegesetz Bundesverfassungsgericht Berufsvorbereitungsjahr Centre for Contemporary Cultural Studies Christlich Demokratische Union Confederation generale du travail; grofite franzosische Gewerkschaft Confederazione Generale Italiana del Lavoro; groBte italienische Gewerkschaft Corporal Income Tax Rat Wettbewerbsfahigkeit Christlich Soziale Union Direktion fiir Sozial- und Gesundheitsangelegenheiten Deutscher Gewerkschaftsbund Deutsches Institut fiir Urbanistik Deutsches Institut fiir Wirtschaftsforschung Deutscher Paritatischer Wohlfahrtsverband Europaischer Ausrichtungs- und Garantiefonds fiir die Landwirtschaft Eingliederungslehrgang in die Berufs- und Arbeitsgesellschaft Rat Wirtschaft und Finanzen European Credit Transfer System European Credit System for Vocational Education and Training Europaischer Fonds fiir Regionale Entwicklung Europaische Gemeinschaft Vertrag zur Grundung der Europaischen Gemeinschaft Europaische Konvention der Menschenrechte und Grundfreiheiten Europaisches Parlament Europaische Sozialcharta Europaischer Sozialfonds Rat Beschaftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz
ESZB EU EuGH EVP EVS EWG EZB FAG FDP FIAF FGTB FU Berlin FPO GATS GBB GD GDI GEM GEW GG GSEE/ADEDY HIP lAB lAO IGBCE IGKE IG Metall IB IGLU ILO lOM ISSP IWF JuLis JSA KKS KMU KPMG LAQ LAU MaBstG MGSFF NAP NGO NGP OECD OVP PASOK PDS PISA
Europaisches System der Zentralbanken Europaische Union Europaischer Gerichtshof Europaische Volkspartei Einkommens- und Verbraucherstichprobe Europaische Wirtschaftsgemeinschaft Europaische Zentralbank Finanzausgleichsgesetz Freie Demokratische Partei Finanzinstrument fur die Ausrichtung der Fischerei Federation Generate du Travail de Belgique; belgische Gewerkschafl Freie Universitat Berlin Freiheitliche Partei Osterreichs General Agreement of Trades in Services Gemeinsamer Beschafligungsbericht Generaldirektion Gender Development Index Gender Empowerment Measure Gewerkschafl Erziehung und Wissenschaft Grundgesetz Geniki Synomospondia Ergaton Ellados/Anotaki Diikisidis Enoseon Dimosion Ypalilon; griechische Gewerkschafl Human and Income Poverty Institut fiir Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Internationale Arbeitsorganisation Industriegewerkschafl Bergbau, Chemie, Energie Institut fiir Gesundheitsokonomie und klinische Epidemiologic Industriegewerkschafl Metall Incapacity benefits; „Arbeitsunfahigenhilfe" Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung International Labour Organization International Organization for Migration International Social Survey Programme Intemationaler Wahrungsfonds Junge Liberale Job Seekers Allowance; „Arbeitslosenhilfe" Kaufkraftstandards Kleine und Mittlere Untemehmen Klynveld, Peat, Marwick und Goerdeler; Wirtschaftspriifungs- und Beratungsuntemehmen Langzeitarbeitslosenquote Lemausgangslagen-Untersuchung MaBstabegesetz Ministerium fur Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie Nationaler Aktionsplan Non-Govemmental-Organisation National Gross Product; Bruttoinlandprodukt Organization for Cooperation and Economic Development Osterreichische Volkspartei Panhellenische Sozialistische Bewegung Griechenlands Partei des Demokratischen Sozialismus Programme for International Student Assessment
11
PIT PRL SA SGB SGMG SOEP SPD SPO SSO StWG SVR SYRIZA TAG UNCTAD UNDP UNICEF UNIFEM UNO
uv
VBE Ver.di VN VR WASG WHO WTO
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Personal Income Tax Polish People's Republic Soziale Armut Sozialgesetzbuch Schweizerische Gesellschaft fiir medizinische Genetik Soziookonomisches Panel Sozialdemokratische Partei Deutschlands Sozialdemokratische Partei Osterreichs Sozialer Survey Ostereichs Stabilitats- und Wachstumsgesetz Sachverstandigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Koalition der radikalen Linken in Griechenland Tagesbetreuungsausbaugesetz United Nations Conference on Trade and Development United Nations Development Programme United Nations Children's Fund United Nations Development Fund for Women United Nations Organisation Unsicherheitsvermeidung Verband Bildung und Erziehung VereinteDienstleistungsgewerkschaft Vereinte Nationen Volksrepublik Wahlaltemative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit World Healing Organisation World Trade Organisation
Klare Positionen und starkes Engagement Ein Grufiwort von Klaus Fritzsche Dekan des Fachbereichs Sozial- und Kulturwissenschaften der Justus-Liebig-Universitat Giefien
So einfach, wie es scheinen konnte, ist es mit diesem GruBwort nicht. Das hat mit der Person zu tun, um die es geht, und soil erklart werden. Seit dreieinhalb Jahrzehnten ist Dieter EiUel nun Mitglied des Instituts fur Politikwissenschaft, unseres Fachbereichs und der Justus-Liebig-Universitat GieBen. Er hat in dieser Zeit Ungezahlte gelehrt und geprtifl. Das ist angesichts der fast immer groBen Zahl unserer Studierenden unvermeidlich. Aber er hat sie, iiber das PflichtmaBige und Notwendige weit hinaus, intensiv beraten, gefordert und nicht wenige von ihnen bis zur Promotion gebracht; immer mit Nachdruck und vielfach mit Begeisterung. Dem entspricht die personliche Resonanz, die er bei den Studierenden hatte und hat - obwohl der von ihm vertretene fachliche Schwerpunkt, die Politische Okonomie, auch fur manche Seufzer und heftigere Abneigungsbekundungen gut war. Eine Vielzahl von Publikationen, Vortragen und Gutachten, mit dem Focus auf Gesellschafts- und Sozialpolitik und mit einer Spannweite von Grundproblemen der Politischen Theorie bis zu ganz unterschiedlichen Tagesfragen, hat ihm Ansehen in der Profession eingetragen. Von diesen Zusammenhangen wird in der Festschrift noch eingehend die Rede sein. Aber er genieBt Respekt auch bei vielen Kolleginnen und Kollegen unserer Universitat, die seinem Each und erst recht der von ihm bezogenen inhaltlichen Position, sagen wir, nicht iibermaBig nahe stehen. Mit seinen vielfaltigen fachlichen Aktivitaten, zudem mit seinen Kompetenzen in Fragen von Studienorganisation und Studienreform und mit seinem kontinuierlichen Einsatz fur den intemationalen Austausch von Studierenden und Lehrenden hat er einen erheblichen Beitrag zum Profil des Fachbereichs - sowohl in dessen friiherer, speziell sozialwissenschaftlicher, wie in der nun seit 1999 bestehenden sozial- und kulturwissenschaftlichen Fasson - geleistet. Er ist, mit einem Wort, zu einer tragenden Saule unserer Arbeit geworden. Dieter EiBel kommt politisch-wissenschaftlich aus der '68er-Generation, und er hat diesen Bezug nicht, wie bekanntlich viele, gewissermaBen mit den kurzen Hosen der Studenten- und Assistentenbewegung abgelegt, auch wenn die seitherigen, weitreichenden Veranderungen der gesellschaftlichen und politischen Welt, von den Hochschulen selbst bis zu den globalen Verhaltnissen, zweifellos ihre Spuren hinterlassen haben. Das konnte bei einem wachen Kopf, der zu keiner Zeit bereit war, das eigene Denken durch handliche Zitate aus blauen oder anderen Banden zu ersetzen, auch nicht anders sein. Aber aus seiner Spur hat er sich nicht bringen lassen. Seine kritischen Potenzen standen nie zur Disposition; Konjunkturen interessieren ihn nur unter fachlichem Aspekt. So ist er eine feste Adresse kritischer Sozialwissenschaft und solidarischen Engagements geblieben, im Institut und im Fachbereich ebenso wie in offentlichen und besonders gewerkschaftlichen Zusammenhangen, als eine deutlich vemehmbare Stimme, ein allezeit parteiloser Parteiergreifender der markanten Art. 13
Wenn nun einer von dieser Konsistenz und Prasenz, der gewissen nordhessischen Sturheit - mit der er manchmal auch kokettiert - und dieser besonderen Mischung aus Bescheidenheit und SelbstbewuBtsein ohne Attitude, radfahrend nur im physisch-realen, aber nicht im tibertragenen Sinn, 65 Jahre alt wird und aus dem aktiven Dienst der JustusLiebig-Universitat ausscheidet, so kann der Umstand selbst keine Freude hervorrufen. Nicht diesem, wohl aber dem sehr geschatzten KoUegen und Mitstreiter gilt daher das GruBwort, mit Nachdruck und Dank - sowie naturlich den Autorinnen und Autoren sowie den Leserinnen und Lesem dieses Bandes. Eines noch zum SchluB. Dieter EiBel hat verlauten lassen, daB er nach seiner Pensionierung einerseits privatisieren, anderseits Einladungen an auslandische Universitaten annehmen und sich deshalb in Zukunft aus Institut und Fachbereich heraushalten wolle. Als langjahriger Dekan und noch viel langerjahriger Kollege sage ich dazu: So sehr ihm die Befreiung von dem bisherigen, dicht gepackten Pflichtenkanon zu gonnen ist - wir wollen nicht hoffen, daB er seine Ankundigung wahr macht. Wir wtirden ihn vermissen.
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1 Einleitung
Alexander Grasse / Carmen Ludwig /BertholdDietz
Problemfeld ,,soziale Gerechtigkeit" - Motive, Inhalte und Perspektiven
Das Thema „soziale Gerechtigkeit" ist in mehrfacher Hinsicht hochaktuell und wird wieder einmal kontrovers diskutiert. Mit dem Versprechen von sozialer Gerechtigkeit konnen Wahlen gewonnen werden, aber Regierungen konnen bei Nichterfullung dieses Postulats auch in Krisen geraten, wie das Beispiel der rot-griinen Koalition der Jahre 1998-2005 in Deutschland zeigt. Die Frage nach der Zukunft der „sozialen Gerechtigkeit" wurde von seiten dieser Bundesregierung - nach anfanglichen punktuellen sozialen Verbesserungen schliefilich mit erheblichen Einschnitten, die den langfristigen Erhalt des deutschen Sozialstaatsmodells ermoglichen sollen, begriindet. Die durchgeftihrten Reformen im Gesundheitssektor, im Bereich der Renten und vor allem die Arbeitsmarktgesetze (Hartz I-IV) haben jedoch bundesweite Proteste hervorgerufen, die wieder einen starkeren materiellen Ausgleich und eine Riicknahme der MaBnahmen einforderten. Inzwischen hat die seit den 1970er Jahren kontinuierlich gestiegene Massenarbeitslosigkeit die Hohe von 5 Mio. erreicht und eine neue „soziale Frage" aufgeworfen. Dies hat mit der Griindung der „Wahlaltemative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit" (WASG) indes sogar zu Veranderungen in der bundesdeutschen Parteienlandschaft gefuhrt. Die neue Linkspartei erhielt bei den Bundestagswahlen 2005 zumindest nicht unbetrachtlichen Zulauf. Nicht zufalHg ist das Thema „soziale Gerechtigkeit" seither in aller Munde. Verbande, Gewerkschaften, zahlreiche gesellschaftliche Gruppen und auch die Kirchen widmen sich ihm mit besonderer Intensitat; der „Katholikentag" im Mai 2006 etwa stand ganz im Zeichen der „Gerechtigkeit". Nahezu alle Parteien, von ganz rechts bis ganz links, nehmen sich des Themas - zumindest rhetorisch - inzwischen ebenfalls wieder verstarkt an. Dabei ist der Begriff der „sozialen Gerechtigkeit", welcher haufig der Beliebigkeit anheimfallt, auch vor populistischem MiBbrauch nicht gefeit, wie seine Instrumentalisierung im rechtsextremen Spektrum zeigt, dort wo Auslanderfeindlichkeit und „soziale Gerechtigkeit" in einen Kontext geraten. Die beiden groBen Volksparteien, SPD und CDU, haben soeben ihre Arbeit an neuen Grundsatzprogrammen eroffnet und dabei die „soziale Gerechtigkeit" wiederentdeckt. Wahrend die SPD nun den „vorsorgenden Sozialstaat" propagiert (und noch zu erklaren haben wird, was genau sich dahinter verbirgt), verlangt die CDU in ihrem neuen Programmslogan „Neue Gerechtigkeit durch mehr Freiheit". Offensichtlich ist also nach Meinung der Parteistrategen etwas in Schieflage geraten in Sachen „Gerechtigkeit", wenn diese sogar neu definiert werden muB. Dabei hat die Union bereits klargestellt, daB ihr Ziel der beschleunigte Ruckzug des Staates ist. Tatsachlich aber sehen nach den Ergebnissen der jiingsten Umfrage von McKinsey, Stem, ZDF und WEB.DE unter dem Titel „Perspektive Deutschland 2005/06", bei der zwischen Ende 2005 und Anfang 2006 uber 600.000 Btirgerinnen und Burger befragt wurden, nur knapp die Halfte, namlich 54%, „mehr Markt" als den richtigen Weg zur Losung
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der drangenden Probleme in den Bereichen Arbeit, Gesundheit und Rente an. Dagegen lehnen iiber drei Viertel der Menschen eine Verscharfung des Gegensatzes zwischen Arm und Reich in Deutschland ab, denn 76% der Befragten wiinschen sich geringere soziale Unterschiede; im Jahr 2004 waren es noch lediglich 57% (Perspektive Deutschland 2006: 30f.). Unabhangig von der Aussagekraft solcher Untersuchungen ist damit jedoch klar, daB die Themen „sozialer Ausgleich" und „soziale Gerechtigkeit" deutlich groBere Aufmerksamkeit erlangt haben und Verteilungsfragen auf die politische Agenda zuriickkehren. Es herrscht bislang allerdings weder Klarheit noch politischer oder gesellschafllicher Konsens dariiber, was tatsachlich „sozial gerecht" ist, was unter „sozialer Gerechtigkeit" zu verstehen ist, wie sie definiert und nicht zuletzt auch verwirklicht werden kann und soil. Die Auseinandersetzung um die Deutungshoheit dieses zentralen, weil politische Mobilisierung ermoglichenden Begriffes, ist neu entbrannt. Im Grundgesetz wurde mit der Verankerung des Sozialstaatsprinzips soziale Gerechtigkeit als Leitprinzip festgeschrieben, an dem sich staatlich-politisches Handeln orientieren soil. Allerdings ist das Sozialstaatsprinzip in der Verfassung nicht naher ausgefuhrt, so daB ein weiter Interpretations- und Gestaltungsspielraum fur die Gesetzgebung und die politischen Parteien besteht. Hinzu kommt, daB soziale Gerechtigkeit komplex ist und mindestens fiinf verschiedene Dimensionen umfaBt (vgl. auch Becker/Hauser 2004 sowie Hengsbach und Dietz/Ludwig in diesem Band): (1) Chancengleichheit als eine Dimension sozialer Gerechtigkeit zielt auf den Ausgleich herkunftsbedingter Ungleichheiten im Lebenslauf, die unter anderem aus individuellen Handicaps, familiaren Rahmenbedingungen und geschlechtsspezifischen Rollenzuteilungen, aber auch aus Erbschaften resultieren konnen. Erbschaften stellen „beim Erben einen leistungslosen ZufluB von Einkommen dar und bewirken bei einer ungleichen Verteilung der Vermogen in der vererbenden Generation eine stark ungleiche Verteilung der Startchancen bei der Erbengeneration" (Huffschmid/EiBel et al. 2004: 81). Mit dem Vermogensreichtum wiederum konnen haufig auch die an die Vermogenswerte gekoppelten sozialen, okonomischen und politischen Funktionen „vererbt" werden (Huster/EiBel 2000). In der Konsequenz kommen insbesondere beim leistungslosen Vermogenserwerb durch Erbschaften „standische Herkunftsprivilegien" zum Tragen. Auf schichtspezifische Unterschiede in der Bildungsbeteiligung und damit auf die Bedeutung des im Eltemhaus vorhandenen okonomischen, sozialen und kulturellen Kapitals (Bourdieu 1983) fiir den Bildungserfolg der Kinder haben in den letzten Jahren vor allem die PISA-Studien aufmerksam gemacht. Mit deren Ergebnissen ist wieder eine etwas aus dem Blick geratene Tatsache ins offentliche BewuBtsein geriickt: Die Minimierung familiar bedingter Ungleichheit in bezug auf die Startchancen des einzelnen ist und bleibt eine zentrale Aufgabe des Staates. Durch verschiedene MaBnahmen, wie etwa die Erbschaftssteuer, eine qualitativ hochwertige Kinderbetreuung im Vorschulalter, individuell ausgerichtete FordermaBnahmen von benachteiligten Schiilerinnen und Schiilem u.v.a.m. kann und muB er korrigierend eingreifen, wenn er Chancengleichheit herstellen will. (2) Chancengleichheit stellt zudem eine Voraussetzung ftir Letstungsgerechtigkeit als weiterer Dimension sozialer Gerechtigkeit dar. Denn nur unter den Bedingungen einer gleichen Startchance kann iiberhaupt von einer Vergleichbarkeit von Leistungen gesprochen werden. Leistungsgerechtigkeit rekurriert auf das Kriterium „relativer Gleichheit" oder Gleichbe-
handlung: Denn in dieser Dimension sozialer Gerechtigkeit erscheinen Ungleichheiten solange legitim, wie sie dem Resultat unterschiedlicher Leistungen entsprechen. Dabei liegt dem Leistungsprinzip allerdings eine „eigentumliche Ambivalenz" (Offe 1973: 43) zugrunde, da es auf der einen Seite Gleichheit bedingt, auf der anderen Seite aber Ungleichheiten legitimiert. So entstammt die gesellschaftspolitische Intention des Leistungsprinzips einerseits der Tradition des egalitaren Denkens: Nicht mehr die Geburt, wie in feudalstandischen Gesellschaften, oder askriptive Merkmale sollen in einer meritokratischen Gesellschaft uber den Status entscheiden. Stattdessen zeichnet sich der an Leistung orientierte gesellschaftliche Verteilungsmodus durch die individuelle Erbringung und Zurechenbarkeit von Leistung aus (Honneth 1994). Andererseits fungiert das Leistungsprinzip nicht nur als Norm, die Gleichheit gewahrleisten soil, sondem ebensosehr als Legitimationsprinzip gesellschaftlicher Ungleichheiten (Offe 1973: 43f). Insbesondere Offe und Bourdieu haben dem Leistungsprinzip dabei eine „Ideologiefunktion" zugeschrieben und kritisiert, daB die Bezugnahme auf das Leistungsprinzip auch der Verschleierung gesellschaftlicher Machtverhaltnisse und Sonderinteressen dienen kann (Offe 1973; Bourdieu/Passeron 1971). Es ist in hohem MaBe umstritten, inwiefem die Verteilung gesellschaftlicher Positionen und des Einkommens tatsachlich leistungsgerecht erfolgt. So haben im Jahr 2004 im Verlauf des sogenannten Mannesmann-Prozesses die Fragen nach dem leistungsgerechten Lohn und der Angemessenheit hoher Managergehalter, welche, verglichen mit dem Einkommen von Facharbeitem, um nahezu das Dreihundertfache gestiegen sind, eine breite offentliche Diskussion ausgelost. Wahrend in politischen Debatten rhetorisch unablassig die Forderung nach Leistung bemiiht wird („Leistung muB sich wieder lohnen"), zeichnet die Wirklichkeit ein ganz anderes Bild: Gegenwartig laBt sich die paradoxe Entwicklung einer Aushohlung des Leistungsprinzips an der Spitze des wirtschaftlichen Erfolges einerseits bei gleichzeitiger Ausweitung des Leistungsprinzips bei den sozialen Verlierem andererseits beobachten (Neckel/Droge 2002). Dem Markt kommt im Kapitalismus die Funktion zu, iiber den Wert von Leistung zu befmden. Die Konkretisierung des Ziels der Leistungsgerechtigkeit iiber die Instanz des Marktes wird jedoch vielfach als unzureichend kritisiert. So weist der Markt - entgegen der neoklassischen Uberzeugung, daB dieser stets Leistungswettbewerbe organisiere - mit seinem Prinzip der okonomischen Rentabilitat grundlegende Unterschiede zum Leistungsprinzip auf. Denn wahrend das Leistungsprinzip durch einen Zusammenhang von Aufwand und Ergebnis gekennzeichnet ist, fiinktioniert der Markt nach einer rein ergebnis- bzw. outputorientierten Logik. Zu den Merkmalen des Markterfolges gehort es, kurzfristig, haufig singular und wenig voraussehbar zu sein. Deshalb entscheiden nicht die Anstrengungen der Marktteilnehmer allein iiber Gewinne oder Verluste, sondem sie sind auch das Ergebnis zufalliger Ereignisse. Davon unterscheidet sich das Leistungsprinzip, das auf dem konstanten Austausch von Wissen, Arbeitskraft und Kompetenz gegen entsprechende Gratifikationen beruht (Neckel/Droge 2002; Neckel/Droge/Somm 2004). Dariiber hinaus sind viele Leistungen einer Marktbewertung allein schon deshalb vollig entzogen, weil sie unentgeltlich erbracht werden, zum Beispiel in der Familie. In der iiber den Markt gesteuerten Leistungsbewertung werden diese unentgeltlich erbrachten Leistungen weder beriicksichtigt noch honoriert, was als ein Gerechtigkeitsdefizit auf der Ebene der Leistungsgerechtigkeit beurteilt werden kann.
19
(3) Die Aufrechterhaltung der in Art. 1, Abs. 1 Grundgesetz garantierten Unantastbarkeit der Menschenwiirde setzt ein gewisses MaB an Bedarfsgerechtigkeit voraus, unabhangig von erbrachten Leistungen. Damit werden dem Leistungsprinzip Grenzen gesetzt und es kommt zu einem Zielkonflikt zwischen diesen beiden Dimensionen. Was als „Bedarf' in welcher Entsprechung gesellschaftlich anerkannt wird, ist immer wieder Gegenstand sozialer und politischer Auseinandersetzungen. Insbesondere mit Bezug auf die Bedarfsgerechtigkeit ist erkennbar, da6 die politischen Parteien sehr unterschiedliche Vorstellungen von einer angemessen Bedarfssicherung haben: Die Ansatze reichen dabei von der Forderung nach einem Ausbau der Bedarfssicherung zu einem bedingungslosen Grundeinkommen bis hin zur weiteren Kiirzung der derzeit bestehenden Sozialleistungen. Die Bedarfsgerechtigkeit fmdet jedoch nicht nur auf der Ebene der monetaren Transfers Anwendung, sondem erstreckt sich auch auf die Bereiche Gesundheit, Wohnen und Bildung. MaBnahmen, die z.B. einen gleichen Zugang zu Bildungseinrichtungen fbrdem, konnen Bedarfsgerechtigkeit und Chancengleichheit zu einem kompiementaren Ziel verbinden. Bedarfsgerechtigkeit gerat jedoch - ahnlich wie die Leistungsgerechtigkeit - durch die zunehmende Dominanz des Marktprinzips und der okonomischen Rentabilitat auch in den Bereichen, die bislang primar nach Prinzipien wie Anrechten und SoHdaritat organisiert waren, zunehmend unter Druck. So kann mit NuUmeier (2004) davon gesprochen werden, daB sich die Legitimation des Sozialstaats weg von Gerechtigkeitsorientierungen hin zu Marktuberlegungen wandelt: Eine gute Sozialpolitik bemiBt sich danach nicht mehr am Kriterium der Bedarfsgerechtigkeit, sondem vielmehr an ihrem Beitrag zur Steigerung der nationalen Wettbewerbsfahigkeit im globalen Kontext. Mit der Okonomisierung des Sozialen geht die Forderung nach Eigenverantwortung einher und damit eine veranderte Zuweisung von Verantwortlichkeit insgesamt, so daB z.B. Arbeitslosigkeit nicht mehr als ein in erster Linie gesellschaftHches Problem erscheint, sondem in die individuelle Verantwortung verlagert wird. (4) Verteilungsgerechtigkeit als weitere fundamentale Kategorie soil die Ungerechtigkeit in der Primarverteilung abmindem und im Sinne der Bedarfsgerechtigkeit das Bereitstellen von Sozialleistungen gewahrleisten. Dies geschieht zum Beispiel durch eine progressive Ausgestaltung der Einkommenssteuer. Die Fordemng nach Verteilungsgerechtigkeit setzt die Annahme voraus, daB die Primarverteilung wirtschaftlicher Guter und sozialer Chancen in unserer Gesellschaftsordnung nicht gerecht oder zumindest nicht von selbst gerecht erfolgt. Sie zielt damit auf eine Ergebniskorrektur der ungleichen gesellschaftlichen Chancenund Primarverteilung. Forst (2005) sieht in der „verteilenden" Gerechtigkeit gar einen iibergeordneten Gmndsatz der Gerechtigkeit. (5) Die neuerdings zunehmend geforderte Generationengerechtigkeit liegt „quer" zu den vier zuvor genannten Dimensionen. Zu iiberpriifen ist, ob die Transferstrome zwischen den verschiedenen Generationen - Kindem und Jugendlichen, Erwachsenen mittleren Alters und alten Menschen - wie auch in der Generationenfolge den Anfordemngen an die Herstellung von Chancengleichheit, Leistungs-, Bedarfs- und Verteilungsgerechtigkeit gentigen. Die Zieldimensionen Verteilungs- und Bedarfsgerechtigkeit sowie Chancengleichheit stehen in einer kompiementaren Beziehung zueinander. Insofem stellt die kontinuierliche Zunahme von offentlicher (und privater) Armut, wie sie ftir Deutschland und zahlreiche
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andere Industrienationen seit geraumer Zeit zu konstatieren ist, nicht nur eine Verletzung der Verteilungs- und Bedarfsgerechtigkeit, sondem auch eine Vermindemng der Chancengerechtigkeit dar, ohne die wiederum Leistungsgerechtigkeit nicht denkbar ist. Mit anderen Worten: Ein handlungsfahiger Staat ist letztlich unverzichtbare Voraussetzung zur Herstellung samtlicher Zieldimensionen von Gerechtigkeit. Die konservativ-liberalen Kohl-Regierungen schienen die Rolle des Staates deregulierend dem Chancenbegriff anpassen zu wollen, die rot-griine Bundesregierung versuchte dasselbe in der Not mangelnder Mittel und durch Umdefinition (aktivieren, fordem und fordem) wenigstens legitimatorisch zu unterfuttem. Der Gerechtigkeitsbegriff wurde von der rot-griinen Bundesregierung mehrfach modifiziert und primar als „Chancengerechtigkeit" interpretiert. So findet sich bereits im „Schroder/Blair-Papier" von 1999 die programmatische Absage an verteilungs- und bedarfspolitische Fragen: „In der Vergangenheit wurde die Forderung der sozialen Gerechtigkeit manchmal mit der Forderung nach Gleichheit im Ergebnis verwechselt. Letztlich wurde damit die Bedeutung von eigener Anstrengung und Verantwortung ignoriert und nicht belohnt und die soziale Demokratie mit Konformitat und MittelmaBigkeit verbunden statt mit Kreativitat, Diversitat und herausragender Leistung." Soziale Gerechtigkeit lasse „sich nicht an der Hohe der offentlichen Aufgaben messen", sie bestehe nicht nur in der „Verteilung von Geld", das Ziel sei vielmehr die „Ausweitung der Chancengleichheit" (Schroder/Blair 1999: 888 u. 894). Weder das neoliberal-konservative noch das sozialdemokratisch-okologische Modell konnten sich bei den Bundestagswahlen im September 2005 durchsetzen. LFberzeugende wirtschafts- und sozialpolitische Antworten sind beide Lager nach Meinung der Wahlerinnen und Wahler offensichtlich schuldig geblieben. Bereits jetzt zeichnet sich ab, daB auch von der GroBen Koalition aus CDU/CSU und SPD in naher Zukunft keine politische Neuorientierung im Umgang mit dem Problem zunehmender Gerechtigkeitsdefizite zu erwarten ist. Was bleibt, ist das weit verbreitete, ungute Gefuhl, daB Chancen alleine nicht ausreichen, ja, daB sie ohne flankierende MaBnahmen im Bereich der Bedarfs- und Verteilungsgerechtigkeit letztlich auch nicht herzustellen sind. Die Gesellschaft ist auf eine Ressourcen- und Chancenverwirklichungsfrage zuruckgeworfen, die von Befunden angeschoben wird, die in dieser (aktuellen) Scharfe vielleicht noch nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik so deutlich ins BewuBtsein getreten sind. D.h., daB uns etwa die Bildungs-, Gesundheits- oder Partizipationsforschung mit Ergebnissen konfrontiert, die eine langst iiberwundene Stratifikation der Gesellschaft widerspiegelt. Man mag sogar den Eindruck haben, daB die Verteilung von Chancen sich eher denen in einer Standegesellschaft annahert, als denen einer - volkswirtschaftlich betrachtet - wohlhabenden, postindustriellen, hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft zu entsprechen. Die Annahme einer ausgepragten vertikalen sozialen Mobilitat, die kollektive Aufstiegschance vom Arbeiterkind zum Anwalt, geschweige denn zum Aufsichtsratsvorsitz - diese soziologische Variante des USamerikanischen „Tellerwascher"-Mythos ist uns heutzutage mehr denn je den Beweis schuldig. Zunehmende Bedeutung gerade im Hinblick auf die Bedarfs- und Verteilungsgerechtigkeit erhalt der Zusammenhang zwischen steigendem privatem Reichtum und wachsender offentlicher Armut. Die Armut der offentlichen Haushalte als Folge falscher Steuerpolitik und geringen Wachstums hat in Deutschland inzwischen dramatische AusmaBe angenommen. Das Soziale gerat nicht nur ins Hintertreffen, weil Privatvermogen weiterhin einen unverhaltnismaBig hohen Anteil des Gesamtnettoeinkommens vereinen, sondem weil es
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nicht gelingt, steigende Privatvermogen zur Finanzierung offentlicher Aufgaben heranzuziehen. Insbesondere im Untemehmenssteuerrecht und bei der Korperschaftssteuer hat der Staat durch wirtschaftsfreundliche Reformen auf Milliardenmehreinnahmen verzichtet, ohne daB der Nachweis bislang gelungen ware, daB steigende („amnestierte") Gewinne die offentlichen Kassen und die privaten Haushalte „mitziehen" wiirden. Im Gegenteil sieht sich der Staat in einem Ausgabendilemma: Er kann nunmehr die Aufgaben nicht mehr erfiillen, die die Menschen von ihm erwarten, zugleich hat er aber auch keine Moglichkeit, die Menschen mit den Moglichkeiten auszustatten, soziale Probleme aus eigener Kraft zu bewaltigen. Ganz besonders betroffen von der Armut der offentlichen Haushalte sind die Stadte und Gemeinden, die in Deutschland zwei Drittel aller Investitionen iibemehmen. Die Einnahmen der Kommunen waren iiber Jahre riicklaufig und haben seit dem Jahr 2004 nur geringfugig zugenommen, wahrend die Ausgaben seit 1997/98 stetig und steil angestiegen sind. Vor allem die Ausgaben fiir Soziales, aber auch fiir Personal, sind seit den 1970er Jahren geradezu explodiert, ebenso wie die Kassenkredite, also kurzfristig aufgenommene Kredite zur (voriibergehenden) Uberbrtickung entstandener Fehlbetrage. Mit anderen Worten: Die Schere zwischen verfiigbaren Finanzen und tatsachlichem Bedarf an Geldmitteln der Kommunen geht immer weiter auseinander. Konsequenz dieser Entwicklung ist u.a. ein Riickgang der Investitionsausgaben der lokalen Ebene in den letzten 15 Jahren, insbesondere in Westdeutschland. Innerhalb der Europaischen Union ist Deutschland hinsichtlich des Anteils der offentlichen Bruttoinvestitionen am Bruttoinlandsprodukt inzwischen SchluBlicht. Das Deutsche Institut fur Urbanistik hat 2001 in einer Schatzung des Investitionsbedarfs der Kommunen eine erschreckende Bilanz vorgelegt: Allein der Ersatzbedarf fiir marode Strukturen in den alten Bundeslandem macht 60% (in den neuen Bundeslandem sogar 72%) des gesamten Investitionsbedarfs fur die Zeit von 2000 bis 2009 aus. Uber Jahrzehnte wurde insbesondere die technische Infrastruktur vemachlassigt und befmdet sich dementsprechend vielerorts in sehr schlechtem Zustand. Die Folgekosten unterlassener Reparaturen, etwa im Bereich der Wasserversorgung, sind immens. In teilweise katastrophalem Zustand ist in beiden Teilen Deutschlands das kommunale StraBennetz (EiBel 2004: 53). Erhebliche Liicken bestehen zudem in der Ausstattung mit sozialen Infrastruktureinrichtungen sowie im sozialen Wohnungsbau. Kommunale Planungsvorhaben lassen sich wegen fehlenden kommunalen Grundvermogens immer schwerer realisieren. Die SchlieBung von Schwimmbadem und anderen Sportstatten sind fiir den einzelnen im Alltag ebenso unmittelbar sichtbare Folge kommunaler Finanzprobleme. Investitionen fehlen aber noch in ganz anderen Bereichen, wie etwa dem Umweltschutz. Die Gewerbesteuer erweist sich als unzureichende Finanzierungsquelle der Kommunen. Ihre Finanznot ist inzwischen so groB, daB die Gemeinden und Gemeindeverbande in Deutschland kaum noch in der Lage sind, die ihnen per Grundgesetz (Art. 28, Abs. 2) und Landesverfassungen obliegenden Aufgaben noch ordnungsgemaB zu erfiillen (Farber 2004). Dementsprechend groB ist auch die finanzielle Abhangigkeit der Stadte und Gemeinden von den Landem. Nicht wenige Lander aber versuchen, ihre eigenen Haushalte zu Lasten der lokalen Ebene zu konsolidieren, und das bereits seit einigen Jahren. Eine foderale Top-down-?o\itik, die sich auf das Abwalzen von Aufgaben und Kosten von Bund und Landem auf die kommunale Ebene beschrankt, miBachtet nicht nur das sogenannte Konnexitatsprinzip, wonach jede Ebene die Kosten der eigenen politischen Entscheidungen iiber-
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nehmen muB, sondem auch das den sozialen Rechtsstaat bindende Subsidiaritatsprinzip. Die bewuBte Inkaufnahme der Uberforderung der kommunalen Ebene als Ergebnis foderaler Egoismen beschrankt sich aber langst nicht auf das Soziale, sondem erstreckt sich inzwischen auf nahezu alle Politikfelder. Eine Reform der foderalen Finanzverfassung, die entsprechende Abhilfe schaffen konnte, ist noch immer Zukunftsmusik. Dabei ist unbestritten, daB steuer- und finanzpolitische ebenso wie wirtschafts- und sozialpolitische Reformen in Deutschland notwendig sind. Doch uber den richtigen Weg wird weiter heftig gerungen, genauso wie iiber den Begriff der „Reform" an sich, der statt einer Verbesserung ftir die Vielzahl der Menschen inzwischen stets eine Verschlechterung ihrer sozialen Lebensbedingungen bedeutet. „Reformpolitik" steht an einem Scheideweg: Wahrend die Mehrheit der Gesellschaft nach mehr sozialer Gerechtigkeit ruft, sozialstaatliche Leistungsniveaus halten will und zunehmend auch wieder groBere Verteilungsgerechtigkeit verlangt, werden seitens wirtschaftsliberaler und neokonservativer Kreise weitere drastische Einschnitte in den Sozialstaat gefordert, um die Wettbewerbsfahigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland zu gewahrleisten, die angesichts der Intemationalisierung der Markte und Systeme in Frage zu stehen scheint. Die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit wird hier im Sinne der Neoklassik rein angebotsorientiert beantwortet, d.h. auf die Forderung von Wachstum durch Steuersenkungspolitik, Privatisierung und Deregulierung verengt. Eine Position, die in Wirtschaft und Gesellschaft zwar einigen Riickhalt hat, von Arbeitgeberverbanden und den Dachverbanden von Industrie und Handel nach wie vor vertreten wird, die jedoch nicht mehrheitsfahig ist, wie die Bundestagswahlen vom 18. September 2005 deutlich gemacht haben. DaB sie nicht mehrheitsfahig sind, ist dabei alles andere als selbstverstandlich, „investierten" doch verschiedene wirtschaftsliberale Verbande und Gruppierungen - wie etwa die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall - teilweise enorme Summen in eine breitere gesellschaftliche Akzeptanz neoliberaler Positionen. Die weit verbreitete These, die offentliche Abgabenbelastung (Staatsquote), mindere die private Wertschopftmg (Bruttoinlandprodukt), ignoriert die vielfaltigen Wechselbeziige, die in einer funktionierenden hoch entwickelten Wirtschaft zwischen Staat und Okonomie bestehen. Erfolgreiche Volkswirtschaften zeichnen sich nicht allein durch niedrige Steuersatze, geringe Sozialabgaben und Lohnkosten aus, sondem vielmehr durch eine intelligente Vemetzung von Untemehmen, Wissenschaft und Staat (etwa in der Technologiepolitik), durch Faktoren wie Qualifikation und Leistungsbereitschaft der Arbeitskrafte, eine strategische Infrastmkturpolitik sowie stabile rechtliche und politische Verhaltnisse u.v.a.m. (EiBel 2005: 5f.). Trotzdem wurde die Staatsquote in Deutschland durch rigorose Kurzungen bei den offentlichen Investitionen, beim Personalbestand und vor allem durch die systematische Kiirzung der Sozialleistungen bis zum Jahr 2004 auf 40,3% zuruckgeschraubt, ein Wert, der zuletzt 1973 erreicht wurde (Grasse 2005: 233). Dabei widerlegen Vergleichsdaten der OECD iiber Abgabenquoten die Behauptung, hohere Staatsquoten lahmten das Wachstum: Einzig in Irland geht eine niedrige Abgabenquote auch mit einer iiberdurchschnittlichen Wachstumsdynamik einher. Sonst ist nirgendwo ein derartiger Zusammenhang zu erkennen. Im Gegenteil: Schweden, das mit 50,6% an der Spitze der Staatsquote steht, hat im Durchschnitt (1995-2002) ein doppelt so hohes jahrliches Wachstum wie Deutschland (2,8%) Wachstum in Schweden, 1,4%) in Deutschland), obgleich die Abgabenlast hierzulande mehr als 10% niedriger liegt. Auch Finnland (45,9% Staatsquote, 3,9% Wachstum) und
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Danemark (49,4% Staatsquote, 2,3% Wachstum) haben trotz hoherer Staatsquote ein starkeres Wachstum als Deutschland und konnen wie Schweden inzwischen sogar Haushaltsuberschiisse vorweisen. Das Beispiel Japans zeigt gar einen umgekehrten Sachverhalt: Trotz der sehr niedrigen Staatquote von 27,3% ist das Wirtschaftswachstum mit etwa 1% im intemationalen Vergleich klar unterdurchschnittlich (OECD 2004). Noch eines wird haufig ubersehen: Obgleich das Wachstum in Deutschland gerade in den vergangenen funf Jahren tatsachHch sehr gering ausgefallen ist (2001-2005 durchschnittlich 0,7%)), ist die deutsche Wirtschaft mit Ausnahme der Jahre 1993 (-0,8%)) und 2003 (-0,2%o) in den letzten 15 Jahren real bestandig gewachsen, so daB gewisse Verteilungsspielraume nach wie vor vorhanden sind: Inflationsbereinigt waren im Jahr 2004 immerhin 216 Mrd. Euro mehr Geld verfugbar als 1995 (Statistisches Bundesamt 2004: 254). Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer konnten davon allerdings ebenso wenig profitieren wie die offentlichen Haushalte. Das Durchschnittseinkommen der abhangig Beschaftigten ist in realer Kaufkraft seit 1991 um etwa 2% gesunken. Die Steuerpolitik zeichnet dafiir maBgeblich verantwortlich. Wahrend bei der Entwicklung der Lohnsteuem und der Sozialbeitrage kraftig aufgeschlagen wurde und die Abgabenlast durch Lohnsteuem (+45,2%) und Sozialabgaben (+54,5%) schneller als die Bruttolohne und -gehalter stiegen, stellt sich die Situation bei den Kapitaleinkommen vollig anders dar, denn hier wurde die Steuerlast in den vergangenen Jahren erheblich reduziert (Grasse 2005: 248f.; Deutsche Bundesbank 2005: 54). Noch starker als bei den Einkommen hat die Konzentration der Vermogen in Deutschland zugenommen. So werden insgesamt knapp 47%) des gesamten Nettovermogens von nur 10%) der erwachsenen Bevolkerung gehalten (Deutscher Bundestag 2005: 55). Trotz dieser verteilungspolitischen Schieflage und anhaltender Konjunkturflaute wird in groBen Teilen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft unverandert dafiir pladiert, die Sparpolitik der letzten Jahren fortzusetzen bzw. zu intensivieren und dazu notigenfalls weitere Einschnitte bei den Ausgaben vorzunehmen - meist mit dem Argument, nachkommende Generationen, welche diese Schulden bezahlen miissen, diirften nicht weiter belastet werden (was irrefiihrend ist, wie Christoph Butterwegge in seinem Beitrag zu diesem Buch herausarbeitet). Es gibt jedoch weiterhin auch gegenteilige Auffassungen, die angesichts der gegenwartigen Wirtschaftsschwache dafiir eintreten, eine weitere Verschuldung voriibergehend in Kauf zu nehmen, um wieder fiir eine steigende Binnennachfi*age zu sorgen, damit mehr Wachstum entsteht und in der Folge auch wieder steigende Steuereinnahmen des Staates erreicht werden (Bofinger 2005; Scherf 2005). Nicht nur die Bestimmungen des Grundgesetzes (Art. 109), vor allem die Verpflichtungen im Zusammenhang mit den Europaischen Vertragen und dem Europaischen Stabilitats- und Wachstumspakt, setzen der Verschuldung allerdings Grenzen. Zweifellos wurde das erste Teilziel des Paktes, namlich Stabilitat, weitgehend erreicht (auch wenn im Jahr 2005 immerhin 10 der 25 Mitgliedstaaten zu hohe Defizite hatten). Das zweite Teilziel, also Wachstum, ist jedoch nicht im selben MaBe zu verzeichnen. Gerade die wichtigsten Volkswirtschaften Europas und Gninderstaaten der Europaischen Gemeinschaft, namlich Frankreich, Italien und Deutschland, die in mehreren aufeinanderfolgenden Jahren gegen den Pakt verstoBen haben, leiden unter dieser Situation. GroBbritannien wird 2006 wohl ebenfalls die Neuverschuldungsobergrenze von 3%) des BIP iiberschreiten. Ungeachtet der im Marz 2005 beschlossenen Flexibilisierung des Stabilitats- und Wachstumspaktes stellt sich deshalb nach wie vor die Frage, ob bzw. inwiefem die aus dem Pakt resultierende rigide Sparpolitik nicht entscheidend zur anhal-
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tenden Wachstumsschwache in Europa beitragt und gar zu einer Abwartsspirale fiihrt, indem wichtige okonomische Impulse durch die offentliche Hand (im Sinne einer antizyklischen Politik) systematisch unterbunden werden (Hickel 2005 und Huffschmid in diesem Band). Die Investitionstatigkeit lahmt trotz historisch niedriger Zinsen aber auch und gerade aufgrund der seit Jahren stagnierenden Nachfrage der privaten Haushalte, was unmittelbare Folge der bereits angesprochenen sinkenden Realeinkommen der mittleren und unteren Einkommensbezieher ist. Die Grunde der staatlichen Finanzkrise wie auch der sogenannten „Sozialstaatskrise" liegen also mitnichten in einer etwaigen Anspruchsmentalitat der Burger. Vielmehr sind hierftir drei andere Faktoren verantwortlich: Erstens die hohen Folgekosten der Arbeitslosigkeit, zweitens die Lasten der deutschen Wiedervereinigung und drittens der Vorherrschaft einer neoliberalen bzw. marktradikalen Politik, welche enorme Steuerausfalle produziert hat, ohne jedoch das erhoffte Wirtschaftswachstum Wirklichkeit werden zu lassen. Weil die Politik die wachsenden fiskalischen Folgekosten der Massenarbeitslosigkeit und der Wiedervereinigung nicht durch eine Verbreiterung der Sozialversicherungspflicht oder aber durch eine angemessene Vermogensabgabe bzw. die Besteuerung hoher Einkommen und Gewinne finanziert hat, sondem den Ausweg lange Zeit in der Kreditfinanzierung suchte, entstanden akute Finanzierungsprobleme. Angesichts der durch die Europaische Wirtschafts- und Wahrungsunion erzwungenen Haushaltsdisziplin bleibt als einziger Weg die Mehrbelastung der Burger, wobei der Sozialbereich als groBter Haushaltsposten mehr und mehr zur Zielscheibe der Austeritatspolitik wird. Steuereinnahmen sind in ausreichender Hohe unverzichtbar. Doch genau die fehlen. Der demokratische Wohlfahrtsstaat steckt aber nicht nur in einer Finanzkrise, sondem er gerat allmahlich auch in eine Legitimationskrise. Deutschland als ein Land, in dem der gesellschaflliche Konsens tiber die Notwendigkeit des Interessenausgleichs lange Zeit Maxime und ein wesentlicher Garant des Erfolges der sozialen Marktwirtschaft war, zeigt sich zunehmend polarisiert, wie u.a. auch an den allzu plakativen „Heuschrecken"-, „Neid"sowie anderen simplifizierenden Debatten ablesbar ist. Die Armuts- und Reichtumsberichte der letzten Jahre (an denen Dieter EiBel mitgewirkt hat) sprechen eine deutliche Sprache: Die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland geht tatsachlich immer weiter auseinander. So bilanzierte bereits der erste Armuts- und Reichtumsbericht: „Die Bestandsaufnahme und Analyse der Entwicklung in Deutschland bis 1998 macht in fast alien Lebensbereichen deutlich, daB soziale Ausgrenzung zugenommen und Verteilungsgerechtigkeit abgenommen hat" (Bundesministerium ftir Arbeit und Sozialordnung 2001: XV). Die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit stellt sich also mit Nachdruck und verlangt nach Erklarungen und Antworten. Unter Bezugnahme auf unterschiedliche theoretische Konzepte und Ansatze kommen im vorliegenden Sammelband die Bereiche Wirtschaft, Soziales, Arbeitsmarkt, Steuem, Finanzen, Bildung, Familie und Minderheiten ebenso zur Sprache wie Fragen der Gerechtigkeit zwischen den Generationen und Geschlechtem. Die Notwendigkeit einer Umkehr vielerorts gangiger Reformpolitik wird dabei sichtbar. Soziale Gerechtigkeit ist keine Nebensache, kein rein ethisch-moralisches Problem. Vielmehr diirfte die Zukunftsfahigkeit (post-)modemer Demokratien und Wirtschaftssysteme maBgeblich tiber die Frage gesellschaftlicher Integrationskraft entschieden werden. Dieter EiBel ist als politischer Okonom dem beschriebenen Themenkomplex seit Iangem verpflichtet, und zwar in Theorie und Praxis. Aufgrund der engen Verbindung und Affinitat zur Empiric wurde er einmal treffend als „theoretischer Praktiker" bezeichnet, in
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einem anderen Beitrag einmal schlicht zum „Gerechtigkeitsexperten" erklart. Was lag also naher, als Fragen im Zusammenhang mit dem Problem schwindender sozialer Gerechtigkeit in den Mittelpunkt der ihm anlaBlich seines 65. Geburtstages gewidmeten Festschrift zu stellen. Im vorliegenden Sammelband kommen einige der wissenschaftlichen, akademischen und nicht zuletzt der personlichen Wegbegleiter/innen von Dieter EiBel zu Wort. Bin ausdrticklicher Dank geht an alle Autorinnen und Autoren, die durch ihre Mitwirkung und ihr Engagement die Realisierung dieser Festschrift ermoglicht haben. Die Herausgeber, denen Dieter EiBel Doktorvater war bzw. ist und ihm fi-eundschaftlich verbunden sind, mochten ihm mit diesem Buch eine Freude machen, ihn als Mensch und Wissenschaftler wiirdigen und ihm ihren herzlichen Dank fur seine vielfaltigste Unterstiitzung aussprechen. Das wissenschaftliche und politisch-praktische Wirken von Dieter EiBel ist auBerst vielfaltig, wie Ernst-Ulrich Huster in seinem Beitrag, der als „personliche Hinfiihrung" geschrieben wurde und den vorliegenden Sammelband eroffnet, deutlich macht. Bei all den Betatigungsfeldem, die von der Bildungsokonomie iiber Steuem und Finanzen, Arbeitsmarkt- und Beschaftigungspolitik, Kommunal- und Regionalpolitik, Umweltpolitik, zivilgesellschaftliche Entwicklung und Demokratisierung sowie Partizipationsfi'agen, bis hin zur europaischen Integration sowie Internationale Wirtschaftspolitik und Globalisierung reichen, bildet das Thema „soziale Gerechtigkeit" doch einen gewissen Kristallisationspunkt seines Wirkens. Das hier prasentierte Buch geht der Frage nach, welchen Stellenwert das Thema „soziale Gerechtigkeit" in Politik und Gesellschaft Deutschlands gegenwartig hat. Welche Aspekte sind in diesem Zusammenhang wirklich wichtig? Wie wandeln sich gegenwartig Leitbilder und Vorstellungen von Gerechtigkeit und das MaB an gesellschaftlich tolerierter und akzeptierter materieller Ungleichheit? Ist der Paradigmenwechsel bereits vollzogen? Damit werden faktische und ideologische Machtfragen beriihrt. Eine weitere Kemfi^age ist, ob und wie der Sozialstaat weiterhin finanziert werden kann. Die Forderung von Wachstum und Entwicklung einerseits und die Herstellung des sozialen Ausgleichs andererseits sind in diesem Zusammenhang die zentralen Herausforderungen an die Politik. Wie nicht zuletzt im Bundestagswahlkampf 2005 deutlich geworden ist, stellt die Steuerpolitik hierbei eines der wichtigsten Felder dar. Der Sammelband benennt in seinen verschiedenen Beitragen jedoch nicht nur bestehende Gerechtigkeitsliicken, sondem stellt sich immer wieder bewuBt der Frage nach den Altemativen zu den medial orchestrierten gangigen Positionen. Dabei werden die eingangs dargelegten verschiedenen Dimensionen der Gerechtigkeitsfi-age aufgezeigt und Herausforderungen, Probleme sowie Standpunkte diskutiert. Wahrend „Gerechtigkeit" in der Geschichte der Arbeiterbewegung vor allem als Verteilungsgerechtigkeit gedacht wurde, werden inzwischen die vier anderen Dimensionen immer bedeutsamer. Neben Fragen der bereits angesprochenen Generationengerechtigkeit gewinnen dabei insbesondere die Auseinandersetzungen um gerechte Bildungschancen und territorialen Zusammenhalt an Brisanz. Eine weitere Frage ist schlieBlich, wie sich Gerechtigkeitsdefizite auf die Demokratie auswirken. Das Buch lotet die verschiedenen Aspekte des Themas in Theorie und Praxis aus und mochte Argumente fiir notwendige Reformen im Sinne des Erhaltes des Sozialstaates und einer moglichen Verbesserung sozialer Gerechtigkeit zur Diskussion stellen. Ziel des Bandes ist es, die Debatte anzuregen und weiterzuentwickeln. Da soziale Gerechtigkeit mehrdimensional ist und bei zunehmender Transnationalisierung und Interdependenz Losungen in Mehrebenensystemen erzwingt, nimmt das Buch nicht nur die lokale.
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regionale und nationale Situation Deutschlands in den Blick, sondem gibt auch der europaischen und intemationalen Dimension den notwendigen Raum. Dabei soil vor dem Hintergrund der - trotz aller Widrigkeiten - voranschreitenden Europaisierung u.a. der Frage nach makrookonomischen Steuerungs- und Entwicklungspotentialen wie auch nach der Entwicklung eines europaischen Sozialmodells nachgegangen werden. Landerstudien zu Fragen sozialer Gerechtigkeit in GroBbritannien, Polen, Osterreich und Griechenland helfen, die europaische Dimension zu vertiefen. Die inhaltliche Auseinandersetzung startet zunachst jedoch mit einem theoretischen Beitrag von Friedhelm Hengsbach. Gerechtigkeit, so Hengsbachs Ausgangsanalyse, wird in verschiedenen jiingeren Diskursen umgedeutet, etwa zur Legitimation von Sozialreformen in der herrschenden Politik, oder in Gestalt beispielsweise tauschtheoretischer oder variabler Auslegungen von Gerechtigkeit. Hengsbach wendet sich vor allem gegen eine allzu leichtfertige und unreflexive Ubemahme modemistischer Leerformeln und stellt dem eine Deutung der Gerechtigkeit „als Gleichheitsvermutung" gegeniiber. Er fordert ein, da6 Gerechtigkeit auch die Rechtfertigung von Machtverhaltnissen im Sinne einer moralischen Gleichheit und damit von Gerechtigkeitsnormen beinhalten muB, damit alle Menschen an gesellschaftlichen Gutem partizipieren konnen. Schon an der Verwirklichung und Rechtfertigung von Beteiligungsrechten (demokratische Beteiligung an der Entscheidung uber Volksvermogen, Bildungs- und Gesundheitsressourcen) lassen sich mit Hengsbach Zweifel formulieren. Soziale Gerechtigkeit kann nicht losgelost von historischen und systemimmanenten Logiken des Sozialstaats diskutiert werden. Benjamin Benz und Jurgen Boeckh machen in ihrem Beitrag zu Theorie, Struktur und Zukunft des Sozialstaats deutlich, daB der Bismarcksche Sozialversicherungsstaat bis heute evolutionar behandelt wurde. Es kam in ihm mehr auf Kontinuitat denn auf radikale Reformen an. Dies lieB den reformerischen Inkrementalismus tiber die Amtszeit Schroders hinaus bis heute in einer Konzeptionslosigkeit zur Anpassung der sozialen Sicherung an eine veranderte Gesellschaft mit ihren Gerechtigkeitsliicken enden. Die Autoren zeigen, daB die strukturellen Voraussetzungen und die theoretischen Implikationen fiir eine Weiterentwicklung letztlich nicht auf einen zentralstaatlichen Sozialstaatsbegriff hindeuten, sondem in einer Ausbalancierung des Sozialen im politischen Mehrebenensystem zu fmden sein werden. Gottfried Erb klart in seinem Beitrag iiber die Grundstruktur und die Dimensionen von Reichtum auf. Er tut dies anhand von jiingeren realokonomischen Entwicklungen, die insbesondere die „arbeitslosen Einkommen aus Vermogen" ungebremst beforderten. Die Annahmen zum Umfang des verdeckten Privatvermogens und der auseinanderdriftenden Einkommensverteilung fuhrt ihn zu der Wertung, daB die Entwicklung der Einkommens- und Vermogensverhaltnisse undemokratisch ist. Die Frage nach der Verantwortung der Vermogenden fur eine gerechtere Entwicklung der Gesellschaft ist mithin langst zu einer Frage nach der Legitimation unseres politischen Systems geworden. Berthold Dietz und Carmen Ludwig differenzieren in ihrem Komplementarbeitrag zu Gottfried Erb den Armutsbegriff und seine konzeptionellen Beriihrungspunkte zu verschiedenen Gerechtigkeitsdimensionen und -konzepten aus. Dabei zeigt sich, daB sowohl die Konzentration auf Einkommen als zentrale Ressource als auch eine in Beliebigkeit endende Ansammlung von Benachteiligungskategorien problematisch ist. Unter Einbeziehung des Armutsbegriffes des indischen Nobelpreistragers Amartya Sen zeigen Dietz/Ludwig exemplarisch anhand struktureller Benachteiligungskategorien, wie sie auch von Hengsbach ins
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Zentrum seiner Untersuchung gestellt werden (demokratische Mitwirkung, Bildung, Gesundheit etc.), daB „Armut im Reichtum" Ergebnis eines strukturellen Vorenthaltens von Lebens- und Verwirklichungschancen ist. Dieser Mangel an Verwirklichungschancen wirft fiindamentale Fragen im Hinblick auf Freiheit und soziale Gerechtigkeit als zentrale Grundwerte demokratischer Gesellschaften auf. Christoph Butterwegge setzt sich kritisch mit dem aktuellen Gerechtigkeitsdiskurs auseinander, in dessen Zentrum die Forderung nach Generationengerechtigkeit steht. Er geht der Frage nach, ob Generationengerechtigkeit dabei nur als politischer Kampfbegriff fungiert oder ob von einer sinnvoUen Neuinterpretation der sozialen Frage gesprochen werden kann. Das in vielen Medien gezeichnete Bild einer intergenerationalen Kluft halt nach Ansicht Butterwegges einer empirischen Uberprufung nicht stand. Die soziale Scheidewand verlauft vielmehr unabhangig vom Lebensalter unverandert zwischen Arm und Reich. Durch das Schlagwort Generationengerechtigkeit wird die soziale Spaltung in der Gesellschaft „biologisiert" und auf ein Verhaltnis zwischen unterschiedlichen Alterskohorten reduziert. In der Konsequenz lenkt der gegenwartige Diskurs von der vermehrten sozialen Ungleichheit innerhalb jeder Generation ab. Butterwegge pladiert daftir, die Veranderungen der Demographic in den Zusammenhang von wissenschaftlich-technischer Innovation und Wachstumsprozessen der Okonomie zu stellen und so wieder zu einer Versachlichung der Diskussion zu gelangen. Alexander Grasse zeigt in seinem Beitrag, wie sich das deutsche Foderalismusmodell im Spannungsfeld zunehmender Wachstums- und Verteilungsprobleme bereits gewandelt hat und bei einem Voranschreiten der Wettbewerbsideologie weiter wandeln konnte. Ein Ergebnis seiner Analysen lautet: Gesamtgesellschaftliche Konflikte werden zunehmend „territorialisiert". Die 1994 durchgeftihrte Verfassungsreform in Gestalt der Anderung des Art. 72 GG, Abs. 2, weg von der Maxime der „Einheitlichkeit" hin zur „Gleichwertigkeit der Lebensverhaltnisse" in Deutschland, ist nach Auffassung Grasses ein Beleg far die zunehmende Akzeptanz des Leitbildes von mehr „Vielfalt", was jedoch ein groBeres MaB an kollektiver Ungleichheit impliziert. Die Auseinandersetzungen um den Landerfinanzausgleich, die Kontroversen um den Solidarpakt II und die Forderung nach einer Verankerung territorialer Solidaritat im Grundgesetz seitens der ostdeutschen Ministerprasidenten sind Ausdruck eines verscharften Verteilungskampfes und Wettbewerbs der regionalen Systeme, der nicht nur Deutschland erfaBt hat, sondem ein Phanomen in alien westlichen Wohlfahrtsstaaten ist. Ob bzw. inwiefem sich groBere materielle Unterschiede zwischen den Bundeslandem mit foderaler Theorie und der politischen Kultur in Deutschland vereinbaren lassen, wird in diesem Beitrag vor dem Hintergrund der Foderalismusreform hinterfragt und diskutiert. Rudolf Hickel analysiert anhand des Vorschlags der „Kommission Steuergesetzbuch" zu einer einheitlichen Untemehmensbesteuerung sowie der Umgestaltung der Gewerbesteuer, daB der vielfach geforderte Systemwechsel bei der Untemehmensbesteuerung letztendlich dem Ziel dient, die Steuersatze auf den Untemehmensgewinn massiv zu reduzieren. Dabei wird davon ausgegangen, daB durch eine bewuBt reduzierte soziale Gerechtigkeit iiber die Steuerlastverteilung am Ende „Wohlstand fiir alle" erzeugt wiirde. Der Autor widerspricht dieser Annahme, indem er darlegt, daB untemehmerische Steuerentlastungen nicht mit mehr beschaftigungsschaffenden Investitionen belohnt werden, sondem die unter der Finanznot erzwungenen Kiirzungen bei den Staatsausgaben zu einer Rationiemng fuhren, welche vor allem sozial Schwache belastet. Der Entlastung der Untemehmen soil das
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Prinzip der gerechten Verteilung der Steuerlast geopfert werden, was zu einem Defizit auf der Ebene der Verteilungsgerechtigkeit fuhrt. Sein Pladoyer ist klar: Die Steuerpolitik ist in das Zielsystem der Schaffiing sozialer Gerechtigkeit einzubinden. In diesem Sinne prasentiert Hickel ein alternatives steuerpolitisches Konzept, das sich an den Zielen der dauerhaften Finanzierbarkeit eines zukunftsfahigen Staats zum einen sowie der gerechten Verteilung der Steuerlast zum anderen orientiert. In Deutschland wurde mit den sogenannten Hartz-Gesetzen unter anderem eine umstrittene Reform bei der Arbeitslosenversicherung umgesetzt. Gerhard Backer durchleuchtet in seinem Beitrag die Auswirkungen dieser Reform und deren Interpretationen. Zentraler Befund: Die Arbeitslosenzahl konnte bisher nicht bedeutsam gesenkt werden, die Zahl der Langzeitarbeitslosen nimmt sogar noch zu. ErwartungsgemaC fallen die Vorschlage zu den Konsequenzen unterschiedlich aus. Untemehmensfreundliche Positionen fordem die Schaffung eines Niedriglohnsektors und die Subventionierung von Lohnen durch staatliche Lohnerganzungen („Kombi-Lohne"), um fur „einfache Tatigkeiten" die Lohnkosten zu senken und damit Anreize zur Schaffiing neuer Arbeitsplatze zu setzen. Backer liefert iiberzeugende Argumente gegen diese Strategic und sieht - neben den Finanzierungsrisiken erheblichen sozialen Sprengstoff in ihr. Seine SchluBfolgerung: Die Arbeitsmarktprobleme lassen sich nur mittels einer breiten, offensiven Ausweitung von untemehmens- und personenbezogenen Dienstleistungen, einer breiten Qualifizierung und bedarfsgenauen Eingliederungshilfen flir Problemgruppen losen. Ausgehend von der einfluBreichen, komparativen Wohlfahrtsstaatstheorie EspingAndersons beschreibt und wertet Jutta Trdger die okonomische und sozialstaatliche Funktion der Familie in Deutschland. Sie zeigt, dafi ein leitbildhaftes Festhalten an einem okonomisch immer weniger tragfahigen Familienideal und eine sicherungsstrukturelle Verfestigung desselben ein patriarchalisches Familienmodell zementierte, welches Deutschland in der Frage nach der Gender- und Familienperspektive von sozialer Gerechtigkeit einen uniibersehbaren Entwicklungsruckstand bescherte. Sie weist nach und kritisiert, daB die Transferlastigkeit bundesdeutscher Familienpolitik der Vielfalt familialer Arrangements nicht entspricht und daB der Staat und seine Infrastruktur zur Familienfi)rderung schlecht vorbereitet in den Paradigmenwechsel vom vorherrschenden, auf den Mann fokussierten Emahrermodell zum Vereinbarkeitsmodell geht. Soziale Gerechtigkeit flir Familien wird daher mehr und mehr an der Frage zu messen sein, ob und wie die staatliche Forderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf besser gelingt. Bernd Kafiebaum geht in seinem Aufsatz der ungleichen Verteilung der Bildungschancen und den daraus resultierenden Folgen flir die Chancengleichheit aus gewerkschaftlicher Perspektive nach. Bildung und soziale Gerechtigkeit stehen fiir den Autor in einem engen Zusammenhang: Die notwendige Realisierung von Chancengleichheit im Bildungssystem beinhaltet zum einen das Schaffen der strukturellen Voraussetzungen, um jedem die Moglichkeit zu eroffnen, iiber Bildung eine qualifizierte Arbeit zu erlangen, zum anderen Bildung als elementaren Bestandteil der Emanzipation von Individuum und Gesellschaft zu verstehen. Eine Politik der Bedarfsgerechtigkeit und Chancengleichheit muB an der Forderung derjenigen ansetzen, die sozial benachteiligt sind. Deshalb sieht KaBebaum die Bildungsfinanzierung als eine der wichtigsten Aufgaben des Staates an. Er fordert eine gute Schule fur alle Kinder sowie Durchlassigkeit und Gleichwertigkeit in der Gestaltung des europaischen Hochschulraumes, wahrend er den derzeitigen Bestrebungen zur Kommerzialisierung und Privatisierung des Bildungssektors eine entschiedene Absage erteilt.
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Peter Henkenborg befaBt sich mit der Herausforderung von Freiheit und Gerechtigkeit in der politischen Bildung. An den Ansatz von Amartya Sen ankniipfend, der durch die Idee der individuellen Befahigung den Freiheitsbegriff unmittelbar mit Gerechtigkeitsvorstellungen verbindet, geht Henkenborg der Frage nach, wie politische Bildung in der Schule gelingen und junge Menschen bei der Bewaltigung von Freiheit starken kann. Dabei wird das Grundproblem einer an Freiheit und Gerechtigkeit orientierten politischen Bildung anhand von Beobachtungen aus der Berufsschulpraxis illustriert. Die Bewaltigung von Freiheit, so die These Henkenborgs, setzt als Bedingung Gerechtigkeit und damit politische und soziale Teilhaberechte voraus. Eine wachsende Anzahl von Kindem und Jugendlichen hingegen macht die Erfahrung sozialer Desintegration, verweigerter Teilhabe und Anerkennung. Der Erfahrung sozialer Anerkennung kommt fur die Entwicklung von Identitat, Autonomic und Mtindigkeit eine entscheidende Bedeutung zu. Der Autor skizziert, wie das Paradigma der Anerkennung einen Orientierungsrahmen fur die Theorie politischer Bildung darstellen kann und entwirfl Vorschlage, um das traditionelle Modell der Unterrichtsschule aufzubrechen und zu verandem. Peter Schmidt, Phillip Winkelnkemper, Elmar Schliiter und Carina Wolf richtQn den Fokus ihrer Untersuchung auf die subjektive Wahmehmung sozialer (Un)gerechtigkeit und daraus resultierende auslanderfeindliche Einstellungen. Auf der Basis einer reprasentativen Bevolkerungsstudie aus dem Jahr 2005 wird empirisch der Frage nachgegangen, ob demographische Merkmale, Schulbildung, Deprivationswahmehmungen sowie Autoritarismus direkte oder indirekte Ursachen von Auslanderfeindlichkeit sind. Wahrend sich die Determinante der „relativen Deprivation" auf Situationsfaktoren und die subjektive Wahmehmung von Benachteiligung bezieht, bezeichnet der Autoritarismus eine in der Sozialisation erworbene autoritare Personlichkeits- bzw. Charakterstruktur. Die Autoren liefem mit ihrer Feststellung, daB dem Autoritarismus und dem EinfluB der Bildung eine besonders groBe Bedeutung fur das Entstehen von Auslanderfeindlichkeit zukommt, einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Diskussion um die Ursachen von Auslanderfeindlichkeit und mogliche Strategien zu deren Bekampfung. Das Forschungsteam um Peter Schmidt pladiert im Ergebnis fiir gesellschaftspolitische Interventionen zum Abbau von Fremdenfeindlichkeit, die moglichst friih, namlich bereits im Kindergarten und in der Schule ansetzen. Damit wird die fimdamentale Bedeutung des Politikfeldes „Bildung", die bereits in den Beitragen von KaBebaum, Henkenborg und auch Dietz/Ludwig deutlich zum Vorschein gekommen ist, nochmals auf besondere Weise unterstrichen. Im Beitrag von Adalbert Evers und Claudia Wiesner steht die lokale Politikebene im Blickpunkt. Anhand einer empirischen Untersuchung zum Programm „Soziale Stadt" in Hessen wird offengelegt, daB veranderte Konzepte der Armutsbekampfung neue Formen lokaler Politik und Steuerung erforderlich machen. Das Bund-Lander-Programm „Soziale Stadt" vertritt den Anspruch, an den Lebensverhaltnissen in Stadtteilen mit sich verscharfenden sozialen und infrastrukturellen Problemlagen anzusetzen. Sowohl die soziale Lage als auch das SelbstbewuBtsein der Betroffenen und ihre Fahigkeiten sollen verbessert werden. Dabei geht es zum einen um die Verwirklichung von sozialraumlicher Chancengleichheit, zum anderen um eine demokratischere Kultur im Sinne von Partizipation und Empowerment. Die Autoren zeigen Schwierigkeiten und Chancen dieser neuen Form von Governance auf und formulieren Anforderungen fiir die Nachhaltigkeit der mit dem Programm angestoBenen oder erreichten Veranderungen.
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Karl Georg Zinn, mit dessen Beitrag das Buch die iiberwiegend deutsche Perspektive verlaBt und sich der europaischen und intemationalen Dimension zuwendet, nahert sich der Wahmehmung sozialer Gerechtigkeit von einer makrookonomisch-komparativen Seite. Es geht ihm um die Beantwortung der Frage, wie Staaten gleicher wirtschaftlicher Entwicklungsstufe unterschiedlich mit globalen Tendenzen umgehen und an kontraren Fundamenten (hohe Staatsquote vs. niedrige Staatsquote) festhalten. Zinn sieht im wirtschaftstheoretischen Streben nach universell gultigen, mathematisierten Erklarungsmodellen ein hauptverantwortliches, historisches Defizit. Dieses unterschatzt gesellschaftliche und kulturelle Unterschiede als EinfluBgroBen auf das wirtschafts- und gesellschaftspolitische Handeln. Gerade dieses bewirkt eine Art nationalokonomischer Eigensinnigkeit und Unbeirrbarkeit, die sich in hohem MaBe einer globalen Homogenisierung von wirtschaftstheoretischen Modellen widersetzt. Als Conclusio sieht Zinn die Bundesrepublik auf einem Kurs zuriick zu einer liberalistischen Kultur in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Diese Kultur ist nach Zinns Auffassung ihre „eigentliche", wahlverwandte, eine, die in anti-egalitaren Ideologien wurzelt und bisher von Legitimierungs- und Konsenszwangen der jungen Bonner Republik iiberlagert wurde. Jeremy Leaman macht in seinem Artikel klar, daB der britische, sogenannte „dritte Weg" nur bedingt tauglich ist und erhebliche Gerechtigkeitsliicken aufweist. Einige der Reformen der rot-grunen Regierung, wie auch offensichtlich die der GroBen Koalition in Deutschland, ahmten Veranderungen unter New Labour in GroBbritannien nach. Zum einen sprechen nun aber die sozialen Realitaten in vielen Bereichen gegen die Modellhaftigkeit des ,J^ew Deals" und anderer Programme. Zum anderen sieht Leaman die Nachhaltigkeit der Reformen vor dem Hintergrund der enormen staatlichen Interventionen aus Steuermitteln keineswegs bewiesen. Er vemeint insofem auch die Vorstellung, daB GroBbritannien als Vorbild fiir Europa taugt, wie wahrend der britischen EU-Ratsprasidentschaft im zweiten Halbjahr 2005 von Tony Blair postuliert wurde. Christine Stelzer-Orthofer und Johann Backer belegen anhand empirischer Untersuchungen in Osterreich, daB es in der Bevolkerung eine Mehrheit fiir alternative Politiken zu denen neoliberaler oder neokonservativer Pragung gibt, wenn diese Altemativen klare Ziele benennen und Perspektiven bieten. Damit wird die von Jorg Huffschmid in seinem Aufsatz vertretene Position bestatigt. Anhand mehrerer Beispiele verdeutlichen die Autoren den Abbau von Bedarfsgerechtigkeit durch den Umbau des osterreichischen Sozialstaats zum „schlanken Staat", der sich an neoliberalen und neokonservativen Politikkonzepten orientiert. Stelzer-Orthofer und Bacher iiberpnifen auf der Basis des Sozialen Surveys Osterreichs, ob dies auch zu einer Zunahme von neoliberalen oder neokonservativen Einstellungen in der Bevolkerung gefuhrt hat. In ihrer Studie zeigt sich, daB dies nicht der Fall ist. Vielmehr ist die Attraktivitat einer Politik gestiegen, die sich als Gegenstrategie zum Neokonservativismus versteht. Die Autoren ziehen den SchluB, daB der strukturelle Wandel der sozialen Sicherungssysteme in Osterreich nicht aufgrund einer Mehrheitsmeinung in der Bevolkerung entstand, sondem „von oben" initiiert wurde, weshalb eine politische Gegenstrategie durchaus Chancen auf Erfolg hatte. Polen, so Ewa Rokicka und Wielislawa Warzywoda-Kruszynska, gehort zu den Staaten, in denen die Folgen der Transformation seit dem Kollaps der Kommandosysteme in Form von wachsender Ungleichheit, Arbeitslosigkeit und Armut in der Gesellschaft am wenigsten akzeptiert werden. Dies ist der Ausgangspunkt fur eine grundsatzlichere Analyse von Ungleichheit. Rokicka und Warzywoda-Kruszynska analysieren den offentlichen Dis-
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kurs zu sozialer Gerechtigkeit in Polen sprachlich und inhaltlich anhand zweier ausgewahlter Wochenzeitungen: Wprost und Przeglqd Ihr Befund: Die offentliche Debatte ist hoch ideologisiert und gepragt von „Gruppendenken". Diese Polarisierung bedient zweierlei, namlich eine „Kolonisierung" offentlicher Meinung und das mangelhafte Verstandnis fiir politische Prozesse. Die fehlende Konsensbereitschaft und die unterentwickelte offentliche Diskurskultur liegen den Autorinnen zufolge auch in der Schwache der polnischen Demokratie begriindet. Einen historischen AbriB zur griechischen Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik seit Ende des Zweiten Weltkrieges liefert Procopis Papastratis. Seine Eingangsanalyse macht er an der Frage fest, wie sich die griechische Politik mit Arbeitslosigkeit vor dem Hintergrund einer konstant hohen Auswanderung auseinandersetzte. Zunachst, so Papastratis, milderte die Auswanderung Hunderttausender die sozialen Spannungen am Ende des Biirgerkrieges. So liegt fur ihn die Hauptursache fur die Auswanderungswelle nach Westeuropa zwischen 1955 und 1974 (dem Ende der Militardiktatur) vor allem in der hohen Arbeitslosigkeit. Spaterhin fanden, wie auch anderenorts in Europa, Schlagworte wie „Aktivierung" und „Flexibilisierung des Arbeitsmarktes" allmahlich Eingang in die griechische Politik. Allerdings, so Papastratis' Verdacht, geschah dies in erster Linie durch die hohen Fordermittel seitens der Europaischen Union und einen damit einhergehenden neoliberalen Kurs Briisseler Wirtschaftspolitik, auf die schlieBlich auch die griechische Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik abstellte. Im Ergebnis haben die Reformen trotz eines ausgeweiteten offentlichen Sektors die Arbeitsmarktprobleme Griechenlands nicht gelost, sondem werfen vor dem Hintergrund einer weitgreifenden Privatisierungswelle staatlicher Dienste eher neue Fragen auf. Udo Bullmann und Johannes Loheide sehen Europa als entscheidendes Feld sozialer Auseinandersetzungen, denn die Verflechtung der Okonomien im europaischen Binnenmarkt macht eine europaische Strategic zum Ausbau von Sozialstaatlichkeit unabdingbar. Doch welche Perspektive bietet sich fiir eine emanzipatorische und soziale Politik in Europa? Zur Beantwortung dieser Frage zeichnen die Autoren zunachst die noch zogerlichen Schritte zum Aufbau von Sozialstaatlichkeit und die allmahliche Ausweitung der redistributiven Politik in der EU nach. Dabei wird deutlich, daB in der EU das Spannungsverhaltnis zwischen unbeschranktem Wettbewerb auf der einen Seite und sozial- und umweltpolitischen Belangen auf der anderen Seite in der Vergangenheit zugunsten des Wettbewerbs aufgelost worden ist. Gleichwohl sind Fortschritte uniibersehbar und es bestehen Chancen zur Sicherung bzw. Verwirklichung eines europaischen Sozialmodells. Anhand aktueller Auseinandersetzungen um die Dienstleistungsrichtlinie, Leiharbeit, offentliche Auftragsvergabe und die Lissabon-Strategic zeigen Bullmann und Loheide, daB eine Politik der sozialen Emeuerung Europas jedoch nicht von der EU allein realisiert werden kann, sondem daB es vielmehr einer bewuBten Offnung von Gestaltungsraumen bedarf, die sich erst durch ein Zusammenspiel im gesamten politischen Mehrebenensystem ergeben. Die Nationalstaaten sind in besonderer Weise gefordert. Dabei kommt den Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und sozialen Initiativen eine entscheidende Bedeutung bei der offentlichen Meinungsbildung fiir ein soziales Europa zu. Auch Jorg Huffschmid beschaftigt sich mit den Herausforderungen demokratischer Wirtschafts- und Sozialpolitik in Europa. Er diagnostiziert, daB sich die europaische Wirtschaft in einem Teufelskreis aus Wachstumsschwache, Massenarbeitslosigkeit und Umverteilung von unten nach oben befmdet und geht der Frage nach, warum die gegenwartige.
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unter neoliberalen Vorzeichen stehende Politik auch unter wechselnden Regierungskonstellationen fortgefiihrt wird. Die Durchsetzungskraft der neoliberalen Gegenreform auf Keynesianismus und soziale Marktwirtschaft laBt sich dabei insbesondere anhand der Entwicklung der intemationalen Finanzmarkte und deren Eigenschaften erklaren. Die zentralen Charakteristika modemer Finanzmarkte, wie die Dominanz der Handelsgeschafte und der institutionellen Investoren, sowie die globale Mobilitat des angelegten Kapitals fuhren zu zunehmender Instabilitat und Unsicherheit, zu massivem Druck auf die Untemehmensfiihrungen und zu verscharfter Standortkonkurrenz zwischen den Landem. Hier setzt Huffschmid mit seiner Formulierung von Altemativen zur Emeuerung des Sozialstaates an, die er insbesondere in der Kontrolle und Reform der Finanzmarkte sowie einer demokratischen Wirtschaftspolitik mit dem Ziel sozialer Gerechtigkeit sieht. Margit Schratzenstaller gibt in ihrem Beitrag einen Uberblick iiber die Verwendung unterschiedlicher Steuermodelle in Europa und vergleicht sie hinsichtlich ihrer Folgewirkungen. Steuem sollen neben eine Reihe anderer Funktionen die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermogen, die sich aus den Marktprozessen ergibt, abmildem und damit einen Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit leisten. Die Autorin zeigt auf, daB in der neueren Steuerpolitik und -lehre jedoch - mit dem Argument notwendiger Effizienz - eine Abkehr von diesen traditionellen Grundsatzen und Zielen der Besteuerung stattfmdet und kniipft damit an die von Rudolf Hickel in seinem Beitrag vertretene Position an. Die zunehmende intemationale Mobilitat fahrt zu einem zwischenstaatlichen Steuerwettbewerb, der vor allem die direkten Steuem bzw. die Steuem auf mobile Steuersubjekte unter Anpassungsdmck nach unten setzt. Im Zuge dessen erfreuen sich sowohl das Modell der sogenannten Flat Tax (Besteuemng samtlicher Einkiinfte mit einem niedrigen einheitlichen Steuersatz) als auch das Modell der dualen Einkommensteuer (unterschiedlich hohe Steuerlast auf Arbeits- und Kapitaleinkommen zugunsten letzterer) immer groBerer Beliebtheit. Im Vergleich zum synthetisch-progressiven Einkommensteuersystem fahren beide Modelle jedoch zu weitaus weniger vertikaler und horizontaler Steuergerechtigkeit, wie Schratzenstaller in ihrer Analyse klarstellt, obschon auch das Modell der synthetisch-progressiven Einkommensbesteuemng verschiedener ReformmaBnahmen bedarf, um wirklich sozial gerecht zu sein. Hanne-Margret Birckenbach analysiert in ihrem Artikel Perspektiven eines europaischen Sozialmodells. Dabei miBt sie der 1961 verabschiedeten und 1996 erweiterten Europaischen Sozialcharta des Europarates eine tragende Rolle bei. Diese verpflichtet die Staaten nicht nur zum politischen Dialog iiber ihre Sozialpolitik, sondem erzeugt durch ein komplexes intemationales Uberwachungssystem erheblichen Dmck zur Einhaltung der vereinbarten Normen und Zielvorgaben. Ahnlich wie der Begriff des „Friedens" wird auch der Begriff der „Gerechtigkeit" notwendigerweise als ProzeBkategorie konzipiert. Dabei sind die nordischen Staaten beispielgebend, wohingegen Deutschland bei der Umsetzung der Europaischen Sozialcharta wie auch bei der Unterzeichnung und Ratifiziemng ihrer Folgeabkommen zu den SchluBlichtem Europas gehort, wie Birckenbach zeigt. Im schwarz-roten Koalitionsvertrag von 2005 fmdet die Sozialcharta nicht einmal mehr Erwahnung. Die Autorin wendet sich gegen die eingeschlagene Politik, bei der Verwirklichung eines europaischen Sozialmodells allein die Lissabon-Strategie der EU zu setzen, bei der der soziale Pfeiler bislang von einer Flexibilisiemngs- und Dereguliemngsphilosophie dominiert wird. Birckenbach macht deutlich, daB diese Strategic soziale Menschenrechtspolitik nicht ersetzen kann, zumal sie sich nicht auf Gesamteuropa erstreckt.
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Reimund Seidelmann erweitert den Blick hinsichtlich der sozialen Gerechtigkeit vom europaischen auf das Internationale System. Er konstatiert ein grundsatzliches Ordnungsdefizit der intemationalen Staatengemeinschaft, das durch einen Mangel an Wohlstandschancen, an Verteilungsgerechtigkeit und an demokratisch legitimierter Global Governance verscharft wird. Dabei stehen die auBenpolitische Nullsummen-Orientierung und der Egoismus der Nationalstaaten der moglichen Erarbeitung und Verteilung weltweiten Wohlstandes im Weg. Seidelmann benennt Wege, diesen Egoismus durch die Suche nach einem intemationalen Gemeininteresse an Wohlstandserhalt, -mehrung und fairer Verteilung perspektivisch zu ersetzen und pladiert - wie Bullmann und Loheide mit Blick auf die europaische Dimension - auch im intemationalen System fiir eine Mehrebenenpolitik, die Nationalismus, Regionalismus und Globalismus konstmktiv miteinander verbindet. Ufa Ruppert geht in ihrem Beitrag, der den SchluBpunkt zu diesem Sammelband setzt, der Verwirklichung von Geschlechtergerechtigkeit in der Globalisiemng nach. Anhand der Felder geschlechtliche Gewalt und vergeschlechtlichte Arbeitsverhaltnisse zeigt sie auf, daB Ungleichheit zwischen den Geschlechtem noch immer zu den ungelosten Stmkturproblemen weltweit gehort und durch die beschleunigten Prozesse okonomischer Globalisiemng sogar noch verscharft wird. Die Auswirkungen zeigen sich in einer zunehmenden sozialen Polarisiemng nicht nur zwischen den Geschlechtem, sondem auch zwischen Frauen. Zudem ist die absolute Zahl der eindeutigen Globalisiemngsgewinnerinnen sehr gering im Verhaltnis zur Anzahl derjenigen, die vor allem Kosten von Globalisiemng zu tragen haben. Ruppert geht es iiber die Bestandsaufnahme weltweiter Geschlechtemngerechtigkeit hinaus um die normativen Anspruche, die im Kontext der Globalisiemng von transnationalen Frauenbewegungen formuliert werden. So ist es diesen Bewegungen gelungen, EinfluB auf die Themen und Gmndlagen globaler Politikverhandlungen zu nehmen, wobei ihr nachhaltigster Erfolg in der Entwicklung des Paradigmas der FrauenMenschenrechte im AnschluB an die Menschenrechtskonferenz der Vereinten Nationen 1993 in Wien liegt. Dennoch ist gegenwartig durch die Aushohlung des Volkerrechts und die Degradiemng der UN eine deutliche Abwertung des schwer erkampften Referenzrahmens der FrauenMenschenrechte zu beobachten. Die Autorin macht jedoch deutlich, daB die gegenwartige Verringemng der politischen Spielraume fur eine geschlechtergerechte Transformation von Weltpolitik nicht gegen feministische Politikziele in der intemationalen Politik spricht, sondem vielmehr ihren Anspruchen auf Gerechtigkeit eine noch groBere Bedeutung verleiht. Alexander Grasse, Carmen Ludwig und Berthold Dietz GieBen und Freiburg i.B. im Juni 2006 Literatur Becker, Irene/Hauser, Richard (2004): Soziale Gerechtigkeit - eine Standortbestimmung: Zieldimensionen und empirische Befunde, Berlin. Bofinger Peter (2005): Wir sind besser, als wir glauben, Miinchen 2005 (dritte Auflage). Bourdieu, Pierre (1983): Okonomisches Kapital, kulturelles Kapital und soziales Kapital, in: Kreckel, Reinhard (Hg.): Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt Sonderband 2, Gottingen, S. 183-198. Bourdieu, Pierre/Passeron Jean-Claude (1971): Die Illusion der Chancengleichheit: Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs, Stuttgart.
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Ernst-Ulrich Huster
Solidaritat und Gerechtigkeit als Lebensentwurf - eine personliche Hinfiihrung „Sagredo, du soilst dich aufregen!" Bert Brecht: Das Leben des Galilei
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Herkunft und Werden: vom Zonenrand zu den Randern der (Welt-) Gesellschaft
Dieter EiBel wuchs in Nordhessen auf, im Randgebiet zur sowjetischen Besatzungszone, dann DDR. Jemand wie er muBte fruh erfahren, daB Kleider Leute machen, daB folglich die, die wenig Kleider haben, mehr machen miissen, als ihr - sofem vorhanden - sonntagliches Gewand anzuziehen. Selbstandigkeit, Harte gegen sich selbst, Denken in systematischen Kategorien, Struktursetzen, aber auch Hilfsbereitschaft und Zusammenarbeit waren gefragt. Die Bedingungen des Aufwachsens einfach hinzunehmen, war Dieter EiBels Sache nicht, es gait sie aktiv mitzugestalten, indem er vermeintlich Unabdingbares hinterfragte. Das Geld fiir ein akademisches Studium muBte er selbst herbeischaffen, durch die freiwillige Verpflichtung beim „Bund"; in dieser ersten Karriere brachte es Dieter EiBel bis zum Oberleutnant. Danach folgte ab 1964 das Studium fur das Lehramt an Haupt- und Realschulen an der Hochschule fur Erziehung in GieBen, eine damals noch selbstandige Einheit neben der Justus-Liebig-Universitat, hervorgegangen aus dem Padagogischen Institut in Weilburg. Zusammen mit seinem nordhessischen Freund Harald Bammel wurden diese Lehrjahre in GieBen 1967 erfolgreich mit dem Ersten Staatsexamen abgeschlossen. Zugleich entstand der Wunsch, noch etwas „draufzusatteln"- am Otto-Suhr-Institut der Freien Universitat in Berlin, mit dem Ziel politologisches Diplom. Diese Berliner Jahre pragten Dieter EiBel in mehrfacher Hinsicht. Es war die Hochphase der Studentenbewegung. Zum einen gait es, die auch an der „Freien" Universitat anzutreffenden professorenzentrierten Vermittlungsformen aufzubrechen: Studierendenbeteiligung, Eigenstudium, Gruppenarbeiten etc. waren angesagt. Dieter EiBel konnte in dieser Phase seine Fahigkeiten kultivieren, auf einem Blatt Papier mit ineinander verwobenen Kreisen, Pfeilen und Kastchen das Sammelsurium von Diskussionsbeitragen der Kommilitoninnen und Kommilitonen in eine systematische Ordnung zu bringen und so das Denken zu strukturieren; sein hierbei erworbener erster akademischer Grad war der einer „Rastersau". Chaos auf diesen Blattem und Stringenz des geschriebenen Textes waren zwei Seiten ein und derselben Medaille. Zweitens gait es, Fragen der Weltverantwortung und der Verteilungsungleichgewichte auf die Agenda zu heben: Der Vietnamkrieg, die Entkolonialisierungsprozesse in der sogenannten Dritten Welt u.a.m. pragten ihn wie einen GroBteil derer, die damals studierten. Er schloB Freundschaften mit Kommilitoninnen und Kommilitonen aus Afrika und Lateinamerika, die bis heute fortbestehen. Und schlieBlich gehorte Dieter EiBel zu der Generation, die erkannte, daB man durch politisches Engagement etwas verandem kann, indem man sich zugleich selbst mit verandert. Beteiligt an Prozessen der Studienreform, insbesondere an der Zwischenpriifungsordnung am Otto-Suhr-Institut, hat ihn diese praktische Zuspitzung auf konkrete Handlungsaltemativen gepragt. 1971 schloB er 37
dieses Studium schlieBlich mit dem Diplom ab und ist seitdem in unterschiedlichen Funktionen an der GieBener Justus-Liebig-Universitat beschaftigt. Studierendenbewegung und Hochschulreform hatten auch die - voriibergehend - zur „Georg"Buchner-Universitat" umbenannte altehrwtirdige Ludoviciana in GieBen erreicht, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Justus-Liebig-Universitat wieder zu neuem Leben erweckt worden war. In diesen Jahren war korperliche Ertiichtigung angesagt: Zuriickgelegte Demonstrationskilometer standen bei vielen Jungakademikerinnen und -akademikem im eklatanten Widerspruch zu der Ablehnung sportlicher Betatigungen, galten letztere doch vielen als Einiibung paramilitarischer Verhaltensformen. Dieter EiBel war aber nie Konformist: Sport war sein Elixier, aber eben doch gebrochen: Zum Tennis ging er nicht weiBin-weiB, sondem in abgeschnittener Jeans, Handball spielt er bis in die Gegenwart hinein, dabei so manchem Jtingeren immer noch Respekt abnotigend. Diese unruhigen Zeiten bis in die Mitte der 1970er Jahre hinein brachten fiir ihn, den Doktoranden, Be- und Entlastung. Belastung war, daB die Vielzahl spontaner Streikseminare mitorganisiert werden muBten, Entlastung, daB Raum fiir die Dissertation geschaffen wurde. Zu seinen bisherigen auslandischen Freunden kamen nun neue aus Chile hinzu, die als Hochschullehrer nach dem Pinochet-Putsch Chile verlassen und nun etwa in GieBen versorgt werden muBten. Konkrete Solidaritat war gefordert und wurde von Lehrenden und Studierenden gemeinsam erbracht. Zugleich wurde die in der Studentenbewegung mehr auf die Eltemgeneration ausgerichtete Auseinandersetzung mit dem Faschismus konkret. Es kamen Demokraten, Sozialisten, Kommunisten, Gewerkschafter, Frauen und Manner und deren Kinder, denen nach dem Leben getrachtet worden war und die sich zum Teil nur auf gefahrlichen Wegen hatten retten konnen. Die Pax Americana, die Weltwirtschaftsordnung, die brutalen Versuche der „Chicago-Boys", die neoliberalen Theoreme eines Milton Friedman in Santiago de Chile zu Lasten der breiten Bevolkerung durchzusetzen - sie hatten ein Gesicht, die theoretische Auseinandersetzung mit ihnen bedeutete zugleich konkrete Parteinahme zu Gunsten der Entwurzelten und Entrechteten. Deutlich wurde zugleich, wie der jeweilige „Rand der Gesellschaft" politisch gemacht wird, wie er Folge von Politik und das Ergebnis der Durchsetzung sozialer Interessen ist. Diese sozial ausgrenzende Politik konnte, so das Credo von Dieter EiBel und vielen seiner Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, nicht einfach hingenommen werden. Es beruhrte ihn und viele andere emotional, was da im Namen der Freiheit und anderer westlicher Werte geschah. Diese emotionale Betroffenheit wurde zwar Triebfeder, doch durfte es damit nicht sein Bewenden haben. Gefordert war vielmehr kritische Analyse und das Aufbauen von Gegenmacht, keineswegs in sich selbst isolierenden K-Gruppen, sondem in solidarischen Strukturen einer hochschulpolitischen Gemeinschaftsinitiative von Professoren und Assistenten („Demokratische Universitat"), einer Hochschulgruppe der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, sowie beim Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi) und insgesamt nun in Zusammenhangen gewerkschaftlicher Bildungsarbeit und Initiativen. 2
Problemlagen und wissenschaftliche Antworten
Parallel entstand die Dissertation mit dem Thema „Arbeitsmarkt und Bildungspolitik, Theorien und Praxis der Bildungsplanung" (EiBel 1977). Mit dieser im Ubergang 1975/76
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fertiggestellten Stxidie wurden Methoden wie Inhalte des wissenschaftlichen Werkes von Dieter EiBel fest vorkonturiert: Die Implikationen des eigenen Wissenschaftsverstandnisses wie das der anderen hinterfragend, schaffte er Platz fur zunachst eine empirisch-historische Sicht auf die Entwicklung des Arbeitsmarktes im Kontext der Bildungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Den ideologiekritischen wissenschaftstheoretischen Ansatz wendete er nach dieser empirischen Grundlegung auf bestehende Theorien der Bildungsokonomie mit dem Ziel an, Bildung der Kritik der politischen Okonomie zuzuordnen. Wunderbar und heute immer noch wahr ist das Resiimee seiner Arbeit, das zugleich deutlich seine Fundierung in der Marxschen Kritik der politischen Okonomie widerspiegelt: „Arbeits-, Verwertungs- und HerrschaftsprozeB bedingen sich gegenseitig. Sic stehen zugleich in Widerspruchen zueinander: Um verwerten zu konnen, bedarf das Kapital konkreter Produktionsbedingungen, d.h. neben bestimmter Produktionsmittel auch eine zureichende Qualifikation der Arbeiter und zugleich der Herrschaft iiber die Lohnarbeiter. Aus diesen koharenten Bedingungen lassen sich widerspruchliche Anforderungen an die Subsumtion von Bildung unter Lohnarbeit ableiten: Im Interesse des Kapitals soil das Bildungssystem in quantitativer und qualitativer Hinsicht genugend ausgebildete Arbeitskrafte zur Verfugung stellen, ohne einerseits hierdurch die systemerhaltenden unkritischen Loyalitatsmuster infrage zu stellen und ohne andererseits die Verwertung und Akkumulation des Kapitals nachhaltig zu beeintrachtigen. (...) Welche objektiv ableitbaren, d.h. materiell bedingten Interessen sich letztlich durchsetzen, ist jedoch abhangig sowohl von BewuBtseinsstrukturen als auch tradierten Institutionen und den jeweiligen Machtverhaltnissen in der Gesellschaft. Diese Konstitutionsbedingungen der Struktur und Entwicklung des Bildungsbereiches vermitteln eine Vorstellung des kategorialen Zusammenhanges bzw. der Totalitat spezifischer gesellschaftlicher Verhaltnisse, denen das Bildungswesen als Subsystem unterworfen ist. Weder einseitig auf Ableitungen eingeschworene marxistische Analysen, noch einseitig auf die Emierung empirisch konstatierbarer RegelmaBigkeiten fixierte biirgerliche Planungsansatze werden diesem Totalitatsanspmch gerecht. Eines der Hauptanliegen dieser Arbeit war jedoch, neben der Destruierung unzutreffender Theoreme nicht bei einer Diffamierung von Ansatzen stehen zu bleiben, sondem mit der Begrenztheit der Aussagekraft ihren moglichen Stellenwert in einer umfassenderen Theorie der politischen Okonomie des Bildungssystems anzugeben." (EiBel 1977: 225f) Nicht Beitrag zur Theorie, nein umfassende Theorie der politischen Okonomie des Bildungssystems, gerichtet sowohl gegen die gerade in vollem MaBe im Umlauf befindliche neomarxistische Staatsableitungsdiskussion, die alle staatlichen Regungen aus der Warenform her zu bestimmen suchte, als auch gegen die Vorstellungen der sozialliberalen Koalition von der grundsatzlichen Planbarkeit politischer und sozialer Prozesse im Kapitalismus: Der mit dem GroBen Latinum ausgestattete wissenschaftliche Debutant hatte nur vergessen zu erganzen: Quod erat demonstrandum! Auch wenn der Sache nach mit diesem furiosen Finale alles Grundsatzliche gesagt war, hat Dieter EiBel weiterhin gezielt seine Gedanken auf politische und soziale Prozesse in unserer Gesellschaft gerichtet. Die Policy-Bereiche, die sowohl als Einnahme- und Ausgabefaktoren Teil allgemeiner gesellschaftlicher und politischer Verteilungsvorgange sind als auch durch ihre Struktur und die daran gekoppelten Prozesse soziale Chancen verbauen bzw. Privilegien verfestigen, gesellschaftspolitisch problematische Folgen zeitigen und insgesamt fiir das friedliche und umweltvertragliche Zusammenleben abtraglich bzw. forderlich sein konnen, wurden zum Gegenstand der Forschung, der Lehre, der Vortragstatigkeit und der politischen Bildungsarbeit von Dieter EiBel. Das breite Set von Bildungs-,
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Arbeitsmarkt-, Technologic-, Finanz-, Stcuer-, Wirtschafts-, Umwclt- und Landwirtschaftspolitik hat hicrin das verbindcndc „Drittc". Politik crfolgt zudcm, geradc in Dcutschland, in Mchrcbcncnsystcmcn, was tibcraus folgcnrcich ist. Die anfangliche Analyse von Bildung im fbderalen Bundesstaat erfahrt deshalb im weiteren wissenschaftlichen Werk Dieter EiBels eine konsequente Erweiterung im Sinne der generellen Untersuchung lokaler Moglichkeiten von politischer Gestaltung und EinfluBnahme, auch und gerade unter Globalisierungsaspekten, sowie hinsichtlich regionaler Handlungsoptionen unter dem Gesichtspunkt einer zunehmend bedeutsamer werdenden europaischen Integration. Akteur soil der miindige Burger sein. Doch wie - so fragt Dieter EiBel immer wieder - bilden sich biirgerschaftliches Engagement, Zivilgesellschaft und Governance faktisch ab? Es gibt bei ihm keine Phasen fiir die einzelnen Politikfelder. Vielmehr werden die unterschiedlichen Fachgebiete je nach Bedarf und Dringlichkeit aufgenommen, weitergeflihrt, zum Teil auch mit anderen Politikfeldem verwoben. Dabei haben anfanglich vor allem Franz Neumann und Gottfried Erb als Herausgeber forderlich gewirkt und Moglichkeiten der Publikation geschaffen. Gleichwohl lassen sich seine Schriften drei komplementaren Fachgebieten zuordnen, auf denen sich Dieter EiBel immer wieder bewegt: Erstens die politische und okonomische Theorie, zweitens die Steuer- und Wirtschaftspolitik (mit einer besonderen Akzentuierung der Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus in geschichtlicher Perspektive sowie einer dagegen gerichteten altemativen Wirtschaftspolitik) und schlieBlich drittens die Kommunal- und Regionalpolitik als Ort lokaler Demokratieaneignung und Entwicklung von Gegenstrategien. 2.1 Politische und okonomische Theorie Ausgehend von der Auseinandersetzung mit der Marxschen Kritik der politischen Okonomie werden die politischen und okonomischen Theorien seit der klassischen Antike herangezogen, um aus ihnen das jeweilige Verstandnis von Arbeit, von Eigentum, von Reichtum, von der Notwendigkeit bzw. dem Verbot staatlicher Intervention, von Natur und Umwelt und von geschichtlich bzw. systematisch zu verortenden sozialen und politischen Konfliktund Losungsstrategien herauszuarbeiten. Theorie erscheint als in okonomischen Strukturen griindend und von sozialen Interessentragem umgesetzt bzw. bekampft, sic ist nicht idealistisches Konstrukt. Zugleich wendet sich der ideologiekritische Betrachter gegen die interessengeleitete Verkiirzung bereits zuvor theoretisch erkannter Zusammenhange. In Studien, die sich unter anderem mit der Begrundung steuerrechtlicher Zugriffe auf Vermogen und Einkommen beschaftigen, wird in exemplarisch zu nennender Weise unterstrichen, daB die neoliberalen Glaubenssatze eines sich gleichsam naturwUchsig herstellenden Ausgleichs von Angebot und Nachfrage beim Zuriickschrauben staatlicher Intervention im strikten Widerspruch nicht nur zu dem „Klassiker" der Okonomie, Adam Smith, sondem auch im Widerspruch zu dem stehen, was Wissenschaftler wie Alfred MUller-Armack zur Formulierung des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft ausgefiihrt haben. So hatte Adam Smith geradezu klassisch postuliert: „Die Untertanen jedes Staates mtissen zur Unterstiitzung der Regierung so genau als moglich nach dem Verhaltnis ihrer Fahigkeit, d.h. nach Verhaltnis der Einkiinfte, welche jeder unter dem Schutz des Staates genieBt, beitragen." (Smith 1776/1923: 186). Muller-Armack geht noch weiter, indem er sagt: „Ohne Zweifel ftihrt die marktwirtschaftliche Einkommensbildung zu Einkommensverschiedenheiten, die uns sozial
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unerwiinscht erscheinen. (...) Wenn auf dem Weg der Besteuerung die hoheren Einkommen gekiirzt werden und die einlaufenden Betrage etwa in Form von direkten Kinderbeihilfen, Mietzuschussen, Wohnungsbauzuschiissen weitergeleitet werden, liegt geradezu der Idealfall eines marktgerechten Eingriffs vor" (Miiller-Armack 1947: 109). Dieter EiBel spielt der interessengeleitet verengten neoliberalen Theorie ihre eigene Melodie vor, zugleich den Kontrapunkt dazu. Neben eine theoretische Stringenz tritt ein Raster des Nichtvergessens historisch erworbenen Wissens. In diesem Sinne ist es keinesfalls nur historische Reminiszenz oder gar Skurrilitat, wenn Dieter EiBel im Kontext der geschichtlichen Entfaltung von Besteuerungsgrundsatzen den Erzbischof von Sens gegen die von diesem als abartig empfUndenen Vorstellungen des Kardinals Richelieu zu Wort kommen laBt, der der Geistlichkeit eine auBerordentliche Steuer auferlegen wollte: „L'usage ancien de I'eglise pendant sa vigueur etait que le peuple contribuait ses biens, la noblesse son sang, le clerge ses prieres aux necessites de I'Etat."^ Die Ideologeme Ludwig von Mises (1958) und Friedrich August von Hayeks (1944/1991 u. 1971) ordnen sich dem bruchlos zu, was Ferdinand Lassalle schon Mitte des 19. Jahrhunderts kritisch kommentierte: „Es ist namlich eine charakteristische und stets wiederkehrende Erscheinung, meine Herren, daB jeder herrschende privilegierte Stand stets die Lasten zur Aufrechterhaltung des offentlichen Wesens auf die unterdriickten und nicht besitzenden Klassen zuriickwalzen sucht, in offener oder verschleierter, in direkter oder indirekter Form." (alle Zitate nach EiBel 1997b u. 2002) Die Auseinandersetzung mit politischer und okonomischer Theorie hebt menschliches Wissen auf, sie setzt es iiber die jeweiligen historischen Kontexte hinaus miteinander in Bezug. Zugleich leitet sie aus dem geschichtlichen ProzeB Parameter fur Sozialitat und deren Qualitat ab. Damit entzieht sich Theoriegeschichte zugleich der Gefahr, Vart pour Vart zu sein, sie entwickelt Imperative fiir gelingendes Leben (vgl. die Auseinandersetzung Dieter EiBels mit Hannah Arendts Essay „Vom Sinn der Arbeit", EiBel 1985), das ohne Solidarausgleich nicht denkbar ist. In der recht friihen Eigentums-Schrift von 1978 heiBt das dann so: „Fur die von den Privilegien des Eigentumers Ausgeschlossenen gilt es, ihre eigene Geschichte anzueignen und dabei die fur sie bedeutsamen Begriindungszusammenhange aufzuarbeiten, die eine sozialstaatliche Transformation der Gesellschafl legitimieren konnen. Die Privilegierten selbst - ob innerhalb einer Gesellschafl; oder im WeltmaBstab betrachtet - werden aus der Geschichte lemen konnen, daB das bomierte Festhalten an augenblicklichen Vorteilen dazu ftihren kann, daB - wie beispielsweise die Franzosische Revolution demonstriert - die sozial Benachteiligten ihre Vorstellungen von gerechter Verteilung und Partizipation mit Gewalt durchsetzen. Heute zeigen sich derartige Gefahren vor allem in der Dritten Welt. Die Parteinahme, zu der dieses Buch auffordem will, sollte Ergebnis umfassender Information iiber die unterschiedlichen Standpunkte sein." (EiBel 1978: 9) 2.2 Steuer- und Wirtschaftspolitik Aus der Dissertation leitet sich auch der Strang altemativer Wirtschaftspolitik ab. Insbesondere im Kontext mit der Arbeitsgruppe „Altemative Okonomie", ihren seit 1975 jahrlich „Der alte Brauch der Kirche wahrend ihrer Bliite war, daB das Yolk fur die Bediirfhisse des Staates seine Outer beisteuerte, der Adel sein Blut, die Geistlichkeit ihre Gebete."
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erscheinenden Memoranden, Sonderheften und ihrer Schriftenreihe „Memo-Forum", daneben in zahlreichen schriftlichen Beitragen, Vortragen sowie in Auftritten in Funk und Femsehen hat Dieter EiBel die Konsequenzen konkreter wirtschaftlicher Entwicklungen auch im europaischen und globalen MaBstab - analysiert. Dabei hat er, mit jeweils unterschiedlicher Akzentsetzung, die fatalen sozialen und okonomischen Folgen des vorherrschenden kapitalistischen Wachstums- und Expansionstyps sowie dessen immanente Widerspruche herausgestellt. Die „materielle Subsumtion des Staates und der Offentlichkeit unter die Interessen des Kapitals" (EiBel 1980: 42) in Form der vorherrschenden Steuer-, Geld-, Technologie-, Regional-, Landwirtschafts- und Bildungspolitik schade nicht nur den Lebensinteressen breiter Bevolkerungsteile, sondem greife auch die Wurzeln der vorherrschenden Wirtschaftsweise selbst an. Dieter EiBel arbeitet exemplarisch die konjunkturpolitischen Folgen der durch Tarif- und Steuerpolitik reduzierten Massenkaufkraft sowie der Selbstverarmung des Staates heraus, um die Konsequenzen einer drohenden Entsolidarisierung in der Gesellschaft aufzuzeigen. Der Sozialstaat wird von ihm nicht als Belastung, sondem als Garant von wirtschaftlichem Wachstum und Wettbewerbsfahigkeit angefuhrt, woftir er - im intemationalen Vergleich wie auch im theoretischen Rekurs, insbesondere auf John Maynard Keynes (1936/1994) - plausible Belege liefert. Dieter EiBel fordert die Wiederherstellung der staatlichen Handlungsfahigkeit. Dazu gehort - ganz im Sinne Adam Smiths - die steuerpolitische Heranziehung der Gesellschaftsmitglieder entsprechend ihrer jeweiligen Leistungsfahigkeit, ist doch der einzelwirtschaftliche Erfolg auch das Ergebnis von Vorleistungen des Staates im Bildungs-, Infrastruktur- und Sozialbereich. Und hier greift Dieter EiBel scharf die immer wieder anzutreffende Feststellung an, Reichtum leide in Deutschland unter besonders restriktiven Bedingungen. Der Internationale Vergleich zeigt bei der Besteuerung hoher Erbschaften, Vermogen, Einkommen und Untemehmensertrage in Wirklichkeit eine deutliche Schonung des Reichtums (EiBel 2005). Wenn nun in Deutschland in den letzten 40 Jahren der Anteil der Lohn- und Verbrauchssteuem, welche die breiten Einkommensbezieher bzw. Konsumenten belasten, drastisch angestiegen ist, wahrend der Anteil der Gewinnsteuem, die die oberen Einkommen und Untemehmensgewinne treffen, um zwei Drittel abgenommen hat, dann sieht er darin einen Beleg fur die tatsachlich erfolgende Umverteilung von unten nach oben, eine Umverteilung, die jedoch nicht ausreichend neue Investitionen und die dringend geforderten neuen Arbeitsplatze bewirkt, wie immer wieder von den Apologeten zur Begriindung dieser Steuerpolitik behauptet wird. Diese Umverteilungspolitik ftihrt vielmehr zu einer zunehmenden sozialen Polarisierung zwischen Arm und Reich und birgt in sich die Gefahr einer Zuspitzung sozialer Konflikte, fur die andere Lander als Menetekel stehen. Soziale Verantwortung der Wohlhabenden darf und kann sich folglich nicht nur darauf beschranken, daB sie entsprechend ihrer Leistungsfahigkeit steuerpolitisch herangezogen werden, sondem sie miissen einen dariiber hinausgehenden Beitrag zur Absicherung des Sozialen leisten. So musse etwa der Solidarverbund der Sozialversichemng ausgedehnt werden. Doch nicht nur der Abwehr sozialer Konflikte halber gelte es, eine solidarische Sozialpolitik durchzusetzen, sondem vor allem, um die unwiederbringlichen Kapazitaten von Personen zu erhalten, die ein Interesse an ihrem Gemeinwesen haben. Gegen Tendenzen gerichtet, neoliberale Strategien auch im Bildungssektor durchzusetzen, fordert Dieter EiBel mehr Chancengleichheit und letztlich ein „Recht auf Bildung", von dem schon Ralf Dahrendorf in den 1960er Jahren gesprochen hat. Nicht der Homo oeconomicus, sondem der solidarische Mensch steht im Zentmm
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dieses wirtschafts-, sozial- und bildungspolitischen Konzepts. Dieses Menschenbild ist geschichtliche Verpflichtung, sozialethisches Credo bei Dieter EiBel. 2.3 Kommunal- und Regionalpolitik Gerade diese Perspektive auf die Nutzung aller vorhandenen Ressourcen fur eine zukunftsoffene Entwicklung hat Dieter EiBel zu einem weiteren Standbein seines wissenschaftlichen Wirkens gefuhrt: dem der Kommunalisierung und Regionalisierung sowie der Einbeziehung der Zivilgeselischaft in die innerstaatliche Wiilensbildung und Entscheidungsfindung. Gegen neoliberale Deregulierungsansatze gerichtet, beharrt Dieter EiBel auf der Zuweisung der Verantwortlichkeit an die jeweils zustandige Ebene: Der Zentralstaat diirfe und solle sich nicht seiner Steuerungsmoglichkeiten und Eingriffsrechte berauben. Aber dieser Zentralstaat stehe im Spannungsverhaltnis zwischen einem immer gewichtiger werdenden uberstaatlichen Steuerungselement in Gestalt der Europaischen Union und der Notwendigkeit, auf soziale Folgen sehr viel direkter vor Ort reagieren zu miissen. Dieter EiBel sucht nach der Starkung von zwei Steuerungsebenen: der Region und der Kommune. Die bisherige Regionalpolitik der EU und auch der Nationalstaaten sei in hohem MaBe defizitar, habe sich zu lange an Standardkonzepten regionaler Entwicklung orientiert bzw. sei zu sehr an den Bediirfnissen der okonomischen Zentren ausgerichtet gewesen. Trotz manchen Erfolgs der Strukturpolitik, etwa im Falle Irlands, Teilen Portugals, einigen skandinavischen, griechischen und auch ostdeutschen Regionen, seien die Disparitaten zwischen den Regionen Europas insgesamt sogar groBer geworden. Mit Blick etwa auf die Erfolge des Rechtspopulisten Jorg Haider in Osterreich und der Lega Nord in Italien verweist Dieter EiBel auf mogliche Gefahrdungen: „Die Tendenzen der Starkung regionaler Autonomieanspruche sind leider auch jederzeit der Gefahr einer rechtspopulistischen Entwicklung (...) ausgesetzt. Diese brisante Entwicklung speist sich vor allem aus einer Verunsicherung durch eine als Bedrohung empfundene Zukunft und aus einer Existenzangst der Modemisierungsverlierer in den reicheren Regionen. (...) Die okonomischen Vorteile eines Zusammenwachsens Europas konnen mit politischen, sozialen und sozialpsychologischen Gefahrdungen verknupft sein. Fiir eine friedliche Entwicklung ist deswegen entscheidend, ob und inwiefem es gelingt, das Wohlstandsgefalle in der europaischen Gemeinschaft auszugleichen und die vorhandenen Benachteiligungen hinsichtlich des Lebensstandards abzubauen." (EiBel 2001: 37) Er pladiert dafiir, die endogenen Entwicklungspotentiale besser zu mobilisieren und die vorhandenen Akteure auf regionaler und lokaler Ebene starker an der konzeptionellen Arbeit wie auch deren Umsetzung in die Tagespolitik zu beteiligen. Er fordert, die Bereiche Technologiefbrderung, Umwelt- und Energiepolitik starker regional zu betreiben, wie auch insgesamt innovative Prozesse hier anzulagem: „Regional vorhandenes Wissen als brachliegende Ressource, die Finanzkrafl der Investoren und die politische Gestaltungsmacht der gewahlten und demokratisch legitimierten Politik miissen in einefruchtbare,Synergieeffekte erzeugende Kooperation treten. Nur dann konnen die Kommunen und Regionen ausreichende Krafl entwickeln, um gemeinsame, von alien akzeptierbare Entwicklungen voranzubringen. Ideologische Konfrontationen und Tabus der Kooperation, die
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vorab jegliche emsthafte Suche nach moglichen Gemeinsamkeiten in der Bekampfting von Umweltbelastungen ausschlieBen, bringen uns keinen Schritt welter." (Eifiel 1997a: 189) Gefordert werden also angepaBte und akzeptierte Strategien. Die Emilia-Romagna in Italien dient ihm hier als Beispiel von ..best practice" oder wie er lieber sagt - well es immer noch besser geht - ..good practice''. Zugleich sieht Dieter EiBel Chancen in einer engeren Kooperation zwischen einzelnen Regionen in Europa. Eine umfassende Studie zusammen mit Alexander Grasse u.a. aus dem Jahr 1999 beschaftigt sich mit diesen Moglichkeiten (EiBel 1999c). Das fur die Regionen Gesagte gilt nach Dieter EiBel erst recht fur die Kommunen. Hier scheinen die sozialen Probleme auf, deren Weiterverlagerung auf eine noch niedrigere politische Ebene nicht mehr moglich ist. Zugleich gibt es hier aber vielfach auch das notv^endige Know-hov^ und die Moglichkeit, sich empathisch neuen Problemlagen zu stellen. Aber eben diese Kommunen stehen - so Studien von Dieter EiBel, teils in Kooperation mit Udo BuUmann und Heinz Zielinski - unter dem doppelten Druck aus zunehmender Aufgabenbelastung und abnehmender finanzieller Autonomic. Der Gedanke, daB dort, w^o die Biirgerinnen und Burger leben, nicht nur die notwendigen fmanziellen Mittel hingehoren, sondem daB diese Politik auch nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie Aufgabenstellungen und Akteure sozial vemetzen, durchzieht das Werk von Dieter EiBel wie ein roter Faden. Dabei gelte es, neue Wachstumsfelder zu erschlieBen, so im Bereich qualitativen Wachstums, beim Umweltschutz, durch dezentrale Energiepolitik und entsprechende Technologiefbrderung. Dieter EiBel fuhrt aus Deutschland, GroBbritannien und Japan Beispiele von ..good practice" an, die belegen, daB es moglich ist, bislang brachliegende Ressourcen fur eine zukunftstrachtige Entwicklung zu mobilisieren. Das von Berthold Dietz, Dieter EiBel und Dirk Naumann 1999 herausgegebene „Handbuch der kommunalen Sozialpolitik" (EiBel 1999a) biindelt all diese Ansatze in einer umfassenden Bestandsaufnahme und der Entw^icklung von Perspektiven. In einem im selben Jahr erschienenen Artikel von Dieter EiBel heiBt es: „Dezentralisierung ist eine wichtige Vorbedingung fur Modemisierung. Das hangt damit zusammen, daB hier die reale Moglichkeit der Teilhabe fur eine Vielzahl von Leuten besteht. Netzwerke bieten dabei die Chance, das Wissen und die innovativen Krafte der Zivilgesellschaft schon bei der Konzeptionalisierung eines Entwicklungsprozesses zu beteiligen und sie nicht erst im nachhinein mit den Folgen zu konfrontieren. Insgesamt muB man dieses Konzept der starkeren Teilhabe jedoch gegen eine neoliberale Botschaft durchsetzen, die unter den Stichworten: ,Deregulierung', ,Marktkrafte freisetzen' und ,Kapitalmobilitat erhohen' nicht nur allein auf die individuelle Entscheidungsfahigkeit und Potenz der Untemehmer setzt, sondem im Ergebnis eine wachsende Ungleichheit und Lucke zwischen den wenigen Reichen und den vielen entfremdeten Menschen produziert hat. "(EiBel 1999b: 190) Kommune ist mehr als Organisationsstruktur, sie ist Lebenswelt, an der mitzugestalten Menschenrecht ist. Daraus ergibt sich insgesamt ein Mehrebenensystem der Verantwortlichkeit, der Mitwirkung und der Solidaritat: „Therefore, firstly, the quality of political leadership must be improved. Part of our effort entails developing qualification systems for political leadership with a rising responsibility conceming the new challenges and a clear accountability in a strong civil society. This civil society must, on the other hand, develop and maintain a high understanding of the profits of safeguarding so44
solidarity among citizens as core element of a democratic culture. Therefore we have to count on different attitudes and cultures being helpful for necessary or vice versa blocking destructive activities of citizens. Thus, we should support by closer collaboration in an integrated Europe experiences which best help to promote a broad democratic culture and social consensus, not only in order to improve the overall steering capacity, but safeguard a stable and peaceful living together of citizens against the harmful impacts of global processes in the spirit of neoliberalism." (Eifiel 2003: 45) „Safeguarding solidarity": Dieses ist der zentrale Begriff und Bezugspunkt in Dieter EiBels wissenschaftlichem und politischem Wirken. Er ergibt sich aus der stringenten Analyse sozial polarisierender, ausgrenzender Prozesse und Strukturen und hebt emphatisch die Bestimmung menschlicher Existenz im Dreischritt zwischen dem antiken Zoon politikon, dem friihburgerlichen individuellen Verstandnis von Freiheit, Vemunft und Bildung sow^ie der Einsicht, dafi angesichts einer warenfetischisierten Welt letztlich nur mit solidarischem Handeln Emanzipation moglich ist. 3
...der Vorhang zu und welche Fragen offen?
Der Gegner ist dingfest gemacht - v^o aber sind die, die Gegenmacht zu bilden bereit und fahig sind? Die Emphase eines Ferdinand Lassalle, daB iiber 90% der Bevolkerung zu den Entrechteten gehoren, folglich das allgemeine und gleiche Wahlrecht den Wechsel der Verhaltnisse bew^erkstelligen vmrde, ist angesichts der tatsachlichen sozialen Ausdifferenzierungen, Parteibindungen, Auflosung traditioneller Milieus, Politikverdrossenheit und zunehmend auch single purpose-movements nicht mehr einfach zu beantworten. Dabei steht ziemlich am Anfang des wissenschaftlichen Werkes von Dieter EiBel ein Aufsatz iiber „Zielsetzungen und Probleme der Formulierung und Durchsetzung einer altemativen Wirtschaftspolitik" (1980). Der „Kampf um wissenschaftliche Gegenoffentlichkeit", wie ihn sich die Gruppe der Altemativokonomen zum Ziel gesetzt hat, benotigt Partner als Akteure. Doch wen - die SPD, die Gev^erkschaften, die burgerliche Offentlichkeit, die Biirgerinitiativen? Heute wiirden sicherlich noch neue Parteikonstellationen wie die Griinen oder Die Linke hinzukommen, versehen, wie schon in dem Aufsatz von 1980, immer wieder auch mit einem kleineren oder groBeren Fragezeichen. Sein Konzept einer starkeren kommunalen und regionalen Vemetzung bezieht sich auch auf die Hoffnung, daB die Biirgerinnen und Biirger aufgrund starkerer Bildungsbeteiligung vermehrt einsichts- und handlungsfahig seien. Er steht damit in der Tradition der groBen Bildungsreformer und Aufklarer, denn er geht davon aus, daB sich die Einsicht in die Moglichkeiten und Notwendigkeiten fur eine friedlichere, humanere, die menschlichen und die naturlichen Ressourcen schonendere Entwicklung letztlich durchsetzen wird. Freiheit als Folge von Vemunft zwingt hier letztlich zur Einsicht in die Notwendigkeit - so die implizite SchluBfolgerung von Dieter EiBel. Doch bleibt Geschichte offen, mit Rosa Luxemburg gesprochen, zwischen Sozialismus und Barbarei. Die Erfahrungen faschistischer Barbarei in Europa und da besonders in Deutschland waren fiirchterlich, aber auch die Versuche, in einigen osteuropaischen Staaten den Sozialismus real existieren zu lassen, schrecken als Perspektive ab. Wie auch immer: Es bleibt gegenwartig vor allem die Gefahr der Barbarei. Die Neoklassik hat schon einmal, namlich am Ende der Weimarer Republik, einen erheblichen Beitrag zum Ende der Demokratie geleistet, ohne daB dieses bislang hinlanglich aufgearbeitet worden ware. Und gegen
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diese nach wie vor virulente Gefahr hilft nur die konkrete Gegenwehr, die Analyse, die Argumentation, der Appell, die Verweigerung, die Koalitionsbildung. „Zur Alternative gibt es keine Alternative, es sei denn eine im Sinne der Arbeiterbewegung bessere, und zwar solche, die auch von Wissenschaftlem autonome Leistungen verlangt" (EiBel 1980: 42). Die Alternative umfaBt inhaltlich Ziel- und Wegbestimmung, zugleich die solidarische Anstrengung, das Zusammenfiihren von Menschen, die um die Gefahrdung ihrer Existenz und ihres Zusammenlebens wissen. 4
KoHegialer HochschuUehrer als (Single man-)Tesim im weltweiten Wissenschaftsnetz
Es ist schon sehr anstrengend, ein Individuum zu werden. Wer immer mit Teilen der jtingeren akademischen Generation zu tun hat, reibt sich mitunter erstaunt die Augen, mit welchen zum Teil aufgesetzten Mitteln hier mitunter Distinktion geschaffen werden soil. Dieter EiBel hatte es da leichter - oder schwerer, je nachdem. Er kam aus Ulfen in Nordhessen, da kam noch nie ein HochschuUehrer her. Er war sehr friih Vollwaise und kampfte schon als Minderjahriger darum, Vorstand des Haushaltes zu sein, in dem nur er und sein zwei Jahre alterer, ebenfalls minderjahriger Bruder lebten. Er setzte sich damit erfolgreich durch! Dieter EiBel war und ist immer beides: ein einzelner und getragen von koUegialen, freundschaftlichen Strukturen, er ist ein Mann des Teams, aber auch der einsame Steppenwolf. Er hatte und hat Freundinnen und Freunde, die sind weltweit verstreut. Er pflegt diese Freundschaften mit einer groBen Beharrlichkeit und Ausdauer. Das „Haus EiBel" war und ist immer offen, aber er kann sich auch abgrenzen. Dieter EiBel ist ein Mann der Nahe und der Distanz in einem. Er setzt nicht auf formale, wohl aber auf inhaltliche Autoritat, er achtete immer das Alter, woUte aber auch, daB man das seine achtet, und zwar schon als Jugendlicher und als junger Mann. 1971 ist Dieter EiBel an die Justus-Liebig-Universitat gekommen, zunachst als Wissenschaftlicher Mitarbeiter, dann als Akademischer Rat und schlieBlich als Professor. (Jber 35 Jahre hat er Studierendengeneration nach Studierendengeneration auf ihrem Weg durch das wissenschaftliche flache und tiefe Wasser geleitet. Er ist ein VoUblut-Hochschullehrer, der sein Wissen weitergibt, zu eigenstandigem Denken ermutigt, Irrwege aber auch ebenso deutlich hinterfragt. In der Lehre, in den ausgegebenen studienbegleitenden Arbeiten, in den AbschluBarbeiten, iiberall spiegelt sich das breite Set seines eigenen wissenschaftlichen Lebens wider, zugleich von den Studierenden selbstandig weitergefuhrt. Durch seinen forschungsmaBigen Wechsel der Policy-Felder einerseits, das stete Zuriickkommen auf die jeweiligen Themen nach einer gewissen Zeit, verkorpert Dieter EiBel die Einheit von Forschung und Lehre. Damit steht er zugleich gegen technokratische Tendenzen einer zunehmenden Standardisierung von Lehre. Schon sein lustbetonter Vermittlungsstil und seine kritische Neugier lieBen es nicht zu, ihn auf die stete Reproduktion von Standardwissen zu begrenzen. Daran wird auch der „Bologna-ProzeB" nichts andem! Dieter EiBel ist ein iiberaus fleiBiger Doktorvater. Er hat sehr vielen jiingeren KoUeginnen und Kollegen, aus dem In- und Ausland, dabei geholfen, die schwierige Hiirde der akademischen Initiation zu meistem und dann eine geeignete Karriere anzutreten, empirisch solide arbeitend, theoretische Bezuge zur gesellschaftlichen Gesamtheit aufzeigend und konkrete Umsetzungsfelder herausstellend. Dabei schafft er fiir die Nachwuchswissen-
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schaftler bzw. -wissenschaftlerinnen stets von neuem Chancen der Profilierung, indem er ihnen nicht nur Veroffentlichungsmoglichkeiten in von ihm edierten Publikationen schafft, sondem auch, indem er ihnen selbst Herausgeberschaften bzw. Koautorenschaften ermoglicht. Er schreibt in Banden seiner Schiilerinnen und Schiiler. Er offnet bei Verlagen Tiiren, damit andere sich profilieren konnen. Dabei laBt er stets so viel Raum und Leine, wie irgend moglich. Er bindet an sich, soweit notig, er laBt los, sobald sinnvoll. Er setzte Pflocke, nicht des Beharrens und des Konservativismus, sondem des Redlichen und des Sich-Vermittelns. Nicht, weil etwas schon mal gestem oder vorgestem gesagt bzw. geschrieben worden ist, ist es heute „unmodem". Veranderungen, auch in der wissenschaftstheoretischen Sichtweise, in der erkenntnistheoretischen Grundlegung, miissen vermittelt werden, sie springen nicht voluntaristisch hin und her. Dieter EiBel ist kein „UnzeitgemaBer", sondem ein Dialektiker, der immer wieder die Fortentwicklung von These und Antithese zur (neuen) Synthese sucht. So wird er zum Kristallisationskem von Nachwuchswissenschafllem und -wissenschaftlerinnen, welche die Vitalitat und VaHditat dieser Herangehensweise, dieses Lebensentwurfs iiberpriifen, sich damit auseinandersetzen und schHeBlich selbst entscheiden konnen, wie weit sie davon mitgetragen werden konnen. Lehre und Forschung, wissenschaftliche Theorie und Praxis sind in einer europaisierten und globalisierten Welt nicht mehr national, schon gar nicht auf der Ebene einer Hochschule organisierbar und nutzbringend umzusetzen. Es bedarf des intemationalen Netzwerkes. Hier hat Dieter EiBel sehr erfolgreich gewirkt, zunachst im Kontext der AltemativOkonomen, dann beim Studierenden- und beim Dozentenaustausch, sei es innerhalb der Europaischen Union, sei es dariiber hinaus. Dabei hat er selbst Dozenturen in England, Frankreich, Spanien, Italien, Belgien, Griechenland, Polen, Osterreich, Finnland, Ungam und der Tiirkei iibemommen. Unter seiner maBgeblichen Beteiligung sind Netzwerke in Europa entstanden, die Fragen der Verteilung, der sozialpolitischen Gestaltung und schlieBlich der nachholenden Entwicklung innerhalb der Beitrittslander der Europaischen Union zum Inhalt haben. Und schlieBlich, wer Doktoranden aus vielen Staaten dieser Welt betreut hat, hat schon allein dadurch Kontakte auch tiber Europa hinaus. Dieter EiBel hat Gastvortrage in Australien, Taiwan, Japan, Indonesien, Usbekistan und RuBland gehalten. Inzwischen ist er zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften der Mongolei emannt worden. Zahlreiche Publikationen sind nicht nur in Englisch, sondem auch in vielen anderen Sprachen veroffentlicht worden, auch in solchen, die er selbst gar nicht versteht. Diese intemationalen Kontakte sind Quelle der Erkenntnis, daB Politik auch anders sein kann, daB Politik so nicht werden darf, daB Politik Nah- und Femziele, Nah- und Femwirkungen hat. 5
Die Quintessenz
Dieter EiBel bringt selten etwas aus der Ruhe, Hektik mag er iiberhaupt nicht, aber Unrecht und das Versaumen bzw. Verhindem realistischer Altemativen, das hat ihn stets aufgeregt und fordert bei ihm bis heute affektive Gegenwehr heraus! Seine Vision ftir die Zeit als Pensioner: Mit einer Flasche Rotwein am FuBe der Sierra Nevada sitzen, iiber die Zeitlaufe nachdenken und mit freundlichen Menschen zusammensein. Die andere Seite aber ist komplementar: Denn Otium - die MuBe - ist fur Dieter EiBel letztlich die Kehrseite von Negotium - Betriebsamkeit, Arbeit, Tatigwerden. Und in beidem ist er ganz von dem Erkennt-
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nisinteresse gepragt, menschliche Integritat und Authentizitat mit Sozialitat und Teilhabe zu verbinden. Sein Wirken ist facettenreich: Es erganzen sich analytische Auseinandersetzungen mit politischer und okonomischer Theorie sowie empirische Studien zu unterschiedlichen Politikfeldem. Hinzu treten wissenschaftliche Gutachten fur politische Handlungstrager und Lehrmaterialien zu einzelnen Unterrichtsbereichen. Diese Arbeiten sind stets von einem Dreischritt gepragt: Problementfaltung einschlieBlich Darstellung der hegemonialen Deutung, zweitens Ideologiekritik und drittens Ableiten von Handlungsaltemativen auf dem Hintergrund realanalytischer Datenaufbereitung. DaB vorfindbare Verteilungsmuster als okonomisch, politisch, weltwirtschaftlich etc. sakrosankt dargestellt werden, das regt Dieter EiBel wirklich auf. Es regt ihn auf, wenn er problemlos zeigen kann, daB selbst gemaB der vorfindlichen kapitalistischen Logik Altemativen denkbar, ja anderenorts sogar als notwendig dargestellt werden, und daB Verteilungsprozesse letztlich zur Blockade gesellschaftlicher Kohasion werden. Denn dagegen setzt er normativ die Postulate „Freiheit, Gleichheit, Briiderlichkeit" der biirgerlichen Revolution, vor allem aber die aus der marxistischen Theorie sowie aus der Praxis der Arbeiterbewegung gewonnenen Forderungen nach Gerechtigkeit und Solidaritat. Setzte das Fruhbiirgertum, wie von ihm in seinem Band „Eigentum" dargelegt (EiBel 1978), noch auf eine in etwa egalitare Verteilung des Besitzes, setzte der wissenschaftliche Sozialismus und setzten Telle der Arbeiterbewegung auf eine Neubestimmung von Eigentum und Verteilung im Sinne eines an den Fahigkeiten und dem Bedarf des einzelnen orientierten solidarischen Gesellschaftsverbundes. Und hier schlieBt sich der Kreis: Im Wunsch, am FuBe der Sierra Nevada sitzend zwischen Skiabfahrt und Baden, zwischen Rotwein und kiihlem Bier zu entscheiden, darin kommt die Marxsche Vorstellung zum Tragen, wonach die Menschen im Reich der Freiheit, im Sozialismus, morgens jagen, mittags fischen und abends wer weiB was spielen konnen, weil die notwendigen Giiter zur menschlichen Reproduktion gemeinschaftlich und entsprechend der jeweiligen Fahigkeiten erwirtschaftet und nun zum gemeinsamen Verzehr entsprechend den jeweiligen Bediirfnissen zur Verfugung stehen. Diese Zentrierung in Gerechtigkeit und Solidaritat ist Lebensentwurf insgesamt, ohne schematische Trennung zwischen wissenschaftlich und privat, zwischen gewerkschaftlichem bzw. hochschulpolitischem Engagement und freier Lebensgestaltung. Dieser Lebensentwurf bezieht sich auch auf den Umgang mit Menschen, beginnend bei den schwarzafrikanischen Freunden im Studium bis zur aktuellen Betreuung von Examenskandidatinnen und Doktoranden. Der harte Empiriker Dieter EiBel ist zugleich Utopist. Er, der wie kaum ein anderer schuftet, bekommt gliihend-strahlende Augen bei der Lekture von Paul Lafargues Begriindung eines „Rechts auf Faulheit" (1883/1966): Die Utopie von der Verwirklichung von Gerechtigkeit und Solidaritat erheischt beides, die Vision und die harte Detailarbeit. Aber die blanke Plackerei ohne Utopie bedeutet ihm letztlich doch bloB ein Klein-Klein ohne Fortschritt, die Utopie ohne konkrete Untermauerung letztlich Fiktion ohne Verwirklichungschance. Erst beide zusammen schaffen ihm Perspektive hin auf ein - mogliches, nicht „natumotwendiges" - geschichtsphilosophisches Telos, zugleich auf ein erfiilltes praktisches Leben als Wissenschaftler, Kollege, Lehrer, Mitmensch. In diesem Sinne beginnt der je einzelne keine „neue Arbeit", sondem leistet vielmehr seinen Beitrag, daB die „alte Arbeit" der Menschheit zustande gebracht wird (MEW 1970, 1: 346).
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2 Anspruch und Wirklichkeit von Gerechtigkeit in der deutschen Gegenwart
Friedhelm Hengsbach SJ.
„Wer siegt, hat Recht"? Das kapitalistische Regime unter dem Anspruch der Gerechtigkeit.
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Einleitung
Die weltweiten Veranderungen, die das Wunder der friedlichen Revolution in Mittel- und Osteuropa ausgelost hat, waren so iiberraschend und beeindruckend, dafi man sie als das „Ende der Geschichte" oder den Anbruch einer „neuen Friedensordnung" gekennzeichnet hat. Dieses Urteil war unzutreffend und entsprang eher einer romantischen Sehnsucht als einer nuchtemen Diagnose. Aber aus dem Zusammenbruch der Kommandowirtschaften des real existierenden Sozialismus und der politischen Regime, die um eine einzige Staatspartei herum organisiert waren, ist ein koUektiver Traum entstanden, dali Freiheit und wirtschaftlicher Wohlstand, Kapitalismus und soziale Gerechtigkeit miteinander versohnt werden konnten. In der Folge sind weltweit marktwirtschaftliche Ordnungen und formale Demokratien etabliert worden. Papst Johannes Paul II. (1991) hat den sakularen Ereignissen des Jahres 1989 ein eigenes Sozialrundschreiben gewidmet. Darin stellt er die Frage, ob nach dem Scheitem des Kommunismus der Kapitalismus das siegreiche Gesellschaftssystem sei, das die Anstrengungen der Transformationslander verdient und den Entwicklungslandem empfohlen werden soil. Gleichzeitig widerspricht er der Behauptung, daB die Niederlage des sogenannten realen Sozialismus den Kapitalismus als das einzige Modell wirtschaftlicher Organisation iibriglasse. Vielmehr meint er, daB die westlichen Lander Gefahr laufen, in diesem Scheitem den einseitigen Sieg ihres Wirtschaftssystems zu sehen und sich nicht darum zu kiimmem, an diesem System die gebotenen Korrekturen vorzunehmen. Aus globaler Sicht beobachtet der Papst einen neuen, ungezahmten Kapitalismus, der an der absoluten Vorherrschaft des Kapitals und des Eigentums an Produktionsmitteln iiber die Menschen als freie Subjekte der Arbeit festhalt. Die menschlichen Defizite dieses Wirtschaftssystems, das die Herrschaft der Dinge iiber die Menschen festigt, verkorpem sich in sozialer Ausgrenzung, Ausbeutung und Entfremdung. Eine menschliche Alternative dazu ware eine Ordnung, die den Markt durch gesellschaftliche Krafte und staatliche Organe ordnet sowie den Unternehmen einen Ort freier Arbeit und Beteiligung zuweist. Die Untemehmen seien nicht in erster Linie als Gesellschaften der Kapitaleigner zu sehen, sondem als eine Kooperation von Menschen, deren spezifischer Beitrag durch den Einsatz von Kapital und Arbeit geleistet wird. Im folgenden sollen drei Verfahren erlautert werden, mit deren Hilfe sich jene „gebotenen Korrekturen" veranschaulichen lassen, von denen das Sozialrundschreiben spricht. Die groBen Parteien sind seit der Jahrtausendwende bemiiht, ihre sogenannten sozialen Reformen mit Hilfe eines politisch umgedeuteten Gerechtigkeitsbegriffs zu rechtfertigen. Aus den sozialphilosophischen Diskursen werden beispielhaft eine tauschorientierte und eine variable Deutung der Gerechtigkeit herausgegriffen. Diesen zwei Verfahren wird eine
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Deutung der Gerechtigkeit als Gleichheitsvermutung gegeniibergestellt. Sie bietet einen MaBstab, um zu prtifen, ob der Kapitalismus demokratisch und sozial zu rechtfertigen oder aber zu korrigieren ist. 2
Parteipolitische Umdeutungen
Seit der Jahrtausendwende sind die im Bundestag vertretenen Parteien dabei, sich mit Versuchen zu iibertreffen, den Begriff der Gerechtigkeit so umzudeuten, daB er mit dem angestrebten Um- oder Abbau des Sozialstaats vereinbar wird. Die Rilckkehr der Gerechtigkeitsfrage Wolfgang Thierse hatte im Sommer 2000 beobachtet: „Die Gerechtigkeitsfrage ist in die Gesellschaft zuruckgekehrt" (Thierse 2000). Tatsachlich bemtihten sich Vertreter der beiden groBen Parteien darum, einen „neuen", „modemen", „zeitgemaBen" Gerechtigkeitsbegriff zu formulieren, der an die Herausforderungen der Globalisierung und der demographischen Veranderung „angepaBt" sei. Das Volk solle sich von der Verteilungsgerechtigkeit verabschieden. Chancengleichheit und BeteiHgungsgerechtigkeit seien die neuen Namen fiir Gerechtigkeit. Bessere Zugangschancen zur Bildung solle der Staat bereitstellen, anstatt finanzielle Mittel zu verteilen. Die Teilhabe an der gesellschaftlich organisierten Arbeit, indem die Arbeitsuchenden schneller und besser in den regularen Arbeitsmarkt vermittelt werden, sei der Auszahlung eines komfortablen Arbeitslosengeldes vorzuziehen. Da die Individuen iiber unterschiedliche Talente verfligen und sich unterschiedlich anstrengen, sollten sie durch differenzierte Einkommen und Vermogen entlohnt werden. Je mehr die Einkommens- und Vermogensverteilung gespreizt sei, umso hoher seien die Leistungsanreize und desto vorteilhafter sei dies fiir ein hoheres Wachstum und mehr Beschaftigung. Der Leistungs- und der Marktgerechtigkeit gebiihre also ein Vorrang vor der Bedarfsgerechtigkeit und der Solidaritat. Die Kritik an der Verteilungsgerechtigkeit sei von der am Sozialstaat nicht zu trennen. Dieser sei ineffizient und fiir die Schieflage sozialer Gerechtigkeit verantwortlich. Da er biirokratisch aufgeblaht worden sei, konne er die erwartete personliche Zuwendung nicht leisten. Stattdessen lahme er die Eigeninitiative und die Formen zivilgesellschaftlicher Solidaritat. Eine zivile Gerechtigkeit werde aus der verstarkten Selbstorganisation der Gesellschaft erwachsen. SchlieBlich belege der sich verscharfende Konflikt zwischen JUngeren und Alteren, daB die Generationengerechtigkeit verletzt sei. Die Mainzer Erkldrung der CDU Die Mainzer Erklarung der CDU vom Januar 2006 proklamierte gleich viermal eine „Neue Gerechtigkeit durch mehr Freiheit" (Pofalla 2006). Die Partei suchte offensichtlich auf die iiberraschende Entscheidung der Wahlerinnen und Wahler in der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 zu reagieren. Diese hatten sich offenkundig gegen das marktradikale Angebot einer schwarz-gelben Koalition ausgesprochen, aber auch dagegen, daB die Politik der „Agenda 2010" einschlieBlich der „Hartz-Gesetze" fortgesetzt wiirde. Die „neuen" Gerechtigkeiten sind die Chancen- und Generationengerechtigkeit sowie die Leistungs- und Familiengerechtigkeit. Das komparative Definitionsmerkmal bleibt unbestimmt, weil es be-
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darfsweise als negative Freiheit im Sinn der biirgerlichen Abwehrrechte oder als positive Freiheit im Sinn der wirtschaftlich-sozialen Anspruchsrechte verstanden wird. So werden die Aufhebung von blockierenden Regelungen auf dem Arbeitsmarkt sowie mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen und zwischen den Landem verlangt. Aber gleichzeitig will man die ungleichen Lebenschancen der Ostdeutschen und der alteren Arbeitnehmer, das Armutsrisiko der Familien und die Benachteiligung der Kinder aus bildungsfemen Haushalten beseitigen. Appelle an die Eigenverantwortung durchziehen wie ein roter Faden die Erklarung. Behutsame Korrektur Offensichtlich sind die parteipolitischen Umdeutungen der Gerechtigkeit von dem Interesse bestimmt, im Kampf um Wahler- und Wahlerinnenstimmen Platzvorteile zu gewinnen. Sie stimmen darin iiberein, daB sie die Pluralisierung der Gerechtigkeit und die Vielzahl der Genitiv-Gerechtigkeiten fur die sozial- und arbeitsmarktpolitischen Reformen zu verzwecken suchen. Denn gesellschaftliche Verteilungsregeln beziehen sich nie bloB auf materielle Giiter oder Giiter iiberhaupt, sondem auch auf Lebenschancen, Machtmittel, soziale Anerkennung und wirtschaftliche Verfligungsrechte in verschiedenen gesellschaftlichen Spharen. Schon gar nicht sind diejenigen, die die Verteilungsfrage stellen, auf eine Gleichverteilung der Giiter oder auf deren Verteilung nach den Bediirfnissen fixiert. Sie respektieren neben der Sekundarverteilung von Einkommen durch den Staat eine Primarverteilung durch den Markt. Die Vorliebe, die dem Begriff der Chancengleichheit beim Zugang zu Bildungsgiitem gilt, ist begriindungsbediirftig, solange etwa den Frauen, obwohl sie meist hoherwertige Bildungsabschliisse vorweisen konnen, gleichrangige Chancen auf den Arbeitsmarkten und beim Einkommen verwehrt sind. Unterschiedliche Einkommen und Vermogen sind neidlos anzuerkennen, soweit sie durch personliche Talente und Anstrengungen erworben wurden. Die tatsachliche Verteilung der Einkommen und Vermogen in Deutschland ist jedoch vorrangig auf den sozialen Status der Eltem, auf sexistische Rollenmuster, gesellschaftliche Beziehungen und wirtschaftliche Machtverhaltnisse zuriickzufiihren. Die Grundsatze der Tausch- und Marktgerechtigkeit, die dem MaBstab strenger Aquivalenz folgen, sind dem Grundsatz der Verteilungsgerechtigkeit faktisch nachgeordnet. Denn bei jedem Tausch von Giitem wird unterstellt, daB die Marktpartner berechtigt sind, iiber die getauschten Giiter zu verfiigen. Dagegen konnte eingewendet werden, daB die rechtmaBige Verteilung der Guter vor dem Tauschvorgang aus friiheren Tauschakten resultiert. Wird jedoch die Kette der Marktbeziehungen immer weiter zuriickverfolgt, endet die Reihe bei einer als gerecht unterstellten Ausgangsverteilung. Also liegt die Verteilungsgerechtigkeit der Tauschgerechtigkeit auch logisch voraus. Die Zivilgesellschaft taugt nicht dazu, das sozialpolitische Vakuum, das ein Wettbewerbsstaat hinterlaBt, zu fiillen. Zivilgesellschaftliche Initiativen bilden den Klassencharakter der Gesellschaft ab. Sie setzen sichere Arbeitsplatze, Einkommen und Partnerbeziehungen voraus. Sie orientieren sich milieuabhangig und interessenbezogen an sportlichen und kulturellen Vorlieben. Untemehmen als zivilgesellschaftliche Akteure verfolgen zu Recht in erster Linie betriebliche und wirtschaftliche Interessen. Sie sind keine Adressaten von Grundrechtsanspriichen. Der Begriff der Generationengerechtigkeit bleibt beziiglich seiner Bestandteile sowohl der Gerechtigkeit als auch der Generation ziemlich vage. Die Gerechtigkeit regelt Rechte und Pflichten real existierender Personen und Personengruppen. Als solche Rechtstrager
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konnen zukunftige Generationen nicht identifiziert werden. Das Wort „Generation" laBt in einer GroBfamilie, in Bildungseinrichtungen, bei gemeinsamen Erlebniswelten und in der Sozialversicherung sehr unterschiedliche Sinnhorizonte anklingen. Die familiare Geschlechterfolge von Urahne, GroBmutter, Mutter und Kind kann nicht auf die modeme Arbeitsgesellschaft iibertragen werden. So ist in einer Erwerbsarbeitsgesellschaft die biologische Zusammensetzung der Bevolkerung nicht die SchliisselgroBe wirtschaftlicher Leistungskraft. Die Altersstruktur spielt gegeniiber den Wachstumserwartungen, dem Beschaftigungsgrad und der Produktivitat eine nur nachrangige Rolle. Denn unabhangig vom Lebensalter hat die Gruppe der Erwerbstatigen ein Volkseinkommen zu erwirtschaften, das fiir den eigenen Lebensunterhalt wie auch fiir den der nicht Erwerbstatigen ausreicht. 3
Sozialphilosophische Diskurse
Aus dem sozialphilosophischen und politikwissenschaftlichen Diskurs werden nachfolgend zwei Beitrage von Otfried Hoffe und Paul Nolte exemplarisch dargestellt und kommentiert. Gerechtigkeit als Tausch Otfried Hoffe (2002 u. 2005) hat sich kritisch iiber das beherrschende Dogma des Gerechtigkeitsdiskurses geauBert, das die Verteilungsgerechtigkeit zum Kern der Gerechtigkeit erklart. Er sieht im Tausch das vorrangige Muster sozialer Beziehungen, weil die Menschen nicht nur knappe Giiter, sondem auch Geschichten, Erkenntnisse und selbst (in Heiratsvertragen) Personen tauschen wiirden. Dariiber hinaus sei das MaB fur den gerechten Tausch, namlich die strenge Aquivalenz des Gebens und Nehmens oder der wechselseitige Vorteil unstrittig, wahrend iiber das MaB der Verteilungsgerechtigkeit heftig gekampft wird. Da heutzutage der Staat iiber das, was zu verteilen ist, verfiige und es austeile, verkorpere das Verteilungskonzept eine patemalistische oder matemalistische Beziehung, eine Fiirsorgementalitat, wahrend der Demokratie die geschwisterliche Wechselseitigkeit, der gleichrangige Tausch angemessen sei. So lasse sich die Verpflichtung der Kinder, die Eltem zu ehren, tauschtheoretisch durch einen Familienvertrag begriinden. Sowohl die hilflosen Kinder als auch die gebrechlichen Eltem hatten ein Interesse daran, daB ihre Schwache nicht ausgenutzt, sondem ihnen geholfen wird. Fiir die mittlere Generation sei es vorteilhaft, wenn sie ihre Machtuberlegenheit nicht ausspielten. Sie wiirden sich ftir einen Gewaltverzicht aus Grunden der Tauschgerechtigkeit entscheiden. Indem nun ein koUektiver Generationenvertrag an die Stelle des Familienvertrages getreten sei, habe der Staat die Eigenstandigkeit und das Eigengewicht der Familie als primarer Gmppe beschnitten und diese entmachtet. Fur diese Entmachtung miisse er den Biirgerinnen und Burgem eine Entschadigung leisten. Auch die Arbeitslosenversichemng konne tauschtheoretisch begnindet werden. Die Daseinsvorsorge habe fruher bei den Kommunen gelegen. Diese seien durch die politische Zentralisiemng entmachtet worden, wofiir sie nun entschadigt werden miiBten. Die Entwicklungshilfe sei als eine Entschadigung fur jenes Unrecht zu betrachten, das die Kolonialmachte den Staaten der sudlichen Hemisphare zugeftigt hatten. Auch die Benachteiligung der Frauen bzw. die Ausbeutung der Arbeiter seien durch aquivalente Entschadigungen der Manner bzw. der Gesellschaft wiedergutzumachen.
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Hoffes Argumente fiir eine Deutung der „Gerechtigkeit als Tausch" sind wohl nur iiberzeugend, wenn ethische, anthropologische und sozialgeschichtliche Reflexionen kombiniert werden und ein „sozialgeschichtlich sensibler Tauschbegriff unterstellt ist. Eine geschwisterliche Wechselseitigkeit ist in zahlreichen gesellschaftlichen Spharen erst durch die staatlich sanktionierte Rechtsordnung hergestellt worden. Das Szenario unfreiwilliger Tauschakte zwischen Partnem, die gewalttatig vorgehen (Raub) oder iibervorteilt werden (Betrug), so daB Anspruche auf Wiedergutmachung entstehen, umfaBt nur ein Segment der Tauschgerechtigkeit. Es bleibt auch diffiis, welcher Akteur nun welche Restitutionsansprtiche gegeniiber welchem Adressaten durchsetzen soil? Die sozialgeschichtliche Rekonstruktion urspriinglicher Familien, Gemeinden oder Arbeitswelten, die nachtraglich durch die Gesellschaft, den Staat oder den Kapitalismus „enteignet" worden seien, so dafi sie daffir entschadigt werden miiBten, erscheint extrem artifiziell. Und schlieBlich ist in einer arbeitsteiligen und marktwirtschaftlich organisierten Wirtschaft das Kriterium der strengen Aquivalenz nicht praziser abgrenzbar als das des Bedarfs. Stufen der Gerechtigkeit Paul Nolte (2005) stellt eine „Renaissance der Gerechtigkeit" in Deutschland fest. Er sucht sie dadurch zu erklaren, daB eine neue Dynamik des Kapitalismus die Vermogen, Einkommen sowie Bildungs- und Lebenschancen derzeit weniger gerecht als zuvor verteilt, und daB die Reformen, die durch die okonomischen und gesellschaftlichen Veranderungen erzwungen werden, die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft verstarken, anstatt sie abzufedem. Seiner Meinung nach wird die traditionelle Polarisierung der Klassengesellschaft jenseits der Spannungslinien „Kapital und Arbeit", „Arm und Reich" von Ungleichheiten iiberlagert, die sich auf das Geschlecht, die Altersgruppe, Haushalte mit oder ohne Kinder und die ethnische Herkunft beziehen. Sie auBem sich ebenso in materieller Entbehrung abhangig Beschaftigter, Langzeitarbeitsloser und verfestigt Sozialhilfebedurftiger wie in kultureller Sensibilitat, Konsumstilen, raumlicher Segregation und Krankheitsbildem. Diese Ungleichheiten, deren Spannungslinien sich kompliziert iiberlagem, werden als ungerecht empfiinden. Deshalb differenziert Nolte den Begriff der Gerechtigkeit in drei Aspekte bzw. in drei Stufen, die er „Identitat", „Faimess" und „Gleichheit" nennt. Der Aspekt der „Identitat" verweist auf das Paradox modemer, weltanschaulich pluraler Gesellschaften, in denen Angehorige abweichender soziokultureller Milieus friedlich zusammenleben. Gesellschaftliche Teilgruppen haben sich unterschiedliche Lebensentwiirfe und Handlungsorientierungen angeeignet, in denen sie sich selbst verwirklichen und ihre Identitat finden. Sie erwarten zu Recht, ohne Zwang und Entfremdung dem eigenen soziokulturellen Charakter treu bleiben zu konnen. Es entspricht dem Grundsatz der Gerechtigkeit, daB in pluralen Gesellschaften unterschiedliche Identitaten von Teilgruppen nicht dem Zwang zur Gleichformigkeit unterworfen werden. Diese haben ein Recht auf Anerkennung, damit sie so bleiben diirfen, wie sie sind. Der Aspekt der „Faimess" soil hervorheben, daB jede Person so behandelt wird, wie sie es verdient. Der MaBstab dessen, was sie verdient oder was ihr zukommt, ist gesellschaftlich auszuhandeln. Dann aber gilt, daB etwa bei Berufiingen und Auswahlverfahren gleiche Sachverhalte gleich und solche, die ungleich sind, auch ungleich behandelt werden - ohne Ansehen der Person.
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Der Aspekt der „Gleichheit" bezieht sich auf gleiche Chancen oder auf eine gleiche Giiterausstattung, die jedoch allenfalls als fiktiver Naturzustand zu verstehen ist. In einer real existierenden Gesellschaft dagegen, die durch den Schutz des Privateigentums und eine differenzierte Arbeitsteilung gekennzeichnet ist, sind Ungleichheiten der Giiterausstattung, soweit sie auf unterschiedliche Talente und personliche Anstrengungen zuruckgefuhrt werden konnen, moralisch vertretbar. Sie sind auch fiinktional gerechtfertigt, soweit sie als Entgelt fflr niitzliche Kompetenzen und die Ubemahme von Verantwortung gelten konnen. Und wenn sie ftir die weniger Privilegierten vorteilhafter sind als eine strikte Gleichheit. Werden diese MaBstabe verfehlt, ist eine staatliche Umverteilung durch progressive Besteuerung und Transferzahlungen gerechtfertigt. Die Aspekte der Gleichheit und Anerkennung sind - so hat sich gemaB dem Urteil von Paul Nolte herausgestellt - nicht universell durchsetzbar. Dies gilt zunachst fur die Gleichheit und erst recht ftir sie in bezug auf die materielle Guterverteilung. Gleichheit und Freiheit werden in Deutschland und in den USA unterschiedlich gewichtet. Die Gleichheit wird im angelsachsischen Kulturkreis eher auf die Startchancen eines Individuums bezogen, das mit Freiheitsrechten ausgestattet ist, wahrend im kontinentaleuropaischen Kulturkreis eher der Staat gleichwertige Ergebnisse zu gewahrleisten hat. Die Gleichheit und insbesondere die materielle Verteilungsgerechtigkeit werden gerade zu dem Zeitpunkt bestritten, da sich die Diskrepanz zwischen den politischen bzw. moralischen MaBstaben des Wohlfahrtsstaats und seiner tatsachlichen finanziellen Krise zuspitzt. Aber nicht weniger umstritten fmdet Nolte den Aspekt der Anerkennung. Denn die Anerkennung kultureller Identitat endet seinem Urteil nach dort, wo grundlegende Rechte und Pflichten zivilen Zusammenlebens (Freiheit und Gleichberechtigung der Geschlechter) in Frage gestellt werden und wo sich unter dem Schirm anerkannter Identitat Zonen der Benachteiligung und verminderter Lebenschancen verfestigen. Folglich scheint sich als Kandidat universeller Durchsetzbarkeit der Aspekt der „Teilhabe" herauszubilden. Die Karriere des Teilhabebegriffes ist, so urteilt Nolte, aus der Krise der Umverteilung und der Anerkennung hervorgegangen. Er hat sich an jenen Spannungslinien zu bewahren, die den Arm-Reich-Konflikt der industriellen Gesellschaft sprengen. „Teilhabe" meint die Fahigkeit, an den allgemeinen, elementaren Lebenschancen einer Gesellschaft teilnehmen zu konnen. Sie zielt auf die Starkung der Ressourcen selbstandiger Lebensfuhrung, insbesondere auf kulturelle Kompetenzen, die zuerst durch Bildung vermittelt werden. Beispielsweise trifft ftir Jugendliche aus Migrantenfamilien, die keinen SchulabschluB haben, eine solche Zielsetzung den Kern der Ungerechtigkeit, wahrend eine Umverteilung finanzieller Mittel bloB Symptome kuriert, ohne die Ursachen der Ausgrenzung zu beseitigen. Paul Nolte hat die semantischen Verschiebungen des sozialphilosophischen Diskurses iiber den Begriff der Gerechtigkeit zutreffend nachgezeichnet. Seine Skizze hat jedoch auch erkennen lassen, wie dieser Diskurs mit den situativen Herausforderungen und mit den parteipolitischen Umdeutungen korrespondiert. Nolte reiht sich in den Chor derjenigen ein, die materielle Armut und prekare Beschaftigung vorrangig als kulturelles Phanomen deuten, das durch Bildungsarmut und mangelnde Selbstandigkeit verursacht und mit Hilfe eines aktivierenden Sozialstaats aufzubrechen sei. Dennoch ist eine solidarische Hilfe zur Selbsthilfe, die eventuell einem zivilgesellschaftlichen Ermessen unterliegt, etwas anderes, als wenn ein Rechtsanspruch von Btirgerinnen und Btirgem sozialstaatlich eingelost wird.
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Ebensowenig ist eine humanitare Hilfe, die etwa den Opfem von Naturkatastrophen geleistet wird, dem vergleichbar, was Mitglieder einer Gesellschaft sich wechselseitig schulden. Nolte iibemimmt auch die Klage iiber die unproduktive und entmiindigende staatliche Umverteilung sowie die verbreitete Rhetorik der Eigenverantwortung. Zwar wird eine Verantwortung der Gesellschaft fur die wirklich Bediirftigen anerkannt. Gleichwohl werden die Bediirftigen selbst dafiir verantwortlich gemacht, daB sie der Gesellschaft nicht unnotig zur Last zu fallen. Die Rechtfertigungslast wird nahezu umgekehrt: Diejenigen, die durch die bestehenden Verhaltnisse benachteiligt sind, sollen gegenuber den strukturell Privilegierten nachweisen, warum sie die Chancen, die ihnen die Gesellschaft angeblich bietet, nicht ergriffen haben. Noltes Pluralisierung der Gerechtigkeit bleibt schillemd und doppeldeutig: Identitat, Fairness und Gleichheit sind „Aspekte", „MaBstabe" oder „Stufen" der Gerechtigkeit, die nach seinem Verstandnis aufeinander aufbauen und auf zunehmend komplexen Voraussetzungen beruhen. Gleichzeitig wird die Semantik der Anerkennung als eine adaquate Antwort auf die Grenzen der Verteilungsgerechtigkeit und einer als kulturell gleichformig unterstellten Gesellschaft eingefuhrt. Und die Teilhabe als universelle Norm soil die zwar geltenden, aber nicht universell durchsetzbaren Aspekte der Umverteilung und Anerkennung ablosen. Nun macht ein Anspruch konkreter Personen oder gesellschaftlicher Teilgruppen darauf, daB ihre Identitat anerkannt wird, keineswegs eine kritische Priifiing iiberflussig, welche Anspriiche nun berechtigt sind und welche nicht, welche als wechselseitig geschuldet zu beurteilen sind und welche nicht. Den Begriff der Teilhabe scheint Nolte zwar mit der Vermutung universeller Durchsetzbarkeit (und allgemeiner Geltung) auszustatten, reiht ihn aber doch dem Bemiihen um Differenzierung und Pluralisierung der Gerechtigkeit ein. Damit entzieht er sich der Frage nach einer Rangordnung gesellschaftlicher Teilhabechancen, die jeweils iiber den Weg der Bildung, der Erwerbsarbeit oder der Gesundheit erreichbar sind. Solange das Geld als allgemeines Kommunikationsmedium gilt und hochrangig gewichtet wird, spielt das (Arbeits-) Einkommen wohl eine zentrale Rolle gesellschaftlicher Teilhabe. Aber unbeschadet dessen kann die Vielzahl der Gerechtigkeiten nicht verstandlich gemacht werden, ohne daB die Aspekte und Stufen auf einen iibergeordneten Grundsatz der Gerechtigkeit bezogen werden. SchlieBlich ist der Begriff der Teilhabe selbst semantisch und inhaltlich zu iiberpriifen. In den politischen Debatten und philosophischen Diskursen ist seit einiger Zeit ein Wechsel der Wortwahl und der Sprache festzustellen: „Beteiligung" ist zur „Teilhabe" geworden, „Beteiligungsrechte" wurden in „Moglichkeiten der Teilhabe" umgemiinzt. Etwas poetisch klingt die chiastische Formel von der „Teilhabe am Haben und Sagen in der Gesellschaft und am gemeinsam erarbeiteten Wohlstand". Der Wortsinn von „Teilhabe" wirkt abstrakt und statisch, beschreibt einen Zustand ohne den Bezug zu handelnden Subjekten. Das Wort der Beteiligung dagegen verweist auf eine laufende Handlung, die darauf gerichtet ist, etwas zu bewirken, und auch nicht vorstellbar ist ohne selbstbewuBte und sich selbst bestimmende Subjekte. Beispielhaft ermittelte Wortfelder der Teilhabe sind erhellend und aufschluBreich: „Arbeit ist Teilhabe an der Gesellschaft." „Bildung ist der Schliissel zur gesellschaftlichen Teilhabe." „Die soziale Marktwirtschaft ist untrennbar mit Teilhabemoglichkeiten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verbunden." „Jeder Mensch soil die Moglichkeit der Teilhabe an der Erwerbsarbeit haben." „Die gesellschaftliche Teilhabe soil
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Menschen mit Behinderungen, auslandischen Frauen und Rentnem nicht verweigert werden." Nun muB der Wechsel der Sprache nicht automatisch eine veranderte politische Absicht Oder einen Wechsel des Gesellschaftsbildes anzeigen. Dennoch erinnert „Teilhabe" an ein idealistisches, feudales Gesellschaftskonzept etwa der Antike und des Mittelalters: Das hoherwertige und ubergeordnete organische Ganze laBt die geringerwertigen und untergeordneten Mitglieder an der Fulle des Wahren, Guten und Schonen teilhaben. „Beteiligung" ist dagegen ein politischer, emanzipativ-demokratischer Begriff. Er verweist auf das Recht von Burgerinnen und Biirgem, sich aktiv an den politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entscheidungsprozessen zu beteiligen und darin selbst zu vertreten. Der Begriff der Beteiligung enthalt auch eine zivilgesellschaftliche Dimension, allerdings nicht die des biirgerlichen Ehrenamts, der Vereinskultur oder des Kuchenbackens beim Pfarrfest, sondem jene der direkten Demokratie und sozialer Bewegungen im vor-parlamentarischen Raum. Zwischenbilanz Aus den politischen Umdeutungen und den sozialphilosophischen Diskursen iiber den Begriff der Gerechtigkeit lassen sich drei SchluBfolgerungen ziehen: Die Frage der Gerechtigkeit als grundlegende Ordnungsform politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verhaltnisse ist erstens Gegenstand einer kollektiven Verstandigung. In traditionellen Gesellschaften waren die Spharen der Wissenschaft und Wirtschaft, des Rechts und der Politik von einer einzigen, allgemein verbindlichen Religion bzw. Moral zusammengehalten. Galileo Galilei unterwarf sein Wissen noch der papstlichen Glaubensdoktrin. Kaiser Heinrich IV. trat noch den Gang nach Canossa an, um im Amt zu bleiben. Und Konig Heinrich IV. von Navarra war Paris noch eine Messe wert. Der gleiche Glaube und die gemeinsame Moral umklammerten die Gesellschaft, orientierten das individuelle Handeln, stifteten kollektive Identitat und verpflichteten alle auf das Gemeinwohl. In modemen Gesellschaften ist ein solcher Bezug auf inhaltlich vorgegebene, einheitliche Wertmuster, dem allgemein verbindliche Normen entnommen werden, nicht mehr moglich. Es gibt keinen auBenstehenden Beobachter und neutralen Schiedsrichter, dem das Urteil uber das, was gut und gerecht ist, iiberlassen werden kann. Es konnen auch nicht die Angehorigen einer Teilgruppe der Gesellschaft die eigenen Vorstellungen des guten Lebens, die ihrer Gruppenidentitat entsprechen, den Angehorigen anderer Gruppen verpflichtend vorschreiben. Vielmehr sind die Mitglieder modemer Gesellschaften gehalten, sich iiber die gemeinsamen normativen tJberzeugungen, iiber das, was sie einander schulden, zu verstandigen. Normative Grundsatze, auch der Grundsatz der Gerechtigkeit, sind zweitens keine Naturgesetze. Sie fallen nicht fertig vom Himmel, „lassen sich nicht melken", wie Oswald von Nell-Breuning (1974/1986) zu sagen pflegte. Sie werden kollektiv entworfen, situativ ausgelegt und kreativ angewendet. Die Guterverteilung in der antiken Stadt, der geordnete Umgang der mittelalterlichen Christen mit den verfiigbaren Giitem im Einklang mit der gottlichen Weltordnung, die Emporung der Biirger iiber die Freiheitsberaubung durch absolute Monarchen, der Protest ausgebeuteter Arbeiter gegen die tJbermacht kapitalistischer Untemehmer und schlieBlich die Spannung zwischen gleichen Freiheitsrechten und berechtigten wirtschaftlichen Ungleichheiten sind ein Beleg dafflr, daB normative Grundsatze auf
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eine jeweils veranderte gesellschaftliche Situation antworten, die das koUektive Handeln herausfordert. Die Formuliemng normativer Grundsatze ist drittens kein bewuBtlos und ohnmachtig ausgeloster, automatischer Reflex der Anpassung an biologische, okonomische oder technische Megatrends. Deshalb konnte eine auf die Situation antwortende Norm der Gerechtigkeit auch ein innovativer Gegenentwurf sein, der den Trend einer zunehmenden Ungleichheit der Gesellschaft durchbricht, die durch friihere politische Entscheidungen ausgelost worden ist. Wer beispielsweise die Hauptstromung eines FluBes, die er beobachtet, zum unabweisbaren Trend erklart, dem die normativen Grundsatze lediglich anzupassen sind, verzichtet auf politische Gestaltungsmacht und kreativen Gestaltungswillen. Er gleicht einem fahrlassigen Schleusenwarter, der das Stauwehr hochzieht und sich anschlieBend wundert, daB er im reiBenden Strom den Halt verliert. 4
Gerechtigkeit - eine Gleichheitsvermutung
Den Grundsatz der Gerechtigkeit als eine Gleichheitsvermutung zu bestimmen, wurzelt in der Absicht, angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung und Ausgrenzung, die durch die Machtasymmetrien eines entfesselten Kapitalismus erzeugt werden, fiir die Grundordnung politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verhaltnisse einen innovativen Gegenentwurf zu skizzieren. Einwdnde Gegen die Behauptung, daB der Gerechtigkeitsbegriff im Kern eine Gleichheitsvermutung enthalte, werden starke Einwande erhoben. Erstens erwachse die Gleichheitsforderung aus einem Neidgefiihl heraus, das sich mit einem Irrtum derer verbinde, denen lebenswichtige Giiter fehlen. Denn der eigene Mangel, nicht das bessere Leben der anderen sei der Grund ihres Unbehagens. Zweitens wiirden diejenigen, die Gleichheit fordem, iibersehen, daB das moralische Subjekt, das normative Regeln als handlungsleitend bejaht, nie der generalisierte andere, sondem immer die empirisch konkrete menschliche Person ist. Deren elementare Bediirfiiisse an denen anderer zu messen, sei jedoch nicht gestattet. Denn jede Person verftige iiber Kompetenzen und Interessen, die einzigartig und ihr zu eigen sind. Folglich sei sie berechtigt, differenzierte gesellschaftliche Positionen zu beanspruchen, die auf Grund eigener Talente und Anstrengungen erworben wurden. Drittens sei die Gesellschaft nicht die Eigentumerin eines verborgenen Reservoirs, aus dem sie alle individuellen Kompetenzen schopfen konne. Viertens wurden die Verfechter des Gleichheitsgrundsatzes darauf vertrauen, daB eine aufwendige sozialstaatliche Biirokratie die Gleichheit der Biirgerinnen und Biirger herstellen konne. Folglich sturzten sie die weniger Talentierten wahrend des Rennens um gesellschaftliche Positionen in eine aussichtlose Aufholjagd, die auf einen Ausgleich zielt, der nie erreicht wird. Funftens habe die Gesellschaft keinerlei Mandat, das ihr gestatte, das Schicksal oder die Schopfimg zu korrigieren.
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Begriffliche Prdzisierung Den skizzierten Einwanden kaiin mit einer begrifflich-formalen Klarung der Gerechtigkeit und der Gleichheit begegnet werden. Aristoteles sieht die iiberragende Bedeutung der Gerechtigkeit darin begrundet, daB sie auf andere bezogen und der Inbegriff menschlicher VoUkommenheit ist. Gerechtigkeit ist also kein OrientierungsmaBstab personlicher Zustande, sondem zwischenmenschlicher Verhaltnisse. In dem Bezug auf andere ist der mogliche Vergleich mit anderen eingeschlossen. Der empirische Begriff der Gleichheit bedeutet nicht Identitat: Zwillinge sind gleich, aber nicht identisch. Gleichheit ist die qualitative Ubereinstimmung von Subjekten oder Sachverhalten in einem Merkmal, wahrend andere Merkmale verschieden sind. In welcher Hinsicht sind zwei Subjekte gleich? Hinsichtlich musischer Talente oder technischer Begabung, hinsichtlich der Herkunft aus einer Region oder hinsichtlich ihrer Kleidung. Gleichheit und Ungleichheit sind ein Verhaltnisbegriff. Sie werden in bezug auf einen anderen Sachverhalt oder eine andere Person wahrgenommen. Den Mangel an Giitem stellt eine Person nicht an sich, sondem im Vergleich mit anderen fest. Es ist indessen moglich, daB sie die Differenz lediglich registriert, ohne sie als eine Frage der Gerechtigkeit zu empfmden. Dies ist erst dann der Fall, wenn sie den Eindruck hat, daB bestimmte Giiter ihr ungerechtfertigt vorenthalten werden. Verhdltnismdfiige Gleichheit Die bekannten Formeln: „Gleiches soil gleich, Ungleiches soil ungleich behandelt werden" oder „Gleicher Lohn ftir gleiche Arbeit" driicken pragnant den Grundsatz verhaltnismaBiger Gleichheit aus. Es ist interessant zu sehen, wie der Bezugspunkt der Gleichheit raumlich und zeitlich variabel bestimmt wird. Fur Platon bestand der erste Bezugspunkt dessen, was ftir einen jeden das Seinige ist, das ihm zukommt, in der wohl geformten Stadt, da die Stande der Krieger, der Regierenden, der Kaufleute und der Weisen genau das tun, was ihrer Aufgabe und ihren Funktionen entspricht. Als zweiten Bezugspunkt nannte Platon die harmonische Ordnung der Seelenkrafte, namlich der vemiinftigen Einsicht, des Mutes und der klugen Uberlegung. Wie eine Stadt in guter Verfassung und gerecht ist, wenn die Stande funktionsgerecht operieren, so ist der Mensch gut, gliicklich und gerecht, wenn er seine Seelenkrafte in der Balance halt. Aristoteles bestimmte als Bezugspunkt einer angemessenen gesellschaftlichen Verteilung von Giitem, Amtem und Vorteilen die Wurde bzw. das Verdienst der jeweiligen Personen. Thomas von Aquin verlagerte den antiken Bezugspunkt einer harmonischen Weltordnung in den schopferischen Willen des gottlichen Gesetzgebers, dessen Absichten sich in der Gestalt und in den weisen Anordnungen eines verantwortlichen Monarchen spiegelten. Moralische Gleichheit In der Neuzeit zerbrach die Vorstellung, daB die irdische Gerechtigkeit in einer kosmischen Harmonic oder im schopferischen Willen eines gottlichen Gesetzgebers verankert werden konne. Wahrend der Franzosischen Revolution erhoben sich die Burger und wahrend der industriellen Revolution folgten ihnen die Arbeiter, indem sie auf die niederdriickenden Erfahmngen politischer Entrechtung und wirtschaftlicher Ausbeutung mit der Fordemng
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reagierten, daB die Gerechtigkeit der Gesellschaft, in der sie lebten, iiberhaupt erst (wieder) hergestellt werden miisse. Seitdem markiert der Begriff der sozialen Gerechtigkeit vorrangig einen kritischen MaBstab fiir die Ordnung politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verhaltnisse. Mit der Entdeckung der subjektiven, instrumentellen und moralischen Autonomie des einzelnen Menschen ist auch eine kopemikanische Wende in der Definition des Bezugspunktes verhaltnismaBiger Gleichheit vollzogen worden. „Das Gleiche" wird nun im Verhaltnis zu sich selbst bestimmt - zum selbstbewuBten, sich selbst bestimmenden individuellen Subjekt und zu seiner Absicht, sich als Person selbst zu verwirkHchen und darin eine eigene Identitat zu finden. Die Gleichheitsvermutung legt sich folglich als Grundsatz moralischer Gleichheit aus. Moralische Gleichheit besagt, daB jede Person einen moralischen Anspruch darauf hat, mit der gleichen Riicksicht und Achtung behandelt zu werden wie jede andere. Sie ist von einem Standpunkt der Unparteilichkeit und der Allgemeinheit als autonomes Lebewesen zu achten und als Gleiche - nicht gleich - zu behandeln sowie mit einem doppelten Respekt zu wiirdigen, als generalisierte andere und als unvertretbar einzelne. Rechtfertigung Der Grundsatz moralischer Gleichheit ist zugleich als eine Verfahrensregel zu begreifen, um vom Standpunkt der Unparteilichkeit und Allgemeinheit, also vom moralischen Gesichtspunkt aus politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Verhaltnisse daraufhin zu iiberpriifen, ob sie allgemein gerechtfertigt werden konnen. Der Grundsatz der Rechtfertigung laBt sich dann so formulieren: Jeder Anspruch auf Giiter, Rechte, Positionen und Chancen ist wechselseitig und allgemein mit angemessenen Griinden zu rechtfertigen. Folglich ist die Gerechtigkeit gesellschaftlicher Verhaltnisse daran gebunden, daB deren Gerechtigkeitsnormen gegentiber jedem Mitglied der Gesellschaft, das von ihnen betroffen ist, angemessen begriindet und gerechtfertigt werden konnen. Das Recht auf Rechtfertigung identifiziert die Mitglieder einer Gesellschaft als moralische Subjekte der Gerechtigkeit ohne Grenzen, als autonomen Gesetzgeber in eigener Sache, als das „Reich der Zwecke": Jedes Mitglied und erst recht die schlechtestgestellten Mitglieder einer Gesellschaft haben das gleiche Recht, daB jene Gerechtigkeitsnormen, die ihnen gegentiber gelten sollen, mit angemessenen Griinden gerechtfertigt werden konnen. Aus dem Grundsatz der moralischen Gleichheit und dem Grundsatz der Rechtfertigung laBt sich nicht direkt und unmittelbar eine Gleichheitsvermutung fiir die Verteilung von Grundgiitem, Zugangschancen, wirtschaftlichen Verfiigungsrechten und gesellschaftlicher Macht ableiten. Wer dies versuchen wollte, stolpert in eine politische Moralfalle. Bei der Suche nach einer Korrespondenz von moralischer Gleichheit und einer tendenziell gleichmaBigen Verteilung von Grundgiitem erweist sich nach dem iiberzeugenden Urteil Rainer Forsts (2005) als erste Frage der Gerechtigkeit die Rechtfertigung gesellschaftlicher Machtverhaltnisse.
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Rechtfertigung kapitalistischer Machtverhaltnisse
Der modeme Kapitalismus ist durch eine beispiellose Dynamik der Arbeitsproduktivitat und des Massenwohlstands, aber auch durch Schieflagen wirtschaftlicher und politischer Macht gekennzeichnet. Fast gleichzeitig mit der Ausbreitung des kapitalistischen Wirtschaftsstils sind die Menschenrechtsbewegungen entstanden. Von Haus aus stehen sich der Kapitalismus und die Menschenrechtsbewegungen wie Feuer und Wasser gegeniiber. Im Verlauf der neuzeithchen Geschichte sind sie jedoch eine Beziehung der gleichzeitigen Konfrontation und Kooperation eingegangen. Als ein Rechtfertigungsgrund kapitalistischer Regime soil im folgenden die demokratische Auslegung gleicher Menschenrechte sowie eine demokratische Aneignung kapitalistischer Machtverhaltnisse erlautert werden. Demokratische Auslegung der Menschenrechte Die Proklamation gleicher Menschenrechte hat eine geschichtliche Abfolge: Zuerst wurden die individuellen und institutionellen Abwehrrechte gegen mogliche Ubergriffe des Staates proklamiert, dann die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leistungsansprtiche auf eine Grundausstattung von Giitem, die zu einem menschenwurdigen Leben erforderlich sind, und schlieBlich die politischen Beteiligungsrechte, die den Status verantwortlicher Biirgerinnen und BUrgem markieren. Lange Zeit konnten Menschenrechte auf Manner, BUrger und Rassen begrenzt bleiben, bis feministische, soziale und ethnische Befreiungsbewegungen derartige Diskriminierungen beseitigten. Kapitaleigner konnten sich biirgerlicher Freiheitsrechte, etwa des Rechts auf den laufenden Gewerbebetrieb und des Rechts auf Privateigentum, bedienen, um die Ungleichheit der Lebenschancen zu verfestigen, so daB der Anspruch formaler Abwehrrechte von denjenigen gar nicht eingelost werden konnte, denen ein MindestmaB materieller Voraussetzungen fehlte. Soziale Grundrechte sind bereits in der Franzosischen Revolution etwa als das Recht auf Unterhalt fur alle hilfsbediirftigen Burger proklamiert worden. Das herkommliche System der freiwilligen Almosen und der kirchlichen Armenpflege wurde damit aufgekiindigt. In der Revolution von 1848 und in der Arbeiterbewegung wurde die Trennlinie zwischen sozialen Grundrechten und der Tugend feudaler Mildtatigkeit noch scharfer gezogen. Armut und Verelendung wurden weder als Folgen individuellen Versagens gedeutet noch als unentrinnbare Schicksalsschlage hingenommen. Sie galten als Rechtsverletzungen. Folglich pochten in Not geratene Mitbiirger auf ihre verbrieften Rechte, statt sich mit barmherzigen Gaben abspeisen zu lassen und verlangten die Reparatur gesellschaftlich verursachter Schaden. Aus den Konflikten der Arbeiterbewegung mit den damaligen Herrschaftseliten sind die wirtschaftlichen und sozialen Leistungsrechte formuliert und direkt als Staatsziele oder indirekt als Sozialklauseln verfassungsfest gemacht worden: Jeder Mensch soUte unabhangig von seiner Kaufkraft und seinem Arbeitsvermogen ein menschenwiirdiges Leben fiihren konnen und vor gesellschaftlicher Ausgrenzung bewahrt werden. Eine dritte Dimension von Menschenrechten wurde eingefordert, als die reprasentativen Demokratien Westeuropas in Parteien-, Verbande- und Verwaltungsdemokratien oder in Verstandigungssysteme politischer Klassen abzugleiten drohten. Gleichzeitig mit den Verfahren einer direkten Demokratie klagten zivilgesellschaftliche Bewegungen politische Gestaltungsrechte ein.
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Die geschichtliche Abfolge der jeweiligen Proklamation von Menschenrechten und des Auftretens sozialer Bewegungen mag erklaren, daB zuerst die biirgerlichen Freiheitsrechte, dann die sozialen Grundrechte und schlieBlich die politischen Beteiligungsrechte genannt werden. Folgt man dagegen der logischen Rangfolge, wie sie die Option fur die Demokratie als Lebensform nahelegt, dann steht den politischen Beteiligungsrechten der erste Rang zu. „Beteiligung" als neuzeitliche politische Dimension der Gerechtigkeit meint das gleiche Recht einer jeden Biirgerin und eines jeden Biirgers, sich an den Prozessen der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Meinungsbildung und Entscheidungsfmdung aktiv zu beteiligen und darin selbst zu vertreten. Beteiligungsgerechtigkeit ist in einer polarisierten, gespaltenen Gesellschaft eine ausdriickliche Suchbewegung auf diejenigen hin, denen die Mitwirkung an politischen Entscheidungen versagt ist, eine Parteinahme zugunsten der Schlechtestgestellten am Rand der Gesellschaft. Um dieses Beteiligungsrecht zu sichem, ist ein gleicher Mindestanteil am Volkseinkommen und Volksvermogen, also das soziokulturelle Existenzminimum einschlieBlich des Zugangs zu Bildungs- und Gesundheitsgiitem zu garantieren, und zwar unabhangig davon, ob Menschen in der Lage oder bereit sind, sich an der gesellschaftlich organisierten Arbeit zu beteiligen. Denn der Wert eines Menschen griindet nicht in seiner Arbeitsleistung, sondem in seiner Wurde als Mensch, die keinen Preis hat. Das wirtschaftlich-soziale Recht einer Grundsicherung auf dem Niveau des soziokulturellen Existenzminimums verhindert den AusschluB der Menschen von denjenigen wirtschaftlichen und kulturellen Giitem, die fur eine Gesellschaft als unverzichtbar gelten - gemaB dem Grundsatz der Bedarfsgerechtigkeit. An dieses Recht auf ein soziokulturelles Existenzminimum schlieBt das gleiche Recht auf Beteiligung an der gesellschaftlich organisierten Arbeit an, auf die Beteiligung an der Erwerbsarbeit, die auf absehbare Zeit gesellschaftliche Anerkennung, materiellen Wohlstand und personliche Identitat vermittelt. Es ist ein gleiches Recht auf sinnvolle Arbeit und ein sicheres Einkommen flir alle, die arbeiten konnen und wollen - gemaB dem MaBstab der Leistungsgerechtigkeit. Diese wird in kapitalistischen Marktwirtschaften jedoch nicht material, sondem formal durch das Ergebnis koUektiver Vereinbarungen bestimmt, die zwischen Verhandlungspartnem auf gleicher Augenhohe getroffen werden. Demokratische Aneignung kapitalistischer Machtverhdltnisse Der Kapitalismus wird einerseits als wirtschaftliches Funktionsgertist verstanden. Seine Komponenten sind der marktwirtschaftliche Wettbewerb, ein hoher Technikeinsatz aus vorweg geleisteter Arbeit, eine elastische Geldversorgung und eine private Untemehmensorganisation, deren Ziel eine angemessene Giiterversorgung ist und deren Markterfolg sich in einer hohen Nettowertschopfung erweist. Dieses Funktionsgertist ist jedoch in ein gesellschaftliches Machtverhaltnis eingebettet - mit einer vierfachen Schieflage wirtschaftlicher und politischer Macht. Im Untemehmen besteht das Entscheidungsmonopol derer, die Eigenttimer der Produktionsmittel sind oder rechtmaBig daruber verfugen. Diese Schieflage der Macht tibertragt sich auf die Arbeitsmarkte. Auf ihnen kommt es zu ungleichen Vertragen, solange abhangig Beschaftigte als einzelne ihrem Arbeitgeber gegentibertreten und solange sie nicht solidarisch und halbwegs auf gleicher Augenhohe mit dem Tarifpartner verhandeln. Auf den Gutermarkten treten die Produzenten meist starker organisiert und konzentriert auf als die in der Regel atomisierten Verbraucher. Und an der Nahtstelle zwi-
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schen der monetaren und realwirtschaftlichen Sphare verfiigt das Bankensystem iiber eine Geld- und Kreditschopfungsmacht, mit der iiber das Produktionsniveau und die Richtung der Produktion vorweg entschieden werden kann. Eine demokratische Aneignung kapitalistischer Machtverhaltnisse erfolgt auf zwei Wegen, indem erstens die Ergebnisse der Verteilung von Einkommen, Chancen, Rechten und Vermogen korrigiert werden, um eine tendenziell gleichmaBige Entwicklung des Wohlstands zu erreichen, und indem zweitens eine faire Beteiligung an den grundlegenden Entscheidungen iiber den ProduktionsprozeB erstritten wird. Der Weg einer egalisierenden Verteilung der Ergebnisse wird zum einen iiber die sozialstaatliche Umverteilung (Sekundarverteilung) beschritten. Dazu gehort die unbedingte Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums, um fur den gesellschaftlichen AusschluB zu entschadigen. Dieses Ziel wird derzeit weitgehend verfehlt. Die solidarischen Sicherungssysteme zum anderen sind darauf angelegt, gesellschaftliche Risiken abzufedem, die nicht dem Fehlverhalten der Individuen zugerechnet werden konnen, sondem durch gesellschaftliche Verhaltnisse bedingt oder verursacht sind. Sie sollen gesellschaftlichen AusschluB vermeiden. Auch dieses Ziel wird derzeit nur mangelhaft erreicht. Bevor die Engpasse der offentlichen Haushalte eine Rhetorik der Eigenverantwortung entfesselt haben, standen jene Ungleichheiten, die durch fi-eiwillige Optionen von Individuen verursacht wurden und als voraussehbare Resultate diesen zugeschrieben werden konnten, unter einem Schrankenvorbehalt individueller Verantwortung. Zum einen war namlich nicht eindeutig zu ermitteln, wie weit jeweils personliche Verantwortung, naturliche Talente und besondere Anstrengungen einerseits oder gesellschaftliche Verhaltnisse anderseits den Zugang zu Gesundheits- und Bildungsgiitem oder die Kultivierung und Veredelung des Arbeitsvermogens blockiert haben. Zum anderen sind trennscharfe Unterscheidungen zwischen natiirlicher Beeintrachtigung und gesellschaftlicher Benachteiligung sowie zwischen privaten Risiken, die auf individuelles Fehlverhalten zuruckgehen, und Risiken, die gesellschaftlich bedingt sind, nicht ohne weiteres moglich. Folglich wurde eine demokratische Nachsicht gegeniiber den Schwachen individueller Verantwortung und der Fahrlassigkeit personlicher Lebensstile flir vertretbar gehalten. Diese kollektive Nachsicht scheint derzeit zu erodieren. Durch kollektive Tarifvertrage soil dariiber hinaus die marktwirtschaftliche Primarverteilung der Arbeitsleistungen solidarisch umgelenkt werden. Die Tarifpartner regeln unmittelbar oder mittelbar auch, welche gesellschaftlich niitzliche Arbeit der privaten Sphare iiberlassen bleibt und welche der Marktsteuerung iiberantwortet wird, ob solche Arbeiten mehr oder weniger geschlechtsspezifisch zugewiesen werden, wie unterschiedlich komfortabel sie entlohnt werden, wie stark gespreizt der Wert einzelner Arbeitsleistungen in einem arbeitsteiligen ProduktionsprozeB festgelegt wird und wie die Anteile gesellschaftlicher Vorleistungen und individueller Arbeitsleistungen bewertet werden. Durch die allgemein verbindliche Geltung von FlachentarifVertragen kam es in der Regel zu einer tendenziell ausgewogenen Einkommensverteilung. Die Ungleichheiten der Verteilung soUten sich durch Griinde rechtfertigen lassen, die in personlichen Leistungen, etwa in der Mobilisierung natiirlicher Talente oder Energiepotentiale, verankert sind. Eine „investive Sozialpolitik" schlieBlich orientiert sich am Grundsatz realer Chancengleichheit, der iiber den einer formalen Chancengleichheit hinausgeht. Formale Chancengleichheit ist gewahrt, wenn die Startlocher auf exakt derselben Linie angelegt werden, so daB Menschen ungeachtet ihres unterschiedlichen Leistungsvermogens vom gleichen
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Startpunkt aus auf das Ziel loslaufen. Reale Chancengleichheit jedoch ist erst dann gegeben, wenn die Individuen ungeachtet ihrer unterschiedlichen Talente und Motivationen nicht nur die gleichen Startchancen fur den Lauf, sondem auch effektiv die gleichen Erfolgschancen wahrend des Laufens behalten, indem natiirliche Beeintrachtigungen und gesellschaftliche Benachteiligungen fortlaufend korrigiert werden. Beispielsweise garantieren die gleichen Chancen im Bildungssystem noch langst nicht die Chancengleichheit im Beschaftigungssystem. Und gleiche Chancen des Zugangs zu Bildungsgiitem oder zur Erwerbsarbeit sind noch keine Garantie gesellschaftlicher Integration. Eine ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermogen ist nur selten ausschlieBlich auf die Mobilisierung naturlicher Talente und auf besondere Anstrengungen zuriickzufuhren. Sie konnte es sein, wenn nicht eingespielte Konventionen, Rollenmuster und wirtschaftliche Macht den starkeren EinfluB ausiiben wiirden. Folglich sind die natiirlichen Beeintrachtigungen und gesellschaftlichen Benachteiligungen, insofem sie Zufallsergebnisse der natiirlichen und gesellschaftlichen Lotterie indizieren, gesellschaftlich auszugleichen. Der Weg einer fairen Beteiligung an grundlegenden wirtschaftlichen Entscheidungskompetenzen iiber das Produktionsniveau, die Produktionsrichtung und die Produktionsverfahren ist erst in Ansatzen beschritten worden. Grundsatzlich nicht mehr umstritten ist die Betriebsverfassung, die seit dem Betriebsrategesetz von 1923 und durch die verschiedenen Fassungen des Betriebsverfassungsgesetzes die Vertretungsrechte der Betriebsrate definiert. Die gewahlten Vertreter der Belegschaft sind zur vertrauensvollen Zusammenarbeit mit der Betriebs- bzw. Untemehmensleitung verpflichtet. Sie haben Informations-, Mitwirkungsund Mitentscheidungsrechte, die im Detail festgelegt sind - vor allem beziiglich der Arbeitszeitgestaltung, aber auch, nachdem viele Tarifvertrage Offnungsklauseln enthalten, beziiglich Betriebsvereinbarungen iiber die konkrete Lohngestaltung. Die Mitbestimmung im Untemehmen, die 1952 in der Montanindustrie eingeftihrt wurde, sah fur den Untemehmensvorstand einen Arbeitsdirektor vor, der von der Belegschaft unter Beteiligung der zustandigen Gewerkschaft gewahlt wurde. AuBerdem wurde der Aufsichtsrat mit Vertretem des Kapitals und der Arbeit paritatisch besetzt, wahrend eine neutrale Person mogliche Pattsituationen auflosen sollte. Das Mitbestimmungsgesetz von 1976 sieht flir Untemehmen ab einer Zahl von 2000 Arbeitnehmem in der Rechtsform der Aktiengesellschaft, Kommanditgesellschaft auf Aktien und Gesellschaften mit beschrankter Haftung eine paritatische Besetzung des Aufsichtsrats mit einem Stichentscheid des Vorsitzenden vor, der von der Seite der Anteilseigner bestellt wird. In den iibrigen korperschaftlich organisierten Untemehmen ist den Arbeitnehmervertretem auf der Gmndlage des Betriebsverfassungsgesetzes ein Drittel der Aufsichtsratstimmen zugestanden worden. Im aktuellen Meinungsstreit, der sich am angeblichen Globalisiemngsdmck entziindet, wird die Mitbestimmung in den Untemehmensorganen als Standortnachteil verdachtigt. Michael Rogowski, der Prasident des Bundesverbandes der deutschen Industrie, halt die Mitbestimmung im Aufsichtsrat fiir einen „Irrtum der Geschichte". Sie ist zweifellos die unverwechselbare Kooperationsform der deutschen Variante demokratisch gezahmter kapitalistischer Machtverhaltnisse. Neben dem Anspmch abhangig Beschaftigter, allein auf Gmnd der Tatsache, daB sie ihr Arbeitsvermogen dem Untemehmen zur Verfugung stellen, an den untemehmerischen Entscheidungen beteiligt zu werden, wird ein zweiter Anspmch angemeldet, namlich am Zuwachs des Produktivvermogens angemessen beteiligt zu werden und folglich in der Funktion von Anteilseignem die untemehmerischen Entscheidungen beeinflussen zu kon-
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nen. Die Nettovermogen der privaten Haushalte sind namlich in den letzten Jahren beachtlich gestiegen. Aber deren Verteilung ist sehr ungleich geblieben, deren Konzentration hat erheblich zugenommen. Fast die Halfte des gesamten Vermogens entfiel 2003 auf das oberste Zehntel der Haushalte, wahrend die untere Halfte der Haushalte iiber 4% dieses Vermogens verfiigte. Um diese Konzentration zu bremsen, die durch erodierende FlachentarifVertrage sowie eine Steuer- und Finanzpolitik verursacht worden ist, deren Ziel es war, die Gewinn- und Kapitaleinkommen tendenziell zu entlasten, sind in zeitlichen Schiiben immer wieder Vorschlage und detaillierte Plane veroffentlicht worden, um die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Zuwachs des Produktivvermogens zu beteiligen. Zur vorgezogenen Bundestagswahl 2005 hat Bundesprasident Kohler darauf hingewiesen, daB die Zeit gekommen sei, die Frage einer Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktiwermogen wieder auf den Tisch zu bringen. Sie konne dazu beitragen, der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich entgegen zu wirken. Sie konne den Arbeitgebem und Arbeitnehmem begreiflich machen, daB sie in den Betrieben im selben Boot sitzen. Das Sitzen „im selben Boot" ist indessen rhetorische Tiinche eines Kapitalismus, der die Mehrheit der Bevolkerung von den Produktionsmitteln trennt und ihr den Verkauf der Arbeitskraft und die Lebenslage abhangiger Arbeit zumutet, wahrend einer Minderheit der Bevolkerung die Produktionsmittel und Erwerbsvermogen gehoren, die nicht ohne die Mitwirkung fremder Arbeit entstanden sind und konzentriert wachsen. Die kapitalistischen Machtverhaltnisse haben konsequent die betriebswirtschaftliche Kalkulation eingefarbt, der gemaB der Gewinn zur StellgroBe des Erfolgs, der Geschaftspolitik, der Bewertung und der Kontrolle der Untemehmen erklart wird, obwohl der Gewinn nur ein Teil der Nettowertschopfung des Untemehmens ist. GemaB dem gleichen Verfahren werden die Lohne einschlieBlich der Sozialbeitrage zu Kosten und Nebenkosten deklariert. Die Gewinne zu steigem und die Kosten zu minimieren, sind die zwei Seiten der tiblichen betriebswirtschaftlichen Logik. Nun konnte der Erfolg des Untemehmens, der durch den Einsatz der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapitel zustande kommt, auch an der Summe aus Arbeits- und Kapitaleinkommen gemessen werden, so daB die Steigerung der Nettowertschopfiing zum erstrebenswerten Untemehmensziel wiirde. Als BezugsgroBe konnte sie den Verteilungsspielraum der Arbeits- und Kapitaleinkommen transparent machen. Noch wichtiger ware jedoch, die Verteilung der untemehmerischen Wertschopfiing auf Lohne und Gewinne davon zu entkoppeln, wie entsprechend einer gangigen Vorstellung Arbeitnehmer und Kapitalgeber ihre jeweiligen Einkommen verwenden. Die Unterstellung namlich, daB die Lohne fast ausschlieBlich fiir den Konsum und die soziale Sicherung verwendet wiirden, wahrend die Gewinne vorwiegend zur Finanzierung realer Investitionen zur Verfligung stehen, ist nicht zwingend. Lost man sich von dieser Unterstellung, ware eine Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermogen „ohne Lohnverzicht" vertretbar. Der Investivlohn konnte auf den Konsumlohn aufgestockt werden. Damit solche Vorschlage jedoch nicht exklusiv wirken und nur die Beschaftigten profitabler Firmen und florierender Branchen begiinstigen, miiBten auch Lehrer, Krankenschwestem und Verwaltungsangestellte in die allgemeine Vermogensbeteiligung einbezogen sein. Und die am Produktivvermogen Beteiligten diirften im Fall einer Firmenpleite neben dem Arbeitsplatzrisiko nicht ein zusatzliches Vermogensrisiko zu tragen haben. Folglich wiirde sich die Biindelung von Anteilspapieren in firmen- und brancheniibergreifenden Fonds anbieten. Allerdings steht in der aktuellen Debatte iiber eine Vermogensbetei-
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ligung der Arbeitnehmer offensichtlich die Verteilungsfrage der Einkommen und Vermogen im Vordergrund, die Beteiligung an der untemehmerischen Entscheidungsmacht sowie die Korrektur kapitalistischer Machtverhaltnisse sind vollig ausgeblendet. Die Rechtfertigung kapitalistischer Machtverhaltnisse stellt sich jedoch entgegen dem gegenwartigen Hauptstrom betriebswirtschaftlicher Denkmuster zuerst gesamtwirtschaftlich und auBerdem in der monetaren Sphare. Entgegen den Lehrbuchlegenden, die von den segensreichen Wirkungen der Finanzmarkte plaudem, sind die real existierenden Finanzmarkte von erheblichen Machtasymmetrien bestimmt. Seit 1973, als das Wahrungsregime von Bretton Woods aufgekiindigt wurde, ist das Wechselkursrisiko privatisiert. Dieser Umbau hat mittelbar eine Flut kurzfristiger und subjektiver Erwartungen entstehen lassen, die jene flatterhaften Kursschwankungen auf den Kredit-, Devisen- und Wertpapiermarkten verursachen, die sich mehr und mehr von den realwirtschaftlichen Prozessen abgekoppelt haben. Relativ anonyme Wertpapiermarkte spielen seit Jahrzehnten eine groBere Rolle als Kreditbeziehungen zwischen Banken und Untemehmen, die nicht nur finanziell, sondem auch personell miteinander vemetzt waren. GroBbanken, Versicherungskonzeme und Investmentfonds sind marktbeherrschend gegeniiber einer atomisierten Zahl von Kleinaktionaren. Der in Kontinentaleuropa verbreitete Finanzstil wird durch einen angloamerikanischen Finanzstil verdrangt. Dieser kontrolliert das Untemehmen iiber die anonymen Wertpapiermarkte und nicht durch ein personlich-finanzielles Netzwerk, das iiber Kredite von Hausbanken an Untemehmen gekniipft ist. Die Untemehmen werden als beliebige Vermogensmasse in den Handen der Aktionare und nicht als Personenverband begriffen. Der Untemehmenswert wird in zukiinftigen, kurzfristigen Zahlungsstromen {shareholder value) gemessen, der sich im Borsenkurs spiegelt, und nicht am Markterfolg, der durch Investitionen, kompetente Belegschaften und die Befriedigung realer Bediirfnisse erreicht wird. Die Manager orientieren sich ausschlieBlich an den Interessen der Kapitaleigner und der von ihnen verlangten Mindestrendite und nicht an den Interessen aller im Untemehmen engagierten Gmppen. Diese nachgezeichneten Verandemngen machen es moglich, daB riskante und hochspekulative Finanzgeschafte Renditen versprechen, die durch reale Investitionen nur ausnahmsweise und in der Regel durch eine Beschrankung auf hochrentable, hochproduktive Betriebe und drastischen Personalabbau erreicht werden konnen. Die derzeit wahmehmbaren Reaktionen der abhangig Beschaftigten, Gewerkschaftsvertreter und staatlichen Organe sind weithin Wut, Empomng, „Heuschrecken"-Alarm oder das Eingestandnis politischer Ohnmacht. Dabei ist noch gar nicht entschieden, ob sich der angloamerikanische Finanzstil, der das militarische und politische Potential der USA nutzen kann, global durchsetzen kann. Experten verweisen darauf, daB die Entscheidungsregeln von Managem, die nicht bloB dem Wink der Aktionare folgen, sondem auch die Anliegen der Belegschaftsmitglieder und realwirtschaflliche Ziele im Blick behalten, auf Dauer nicht weniger profitabel sind, als wenn die Manager sich nur am kurzfristigen Untemehmenswert und an einem von Stimmungslagen und Herdenverhalten beeinfluBten Borsenkurs orientieren. Sie sind auch davon iiberzeugt, daB sich die politische Hoheit iiber die Finanzmarkte wiedergewinnen lasse, sobald die Nationalstaaten und die intemationalen Institutionen sich zu einer koordinierten Reguliemng entschlieBen, sobald Finanzgeschafte wie andere Geschafte besteuert und wenn die hochspekulativen Fonds und freien Bankzonen, die zu Geldwaschanlagen wirtschaftlich und militarisch krimineller Energie mutiert sind, in die offentliche Aufsicht
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und KontroUe einbezogen werden. Der systematische Ort einer Rechtfertigung kapitalistischer Machtverhaltnisse sowie ihrer demokratischer Zahmung sind die Finanzmarkte.
Literatur Forst, Rainer (2005): Die erste Frage der Gerechtigkeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 37/2005, S. 24-31. Hengsbach, Friedhelm (1992): Bin Votum fiir die Marktwirtschaft - aber fiir welche? Centesimus annus nennt Altemativen im real existierenden Kapitalismus, in: Soziale Sicherheit 41/1992, S. 129-135. Hoffe, Otfried (2005): Soziale Gerechtigkeit: ein Zauberwort, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 37/2005, S. 3-6. Hoffe, Otfried (2002): Soziale Gerechtigkeit als Tausch, in: Horn, Christoph/Scarano, Nico (Hg.): Philosophic der Gerechtigkeit. Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main, S. 456-465. Nell-Breuning, Oswald von (1974/^1986): Kapitalismus - kritisch betrachtet. Zur Auseinandersetzung um das bessere „System", Freiburg. Nolte, Paul (2005): Gerechtigkeit in neuen Spannungslinien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 37/2005, S. 16-23. Pofalla, Ronald (2006): Neue Gerechtigkeit durch mehr Freiheit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom04.01.2006, S. 8. Thierse, Wolfgang (2000): Die Gerechtigkeitsfrage ist in die Gesellschaft zuriickgekehrt, in: Frankfurter Rundschau vom 20.06.2000, S. 7. Papst Johannes Paul II. (1991): Sozialenzyklika Centesimus Annus. Vor neuen Herausforderungen der Menschheit. Mit einem Kommentar von Walter Kerber, Freiburg/Basel/Wien.
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Benjamin Benz /Mrgen Boeckh
Theorie, Struktur und Zukunft des Sozialstaats
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Einleitung
Die Zukunft des „Standortes Deutschland" gilt nicht wenigen Beobachtem seit langem als massiv gefahrdet. Als ware es nicht auch gesellschaftliche Realitat, dafi trotz steigender Gewinne Personal abgebaut wird (shareholder value) und Sachinvestitionen durch Spekulation am Kapitalmarkt ersetzt werden {casino capitalism. Strange 1986), werden oft und laut „mangelnde Kreativitat", „Bequemlichkeit", „fehlende Mobilitat", „zu viel Administration" und „selektive Arbeitsbereitschaft" als individualisierende Griinde fiir eine wachstums- und wohlstandshemmende Tragheit in dieser Gesellschaft ausgemacht. In einer globalen Wettbewerbssituation, in der Gesellschaften „bereit und in der Lage sind, wie im Friihkapitalismus zu leben", reiche es eben nicht mehr, nur qualifiziert und fleifiig zu sein, sondem miisse man „tuchtig und zugleich auch bescheiden" gegeniiber den Wissenseliten und vor allem gegeniiber dem Kapital auftreten. Es gelte, den verloren gegangenen „innovativen Vorsprung" durch Not, Streit und Bereitschaft zur Leistung wiederzugewinnen, denn „bislang war die Welt des Wissens, des Kapitals und der Arbeit wie durch Wehre voneinander getrennt. Auf unserer Seite stauten sich Wissen, Einkommen und Vermogen immer hoher auf. Jenseits dieser Wehre herrschte Kargheit. Nunmehr sind diese Wehre aufgezogen. Alle haben dies gewollt. Doch nun mtissen auch alle hinnehmen, dafi die Einkommens- und Vermogensstrome in neue Richtungen fliefien. Der Sog hat eingesetzt. Das ist allenthalben zu spiiren." (Miegel 1996: 193ff.) Dieses vereinnahmende „alle" sozialisiert und legitimiert mit leichter Hand die Verteilungsfolgen einer keineswegs unumstrittenen und von „allen" gewollten neoliberalen Deregulierungspolitik. Unabhangig von ihrer tatsachlichen demokratischen Legitimierung wird die Angebotsorientierung einer entgrenzten Globalisierung als auf das Gemeinwohl gerichtet und als das objektiv Vemiinftige definiert. Durch den unverbruchlichen Glauben an die „a la longue potentiell fiir alle wohltatigen Langfristfolgen der liberalen Losung" (Sievert 1996: 178), wird das dahinterstehende Gesellschaftsmodell mit seinen Verteilungsergebnissen gegen jegliche Infragestellung durch alternative Politikansatze immunisiert. Im Zusammenhang mit der Dominanz neoliberaler Problemdiagnosen und Losungsvorschlage hat der Reformbegriff in der Sozialpolitik gerade im linken politischen Parteienspektrum eine erstaunliche Wandlung erfahren. So kreisen die Diskussionen um den Sinn und die Erfolgsaussichten einer Reformpolitik innerhalb der Sozialdemokratie derzeit nicht um deren Chancen und Risiken fiir die Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen im Vergleich zu sozialistischen, revolutionaren Konzepten, sondem darum, inwiefem sie einen geeigneten und realistischen Gegenentwurf zu einer kalten neoliberalen Revolution der sozialen Marktwirtschaft liefert. Ein emanzipativer Reformbegriff ist - ahnlich dem des „dritten Weges" (Huster 1978: 27ff.) - in der realpolitischen Defensive. Lange vorbei sind die Zeiten, in denen die Gegner einer sozialen Reformstrategie auf der Linken den „Reformisten" vorwerfen mochten, „dass mit der Verbesserung der Lebensverhaltnisse durch 71
Reformen zugleich eine Integration der Arbeiter in das System erfolge, dass Reformpolitik (...) niemals einer sozialistischen Gesellschaft naher kommen werde, sondem hochstens einen sozialen Kapitalismus erreichen werde, in dem sich die Arbeiter wohl fiihlen, weil ihnen u.a. ihre Entfremdung nicht mehr bewusst ist" (Neumann 2003: 820). Genau diese Integration, diese Verbesserung der Lebensverhaltnisse durch Reform und diese Humanisierung des Kapitalismus als Kemaufgaben des Sozialstaats in einer sozialen Marktwirtschaft stehen heute zunehmend in Frage. Und so waren etliche Reformbefurworter und Reformkritiker von einst heute gemeinsam froh, ginge es derzeit maBgeblich um diese Funktionen sozialstaatlicher Reformpolitik und wiirden ihre Ziele tatsachlich erreicht. Wo und wie sehr die Zukunft des Sozialstaates offen oder determiniert ist, laBt sich nicht ohne geschichtlichen Riickgriff und geographische Beschrankung angemessen thematisieren. Wir wollen uns daher in diesem Beitrag auf den deutschen Sozialstaat beschranken. Er zeigt in den historischen und aktuellen Reformen und Gegenreformen seiner theoretischen Begrundung wie Struktur sowohl deutliche Kontinuitaten (Pfadabhangigkeiten) als auch phasenweise Pragungen, die jeweiligen „Moden" politischer Diskurse und Richtungsentscheidungen (wenn es eiiien „Zeitgeist" gabe, ware er hier gemeint) ebenso geschuldet sind, wie der jeweiligen Starke der die betreffenden Werthaltungen und Interessen tragenden politischen Krafte. Auftrag einer Theoriebildung von Sozialstaatlichkeit ist es zu verdeutlichen, dafi die Genese, die heutige Gestalt und die Zukunft des Sozialstaates einerseits zusammenhangen mit einer Vielzahl von zum Teil widerspruchlichen bzw. konkurrierenden Werten und Interessen, und daB sie andererseits bedingt sind durch allgemeine politische, okonomische und soziale Rahmenbedingungen, die die Entwicklung sozialer Ressourcen und Bedarfe pragen. Damit geht es um sachliche Voraussetzungen und Folgen sozialstaatlicher Politik, die sich aber nicht in Kategorien von vermeintlichen Sachzwangen abhandeln lassen („Globalisierung", „Uberalterung" etc.), da Werte, Interessen und der Umgang mit Widerspriichlichkeiten eine ganz zentrale geschichtliche, strukturierende und zukiinftige Entwicklungen pragende Rolle in der Sozialpolitik spielen. So kann die Feststellung sozialpolitischer Bedarfe und der fiir ihre Befriedigung zustandigen Instanzen (Familie, Markt, Staat, Gesellschaft) nicht wissenschaftlich neutral erfolgen. Sie ist an Werturteile gebunden, die sich auf sozialpolitische Werthaltungen grunden. Diese konnen nur offengelegt, aber nicht bewiesen werden (Hauser 1995: 51). 2
Grundnormen sozialer Gerechtigkeit in den Strukturen des Sozialstaats
Fiir die Theorie, Struktur und Zukunft des Sozialstaats in Deutschland und anderen westlichen Sozialstaaten sind drei Grundnormen, ihr Mischungsverhaltnis und ihre Interessentrager von zentraler Bedeutung: Eigenverantwortung, Solidaritat und Subsidiaritat (Boeckh/ Huster/Benz 2004: 148ff). Alle drei sind an konkrete soziale Interessen und soziale Bewegungen als ihre Trager gebunden. Sie entwickeln sich in unterschiedlichen historischen Phasen und implizieren ein je spezifisches Verstandnis von Sozialstaatlichkeit und Gerechtigkeit. Das Moment der Eigenverantwortung zu betonen, begrundet sich im liberalen Streben nach Freiheit und individuelle Leistungsunterschiede widerspiegelnde soziale Plazierung, verbunden mit Garantien, ein MindestmaB an Voraussetzungen zur Ausiibung biirgerlicher
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Rechte und Freiheiten sozialstaatlich sicherzustellen. Die auf Leistungsgerechtigkeit zielenden Interessen wenden sich damit sowohl gegen standesmaBige Privilegien als auch gegen die den Lebensstandard sichemden obligatorischen Sozialversicherungen. Ein neuralgischer Punkt liegt hier in dem Sachverhalt, dafi privates Einkommen und Vermogen zwar als Menschenrecht zu schiitzen sind, gleichwohl aber nicht zu stark divergieren diirfen. Dies negiert namlich schlieBlich ftir einen Teil der Biirger die materiellen Voraussetzungen, biirgerliche Freiheit leben und Eigenverantwortung iibemehmen zu konnen. Eine soziale Mindestsicherung soil dem begegnen. Solidarische Gerechtigkeit wurzelt in der Erkenntnis, daB soziale Risiken der weniger leistungsfahigen und besitzenden Bevolkerung sich vor allem aus dieser Stellung im Sozialgeftige der biirgerlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung selbst ergeben. Diesen strukturellen gesellschaftlichen Risiken ist somit nicht bereits durch Mindestsicherung sowie an Privatvorsorge und an individuelle Leistungen ankniipfende soziale Teilhaberechte angemessen zu begegnen. Bedarfsgerechtigkeit erfordert mehr an materieller Umverteilung und sozialpolitischem Engagement, als es der Gedanke der Leistungsgerechtigkeit allein zulaBt - doch wie viel genau? Die christliche Ethik und Soziallehre verweist auf ein Menschenbild, das diesen als Gott ebenbildlich versteht. Danach darf ein Mensch niemals bloBes Objekt eines anderen werden. Die Wiirde des Menschen zu schiitzen, gebietet ein subsidiares Gerechtigkeitsverstandnis, nach dem der Sozialstaat den einzelnen nicht durch Ubemahme von Verantwortung, die dieser selbst ubemehmen kann und muB, entmiindigt. Andererseits hat der Sozialstaat bisweilen eine Verpflichtung zur Vorleistung, damit der einzelne erst in den Stand gesetzt ist, sich und den ihm anvertrauten Nachsten selbst helfen zu konnen. Der Erhalt der Menschenwiirde erfordert notfalls hilfreichen Beistand (subsidiare Gerechtigkeit), die weder an vorangegangene Eigenleistung (Leistungsgerechtigkeit) noch gegenseitige Unterstiitzung (solidarische Gerechtigkeit) gebunden ist. Alle drei Dimensionen von Gerechtigkeit finden sich in den groBen sozialen Sicherungssystemen, ihren Strukturen und Leistungsprinzipien wieder. So kommt subsidiare Gerechtigkeit am deutlichsten in den Fiirsorgesystemen der Sozial- sowie der Kinder- und Jugendhilfe zum Ausdruck, deren Geld-, Sach- und Dienstleistungen vorleistungsfrei und weitgehend unabhangig von der Ursache der Notlage gewahrt werden, und zwar in einem MaB, das auf Uberwindung der Bediirftigkeit zielt (Finalprinzip). Dagegen sind die Sach- und Dienstleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung an Beitragszahlungen in das entsprechende Solidarsystem gebunden, aus dem Leistungen dann unabhangig davon erbracht werden, wie hoch die zuvor entrichteten Betrage waren (Solidarprinzip). Allerdings interessiert die Sozialbiirokratie hier die Krankheitsursache (Kausalprinzip): Ist die Erkrankung beim Arbeitsweg entstanden, ist die Unfallversicherung zustandig, ist sie in der Freizeit durch einen bekannten Dritten verursacht, so kommt RegreB gegen dessen Haftpflicht in Betracht, usw. Wahrend dem Finalprinzip das Kausalprinzip gegenubersteht, wird das Solidarprinzip durch das Aquivalenzprinzip erganzt. Die gesetzliche Rentenversicherung enthalt so zwar als solidarisches Versicherungssystem umverteilende Elemente (z.B. Kindererziehungszeiten), die Hohe der Rentenzahlungen orientiert sich aber ansonsten zentral an zuvor eingezahlten Beitragen. Neben den angesprochenen Fursorge- und Versicherungssystemen spielen iiber Steuem fmanzierte Versorgungssysteme eine wichtige Rolle im deutschen Sozialstaat. Die derzeitigen Reformuberlegungen beim Kindergeld (bedarfsgeprufte Erganzung um einen Kin-
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derzuschlag) sowie beim Erziehungsgeld (Einfuhrung eines Eltemgeldes mit Lohnersatzfunktion) liefem Beispiele daflir, daB auch in solchen Systemen Fragen der Bedarfs- und Leistungsgerechtigkeit sowie der Finalitat der Leistung eine wesentliche RoUe spielen. Am Beispiel des Eltemgeldes lassen sich schlieBlich drei Funktionen der Sozialpolitik verdeutlichen, mit denen eine letzte systematische Grundlegung flir die folgende Auseinandersetzung um die Zukunft des Sozialstaats und die Zukunft sozialer Gerechtigkeit in sozialstaatlicher Reformpolitik gegeben werden soil. Die Konstitutionsfunktion ist in der oben dargestellten Kontroverse um soziale Reform versus Revolution bereits deutlich geworden. So regelt sich der Zu- und Abgang aus Erwerbsarbeit, als der zentral soziale Teilnahme und Teilhabe an der Gesellschaft vermittelnden Instanz, neben okonomischen Rahmenbedingungen auch iiber sozialpolitische Bestimmungen. Der Sozialstaat ist konstitutiv ftir die Erwerbsgesellschaft, er steckt den Rahmen ab - etwa durch Ausbildungs- und Arbeitsschutzbestimmungen, das Renteneintrittsalter und die Hohe der Rentenzahlungen -, in dem durch bzw. auch jenseits von Beschaftigung Einkonmien fur breite Bevolkerungskreise moglich ist. Daneben sichem sozialstaatliche Leistungen in den „Wechselfallen des Lebens" die Reproduktionsgrundlagen der Betroffenen. So soil es uber das Eltemgeld als Lohnersatzleistung analog dem Arbeitslosengeld mehr Eltem moglich werden, ein Jahr lang nach der Geburt eines Kindes ihr Einkommen trotz Erwerbsunterbrechung oder -minderung zu sichem. Umgekehrt betrachtet soil Einkommensverlust aufgmnd der Geburt eines Kindes ein Jahr lang sozialstaatlich kompensiert werden (Kompensationsfunktion). Und schlieBlich soil iiber die Befristung auf ein Jahr bzw. 14 Monate (statt bislang maximal 2 Jahre) erreicht werden, daB mehr Eltem - de facto insbesondere Miitter - nach Ende dieser kindbedingten Erwerbsreduktion oder -unterbrechung wieder uneingeschrankt am ErwerbsprozeB teilnehmen. Die Regelung soil also praventiv Anreize gegen das Armuts- und Beschaftigungsrisiko einer langen Erwerbsunterbrechung setzen (Praventionsfunktion). Das deutsche soziale Sichemngssystem ist in einer weit tiber hundertjahrigen Geschichte gewachsen, die bestimmt ist von einem erstaunlichen MaB an Kontinuitat im Vergleich zu den Umbruchen, die die staatliche Entwicklung im Ganzen in dieser Zeit genommen hat. Wahrend Deutschland als Kaiserreich, faschistische und kommunistische Diktatur sowie parlamentarische Demokratie verfaBt war bzw. ist, bildete sich mit den Bismarckschen Sozialgesetzen ein Sozialversichemngsstaat fur abhangig Beschaftigte (und deren Angehorige) aus und blieb es bis heute. Auch groBe Reformprojekte der jiingeren Vergangenheit voUzogen sich meist an dieser Gmndorientiemng (siehe Pflegeversichemng) und suchten vomehmlich nach Verandemngen innerhalb der jeweiligen sozialen Sichemngssysteme und ihrer Systemlogiken. Kurz: Sozialstaatliche Reformpolitik wurde und wird in hohem MaBe pfadabhangig, evolutionar betrieben. Hierfiir sprechen zum einen systematische Griinde: So stehen notige Ubergangsfristen sowie in diesen wirksam werdende Doppelbelastungen einem prinzipiell moglichen Systemwechsel von der umlagefinanzierten zur kapitalgedeckten Alterssichemng entgegen. Zum anderen betreffen radikale Kurswechsel in der Sozialpolitik meist eine Vielzahl von Menschen und „verbrauchen" die wohl wichtigste Ressource des Sozialstaats, namlich das Vertrauen seiner Biirgerinnen und Biirger in ihn. Denn die Legitimation fiir die insgesamt erheblichen Ressourcen, die die sozialstaatlichen MaBnahmen benotigen, ist das Versprechen, Sicherheit zu gewahrleisten.
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Aus-, Um- und Abbau als Kontinuum der deutschen Sozialpolitik
An dieser Stelle soil die Geschichte der sozialstaatlichen Entwicklung vor und seit der Kaiserlichen Botschaft von 1881, mit der allgemeine Sozialversicherungssysteme im Deutschen Reich begriindet wurden, nicht im einzelnen nachgezeichnet werden. Wer ihr jedoch nachgeht, wird feststellen, daB sie sich nicht einfach in Sicherungstatbestande iibergreifende, klar abgrenzbare Phasen von Aufbau, Ausbau, Umbau oder Ruckbau beschreiben lal3t. Vielmehr kommen neue Lebensrisiken in den Blick (Pflege), andere treten in ihrer Bedeutung zuruck (Kriegsopferfiirsorge, Arbeitsunfalle). Wiederum andere waren und sind immer noch bzw. wieder von groBer Relevanz (Arbeitslosigkeit, Alter). Gleichwohl lassen sich sozialpolitische Konjunkturen erkennen, welche sich andemden Rahmenbedingungen von Sozialstaatlichkeit und deren Rezeption ebenso geschuldet sind wie Veranderungen im politischen Krafteverhaltnis der relevanten Akteure. So haben der Obergang von der Dominanz keynesianischer zu neoliberalen Leitbildem in den Wirtschaftswissenschaften, der europaische IntegrationsprozeB und die Wiedervereinigung Deutschlands ebenso bedeutende Veranderungen in den Kontextbedingungen von Sozialstaatlichkeit hervorgerufen wie die Veranderung von Lebensmustem (Pluralisierung, Individualisierung). Am Beispiel der Amtszeiten der beiden rot-griinen Bundesregierungen laBt sich nachzeichnen, wie die Herausbildung dominierender Wertvorstellungen in Politik, Okonomie und Gesellschaft einen wichtigen EinfluBfaktor fiir die Zukunft des Sozialstaates bildet (Hauser 2003). 3.1 Rot-Griln 1998-2005: „ Wir werden nicht alles anders, aber vieles besser machen!" 1998 war die Zeit reif fiir einen politischen Wechsel. Nach 16 Jahren christdemokratischer und 29 Jahren liberaler Regierungsbeteiligung entstand erstmals geniigend Raum fur ein „rot-grunes Reformprojekt" auf Bundesebene. Der ein Jahr zuvor vom damaligen Bundesprasidenten Roman Herzog geforderte „Ruck" schien - anders als von ihm intendiert durch die Republik zu gehen. Vom Atomausstieg uber die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften bis hin zur Korrektur von Sozialleistungskiirzungen der Vorgangerregierung reichte das Spektrum der Themen, mit denen wieder Dynamik in die gesellschaftliche Entwicklung gebracht werden soUte. Der (Wieder-)Herstellung sozialer Gerechtigkeit und dem Abbau der Arbeitslosigkeit sollte dabei besondere Bedeutung zukommen. Nach sieben Jahren endete die rot-griine Regierungsphase im Jahr 2005 mit einem veritablen Vertrauensverlust bei der vorgezogenen Bundestagswahl am 18. September und machte den Weg frei fiir die zweite GroBe Koalition aus CDU/CSU und SPD. Dies war nicht zuletzt Folge einer sozial- und beschaftigungspolitisch emiichtemden Bilanz. Zwar stieg die Erwerbsbeteiligung dank des Zuwachses prekarer Beschaftigung zuletzt an, die Arbeitslosigkeit konnte jedoch letztlich nicht abgebaut werden. Parallel dazu hat die Verteilungsschieflage nicht nur bis 1998, sondem auch danach weiter zugenommen (Deutscher Bundestag 2005). Das FaB zum Uberlaufen brachte schlieBlich die Umsetzung der Arbeitsmarktreformen (Hartz I-IV), die eine tiefgreifende soziale Verunsicherung bis weit in die Mittelschichten hineintrug. Die Sorge vor moglicher eigener Betroffenheit von sozialem Abstieg, von Armut und sozialer Ausgrenzung, betraf nunmehr weite Kreise in der Bevolkerung. Doch konnen die Griinde fflr die Abwendung von Rot-Grun kaum allein in der
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betriebenen Kiirzungspolitik gefunden werden. Deiin Sozialpolitik ist seit Ende der 1970er Jahre, zunachst in sozial-liberaler, daiin durch die konservativ-liberale Koalition, immer wieder durch zum Teil drastische Einschnitte in das soziale Netz gekennzeichnet gewesen (Arbeitsfbrderungsgesetz, Gesundheitswesen, Asylbewerberleistungsgesetz etc.). Gleichzeitig stand dem aber immer auch eine Ausweitung von Leistungen gegeniiber, sei es durch Einflihrung der Pflegeversicherung, die verlangerte Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld fur altere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder Erhohungen des Kindergeldes. Wiederum andere Gesetze blieben iiber lange Zeitraume nahezu unverandert, wurden also nicht aktiv aus-, um- oder abgebaut, verloren allerdings zum Teil iiber ihre Nichtanpassung schleichend an Wirksamkeit, wie etwa beim Erziehungs- oder Wohngeld. Rot-griine Sozialpolitik stand ebenfalls in dieser Tradition: Erinnert sei an das Grundsicherungsgesetz, das zum einen die verschamte Altersarmut bekampft, zugleich die iiberwiegende Mehrheit behinderter Menschen aus der Familiensubsidiaritat des alten Bundessozialhilfegesetzes befreit. Auch wurden Geldleistungen starker final ausgerichtet, also auf die verlaBliche Erreichung ihres Sicherungsziels (etwa Schutz vor Armut). Die Grundsicherung im Alter (Sicherung des Zugangs, Bekampfung der Nichtinanspruchnahme) steht hierftir ebenso exemplarisch wie die Einflihrung eines Kinderzuschlags zum Kindergeld und eines Eltemgeldes als Lohnersatzleistung mit Mindestbetrag. DaB hingegen die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe (Grundsicherung far Arbeitssuchende, SGB II) keine breite gesellschaftliche Akzeptanz finden konnte, lag weniger an der Sache selbst als vielmehr an der sozialpolitisch restriktiven Ausgestaltung und iiberstiirzten Umsetzung. So haben „handwerkliche Mangel" (im Hauruck-Verfahren wurde zunachst vor allem das Fordem durch das Absenken der Geldleistungen auf Sozialhilfeniveau, verscharfte Zumutbarkeitsregelungen und Verkiirzung des ALG I-Bezugs in Kraft gesetzt) und unsensible Prioritatensetzungen (der AbschluB des „groBten Steuersenkungsprogramms der Geschichte" und Einflihrung des Arbeitsmarktgesetzes Hartz IV fielen zusammen auf den Stichtag 01.01.2005), in Kombination mit vor allem haushaltspolitischen Erwagungen zu den Sparpotentialen zusammengelegter Transferleistungen, eine ausgewogene Balance fordemder und fordemder Elemente verhindert. Im Ergebnis wurde ein arbeitsmarktpolitisches Projekt diskreditiert, das im Prinzip langjahrigen Forderungen nach einem einheitlichen Leistungsrecht bei Arbeitslosigkeit folgte (DPWV 2002). Gleichwohl reicht es ^ r eine sozialpolitische Bilanz nicht aus, einfach die einzelnen Elemente rot-griiner Sozialpolitik relativierend gegeniiberzustellen. Es gilt nach den grundlegenden politischen Orientierungen und strukturellen Bestimmungsgrunden zu fragen, die dazu flihrten und fiihren, daB Politikversprechen „groBerer sozialer Teilhabe" von vielen Biirgem zunehmend als faule Wechsel flir eine unsichere Zukunft verstanden wurden und werden. Die rot-gnine Regierung trat 1998 mit dem Vorsatz an, man woUe in Zukunft nicht alles anders, aber vieles besser machen. Auf seiten der SPD verkorperte sich der programmatische Anspruch auf Kurswechsel und Kontinuitat in der Doppelspitze aus Gerhard Schroder als Kanzlerkandidat und Oskar Lafontaine als Parteivorsitzender und spaterer Finanzminister. Mit diesem inhaltlichen wie personellen Dualismus war aber das Ringen iiber den „richtigen" sozialpolitischen Kurs der SPD bzw. der rot-griinen Koalition nicht entschieden, sondem wurde lediglich in deren Regierungszeit verlangert. So wurden zunachst einige sozialpolitische Einschnitte der Vorgangerregierung revidiert (z.B. demographischer Faktor in der Rentenformel) und in der Verbindung von okolo-
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gischen, sozialpolitischen und okonomischen Reformen neue Ansatze auf den Weg gebracht (Okosteuer). Nach dem Riicktritt Lafontaines vom Parteivorsitz und seinem uberraschenden Ausscheiden als Finanzminister setzte sich in Kontinuitat des Schroder-BlairPapiers (Friihjahr 1999) dagegen immer starker ein kritischer Fokus auf die beschaftigungspolitischen Wirkungen sozialstaatlicher Geldleistungen durch. So sei der „in den zuriickliegenden Jahren eingeleitete Paradigmenwechsel weg von den direkten Leistungen, bin zu Investitionen in Infrastruktur, erganzt durch zielgenauere Forderinstrumente (...) uberfallig" gewesen (SPD 2006: 8). In einem kombinierten Konzept des „Fordems und Fordems" soUten mit den MaBnahmen der „Agenda 2010" sozialstaatliche Geld-, Sachund Dienstleistungen neu bemessen werden. Damit war der Richtungsstreit in entscheidenden Fragen der Wirtschafts-, Steuer-, Beschaftigungs- und Sozialpolitik entschieden, der Weg ftir eine „Politik des Dritten Weges und der Neuen Mitte" frei (Schroder/Blair 1999). In einer Phase geschrieben, als in fast alien Landem der Europaischen Union Sozialdemokraten regierten, sollte das Schroder-Blair-Papier auf nationalstaatlicher Ebene Alternativen zwischen Neoliberalismus und staatlicher Uberregulierung beschreiben. Nicht genutzt wurde hingegen das kurze Zeitfenster fur Schritte in Richtung einer sozialdemokratisch orientierten teilweisen Europaisierung des Sozialstaates. Im Gegenteil: Die im Schroder-Blair-Papier beschriebene „angebotsorientierte Agenda fiir die Linke" warf vielmehr die Frage nach einer neuen argumentativen Klammer fiir den Anspruch auf Sicherstellung sozialer Gerechtigkeit unter den Bedingungen einer restriktiven Sozialpolitik im Wettbewerb nationaler Sozialordnungen auf „Ein rein passiver Ausgleich sichert den materiellen Status nur vorubergehend. Dauerhafte Abhangigkeit von staatlicher Fiirsorge bedeutet, daB auch das Armutsrisiko, das so ausgeglichen werden muss, dauerhaft besteht. Gerechtigkeit verlangt deshalb vor allem mehr Gleichheit bei den Teilhabe- und Verwirklichungschancen der Menschen" (Deutscher Bundestag 2005: 13). Mit der liberalen Zuschreibung, daB Geldleistungen Armutskreislaufe verfestigen, wurde die Frage nach Gerechtigkeit und Teilhabe zunehmend von Verteilungsfragen abgekoppelt und der Weg far eine starkere Individualisierung sozialer Risiken freigemacht. Mehr „eigene Anstrengung und Verantwortung" wurden zur Leitschnur „realitatstauglicher Antworten auf neue Herausforderungen in Gesellschaft und Okonomie" (Schroder/Blair 1999). Dabei hatte die Auseinandersetzung mit dem im „Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht" der Bundesregierung (Deutscher Bundestag 2005) zitierten Armutskonzept von Amartya Sen (Sen 1998) durchaus auch anders akzentuiert werden konnen. Nimmt man seine Thematisierung von Fahigkeiten und Handlungsmoglichkeiten {capabilities) im Sinne der Sicherung von Teilhabe- und Verwirklichungschancen emst, miiBte der tatsachliche Zugang zu Arbeit, zu Sozialleistungen, zu Bildung, zu sozialen Diensten usw. im Fokus sozialer Politik stehen. So richtig der Ansatz ist, Chancengleichheit in einem Mix aus sozialen Dienstleistungen, Infrastruktur und Transfereinkommen abzusichem, so groB ist die Gefahr, daB eine Sozialpolitik nach Kassenlage in der Betonung von Chancen Leistungsanspriiche (Recht) verdrangt und soziale Gerechtigkeit damit gleichsam entmaterialisiert. Wohl um diesen Konflikt wissend, begegnete die Bundesregierung im Kampf um die Deutungshoheit sozialer Gerechtigkeit dem Vorwurf, rot-griin verkleideten Neoliberalismus zu betreiben, durch die Konstruktion eines Gegensatzes „zwischen der einen Position, die den Staat entkemen und das Soziale in unserer Gesellschaft beiseite drangen will. Und einer Position, die einen aktiven und interventionsfahigen Staat erhalten mochte. Und die durch ausgewogene Reformen die Balance halten will zwischen der Eigenverantwortung
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des Einzelnen und dem Anspruch auf die solidarischen Leistungen unseres Sozialstaates" (Schroder 2005). So wie das Postulat einer „neuen angebotsorientierten Agenda fur die Linke" im Verein mit dem Ringen um einen „christlichen Sozialismus" durch den friihen CDU-Politiker Karl Arnold (Huwel 1980: 72ff.) eindrucklich sich wandelnde Kontextbedingungen flir Sozialpolitik sowie ihre politische Rezeption markiert, so verdeutlicht das Zitat Gerhard Schroders im Licht des Revisionismusstreits die sich wandelnde Konnotation des Begriffes „Reform". Ursprunglich auf die „schrittweise Veranderung und Verbesserung okonomischer, sozialer und politischer Verhaltnisse" zielend (Neumann 2003: 819), ist er in der Wahmehmung vieler Menschen immer starker zum Synonym fiir die Infragestellung sozialstaatlichen Handelns geworden. Dabei laBt sich der formulierte Anspruch, sozialpolitisch ambitionierter zu sein als der politische Gegner, sehr wohl untermauem. Die rot-griine Koalition hat eine nationale Armuts- und Reichtumsberichterstattung nicht nur eingefiihrt, sondem auch dann beibehalten, als diese politisch unangenehme Entwicklungen wahrend der Zeit eigenen Regierungshandelns aufzeigte. Daneben stehen eine Reihe weiterer Beispiele fur eine insgesamt starker partizipative, evaluierende Begleitung sozialpolitischer Gesetzgebungsprozesse (HartzMonitoring, Berichte zur Umsetzung und Wirkung des Grundsicherungsgesetzes, Evaluation der Inanspruchnahme von Eltemzeit etc.), in die verstarkt auch Nichtregierungsorganisationen und Wohlfahrtsverbande einbezogen wurden. Auch die starkere Dienstleistungsstatt Geldleistungsorientierung in der Sozialpolitik von Rot-Grun ist nicht einfach als Abbau zu beschreiben. Der Anspruch zur Intensivierung der Qualifizierungs- und Vermittlungsbemiihungen als Kern des Hartz-Konzepts ist ebensowenig neoliberal wie der Ausbau von Tageseinrichtungen und Tagespflege fiir Kinder unter drei Jahren sowie von Ganztagsangeboten fur Schulkinder. Stellt sich die Frage, wie nun in groBkoalitionaren Zeiten die sozialstaatliche Zukunft gestaltet werden soil? 3.2 Aktuelle reformerische Krdfteverhdltnisse Glaubt man der Selbstwahmehmung der tradierten politischen Parteien, batten die wahlberechtigten Biirgerinnen und Biirger nach der uberraschenden Selbstaufgabe der rot-grunen Koalition mit der vorgezogenen Bundestagswahl am 18.11.2005 die Gelegenheit zur okonomischen, sozialen und okologischen Richtungsentscheidung. Ein Lagerwahlkampf wurde inszeniert, in dem CDU/CSU und FDP nicht zuletzt durch das „Flat Tax-Projekt" von Paul Kirchhof als Koalition der neoliberalen Modemisierer auftraten, wahrend sich SPD und Btindnis 90/Die Grunen als Mittler zwischen versorgungsstaatlicher Bewahrung und gesellschaftlicher Modemisierung prasentierten. Das Wahlergebnis selbst lieferte dann weder dem einen noch dem anderen Lager eine auch nur annahemd tiberzeugende Legitimationsbasis. Es schien vielmehr Manifestation einer tiefen Verunsicherung in der Bevolkerung zu sein. Mag das „rot-grune Projekt" dabei vor allem an den realen Ergebnissen einer Verteilungspolitik gescheitert sein, die „unter dem Strich unsozial und konjunkturpolitisch folgenlos blieb" (EiBel 2004: 71), gelang es dem Btindnis aus PDS und WASG einerseits sowie FDP und Union andererseits auch nicht, ein politisches Konzept zu entwickeln und zu popularisieren, das breite gesellschaftliche Zustimmung flir einen Kurs klar contra bzw. pro Sozialabbau und Neoliberalismus hatte bieten konnen. Angesichts dieser politischen und ideellen Odnis gab es weder eine hinreichende Wechselstimmung fiir ein konservativ-
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liberales noch fur ein linkes gesellschaftliches Reformprojekt. Herausgekommen ist die zweite Grofie Koalition in der Geschichte der Bundesrepublik, die sich vielleicht am treffendsten als Ergebnis aus einer Melange von Veranderungswillen einerseits und Angst vor der weiteren Preisgabe sozialer Rechte und Besitzstande andererseits interpretieren laBt. Ein wirkliches Konzept fur die Gestaltung der Zukunft des Sozialstaates verbindet sich mit dem Beginn der neuen Konstellation jedenfalls nicht. Am Arbeitsmarkt sollen Kombilohn-Modelle den Durchbruch bringen, wo doch schon die alten Versuche (z.B. „Mainzer Modell") sang- und klanglos eingestellt wurden. Die groBen Themen Alterssicherung und Gesundheitspolitik blieben lange in der Schublade, weil der nach Lagerwahlkampf und offentlichen BloBstellungen am Wahlabend miihsam hergestellte Burgfriede zwischen den Koalitionaren nicht durch Streit um Richtungsentscheidungen gestort werden soUte. Immerhin wird mit der Mehrwertsteuererhohung (und mehr symbolisch als substantiell auch mit der sogenannten „Reichensteuer", also der Erhohung der privaten Einkommensteuer ftir Jahreseinkommen ab 250.000/500.000 Euro um 3 Prozentpunkte auf 45%) der Reformkurs der letzten rot-grtinen Regierung aus Steuer-, Abgaben-, Ausgaben- und Schuldensenkung dahingehend verlassen, die Einnahmeseite der offentlichen Haushalte wieder zu verbessem. Gleichwohl steht an der Spitze dieser Regierung eine Bundeskanzlerin, die laut Regierungserklarung vom 30.11.2005 nicht „mehr Demokratie", sondem vor allem „mehr Freiheit" wagen mochte, nachdem sich andere Losungsansatze fur die Bewaltigung der aktuellen Probleme des Sozialstaats als untauglich erwiesen hatten. Im Blickpunkt steht vor allem die „wirtschaftliche Freiheit", die durch „mehr Wettbewerb, Eigenverantwortung, Freiwilligentatigkeit, private Vorsorge" die Grundlage flir einen „hohen Leistungs- und Lebensstandard" legen soil. Den in einer „einseitigen Betonung von Gleichheit und Verteilungsgerechtigkeit" zu einem „umfassenden Wohlfahrtsstaat" mutierten Sozialstaat, gelte es wieder in eine „neue Balance von Freiheit und Gerechtigkeit" zu bringen (Merkel 2003: 88). 3.3 Soziale Homogenitdt versus formale Demokratie Wie defmiert sich aber diese neue Balance? Welche Rolle spielt der Gedanke der Solidaritat und der Partizipation aller? In dem skizzierten Denkmuster zeigt sich vor allem ein auf die Interessen der sogenannten Leistungstrager der Gesellschaflt orientiertes Verstandnis von Sozialpolitik. Das Credo lautet: Leistung muB sich wieder lohnen, denn im Wohlfahrtsstaat mag der Mensch wohl frei geboren sein, gleichwohl liegt er aber uberall in sozialstaatlichen Ketten; dieses entmiindigte, iibersattigte und gefesselte Individuum gilt es zu befreien, um in einem ProzeB der schopferischen Zerstorung des Sozialstaates Luft fiir neuen Wohlstand und Verteilungsspielraum zu schaffen. Hier jedoch perpetuiert sich die „Lebensluge der biirgerlichen Demokratie, daB mit der formalen Gleichheit der demokratische Anspruch eingelost und abgegolten sei" (Fritzsche 1996: 56). Aus den Erfahrungen mit dem Scheitem der Weimarer Republik heraus ist in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg eine breite Debatte iiber das Spannungsverhaltnis von formaler und sozialer Demokratie gefuhrt worden. In der Quintessenz wird dabei die historische Erfahrung auf den Punkt gebracht, daB die Sicherung der sozialen Partizipation der Biirger/innen und damit die Legitimation und Stabilitat eines demokratischen Systems darauf beruht, daB das demokratische Prinzip seine Verwirklichung auch in der Wirtschafts- und Sozialordnung eines politischen Systems fmden muB. Freiheit und Gleichheit
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(liberales Element) verwirklichen sich nicht von allein. Sie sind Folge eines aktiv gestalteten politischen Prozesses, der durch die Mitbestimmung der Betroffenen (zivilgesellschaftliches Element) die direkte Verantwortung des demokratisch durchstrukturierten Staates fflr die Weiterentwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft (soziales Element) gewahrleisten muB (Heller 1970). Im Riickgriff auf Carlo Schmid formuliert sich die Erkenntnis, daB demokratische KontroUe nicht nur im „formalpolitischen Bereich, sondem auch und gerade dort, wo der Schwerpunkt seines [des Rechtsstaates] Lebens liegt, namlich im okonomischen und sozialen Bereich", greifen muB (zit. n. Neumann 1998: 16). In der Weiterftihrung dieses Gedankens entfaltet sich das Bild eines partizipativen Gemeinwesens, das nicht den einzelnen zum allein Verantwortlichen ftir seine soziale Situation macht, sondem „unter Anerkennung der Wiirde des Menschen alien Burgerinnen und Biirgem die gleiche politische und soziale Freiheit zur Entfaltung ihrer Personlichkeit gewahrleistet und dafur die wirtschaftlichen und bildungsmaBigen Voraussetzungen schafft, alle offentlichen Entscheidungen dem Willen der jeweiligen Mehrheit unter Achtung fundamentaler Rechte der Minderheit unterwirft, dem Volk selbst die Legitimation der rechtsstaatlichen Verfassungsordnung iiberlasst und seine Selbstregierung dariiber hinaus durch Volksbegehren und Volksentscheid ermoglicht" (Neumann 1998: 69). Hier vereint sich die liberale Vorstellung von gesicherten Verfahren zur Garantie des politischen Wettbewerbs mit der aktivierenden, emanzipativen Vorstellung von einem Primat der (demokratischen) Politik, der nicht nur das Recht, sondem die Pflicht zur ftir alle beteiligungsoffenen Gestaltung der sozialen und der politischen Ordnung besitzt. In dieser Syntheseleistung liegt die MeBlatte, an der sich ein Freiheitsverstandnis - egal ob modem oder tradiert messen und im Hinblick auf seine gesellschaftsbildende Kraft bewerten lassen muB. Freiheit und Demokratie miissen sich dabei iiber ihre Ergebnisse stabilisieren. Es ist Aufgabe staatlicher Umverteilungs- und Sozialpolitik, die okonomischen Bedingungen in einer Weise einzuhegen, daB der Staatsbiirgerstatus einen „Gebrauchswert" erlangt, der sich „in einer Miinze sozialer, okologischer und kultureller Rechte auszahlen" kann (Habermas 1998: 808f.). Dieses geschieht indes nicht aus Motiven des „Profits" von Demokratie fur benachteiligte soziale Gmppen, sondem aus der existenziellen Angewiesenheit von Demokratie auf relative soziale Homogenitat des Souverans: „Ein bestimmtes MaB sozialer Homogenitat mufi gegeben sein, damit politische Einheitsbildung iiberhaupt moglich sein soil. Solange an die Existenz solcher Homogenitat geglaubt und angenommen wird, es gabe eine Moglichkeit, durch Diskussion mit dem Gegner zur politischen Einigung zu gelangen, solange kann auf die Unterdruckung durch physische Gewalt verzichtet, solange kann mit dem Gegner parliert werden." (Heller 1997: 197) Folgt man daruber hinaus der Einsicht von Alfred Miiller-Armack, der als Staatssekretar Ludwig Erhards den Begriff der „Sozialen Marktwirtschaft" pragte, daB die marktwirtschaftliche Einkommensbildung unweigerlich zu einer Einkommensverteilung fuhrt, die „uns sozial unerwiinscht" erscheint (Miiller-Armack 1947: 109), dann verlangt dies nach sozialpolitischen Sichemngsleistungen, die uber die Absichemng existentieller Notlagen hinausweisen. Damit geht es nicht nur um die Angewiesenheit von Demokratie auf ihre soziale Basis, sondem danach folgend sehr wohl auch um den Anspmch, das soziale Gefiige in der Demokratie normativ geleitet zu gestalten: „sozial unerwiinscht" hat mit Sachzwang nichts zu tun.
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Die Forderung nach einem handlungs- und leistungsfahigen Sozialstaat ist damit - sozialpolitische Argumentationslinien iibergreifend - nicht vertraumte Illusion von ewiggestrigen Sozialromantikem, sondem folgt der Erkenntnis, daB „die soziale Lage einer Gesellschaft zumindest auf lange Sicht nicht nur Indikator, sondem auch Motor oder Bremse (...) der demokratischen Verhaltnisse ist" (Schafer 2001: 9) und damit die Freiheitsgrade aller Burgerinnen und Burger betrifft. Betrachtet man vor diesem Hintergrund die empirischen Ergebnisse der Armutsforschung bzw. der Armuts- und Reichtumsberichterstattung des Bundes, der Lander und der Kommunen oder aber die Analysen zur Steuerpolitik und zu den Verteilungsstrukturen, wie sie etwa von Dieter EiBel vorgelegt wurden, so mag man zu dem - allerdings zur Zeit eher unpopularen - SchluB kommen, daB diese Gesellschaft statt mehr Freiheit, vor allem mehr solidarische Demokratie im Sinne von mehr Verteilungsgerechtigkeit wagen sollte! 4
Sozialstaatsreform dies- und jenseits eingetretener Pfade
Wenn man unterstellt, daB fur die Bevolkerungsmehrheit der soziale Abstieg bislang eher ein Bedrohungsgefuhl denn ein reales materielles Problem darstellt, dann ist die in der Bundestagswahl 2005 zum Ausdruck gekommene Krise der politischen Bindung auch eine Vertrauenskrise. Es fehlt eine glaubhafte Perspektive, wie zumindest ein Teil dieser Gesellschaft jenseits von Wachstum und VoUerwerbsarbeit sowie der daran gekoppelten Verteilungsmechanismen die Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft bewaltigen konnte. Im Gegenteil scheint die aktuelle wie die letzte Bundesregierung im Aktionismus altbekannter Strategien, von „Sozial ist, was Wachstum und Arbeit schafft" bis zum Festhalten an nationaler Steuerungsunfahigkeit, fest im Griff des „Hier und Jetzt und Gestem" verwurzelt. Unter Rot-Griin wurde dabei die „Agenda 2010" immer mehr zum Prestigeobjekt, ihre Umsetzung zur Frage der eigenen Glaubwtirdigkeit, Kritik an ihr zur Nestbeschmutzung und Verrat an der gemeinsamen Aufgabe, den Staat unter den Bedingungen von Europaisierung, Globalisierung und demographischem Wandel handlungsfahig zu erhalten. Dabei hat sich die rot-griine Sozialpolitik mit ihrer dreifachen Prioritatensetzung aus Steuersenkung, Senkung der Lohnnebenkosten und Schuldenabbau am Ende iiberhoben, nicht zuletzt, weil ihr eine schltissige Konzeption fiir eine gerechte Verteilung der sozialen Nutzen und Lasten fehlte. Mindestens drei Ebenen, die im folgenden dargelegt werden, hatten hierfiir einer starkeren Beriicksichtigung bedurft; sie bleiben eine sozialstaatliche Gestaltungsaufgabe, und das sicher nicht nur fiir die amtierende Regierung. 4.1 Sozialstaat = beitragsfinanzierte Sozialsystemefur ahhdngig Beschdftigte? Neben den Arbeitsmarktreformen hatte sich das rot-grune Regierungslager zum Ziel gesetzt, die Sicherungssysteme fur Rente, Gesundheit und Pflege zu stabilisieren. Bei sinkender sozialversicherungspflichtiger Beschaftigung kann dies - bleibt man in jeweils einem System - nur uber Beitragssteigerungen und/oder Leistungskiirzungen erreicht werden. Mit Beitragserhohungen wird Arbeit teurer, bei Leistungseinschrankungen bzw. Zuzahlungen etc. gibt es Widerstand auf seiten der Betroffenen. Die Politik der Konsolidierung innerhalb der Teilsysteme und ihrer lohnabhangigen Finanzierung hat dabei die individuellen Gren-
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zen der Belastbarkeit gesellschaftlicher Gruppen bereits in der Vergangenheit zum Teil aus dem Auge verloren und den Solidarausgleich weiter lediglich zwischen den Mitgliedem eines Teilsystems hergestellt. Dabei hatte die rot-griine Koalition mit der Einflihrung der Okosteuer bereits einen Schritt in die richtige Richtung getan, mit der Burgerversicherung einen weiteren zumindest angedacht. Auch die GroBe Koalition greift auf Drangen der Unionsparteien mit der Mehrwertsteuererhohung zu einem Instrument, mit dem die Finanzierung der Arbeitslosenversicherung zumindest teilweise von Beitragen auf Steuem verlagert werden soil. Letztlich fehlt bislang aber der politische Mut und die gestalterische Kraft, den solidarischen Umbau des Sozialstaates iiber eine starkere teilweise Entkoppelung der Sozialkosten von den Lohnen entscheidend voranzutreiben. 4.2 Finanzierung der inneren Einheit gemdfi Leistungsfdhigkeit? Ein zweites Problemfeld wurde in seiner destabilisierenden Wirkung bereits in den 1990er Jahren weitgehend verdrangt: Zur Bewaltigung der deutschen Einheit werden pro Jahr ca. 100 Mrd. Euro an Transferleistungen erbracht. Die Art der Herstellung und Finanzierung der deutschen Einheit ist so zu einem keynesianischen Nachfi-ageprogramm mutiert, das in den 1990er Jahren wesentlich durch eine wachsende Staatsverschuldung und durch die Verschiebung von einigungsbedingten Lasten in die Sozialversicherungssysteme und Sonderfonds finanziert wurde. Im Ergebnis wurde nicht nur ein erheblicher Teil der Kosten allein von den abhangig Beschaftigten aufgebracht, die Regierung aus CDU/CSU und FDP verdoppelte zwischen 1989 und 1998 auch die Staatsverschuldung, und zwar ohne einen tragfahigen Strukturwandel im Osten zu erzielen. Parallel dazu reduzierte die Politik der letzten Bundesregierungen kontinuierlich das Steueraufkommen und damit die Handlungsfahigkeit der offentlichen Hand. Betrug der Anteil der Gewinnsteuem am gesamten Steueraufkommen 1990 noch 20,5%, so hat sich dieser nach den diversen Steuerreformen bis 2003 auf 11% verringert (EiBel 2004). Die Vermogensteuer wird seit 1997 - obwohl nach wie vor Gesetz - schlicht nicht mehr erhoben. Insgesamt hat sich der Spielraum der offentlichen Haushalte von Bund, Landem und Gemeinden so stark eingeschrankt, daB weitere Restriktionen greifen: Investitionen werden gestreckt oder ganz aufgegeben, Personal abgebaut, die Lohne durch verlangerte Arbeitszeiten gesenkt. Selbst die Versuche, durch Absenkungen der fmanziellen Leistungen bei Langzeitarbeitslosen mehr Gestaltungsfreiheit zuriickzugewinnen, hat sich aufgrund der ansteigenden Fallzahlen zumindest fiir den Bund nicht als erfolgreich erwiesen. Im Ergebnis stolpem Bund, Lander und Gemeinden von einem Unterdeckungstatbestand zum nachsten, wahrend sich privater Reichtum immer starker seiner gesellschaftspolitischen Verantwortung entzieht (MGSFF 2004: 185ff.). 4.3 Sozialstaat = Nationalstaat? Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in den Mitgliedsstaaten der EU ist mehr denn je europaisiert, gleichzeitig sind die Nationalstaaten untereinander immer auch „Wettbewerbstaaten" (Heinze/Schmid/Strunck 1999), die sich nach der Umsetzung der Wirtschaftsund Wahrungsunion in einem Wettlauf der Senkung von Lohnen, Steuem und Sozialausga-
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ben zur Verbesserung ihrer Wettbewerbsposition wiederfinden (Benz/Boeckh/Huster 2000). Es fehlt an einer sozialstaatlichen Zielbestimmung europaischer Politik, der sich nationale Auspragungen zuordnen lieBen. Der hieraus folgende politische Legitimationsverlust ist so aber nicht Folge eines kompromiBlosen Widerstandes der Burgerinnen und Burger gegen vermeintlich altemativlose Sozialkiirzungen aufgrund eines nationalen Wohlstandsverlustes, sondem Ausdruck einer zunehmenden Perspektivlosigkeit nationaler Politik, angesichts eines nach wie vor erheblichen nationalen Wohlstandes soziale Teilhabe sicherzustellen und einen daran gemessen moglichen Lebensstandard breiter Bevolkerungskreise zu sichem. Insofem war die Vorstellung der letzten Bundesregierung, sie verfolge mit der „Agenda 2010" so etwas wie eine integrative Gesamtstrategie so richtig wie falsch. Denn auch sie setzte auf eine Politik fast ausschlieBlich im nationalen Rahmen, der aber sowohl wirtschaftlich als auch politisch im europaischen Verbund immer weniger gegeben ist. Lediglich im nationalen Rahmen ansetzende Agenden und Untemehmenssteuersenkungen werden das europaische „Hase und Igel-Spiel" im Wettbewerb um die niedrigsten Arbeits- und Sozialkosten aber nicht bremsen oder gar beenden konnen. Sie eroffnen lediglich nachste Runden oder ziehen „Reformen" von Nachbarlandem nach. Seit Jahren kommt damit weder im nationalen noch europaweiten MaBstab der solidarische Umbau des Sozialstaates wirklich voran (Benz 2004). Zugleich verscharfen die zahlreichen Einschnitte in das Leistungsrecht auf Dauer eher soziale Ausgrenzung, statt sie zu bekampfen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Arbeitsmarktpolitik auch in Zukunft nicht die erhofften (sozialversicherungspflichtigen) Beschaftigungseffekte, vor allem in den mittleren und hoheren Lohnsegmenten, erreicht. Auf der anderen Seite kann es auch nicht darum gehen, zu einem bloBen Status quo ante zuruckzukehren. Soil der vom nationalen Wohlstand ermoglichte Gestaltungsspielraum sozialstaatlich genutzt werden, bedarf es politischer Reformstrategien, die konzeptionell iiber die etablierten Rezepte hinausreichen und die im sich abzeichnenden sozialen Strukturwandel hilfreichen Beistand leisten. 5
Einige Zukunftsfragen
5.1 Konstitutionsfunktion: Arbeit und ihre Verteilung Der deutsche Sozialstaat orientiert sich noch immer zentral am Leitbild der Versorger- oder Zuverdienerehe, bei der der Mann nach seiner Ausbildung bis zum Renteneintritt in Vollzeit erwerbstatig ist, wahrend die Frau nur zeitweise aus der stillen Reserve des Arbeitsmarktes, aus Kindererziehung und Pflege der Eltemgeneration, auf dem Arbeitsmarkt und damit in den Sozialversicherungssystemen in Erscheinung tritt. Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist langst eine andere. Lebenslanges Lemen, Stellenwechsel mit Phasen von Arbeitslosigkeit sowie Vereinbarkeitsfragen von Familie und Beruf in einer Doppelverdienerbeziehung pragen heute viele Biographien. Der „7. Familienbericht des Bundes" (BMFSFJ 2005) schlagt daher „Optionszeiten" im Lebensverlauf vor, die es ermoglichen, sozialstaatlich anerkannt Phasen und AusmaB an erforderlicher Erwerbsarbeit besser mit wiederholten Bildungs-, Erziehungs- und Pflegephasen fur Angehorige zu verbinden. Danach gilt es, sozialstaatlich Tatbestande festzulegen, in denen Erwerbspersonen vom unbedingten Ver-
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weis auf den Arbeitsmarkt zur Sicherung ihrer Existenz (ggf. in Teilzeit) ausgenommen sind. Damit wiirde ein Teil vorhandener Arbeit umverteilt und konnten insgesamt mehr Personen iiber Teilzeitbeschaftigung in das Beschaftigungssystem integriert werden. 5.2 Kompensationsfunktion: Flexibilitdt und Sicherheit Dies erfordert zum einen grundsatzlich hohe Beschaftigungsquoten, da der Sozialstaat neben der nachwachsenden und alten Generation nur begrenzt auch die Sicherung von Personen im Erwerbsalter jenseits von Beschaftigung leisten kann (Beispiel Schweden). Zum anderen bedarf es hierfiir einer besseren Kombination von Transferbestandteilen, die den Lebensstandard und insbesondere im Zusammenhang mit Teilzeitarbeit einen Mindeststandard sichem (Grundsicherung im Alter, Sockelbetrag beim Eltemgeld etc.)- Dies bedeutet eine Au^ertung von solidarischer Gerechtigkeit und des Finalprinzips. Am niederlandischen Sozialstaat laBt sich studieren, wie eine veranderte Kombination von lebensstandardund mindestsichemden Leistungen insgesamt zu einer besonders hohen Teilzeitquote beitragen kann. Herausforderungen fur die Balance von Leistungs-, solidarischer und vorleistungsfreier Gerechtigkeit stellen sich femer in bezug auf die wachsende Zahl geringftigig Beschaftigter sowie prekarer Selbstandigkeit. Derzeit haben schatzungsweise 300.000 Selbstandige jeden Krankenversicherungsschutz verloren. Zudem ist vorherzusehen, daB gerade fiir diesen Personenkreis Armut im Alter ein wachsendes Risiko darstellt. SoUen die Risiken Krankheit und Alter hier nicht in wachsendem MaBe auf die Fiirsorgesysteme durchschlagen, miissen sie in Versicherungs- und Versorgungssysteme verpflichtend einbezogen werden. 5.3 Prdventionsfunktion: Geld-, Sack- und Dienstleistungen Bei der nachwachsenden Generation (Bildung sowie Erziehung und Betreuung) und auch der alten Generation (Pflege) gewinnen soziale Dienstleistungen an Bedeutung, wahrend bislang der deutsche Sozialstaat vergleichsweise transferlastig sozialem Bedarf begegnet (Beispiel Alimentation von Arbeitslosigkeit). Bildung wurde zu Recht von der rot-griinen Bundesregierung verstarkt als wichtiges armutspraventives Element von Sozialpolitik begriffen und iiber den Ausbau von Kindertagesbetreuung und Ganztagsschulen gefbrdert. Andererseits liefert gerade die Bildungsokonomie immer mehr Beispiele dafur, daB auch In- bzw. Exklusivitat von Bildungsdienstleistungen nicht losgelost von Verteilungsfragen angemessen betrachtet werden konnen. Genannt sei hier nur die zunehmende Einschrankung der Lehrmittelfreiheit und der verstarkte tJbergang von einer ex post Studienfinanzierung (iiber die progressive Einkommensteuer bei gut verdienenden ehemaligen Studierenden) zu einer ex ante Finanzierung (Studiensparvertrage fur Eltem/Kinder, Studiengebiihren). Damit gewinnt neben Dienstleistungen und der Sicherung des Einkommens die sozialpolitische Gestaltung der Ausgabenseite privater Haushalte an Gewicht.
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5.4 Mehrebenensozialstaat An sozialpolitischen Anworten auf die politisch betriebene und technologisch beforderte Entgrenzung der Okonomie wird sich schlieBlich die Zukunft des Sozialstaats insofem immer starker entscheiden, als ohne politische und raumliche Grenzen fiir okonomisches Handeln der Primat der Politik erodieren muB und mit ihm die Moglichkeit, die fiir den Sozialstaat notigen Ressourcen tatsachlich generieren zu konnen. Dabei war Sozialstaat historisch keineswegs derart zentral Nationalstaat wie heute. Kommunale Armenhauser und betriebliche Hilfskassen spielten einmal eine ebenso bedeutende RoUe wie europaweit agierende katholische Ordensgemeinschaften, etwa die der Beginen fur alleinstehende Frauen. Zusammen mit sozialpolitischen Dezentralisierungstendenzen in nationalen Sozialordnungen und der sich auszubilden beginnenden Sozialpolitik der Europaischen Union wird sich der Sozialstaat auch in Zukunft nur als Mehrebenensystem angemessen begreifen lassen. Die Kompetenzordnung zwischen politischen Ebenen wird dabei neben demokratisch notwendiger klarer Zuordnung von Verantwortlichkeiten („Wen wahle ich wofiir?") auch eine subsidiar rahmende Kompetenzordnung im Sinne hilfreichen Beistands und unter Einbezug der iiberstaatlichen Ebene vorsehen miissen, so die Gefahr einer sozialpolitischen Dumpingkonkurrenz unter Wettbewerbsstaaten zumindest gemildert werden soil. „Ein Europa der transnationalen Regionen, ineinander greifender Ringe und Kreise und der unterschiedlichen Geschwindigkeiten bei gemeinsam geteilten Normen und Grundwerten, zu denen auch soziale Grundrechte gehoren mussen (vgl. Marshall 1992): Dies konnte ein Modell sein, vorausgesetzt, es wird ausgestaltet, offentlich diskutiert und auch als Chance far diejenigen begriffen, die derzeit noch abseits stehen" (Benz/Boeckh/Huster 2000: 243). 6
Reformpolitik am Scheideweg?
Damit halt die Theorie und Struktur des Sozialstaats viel bereit fiir eine Politik, die auch zukunflig soziale Gerechtigkeit anstrebt und ermoglicht. DaB dabei Interessen an Leistungs-, solidarischer und vorleistungsfreier Gerechtigkeit nicht langer miteinander konkurrieren und ein „Sozialstaat aus einem GuB" entsteht, ist weder zu erwarten, noch ware ihm dies zu wiinschen, zumal wenn die sozialstaatlichen Akteure, Adressaten und Tatbestande eher heterogener werden. Im Gegenteil kann, mit Thomas H. Marshall gesprochen, fiir humane Gesellschaften gelten, daB sie in der Lage sind, „aus einem Mischmasch aus Paradoxa ohne Verdauungsschwierigkeiten anstandige Mahlzeiten (zu) machen (...), zumindest fiir eine relativ lange Zeit" (Marshall 1992: 93). Dabei kann selbst das Erreichen des sozialstaatlichen Ziels relativer sozialer Homogenitat „niemals die Aufhebung der notwendig antagonistischen Gesellschaftsstruktur bedeuten. Die gegensatzfi-eie Friedensgemeinschaft, die herrschaftslose Gesellschaft konnen als prophetische VerheiBung sinnvoll sein. Als politisches Ziel ist solche Verdiesseitigung einer Gemeinschaft der Heiligen (...) eine Denaturierung sowohl der religiosen wie der politischen Sphare" (Heller 1997: 198). Wenn das aber so ist, dann gehoren Werte und Interessen, KompromiB, Kooperation und auch Konflikt von Interessen notwendig zum Sozialstaat. Reformpolitik ist dann keineswegs „Kuschelpadagogik", sondem steht bestandig vor groBeren und kleineren Weggabelungen, bei denen sie gefordert ist, Richtungsentscheidungen zu treffen, ohne die Balance zu verlieren.
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Gottfried Erb
Reichtum - ein Tabuthema Wachsende soziale Ungerechtigkeit in Deutschland
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Einleitung: Entwicklung sowie offentliche Wahrnehmung von Reichtum und Armut
Reichtum gab es schon immer. Infolgedessen erscheint er vielen als jeglicher Gesellschaft qua Natur eingeschrieben, als unabanderlich oder sogar gottgegeben. Vorubergehend schien sich das im Sowjetreich zu andem, doch selbst dort gab es Reiche, und als dauerhaft oder gar gerecht erwies sich diese nur scheinbar egalitare Gesellschaft nicht. Auch in Deutschland wachst die Zahl der Einkommensmillionare bestandig, wobei dieser groBer werdenden Zahl an Wohlhabenden jedoch zugleich eine wachsende Anzahl von mittellosen, armen Menschen gegenubersteht. Reichtum hat viele Gesichter und prasentiert sich keineswegs uniform. Millionare und Milliardare haben zum Teil sehr unterschiedliche Moglichkeiten zu weiterer Akkumulation, doch vor allem differieren die Moglichkeiten der politischen Machtfulle. Einige wenige fiihlen sich dem Grundgesetz auch hinsichtlich des Art. 14, Abs. 2 („Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soil zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen") verbunden und pflegen den Gedanken der Gemeinniitzigkeit. So etwa der Hamburger Reeder Peter Kramer, der die „Hamburger Stiftung fiir Demokratie und Volkerrecht" griindete und mit ihr z.B. Schulprojekte in Afrika organisiert und fmanziert (Frankfiirter Rundschau vom 04.02.2006). Soziale Verantwortung und GroBziigigkeit dieser Art fmdet man allerdings eher selten in Deutschland. Im Alltagsgebrauch wird Reichtum hauptsachlich Personen zugesprochen oder Familien, selten Untemehmen. Die Rede von reichen Landem oder Stadten verdeckt, daB es dort in der Regel auch Arme gibt. Arme werden oft gesellschaftlich ausgegrenzt, als AuBenseiter, als Versager und in den letzten Jahren immer mehr auch als „Schmarotzer" behandelt, wenn sie staatliche Hilfen, die gesetzlich verankert sind, in Anspruch nehmen. Reiche dagegen genieBen Respekt, selbst wenn sie staatliche Subventionen erhalten, und Steuerhinterziehung gilt vielen noch immer als „Kavaliersdelikt". Reichtum bleibt geheimnisumwittert. Gerade deswegen hat die Regenbogenpresse mit allem, was von auBen zu erspahen ist, Villen, Yachten, Autos, Feste, Hochzeiten, Affaren, immerwahrende Themen. Je mehr berichtet wird, desto mehr bietet sich die Welt der Reichen fiir den GroBteil der Gesellschaft als Objekt der Bewunderung, der Neugier, mitunter auch des Neides und des Masses, haufiger aber als Wunschphantasie und als Leitbild dar. Wer es erreicht, gilt als tuchtig und vorbildlich. So wird rundum vorgegaukelt, jeder konne haben, was die Reichen schon hatten. „Wer wird Millionar?" lautet eine beliebte QuizSendung. „Sie konnen Millionar werden", stellt ausgerechnet eine Lotterie ffir Notleidende in Aussicht. Und die Siiddeutsche Klassenlotterie: „Geben Sie Ihrem Gliick eine Chance! 888 Millionen zu gewinnen". Jeder und jede hatte eine Chance, so suggerieren alle diese Gewinnspiele. Abgesehen davon, daB die Gewinnaussichten minimal sind, die okonomi-
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sche und soziale Wirklichkeit kontrastiert auffallig mit dem medial vermittelten Trugbild vom gesellschaftlichen Aufstieg fiir jedermann: Wenn Bildung - wie die PISA-Studien zutage gefbrdert haben - zunehmend einkommensabhangig wird, wenn sich die Lebensbedingungen groBer Bevolkerungsteile aufgrund von Einschnitten in den Sozialstaat verschlechtem, wenn seit 1992 die Reallohne von abhangig Beschaftigen in Deutschland sinken und wenn die Meritokratie, also das gerade von wirtschaftsliberaler Seite vehement geforderte Leitbild, wonach rein nach Leistung belohnt werden soil, in der Realitat keinerlei Entsprechung fmdet (siehe die Massenentlassungen von Unteraehmen trotz steigender Gewinne oder die Gehaltssteigerungen von Vorstandsmitgliedem groBer Konzeme trotz Verlusten), dann wird offenkundig, daB die vertikale Mobilitat in der bundesdeutschen Gesellschaft seit Jahren abnimmt und bestehende Zustande gesellschaftlicher Verteilung vielmehr zementiert werden. Die Ideologien der .JSfew Economy", die in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts hierzulande und besonders in den USA die okonomische Szene beherrschten (Frank 2001), haben das Trugbild gestiitzt: Jeder habe die Chance, sein Gliick zu machen, ob als dynamischer Einzeluntemehmer, als Teilhaber in einem anderen Untemehmen oder als Borsenspekulant. Leistungswille, Kreativitat, FleiB und Cleverness, mehr brauche es nicht. Die besten Bedingungen fur die Chancen eines jeden biete der reine Markt, den man von alien Interventionen der Politik und der Gewerkschaften befreien miisse. So entstunde die perfekte Demokratie. Die einzelnen Menschen wiirden dann entscheiden, was produziert, was verteilt wiirde und wie die Untemehmen zu gestalten seien. Viele traten an, warfen sich in das Getiimmel der Konkurrenz, hatten Anfangserfolge, was die illusionaren Phantasien noch befliigelte, griindeten Scheinfirmen, prophezeiten sich und ihren Untemehmen rosige Zeiten, was die Aktienkurse in schwindelerregende Hohen trieb, bis das Ganze mit groBem Getose zusammenbrach und ein Triimmerfeld von gescheiterten Existenzen hinterlieB. Lemerfolge oder stmkturelle Verandemngen zeitigte das Ganze nicht. Sicher: Einigen gelingt es, auf spektakulare Weise das groBe Geld zu machen, wie Alex Tew, dem einundzwanzigjahrigen Studenten, der eine „milliondollarhomepage.com" ins Intemet stellte und 1 Mio. Pixel zu 1 Dollar pro Pixel als Werbeflache verkaufte und tatsachlich innerhalb kurzer Zeit 1 Mio. Dollar zusammenbrachte (Frankfurter Rundschau vom 13.01.2005). Doch solche Erfolge sind rar. Die meisten, die ihr Erspartes einsetzen, Kredite aufnehmen, sich durch genehmigende und fordemde Behorden durcharbeiten, strampeln sich ab, um eine innovative Idee auf den hart umkampften Markten durchzusetzen. Sobald irgendeine Marktnische auftaucht, wird sie schnell besetzt. Uberall lauert anlagewilliges Kapital. Wettbewerb jedoch heiBt jedoch nicht nur Fortschritt, sondem immer auch Verdrangung und Vemichtung anderer und Zerstomng des Bisherigen. Der Erfolg hangt zudem haufig mehr von der Marktentwicklung ab als vom eigenen Tun. Der Markt von sich aus schafft und vergroBert die soziale Klufl. Nur die Politik kann das korrigieren, auch und gerade durch eine entsprechende Umverteilungspolitik, welche Fehlentwicklungen des Marktes ausgleicht. Eine Erkenntnis iibrigens, die dem Konzept der sozialen Marktwirtschafl zugmnde liegt.
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Gesellschaftliche Funktionen von Reichtum - Entkoppelungsprozesse
Merkwurdigerweise befassen sich wenige Wissenschaftler mit dem aktuellen Reichtum. Die Kategorie „Reichtum" kommt in der wirtschaftwissenschaftlichen Literatur, auch in den Lexika, kaum vor: implizit als Kapital, manchmal als Vermogen. Aber es gibt in der klassischen biirgerlichen Wirtschaftslehre gleichwohl eine Grundvorstellung iiber die gesellschaftliche Funktion des Reichtums. Sofem er der Akkumulation von Kapital dient, das der Eigentiimer in seinen Untemehmen einsetzt, also nicht fiir den eigenen, privaten Konsum verwendet, wird ihm eine produktive Rolle zugemessen. Das so verwandte Kapital ist die Grundlage fur eine erweiterte Produktion, fiir Innovationen, fiir kostensenkende Rationalisierungen und die Entwicklung neuer Produkte. Zwar war diese Akkumulation in fruhkapitalistischen Zeiten einer massiven Ausbeutung der Arbeitenden geschuldet, brachte aber die wirtschaftliche Entwicklung in Gang, zumindest so lange, wie die Nachfi-age nach den sich vermehrenden Produkten, ob Giiter oder Dienstleistungen, stieg. Dabei zeigte sich bereits sehr rasch eines: Ohne Wachstum der Einkommen von abhangig Beschaftigten, auch und in erster Linie der Lohne, von denen die Nachfi-age ausgeht, kommt es schnell zu einer tJberakkumulation, die das Kapital selbst in eine Krise bringt. Von Anbeginn gehorte dieses Kapital nur wenigen. Landbesitzer wichen den Kapitaleignem. Die Agrarokonomie trat hinter der Industrieokonomie zuriick. Heute haben sich die Dienstleistungen in den Vordergrund geschoben. Sie erbringen in den hochentwickelten Landem inzwischen mehr als 70% der Wirtschaftsleistung. Die Realokonomie, also der kleine Anteil an Agrarprodukten, der groBere Teil an Industriegiitem und die dominant gewordenen Dienstleistungen, wird seit mehr als dreiBig Jahren von einer in atemberaubendem Tempo wachsenden Finanzokonomie iiberlagert und zunehmend beherrscht. Die GroBenordnungen der Transaktionen dieses, die ganze Welt umkreisenden Kapitals sind enorm. Jorg Huffschmid (1999) gibt fiir die Zeit von 1980 bis 1998 fi)lgende Steigerungen der weltweiten Aktienumsatze an: 1980 entsprach der weltweite Aktienhandel ca. einem Zehntel des Kurswertes aller an den Weltborsen gehandelten Aktiengesellschaften. Bis 1990 hatte sich der Borsenwert mehr als verdreifacht, der Aktienhandel dagegen stieg um das Zwanzigfache. 1998 war der Kurswert aller Aktien 2,7mal so hoch wie 1990. Der Aktienumsatz hat um das 4,6fache zugenommen. Bis 1998 wuchs so der weltweite Aktienhandel auf eine Hohe, die das Fiinfiindneunzigfache des Umsatzes von 1980 ausmachte. Nicht weniger wuchs der Handel mit Anleihen. Schwindelerregend hohe, sich jeder Vorstellungskraft entziehende Werte erreicht der Handel mit sogenannten Derivaten. Derivate sind Optionen auf Werte aller Art, deren Preise sich an Preiserwartungen oder Kursschwankungen von anderen Investments richten und deren Schwankungen iiberproportional nachvollziehen. Damit ermoglichen sie hohe Kursgewinne, aber auch extrem hohe Spekulationsverluste. VertragsabschluB und Erfullung fallen bei Derivatgeschaften zeitlich deutlich auseinander. Zu den Derivaten zahlen Finanzprodukte wie Futures, Optionen, Zertifikate, Termingeschafte und Swaps. Die einfachste Form sind Kauf- oder Verkaufsoptionen zu festgelegten Preisen. Nach Angaben der Bank fiir Intemationalen Zahlungsausgleich (BIS) belief sich der Bestand an Derivaten Ende 2003 weltweit auf 200 Billionen US Dollar, stieg demzufolge gegeniiber dem Vorjahr um 30% (Frankfiirter Rundschau vom 19.05.2004). Sollte auch nur ein Teil dieses hochbrisanten Kapitals in eine Krise geraten, weil sich seine Inhaber tibemommen oder verspekuliert haben, drohen Kettenreaktionen, die ganze Lander mit in die Krise reiBen konnen - so geschehen wahrend der 1990er Jahre in Asien. DaB unter
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dem wirtschaftlichen Niedergang dann besonders die armen Lander und die Armen in den reichen Landem leiden, ist gewiB. Ein weiterer Indikator fur die enorme Ausweitung der Finanztransaktionen sind die Devisenumsatze. Im Jahre 2004 erreichten sie einen Umfang von 470 Billionen Dollar. Sie stiegen gegeniiber 1995 um 75%, obwohl die Einfiihrung des Euros und der Wegfall vieler Wahrungen die Devisenumsatze eingeschrankt hat. Dieses immense Volumen machte das Vierzigfache dessen aus, was rund um den Globus an Waren und Dienstleistungen gehandelt wurde (Die Zeit vom 17.01.2005). Man kann also davon ausgehen, daB die Finanzokonomie die Realokonomie langst in eine kleine Ecke gedrangt hat. Mehr als das: Sie gefahrdet mit ihren Krisen nicht nur die ganze Wirtschaft, von der wir alle leben, sondem pliindert sie aus. Darauf hat Franz Muntefering hingewiesen, als er manche Akteure des Finanzkapitals als „Heuschrecken" bezeichnete, die sich iiber Untemehmen hermachen, sie leerfressen und dann weiterziehen, wenn sich das Kapital an anderer Stelle profitabler anlegen laBt. Die kapitalstarken „Hedge-Fonds" und „Private Equity-Fonds" sind hierbei besonders problematisch (Ver.di 2005). Die produzierten Waren und die Beschaftigten in den betroffenen Untemehmen spielen keinerlei Rolle mehr. Aus kurzfristigen Gewinninteressen wird die Kapitalsubstanz abgesaugt, werden Untemehmen zerschlagen. Die Politik zeigt sich gegeniiber dieser neuen Form von „Raubtierkapitalismus" hilflos. Er laBt sich in seiner intemationalen Entgrenzung durch politischen Zugriff anscheinend nicht mehr domestizieren. Insofem waren Miinteferings verbaler Angriff und Appell an das VerantwortungsbewuBtsein von Investoren - abgesehen von den wahlkampftaktischen Absichten - zugleich eine steuemngspolitische Bankrotterklamng. Der private Reichtum von heute hat also einen Gutteil seiner urspriinglichen Funktion, namlich Akkumulationsbasis fiir die Produktion zu sein, verloren. Er entzieht sich in zunehmendem MaBe der Realokonomie, weil auf den Finanzmarkten mehr zu verdienen ist. Eine etwaige intemationale Devisen- und Borsenumsatzsteuer, welche hier regulierend eingreifen konnte, ist jedoch nicht in Sicht, weil politisch entweder nicht gewollt oder nicht durchsetzbar. Das viel gepriesene Mazenatentum der Reichen legitimiert die private Anhaufung von Vermogen hinsichtlich einer moglichen Gemeinwohlausrichtung nicht. So ehrenwert und wichtig es in Einzelfallen ist, es leistet „keinen entscheidenden quantitativen Beitrag zur Finanziemng von Aufgaben des Gemeinwohls" (Schulze/Steffens, zit. n. Bundesministerium fiir Gesundheit und Soziale Sichemng 2005: 6If.). 3
Millionare, Milliardare - wachsender Reichtum fiir wenige in Deutscliland
Deutschland ist reich durch seine Reichen, seine Millionare und Milliardare. Dennoch enthalten die „Armuts- und Reichtumsberichte" der Bundesregiemng wenig Informationen iiber sie. Die Zahlen im ersten Bericht aus dem Jahr 2001 bemhen mehr auf Schatzungen als auf realen empirischen Beflinden. Die Einkommenssteuerstatistik und die friihere Vermogenssteuerstatistik vermitteln ein falsches Bild, weil sie die steuerpflichtigen GroBen mit Hilfe von allerlei Abziigen hemnterrechnen konnen, so daB Vermogende statistisch nicht als solche erfaBt werden. Dennoch machen die Zahlen der „Armuts- und Reichtumsberichte" der Bundesregiemng deutlich, wie stark die Zahl derer gewachsen ist, die iiber mehr als 1 Mio. DM bzw. 500.000 Euro verfiigen. Fiir Anfang 1960 geht man von 14.000 DM-
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Millionaren aus, 1978 waren es schon 217.000 und Ende der 1990er Jahre 1,5 Mio. (Bundesministerium ftir Arbeit und Sozialordnung 2001: 64). Im „Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht" wird diese Reihe nicht fortgesetzt, well es sich jetzt nicht mehr um DM, sondem um Euro handelt. Wir erfahren jedoch, daB 10% der Haushalte 2003 665.500 Euro besaBen und daB diese Zahl gegeniiber 1998 um 23%, gegeniiber 1993 sogar um 30% gestiegen ist. In DM gerechnet ergibt sich daraus eine betrachtliche Vermehrung der Millionare in Deutschland (Bundesministerium fiir Gesundheit und Soziale Sicherung 2005). Dabei ist das in den „Armuts- und Reichtumsberichten" der Bundesregierung gezeichnete Bild des Reichtums hochst unvoUstandig. Einige wichtige Komponenten werden gar nicht beriicksichtigt, da folgende Vermogensformen in der Gesamtsumme des privaten Reichtums nicht erscheinen: (1) Anspriiche an die betriebliche Altersversicherung und an die staatliche soziale Sicherung (Sozialvermogen), (2) langlebige Konsumgiiter (Gebrauchsvermogen), wie z.B. Schmuck, Kunstgegenstande, Limousinen, Yachten, Flugzeuge, (3) Betriebsvermogen sowie (4) Bargeld und Guthaben auf Girokonten. Begriindet wird die fehlende Einbeziehung dieser GroBen nicht. Man spricht schlicht von „Vermogen im engeren Sinne", das „sachgerecht und zweckmaBig (ist) fiir die wichtige Frage nach dem abgesparten und geerbten Geld- und Sachvermogen, das fiir die individuelle Vorsorge und Absicherung des Lebensstandards in den Wechselfallen des Lebens und im Alter zur Verfiigung steht" (Bundesministerium fiir Arbeit und Sozialordnung 2001: 44). Diese Beschrankung der Funktionen mag fiir die mittleren und kleinen Vermogen zutreffen, nicht aber fiir Millionare und Milliardare. Nach dieser Logik brauchen diese ihre Luxusgiiter fur „die Wechselfalle des Lebens" und fiir das Alter nicht, offenbar auch nicht die Betriebsrenten und andere Anspriiche aus dem „Sozialvermogen". Das Betriebsvermogen scheint dafiir auch keine Rolle zu spielen. Addiert man das so reduzierte Vermogen (Geldvermogen: Spar- und Bausparguthaben, Wertpapiere, Termingelder und angesammeltes Kapital bei Lebensversicherungen sowie Immobilienbesitz zu Verkehrswerten), dann ergibt sich im Jahre 1998 ein privates Gesamtvermogen in Deutschland von 4,182 Billionen Euro und fiir 2003 von 4,958 Billionen Euro. Das ist immerhin eine Steigerung von 18,6% in fiinf Jahren - und das obwohl es auf den Aktienmarkten zu erheblichen Einbriichen kam und seit 2001 die Konjunktur auBerst schwach verlauft. Der „Erste Armuts- und Reichtumsbericht" beziffert das private Betriebsvermogen auf 1,31 Billionen DM (668 Mrd. Euro) (Bundesministerium fiir Arbeit und Sozialordnung 2001: 61). Der „Zweite Bericht" gibt keine Zahl mehr an. Zum Gebrauchsvermogen werden in beiden Berichten keine Angaben gemacht. Im „Zweiten Bericht" steht lediglich verschamt in einer FuBnote (FuBnote 52), daB sich fiir 2002 ein Gesamtvermogen von 7,8 Billionen Euro ergibt, wenn auch das Betriebs- und Verbrauchsvermogen hinzugerechnet werde (Bundesministerium fiir Gesundheit und Soziale Sicherung 2005: 53). Vollstandig ist diese Schatzung immer noch nicht, denn es ist stark zu vermuten, daB die ins Ausland verlagerten Vermogenswerte nicht beriicksichtigt wurden. Dabei handelt es sich nicht um kleine Summen, die besonders in den Steueroasen dieser Welt geparkt werden, um die hoheren deutschen Steuem zu umgehen. Doch nicht nur im Ausland verbergen sich Reichtumer, auch hierzulande wird einiges versteckt, um sich den Kapitalertragssteuem zu entziehen. Die Deutsche Bundesbank (2000) gibt in ihrem Monatsbericht vom Juni 2000 ein privates Gesamtvermogen von 7,17 Billionen Euro im Jahre 1998 und von 7,42 Billionen Euro im Jahre 1999 an. Tatsachlich diirfte es heute weit uber 8 Billionen Euro liegen.
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Die in den „Amiuts- und Reichtumsberichten" der Bundesregierung verwandten Zahlen sind auch hinsichtlich der Einkommensverhaltnisse irrefuhrend. Denn sie entstammen der EVS, der Einkommen- und Verbraucherstichprobe, die in groBeren Abstanden regelmaBig vom Statistischen Bundesamt erhoben wird. Monatseinkommen iiber 17.500 Euro (= 35.000 DM) werden dabei aber gar nicht erfaBt. Man hat deswegen die Einkommensteuerstatistik zu Hilfe genommen, was jedoch auBerst fragwiirdig ist, weil gerade die Bezieher hoher Einkommen ihre Einkommen mehr verschleiem als ehrlich angeben. Der Wirtschaftswissenschaftler Giacomo Comeo, Professor an der FU Berlin, geht davon aus, daB lediglich 30% der Spitzeneinkommen iiberhaupt besteuert werden (Die Zeit vom 22.12.2004). Kurzum: Die Zahlen, mit denen die „Armuts- und Reichtumsberichte" der Bundesregierung operieren, sind insgesamt viel zu niedrig. Doch selbst diese Zahlen dokumentieren massive Unterschiede zwischen Arm und Reich. Danach besaBen die obersten 10% der Haushalte in Deutschland im Jahr 2003 46,8% des Gesamtvermogens und die untersten 50% lediglich 3,8%. 1998 waren es noch 44,4% und 3,9%. Die Vermogen sind also nicht nur extrem ungleich verteilt. Die Unterschiede wachsen weiter an. Das „Manager-Magazin" veroffentlichte im Oktober 2005 eine Liste der 300 reichsten Deutschen. Der „armste" unter den „armeren Reichen", so heiBt es dort, besitzt immerhin noch 200 Millionen Euro. Karl Albrecht und Theo Albrecht (Aldi) werden mit 15,6 und 15.1 Mrd. Euro gefuhrt und sind gemeinsam die drittreichsten Personen der Welt. Uber mehr als 1 Mrd. Euro verfiigen in Deutschland 83 Personen bzw. Familien. Nach „forbes.com" entfallen auf die deutschen Milliardare fur 2002 115,3 Mrd. Dollar an Vermogen. Das sind bei einem Bruttosozialprodukt von 1.873 Mrd. Dollar 6,16 % (Wenzel 2003: 240). Die betrachtliche Zunahme der Superreichen deutet die Bundesregierung in ihrem „Ersten Armuts- und Reichtumsbericht" indes „nicht als Zeichen einer zunehmenden Ungleichheit der Vermogensverteilung". Ihre Begrundung: „Die Entwicklung der Zahl der Millionare ist Ausdruck des allgemeinen Wachstums der Vermogen, das durch Wirtschaftswachstum, Einkommensanstieg, Vermogensbildung, sowie Wertentwicklung von Immobilien und Aktien bewirkt wird" (Bundesministerium ftir Arbeit und Sozialordnung 2001: 65). 4
Die soziale Kluft in Deutschland vergroBert sich
Tatsache aber ist, daB oben das Reichtumsvolumen und die Zahl der Reichen wachsen, wahrend unten dagegen die Einkommen sinken und die Arbeitslosigkeit und die Verschuldung zunehmen. Die unteren 10% der Haushalte sind laut dem „Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht" der Bundesregierung mit durchschnittlich 7.900 Euro verschuldet. Im Jahre 2002 waren insgesamt 3,13 Mio. Haushalte uberschuldet, 1995 waren es „lediglich" 2 Mio. - das bedeutet eine Steigerung in sieben Jahren um 57%! Auch die Einkommensarmut steigt. Lag sie im Jahre 1973 noch bei 6,5% der Bevolkerung, betrug sie 1998 schon 12,1% und 2003 13,5% - das sind iiber 11 Mio. Menschen! (Erb 2002 a/b). So wie die Armut den Familien immer mehr Schulden eintragt, so ist der schnell anwachsende Reichtum an Vermogen den steigenden Einkommen der oberen Schichten zu verdanken. Als reich gilt, wer mehr als 200% des Durchschnittseinkommens verdient. Das waren 1995 insgesamt 3,2 Mio. und 1998 3,6 Mio. Personen. Neuere Zahlen sind nicht verfugbar. Der letzte „Armuts- und Reichtumsbericht" aus dem Jahr 2005 war
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auf Schatzungen angewiesen, die aber einen weiteren Zuwachs diagnostizierten (Bundesministerium fur Gesundheit und Soziale Sicherung 2005: 51). Der Anteil der „Superreichen" betrug 1998 1,12% der Bevolkerung. Ihr Anteil am Gesamteinkommen belief sich im selben Jahr auf 11,32% in Westdeutschland und auf 6,03% in Ostdeutschland. tJber 6.000 Personen bezogen mehr als 1 Mio. Euro im Jahr. Die hohen Einkommen kommen nur zum Teil aus Erwerbsarbeit. Mit adaquater „Leistung" haben sie nichts zu tun. Viele Menschen fragen sich zu Recht, was eigentUch ein Manager mit einem Jahreseinkommen von 1 Mio. Euro, was dem 37fachen des Durchschnittseinkommens entspricht, mehr leistet als ein Handwerksmeister oder eine Krankenschwester? Noch gravierender fallen die arbeitslosen Einkommen aus Vermogen ins Gewicht. Ein wichtiger Indikator ist die Relation von Lohnen und Gehaltem auf der einen und Gewinnen aus Untemehmen sowie Einkommen aus anderem Vermogen auf der anderen Seite: Von 1993 bis 2004 hat sich der Anteil der Einkommen aus Untemehmen und anderen Vermogen am Gesamteinkommen von 23,4% auf 32,3% vergrofiert, der Anteil der Lohne und Gehalter dagegen von 49,2% auf 39,8% verringert (Frankfurter Rundschau vom 25.11.2004). Wtirde man die Gehalter der Reichen herausrechnen, ware die Relation noch ungUnstiger. Reichtum entsteht vor allem aus Reichtum und nicht aus irgendeiner produktiven Leistung, es sei denn man wiirde die Spekulation an den Borsen fiir einen sinnvollen Beitrag zur Erhohung des Sozialproduktes halten. Diese sich standig reproduzierende Grundstruktur der Einkommensverteilung wirkt als Akzelerator des Auseinanderdriftens zwischen Arm und Reich. Es stimmt nicht, daB immer mehr Reichtum der Oberschicht auch die Lage der unteren Schichten verbessert, wie das etwa Meinhard Miegel unterstellt (Huster 1997: 26). Ware dem so, dann muBten sich die sozialen Unterschiede verringem und nicht vergroBem. Zumindest miiBten die unteren Schichten ein Einkommensniveau erreichen, das ihnen ein materiell sorgenfreies Leben ermoglichte. Weder die bisherige Sozialhilfe noch das Harz IV-Geld reichen dafiir aber aus. Die Politik hat die oben dargelegten Entwicklungen nur teilweise korrigiert. Im Gegenteil: Sie hat seit Mitte der 1970er Jahre im Zuge einer angebotstheoretischen Ideologic die Einkommen aus Untemehmen und anderen Vermogen systematisch entlastet, wahrend die Steuem auf Arbeit immer weiter gestiegen sind, was zu einer Umverteilung von unten nach oben gefiihrt hat. Steuem auf das Vermogen selbst fielen weg, ebenso Kapitalverkehrssteuem, und Wertsteigemngen wurden nur begrenzt belastet. Dieter EiBel weist seit vielen Jahren in Vortragen und Publikationen unermiidlich auf diesen MiBstand hin. Seine These vom „Marsch in den Lohnsteuerstaat", die er schon in den 1980er Jahren aufgestellt hat, wurde durch die Entwicklung mehr als deutlich belegt (EiBel 2003: 30ff.). Der Anteil am Steueraufkommen, den die auf das Kapital bezogenen Einnahmen ausmachten, ist von fast 40% im Jahre 1980 auf heute unter 20% gesunken. Der Anteil der Lohnsteuer betragt heute mnd 30%. Die Mehrwertsteuer und die Verbrauchsteuem, die von alien aufgebracht werden, ubersteigen 40%. Die Relationen haben sich also geradezu umgekehrt. Die Steuerreform der rot-grunen Koalition hat die Lage nur weiter verscharft. Die nicht steuerpflichtigen Einkommen, also vor allem die der Armen, haben von ihr iiberhaupt nicht profitiert, die der wenig Verdienenden wenig und die der Spitzenverdiener sehr viel. Die Regiemng nennt das in ihrem „Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht" eine „Steuerreform der sozialen Gerechtigkeit", obwohl die unteren Einkommen wenig, die hohen aber sehr viel profitieren: Ein Ehepaar mit 20.000 Euro Jahreseinkommen wurde um 1.700 Euro entlastet, wer 500.000 Euro pro Jahr einnimmt, spart dagegen satte 47.500 Euro.
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Die Schonung der Reichen sollte helfen, die lahmende Wirtschafl in Schwung zu bringen. Nichts dergleichen jedoch geschah. Ganz im Gegenteil: Die Konjunkturflaute dauerte fiinf Jahre und trug ihrerseits noch dazu bei, die Steuereinnahmen des Staates weiter sinken zu lassen und die Verschuldung der offentlichen Hande in die Hohe zu treiben. Die Steuererleichterungen fiir Einkommen und Untemehmensgewinne erwiesen sich als Flop. Dieser empirische Befund bestatigt nur das, was kritische Wirtschaftswissenschaftler und Politokonomen wie Dieter Eifiel seit langer Zeit immer wieder sagen und schreiben (u.a. EiBel 1999). Die politische Klasse ignoriert solche Befunde. Auch die GroBe Koalition bleibt auf dem eingeschlagenen neoliberalen Kurs. Es wird gar eine weitere Senkung der Untemehmenssteuem diskutiert. Die sogenannte Reichensteuer dagegen wirkt nicht einmal mehr als Alibi. Sie belastet die hohen Einkommen um lacherliche 3% und bringt dem Staat wenig ein. Man muB kein Gleichheitsfanatiker sein, um solche Unterschiede in den materiellen Bedingungen der Menschen in Deutschland als ungerecht zu empfinden. Die Soziale Marktwirtschaft produziert keine ertraglichen sozialen Verhaltnisse mehr. Das Wort „Gerechtigkeit" ist zwar wieder in aller Munde. Sogar die CDU/CSU hat es nach ihrer Wahlpleite bei den Bundestagswahlen vom 18. September 2005 neu entdeckt. Doch mehr als Rhetorik ist dies nicht. Die FDP halt ihren sozialdarwinistischen neoliberalen Kurs seit eh und je fiir die Menschheitsbegliickung schlechthin. Nur fur sich genommen ist das Wort „Gerechtigkeit" ein Wechselbalg, den sich viele zunutze machen, um bei der Bevolkerung den Eindruck zu erwecken, die „soziale Balance" doch im Blick zu behalten. Doch ohne irgendeine faktische, materielle Gleichheitsperspektive ist „Gerechtigkeit" als normatives Gestaltungsprinzip wenig zu gebrauchen. Wer die derzeitigen sozialen Unterschiede in unserer heutigen Gesellschaft als gerecht bezeichnet, miBbraucht diesen wichtigen Grundwert nur zur ideologischen Verschleierung und zur Legitimation des ungeheuren Reichtums in der Hand weniger. Gleichheit, die groBe Parole der Franzosischen Revolution, der ersten demokratischen Volksbewegung in Europa, wurde schon damals zum Popanz (Erb 1989: 13Iff.). Das geschieht auch heute noch. Als ginge es darum, alle Menschen zu uniformieren. Gleichheit wird gegen den anderen Grundwert, der viel hoher eingeschatzt wird, die Freiheit, ausgespielt, als ware mehr Gleichheit nur mit Freiheitsbeschrankungen zu haben. Dieser Logik zufolge wiirde dann mehr Ungleichheit mehr Freiheit bedeuten. Gerade materielle Armut aber bedeutet ein immenses MaB an Unfreiheit. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Herstellung der „Gleichheit der Lebenschancen" als Grundbedingung fur eine humane Welt, wie Eugen Kogon zu Recht betont (zit. n. Erb 2005: 155). Den Kritikem hielt er vor, sie verwechselten Gleichheit mit Identitat. Nicht „Gleichmacherei" sei gemeint, sondem ganz im Gegenteil „die gleiche Chance zur Differenzierung". Das ist alles andere als der totalitare Zugriff auf den Menschen, sondem eine Freiheitsperspektive. Die gleiche Verteilung der Freiheit, keine Zwangsregulierungen seien das Ziel. Allerdings buBen die wenigen Reichen Spielraum ein zugunsten der vielen, die sonst zu wenig hatten. Eine so verstandene Gleichheit steht nicht im Gegensatz zur Freiheit, sondem ist Teil von ihr. Vollige Gleichheit, etwa der materiellen Lebensbedingungen, kann es nur im Modell geben. In der Realitat ist sie nicht vorstellbar, nicht nur wegen der Leistungsunterschiede, sondem auch, weil Menschen unterschiedlich mit Geld umgehen. Insofem kann man von der „Legitimitat" einer gewissen „sozialen Distanz", wie es der „Erste Armuts- und Reich-
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tumsbericht" der Bundesregierung ausdriickt, ausgehen. So lange der Begriff aber so inhaltsleer bleibt, wie ihn die Bundesregierung belaBt, deckt er auch die heutigen Zustande ab und rechtfertigt damit die existierende Ungerechtigkeit hinsichtlich der „Lebenschancen". Nehmen wir einmal an, die hohen Einkommen wurden auf ein Maximaleinkommen beschrankt, das 300% uber dem Durchschnittseinkommen der unteren 10% liegt. Bekame eine Familie mit zwei Kindem 3.000 Euro im Monat, erhielten die oberen maximal 12.000, was ihnen ein ausgesprochen gutes Leben ermoglichen wiirde. Natiirlich haben solche Festlegungen etwas Willkiirliches. Es entstunden aber bessere Verhaltnisse als heute. Man kann die Gleichheit als produktive Utopie begreifen, als normatives Prinzip fiir politisches Handeln. Es entsprache unserer Demokratie, die prinzipiell von der Gleichwertigkeit der Menschen ausgeht und Diskriminierungen, also Ungleichbehandlungen, verbietet. Die gegenwartigen Verhaltnisse sind insofem undemokratisch. Eine Demokratie muB alles daran setzen, das zu andem. Es wird auf Dauer notwendig sein, die Reichen in diesem Lande starker zu besteuem und die Einkommen der okonomisch Schwachen und Benachteiligten aufzustocken. Das wiirde auch etwas aus der so brisanten Finanzokonomie in die Realokonomie zuriickholen, weil auf diese Weise die Konsumgiitemachfrage angekurbelt wiirde. Nur durch eine starkere Binnennachfrage lassen sich auch die offentlichen Haushalte sanieren und die Staatsinvestitionen steigem, was angesichts der Verlotterung vieler offentlicher Einrichtungen iiberfallig ist. Nicht zuletzt wird dringend mehr Personal in den Schulen, Universitaten und Pflegeeinrichtungen gebraucht. In Altenpflegeheimen existieren teilweise immer noch skandalose Zustande. Dringender denn je brauchen wir also eine Umorientierung der Politik. Von der jetzt regierenden Koalition ist freilich nichts Entscheidendes zu erwarten. Zu sehr wird sie von den Interessen der Wohlhabenden und marktradikalen Apologeten beeinfluBt und zu sehr ist sie von veralteten sozialen und okonomischen Ideologemen gebannt. Literatur Beck, Dorothee/Meine, Hartmut (1997): Wasserprediger und Weintrinker. Wie Reichtum vertuscht und Armut verdrangt wird, Gottingen. Bundesministerium fur Arbeit und Sozialordnung (2001): Lebenslagen in Deutschland. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Bonn. Bundesministerium fiir Gesundheit und Soziale Sicherung (2005): Lebenslagen in Deutschland. Zweiter Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Berlin. Deutsche Bundesbank (2000): Monatsbericht Juni 2000. Die Zeit: Ausgaben vom 22.12.2004 und 17.01.2005. EiBel, Dieter (2003): National- und Wohlfahrtsstaat: Herausforderungen und Perspektiven, Studienbrief fiir den Fachhochschulverbund der Lander, 2. Auflage, Berlin. EiBel, Dieter (1999): Politik im Zeitalter des Turbokapitalismus, in: Rakelmann, Georgia A. (Hg.): Bewegung, Festschrift fur Reimer Gronemeyer, Giefien, S. 45-71. EiBel, Dieter/Huster, Emst-Ulrich (2000): Reichtumsgrenzen fur empirische Analysen der Vermogensverteilung. Instrumente fiir den staatlichen Umgang mit grofien Vermogen, okonomische, soziologische und ethische Beurteilung groBer Vermogen, Bericht im Auftrag des Bundesministeriums fiir Arbeit und Sozialordnung, Oktober 2000, GieBen. Erb, Gottfried (2005): Eugen Kogon, der freiheitliche Sozialist, in: Grunenberg, Antonia (Hg.): Einspriiche: Politik und Sozialstaat im 20. Jahrhundert. Festschrift fiir Gerhard Kraiker, Hamburg.
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Erb, Gottfried (2002a): Verdrangte Armut, in: Freiling, Gerhard/Scharer-Pohlmann, Gtinter (Hg.): Geschichte und Kritik, Festschrift fiir Heinrich Brinkmaim, GieBen, S. 103-114. Erb, Gottfried (2002b): Destmktiver Reichtum, in: Neue Gesellschaft - Frankfrirter Hefte, Jg. 49, Nr. 5 (Mai), S. 289-293. Erb, Gottfried (1989): Das Prinzip Gleichheit in der Franzosischen Revolution, in: Berding, Helmut/Oesterle, Gtinter (Hg.): Die Franzosische Revolution, GieBen, S. 131-154. Frank, Thomas (2001): Das falsche Versprechen der New Economy. Wider die neoliberale Schonfarberei, Frankfiirt am Main/New York. Frankfrirter Rundschau: Ausgaben vom 19.05.2004, 25.11.2004, 13.01.2006 sowie Magazin vom 04.02.2006. Huffschmid, Jorg (1999): Politische Okonomie der Finanzmarkte, Hamburg. Huster, Emst-Ulrich (1997): Enttabuisierung der sozialen Distanz: Reichtum in Deutschland, in: Huster, Emst-Ulrich (Hg.): Reichtum in Deutschland. Die Gewinner in der sozialen Polarisierung, 2. Auflage, Frankfiirt/New York, S. 7-31. Manager-Magazin (2005): Die 300 reichsten Deutschen, Hamburg (Oktober). Ver.di Bundesvorstand (2005): Wirtschaftspolitische Infr)rmationen; 8/2005 (Hedge- und EquityFonds); 2/2005 (Armuts- und Reichtumsbericht); 10/2005 (Aggressive Interessenpolitik fiir Untemehmer). Wenzel, Harald (2003): Traumschlosser. tjber den Luxuskonsum der Superreichen, in: Fluck, Winfried/Welf, Werner (Hg.): Wie viel Ungleichheit vertragt die Demokratie? Armut und Reichtum in den USA, Frankfrirt am Main/New York, S. 225-265.
98
Berthold Dietz / Carmen Ludwig
Armut in Deutschland
1
Armut in einem reichen Land
Die Bundesrepublik Deutschland gilt als ein im intemationalen VergleichsmaBstab relativ wohlhabendes und zugleich wenig ungleiches Land. Dies ist eine wichtige Feststellung, denn sie hilft uns, einen Kardinalfehler in der offentlichen Diskussion um Armut in der Bundesrepublik zu vermeiden, namlich Armut hierzulande gleichzusetzen mit der Armut in anderen Staaten. Zweifelsfrei ist ein universaler Armutsbegriff wenig hilfreich, wenn man ihn nicht mindestens in Beziehung setzt zum jeweils dazugehorenden Entwicklungsgrad Oder der Wirtschaftskrafl eines Landes. Und doch: Ohne das Elend von Millionen von Menschen in anderen Erdteilen in irgendeiner Weise „vergleichen" oder gar herunterreden zu wollen - auch in unserem reichen Land kommen Jahr fur Jahr Menschen kaum iiber den Winter, weil sie keine feste Unterkunft haben. Die Jahresgesamtzahl der Wohnungslosen in Deutschland belief sich 2002 auf geschatzte 410.000 Menschen (BMGSS 2005a: 167). Trotz der Schwierigkeiten bei der Vergleichbarkeit von Armut hat sich als feste GroBe komparativer Bewertungen in der Literatur der Vergleich nationaler Einkommensverteilung in Gestalt des Gini-Koeffizienten^ etabliert, der das MaB der Abweichung der realen Einkommensverteilung in einer Gesellschaft (die sogenannte Lorenz-Kurve) von einer theoretisch perfekten Einkommensverteilung (d.h. Gleichverteilung; alle haben ein gleiches Einkommen) wiedergibt. Zur Lesbarkeit der folgenden Wertetabelle: Je mehr sich der GiniKoeffizient dabei 1 nahert, desto ungleicher ist die Einkommensverteilung im jeweiligen Land. Tabelle 1: Einkommensverteilung ausgewahlter Lander, gelistet nach dem GiniKoeffizienten Gini-Koeffizient
diereichsten 10%geteilt durch die armsten 10%
die reiciisten 20% geteilt durch die armsten 20%
Ungarn
0,244
8,9
4,9
2
Danemark
0,247
9,1
4,3
3
Japan
0,249
4,5
3,4
4
Schweden
0,25
6,2
4,0
5
Belgien
0,25
7,8
4,5
6
Tschechien
0,254
5,2
3,5
Rang
Land
1
Benannt nach dem italienischen Statistiker Corrado Gini; vgl. fur eine ausfiihrlichere Diskussion Becker/Hauser 2003.
99
Gini-Koeffizient
dje reichsten 10% geteilt durch die armsten 10%
die reichsten 20% geteilt durch die armsten 20%
Norwegen
0,258
6,1
3,9
8
Slowakei
0.258
6,7
4,0
9
BosnienHerzegovina
0,262
5,4
3,8
10
Usbekistan
0,268
6,1
4.0
14
Deutschland
0,283
6,9
4.3
38
Schweiz
0,331
9,9
5.8
51
Italien
0,36
11,6
6,5
52
Groflbritannien
0,36
13.8
7.2
76
USA
0,408
15.9
8.4
Rang
Land
7
Anmerkung: Die zugrunde liegenden Einkommensdaten stammen aus unterschiedlichen Jahren. Quelle: United Nations Development Programme Report 2004: 50-53. Aber reicht die Verengung auf die Einkommensverteilung? Das Verteilungspostulat spielte schon bei Aristoteles unter Gerechtigkeitsaspekten eine zentrale Rolle. Es kann zusammengefaBt werden auf den Ausgleich um ein „Mittelmal3" herum, das ein „mehr als" genauso zum Problem werden laBt wie ein „weniger als". Geld, also Erwerbseinkommen und Vermogen, ist sicherlich die herausragende GroBe in unserer Gesellschaft, nicht zuletzt weil wir uber Geld die BeeinfluBbarkeit unseres Lebens definieren. Das Schicksalhafte in unserer Existenz zu bewaltigen, dem wir uns in vielen Lebenslagen unabhangig von unserem sozialen Status beugen miissen (Krankheit, Unfall, Pflegebediirftigkeit), das „Unbestimmbare" in etwas Bestimmbares zu transformieren, diese Funktion hat in unserer heutigen Gesellschaft oftmals das Geld ubemommen. Geld ist Macht, wie auch die Sinnerweiterung von „Vermogen" auf das „Konnen" verweist, und so wie „arm sein" auf den Mangel, auf das „Unverm6gen" verweist. Aber nicht nur im Sinne eines „Lebensziels" wirkt die Trennlinie zwischen Vermogen und Nichtvermogen: Fiir nicht wenige ist Geld Allmacht, iiber die Grenzen dessen hinaus, die die Aufklarung und die Grundregeln von Demokratie uns setzt, namlich daB Geld auch politische Ziele verwirklichen hilft, wahrend der, der kein Geld hat, nicht nur einfach arm ist, sondem auch „unbeteiligt" zuschauen muB. Es ware uns mithin auch nicht geholfen, wenn wir mittels Einkommensverteilung erreichen konnten, Armut als untersten Rand zu beseitigen. Wir verschoben lediglich die Grenzen zwischen dem, was das gesellschaftliche „MittelmaB" und was das dariiber und darunter liegende ausmacht. Zur Suche nach einem geeigneten Armutskonzept gehort es also in erster Linie, ein Grundverstandnis dariiber herzustellen, welche Benachteiligungsfaktoren als relevant
100
eingeschatzt werden konnen. Konsumstile sind hierbei weniger geeignet als klassische Ungleichheitsindikatoren wie Einkommen, Bildung, Arbeit und anderes mehr. 2
Armut, soziale Gerechtigkeit und Verwirklichungschancen
Armut steht in einem mehrfachen Zusammenhang mit sozialer Gerechtigkeit. Einerseits ist sie gewissermaBen die Zuspitzung von Ungerechtigkeit. Andererseits ist sie konzeptionell ein Gradmesser, in welcher Weise soziale Gerechtigkeit in einer Gesellschaft verwirklicht ist. Damit sind wir auch schon mitten im Problem. Ober die Definition und die Messung von Armut herrscht Uneinigkeit. ZweckmaBig erscheint eine Orientierung am verfugbaren Einkommen, da die relative Einkommensverteilung in der Gesellschaft hinreichend gut erfaBt ist und die Orientierung an einem gesellschaftlichen Durchschnittseinkommen eine Schwellenwertbildung erlaubt. Konzepte, die Bezug nehmen auf das Unterschreiten eines Aquivalenzeinkommens, gehen so vor. Hierbei werden 40%-, 50%- und 60%)-Schwellen der auf ein Durchschnittsnettoeinkommen bezogenen Einkommen als Armutsgrenzen angesehen. Wer weniger als 60%) des Aquivalenzeinkommens hat, gilt als prekar oder gefahrdet, wer 50%) und weniger hat, gilt als relativ arm und wer 40%) und weniger hat, gilt als streng arm. Aber Armut steht noch in einem dritten Zusammenhang mit sozialer Gerechtigkeit: dem relationalen Wesen des Gerechtigkeitsbegriffs. Gerechtigkeit kann - im aristotelischen Sinne - verstanden werden als Verteilungsgerechtigkeit, Dieser Begriff gehorte in der Griindungszeit der Bundesrepublik zweifelsohne zu einer gesellschaftlichen Schlusselkategorie, die zu einer Ausdifferenzierung sozialstaatlicher Anrechte abhangig von Bedarfen und (wahl-)politischem Gewicht der betroffenen Gruppen fiihrte, aber keinen stabilen gesellschaftlichen Konsens iiber soziale Gerechtigkeit herstellen half. Der Grund dafiir ist einfach: Verteilungsgerechtigkeit kann ohne Gleichheit nicht gedacht werden. Ungleichheit, gemessen etwa an steigenden Kapitalgewinnen und gleichzeitig immer weiter sinkenden Ertragen aus abhangiger Erwerbsarbeit (Massenarbeitslosigkeit und Reallohnverlust), wird zu Recht als Gerechtigkeitsproblem in unserer Gesellschaft diagnostiziert. Gleichheit in alien Lebensbereichen herzustellen, ist aber eine kaum erflillbare Pramisse (mit Ausnahme freilich der Verpflichtung zur Herstellung politischer und geschlechterbezogener Gleichheit), vor allem nicht in kapitalistischen, hochkomplexen Gesellschaften. Selbst die dem Gleichheitspostulat sehr viel starker verpflichteten Wohlfahrtstaatsmodelle der skandinavischen Lander (Esping-Andersen 1990) sind nicht wesentlich gleicher als die konservativen, starker am Leistungspostulat orientierten Modelle, wie beispielsweise der Bundesrepublik. Und: Wie konnen wir in der Gesellschaft einen Konsens iiber das MaB an Gerechtigkeit haben, wenn wir noch nicht einmal einen breit akzeptierten Gleichheitsbegriff entwickelt haben? Deuteten wir Armut unter diesem Distributionsaspekt von Gerechtigkeit (und Gleichheit), so ware Armut eine Situation, in die Menschen geraten aufgrund zu geringer oder nicht entsprechend ihrer Anrechte voUstandig erschlieBbarer Umverteilungsmittel in einem sozialen Staat. Verstehen wir Gerechtigkeit hingegen als Bedarfsgerechtigkeit, so haben wir es mit einer deskriptiven GroBe zu tun, die die Zugange zu Ressourcen, Giitem, menschlichen Wohn- und Lebensumfeldbedingungen, Teilhabe- und Lebenschancen anspricht. Betrachten wir Menschen in der schutzbediirftigsten Lebensphase: Kinder sind vielfach benachtei-
101
ligt, well ihre Eltem okonomisch nicht hinreichend fur ihre Erziehungsleistung entlohnt werden. Damit korrespondiert, daB Kinder in Deutschland ein Armutsrisiko sind: Insbesondere AUeinerziehende und Familien mit drei und mehr Kindem sind besonders haufig von Armut betroffen. Die Grundproblematik der Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird gerade hierzulande sozialstaatlich schlechter ausgeglichen als anderswo. Kinder groBzuziehen kostet Geld^ - Geld, das schwieriger zu verdienen ist, wenn man mehr Kinder hat. Wie ist hier Bedarfsgerechtigkeit herzustellen? Indem man den symbolischen Beitrag direkter Transfers (Kindergeid, Eltemgeld) vervielfacht? Indem man etwa Kinderlose starker belastet (steuerlich, mittels Sozialbeitragen) als Eltem? Wiirden etwa Kinderlose, die den Kinderwunsch haben, ihn aber (noch) nicht verwirklichen konnen, das nicht als ungerecht empfmden? Viele sind sich einig, daB der Staat (und die Gesellschaft) Kindererziehende nicht nur nicht belohnt, sondem sogar mit einer Reihe von Benachteiligungen alleine laBt. Kann es denn sein, daB der Staat Ungerechtigkeiten sehenden Auges nicht beseitigen will? Gibt es etwa den „hartherzigen Sozialstaat"? Oder hat dieser „nur" Angst vor der Verlagerung des Ungerechtigkeitsempfmdens von einer gesellschaftlichen Gruppe zur anderen? Deuteten wir Armut unter diesem Bedarfsaspekt von Gerechtigkeit, wiirde nicht nur der soziale Rechtsstaat als Adressat wegfallen, sondem mit der Freiheit geriete der umfassende Komplex von Wirtschaft und Gesellschaft in den Fokus, weil hier die Freiheit einer autonomen Lebensgestaltung in ihrer Vielgestaltigkeit angesprochen ist (kinderlos oder mit Kindem, stadtisch oder im Grtinen, aufstiegsorientiert oder in Selbstverwirklichung ohne heteronome Arbeit) - und damit deren staatliche und gesellschaftliche Voraussetzungen. Die sich politisch haufende Verwendung des Begriffs Chancengerechtigkeit unterstellt hingegen implizit, daB es lediglich um die Nutzung bereitgestellter Ressourcen und Moglichkeiten gehe, wobei die Gleichheits-ZGerechtigkeitsfrage in anderen Aspekten ausgeblendet wird. Unterstellt wird weiterhin eine relative Gleichheit der Menschen, diese Chancen zu nutzen. Deuteten wir Armut unter diesem Aspekt, so kommen wir nicht umhin zu fragen, ob sich diese Chancennutzungsgleichheit nur theoretisch unterstellen laBt und ob Chancengerechtigkeit aufgmnd systematisch vorenthaltener Moglichkeiten uberhaupt existiert. Die empirische Reduktion auf Einkommen ist folglich eine Verengung, die den allermeisten Armutskonzepten nicht gerecht wird. Armut ist ein multidimensionales Phanomen, das mindestens mit materiellen und nichtmateriellen Verftigbarkeiten und Zugangen (Teilhabe) operieren muB. Fiir den indischen Okonomen und Nobelpreistrager Amartya Sen ist die Moglichkeit zu selbstbestimmtem Handeln das zentrale Mittel zur Beseitigung von Armut und ftir die Herstellung sozialer Gerechtigkeit (Sen 2002).^ Die selbstbestimmte Wahl, zu der die Individuen befahigt werden sollen, ist fur Sens Gerechtigkeitsbegriff von elementarer Bedeutung. Deshalb steht in seinem Ansatz die Beschaftigung mit den wirklichen Chancen, die ein Individuum hat, um die von ihm gewahlten Zwecke zu verfolgen, im Vordergmnd: Er stellt folglich „die freiheitlichen Moglichkeiten, ein mit Griinden schatzenswertes Leben zu wahlen" in das Zentmm seiner Uberlegungen (Sen 2002: 94). Es reicht folglich nicht aus, im Sinne der Bedarfsgerechtigkeit lediglich auf die Versorgung mit Gmndgiitem abzuzielen. Vielmehr miissen auch personliche Charakteristika 2
Nach verschiedenen Berechnungen „verursacht" ein Kind je nach Quelle und Berechnungsweise von der Geburt bis zur Volljahrigkeit finanzielle Mehrbelastungen fur die Eltem in Hohe von 200.000 Euro bis 300.000 Euro. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Peter Henkenborg in diesem Band.
102
des Individuums berticksichtigt werden, da davon abhangig sein kann, ob die Grundgiiter genutzt werden konnen, die eigenen Zwecke zu verfolgen. So kann zum Beispiel ein alterer Oder kranklicher Mensch trotz eines groBeren Korbes an Grundgiitem eine geringere Chance haben, ein normales Leben zu fiihren als ein jiingerer und gesunder Mensch mit einem kleineren Korb an Grundgiitem. Sen unterscheidet zwischen Functionings und Capabilities: Funktionen {Functionings) geben die verschiedenen Dinge wieder, die eine Person gem tun oder die sie gem sein mag {beings and doings), Sie beziehen sich folghch auf die Lebensgestaltung. Zu den erstrebenswerten Functionings konnen elementare Gegebenheiten wie ausreichende Emahmng oder Freiheit von vermeidbaren Krankheiten, aber auch sehr komplexe Zustande wie etwa Teilnahme am Gemeinschaftsleben und Besitz von Selbstachtung zahlen. Verwirklichungschancen {Capabilities) stellen dagegen die tatsachUche Freiheit eines Menschen dar, bestimmte Functionings auch erreichen zu konnen. „Wahrend die Kombination der Funktionen einer Person ihre tatsachlichen Leistungen spiegelt, reprasentiert die Menge der Verwirklichungschancen die Freiheit, etwas zu verwirkHchen: die altemativen Funktionskombinationen, zwischen denen eine Person wahlen kann." (Sen 2002: 96) Politische Freiheiten, okonomische Vorteile, soziale Chancen, Garantien fur Transparenz und soziale Sicherheit sind der institutionelle Kem zur Entwicklung der Capabilities. Erst diese eroffnen dem Individuum selbstbestimmte Lebenschancen. Das Wohlergehen einer Person hangt in erster Linie von den Verwirklichungschancen ab, da der Freiheit zu wahlen ein eigener Wert zukommt und zwei Menschen ihr Leben, trotz gleicher Verwirklichungschancen, je nach Lebensentwiirfen und Praferenzen unterschiedlich gestalten werden. Der Capability-Ansatz von Sen mochte die unterschiedlichen Lebensplane der Menschen respektieren und den Menschen in ihrer individuellen Komplexitat gerecht werden: „Wenn wir die uns bedrangenden Probleme losen wollen, miissen wir in der Freiheit des einzelnen ein soziales Gebot sehen" (Sen 2002: 10). Sen pladiert dafur, eine Perspektivverschiebung vorzunehmen und den Blick von der ausschlieBlichen Konzentration auf ein geringes Einkommen fur die weiter gefaBte Idee eines Mangels an Verwirklichungschancen zu offnen: „Was der Gedanke der Verwirklichungschancen fiir die Armutsanalyse leistet, ist ein tieferes Verstandnis der Natur und der Ursachen von Armut, indem er nicht die Mittel in das Zentrum der Aufmerksamkeit riickt - vor allem ein besonderes Mittel nicht, das normalerweise ausschlieBlich betrachtet wird: das Einkommen -, sondem die Zwecke, die zu verfolgen Menschen Grunde haben, und damit auch die Freiheiten, die es ihnen ermoglichen, ihre Ziele zu erreichen." (Sen 2002: 113) Folglich gelten die Individuen in seinem Ansatz „nicht als passive Empfanger ausgeteilter Wohltaten, sondem als aktive, Verandemngen bewirkende Subjekte" (Sen 2002: 11), als „Agenten" ihrer Interessen. Fiir die Sichtweise von Armut als Mangel an Verwirklichungschancen spricht, daB zum einen Armut noch von anderen Faktoren als niedrigem Einkommen beeinfluBt wird und zum anderen die Beziehung zwischen niedrigem Einkommen und geringen Verwirklichungschancen variabel ist, d.h. je nach Gesellschaft unterschiedlich ausfallen kann. Zudem kann es zu „Kopplungen" von Nachteilen kommen zwischen (1) dem Mangel an Einkom-
103
men und (2) Hindemissen bei der Umwandlung des Einkommens in Funktionen. So wird die Beziehung zwischen Einkommen und Verwirklichungschancen zum Beispiel vom Alter Oder der sozialen Rolle der Person beeinfluBt, da unterschiedliche Bediirfnisse zum Tragen kommen konnen. Handicaps wie Alter oder Krankheit verringem nicht nur die Moglichkeiten ein Einkommen zu erwerben, sondem sie erschweren auch die Umwandlung von Einkommen in Verwirklichungschancen, da z.B. ein groBeres Einkommen benotigt wird, um dieselben Funktionen zu erreichen: „Dies kann von entscheidender Bedeutung sein, wenn wir offentliche MaBnahmen zur Unterstutzung von Alteren und anderen Gruppen einzuschatzen haben, die nicht allein iiber ein niedriges Einkommen verfugen, sondem zusatzlich unter Umwandlungsproblemen leiden" (Sen 2002: 111). Welche Verwirklichungschancen und Functionings als relevant angesehen werden, ist nach Sens Konzeption von den Untersuchungsvoraussetzungen und letztlich - wie andere Armutsdefmitionen auch - von Werturteilen abhangig. Deshalb sollten Auswahl und Gewichtung von Verwirklichungschancen und Functionings unter moglichst breiter Beteiligung der Betroffenen erfolgen. 3
Armut als strukturelle Benachteiligung anhand ausgewahlter Benachteiligungskategorien
Als pragend fiir die Konzeptionalisierung von Armut haben sich nach ressourcen- oder subsistenztheoretischen Konzepten und Kaufkraftkonzepten mittlerweile lebenslagen- und lebensphasenbezogene Armutskonzepte durchgesetzt. Auch dem Ansatz von Sen kommt wenngleich noch immer Schwierigkeiten hinsichtlich der Operationalisierbarkeit bestehen in der Armuts- und Reichtumsforschung eine immer groBere Bedeutung zu (Volkert 2005). Hinzu kommt, daB er dem Lebenslagenansatz nicht unahnlich ist. So fmdet sich im zweiten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung eine konzeptionelle Weiterentwicklung: „Ausgehend von den relevanten Lebenslagen stutzt sich diese breite Konzeption im Bericht auf Amartya Sens Konzept der Verwirklichungschancen. (...) Da das Konzept der Verwirklichungschancen auch zahlreiche Ubereinstimmungen mit dem Lebenslagenansatz aufweist, der bislang der Armuts- und Reichtumsberichterstattung zugrunde lag, lassen sich beide konzeptionellen Ansatze sehr weitgehend miteinander vereinbaren." (BMGSS 2005: XVI) Theoretisch erfassen Lebenslagenkonzepte einen moglichst breiten Katalog von Unterversorgungslagen, deren Kumulation Armut kennzeichnet. Empirisch hingegen ergeben sich Operationalisierungsprobleme, weil mit relativen Konzepten automatisch die Abgrenzung von dem, was gesellschaftliche „Normalitat" („MittelmaB") sein konnte, problematisch wird. Um ein umfassendes Bild von Armut erfassen zu konnen, muB ein anspruchvolles Indikatorensetting erstellt werden. Je groBer dieses ist, desto groBer ist jedoch auch die Gefahr, daB jede/r irgendwie und irgendwo weniger „hat" als die meisten anderen. Aber muB dies auch ein Armutsgeftihl erzeugen? Im Zentrum stehen aber weiterhin Bereiche, die teilweise schon zu Zeiten klassischer Ungleichheitsforschung zu den relevanten und bestens erforschten Indikatoren zahlten, wie zum Beispiel Arbeit, Bildung, Wohnen und Gesundheit. In jiingerer Zeit sind weitere Indikatoren in den Fokus getreten, wie etwa politische Teilhabe, soziale Partizipation und Regeneration. 104
Fragen wir nach dem Gerechtigkeitsaspekt, so spitzt sich diese Frage zwangslaufig zu auf die Identifikation von strukturellen Benachteiligungen, die Menschen den Zugang zu „Spielraumen" in der Ausgestaltung ihres Lebens und der Befriedigung von Bediirfnissen und Interessen (Weisser 1956) verwehren. Sen ist mit seinem Begriff der Verwirklichungschancen somit erstaunlich nahe bei Weissers „Spielraumen". In einer etwas neueren Begrifflichkeit wird dazu geme in der jiingeren Literatur der Ausgrenzungs- oder Exklusionsbegriff verwendet (Bohnke 2002; Kronauer 2002). 3.1 Armut und Bildungsbenachteiligung Als zentrale Kategorien schalen sich immer mehr Bildung und Bildungschancen heraus."* Vorenthaltene Bildungszugange haben eine grundlegend andere Bedeutung als nicht genutzte Bildungszugange. Wir stehen dabei empirisch in der Bundesrepublik vor dem dramatischen Befiind einer alle Lebensphasen durchziehenden Bildungsbenachteiligung. Im Vorschulbereich zeigte etwa eine AWO-Studie (Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt 2000), dafi Kinder aus „armen" Haushalten wesentlich seltener einen Kindergarten besuchen. Wenn wir den elementarpadagogischen Bereich emst nehmen und aufwerten wollen, dann miiBten wir uns fragen, wieso Kinder einkommensschwacher Eltem schon Schwierigkeiten haben, eine Bildungs- und Lemkarriere iiberhaupt erst zu starten. Im Schulbereich haben eine ganze Reihe bekannter Studien, wie die Hamburger LAUStudie (Lehmann/Peek/GansefuB 1999), IGLU (Bos/Lankes et al. 2003), zuletzt PISA 2003 (Prenzel/Baumert et al. 2005) nachgewiesen, daB der schulische Erfolg von Kindem in hohem MaBe von der sozialen Herkunft abhangt; in den Worten Armatya Sens: Den Capabilties muBte gegeniiber den Functionings groBere Aufmerksamkeit geschenkt werden. So ist nach den Ergebnissen der IGLU-Studie selbst bei gleichen kognitiven Grundfahigkeiten und der Lesekompetenz fur Kinder aus oberen Schichten eine 2,63fach groBere Chance nachzuweisen, eine Gymnasialempfehlung zu erhalten als fflr ein Kind aus einem Haushalt aus unteren Schichten. Nach PISA betragt die relative Wahrscheinlichkeit des Gymnasialbesuchs ftir ein Akademikerkind 6,9 zu 1 im Vergleich zu einem Facharbeiterkind, und bei gleicher individueller Lese- und Mathematikkompetenz betragt sie immer noch 4 zu 1. Dieser Bildungstrichter verengt sich im weiteren Bildungsverlauf zusehends. Die Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes weist eindeutige Unterschiede im Bildungsverlauf abhangig von der sozialen Herkunft nach (Isserstedt/Middendorff et al. 2004). Von 100 Kindem der hochsten Herkunftsgruppe besuchen ca. 80% die gymnasiale Oberstufe und von diesen beginnen dann wiederum ca. 90% ein Studium. Von 100 Kindem der niedrigsten sozialen Herkunftsgmppe erreichen nur mnd 33% die gymnasiale Oberstufe und von diesen nimmt dann wiedemm nur mnd ein Viertel ein Studium auf. Die Herkunftsfrage setzt sich in der Hochschulausbildung fort. Studierende mit niedriger sozialer Herkunft brechen haufiger ihr Studium ab, brauchen bis zu einem AbschluB iiberdurchschnittlich lange, lassen sich in der Wahl der Facher und der Studienorte weniger von Prestige und spateren bemflichen Einkommensaussichten leiten und promovieren seltener. Die Bildungsmisere setzt sich bis ins hohe Alter fort. Im europaischen Vergleich ist die Bildungs-
4
Vgl. auch den Beitrag von Bemd Kafiebaum in diesem Band.
105
beteiligung im Alter in Deutschland von den Entwicklungen in anderen EU-Staaten abgehangt (vgl. Bullmann/Loheide in diesem Band). Bildung gilt als sogenannte Schliisselkategorie, das heiBt es geht nicht nur um die Bildungsbenachteiligung als solche, sondem auch (vielleicht vor allem) um die Frage, welche Benachteiligungen durch Bildungsbenachteiligungen in der Folge ausgelost werden. Mangelnde Bildungschancen fuhren mit einer gewissen „Zielstrebigkeit" zu anderen Benachteiligungen, so etwa im Zugang zu Erwerbsarbeit. Traut man hoheren Bildungsabschlussen tendenziell bessere Zugangsvoraussetzungen zum Arbeitsmarkt zu, dann stellt sich die Frage nach der Finanzierung unseres Bildungssystems und nach der Differenzierung von Bildungsabschlussen. Wahrend die Bundesrepublik versucht, mit einem Anteil von 19,2% eines Altersjahrganges, die ein Hochschulstudium absolvieren, auszukommen, hat die Ausbildungsquote im Tertiarbereich in Finnland (45,4%), GroBbritannien (35,9%)), Schweden (34,7%o) und Frankreich (24,8%)) eine voUig andere Grofienordnung (Zahlen jeweils fur 2002; OECD 2004). Deutschland liegt damit deutlich unter dem OECD-Durchschnitt von rund 32%o eines Altersjahrganges. Es gehort zu den Grundwahrheiten, daB eine hohere Quantitat zu einer Dequalifizierung bestimmter Abschliisse fuhren kann (was aber als Gefahr durch mehr Investitionen in die Systeme minimiert werden kann). Aber mehr Zugangschancen lassen sich nicht verwirklichen, indem man einer Mehrheit den Zugang zu Berufen und damit Einkommen und Verwirklichungschancen verwehrt, die sich in erster Linie aus akademisch Qualifizierten rekrutieren. Der Armuts- und Reichtumsbericht hat festgestellt, daB „(...) sich hohere Schichten in starkem MaBe aus Mitgliedem rekrutieren, die von ihrer sozialen Herkunft her diesen Schichten entstammen, wahrend soziale Aufstiegsprozesse (vertikale Mobilitat) nur in eingeschranktem Umfang zu beobachten sind" (BMGSS 2005: 190f.). Bei der Reproduktion sozialer Ungleichheit spielen neben dem materiellen Vermogen auch kulturelles oder soziales Kapital^ im Eltemhaus eine entscheidende RoUe ftir den Bildungserfolg und die Lebenschancen der Kinder. Statt Chancengleichheit anzustreben und soziale Aufstiege zu ermoglichen, tragt das deutsche Bildungssystem strukturell zur Aufrechterhaltung dieser Schranken bei. 3.2 Armut und Benachteiligung am Arbeitsmarkt „Wir ,produzieren' am Arbeitsmarkt vorbei." Diese Klage von Vertretem der Wirtschaft entbehrt nicht einer gewissen Stimmigkeit, aber laBt die Griinde ftir das strukturelle Problem am Arbeitsmarkt mehr im Unklaren, als daB es sie aufdeckt. Selbstverstandlich kommen viele mit ihren Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt nicht an oder nicht dort an, wo sie vielleicht hinwoUen. Aber daB „wir vorbeiproduzieren", hat andere Griinde. Qualifikationen und Konnen veralten auf dem heutigen Arbeitsmarkt so schnell wie nie zuvor. Es gibt Menschen, die nicht Schritt halten konnen oder denen keine Gelegenheit dazu gegeben wird. Wir bieten Menschen nicht in hinreichendem MaBe ihren Benachteiligungen und In der Konzeption Bourdieus werden als die drei Ressourcen, die Menschen zur Sicherung ihres sozialen Status benotigen, okonomisches, kulturelles und soziales Kapital benannt. Das kulturelle Kapital umfaBt unter anderem das erworbene Bildungskapital in Form von Zertifikaten, das soziale Kapital bezeichnet all jene Ressourcen, die aus einem Netz dauerhafter Beziehungen und gegenseitigen Kennens resultieren. Diese Beziehungen konnen soziale Vorteile verschaffen (Bourdieu 1983: 185ff.).
106
Einschrankungen entsprechende Integrationshilfen an, die sie im Rahmen ihrer Leistungsfahigkeit wieder eingliedem. Strukturell benachteiligt sind am Arbeitsmarkt: Menschen ohne Ausbildung, Menschen mit gesundheitlichen Einschrankungen und iiber 55jahrige. Besonders deutlich wird dies, wenn man sich die Kumulation dieser Merkmale ansieht: Tabelle 2: Benachteiligung am deutschen Arbeitsmarkt 2004 (i.e.S. Langzeitarbeitslose = Dauer der Arbeitslosigkeit langer als 12 Monate, Uberschneidungenberiicksichtigend) Arbeitslosengruppen
Anteil an Arbeitslosen in%
darunter Langzeitarbeitslose in%
ohne Ausbildung
23,6
36,1
mit gesundheitlichen Einschrankungen
12,1
48,0
55 Jahre und alter
4,8 7,0
55,5
mit gesundheitlichen Einschrankungen + 55 und alter
2,7
59,0
ohne Ausbildung + 55 und alter
2,0 1,6
66,7
46,1
34,0
ohne Ausbildung + mit gesundheitlichen Einschrankungen
ohne Ausbildung + mit gesundheitlichen Einschrankungen + 55 und alter nachrichtlich: ohne diese Merkmale
53,3
60,7
Quelle: lAB-Zahlenfibel; http://www.sozialpolitik-aktuell.de/datensammlung/4/tab/tabIV25.pdf; Hit 06-05-09. Je mehr sich also in einer dieser ausgewahlten Personengruppen bestimmte Benachteiligungsfaktoren summieren, desto langer ist die Dauer der Arbeitslosigkeit. Damit sinkt mutmafilich auch die Chance auf einen Arbeitsplatz. Darin kommt alien Qualifikationsbemiihungen zum Trotz cine Gemengelage von Ursachen zum Ausdruck: Das sogenannte Qualifikationskarussel dreht sich immer schneller, auf der Strecke bleiben diejenigen, die ohne jegliche Vorqualifikation auf dem ersten Arbeitsmarkt FuB fassen wollen. Gefragt sind Mehrfachqualifizierte mit entsprechend beruflicher Erfahrung und den Voraussetzungen zur beruflichen Weiterbildung. Auch Menschen mit gesundheitlichen Einschrankungen sind offensichtlich auf einem leistungsfixierten Arbeitsmarkt uberproportional benachteiligt, ungeachtet der Frage, ob gesundheitliche Einschrankungen in bestimmten Tatigkeiten nicht gegeniiber einer beruflichen Vorerfahrung verblassen. Und schlieBlich sind offensichtlich altere Arbeitnehmer besonders stark benachteiligt, alien gegenteiligen Beschworungen zum Trotz, die die untemehmerische Bedeutung beruflicher Erfahrung betonen. Nach der umfassenden FrUhverrentung werden viele Untemehmen mit kostspieligen demographischen Modellen zuruckrudem miissen, denn: Wer ersetzt in Untemehmen ab dem Jahr 2030 die Leistungstrager, wenn die durch die FrUhverrentung verflachten Altersgruppen der Mitarbeiterschaft kollektiv in Rente gehen? Seit einigen Jahren wird auch verstarkt auf das Problem von Armut trotz Erwerbstatigkeit aufmerksam gemacht. Insbesondere in Arbeiterhaushalten steigt die Zahl der ,,wor107
king poor'\ die trotz Berufstatigkeit von relativer Einkommensarmut betroffen sind (Hauser/Becker 2001: 159). „Die Halfte der Armen in Deutschland lebt in einem Erwerbstatigenhaushalt, ein Viertel aller Armen ist erwerbstatig, die meisten in Vollzeit" (StrengmannKuhn 2003: 235). Bisher handelt es sich hierbei noch um ein Problem, bei welchem es sich zu einem nennenswerten Teil um prekare Arbeitsverhaltnisse dreht. Etwa 30% der armen Erwerbstatigen arbeiten in prekaren Beschaftigungsverhaltnissen (Strengmann-Kuhn 2003: 70). Durch den Ausbau des Niedriglohnsektors steht zu befurchten, dafi der Anteil der armen Erwerbstatigen tendenziell steigen wird. 3.3 Gesundheit „Wenn Du arm bist, mul3t Du fruher sterben." Dieser beunruhigende Satz entstammt aus den achtziger Jahren (Oppolzer 1986) und ist bis heute empirisch umstritten. Er beinhaltet neben der wissenschaftlichen zudem eine besondere moralische Aufladung, weil es in der Gesellschaft mehrheitlich sozusagen der „Gipfel" der Benachteiligung ist, wenn ein alle gleichermaBen bedrohendes Lebensrisiko (Krankheit) „ungleich" verteilt ist und zudem durch Vorsorge oder Heilung noch „ungleicher" gemacht wird. DaB es dabei einen engen Zusammenhang zwischen dem Einkommen und der maximalen Lebenserwartung gibt, wird nicht mehr emsthaft bestritten. Die (akademische) Frage ist „lediglich" eine der Bewertung, ob die maximale Lebenserwartung ein verlaBlicher Indikator ist. Die Verfasser dieses Beitrages gehen davon jedoch aus. Tabelle 3: Einkommen und Rentenbezugsdauer in Deutschland * Rentenbezugsdauer (nur Manner in Jahren)
Differenz zur hochsten Einkommensgruppe (Jahre)
Differenz zur hochsten Einkommensgruppe (in %)
<1500
10,8
-7,4
-69%
1500-2500
13,8
-4,4
-32%
2500-3500
15,0
-3,2
-21%
3500-4500
16,3
-1,9
-12%
>4500
18,2
0
0%
Monatliches Bruttoeinkommen in Euro
* Datenbasis: Soziookonomisches Panel (SOEP) des DIW fiir die monatlichen Bruttoeinkommen 2000 bis 2003 und fur die Sterbefalle der Jahre 2001 bis 2004. Quelle: Institut fiir Gesundheitsokonomie und Klinische Epidemiologic der Universitat zu Koln; http://www.igke.de/SGMG; Hit: 06-05-15. Nach den Daten der Tabelle 3 haben einkommensstarke Manner eine um 69% hohere Rentenbezugsdauer als Manner der einkommensschwachsten Gruppe. Diesem Befiind entspricht eine jiingere Auswertung der Daten der Deutschen Rentenversicherung bezogen auf die Lebenserwartung und die Renten-Entgeltpunkte (als Indikator fur die der Rentenbezugshohe zugrunde liegenden Einkommen) der Autoren von Gaudecker und Scholz des „Max-Planck-Instituts fur Demographische Forschung", wenn auch mit deutlich abgeschwachter Tendenz (von Gaudecker/Scholz 2006). Nun sollte man sich davor hiiten, die statistisch-durchschnittliche Lebenserwartung zum alleinigen BewertungsmaBstab zu machen. Aber gewisse Krankheitshaufungen wie 108
auch gewisse Unterschiede im systemischen Zugang zu Ressourcen bis hin zu unterschiedlichem Krankheitserleben lassen den eingangs zitierten Satz an Relevanz zuriickgewinnen. Auch hier findet zwar wieder nur eine mifiliche Reduzierung auf Einkommenslagen statt, aber die verfugbaren Daten geben keine anderen verlaBlichen Anhaltspunkte. Tabelle 4: Selbsteinschatzung des Gesundheitszustandes nach Aquivalenzeinkommen in Westdeutschland 1998 Anteile in % bezogen auf die Gesamtzahl der Befragten
Aquivalenzeinkommen (1998 = 2.240 DIVI) unter75%
75% bis unter 125%
125%undmehr
gesamt
Gesundheitszustand = sehr gut / gut
9,7
16,0
15,3
41.0
Gesundheitszustand = zufriedenstellend
15,0
19,4
10,3
44,7
Gesundheitszustand = weniger gut / schlecht
6,2
5,4
2,7
14,3
gesamt
30,9
40,8
28,3
100
Datenbasis: Mikrozensus. Quelle: Griinheid 2004: 47. Um eine Einschatzung zu erhalten, woraus sich diese Selbsteinschatzungswerte zusammensetzen, ist die folgende tJbersicht (vgl. Tabelle 5) sehr gut geeignet: Es sind hiemach nicht nur die somatischen Ereignisse, die zu einer tendenziell schlechten Gesundheitsbewertung ftihren, sondem eine Vielzahl von Faktoren (Dietz 1997: 112ff.). Diese zu gewichten, ist in diesem Rahmen nicht moglich und vermutlich auch weiterhin Aufgabe empirischer Forschung. Tabelle 5: Beziehung zwischen sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit Soziale Ungleichheit fiihrt zu gesundheitlicher Ungleichheit durch Unterschiede bei den folgenden gesundheitsrelevanten Faktoren: Gesundheitliche Belastungen
z.B. Belastungen am Arbeitsplatz
Erholungsmoglichkeiten
z.B. GriJnflachenangebot in der Wohnumgebung
Bewaltigungsressourcen
z.B. soziale Unterstiitzung bei Problemen
Kommunikations-Kompetenz
z.B. Formulierung des Versorgungsbedarfs
Risikoverhalten
z.B. gesundheitsgefahrdende Emahrung
Gesundheitsverhalten
z.B. Inanspruchnahme von Praventionsangeboten
Krankheitsverhalten
z.B. Compliance
!
Quelle: Mielck/Helmert 1998: 75. 3.4 Wohnen Nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. lebten 2004 rund 292.000 Menschen ohne mietvertraglich abgesicherten Wohnraum in Nutzungsraumen, Heimen, Notunterkiinften oder anderen nicht selbst gesicherten Raumen (BAG 2004). Ge109
schatzte weitere 20.000 Menschen leben ohne Obdach auf der StraBe. Es geht allerdings nicht nur um Wohnungslosigkeit, sondem allgemein auch um andere prekare Wohnverhaltnisse. Die Wohnkostenbelastung fflr untere Einkommenshaushalte ist hoher als in anderen Einkommensgruppen. 2003 betrug der Wohnkostenanteil, gemessen am Gesamteinkommen (einschlieBlich Kindergeld und Freibetrage) im Westen 28,9%, im Osten 26,2%. Er ist seit Beginn der neunziger Jahre gestiegen. Im Zehn-Jahres-Vergleich wird dies deutlich: 1993 betrug der Wohnkostenanteil im Westen 26,7%, im Osten sogar nur 14,8% (BMGSS 2005: 133). Insbesondere in Grofistadten sind eine deutliche raumliche Konzentration von Armut und die Zunahme sozialer Segregation festzustellen. Die Bedeutung des Wohnens in benachteiligten Stadtteilen fur die Dauer der Armutslage (Verfestigung) - unter anderem aufgrund der mangelhaften Ressourcenausstattung sowie Stigmatisierungs- und Diskriminierungserfahrungen - soUte nicht unterschatzt werden (Farwick 2004). 4
Armut, soziale Gerechtigkeit und Demokratie
Das Leben in relativer Einkommensarmut hat, bezogen auf ein umfassenderes Armutskonzept, das auch politische Partizipation einbezieht, signifikanten EinfluB auf das politische Engagement. „Je hoher das Einkommen ist, desto starker ist auch das gesellschaftliche Engagement", so lautet der Befund des zweiten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung (BMGSS 2005: 193). Von den Personen mit einem Einkommen unterhalb der Armutsrisikogrenze sind nur 25% regelmaBig burgerschaftlich engagiert, von den Personen oberhalb dieser Schwelle hingegen mehr als ein Drittel. Bezieher hoher Einkommen sind Uberproportional in Parteien vertreten: Aus dem unteren Fiinftel des Einkommensspektrums sind 3% Mitglied in einer Partei, wahrend aus dem obersten Fiinftel 6,7% in Parteien organisiert sind (BMGSS 2005: 189). Diese unterschiedliche politische Beteiligung spiegelt sich auch in der subjektiven Einschatzung wider, welchen EinfluB der einzelne auf die Politik der Regierung zu haben glaubt: „Wahrend in der Bevolkerung mit einem Einkommen unter der Armutsrisikogrenze die Uberzeugung vorherrscht, keinen EinfluB auf die Politik der Regierung zu haben (64% Zustimmung, darunter 39% „volle" Zustimmung), sehen dies Wohlhabendere weniger skeptisch (nur 59% Zustimmung, darunter nur 26% „volle" Zustimmung)" (BMGS 2005: 189). Aus der ungleichen Verteilung von Vermogen und Einkommen resultiert ein Unterschied beim politischen EinfluB und beim Zugang zu gesellschaftlichen Positionen: Die Chancen, politische Entscheidungsprozesse mitgestalten und sich am kulturellen und gesellschaftlichen Leben beteiligen zu konnen, stehen mit Faktoren wie Bildung und soziookonomischem Status in einem engen Zusammenhang. An der Gestaltung der politischen und gesellschaftlichen Lebensverhaltnisse sind hohere Einkommens- und Bildungsschichten folglich starker beteiligt als untere Bevolkerungsschichten, was die Moglichkeiten flir sie vergroBert, politische Prozesse zu beeinflussen und Interessen durchzusetzen. Hier zeigt sich ein klares Demokratiedefizit, da die Inanspruchnahme und Ausgestaltung von Biirgerrechten in Deutschland eng an die soziale Lage und den Lebensstandard gekoppelt ist.
110
5
Fazit
Die Untersuchung der einzelnen Dimensionen zeigt, daB Armut und Ausgrenzung selbst in einem so wohlhabenden Land wie Deutschland bittere Realitat sind - und dies sogar mit kontinuierlich steigender Tendenz. Die Gefahr ist groB, daB sich Armut intergenerational verfestigt, da die Armutslage auch auf die nachfolgenden Generationen ubergreifen kann. Insbesondere fur diese Personengruppe haben sozialstaatliche Mittel den Armutsverlaufen nicht entschieden genug entgegengewirkt. Wo die Versaumnisse konkret liegen, ist bereits hinlanglich beschrieben. Nicht alle Personengruppen sind gleichermaBen stark von Armut bedroht: Besonders haufig sind Arbeitslose, Alleinerziehende, Familien mit mehr als drei Kindem und Migranten von Armut betroffen. Armut ist ein multidimensionales und komplexes Phanomen, was anhand des Problemaufrisses in den Dimensionen Bildung, Lebenserwartung, Arbeitsmarkt, Wohnen und Partizipation nur beispielhaft aufgezeigt werden konnte. Dieser Tatsache tragt die Armutsforschung in Deutschland zunehmend Rechnung. Die von Amartya Sen und anderen zu Recht kritisierte Fokussierung auf die Einkommensarmut ist weitgehend uberwunden. In den Armuts- und Reichtumsberichten der Bundesregierung wurde mit dem Lebenslagenansatz ein Konzept gewahlt, das verschiedene Dimensionen neben dem Einkommen - zum Beispiel Bildung, Wohnen, Gesundheit und Partizipation - beriicksichtigt. Im zweiten Armuts- und Reichtumsbericht wurde anfanglich versucht, auch den Capability-AnsaXz mit dem Lebenslagenansatz zu verbinden. Dennoch ist damit die Herausforderung, zu einem systematischen und umfassenden Armutskonzept zu kommen, noch nicht gelost. Die einzelnen untersuchten Dimensionen stehen derzeit noch weitgehend unverbunden nebeneinander. Bei der Untersuchung moglicher Wechselwirkungen und Verbindungen zwischen den Dimensionen konnte insbesondere die Einbeziehung der Menschen und ihres Armutserlebens einen wichtigen Beitrag leisten. Auch in anderer Hinsicht ist noch einiges iiber Armut unbekannt: Landesspezifische und lokale Armuts- und Reichtumsberichte existieren meist nicht. Gerade diese werden aber dringend benotigt, um die gegenwartige Lage in den einzelnen Regionen und Kommunen zu erfassen, was wiederum die Voraussetzung fiir adaquate regionale und lokale politische GegenmaBnahmen darstellt. Der Capability-AnsdiXz scheint ein geeigneter Ansatz fur die Armutsforschung zu sein, da er das Individuum und seine Verwirklichungschancen ins Zentrum der Analyse stellt. Zugange zum Bildungssystem, zu angemessenem Wohnraum, zum Gesundheitssystem und zum Arbeitsmarkt beeinflussen nach Sen in hohem MaBe die individuellen Verwirklichungschancen. Sens Ansatz unterscheidet sich aufgrund seiner Akteurs- und Handlungsorientierung von Konzepten, die ausschlieBlich die Ausstattung mit Giitem in den Blick nehmen. Freiheit ist nach Sen der zentrale Grundwert demokratischer Gesellschaften und damit Voraussetzung von Gerechtigkeit. Der Mangel an Verwirklichungschancen aufgrund von Armut wirft daher fiindamentale Fragen im Hinblick auf diese Grundwerte auf.
Ill
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113
3 Aktuelle Diskussionen, Politikfelder und territoriale Aspekte
Christoph Butterwegge
Generationengerechtigkeit - politischer Kampfbegriff oder sinnvoUe Neuinterpretation der sozialen Frage? Kritische Anmerkungen zu einem Kernaspekt des aktuellen Gerechtigkeitsdiskurses in Deutschland
1
Einleitung
Mit den Planen zum Um- bzw. Abbau des Sozialstaates, also Konzepten der sogenannten Hartz- bzw. der sogenannten Riirup-Kommission und Gerhard Schroders „Agenda 2010", hauften sich die Bemiihungen, bis dahin in der Gesellschafl allgemeingiiltige Gerechtigkeitsvorstellungen grundlegend zu verandem, weil die Reformen der oben genannten Art sonst kaum Chancen hatten, auf Massenakzeptanz zu treffen und nachhaltig zu wirken. Der dominierende Gerechtigkeitsbegriff wurde in mehrfacher Hinsicht „umprogrammiert" (Segbers 2005), modifiziert bzw. deformiert. Dadurch wiederum verschob sich sein Inhalt von der sozialen Gerechtigkeit zur „Chancengleichheit", von der Bedarfs- zur Leistungsgerechtigkeit, von der Verteilungs- zur „Beteiligungsgerechtigkeit", von der ausgleichenden zur „Tauschgerechtigkeit", von der gemeinschaftlichen zur versicherungsmathematischen „Risikogerechtigkeit" und von der sozialen zur „Generationengerechtigkeit". Auf den zuletzt genannten Transformationsprozess konzentriert sich dieser Beitrag, weil darin der alle Umdeutungsversuche verbindende Aspekt besonders gut sichtbar wird: Es geht darum, „Gerechtigkeit" nur noch horizontal oder temporal, aber nicht mehr vertikal (im Sinne der notwendigen Umverteilung von oben nach unten) zu denken und ihr damit jeden Stachel einer gesellschaftspolitischen Fundamentalkritik und Altemativkonzeption zu nehmen. Was Wunder, wenn sie die groBbiirgerliche Alfred Herrhausen Gesellschaft flir intemationalen Dialog (2000) zum „Leitbild fiir das 21. Jahrhundert" kiirte? Dagegen wurde Dieter EiBel (2005, 2002 u. 1997) nicht miide, auf die Schieflage bei der Einkommens- und Vermogensverteilung hinzuweisen. Besonders in der SPD wurde um die Jahrtausendwende diskutiert, ob Verteilungsgerechtigkeit als programmatisches Ziel noch zeitgemaB sei oder durch „Chancengleichheit", „Beteiligungs-" oder „Teilhabegerechtigkeit" ersetzt werden miisse (Butterwegge 2005: 234ff.). Bundnis 90/Die Griinen konnen hingegen als Hauptprotagonisten von „Generationengerechtigkeit" gelten, welche meistenteils mit dem Ziel der „Nachhaltigkeit" im Bereich der Haushaltspolitik verbunden wird. Auch unter Rot-Griin wurde jedoch von unten nach oben umverteilt, sowohl zwischen den privaten Haushalten als auch zwischen den Gebietskorperschaften. Immer mehr Gruppen der Bevolkerung (Junge und Alte, Kinderlose und Eltem bzw. Familien) werden gegeneinander ausgespielt, soziookonomische Interessengegensatze, die im Antagonismus von Kapital und Arbeit wurzeln, auf diese Weise relativiert. Zu den zentralen Schlagwortem, die suggerieren, daB sich die traditionellen Fronten der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen abgeschliffen hatten und ganz neue Konstellationen 117
entstanden seien, denen sich die wissenschaftliche Analyse erst zuwenden miisse, gehort der Vorwurf „mangelnder Generationengerechtigkeit". 2
Generationengerechtigkeit - Begrifflichkeit, theoretische Grundlagen und Ideologiekritik
Frank Nullmeier (2004) zeichnet die Geschichte des Begriffs „Generationengerechtigkeit" in groben Ziigen nach. Ausgerechnet die FDP hat den Terminus seinen Angaben zufolge 1997 im Rahmen der Diskussion iiber einen Rentengesetzentwurf des damaligen Arbeitsund Sozialministers Norbert Bliim salonfahig gemacht, als sie unter Hinweis auf demographische Entwicklungstendenzen die Umstellung der Alterssicherung vom Umlageverfahren auf das Kapitaldeckungsprinzip forderte. Bliim habe die „Indienstnahme eines neuen Begriffs zur Begriindung einer seit langem vertretenen wirtschaftsliberalen Position" (Nullmeier 2004: 63) mit der Ubemahme dieses Wortes bei Modifikation seiner rentenpolitischen Implikationen beantwortet. Bundesfinanzminister Hans Eichel (1999: 397) begriindete das als „Zukunftsprogramm 2000" titulierte MaBnahmenpaket zur Kurzung von Sozialleistungen zwei Jahre spater mit der Absicht des rot-griinen Kabinetts, nicht mehr langer iiber „unsere" Verhaltnisse zu leben: „Dies ware gegeniiber unseren Kindem und der Zukunft unseres Landes verantwortungslos. Wir miissen verhindem, daB kiinftige Generationen fiir die Schulden arbeiten und Steuem zahlen miissen, die die jetzige Generation aufliauft." Heute gibt es kaum noch wichtige Politikerreden ohne den Begriff „Generationengerechtigkeit" als Zielmarke beschlossener oder geplanter Sozialreformen. Darunter versteht man im allgemeinen die Forderung nach einer fairen Aufteilung der Ressourcen und der Lasten zwischen den heute lebenden Generationen, beispielsweise im Hinblick auf die Finanzierung und (Transfer-)Leistungen der sozialen Sicherungssysteme. Jorg Tremmel (2003a: 34f.) differenziert zwischen „temporaler" und „intertemporaler Generationengerechtigkeit", woraus fiir ihn zwei Definitionen resultieren. Erstere bezieht sich auf das Verhaltnis zwischen den gegenwartig lebenden Menschen, die unterschiedlichen Alterskohorten angehoren, und lautet nach Tremmel folgendermaBen: „Generationengerechtigkeit ist erreicht, wenn die Chancen nachriickender Generationen auf Befriedigung ihrer eigenen Bedurfnisse mindestens so groB sind wie die der ihnen vorangegangenen Generationen." Letztere bezieht sich auf das Verhaltnis zwischen Menschen, die friiher lebten, die heute leben, und die spater leben werden: „Generationengerechtigkeit ist erreicht, wenn die Chancen zukiinftiger Generationen auf Befriedigung ihrer eigenen Bediirfnisse mindestens so groB sind wie die der heutigen Generation." Noch komplexer erscheint der erorterte Begriff, wenn Frank Nullmeier (2004: 67) nicht weniger als „vier Spielarten" herausarbeitet und zwischen „Alterskohortengerechtigkeit", „Erfahrungs-" bzw. „politischer Generationsgerechtigkeit", „Altersklassengerechtigkeit" und „langfristiger Generationengerechtigkeit" unterscheidet. Wenn nicht nur das Verstandnis von „Generation" differiert, sondem auch noch „Gerechtigkeit" unterschiedlich verstanden wird, gibt es iiberhaupt keine einheitliche Begrifflichkeit mehr. Im Sommer 2003 entspann sich eine perfide Diskussion iiber die mogliche Rationierung medizinischer Leistungen nach dem Lebensalter von Patienten und Patientinnen. Frank Drieschner hatte bereits am 24. Oktober 2002 in der Zeit daruber rasoniert, wie der
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demographische Wandel auszugleichen sei: „Teure Transplantationen nur noch fiir junge Menschen, Zahnersatz auf Kassenkosten nur bei Abschluss einer Zusatzversicherung - das waren wirksame MaBnahmen. Aber wer will das horen?" Wenig spater verkiindete Joachim Wiemeyer, Professor fur Christliche Gesellschaftslehre an der Ruhr-Universitat Bochum, in der Herder-Korrespondenz: „Es ist gerecht, bestimmte teure medizinische Leistungen ab einer bestimmten Altersgrenze nicht mehr vorzusehen, sondem sich in solchen Fallen etwa auf eine Behandlung akuter Schmerzen zu beschranken." Friedrich Breyer, Professor flir Volkswirtschaftslehre an der Universitat Konstanz sowie Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Bundesministeriums fiir Wirtschaft und Arbeit, sagte dem Rheinischen Merkur in einem am 12. Juni 2003 veroffentlichten Interview, daB bei der Altersgrenze von 75 Jahren „ein deutlicher Spareffekt" eintrete, eher als bei 85 Jahren. SchlieBlich forderte Philipp MiBfelder, Vorsitzender der Jungen Union, am 03. August 2003 im Tagesspiegel, 85jahrigen keine ktinstlichen Htiftgelenke mehr „auf Kosten der Solidargemeinschaft" einzusetzen, womit er auch eine kontroverse Diskussion in CDU und CSU ausloste. Albrecht von Lucke sprach damals von einem „Generationsdarwinismus", mit dem Jungmanager, smarte Karrieretypen und profilsuchtige Nachwuchspolitiker gegenwartige und zukiinftige Privilegien verteidigen. In dieser Art des Gerechtigkeitsbegriffs sieht er keinen Erkenntnisgewinn: „Die Kategorie der Generationszugehorigkeit liegt offensichtlich quer zu den Gerechtigkeitskriterien Bedurfnis, Bediirftigkeit und Leistung und kann schon deshalb kein hinreichendes Kriterium fiir Gerechtigkeit sein" (Lucke 2003: 1059). Eine weitere Zuspitzung erfiihr die besagte Debatte durch den ehemaligen Bundesvorsitzenden der FDP-Nachwuchsorganisation „Junge Liberale" (JuLis), Jan Dittrich, im Zusammenhang mit den Ergebnissen des „Zweiten Armuts- und Reichtumsberichts" der rotgrtinen Bundesregierung, die u.a. einen ungleichen Wohlstand der Generationen dokumentierten. Dittrich wurde am 04. Marz 2005 in der Bild-ZQitang mit der Feststellung: „Die Alten leben auf Kosten der Jungen" sowie der SchluBfolgerung: „Alte, gebt den Loffel ab!" zitiert und daraufhin zum Riicktritt gezwungen. Jorg Tremmel, Wissenschaftlicher Leiter der „Stiftung fflr die Rechte kunftiger Generationen", kam am 31. Marz 2005 in der Zeit zu Wort. Er klagte unter der Uberschrift „Die fetten Jahre sind vorbei..., aber nur fiir die Jtingeren", der Sozialstaat zerfalle zusehends in eine „neue Zweiklassengesellschaft", behauptete: „Die Alteren verdienen von Jahr zu Jahr mehr - und leisten weniger" und forderte eine Lockerung des Kiindigungsschutzes fiir rentennahe Jahrgange. Demnach lage die Entrechtung von Arbeitnehmergruppen in deren eigenem (Beschaftigungs-)Interesse: „Denn dann sind die arbeitswilligen fitten Senioren von morgen wahrhaft gleichberechtigt und haben bei Bewerbungen auf Neueinstellungen die gleichen Chancen wie die Jungen." Versuche, durch Aufstellung von „Generationenbilanzen" eine intergenerationale Gerechtigkeitslucke zu belegen, erschopfen sich in Saldenmechanik und Buchhaltermentalitat, weil nicht die verschiedenen Alterskohorten, sondem „Wohlfahrtsgenerationen" die relevanten, aber in solchen interessengeleiteten Rechnungen ausgeblendeten GroBen darstellen (Sesselmeier 2004). Unberiicksichtigt bleiben auch Zahlungsstrome zwischen den Generationen, wenn man ausschlieBlich die monetaren Transfers des Staates und der Parafiski erfaBt. Der deutsche Sozial(versicherungs)staat hat durch seine enge Bindung an die sogenannte Normalbiographie, also das „Normalarbeitsverhaltnis" und die „Normalfamilie", insofem einen Altersbias, als Transferleistungen im Lebensverlauf (Langsschnitt) ungleich auf die Generationen verteilt sind. Martin Kohli (1997: 281) spricht vom Wohlfahrtsstaat als „Umverteilungsmaschinerie zwischen den Generationen", die „ein charakteristisches
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Ungleichgewicht" aufweise: „Die offentlichen Aufwendungen fiir Kinder und Jugendliche - also der Bereich der Familienpolitik im engeren Sinne sowie derjenige der Bildungspolitik - sind relativ gering; die Kosten des Heranwachsens werden iiberwiegend den Eltem aufgebiirdet. Die Umverteilung zu den Alteren ist wesentlich umfangreicher." Daraus folgt aber mitnichten, daB die Alteren den Sozialstaat und/oder die Jiingeren ausbeuten. Denn eine Querschnittsbetrachtung, welche die Lage unterschiedlicher Altersjahrgange vergleicht, laBt auBer acht, „daB die jiingeren Generationen iiber ein wesentlich hoheres Nettorealeinkommen als ihre Eltem verftigen und daB dieses Realeinkommen weiter wachst, selbst wenn in begrenztem Umfang eine prozentual erhohte Abgabenbelastung erfolgt" (Oberhauser 2001: 212). Von scheinbar ahnlichen Kategorien wie Geschlecht oder Abstammung bzw. Herkunft unterscheidet sich das Alter dadurch, daB man zwar altert, aber in der Regel nicht das Geschlecht wechselt und die ethnische Abstammung bzw. Herkunft fiir immer festliegt. Wenn man Jungere rechtlich, okonomisch und/oder sozialpolitisch gegenuber Alteren schlechter stellt, gleichen sich die Nachteile im Verlauf eines Lebens wieder aus: „Jedes Sicherungssystem, das einen Unterschied aufgrund des Alters des Menschen macht und sie nach moralischen Kriterien scheinbar ungleich behandelt, verfahrt im Zeitablauf durchaus moralisch. Denn alle Menschen werden iiber ihren Lebenszyklus hinweg gleich behandelt" (Christen/Michel/Ratz 2003: 42). Meist wird die demographische Entwicklung in unzulassiger Weise dramatisiert, legitimiert sie auf diese Art doch Schritte und MaBnahmen zur Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Demographic fiingiert in erster Linie als Mittel der sozialpolitischen Demagogic und „Generationengerechtigkeit" degeneriert zu einem politischen Kampft)egriff, der von vermehrter sozialer Ungleichheit innerhalb jeder Generation ablenkt. Wenn die deutsche Gesellschaft will, kann sie den demographischen Wandel sowie seine Folgen fiir Okonomie, Sozialstaat und Stadt- bzw. Raumplanung, die nicht zu leugnen sind, solidarisch bewaltigen, denn sie ist so reich wie nie. Was fehlt, sind MaBnahmen der sozialen Umverteilung von oben nach unten, die der Bekampfiing von offentlicher und privater Armut dienen wiirden. AusschlieBlich die okonomische Leistungsfahigkeit, nicht das Lebensalter der Biirger/innen und die Generationszugehorigkeit, muB daruber entscheiden, wie sie zum Allgemeinwohl beitragen oder in welchem MaB sie staatlicher Unterstiitzung bediirfen. Heinz Bude (2003: 288) dagegen macht den Sozialstaat zum Siindenbock einer verfehlten Politik und fiir die WohlstandseinbuBen seiner Burger/innen verantwortlich, obwohl erst dessen Um- bzw. Abbau seit der Weltwirtschaftskrise 1974/75 zu steigender Armut, Not und Unterversorgung gefiihrt hat: „Bestand fiir die Generationen der Konstitutionsphase des Wohlfahrtsstaats nach dem Zweiten Weltkrieg dessen Leistung in der Eroffnung eines sozial gesicherten Lebenshorizonts, so ist fiir die Generationen aus der Krisenphase des Wohlfahrtsstaats dieser zu einer Quelle primarer Unsicherheit und sekundarer Ungerechtigkeit geworden." Durch das Schlagwort „Generationengerechtigkeit" wird die soziale Spaltung unserer Gesellschaft biologisiert, auf ein Verhaltnis zwischen unterschiedlichen Alterskohorten reduziert und relativiert. Selbst ein so kluger und kritischer Kopf wie Heribert Prantl (2005: 173), der die „Zerst6rung der sozialen Gerechtigkeit" beklagt, sieht Verteilungskampfe zwischen Jung und Alt heraufziehen. Prantl ft)rdert einen generativen Konservatismus, wenn er die zunehmende Kinderlosigkeit auf das deutsche Rentensystem zuriickfiihrt, die
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Familie als „Keimzelle der Gesellschaft" feiert und Singles fiir die Krise des Sozialstaates verantwortlich macht. Eltemschaft wird als Dienst an der Gemeinschaft glorifiziert, der Verzicht darauf als Egoismus damonisiert: „Der Kinderlose bricht den Generationenvertrag durch einseitige Kiindigung und profitiert spater, im Alter, trotzdem von ihm. So werden erstens die kiinftigen Beitragszahler geschadigt, weil der Kinderunwillige nicht fur neue Beitragszahler gesorgt hat. Und so werden Familien benachteiligt, die die Kosten der Kindererziehung tragen - derweil der Kinderlose Karriere macht und Rentenanwartschaften aufbaut, verzichten die kindererziehende Mutter oder der kindererziehende Vater womoglich auf eine Karriere" (Prantl 2005: 69). Das verkrampfte Bemtihen um mehr Generationengerechtigkeit, der noch nie so viel Beachtung wie heute zuteil wurde, iiberdeckt die in sdmtlichen Altersgruppen, der ganzen Gesellschaft und der tibrigen Welt drastisch wachsende soziale Ungleichheit. „Man gewinnt vielfach den Eindruck, dass die Fokussierung der Diskussion auf die Verteilung zwischen Kohorten ablenken soil von Fragen der Verteilung innerhalb von Kohorten" (Schmahl 2004:51). Das in vielen Medien gezeichnete Bild einer m^ergenerationalen Kluft zwischen Arm und Reich halt der empirischen LFberpriifiing allerdings nicht stand: Auf der Ebene bedarfsgewichteter Haushaltseinkommen weisen Rentnerhaushalte eine viel geringere Wohlstandsposition auf als Arbeitnehmerhaushalte, was die Hypothese der mangelnden Generationengerechtigkeit jedenfalls zu Lasten der mittleren Jahrgange widerlegt (Bakker/Koch 2003: 113). AuBerdem diirfte sich die Struktur der Armutspopulation aus mehreren Griinden wieder in Richtung der Senior(inn)en verschieben: erstens infolge der KUrzungen im Sozialbereich (sogenannte Riester-Reform, Senkung des Rentenniveaus durch den sogenannten Nachhaltigkeits- und Nachholfaktor, Erhohung des Kranken- und des Pflegeversicherungsbeitrages vor allem fiir Betriebsrentner/innen, Verringerung des Schonvermogens von Langzeitarbeitslosen durch Hartz IV, geplante Absenkung der Rentenversicherungsbeitrage, die fiir sie entrichtet werden), zweitens infolge der starken Zunahme diskontinuierlicher Erwerbsverlaufe und drittens infolge von Scheidungen und der Anzahl nicht eigenstandig gesicherter Frauen. Gleichwohl tut man vielfach so, als sei der Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit durch einen neuen Grundwiderspruch, namlich denjenigen zwischen Jung und Alt, abgelost und Klassenkampf durch einen „Krieg der Generationen" ersetzt worden. Hierbei handelt es sich um eine Dramatisierung des gesellschaftlichen Verteilungskampfes, die - auf dem Riicken von Rentnem und Rentnerinnen ausgetragen - von den eigentlichen Problemen, etwa der ungerechten Einkommens- und Vermogensverteilung in Deutschland, ablenkt. Man versteht nun eher, warum Massenmedien der Armut von Kindem, die es auch in einem reichen Land wie der Bundesrepublik gibt (Butterwegge/Klundt/Zeng 2005), wachsende Aufmerksamkeit schenken. Da heute die Gruppe der Rentner/innen nicht mehr in so hohem MaBe wie etwa Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren von Armut betroffen ist, konstruiert man ein Wohlstandsgefalle zwischen Alt und Jung. Kinderarmut wird folglich miBbraucht, um die Jiingeren gegen die Alteren auszuspielen und letzteren einen Verzicht auf Einkommenszuwachse oder Leistungskurzungen abzuverlangen. Die soziale Polarisierung, Folge einer Umstrukturierung fast aller Gesellschaftsbereiche nach dem Vorbild des Marktes, wirkt sich auf samtliche Altersgruppen gleich aus: Armut geht mit wachsendem Wohlstand und vermehrtem Reichtum einher; wenn man so will, bildet sie dessen Kehrseite. Es gab noch nie so viele Haushalte ohne materielle Sorgen
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und noch nie so viele Kinder mit einem riesigen Vermogen wie heute. Um mehr Freibetrage und damit Steuervorteile fiir sich bzw. die eigene Familie zu erlangen, iibertragen reiche Eltem einen Teil ihres Vermogens kurz nach der Geburt auf ihre Kinder. Umgekehrt sind heute nicht mehr so viele Rentner/innen von Armut betroffen wie wahrend der 1950er und friihen 1960er-Jahre, aber es gibt noch immer sehr viele Rentenbezieher (vor allem Frauen), die mit Kleinstrenten auskommen oder die soziale Grundsicherung im Alter beanspruchen miissen. Die soziale Scheidewand trennt also gar nicht Jung und Alt, sondem verlauft immer noch, wenn nicht mehr denn je, zwischen Arm und Reich - unabhangig vom Lebensalter! 3
Rentenpolitik im demographischen Wandel: Beuten die Alten den Sozialstaat und die Jungen aus?
Am 25. Oktober 1999 bezeichnete der Spiegel die Generationengerechtigkeit als „Kampfbegriff von morgen". Studien zur materiellen Situation von Rentnerinnen und Rentnem handelte er unter dem Titel „Reiche Senioren" ab. Als „gierige Generation", meint Bemd W. Klockner (2003: 107f.), lebten die Alten auf Kosten der Jungen. Er spricht von „Ruhestandsluxus" und beklagt das SelbstbewuBtsein sowie die groBe Reiselust deutscher Rentner/innen: „0b Mallorca, Gran Canada oder Costa del Sol: die Masse der heute Alten hat offensichtlich keinerlei Grund zu klagen." Wer die Renten kiirzen will, verweist zur Begriindung gem auf die wachsende Zahl der alteren Menschen, die von den Erwerbstatigen - wegen der steigenden Lebenserwartung langer als friiher - mitemahrt werden miiBten. Haufig heiBt es dann mit Hinweis auf die Alterspyramide, die in absehbarer Zeit eine Pilzform anzunehmen drohe, bald miisse jeder Arbeitnehmer fiir einen Rentner aufkommen. Dabei verschlechtert sich diese Relation schon seit langem, ohne daB dies den kontinuierlichen Ausbau des Sozialstaates bis 1974/75 verhindert hatte, und kiinftig ist nur noch das letzte Teilstiick eines langen Weges dieser demographischen Veranderungen zuriickzulegen. „Vor iiber hundert Jahren kamen auf eine Person iiber 65 Jahre rund zwolf Erwerbsfahige. 2000 sind es gerade noch vier. (...) Der Lebensstandard ist jedoch in den letzten 100 Jahren deutlich gestiegen" (ver.diBundesvorstand 2003: 8). AuBerdem wird der „Verschlechterung des Alten- oder Alterslastquotienten" (d.h. der Anteil der von den mittleren Jahrgangen zu versorgenden Menschen, die nicht mehr erwerbstatig sind) keineswegs, wie es intellektuelle Redlichkeit gebote, die sie bei einer sinkenden Geburtenrate begleitende „Verbesserung des Jugendquotienten" (d.h. der Anteil der von den mittleren Jahrgangen zu versorgenden Menschen, die noch nicht erwerbstatig sind) gegeniibergestellt. Sich daraus ergebende Einsparungen bei Kindergarten, Schulen, Hochschulen und Jugendhilfe miiBten jedoch gleichfalls in Rechnung gestellt werden, will man die Belastung der erwerbstatigen Generation ermitteln. Fiir mehr Rentner/innen kann diese aufkommen, ohne fmanzielle EinbuBen zu erleiden, wenn Lohn oder Gehalt starker als die daraus resultierende Belastung steigen. Entscheidend daftir, ob die Moglichkeit zur Kompensation der „Altenlast" besteht, ist die Hohe der Arbeitsproduktivitat. Wenn man bedenkt, daB sich bei einem Produktivitatsanstieg von nur 1,5% pro Jahr und Erreichen der Vollbeschaftigung ab 2010 das Realeinkommen bis 2050 verdoppeln wiirde, kann von einer Uberforderung der Gesellschaft durch den demographischen Wandel iiberhaupt keine Rede
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sein: „Die Versorgungsleistungen konnen (...) aus dem Produktivitatswachstum bestritten werden, ohne dass die zu Versorgenden oder die Erwerbstatigen den Giirtel enger schnallen mussen" (Hein/Mulhaupt/Truger 2004: 296). Das jeweilige Rentenniveau ist weniger eine Frage der Biologic („Wie alt ist die Bevolkerung?") als eine Frage der Okonomie („Wie groB ist der Reichtum, den die Gesellschaft erwirtschaftet hat?") und eine Frage der Politik („Wie wird der gesellschaftliche Reichtum auf die einzelnen Klassen, Schichten und Altcrsgruppen vcrtcilt?"). Wie alle scriosen Berechnungen zeigen, halten sich die Folgen des demographischen Wandels fur die Gesetzliche Renten-, die Gesetzliche Kranken- und die Soziale Pflegeversicherung in engen Grenzen. Laut einem Gutachten der Prognos AG und Berechnungen der RiirupKommission wachsen das Bruttoinlandsprodukt bis 2030 jahrlich um durchschnittlich 1,7% und die Arbeitsproduktivitat um durchschnittlich 1,8% parallel zu Veranderungen des Altersaufbaus der Bevolkerung (Bundesministerium ftir Gesundheit und Soziale Sicherung 2003: 61). Karl Georg Zinn (1999: 80f.) betont deshalb auch zu Recht: „Das heute erreichte Niveau sozialstaatlicher Leistungen basiert auf den Produktivitatssteigerungen der Vergangenheit, und die kiinftig weiter steigende Leistungsfahigkeit der wohlhabenden Volkswirtschaften ermoglicht bei sachgerechter Organisation von Produktion und Verteilung zumindest die Aufrechterhaltung des erreichten Sozialniveaus." Eine „statische Betrachtungsweise", die Veranderungen der Demographic von der wissenschaftlich-technischen Innovation und Wachstumsprozessen der Okonomie ablost, ignoriert fur das Resultat zentrale Zusammenhange: „Die Leistungsfahigkeit eines heutigen Beschaftigten wird auch fiir das Jahr 2050 unterstellt" (Bosbach 2004: 101). Von alteren Menschen spricht man in unserer Hochleistungs- und Konkurrenzgesellschaft, die nach betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien modemisiert wird, als „Kostenfaktor auf zwei Beinen", d.h. als fmanzielle Belastung ftir die jiingeren Biirger/innen. „Begriffe wie Alterste/, Rentnevberg oder gar RentnQTschwemme spiegeln noch deutlicher wider, daB in der offentlichen Diskussion der AlterungsprozeB der Bevolkerung als etwas Negatives dargestellt wird, obgleich aus Sicht des Einzelnen eine steigende Lebenserwartung doch etwas Positives und Erstrebenswertes ist - sicherlich auch ftir die jetzt Jungen -, vor allem wenn das Altwerden und Altsein zugleich mit einem guten Gesundheitszustand einhergeht." (Schmahl 2001: 180)
Der Bremer Sozialforscher Winfried Schmahl (2001) zeigt, daB die Gegentiberstellung von Jiingeren bzw. Erwerbstatigen als „okonomisch Aktiven" und „okonomisch inaktiven" Alteren ein Klischee ist. Der seit 1957, besonders im Zuge der Vereinigung von BRD und DDR bewahrte Generationenvertrag (lohn- und beitragsbezogenes Umlageverfahren in der Gesetzlichen Rentenversicherung) wird unter Hinweis auf den demographischen Wandel gleichwohl von vielen zum Auslaufmodell erklart, das Kapitaldeckungsprinzip als vermeintlich „demographieresistent" dagegen geradezu glorifiziert. Nach der beriihmten „Mackenroth-These" wird aber jeder Sozialaufwand bzw. jede Rente aus der aktuellen Wertschopfimg bestritten. „Bei jedem Finanzierungssystem wird entschieden, welche Belastungen die Jiingeren durch EinbuBen im Konsum haben und welche Belastungen auf die Alteren durch Minderung ihrer Rentenanspruche zukommen. Beim Umlageverfahren erfolgt diese Entscheidung iiber den politisch-demokratischen Prozess, bei kapitalflindierten Systemen iiber ,anonyme' Marktprozesse" (Backer/Koch 2003: 116). Dabei zeigte das Tief der Aktienkurse nach den 123
Terroranschlagen in New York und Washington am 11. September 2001, wie problematisch es ist, mit der „Riester-Rente" auf die Borse und private Vorsorge zu setzen, wenn es um die langfristige Stabilitat und VerlaBlichkeit der Alterssicherung geht. Kaum von der Hand zu weisen ist die Vermutung, daB sich hinter der Forderung nach „Generationengerechtigkeit" handfeste Interessen verbergen und Finanzmarktakteure gute Chancen fur profitable Geschafle mit ihren Produkten wittem, wenn die Angst weiter um sich greift, daB kollektive VorsorgemaBnahmen dem/der einzelnen keinen ausreichenden Schutz mehr bieten. So pladiert Bemd Raffelhiischen (2001: 257) fur eine „Kombination von temporar moderaten Rentenkurzungen und langfristig verstarkter privater Altersvorsorge durch die Erwerbstatigen", das „Einfrieren der Nominalrenten" sowie das Absenken des Rentenniveaus auf eine „Grundsicherung", die mit dem Aquivalenzprinzip unvereinbar und nur noch eine Basisrente zur Sicherung des Existenzminimums ware. Dabei gibt es angeblich weder Gewinner noch Verlierer. Vielmehr verspricht Raffelhuschen, da er die Risiken einer kapitalgedeckten Alterssicherung ignoriert, alien Beteiligten immense Vorteile eines verharmlosend „Ausgleichsreform" genannten Systemwechsels. Rentenkurzungen sind kein Beitrag zur „Generationengerechtigkeit", sondem verscharfen die soziale Ungleichheit, zumal vor allem viele Frauen mit einer „bedarfsorientierten Grundsicherung im Alter" auskommen miissen, die nur 15% iiber dem Sozialhilfesatz liegt. „Nullrunden" (Aussetzungen der Rentenanpassung) wie im Jahr 2004 treffen gar nicht in erster Linie jetzige Rentner/innen, sondem Jahrgange, die heute noch oder noch nicht erwerbstatig sind. AuBerdem haben sie eher negative Folgen im Hinblick auf das biirgerschaftliche Engagement und die familialen Unterstutzungsleistungen der Betroffenen, worunter die jUngeren Altersgruppen leiden (Kohli/Kiinemund 2003: 25). Die von der Riirup- ebenso wie von der Herzog-Kommission vorgeschlagene und von der GroBen Koalition unter Angela Merkel beschlossene Erhohung des gesetzlichen Rentenzugangsalters von 65 auf 67 Jahre wird die Arbeitsmarktchancen zukiinftiger Generationen verschlechtem. Wer wie Merkel in den Ruf nach „Generationengerechtigkeit" einstimmt, miiBte eigentlich darum bemiiht sein, daB auch die kiinftig Heranwachsenden noch einen hoch entwickelten Wohlfahrtsstaat und das gewohnte MaB an sozialer Sicherheit vorfmden, statt letztere weiter zu beschneiden und die Menschen einer privaten Daseinsvorsorge zu uberantworten! 4
Staatsverschuldung und „finanzpolitische Nachhaltigkeit^'
Nicht nur die Renten, sondem auch die offentlichen Haushalte sind ins Visier von Experten geraten, die mehr Generationengerechtigkeit verlangen. So bemangelte Jorg Tremmel (1996: 26) die seiner Ansicht nach unsolide Haushaltspolitik der Bundesregiemng mit folgender Begriindung: „Um den immer teurer werdenden Sozialstaat zu finanzieren, stellt die herrschende Generation ungedeckte Wechsel auf die Zukunft aus. Die Zeche zahlen eines Tages jene, die heute jung sind." Tremmel (2003b) schrieb ein Buch iiber die „Nachhaltigkeit", das den Begriff sehr weit faBt. NeoHberale und Lobbyisten tun gem so, als hatten „zukiinfl;ige Generationen (...) hohe Schuldenberge" abzutragen, wozu sie weder willens noch in der Lage seien (Raffelhiischen 2001: 256). Dabei lastet dieser Schuldendienst nur auf einem Teil der kommenden Generationen; ein anderer erhalt mehr Zinsen aus (geerb-
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ten) Schuldverschreibungen des Staates, als er selbst an Steuem zahlt und profitiert dadurch sogar von heutigen Budgetdefiziten. Trotzdem verfangt die Argumentationsfigur von „Zechprellem zu Lasten unserer eigenen Kinder" (ebd.). Hans-Olaf Henkel, damals noch Prasident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, forderte in seinem Buch „Jetzt oder nie" ein „Bundnis fiir Nachhaltigkeit in der Politik", was er unter Hinweis „auf die Verantwortung fur die Interessen unserer Kinder" begrundete: „Wenn wir verhindem wollen, daB sich unsere Kinder dieser Generation als einer erinnem, die sich zu ihren Lasten ein bequemes Leben gemacht hat, dann miissen wir jetzt handeln und nicht erst morgen. Unsere Kinder brauchen eine Politik, die sich dem Prinzip der Nachhaltigkeit in alien Bereichen verpflichtet, nicht nur im Umweltschutz" (Henkel 1998: 12). Gerhard Schroder (2003: 26) bekannte sich gleichfalls zum Prinzip der Nachhaltigkeit, das er als ein Wesenselement seines Gerechtigkeitsbegriffs betrachtete, wie das folgende Zitat zeigt: „Blo6e Umverteilung wirtschaftlicher Giiter und Gelder ist nicht per se ,gerecht'. Gerechtigkeit muss auch zwischen den Generationen geschaffen werden - weshalb zum Beispiel eine Politik der ausufemden Staatsverschuldung eine grobe Ungerechtigkeit gegen unsere Kinder und Enkel ist." Norbert Renter (2003) weist demgegeniiber nach, daB aus der Staatsverschuldung sowohl Forderungen wie Verbindlichkeiten resultieren und daB heide GroBen an die nachste Generation „vererbt" werden. Blickt man getrennt auf die gegenwartige oder auf die folgende Generation, liegt seiner Meinung nach „ein gesamtwirtschaftliches Nullsummenspiel vor. Mit einem Verweis auf kollektive fmanzielle Belastungen kiinftiger Generationen lasst sich der gegenwartige Abbau der Staatsverschuldung somit nicht begriinden" (Renter 2003: 85). Richard Hauser (2004) halt Staatsverschuldung hochstens dann fur problematisch, wenn Auslander einen GroBteil der Schuldtitel halten, was in der Bundesrepublik aber nicht der Fall ist. „Werden die Forderungen gegen den Staat aber ganz iiberwiegend von Inlandem gehalten, dann findet durch die Zinszahlung nur eine intragenerationale Umverteilung von den Steuerzahlem zu den Forderungsbesitzem statt. Dies ist dann akzeptabel, wenn die Staatsschuld zur Finanzierung der Investitionen in die offentliche Infrastruktur, d.h. zur Sachvermogensbildung des Staates, aufgenommen wurde und wenn die Belastung des Staatshaushalts durch Zinszahlungen nicht bestimmte Grenzen uberschreitet." (Hauser 2004: 39)
Mit dem Satz: „Wir haben den Staatshaushalt nur von unseren Kindem geborgt", begriindet man die Ubertragung des Nachhaltigkeitsprinzips von der Umwelt- auf die Fiskalpolitik, ohne die gravierenden Konsequenzen zu reflektieren. Durch die Instrumentalisierung der nachwachsenden Generationen unter Schlagworten wie „Nachhaltigkeit im finanzpolitischen Bereich" und „Generationengerechtigkeit" wird eine Politik der Haushaltskonsolidierung verklart, die gerade fur Kinder und Jugendliche nur negative Folgen zeitigt, weil den betreffenden Bereichen, namlich Vorschule, Schule und Hochschule, nicht mehr die notigen Mittel zuflieBen. SparmaBnahmen im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitssystem verbauen im Namen der kiinftigen Generation eben jener die Zukunftsperspektiven: bei schlechter Kinderbetreuung, defizitarer Schulausstattung, fehlenden Lehrkraften, Verringerung der Anzahl von Schuleingangsuntersuchungen usw. Micha Brumlik (1999: 1464) macht auf einen ganz zentralen Unterschied zwischen okologischen und fmanziellen Ressourcen aufmerksam: „Wahrend zukiinftige Generationen von einmal vemutzten fossilen Brennstoffen in der Tat nicht mehr Gebrauch machen 125
konnen, stehen ihnen fur die Beitrage, die sie zur Tilgung von Schulden flir offentliche Aufgaben zu leisten haben, in einer gerecht geordneten Gesellschaft niitzliche Infrastrukturangebote gegenuber. Wahrend die Vemutzung naturlicher Ressourcen mithin asymmetrisch zu Gunsten der Gegenwart verlauft, besteht bei Nutzung finanzieller Ressourcen im offentlichen Rahmen eine gewisse Symmetrie." Auch wenn das Geld im Jugendjargon „Kohle" genannt wird, hat es mit dieser relativ wenig gemeinsam: Es wandert zwar von einer Tasche in die andere, verbrennt aber nicht. Eine nicht nur verbal der Generationengerechtigkeit verpflichtete Politik miifite laut Norbert Renter (2003) beriicksichtigen, da6 Schuldenabbau und der damit verbundene Riickzug des Staates aus wichtigen Bereichen unter den gegenwartigen Bedingungen eine schwere Hypothek flir kunftige Generationen bedeuten wiirden, neben der die mittelfristig fortbestehende Staatsverschuldung das vergleichsweise kleinere Problem darstellt. Renter (2003: 89) konstatiert denn auch, „dass die Bekampfung der Arbeitslosigkeit langfristig die beste Rentenpolitik darstellt."
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Alexander Grasse
Territoriale Gerechtigkeit im deutschen Bundesstaat Reformen im Spagat von Wachstums- und Verteilungsproblemen
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Der deutsche Foderalismus unter Reformdruck
Der deutsche Bundesstaat ist reformbediirftig. Dariiber herrscht in Politik und Wissenschaft bereits seit langem Einvemehmen. Die konkreten Inhalte der Foderalismusreform aber waren (und sind noch immer) hochst umstritten. Um Gestaltungsspielraume neu bzw. wieder zu eroffnen, und zwar fur Bund und Lander gleichermaBen, haben Bundestag und Bundesrat am 30. Juni und 07. Juli 2006 im Rahmen der groBten Revision des Grundgesetzes seit 1949 (25 Artikel) die „Entflechtung" der beiden Ebenen beschlossen.^ Aufbauend auf den Ergebnissen der am 17. Dezember 2004 gescheiterten „Bundesstaatskommission" (eingesetzt am 16./17. Oktober 2003)^ und den entsprechenden Vereinbarungen von CDU/CSU und SPD^, gelang es der GroBen Koalition - mit ganz erheblichen Schwierigkeiten -, die ersehnte Reform des Foderalismus in Deutschland nach jahrelanger Debatte endlich Wirklichkeit werden zu lassen."^ Die Lander verzichten im Rahmen der Neuordnung der Kompetenzen auf Mitentscheidungsrechte im Bundesrat, indem die Zahl der zustimmungspflichtigen Gesetze reduziert wird, wahrend im Gegenzug die Zahl der autonom von den Landem zu regelnden Sachaufgaben wieder zunimmt. Durch die Auflosung der Rahmengesetzgebung und die Neuordnung der konkurrierenden Gesetzgebung von Bund und Landem erhalten die Lander neue Kompetenzen in folgenden Bereichen: 1. Strafvollzug, 2. Versammlungsrecht, 3. Heimrecht, 4. LadenschluBrecht, 5. Gaststattenrecht, 6. Spielhallen/Schaustellung von Personen, 7. Messen, Ausstellungen und Markte, 8. Telle des Wohnungswesens, 9. landwirtDas Gesetzgebungsverfahren begann am 10.03.2006, nachdem am 16.02.2006 bei einem Treffen der jeweiligen politischen Spitzen letzte Streitpunkte zwischen Bund und Landem ausgeraumt worden waren. Von der Reform betroffen sind die Artikel 22, 23, 33, 52, 72, 73, 74, 74a, 75, 84, 85, 87c, 91a, 91b, 93, 98, 104a, 104b, 105, 107, 109, 125a, 125b, 125c und 143c; vgl. Deutscher Bundestag, 16. Wahlperiode, Drucksache 16/813 vom 07.03.2006 sowie Bundesrat, Drucksache 462/06 vom 30.06.2006; vgl. auch das Foderalismusreform-Begleitgesetz, welches die notwendigen Folgeregelungen auf einfach-rechtlicher Ebene beinhaltet: Deutscher Bundestag, 16. Wahlperiode, Drucksache 16/814 vom 07.03.2006. 2
Vgl. zur Bundesstaatskommission u.a. naher Decker 2004b, Jun 2004, Hrbek/Eppler 2005 sowie Fischer 2005. ^ Vgl. den Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD vom 11.11.2005, S. 93 sowie Anhang 2.
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Die Regierungskoalition aus Union und SPD erreichte die in Bundestag und Bundesrat fur eine Verfassungsreform notwendige Zweidrittelmehrheit zwar, konnte aber im Bundestag nicht alle Stimmen der eigenen Fraktionen fur die Reform gewinnen. 428 von 592 anwesenden Abgeordneten des Bundestages stimmten flir die Neuordnung der Bund-Lander-Beziehungen, 15 Abgeordnete der SPD votierten jedoch dagegen. Bei der Abstimmung im Bundesrat lehnte lediglich das von SPD und Linkspartei/PDS gefiihrte Land Mecklenburg-Vorpommem die Reform ab, das CDU-SPD-regierte Schleswig-Holstein enthielt sich der Stimme, was jedoch aufgrund des Abstimmungsmodus faktisch einer Ablehnung gleichkommt.
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schaftlicher Grundstucksverkehr, 10. landwirtschaftliches Pachtwesen, 11. Flurbereinigung, 12. Siedlungs- und Heimstattenwesen, 13. (lokale) LarmbekampfUng, 14. die Besoldung und Versorgung sowie das Laufbahnrecht der Landesbeamten und -richter, 15. Hochschulrecht (mit Ausnahme der Hochschulzulassung und Hochschulabschlusse) sowie 16. die allgemeinen Rechtsverhaltnisse der Presse. Uberdies erhalten die Lander mehr Moglichkeiten, von Bundesregelungen abzuweichen, hierzu gehoren: 1. das Jagdwesen, 2. der Naturschutz und die Landschaftspflege (ohne die allgemeinen Grundsatze des Naturschutzes, das Recht des Artenschutzes oder des Meeresschutzes), 3. die Bodenverteilung, 4. die Raumordnung, 5. der Wasserhaushalt (ohne stoff- oder anlagenbezogene Regelungen), 6. die Hochschulzulassung und die Hochschulabschlusse sowie 7. Behordeneinrichtung und Verwaltungsverfahren. Es kommt auBerdem zu einem partiellen Riickzug des Bundes aus den bisherigen Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Landem zur Verbesserung der Lebensverhaltnisse nach Art. 91a sowie 91b GG. Hierzu zahlen der Aus- und Neubau von Hochschulen einschlieBlich der Hochschulkliniken (Art. 91a, Abs. 1, Satz 1) sowie die Bildungsplanung (Art. 91b). Die bisherige „Gemeinschaftsaufgabe Bildungsplanung und Forschung" nach Art. 91b GG wurde durch die Verfassungsreform so umgestaltet, daB Bildungspolitik nun fast ausschlieBlich Landersache ist. Im Bereich der schulischen Bildung verliert der Bund jeglichen EinfluB. Im Bereich Wissenschaft und Forschung an Hochschulen konnen Bund und Lander weiterhin eingeschrankt gemeinsam tatig werden, allerdings nur unter der Voraussetzung, daB alle Lander ihre Zustimmung erteilen (Einstimmigkeitsprinzip gemaB Art. 91b, Abs. 1), was eine individuelle Intervention des Bundes zugunsten bestimmter, fmanzschwacher Lander sehr erschweren diirfte. In die ausschlieBliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes fallen dagegen folgende Sachgebiete: 1. Waffen- und Sprengstoffrecht, 2. Versorgung der Kriegsbeschadigten und Kriegshinterbliebenen sowie Fiirsorge fur die ehemaligen Kriegsgefangenen, 3. Erzeugung und Nutzung der Kemenergie zu friedlichen Zwecken, Errichtung und Betrieb von Anlagen, die diesen Zwecken dienen, der Schutz gegen Gefahren, die bei Freiwerden von Kemenergie oder durch ionisierende Strahlen entstehen und die Beseitigung radioaktiver Stoffe, 4. Melde- und Ausweiswesen, 5. Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung in das Ausland. Hinzu kommt 6. eine neue ausschlieBliche Bundeskompetenz zur Regelung praventiver Befugnisse des Bundeskriminalamts bei der Abwehr von Gefahren des intemationalen Terrorismus (mit Zustimmung des Bundesrates). Was nicht immer klar gesagt wird: Die Reform bedeutet eine Umkehr der Entwicklung des kooperativen Foderalismus spezifisch deutscher Pragung, wie sie von der ersten GroBen Koalition Deutschlands 1966-1969 eingeleitet wurde. Ziel ist nicht nur mehr Eigenstandigkeit der Lander vom Bund, sondem auch mehr Wettbewerb zwischen den Landem. Obschon die Kritik an der Dominanz der Parteien iiber die fi)deralen Stmkturen vielfach Uberzogen ist, da quantitativ gesehen der gemeinsame VermittlungsausschuB von Bundestag und Bundesrat meistens zu dauerhaft tragfahigen Losungen gelangt und die Lander immer hauflger nicht entlang von Parteilinien, sondem nach regionalen Eigeninteressen agieren^, so gab es doch immer wieder brisante Beispiele, die die These von der Dies hat seine Ursache darin, daB es in der iiberwiegenden Zahl der im Bundesrat behandelten Fragen um solche der Finanzverteilung oder der Verwaltung geht und hier die Interessen jedes einzelnen Landes wie auch foderale Interessen insgesamt eine etwaige Parteirason haufig dominieren. So lieB der Bundesrat z.B. die von der rotgrunen Bundesregierung initiierte „gro6e Steuerreform" am 14.07.2000 ohne weitere Anrufiing des Vermittlungsausschusses passieren, obwohl CDU und FDP als Oppositionsparteien im Bundestag diese Reform entschieden
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„Blockade" bestatigten.^ Trauriger Hohepunkt war die verfassungsrechtlich hochst umstrittene Abstimmung des Bundesrates am 22. Marz 2002 zum Einwanderungsgesetz. Dieses Ereignis war jedoch schlieBlich das notwendige Signal ftir gemeinsame Anstrengungen aller Parteien, das Kompetenzgefuge in Deutschland umzugestalten. Selbst wenn unklar ist, ob die angestrebte Riickfahrung der zustimmungspflichtigen Gesetze von derzeit knapp 60% auf zukiinftig 30-40%^ den erwarteten Erfolg zeitigen wird, besteht begrundete Hoffnung, daB dies zumindest in Teilen geschehen wird.^ Allerdings bleibt die Frage der Finanzverfassung weiterhin offen. Es ist mehr als fraglich, ob die Regierung Merkel hierzu die Kraft entfalten kann, selbst wenn der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD diese Reform als noch in dieser Legislaturperiode zu erreichendes Ziel formuliert hat und zwischen dem Kanzleramt und den Ministerprasidenten der Lander bereits entsprechende Gesprache uber die sogenannte „zweite Stufe" der Foderalismusreform verabredet worden sind. Mehrere Lander haben ihre Skepsis bereits deutlich zum Ausdruck gebracht, was nicht nur mit dem Interessenkonflikt gegeniiber dem Bund zu tun hat, sondem auch mit den stark voneinander abweichenden politischen Vorstellungen der Lander hinsichtlich der Finanzreform zusammenhangt. Die Finanzverfassung jedoch ist es, die maBgeblich mitentscheiden wird iiber neue Handlungsspielraume und/oder Sparzwange von Bund, Landem und Gemeinden, ebenso wie uber die Verscharfiing Oder Verringerung der territorialen Ungleichheiten in Deutschland - das gilt naturlich vor allem flir die Ost-West-Disparitaten. Dabei beinhaltet bereits die gerade abgeschlossene erste Stufe der Foderalismusreform einige wichtige fmanzpolitische Neuerungen. Neben Regelungen zur Lastenverteilung zwischen Bund und Landem im Falle der Verletzung supranationaler und volkerrechtlicher Verpflichtungen (Art. 104a, Abs. 6) bzw. im Falle der Verletzung haushaltspolitischer Vorgaben der Europaischen Union (Art. 109, Abs. 5; „nationaler Stabilitatspakt"), geht es dabei um eine vergroBerte regionale Steuerautonomie, denn die Lander bekommen das Recht, den Steuersatz bei der Grunderwerbsteuer fortan selbst zu bestimmen (Art. 105, Abs. 2a). Vor allem aber wurden mit der Einfuhrung des Art. 104b GG die Voraussetzungen ftir Finanzhilfen des Bundes an die Lander verscharft: Es gelten zukiinftig die Grundsatze der Befristung und degressiven Ausgestaltung von Finanzhilfen sowie die Pflicht zur regelmaBigen Mittelverwendungskontrolle. Doch auch in einer zweiten, noch bedeutsameren Hinsicht werden mit dem im Sommer 2006 erfolgten ersten Schritt der Foderalismusreform die Weichen neu gestellt, denn ablehnten und iiber eine Mehrheit im Bundesrat verfiigten. Durch gezielte finanzielle Zusagen und sachpolitische Zugestandnisse an einzelne Lander (Berlin, Brandenburg, Bremen, Rheinland-Pfalz und MecklenburgVorpommem), in denen Parteien der Bundestagsopposition mit in der Regierung saBen, konnte jedoch deren notwendige Zustimmung gewonnen werden - trotz gegenteiliger Empfehlung der CDU-Zentrale in Berlin. Statistisch gesehen kann von „Blockade" durch den Bundesrat keine Rede sein, denn von 1949 bis 2003 sind gerade einmal 2,1% der zustimmungspflichtigen Gesetze endgiiltig verhindert worden, bei den Rechtsverordnungen waren es sogar nur 0,7%. Wahr ist jedoch, daB die Macht des Bundesrates so groB ist, daB sie die Regierung zu zahlreichen Kompromissen zwingt und damit eine gewisse Tendenz zur Konkordanzdemokratie bewirkt (Stiiwe 2004: 29f.). 7
Nach Berechnungen des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages konnte es gar zu einer Reduzierung der zustimmungspflichtigen Regelungen auf 24% kommen. 0
Trotz der erfolgten Herausnahme vieler Sachgebiete aus der Zustimmungspflicht der Lander durch Art. 84, Abs. 1 werden die Lander mit der Begrundung „erheblicher Kostenfolgen von Bundesgesetzen ftir die Lander" (Neuregelung des Art. 104a, Abs. 4) jedoch wohl auch in Zukunft in manchen Bereichen ihre Zustimmungspflicht durchsetzen konnen.
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der beschlossene steuerungs- und fmanzpolitische Riickzug des Bundes aus gesellschaftlich zentralen Politikbereichen, wie z.B. Bildung und Hochschule, ist insofem folgenreich, als reiche Lander aufgrund ihrer finanziellen Moglichkeiten fraglos starker von Zuwachsen politisch-administrativer Sachkompetenz profitieren als arme. Die Nutzung neuer Spielraume im gewiinschten „Gestaltungsfbderalismus" ist zwar zum Teil von individueller „Freiheitsnutzungskompetenz" abhangig (etwa im Sinne groBeren administrativen Knowhows einzelner Lander und Regionen), aber eben zugleich auch von materiellen Voraussetzungen und damit von Zugriffsrechten auf Ressourcen. Die Kompetenzneuordnung im Rahmen der Foderalismusreform ist allerdings lediglich ein Element innerhalb einer groBeren, seit Mitte der 1990er Jahre zu beobachtenden Entwicklung hin zu starkeren territorialen Unterschieden bei den Lebensverhaltnissen in Deutschland. Die Ursachen und moglichen Folgen dessen, insbesondere mit Blick auf die Frage der sozialen Gerechtigkeit in Deutschland, sollen im folgenden naher beleuchtet werden. Hierzu wird ein kurzer Ausflug in die Theorie des Foderalismus erforderlich, ebenso wie eine Einordnung der deutschen Entwicklungen in den europaischen und intemationalen Kontext notwendig ist. Doch zunachst einmal zu den Tatsachen, welche den Paradigmenwechsel in Deutschland vom kooperativ-egalitaren zu einem starker konkurrierenden, auf Unterschiede setzenden Foderalismus-Modell markieren. 2
Paradigmenwechsel - von der Einheitlichkeit der Lebensverhaltnisse zum territorialen Wettbewerb
Das Wesen des Foderalismus besteht bekanntermaBen im dialektischen Verhaltnis von Einheit und Vielfalt, d.h. der Ermoglichung staatlicher Einheit durch die Gewahrung von territorialer Differenz. In Deutschland wurde dem Moment der Einheit von der Grundung der Bundesrepublik im Jahr 1949 an bis etwa Mitte der 1990er Jahre eindeutig Vorrang gegeniiber dem Moment der Differenz bzw. Vielfalt eingeraumt. Vor der deutschen Einheit hatte die Bundesrepublik einen Grad an Homogenitat hinsichtlich der Lebensverhaltnisse erreicht, den weltweit nur wenige unitarisch-zentralistische Staaten vorweisen konnen. Das war hauptsachlich ein Ergebnis der bereits angesprochenen Reformen der spaten 1960er Jahre. Erinnem wir uns: Gerade wegen der bis dato starkeren Trennung des Steuersystems und des Wettbewerbs zwischen den Landem hatten viele von ihnen unter chronischer finanzieller Unterversorgung gelitten. „Die Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit" und „die Einheitlichkeit der Lebensverhaltnisse im Bundesgebiet" (Art. 72, Abs. 2 sowie Art. 106, Abs. 3, Ziffer 2 GG) standen nicht nur aus Grunden des Machtanspruchs des Bundes hoch im Kurs der deutschen Politik. Vielmehr etablierten sich moglichst ausgeglichene Lebensbedingungen und eine gleichmaBige Wirtschaftsentwicklung in Deutschland in jener Zeit als Grunduberzeugungen von Politik und Gesellschaft. Das Jahr 1969 markiert insofem einen Wandel im Selbstverstandnis des deutschen Foderalismus, als „(...) zuvor die Unitarisierung des Foderalismus als quasi in der Natur der Sache liegende Gegebenheit hingenommen wurde, wahrend die GroBe Koalition die Unitarisierung zur Tugend erhob" (Sturm 1999: 84). Die Verfassungsanderungen waren Teil umfanglicher wirtschafts- und sozialpolitischer Reformen und einer im AnschluB an die Wirtschaftskrise 1966/67 vom Keynesianismus inspirierten Konjunktur- und Finanzpolitik, deren Ziele in einem Verbundfoderalismus leichter umzusetzen waren als bei starkerer
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Trennung der Ebenen.^ Im Zuge des Ausbaus des Wohlfahrtsstaates und der Herstellung groBerer sozialer Gerechtigkeit stand in der sich anschlieBenden sozial-liberalen Ara (19691982) die Einheitlichkeit der Lebensverhaltnisse auf der Tagesordnung (Grasse 2001). Selbst in der ersten Phase der Kanzlerschaft Helmut Kohls bis 1989/90 war „mehr regionale Vielfalt" in Deutschland kein Thema. Mit Beginn der 1990er Jahre wurde dann aber immer mehr Kritik laut am foderalen System der Bundesrepublik, das gar als „Veto-Diktatur" bezeichnet wurde (Joffe 1997). Fehlende Innovationskraft, parteipolitische Instrumentalisierung des Bundesrates und daraus resultierender Reformstau (1997 „Wort des Jahres") sowie Zentralismus und Biirokratisierung waren die wesentlichen Kritikpunkte. Der Bundesverband der deutschen Industrie forderte eine umfassende „Modemisierung" und verlangte eine entsprechende radikale Reform der Finanzverfassung mit einer klaren Aufteilung zwischen den einzelnen politischen Ebenen. Auch die OECD (1998: 110) rief die Bundesregierung auf, das foderale System im Sinne einer starkeren Orientierung am fi)deralen „Trennmodeir' zu emeuem und mehr Konkurrenz zuzulassen. Auf diese Weise sollten die dem Foderalismus innewohnenden Flexibilitatsvorteile und Innovationspotentiale endlich starker genutzt werden. Mit der Forderung nach mehr Eigenstandigkeit der Lander und nach territorialem Wettbewerb ging (explizit oder implizit) zumeist die Kritik am Interventionismus des Bundes zur Angleichung der gesellschaftlichen Lebensverhaltnisse einher, mit dem Ergebnis, daB ein hoheres MaB an gesellschaftlicher Ungleichheit seither diskussionsfahig geworden ist. Bundesprasident Horst Kohler hat inzwischen mehrfach den Abschied von der Vorstellung gleicher und sogar gleichwertiger Lebensverhaltnisse offentlich vollzogen. Im September 2004 auBerte er in einem Interview mit dem Magazin „Focus": „[Es] gab und gibt nun einmal iiberall in der Republik groBe Unterschiede in den Lebensverhaltnissen. Das geht von Nord nach Sud und von West nach Ost. Wer sie einebnen will, zementiert den Subventionsstaat". Am 03. Oktober 2005, zum 15. Jahrestag der deutschen Einheit, wiederholte er diese Position und wamte vor falschen Hoffnungen auf gleiche Lebensverhaltnisse in Deutschland.^^ Dafiir emtete er einige Kritik, aber noch mehr Beifall. Ausgangspunkt der Trendwende hin zu mehr territorialer Konkurrenz war das Jahr 1994, als im Zuge der Verfassungsreformen, die als Konsequenz aus der deutschen Einheit durchgefiihrt wurden, das Verfassungsgebot zur „Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhaltnisse" auf die MaBgabe „gleichwertiger Lebensverhaltnisse im Bundesgebiet" reduziert wurde (Art. 72, Abs. 2 GG). Dies hat erhebliche Konsequenzen, wie sich inzwischen mehrfach gezeigt hat. Hierzu nur zwei Beispiele: Beispiel 1: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Januar 2005 zur Aufhebung des Verbotes von Studiengebilhren Der zustandige Zweite Senat des BVerfG vertrat u.a. die Auffassung, daB die Existenz oder das Fehlen von Studiengebilhren und deren unterschiedliche Hohe in den Landem nicht mit der MaBgabe „gleichwertiger Lebensverhaltnisse" konfligiere, weshalb das entsprechende 9
So wurde wahrend der Wirtschaftskrise 1967 der Art. 109, Abs. 3 ins Grundgesetz eingefiihrt, wonach der Bund gemeinsam geltende Grundsatze fur eine konjunktiirgerechte Haushaltswirtschaft der Lander erlassen kann. In Verbindung mit dem „Stabilitats- und Wachstumsgesetz" (§§ 19-25 StWG) desselben Jahres wurden die Art und Hohe der Kreditaufhahmen und der Haushalt der Lander geregelt. Vgl. den Beitrag von Bundesprasident Horst Kohler fur die „Schweriner Volkszeitung" vom 01.10.2005.
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Hochschulrahmengesetz im Punkt Gebiihrenfreiheit fiir nichtig erklart wurde. Das Gericht fuhrte dazu aus: „Das Ziel, moglichst breiten Kreisen der Bevolkerung den Zugang zum Hochschulstudium zu eroffnen, erfordert eine bundeseinheitliche Regelung nicht. [...] Ein Bundesgesetz ware erst daiin zulassig, weim sich abzeichnete, dass die Erhebung von Studiengebuhren in einzelnen Landem zu einer mit dem Rechtsgut Gleichwertigkeit der Lebensverhaltnisse unvereinbaren Benachteiligung der Einwohner dieser Lander fiihrt. [...] Vor allem aber ist anzunehmen, daB die Lander bei Einfuhrung von Studiengebuhren in eigenverantwortlicher Wahmehmung der verfassungsrechtlich begriindeten Aufgabe zu sozialstaatlicher, auf die Wahrung gleicher Bildungschancen bedachter Regelung den Belangen einkommensschwacher Bevolkemngskreise angemessen Rechnung tragen werden." (Bundesverfassungsgericht 2005 a^) Die soziale Verantwortung wird vom Verfassungsgericht damit den Landem zugewiesen, was durchaus problematisch ist, weil territorialer Ausgleich am besten zentral herzustellen ist und es nur zu einer Verlagerung des Problems nach unten und damit zu einer Territorialisierung von gesellschaftlichen Verteilungsfragen kommt. In jedem Falle aber ist mehr als zweifelhaft, ob die Begriindung des Verfassungsgerichts moglich gewesen w^are, hatte man die Verfassung 1994 nicht geandert, denn mit „einheitlichen Lebensverhaltnissen im Bundesgebiet" waren Studiengebuhren wohl kaum vereinbar gev^esen. Beispiel 2: Die Neuordnung des Ldnderfinanzausgleichs Die Verfassungsreform von 1994 bildete eine w^esentliche Basis fiir die inzw^ischen vollzogene partielle Neuordnung des Finanzausgleichs. Vor dem Hintergrund der entstandenen Debatte um die tatsachliche und vermeintliche Einebnung foderaler Vielfalt durch die Unitarisierungstendenz, erhoben im Jahr 1998 die Geberlander Bayem, Baden-Wiirttemberg und Hessen vor dem Bundesverfassungsgericht Klage, nachdem eine Einigung mit den vom horizontalen Finanzausgleich begunstigten Landem nicht zu erzielen gevv^esen war. Dabei wurde u.a. die Nivelliemng und bisweilen LFbemivelliemng der Einkommensverhaltnisse zwischen den Landem moniert. Tatsachlich fuhrte das komplexe Finanzausgleichssystem, bestehend aus dem vorgelagerten Umsatzsteuerausgleich, dem Landerfmanzausgleich und dem vertikalen Ausgleich durch Mittel des Bundes, zu verzerrenden Effekten hinsichtlich der Finanzkraftreihenfolge der Lander. ^^ Infolge des Urteils vom 11. November 1999 des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG 1999) muBte der Finanzausgleich neu geregelt werden. Die entsprechenden rechtlichen Anpassungen erfolgten durch die Verabschiedung des sogenannten „MaBstabegesetzes" (MaBstG) am 13. Juli 2001 und Reformen am Finanzausgleichsgesetz (FAG), das in veranderter Form am 01. Januar 2005 in Kraft trat. Die Geberlander diirfen dementsprechend inzwischen einen groBeren Teil ihres uberdurchschnittlichen Steueraufkommens fur sich behalten. Die durchschnittliche Ab-
Zudem setzte das System bei alien Beteiligten auch bis zu einem gewissen Grad falsche Anreize: Denn auf der einen Seite zahlte sich Sparsamkeit bei den offentlichen Ausgaben fur die armen Lander insofem nicht aus, als sie im Gegenzug dafur Mittel aus dem Finanzausgleich einbuBten. Auf der anderen Seite war eine effektive Haushaltswirtschaft fur die reichen Lander wenig attraktiv, da zusatzliche Einnahmen uberdurchschnittlich stark abgeschopft wurden und in den Finanzausgleich zugunsten der fmanzschwacheren Bundeslander flossen.
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schopfiing der „lJberschusse" der Geberlander wurde auf 72,5% begrenzt, was einen groBeren Anreiz ftir erfolgreiches Wirtschaften bieten soll.^^ Abbildung 1:
Horizontaler Finanzausgleich in Deutschland: Geber- und Nehmerlander im Jahr 2004 (in 1000 Euro)
Quelle: Eigene Darstellung, Daten: Bundesministerium der Finanzen 2005a. Unabhangig von der Richtigkeit einzelner Korrekturen am Finanzausgleich, zeigt die Entwicklung, daB der Verteilungskampf zwischen den Landem scharfer geworden ist. Die offentliche Finanzkrise als Ergebnis der okonomischen Schwierigkeiten Deutschlands und einer angebotstheoretisch geleiteten Steuersenkungspolitik fur Untemehmen und Spitzenverdiener schlagt sich auch auf die bundesstaatliche Ordnung und das Verhaltnis der Lander untereinander nieder. Die Verschuldung der Landerhaushalte infolge geringerer Steuereinnahmen bei steigenden Ausgaben hat in den letzten Jahren dramatisch zugenommen, auch in den wirtschaftsstarksten Landem (vgl. Abb. 2). Die Bereitschaft zum Teilen sinkt angesichts dessen eher als daB sie zunehmen wiirde. Die von den ostdeutschen Landem wiederholt geforderte und inzwischen durchgesetzte Aufnahme der finanziellen Garantien, die im Jahr 2001 im sogenannten „Solidarpakt 11" festgehalten wurden - und den Konsens zur Neufassung des Finanzausgleichs iiberhaupt erst moglich gemacht hatten - in das
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AuBerdem wird der Finanzausgleich insofem anreizfreundlicher (im Sinne einer Belohnung von wirtschaftspolitischem Erfolg und Haushaltsdisziplin), als ein Pramienmodell eingefuhrt wurde, wonach 12% der Steuereinnahmen auf Landesebene, die iiber dem Landerdurchschnitt liegen, im Landerfmanzausgleich grundsatzlich unberiicksichtigt bleiben. Das System des Finanzausgleichs in Deutschland ist durch das MaBstG und die Reform des FAG jedoch weder einfacher noch fur den Burger durchschaubarer geworden. Im Gegenteil: Mit den Anspruchen fur „dunn besiedelte Regionen" wurde sogar eine neue Bedarfskategorie hinzugefugt.
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Grundgesetz (Art. 143c, Abs. 3), ist Ausdruck des MiBtrauens der ostdeutschen Ministerprasidenten gegenuber ihren WestkoUegen und deren dauerhafter Solidaritat. Abbildung 2:
Schulden der deutschen Lander (aus Kreditmarktmitteln) pro Einwohner am 31.03.2005 in Euro
Quelle: Eigene Darstellung, Daten: Bundesministerium der Finanzen 2005b. Hinter den in Teilen durchaus berechtigten Reformforderungen und den tatsachlich zu korrigierenden Fehlentwicklungen des deutschen Foderalmodells steckt weit mehr als nur der Versuch, das Regierungssystem effizienter und transparenter zu gestalten oder ihm groBere Legitimitat zu verleihen. Die gesellschaftlichen Akteure, insbesondere die Wirtschaftsverbande, haben die „fbderale Frage" seit Mitte der 1990er Jahre als wichtiges Feld zur Durchsetzung ihrer Interessen erkannt. Der an der Homogenitat und damit am Gleichheitsideal orientierte soziale Bundesstaat ist kostspielig. „Weniger Staat" heiBt deshalb aus Sicht der groBen Wirtschaftsverbande in der Konsequenz: „mehr Foderalismus". Dahinter wiederum verbirgt sich die vieldeutige Maxime von „mehr Freiheit", die zu „wagen" Bundeskanzlerin Angela Merkel gar zur Leitidee ihrer Amtszeit gemacht hat (Regierungserklarung vom 30.11.2005) und sich auch im neuen CDU-Motto wiederfmdet: „Neue Gerechtigkeit durch mehr Freiheit". GroBere Freiheit (im klassisch liberalen Sinne) und territoriale Vielfalt aber bedeuten zwangslaufig ein groBeres MaB an Ungleichheit der Lebensverhaltnisse in den Landem, wenn nicht gleichzeitig das Umverteilungsvolumen erhoht wird. Das Festhalten an gleichwertigen Lebensbedingungen bzw. die enge Interpretation der entsprechenden Artikel des Grundgesetzes verhindert bislang die von neoliberalen Kraften angestrebte sogenannte „neue soziale Marktwirtschaft", hinter der sich meist nichts anderes verbirgt als die Individualisierung von Lebensrisiken und eine gesellschaftliche Entsolidarisierung. Der Sozialstaat in Deutschland ist auch und gerade im Foderalismus bisheriger Auspragung verankert. Deshalb ist die bestehende foderale Ordnung Angriffsziel marktradikaler Ideologen. Au-
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Berdem sehen viele Neoliberale im Bundesrat einen unangenehmen Veto-Spieler, der nur Hindemis fur einen konsequenten Reformkurs in ihrem Sinne ist. Das von der CDUVorsitzenden Angela Merkel im Bundestagswahlkampf 2005 ausgegebene Motto des „Durchregierens" fand nicht zufallig groBen Anklang bei den groBen Wirtschaftsverbanden. Das offentlich geauBerte, sattsam bekannte Argument jedoch ist ein anderes: Es gehe um mehr Wettbewerb, denn mehr Wettbewerb verbessere die Leistungsfahigkeit der staatlichen Institutionen und komme damit volkswirtschaftlich betrachtet letzten Endes alien zugute. Im Zuge der fortschreitenden Globalisierung hat der Wettbewerbsgedanke in alien Bereichen von Okonomie, Gesellschaft und Politik die Oberhand gewonnen hat. Seine Anwendung auf die Staatsorganisation in Gestalt von Verfassungskorrekturen, welche die Konkurrenz zwischen den Landem befordem sollen, ist deshalb nicht verwunderlich. Die Ubertragung des Wettbewerbs als Ordnungsprinzip aus der Okonomie entspringt dem Grundgedanken, daB Wettbewerb generell zu besseren Problemlosungen beitrage, zu mehr Innovation und Effizienz fiihre. Dieser Transfer auf institutionelle Strukturen des Bundesstaates ist jedoch nur bedingt moglich und an zahlreiche Voraussetzungen gebunden, auf die noch einzugehen sein wird (vgl. Abschnitt 3). Im iibrigen handelt es sich dabei um nichts Neues, sondem um eine traditionelle Linie der Foderalismustheorie, die in den letzten Jahren lediglich wieder vermehrten Zulauf erfahren hat, nicht nur in Deutschland. Es ist jedoch weniger der „fehlende Anreiz" zu effizientem Wirtschaften aufgrund hoher finanzieller Abschopfung durch den Landerfinanzausgleich als vielmehr die weltweite okonomische Standortkonkurrenz, die nach dem Wegfall des nationalstaatlichen Schutzschildes durch Internationale Freihandelsabkommen auf die Lander und Regionen enormen Druck ausubt und sie dazu veranlaBt, institutionelle und konstitutionelle Strukturveranderungen zu fordem, die ihnen groBere Handlungsspielraume verschaffen. Obzwar insgesamt eine „wachsende Politisierung des subnationalen territorialen Bezugsrahmens" (von Bredow 2001: 56) zu konstatieren ist, ist auffallig, daB die treibenden Krafte in erster Linie die wohlhabenden, wirtschaftsstarken Lander und Regionen sind. Dabei versuchen nicht wenige, „(...) sich aus traditionellen nationalen Solidaritatsverbanden zu losen, weil sie meinen, ohne die Verpflichtungen der Reziprozitat innerhalb einer Nation dem Aquivalenzprinzip auf dem Weltmarkt besser geniigen und daher konkurrenzfahiger sein zu konnen" (Altvater 1995: 196). Die Uminterpretation und Reduzierung des foderalen Solidaritatsprinzips als „Hilfe zur Selbsthilfe" und die Betonung des - an sich positiven - Subsidiaritatsprinzips ist in diesem Zusammenhang Teil der Diskursstrategien seit Ende der 1990er Jahre. Die okonomische Relevanz des Raums hat im Zuge der Liberalisierung des Welthandels und der Schaffimg des EG-Binnenmarktes eher zu- als abgenommen, wobei die allenthalben wachsende Eigenstandigkeit der Lander und Regionen eines der derzeit relevantesten Phanomene in Europa ist (Caciagli 2006). Territorium und Raum sind auf dieser Ebene zu einer erheblichen Ressource politischer Mobilisierung geworden. Der eingeforderte „Wettbewerb" ist langst Realitat. Die Zunahme regionaler Autonomic in den europaischen Staaten ist in wesentlichen Teilen ein Ergebnis der Suche nach Modemisierungswegen im Sinne groBerer politischer Responsivitat auf die sich stellende Herausforderung, bei wachsendem Standortwettbewerb Wachstum generieren zu miissen. Die Lander und Regionen werden immer mehr vom Objekt zum Subjekt okonomischer Veranderung und Entwicklung. Die Krise zentralstaatlicher Verwaltungsmodelle und Entwicklungskonzepte, wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet hatten, ist eine wesentliche Ursache hierfiir (Keating 2003). Makrookonomische Steuerungspotentiale und Verteilungsspielraume
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der Nationalstaaten schwinden, wahrend zugleich auch die lokale Wirtschaftspolitik immer haufiger an ihre Grenzen stoBt. Vielfach ist die lokale Ebene im Rahmen einer fortschreitenden regionalen Clusterbildung zu kleinraumig fur effektive Stmkturpolitik, Innovationsregime und Technologiefbrderung. Die Kommunen befinden sich dabei in dem Dilemma, vor dem Hintergrund defizitarer Haushaltslagen hart gegeneinander um Investitionen konkurrieren zu miissen, andererseits aber auch zur Kooperation gezwungen zu sein, gerade weil inzwischen ein regelrechter Wettbewerb der regionalen Systeme im nationalen und intemationalen MaBstab entstanden ist. Regionale Systembildung im Sinne der Schaffung einer mit einem koharenten Entwicklungsprogramm versehenen koUektiven Handlungseinheit ist eine der groBten Herausforderungen fur subnationale bzw. substaatliche Politik und Governance (Schmitt-Egner 2005). Doch damit nicht genug: Hinzu tritt in immer starkerem MaBe das Problem des demographischen Wandels, das u.a. zu territorialen Verwerfungen fiihrt, deren Bewaltigung gerade der regionalen und kommunalen Ebene zufallt. Denn wahrend in den Ballungszentren und sogenannten „Leuchttumiregionen" durch Polarisationseffekte versucht wird, wirtschaftliches Wachstum anzukurbeln, verfallen in den Peripherien infolge ausbleibender Investitionen, aufgrund von Abwanderung und drastischem Geburtenruckgang iiberall die Infrastrukturen, was dann haufig in eine Abwartsspirale miindet. In Deutschland ist dies nicht mehr nur ein auf den Osten beschranktes Problem, sondem eines, das die gesamte Republik erfaBt hat, wobei das Saarland, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommem schon jetzt besonders stark betroffen sind. Die Migration in den reichen Siiden Deutschlands ist ungebrochen. Manche Stadte und Regionen, insbesondere im Osten Deutschlands, haben innerhalb der letzten drei Jahrzehnte bereits zwischen 30% und 50% ihrer Einwohner verloren. Um angesichts der genannten vielfaltigen Herausforderungen im Wettbewerb der regionalen Systeme moglichst gut bestehen zu konnen, sind groBere Regelungs- und Steuerungskompetenzen - d.h. Finanzhoheit sowie Gesetzgebungs- und Verwaltungsbefiignisse in den Bereichen Stmkturpolitik, Forschung, Technologic, Arbeitsmarkt und Beschaftigung - fur die subnationale Ebene nahezu iiberall in Europa unerlaBlich und werden auch dementsprechend massiv von den politischen Akteuren der Lander, Regionen, Kantone, autonomen Gemeinschaften usw. eingefordert. Vor allem aus diesem Grunde schreiten Dezentralisierung und Regionalisierung europaweit voran und der Foderalismus erlebt eine neue Blute. Ebenfalls nicht zufallig durchlaufen seit Anfang der 1990er Jahre fast alle westlichen Bundesstaaten umfangreiche Reformprozesse im Sinne groBerer Autonomic der gliedstaatlichen Einheiten und vermehrten Wettbewerbs zwischen ihnen, seien es nun die Schweiz, Kanada, die USA oder Australien. Nachdem die Expansion des Wohlfahrtsstaates in den 1960er und 70er Jahren iiberall zentripetal gewirkt hat, fuhrt der territoriale Wettbewerb um Ressourcen jedweder Art in vielen Staaten nun zu mehr Konflikten, mehr Differenz und in der Folge nicht selten auch zu mehr Ungleichheit. In Italien oder Belgien etwa wurde bzw. wird infolge manifester Dissoziationsprozesse sogar der Nationalstaat als solcher in Frage gestellt (Berge/Grasse 2003 u. 2004; Grasse 2005). Es sind nicht allein systemische Fehlentwicklungen des Foderalismus in Deutschland, sondem vor allem die im Vergleich zu den 1960er, 70er und 80er Jahren heute vollkommen anderen auBeren Rahmenbedingungen, namlich geringes Wirtschaftswachstum, geringe Verteilungsspielraume und die Hegemonic der Angebotspolitik, die zur Akzeptanz von territorialen Unterschieden treiben, wobei jedoch das positiv besetzte Leitbild von der „Vielfalt" benutzt wird. Kritik am bis Ende der 1980er Jahre erfolgreichen Modell des
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kooperativen Foderalismus entsteht deshalb, well der okonomische Erfolg, der die Ressourcen ftir eine reibungslose Konsensbildung im System der Politikverflechtung zur Verftigung stellte, nicht mehr im notwendigen Umfang da ist, nachdem die Wachstumsraten kontinuierlich gefallen sind: Lagen diese in fruheren Jahrzehnten im Durchschnitt noch bei 8,3% (1950er Jahre), 4,3% (1960er), 2,8% (1970er) und 2,3% (1980er), so betrug die durchschnittliche jahrliche Wachstumsrate in Deutschland im Zeitraum 1994-2004 nur noch 1,4% des Bruttoinlandproduktes. Im Jahr 2005 wurden lediglich 0,9% erreicht und flir das laufende Jahr 2006 prognostizieren die OECD wie auch die Europaische Kommission ein Wachstum von maximal 1,8% bzw. 1,7% des BIP, wobei flir 2007 bereits ein emeuter Ruckgang auf 1% erwartet wird. Neben den damit verbundenen Steuermindereinnahmen sind es die Folgekosten der Massenarbeitslosigkeit in Hohe von 75 bis 100 Mrd. Euro jahrlich, die Bund und Lander in Fesseln legen und dringend notwendige offentliche Investitionen verhindem. An die Stelle des Pareto-Optimums, bei dem alle Verhandlungspartner profitieren, ist im deutschen Foderalismus ein Spiel mit Gewinnem und Verlierem getreten. Dem Bund kommt die Entflechtung ebenfalls recht, denn angesichts immenser Haushaltsprobleme wittert er die Chance, sich im Gefolge einer Starkung der Landerautonomie moglicherweise von Kosten zu befreien. Mit anderen Worten: Die Kritik am Modell des kooperativen Foderalismus ist logische Folge der gleichen Interessenpolitik der Akteure, die sie in Zeiten groBer Verteilungsspielraume dazu veranlaBte, sich fur Strukturen der Politikverflechtung stark zu machen (Sturm 1999: 87ff.). Hinzu kommt, daB im Zuge des Vormarsches neoliberaler Ideologic das Gleichheitsideal in den vergangenen 15 Jahren fraglos erheblich an EinfluB eingebiiBt hat. Ziel ist der Vollzug des Paradigmenwechsels vom vermeintlichen oder tatsachlichen tJbermaB an Konsens zu mehr Konkurrenz, vom vermeintlichen oder tatsachlichen UbermaB an Einheitlichkeit zu mehr Differenz und damit schlieBlich auch zu groBerer Ungleichheit. Die Foderalismusdebatte spiegelt insofem auch einen ProzeB (versuchten) gesellschaftlichen Wertewandels wider. Dies spielt neben den verfassungsmaBigen Fragen eine wichtige, vielfach zu wenig in den Blick genommene Rolle. Deutschland ist hier kein Einzelfall, sondem vielmehr Teil eines Trends wachsender innergesellschaftlicher Verteilungs- und Wertekonflikte, die zunehmend (auch) territorial ausgetragen werden. Doch lassen sich „mehr Foderalismus" und zunehmende Ungleichheit im deutschen Bundesstaat tatsachlich rechtfertigen? Bis zu welchem Grad und unter welchen Voraussetzungen? Hierauf soil der folgende Abschnitt Antworten geben. 3
Territoriale Ungleichheit und Gerechtigkeit im Foderalismus
Nach der klassischen Foderalismustheorie sorgt das federative Prinzip innerhalb eines bestimmten geographischen Raums fur die Vermittlung zwischen gegensatzlichen gesellschaftlichen Zielvorstellungen entlang eines bipolaren Kontinuums: zwischen zentripetalen Kraften, die auf Integration und Gleichheit zielen, einerseits und zentrifiigalen Kraften, die auf Eigenstandigkeit und Differenz gerichtet sind, andererseits. Die unterschiedlichen Erscheinungsformen fbderativer Systeme sind Folge gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse daruber, ob dem Moment der Einheit oder der Vielfalt groBere Bedeutung beigemessen wird. Alle foderalen Systeme sind folglich qua ihrer Natur dynamische Gebilde von Mehrebenenpolitik, in denen sich das Krafteverhaltnis zwischen Bund und Gliedstaaten wie auch
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zwischen den Gliedstaaten in der politischen Praxis, d.h. vor dem Hintergrund sich wandelnder innen- und auBenpolitischer Bedingungen, standig neu austariert. BeeinfluBt wird dieser ProzeB von Regierungen, Parlamenten, dem Verfassungsgericht und den Parteien, aber auch von Akteuren aus Wirtschaft und Gesellschaft und dem offentlich in den Medien hieriiber gefiihrten Diskurs, wobei die politische Kultur eines Landes und Pfadabhangigkeiten eine nicht zu unterschatzende Rolle spielen (Lehmbruch 2000). Insofem sind Veranderungen am Gleichgewicht von Einheit und Vielfalt zunachst einmal etwas vollig Normales.'^ Kommen wir zum nachsten Punkt, der Frage von Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Die so schone und zugleich abgegriffene Formel vom Foderalismus als dialektischer Auflosung des Spannungsverhaltnisses von „Einheit und Vielfalt" ist in der Praxis meist nur schwer zu realisieren. Gleichheit wird zu Lasten von Pluralitat hergestellt, umgekehrt geht Vielfalt zu Lasten der Einheitlichkeit. Wird also der Vielfalt der Vorzug gegeben, sinkt damit auch das MaB an kollektiv-territorialer Gleichheit. Ein gewisses MaB an Ungleichheit materieller und immaterieller Art ist aber Wesensbestandteil des Foderalismus. Insofem gilt hier nur eingeschrankt die Annahme von Gleichheit als Gerechtigkeit. Nicht allein, aber vor allem die Verschiedenheit zwischen den Gliedstaaten und der sie jeweils konstituierenden Gesellschaften begriindet ja iiberhaupt erst die Schaffung der foderalen Staatsordnung anstelle einer unitarisch-zentralistischen. Mehr noch: Mit der substaatlichen Teilsouveranitat sind Gesetzgebungskompetenzen verbunden, die wiederum im Zusammenspiel mit unterschiedlichen wirtschaftlichen und geographischen Gegebenheiten zwangslaufig zu materiellen Unterschieden flihren. Federative Systeme ermoglichen bzw. verlangen per defmitionem die Anwendung einer Politik der Differenz, namlich der Differenz im Raum. Grundannahme des Foderalismus ist ja gerade nicht allein der Gesellschaftsvertrag gleicher Individuen, sondem in Erganzung auch das Bundnis von unterschiedlichen Teilgesellschaften mit unterschiedlicher politisch-institutioneller Vergangenheit und entsprechend anderen Strukturen, Rechten und Traditionen, deren Vemeinung oder Beschneidung undemokratisch, deren Verallgemeinerung bzw. Ausdehnung auf das gesamte Staatsgebiet jedoch aufgrund anderer Kontexte entweder nicht gewiinscht, unnotig oder gar unzweckmaBig ware. Die Verschiedenheit schafft also immer eine gewisse Ungleichheit, sie ist Definiens fbderaler Staatsgebilde. Allerdings: Die Griinde far die Staatsbildung per fSderale Ordnung sind von Staat zu Staat sehr verschieden, da das federative Prinzip nur ein allgemeines ist und seine konkrete politische Ausgestaltung fallspezifisch erfolgt. Je nachdem, wie diese Griinde gelagert sind, bestimmt sich auch das „richtige" MaB an territorial gerechter bzw. gerechtfertigter Ungleichheit. Im wesentlichen gibt es drei groBe Begrundungszusammenhange fur foderale Ordnungen: (1) okonomische, (2) ethisch-kulturelle und (3) demokratietheoretische.^"* Sehen wir uns dies fiir den Fall Deutschlands deshalb naher an: (1) Eine zentrale, im letzten Jahrzehnt vielerorts wiederentdeckte Linie der Foderalismustheorie sieht den Foderalismus als Labor fur Wachstum und Entwicklung infolge der strukturellen Ermoglichung des territorialen Ideen-Wettbewerbs. Fiir das damit angestrebte „Lemen am Modell" gibt es jedoch erhebliche Grenzen, denn regionale Konfigurationen Kanada steht hier als Landerbeispiel fiir eine Entwicklung vom unitarischen zum konfoderalen Bundesstaat, Deutschland hingegen stand bislang exemplarisch fiir eine Unitarisierung des foderalen Systems. 14
Vgl. hierzu auch Berge/Grasse 2003: 76-101.
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und Entwicklungsmodelle lassen sich bekanntermaBen nicht beliebig ubertragen. Sozialregulative wie auch territoriale Unterschiede in der Wirtschaftsstruktur verhindem nicht selten das Kopieren sogenannter best practices. Unabhangig davon uberwiegt in der (aktuellen) politischen Debatte ohnehin meist ein anderer Argumentationsstrang aus dem Bereich der okonomischen Theorie des Foderalismus. Gemeint ist die These, daB weniger Transfer und mehr „FiskalfbderaUsmus" die fmanzpolitische Eigenverantwortung starke (Stichwort: Haushaltsdisziplin) und vor allem grofiere Anreiz- sowie Leistungsorientierung bedeute, was wiederum ein hoheres MaB an Gerechtigkeit mit sich bringe. Diese sogenannte „Aiireiz-These" ist allerdings umstritten und zumindest in ihrer Bedeutung zweifelhaft. Selbst dem Wirtschaftsliberalismus zuzuordnende Wissenschaftler ziehen die Plausibilitat des Wettbewerbs zwischen Gebietskorperschaften in Zweifel, wie etwa der Chef des Miinchner Instituts fur Wirtschaftsforschung Ifo, der vor einigen Jahren hierzu kommentierte: „Wenn der Staat dort aktiv wird, wo der Markt versagt, dann kann man nicht hoffen, daB eine Wiedereinfuhrung des Marktes durch die Hintertur des staatlichen Wettbewerbs Gutes verspricht" (Sinn 1997: 10). Noch schwerer wiegt die Tatsache, daB die Beseitigung der Probleme strukturschwacher Lander und Regionen schon unter guten fmanziellen Bedingungen, d.h. bei erheblichen Transfers, eine auBerst schwierige Aufgabe ist, die nur begrenzt gelingt. So vermochte in Deutschland einzig Bayem seit 1949 von den Nehmer- zu den Geberlandem zu avancieren, und die Unterschiede in der Wirtschaftskraft zwischen den Landem unterliegen seit Jahrzehnten keiner nennenswerten Veranderung. Um kein MiBverstandnis aufkommen zu lassen: Dezentrale Politik und die Entwicklung neuer, eigenstandiger Entwicklungskonzepte der Lander sind zwingend! Die regionale Dimension von Demokratie und Entwicklung ist von groBer Bedeutung (EiBel/Grasse 2006). Allerdings ist mehr als zweifelhaft, ob die Verringerung der Transfers hierfur der richtige Weg ist. Selbst wenn, dann diirfte es nur sehr wenigen von ihnen gelingen, sich im nationalen und intemationalen Regionalwettbewerb zu behaupten. Gleichwie: Ein Mehr an wirtschaftlicher und fiskalpolitischer Gestaltungsfreiheit flihrt in jedem Falle zur Zunahme der regionalen Disparitaten, wodurch automatisch ein groBerer UmverteilungsprozeB notwendig wird. Genau dieser aber wird immer mehr in Frage gestellt. Im Finanzausgleichssystem spiegelt sich das „btindische Prinzip" (lat. foedus = Bund) und mit ihm der Solidargedanke wider. Damit sind wir beim zweiten Punkt. (2) Gravierende territoriale Unterschiede im Kultusbereich lassen sich letztlich nur durch gravierende kulturelle Differenz rechtfertigen. Tatsachlich aber wird, trotz der Zunahme regionaler Vielfalt in Deutschland infolge der Wiedervereinigung und trotz der Wiederentdeckung der regionalen Identitaten hierzulande, niemand emsthaft behaupten konnen, die weitere Dezentralisierung des Bildungssektors, insbesondere die Starkung der hochschulpolitischen Entscheidungskompetenz der Lander sei notwendig, weil die kulturellen Differenzen in Deutschland dies erforderten. Aufgrund der gegebenen ausgeglichenen Gesellschaftsstruktur sticht das derzeit in der politischen Praxis des Foderalismus weltweit wichtigste Argument fur Deutschland gerade nicht - namlich Foderalisierung als eine Form der „Politik der Anerkennung" (Taylor 1993; Walzer 1992) wirken zu lassen in Fallen stark ausgepragter territorialer Identitaten, gewachsener gesellschaftlich-kultureller Differenz und zentrifugaler Krafte, so wie man es z.B. in Spanien, Italien oder Belgien beobachten kann. Dort ist die Toleranz der Unterschiede sogar in Gestalt unterschiedlicher Kompetenzniveaus der subnationalen Einheiten sichtbar und stellt den Versuch dar, Antworten auf das Spannungsverhaltnis von individuellen und 141
Spannungsverhaltnis von individuellen und kollektiven Rechten zu geben. Solche Asymmetrien de jure sind eine Form der positiven Diskriminierung, woraus sich wiederum die Zulassigkeit von erheblicher Ungleichheit begriindet.^^ Niemand kame jedoch auf die Idee, ftir einzelne Lander in Deutschland aufgrund ihrer sozialen und kulturellen Andersartigkeit besondere Kompetenzen zu fordem. Nichtsdestotrotz gibt es eine gewisse Verschiedenheit zwischen ihnen, der Rechnung zu tragen ist. Diese Verschiedenheit mufi erfahrbar sein und bleiben, d.h. sich in der Lebenswirklichkeit der Menschen niederschlagen. Andemfalls wiirde dies, zumindest von einem Teil der Bevolkerung bestimmter Regionen, als ungerecht empfiinden werden. SchlieBlich verhindert ja gerade die Verschiedenheit das Verschmelzen im Einheitsstaat.^^ Das bedeutet jedoch nicht notwendigerweise materielle Ungleichheit. (3) Das dritte Argument flir eine VergroBerung subnationaler Entscheidungskompetenz liegt in der qualitativen Verbesserung der Demokratie. Wenngleich das urspriinglich flir die Errichtung der foderalen Ordnung in Deutschland entscheidende Moment, namlich die Verhinderung von Machtzusammenballung im politischen Zentrum durch vertikale Gewaltenteilung, an Bedeutung verloren hat, hat das multizentrische Regieren gleichwohl positive demokratische Wirkungen. Die im Juli 2006 vollzogene Grundgesetzreform zur Entflechtung der Kompetenzen ist deshalb grundsatzlich positiv zu bewerten - ungeachtet einer Vielzahl diskussionswiirdiger Punkte auch und gerade mit Blick auf die Fragen von Funktionalitat und ZweckmaBigkeit. Die Starkung der legislativen Gewalt des Bundestages einerseits und der Landerparlamente andererseits diirften nicht nur zu groBerer Effizienz und Durchsetzungsfahigkeit politischer Entscheidungen flihren, sondem auch zu mehr Transparenz von Verantwortlichkeiten und einem Zuwachs an Legitimation von Akteuren und Institutionen in Deutschland.^^ Insbesondere die - im Zuge der europaischen Einigung zusatzlich - entmachteten Landerparlamente konnten tatsachlich ein Stiick Gestaltungsund Entscheidungsspielraum, der mehr als drei Jahrzehnte in den Handen der „Landesfiirsten" im Bundesrat lag, zuruckerhalten. Tatsachlich beinhaltet die Foderalismusreform eine Reihe von positiven Elementen. Hierzu gehoren u.a. die groBere Entscheidungskompetenz der Lander in der Verwaltung, im Wohnungswesen, in der Landwirtschaft, bei Messen, Ausstellungen und Markten sowie Spielhallen, beim Versammlungsrecht, beim LadenschluB- und Gaststattenrecht, beim Presserecht, beim Beamtenrecht u.a.m.^^ Dagegen stellt Zur Frage der Vor- und Nachteile von Asymmetrien in foderalen Staaten sowie zu den Grenzen asymmetrischer Strukturen de jure und de facto vgl. ausfuhrlich Agranoff 1999. Daran andert in Deutschland auch die Tatsache nichts, daB der Foderalismus nach dem Zweiten Weltkrieg von den Alliierten in erster Linie aus Grunden der vertikalen Gewaltenteilung im Sinne einer Erweiterung von checks and balances gefordert wurde. 17
Unter dem Aspekt einer klaren Kompetenzordnung im Mehrebenensystem sind auch die neuen Regelungen des Art. 84, Abs. 1, Satz 6 und des Art. 85, Abs. 1 zu begriifien, wonach der Bund keine Aufgaben mehr unmittelbar an die Gemeinden und Gemeindeverbande ubertragen darf, sondem sich allein an die Lander zu halten hat. 18
BegruBenswert im Sinne einer Entflechtung von Bund und Landem ist zudem die Uberfuhrung zahlreicher Bereiche in die Alleinzustandigkeit des Bundes, wie z.B. Atomenergie, Waffen- und Sprengstoffrecht, Melde- und Ausweiswesen und Terrorismusbekampfiing. Die Neuregelungen des Art. 23 GG, Abs. 6, Satz 1 schlieBlich diirften im Bereich der Europapolitik ebenfalls groBere Klarheit hinsichtlich der Verantwortlichkeiten schaffen (die Lander vertreten Deutschland auf europaischer Ebene immer dann, wenn im Schwerpunkt ihre ausschlieBliche Legislativkompetenz bei der schulischen Bildung, der Kulturpolitik oder dem Rundfiink betroffen ist). Im Sinne groBerer Effizienz positiv zu bewerten ist auBerdem der Wegfall der „Erforderlichkeitsklausel" fur bundeseinheit-
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sich mit Nachdruck die Frage, ob Bildung und Umwelt die geeigneten Politikfelder fiir „mehr regionale Vielfalt" und eine nahezu vollkommene Autonomie der Lander sind. Genau das aber wird durch die Abschaffung der bisherigen Rahmengesetzgebung des Bundes (gemaB Art. 75, Abs. 1 GG) und ihre teilweise Uberftihrung in die sogenannte „Abweichungsgesetzgebung" der konkurrierenden Bund-Lander-Kompetenzen (Neufassung von Art. 74, Abs. 1 und Art. 72, Abs. 3) in Kurze Realitat.^^ 4
Foderalismusreform - eine Frage von Politikfeldern und Verteilungsgarantien (Fazit)
Aus der im vorangegangenen untemommenen Betrachtung der moglichen Begriindungen ftir „mehr Foderalismus" in Deutschland ergibt sich ein gemischtes Bild: demokratietheoretisch positiv, ethisch-kulturell unnotig bis problematisch und okonomisch zwiespaltig. Theoretisch ist der Zielkonflikt zwischen Einheit und Vielfalt, der im Foderalismus per defmitionem besteht und als eine Komponente auch den Konflikt zwischen Gleichheit und Ungleichheit impliziert, noch verhaltnismaBig leicht aufzulosen, wenn man differenziert mit dem Gleichheitspostulat umgeht und zwischen „absoluter Gleichheit" und „Chancengleichheit" der Gliedstaaten und ihrer jeweiligen Bevolkerungen unterscheidet. Der gesamtgesellschaftliche AushandlungsprozeB hieriiber ist jedoch schwierig und ein Konsens tiber das zulassige bzw. notwendige MaB an „Ungleichheit" in der Praxis meist nur schwer zu erreichen. In jedem Falle aber riickt die Gerechtigkeitsfrage damit in die Nahe der Betrachtung von „Gerechtigkeit als Fairness" (Rawls 1994). Daraus entsteht zumindest die Verpflichtung des Bundes zur Schaffung der hierzu notwendigen Rahmenbedingungen im Sinne von Verfahren und moglichst gleichen Startbedingungen der Lander und ihrer jeweiligen Bevolkerungen. Der Foderalismus kann jedoch nicht vollkommen zur Deckung gebracht werden mit der Konzeption von Gerechtigkeit als Fairness, da Foderalismus sich nicht auf liberalen Prozeduralismus reduzieren laBt, sondem trotz allem stets eine normative Komponente hat, und zwar in Gestalt eines notwendigen Konsenses iiber gemeinsame Werte und solidarisches Fureinander-Einstehen der Gliedstaaten - als Reprasentanten der unterschiedlichen territorialen Teilgesellschaften bzw. „Gemeinschaften". Das „bundische Prinzip" bildet die fraternite unmittelbar ab und ermoglicht ja die Vermittlung zwischen Vielfalt und Einheit(lichkeit) bzw. Freiheit und Gleichheit im Raum uberhaupt erst. Das bedeutet jedoch, daB territoriale Unterschiede und materielle Ungleichheit nicht zu groB werden durfen. Gerade in Deutschland sind die Grenzen dessen aufgrund der erwahnten gesellschaftlichkulturellen Homogenitat sehr eng zu setzen. Nach Jahrzehnten der Unitarisierung sind wir mit der Betonung des Moments der Differenz Zeugen eines Paradigmenwechsels, der durchaus ambivalent zu bewerten ist. So positiv die zentripetale Entwicklung bis Ende der 1980er Jahre hinsichtlich groBerer Verteiliche Regelungen (gemafi Art. 72, Abs. 2 GG) in vielen Bereichen der konkurrierenden Gesetzgebung von Bund und Landem. 19
Im Bereich des Altrechtes nach Art. 84, Abs. 1 besitzen die Lander ebenfalls eine Abweichungsbefugnis. Von Regelungen des Verwaltungsverfahrens ist die Abweichung seitens der Lander noch bis Ende 2008 moglich, sofem der Bund hier nach Inkrafttreten der Grundgesetzanderungen Vorschriften andert. Im Umweltbereich verbleiben dem Bundesgesetzgeber lediglich die „allgemeinen Grundsatze des Naturschutzes, das Recht des Artenschutzes und des Meeresnaturschutzes" (die sogenannten „abweichungsfesten Kerne").
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lungsgerechtigkeit war, gab es dabei auch negative Aspekte, denn durch die schleichende Zentralisierung ging die demokratiestarkende Komponente des Foderalismus in Gestalt von Aufgaben- und Gewaltenteilung und politischem Pluralismus in der Flache ein Stiick weit verloren, wurden die okonomisch innovativen Elemente des Foderalismus eingebiiBt. Umgekehrt stellt sich derzeit bei der Entwicklung bin zum sogenannten KonkurrenzFoderalismus die Frage, was ein moglicher Demokratiegewinn nutzt, wenn das Ideal der sozialen Gerechtigkeit damit einhergehend in den Hintergrund gedrangt wird bzw. die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht. Die Frage territorialer Selbstbestimmung ist deshalb vor allem auch eine Frage unterschiedlicher Politikfelder: Wirtschaft, Technologic, Arbeitsmarkt und Beschaftigung sprechen fur Dezentralisierung, um Entwicklung voranzutreiben. Umwelt und Soziales aber sprechen fiir die Beibehaltung zentraler Regelungen in Form von nationalen Mindeststandards und einer entsprechenden Rahmengesetzgebung des Bundes, um zu verhindem, daB sich die Lander hier gegenseitig unterbieten bzw. die Ungleichheiten zu groB werden. Der Bildungssektor, d.h. Schule und Hochschule, ist klar dem Bereich Soziales zuzuordnen, wenn es nicht um graduelle Unterschiede, sondem um die Sicherung von Chancengleichheit und Teilhabegerechtigkeit - die ja allerorten bereits an die Stelle der Verteilungsgerechtigkeit getreten zu sein scheint - geht. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund der u.a. in der Lissabon-Agenda der EU - angestrebten „Wissensgesellschaft", zumal statt ,,best practices'' im traditionell von den Landem dominierten Kultusbereich doch eher die Pflege und Zementierung gesellschafts- und bildungspolitischer Ideologien stattfindet, wofur die diametral entgegengesetzten Interpretationen der Ergebnisse der PISA-Studien beredtes Zeugnis sind. Unter dem Aspekt der sozialen, insbesondere der territorialen Gerechtigkeit ist der von den Landem im Bildungsbereich ertrotzte bundespolitische Riickzug (im Bereich der Schule vollstandig, im Hochschulwesen nahezu), als Gegenleistung fiir ihren Verzicht auf Mitbestimmungsrechte im Bundesrat, hochst problematisch, wenn gleichzeitig die Bereitschaft zum territorialen Ausgleich abnimmt und die Bildungsausgaben Deutschlands insgesamt im intemationalen Vergleich ohnedies unterdurchschnittlich sind, wie verschiedene Untersuchungen immer wieder zeigen (u.a. Schmidt 2004). Neueste Vergleichsstudien legen auBerdem offen, daB Deutschland mit der beschlossenen Alleinzustandigkeit der Lander im Bildungsbereich international zum Sonderfall wird, auch und gerade gegeniiber anderen foderalen Systemen, denn: „Selbst in Staaten mit Zustandigkeit der Bundesstaaten bzw. Kantone fur das Bildungs- und Erziehungswesen und starker Dezentralisierung (wie in Australien, Kanada, der Schweiz oder USA) wirkt die Zentralregierung im Bildungssektor substanziell mit, sei es im Wege von Richtlinien oder Programmen oder auch nur durch Mitfinanzierung bestimmter Aufgaben. Das Erziehungs- und Bildungswesen eignet sich offenbar nicht zu einer strikten Trennung von Bundesund Landeszustandigkeiten." (Schneider 2005: 100) Insofem sind die Proteste gegen die Foderalismusreform, wie sie von Teilen der Regierungskoalition, Biindnis90/Die Griinen, Linkspartei, Hochschulrektorenkonferenz, GEW, Bundeseltemrat, dem Lehrerverband VBE u.a. in unterschiedlicher Weise und Argumentation vorgebracht worden sind, in diesem Punkt durchaus berechtigt. Auch UNOSonderberichterstatter Vernon Munoz Villalobos, der im Februar 2006 das deutsche Bildungswesen unter die Lupe nahm, kritisierte die wachsenden Kompetenzen der Bundeslander im Bildungsbereich. „Der Bund verliert die Moglichkeit, die Einheit der Lebensverhalt144
nisse zu sichem", sagte Mufioz und gelangte aufgrund der zwischen den Landem bestehenden Bandbreite von 3.800 bis 6.300 Euro an jahrlichen Ausgaben pro Schuler/in zu dem Urteil, daB bereits unter den derzeit noch geltenden Verfassungsbestimmungen die regionalen Unterschiede zu groB seien. Wahrend einigen Lander schon heute das Geld fiir kostenlose Schulbiicher fehle, freuten sich andere iiber die im Prinzip eingefiihrte Alleinzustandigkeit fur die Hochschulen, weil sie iiber die hierfur notwendigen Mittel verfligen (Spiegel Online vom 21.02.2006). Selbst Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) raumte ein, daB fiir Schulen und Hochschulen nationale Ziele unverzichtbar seien (Bundesministerium fur Bildung und Forschung 2006). Unabhangig vom Bereich der Bildungspolitik gilt ganz grundsatzlich: Das Ringen um „bestm6gliche Losungen" zwischen den Landem ist so lange positiv, wie horizontale und vertikale Transfers funktionieren und nicht in Frage gestellt werden. Je starker dezentralisiert wird, desto groBer wird der Bedarf an Umverteilungspolitiken, da unterschiedliche endogene Potentiale und deren unterschiedliche Mobilisierung Ungleichgewichte in der Wirtschaftskraft zum Ergebnis haben oder bereits bestehende okonomische Disparitaten verscharfen. Die Unterschiede in der Wirtschaftskraft der Lander sind bereits heute betrachtlich (vgl. Abb. 3). Abbildung 3:
Unterschiedliche Wirtschaftskraft in Deutschland: Das Bruttoinlandprodukt der Lander je Einwohner im Jahr 2004 (in Euro)
Quelle: Eigene Darstellung, Daten: Arbeitskreis Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Lander 2005. Trotzdem sind Dezentralisierung und Differenzierung von Entwicklungspolitik in der gegenwartigen Phase unverzichtbar, um die derzeitigen konjunktur- und strukturpolitischen Probleme bewaltigen zu konnen und iiberhaupt ausreichendes Wachstum zu erzielen, das gesamtgesellschaftliche Verteilungsspielraume eroffnet. Umso wichtiger ist daher der Kon-
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sens uber die Notwendigkeit von Verteilung, die Verstandigung (iber das AusmaB territorialer Redistribution und iiber die Kriterien, die dabei zugrunde gelegt werden. Und umso wichtiger ist auch die Generierung von Solidaritat durch Staat und Gesellschaft und eine Debatte iiber substantielle Freiheit und soziale Gerechtigkeit! Wie gefahrlich die territorial Entsolidarisierung sein kann, zeigen u.a. die Beispiele Belgien und Italien. Materielle Gerechtigkeit bzw. materieller Ausgleich und Chancengleichheit innerhalb von foderalen Gesellschaflen lassen sich nur durch eine zentrale staatliche Gewalt herstellen. Nicht zuletzt deshalb spielte der ZentraHsmus in der Arbeiterbewegung und bei den Forderungen der politischen Linken immer eine wichtige Rolle.^^ Die jakobinische Tradition, in der der ZentraHsmus - neben machtpolitischen Motiven - stets auch als Instrument zur Verwirklichung des Gleichheitsgrundsatzes und als Mittel zur Uberwindung regionaler Benachteiligung diente, ganz iiber Bord zu werfen, ist deshalb hochst gefahrlich. „Dezentrale Strategien konnen sich nicht leichtfertig uber diese Forderung hinwegmogeln. Wer z.B. die Umverteilung des monetar vermittelten Sozialprodukts andem will, muB die Steuerund Sozialanspriiche insbesondere auf nationaler Ebene korrigieren (...)• Unbestritten ergibt sich aus der Sicht der Umverteilung unter Gerechtigkeits- und Gleichheitsanspruchen ein zentraler Handlungsbedarf. Gleiches gilt flir die Rechtsgleichheit als generelle Normierung der gesellschaftlichen Verkehrsverhaltnisse bzw. als formelle Gleichheit (...) Die Zielsetzung muB dabei sein: dezentral so weit wie moglich, zentral so weit wie notig." (EiBel 1986: 234f.) Bei alien moglichen positiven Effekten, insbesondere hinsichtlich einer „Qualitatsverbesserung" der deutschen foderalen Demokratie, miissen die negativen Konsequenzen einer dezentralisierenden Reform des Bundesstaates stets im Blick bleiben und es muB Klarheit iiber die tatsachlichen Ziele geschaffen werden, die hinter einer solchen Reform stehen. Es gilt stets zu vergegenwartigen: Das Interesse an den Reformen hat seinen Ursprung zum Teil auch in der neoliberalen Ideologic. Regionale Vielfalt ist nicht selten lediglich ein Legitimationsvehikel zur Durchsetzung des marktradikalen Konkurrenzideals. Sind wir also auf der Hut, denn ungeachtet der Vielzahl an willkommenen Effekten von „mehr Foderalismus" kann sich dahinter der Keim gewollter oder zumindest akzeptierter sozialer Ungleichheit verbergen. Aufmerksamkeit ist auch in einem anderen Punkt angebracht: Die Zunahme von (wahrgenommener) gesellschaftlich-kultureller Differenz ist haufig weniger Ursache als vielmehr Folge der nachlassenden Fahigkeit des Staates zur territorialen und sozialen Integration. Die Preisgabe des Ziels zumindest gleichwertiger Lebensverhaltnisse in Deutschland ware nicht nur eine weitere Bankrotterklarung der Politik im Zuge verfehlter Steuer- und Finanz- sowie Arbeitsmarktpolitik (EiBel 2004 u. 2005), sondem auch ein VerstoB gegen das Prinzip territorialer Gerechtigkeit. SchlieBlich muB noch eines klar sein: Mehr Wettbewerb bedeutet insbesondere die Gefahr einer emeuten Zunahme der Ungleichheiten zwischen Ost- und Westdeutschland. Im „Solidarpakt 11" ist ein Abschmelzen der jahrlichen Zuweisungen ab dem Jahr 2006 bis auf Null im Jahr 2020 vorgesehen.^^ Angesichts der derzeitigen Wirtschaftsentwicklung ist jedoch mehr als zweifelhaft, ob das gesteckte Ziel, die ostdeutschen Lander bis 2020 von 20
Vgl. zur Debatte um die Frage von ZentraHsmus und Dezentralisierung in der Arbeiterbewegung naher EiBel 1986.
21
Fur den gesamten Zeitraum erhalten die fiinf ostdeutschen Lander insgesamt noch Mittel in Hohe von 105 Mrd. Euro als „Sonderbedarfs-Bundeserganzungszuweisungen"; hinzu sollen weitere 51 Mrd. Euro aus dem Bundeshaushalt kommen, um die Struktur Ostdeutschlands zu starken.
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Sonderzuweisungen unabhangig werden zu lassen, tatsachlich erreichbar ist. Dazu namlich miiBte die Wirtschaft dort im Vergleich zum Westen erheblich schneller wachsen als sie es tatsachlich tut. Es ist zwar in den letzten 15 Jahren insgesamt zu einer Annaherung gekommen: 1991 betrug das BIP je Einwohner in den alten Landem durchschnittlich 21.386 Euro, in den neuen Landem 9.183 Euro. Im Jahr 2004 belief sich das BIP je Einwohner im Westen auf 28.024 Euro, im Osten auf 19.010. Doch haben sich auch die jahrlichen Wachstumsraten immer weiter angenahert (vgl. Tab. 1). Sie liegen im Osten seit Jahren nur noch knapp iiber denen im Westen der Republik: Im Zeitraum 1998-2004 lagen sie in den fiinf neuen Landem im Mittel bei 2,1%, gegeniiber 2,0% in den alten Landem. Wenn man Berlin bei den Berechnungen ausklammert, stellt sich die Situation etwas positiver dar, ohne daB sich dadurch allerdings etwas am Gmndproblem andem wiirde: 2,1%) durchschnittliches Wachstum in den alten Landem steht dann 2,5% in den neuen Landem gegeniiber (Arbeitskreis Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Lander 2005). Was also, wenn das erdachte bzw. gewunschte Szenario des stark iiberdurchschnittlichen wirtschaftlichen Aufschwungs und damit die Unabhangigkeit Ostdeutschlands von Transferleistungen bis 2020 nicht eintritt? Die Ungleichheiten sind bereits gegenwartig hoher als sie in der alten Bundesrepublik jemals waren. Nicht zufallig haben die funf neuen Lander in nur wenigen Jahren eine Verschuldung aufgebaut, fiir die die alten Lander 40 Jahre gebraucht haben (vgl. Abschnitt 2, Abb. 2). Unabhangig von der Tatsache, daB es zu Zweckentfremdungen, Fehlinvestitionen und auch zur Verschwendung offentlicher Mittel gekommen ist, dokumentiert dies den trotz der immensen Transfers weiterhin groBen Finanzbedarf Ostdeutschlands. Tabelle 1: Jahrliche prozentuale Verandemngen des BIP je Einwohner in jeweiligen Preisen: alte und neue Lander im Vergleich (Deutschland 1991-2004) 1 1992 alte Bundeslander einschl. 4,6 Berlin ohne Berlin 4,4 neue Bundeslander ohne Berlin 28,9 einschl. 22,3 Berlin
1993
1994
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
-0,3
3,3
3,0
1,1
1,7
3,2
2,3
2,5
1,9
1,2
0,7
2,2
-0,6
3,3
2,9
1,2
1,9
3,3
2,3
2,6
2,0
1,2
0,8
2,3
23,2 17,7
16,2 12,2
7,3 6,2
4,6 2,9
2,6 1,6
2,2 1,9
3,7 3,0
1,6 1,6
2,2 1,7
2,9 2,3
2,2 1,6
2,7 2,4
Quelle: Arbeitskreis Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Lander 2005. Wenn der deutsche Foderalismus, wie Politik und Wissenschaft meinen, tatsachlich an der Wegscheide steht (Decker 2004a; Franz 2004), dann lautet eine, wenn nicht gar die zentrale Frage im Zusammenhang mit seiner Reform - der am 07. Juli 2006 verabschiedeten und jeder weiteren - wie folgt: Inwieweit und unter welchen Bedingungen tragen „Entflechtung", mehr „Wettbewerb" und „Vielfalt" bei Gesetzgebung und Finanzen tatsachlich zu mehr Demokratie und Wohlstand bei - und fiihren uns zu mehr und nicht zu weniger sozialer Gerechtigkeit in Deutschland? Dabei ist bereits eines klar: Das Reformziel „Gestaltungsfbderalismus" erfordert in erster Linie, die Einnahmenseite der offentlichen Hand auf alien Ebenen, Bund, Landem und Gemeinden, wieder zu verbessem und die Handlungsfahigkeit des Staates insgesamt sicherzustellen.
147
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Rudolf Hickel
Offentliche Armut im privaten Reichtum - Kritik der allokativen und distributiven Wirkungen des Systemwechsels zu einer einheitlichen Unternehmensbesteuerung
1
Einleitung
Dieter EiBel hat viele Jahre in der „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik" mitgearbeitet. Die Arbeitsgruppe verdankt ihm wichtige analytische Impulse, gerade auch im Bereich der allgemeinen Finanz- und der speziellen Steuerpolitik. Er hat die durch die rotgriine Bundesregierung forcierte Steuersenkungspolitik zur relativen Entlastung der Privatwirtschaft kritisch begleitet. Im Mittelpunkt steht die Kritik: Reduktion der Finanzierungsbasis fiir offentliche Aufgaben, Umverteilung der Steuerlast zu Gunsten der Gewinn- und Vermogenseinkunfte sowie die ausbleibenden Impulse auf die untemehmerischen Investitionen. Durch die Vorlage von zwei Vorschlagen zur Untemehmensteuerreform aus der Wissenschaft und die Ankundigung der schwarz-roten Bundesregierung, daraus ein Konzept zu modellieren, droht nun eine neue Runde zur Senkung der Untemehmensteuerbelastung auf der Basis eines Umbaus des gesamten Steuersystems. Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht die Analyse des Vorschlags der „Kommission Steuergesetzbuch" unter dem Dach der „Stiftung Marktwirtschaft". Kritisch Bezug genommen wird auBerdem auf das Konzept der „dualen Einkommensteuer", das der „Sachverstandigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung" (SVR) erstmals 2003 vorgelegt hat. In der Auseinandersetzung mit diesen beiden Reformkonzepten und den offenenkundigen Fehlentwicklungen derzeit gangiger Steuerpolitik wird daran anschlieBend ein Altemativvorschlag prasentiert. Dabei geht es darum, nicht nur den politisch-okonomischen Stellenwert der Steuerpolitik deutlich zu machen. Dariiber hinaus wird deren Rolle unter dem Ziel sozialer Ungerechtigkeit herausgearbeitet. Die heute massiv betriebene Politik der Senkung der Unternehmenssteuem geht davon aus, daB durch eine erste Phase bewuBt reduzierter sozialer Gerechtigkeit iiber die Steuerlastverteilung am Ende „Wohlstand fur alle" erzeugt wurde. Dies ist in doppelter Weise falsch: Untemehmerische Steuerentlastungen werden nicht mit mehr beschaftigungsschaffenden Investitionen belohnt. Sie refinanzieren sich also nicht. Im Gegenteil, wegen der hohen Arbeitslosigkeit wird die soziale Ungerechtigkeit vertieft. Aber auch die unter der Finanznot erzwungenen Kiirzungen bei Staatsausgaben fahren zur Rationierung, die vor allem sozial Schwache belastet. Somit ist die Steuerpolitik in das Zielsystem der Schaffting sozialer Gerechtigkeit einzubinden.
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2
Das alte Lied: den Unternehmen sind die Steuersatze immer zu hoch
Kemstiick des deutschen Steuersystems ist die Untemehmensbesteuerung. Der derzeit in Deutschland geltenden Untemehmenssteuer werden durch die Untemehmenswirtschaft, die Politik und durch groBe Teile der Wirtschaftswissenschaft jedoch auBerst schlechte Noten ausgestellt. Auch die neue Bundesregierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich in ihrem Koalitionsvertrag verpflichtet, im Zuge der Fortentwicklung des Untemehmenssteuerrechts „intemational wettbewerbsfahige Steuersatze" durchzusetzen. Bis zum 01.01.2008 soil ein grundlegend verandertes Modell zur Untemehmensbesteuerung in Kraft treten. Es geht um einen Systemwechsel von der gespaltenen Besteuerung der Unternehmen (Kapitalgesellschaften nach der Korperschaftsteuer, Personengesellschaften und Einzeluntemehmen nach der Einkommensteuer) zu einer einheitlichen Besteuerung der Untemehmensgewinne. Die Bundesregierung will dabei auf Elemente der - allerdings sehr unterschiedlichen - Modelle zu einer einheitlichen Untemehmenssteuer durch den „Sachverstandigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung" einerseits und die „Kommission Steuergesetzbuch" der „Stiftung Marktwirtschaft" andererseits zuruckgreifen. Moglicherweise wird versucht werden, durch eine Kombination beider Modelle deren jeweilige Vorteile zu nutzen. Wie das angesichts der gmndlegenden Unterschiede der Konzepte gelingen soil, bleibt allerdings ein Ratsel. In jedem Falle kommt der kritischen Bewertung der beiden Modelle unter den Kriterien der okonomischen Effizienz, der Verteilung der Steuerlast sowie der Finanzierbarkeit des Staates groBe Bedeutung zu. SchlieBlich geht es um die Frage, wie diese gigantische Steuersenkungsmnde ftir die Untemehmen begriindet wird, welche Einnahmeverluste dem Staat daraus entstehen und in welchem Umfang eine Umverteilung der Steuerlast zu Ungunsten der Masseneinkommen bewirkt wird. Die meisten der Modelle, die zur Uberwindung der unterschiedlichen Besteuemng der Gewinne der Kapitalgesellschaften gegeniiber der der Einkommensteuer unterliegenden Personenuntemehmen derzeit in Deutschland konzipiert werden, verfolgen am Ende das Ziel, die Untemehmensgewinne aus der bisherigen Besteuemng herauszubrechen, um einen einheitlichen, definitiven Niedrigsteuersatz zwischen 25% und 30% sicherzustellen. Vor allem die groBte Einkunftsart, namlich die Arbeitnehmereinkommen, soil jedoch weiterhin dem derzeit geltenden (Hnear-progressiven) Einkommensteuertarif mit dem Spitzensteuersatz von 42% unterzogen werden. Steuersystematische Argumente, wie die Unabhangigkeit der Wahl der Rechtsform und Finanziemngsarten von der unterschiedlichen Besteuemng sowie die Transparenz und Vereinfachung, werden zwar zu Recht mit einer einheitlichen Untemehmensbesteuemng eingefordert. Am Ende zahlt jedoch bei der „Stiftung Marktwirtschaft" allein die Senkung der Steuersatze ftir Untemehmen, um im intemationalen Steuersenkungswettbewerb mithalten zu konnen. Mit dem Ziel der Entlastung der Untemehmen um jeden Preis werden im Zweifelsfall selbst neue, steuertechnisch komplizierte und gestaltungsanfallige Regelungen in Kauf genommen. Der „Sachverstandigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung" (SVR) hat in dankenswerter Offenheit das Ziel genannt: „Die unterschiedliche Besteuerung von Kapitaleinkommen und ubrigen Einkiinften tragt dem Sachverhalt Rechnung, dafi der Faktor Kapital international wesentHch mobiler ist als andere Einkunftsarten und deshalb der nationalen Besteuerung leichter ausweichen kann. Aus Griinden
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der okonomischen Effizienz soUten Kapitaleinkommen deshalb steuerlich schonender behandelt werden." (Sacbverstandigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2006) Deshalb schlagt der SVR vor, zusammen mit den (normalen) Gewinnen, alle Kapitaleinkommen - auch Zinsen und Mieten - einem Steuersatz von 25% zu unterziehen (SVR 2006). Der Einkommenssteuertarif mit dem Spitzensteuersatz von 42% gilt dann nur noch fur die Arbeitseinkommen. Wichtige Prinzipien der Besteuerung, wie etwa die Finanzierbarkeit des offentlichen Sektors und die gerechte Verteilung der Steuerlast, werden dem Ziel geopfert, unter dem Regime intemationaler Kapitalmobilitat den Standort Deutschland attraktiv zu halten. Auch die „Kommission Steuergesetzbuch" der „Stiftung Soziale Marktwirtschaft" will mit ihrem Vorschlag einer „allgemeinen Untemehmenssteuer" eine deutliche Senkung des Steuersatzes auf Gewinne ftir alle Untemehmen erreichen. Einer der geistigen Motoren dieser Kommission, der Steuerwissenschaftler Norbert Herzig, verteidigt zusammen mit Andreas Bohn die Anpassung an die Niedriglohnsteuerlander: „Im Zuge der Globalisierung ist es nur folgerichtig, daB die Wiedererlangung der intemationalen Wettbewerbsfahigkeit als unabweisbare Forderung neben die klassischen Anforderungen an eine Untemehmensbesteuerung - GleichmaBigkeit, Entscheidungsneutralitat und Einfachheit - tritt. Insbesondere mit der Osterweiterung der EU ist der intemationale Steuerwettbewerb in eine neue Phase getreten, da Beitrittslander auBerordentlich interessante Steuerbedingungen bieten, die bereits in vielen Industriestaaten zu Reaktionen gefiihrt und den intemationalen Steuerwettbewerb intensiviert haben." (Herzig/Bohn 2006: 1) Steuersenkungswettbewerb wird zum unentrinnbaren Schicksal hochstilisiert. Einerseits kapituliert die Steuerwissenschaft vor der Aufgabe, die Besteuerungspraxis innerhalb der EU auf einem Mindestniveau zu harmonisieren - die Idee der Vorgabe von Regeln zur Mindestbesteuerung innerhalb der EU, die ein fur alle beteiligten Lander am Ende schadliches Steuerdumping beenden sollen, wird nicht einmal erwahnt. Andererseits fiihren die Widerspriichlichkeiten und technischen Probleme bei der Umsetzung einer Niedrigbesteuerung der Untemehmen zur Verletzung der selbst beschworenen Prinzipien „GleichmaBigkeit, Entscheidungsneutralitat und Einfachheit". Die Konkurrenz um Niedrigsteuersatze ftir die Gewinne leugnet zudem folgende Tatsachen: (1) Diverse Lander verftigen trotz hoher Untemehmenssteuersatze Uber eine hohe intemationale Konkurrenzfahigkeit, wie z.B. Japan bei 40,9%, der Staat New York in den USA bei 39% oder die Provinz Ontario in Kanada bei 36,1%). (2) Entscheidend fur die Standortwahl von Untemehmen sind nicht die nominalen, sondem die effektiven Grenz- bzw. Durchschnittssteuersatze. Uber den EinfluB des nominalen Steuersatzes hinaus wird die effektive Besteuemng durch die gesetzlich beeinfluBte Bemessungsgmndlage bestimmt. Beim Vergleich der effektiven Besteuemng bietet Deutschland den Untemehmen eine deutlich bessere Position. Wahrend sich der Normalsteuersatz ftir Kapitalgesellschaften aus der Korperschaft- und der Gewerbesteuer zusammen mit dem Solidarzuschlag auf 38,7% addiert, belegen Berechnungen unter Beriicksichtigung der Bemessungsgmndlage lediglich eine effektive Steuerbelastung in Hohe von 15 bis 20%). (3) Bei diesen argerlich oberflachlichen Vergleichen werden die untemehmerischen Standortentscheidungen ausschlieBlich auf die Steuem als Kostenfaktor reduziert. Diese typisch
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neoliberale Blickverengung, die den Staat nur als abzuspeckenden Kostganger begreift, hat einen hohen Preis. Denn Steuereinnahmen dienen der Finanzierung der materiellen und sozialen Infrastruktur, die ihrerseits uber die Qualitat des Standorts entscheidet. Im Rahmen einer seriosen Bewertung der Untemehmensbesteuerung muB also die Gesamtwirkung aus Steuem und der Finanzierung offentlicher Investitionen bilanziert werden. (4) Nominale Steuersatze haben bei weitem nicht das Gewicht, das ihnen fur Standortentscheidungen zugerechnet wird. Auch die Lohnvorteile in Niedriglohnlandem erklaren nicht maBgeblich die Wahl des Produktionsstandortes. Ausschlaggebend sind vielmehr die materielle und soziale Infrastruktur, die Sicherung der rechtlichen und okonomischen Ordnung sowie das Vorhandensein quahfizierter Arbeitskrafte. Etliche Untemehmen sind trotz niedriger Normalbesteuerung, ja selbst bei Niedriglohnen wegen vielfaltiger Standortnachteile nach Deutschland zuruckgekehrt. (5) In vielen osteuropaischen Landem stehen den niedrigen Steuersatzen auf die Untemehmensgewinne hohe Belastungen des privaten Konsums durch die Umsatzsteuer gegeniiber. Dadurch lassen sich unter okonomisch normalen Bedingungen Anreize fiir Auslandsinvestitionen setzen. Jedoch, die Binnenwirtschaft wird belastet. (6) SchlieBlich sprengt dieses Steuerdumping zwischen den MitgHedslandem der EU den okonomischen, sozialen und vor allem fiskalischen Zusammenhalt Europas. Lander, die maBgeblich zur Finanzierung des EU-Gemeinschaftshaushalts beitragen, verlieren durch den Steuersenkungswettbewerb finanziellen Spielraum. Besonders argerlich ist die Tatsache, daB Ansiedlungsanreize ftir Untemehmen in osteuropaischen Landem durch Investitionszulagen und InfrastmkturmaBnahmen, die im Rahmen der EU-Regionalfonds finanziert werden, gesetzt werden. Diese Regionalpolitik aus den Mitteln des EU-Gemeinschaftshaushalts fiir die neuen Beitrittslander ist zweifellos dringend erforderlich. Wird jedoch auf dieser Basis gleichzeitig ein Steuerdumping durch die stmkturpolitisch bevorteilten Lander zugelassen, dann gerat der Zusammenhalt der EU in massive Schwierigkeiten. Auch wegen dieser erodierenden Wirkungen ist eine Mindestbesteuemng der Untemehmen in der EU unvermeidbar. Genau vor dieser schwierigen Aufgabe kapituliert aber die Steuerwissenschaft wie auch die Politik, welche der bitteren Konkurrenz durch die Niedrigsteuerlander erliegen und die deutsche Untemehmensbesteuemng trotz des drohenden Verlustes der finanziellen Basis fiir offentliche Aufgaben daran anpassen. 3
Einordnung des Modells „allgemeine Unternehmenssteuer" sowie des „Vier-Saulen-Modells" zur kiinftigen Finanzierung der Kommunen
3.1 Die „ allgemeine Unternehmersteuer'' Eine groBe RoUe bei der Entscheidung der Bundesregiemng zum Systemwechsel bei der Untemehmensbesteuemng spielt offensichtlich die Arbeit der „Kommission Steuergesetzbuch" der „Stifhing Marktwirtschaft/Frankfurter Institut" (Stiftung Marktwirtschaft 2005). Deren Vorschlage zu einer einheitlichen Untemehmenssteuer sowie dem Ersatz der Gewerbesteuer durch vier neue Einnahmenarten zur kunftigen Finanziemng der Kommunen wurden am 30.01.2006 der Offentlichkeit auf einer Pressekonferenz in Berlin vorgestellt. Die Kommission besteht aus tiber 70 Experten, die unter dem Vorsitz des Kolner Steuerrechtlers Joachim Lang ein Modell zur radikalen Vereinfachung der kiinftigen Untemehmensbe-
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steuerung prasentiert haben. Wer steht hinter diesen beiden Institutionen? Das Dach, die „Stiftung Marktwirtschaft", gibt sich neutral. Sie versteht sich als eine unabhangige Denkfabrik. Die „Kommission Steuergesetzbuch" erfahrt allerdings finanzielle Unterstutzung durch Wirtschaftsverbande. Inhaltlich fallt am vorgestellten Konzept der „Kommission Steuergesetzbuch" neben der oberflachlichen Begriindung vor allem der Verzicht auf eine empirische Spezifikation auf. Zu den Vorschlagen im einzelnen: Ziel der „allgemeinen Untemehmersteuer" ist eine von der Rechtsform unabhangige Besteuerung der Untemehmen. Alle Untemehmen, gleichgiiltig ob Aktiengesellschaft oder Einzeluntemehmen, unterliegen ein und derselben Steuer. Subjekte der Besteuerung sind in einer weiten Definition die Untemehmenstrager. Die weit gefaBten Untemehmenseinkunfte beziehen sich auf Einktinfte aus Gewerbebetrieb, Land- und Forstwirtschaft, selbstandige Arbeit (Freiberufler und Selbstandige), Vermietung und Verpachtung. Entscheidend fiir diese Besteuerung ist die strenge Unterscheidung zwischen der Untemehmens- und Unternehmerebene. Gegeniiber dem Vorschlag des SVR muB nach diesem Konzept das bisherige Steuerrecht fundamental verandert werden: Korperschafts- und Einkommenssteuer losen sich in der „allgemeinen Untemehmenssteuer" auf Zu diesem Konzept gehort maBgeblich auch die Abschaffiing der immer wieder als „Hemmschuh" diskreditierten Gewerbesteuer fur die Kommunen. Auf die als Ersatz neu zu schaffende steuerliche Finanzierungsbasis der Kommunen mit insgesamt vier Saulen, die nachfolgend noch bewertet werden (vgl. 3.2), muB hier bereits hingewiesen werden. Denn zum Konzept gehort eine kommunale Unternehmenssteuer, deren Ausgestaltung mit der „allgemeinen Untemehmenssteuer" vollig identisch ist. Die „allgemeine" sowie die „kommunale Untemehmenssteuer" sehen auf der Untemehmensebene einen proportionalen Steuersatz vor. Zusammen mit der kommunalen Untemehmenssteuer von 8% belauft sich der gesamte Steuersatz fur die Gewinne auf Untemehmensebene auf 30%. Angestrebt wird jedoch der niedrige Satz von 25%, falls die Steuerausfalle zumutbar sind. Gegeniiber dem Vorschlag einer dualen Einkommensteuer durch den SVR ist der Vorteil klar: Wird der Steuersatz verandert, so ist eine entsprechende Neufassung des Einkommensteuerrechts nicht mehr erforderlich. Auf der Untemehmensebene erfolgt die Besteuemng der Gewinne, die entweder durch einen Bestandsvergleich oder eine EinnahmetiberschuBrechnung ermittelt werden, defmitiv. In der Regel vermindem Entnahmen und Ausschiittung die Besteuemngsbasis nicht. Die „Kommission Steuergesetzbuch" der „Stiftung Marktwirtschaft" schlagt jedoch zur Erleichtemng und zur Vereinfachung eine transparente Entnahmebesteuemng vor. Sie schlagt eine Sonderregelung far die Untemehmen vor, die derzeit deutlich weniger als 19% bis 22% an Steuem zahlen. Bei diesen sogenannten Kleinuntemehmen, wie nebenbemflich, schriftstellerisch oder freibemflich Tatigen, aber auch Handwerkem, wird auf die Trennung zwischen Untemehmens- und Untemehmerebene verzichtet. Bis zu 120.000 € konnen Einktinfte aus der Untemehmenssteuer herausgenommen werden. Sie unterliegen ersatzweise der Einkommensteuer zusammen mit der Biirgersteuer, die im Rahmen der Reform der kommunalen Besteuemng eingefiihrt wird. Die „Kommission Steuergesetzbuch", fiir die auf der Untemehmerebene (natiirliche Personen) das Einkommensteuergesetz gilt, pladiert im Unterschied zum SVR flir die Beibehaltung der sieben Einkunftsarten der Einkommensteuer, die nach denselben Regeln besteuert werden (synthetische Besteuemng). Die Gewinnausschiittung (Dividenden) sowie Gewinnentnahme uber die auf der Untemehmensebene vorgenommene Defmitivbesteuemng von 25% hinaus wird im Rahmen der Einkommen- und Biirgersteuer nachbelastet. Dabei votiert die Kommission fur eine gemaBigte Nachbe-
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lastung. Vorgeschlagen wird die Fortfiihrung des derzeit fur Dividenden bereits geltenden Halbeinkiinfteverfahrens. Die Notwendigkeit dieser maBigen Nachbesteuerung wird damit begriindet, daB bei der VoUanrechnung die Korperschaftsteuergutschriften fiir Dividenden aus dem Ausland nicht zum Zuge kommen. Die Steuergutschrift gilt nur fur Inlandsdividenden. Das hier weiterentwickelte Halbeinkiinfteverfahren sieht vor, daB die ausgeschiitteten Gewinne am Ende maximal nur mit 17% nachversteuert werden (Spitzensteuersatz von 42% minus der Defmitivbesteuerung mit 25%). Aus dem Verhaltnis von 17% zu 42% ergibt sich die Anrechnung der Dividenden mit 40,48%. Bei einer Besteuerung von 100 € Gewinn mit 25% auf der Untemehmensebene verbleiben 75 €. Werden von 75 € 34/63 zur Nachbesteuerung angerechnet, verbleiben 40,48 €. Bei einem darauf bezogenen Steuersatz von 42% ergibt sich eine Steuerbelastung mit 17 € (17%)). Diese sanfte Nachbesteuerung steht klar im Widerspruch zur Besteuerung nach dem Prinzip der okonomischen Leistungsfahigkeit. SchlieBlich konzentriert sich die „Kommission Steuergesetzbuch" auch auf eine dringend erforderliche Neuregelung der Gewinnermittelung. Die sich aus dem Glaubigerschutz nach dem Handelsgesetzbuch ergebenden Steuervorteile sollen durch die Ausrichtung an den aktuellen Vermogenswerten abgebaut werden. Insbesondere Gewinne aus der Wertsteigerung des Grundeigentums, der Wertpapiere und Anteile werden nach dem derzeitigen Steuerrecht erst im Zuge der VerauBerung steuerlich relevant. Dagegen konnen Wertminderungen sofort zur Verminderung der zu versteuemden Gewinne verrechnet werden. Diese Ungleichbehandlung soil durch die Anpassung an international giiltige Bilanzregeln abgebaut werden. Die Vorschlage der Reformkommission zur periodennahen Beriicksichtigung von Wertanderungen bei der Besteuerung sind dringend erforderlich. Problematisch sind jedoch die Uberlegungen zur groBzugigeren Gruppenbesteuerung. Die Moglichkeiten der steuermindemden Verlustrechnung mit Gewinnen, die ausgeweitet werden sollen, schaffen okonomisch nicht akzeptable Steuervorteile. Auch droht durch die vorgeschlagene groBzugige Gruppenbesteuerung, welche die steuermindemde Verrechnung von auslandischen Verlusten ermoglichen soil, ein AderlaB bei den Steuereinnahmen des deutschen Fiskus. Nicht nur in diesen Punkten bedarf es einer dringenden Erklarung. Gegeniiber dem Vorschlag einer allgemeinen Untemehmenssteuer durch die „Kommission Steuergesetzbuch" schlagt der „Sachverstandigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung" eine andere Methode vor bei der Trennung zwischen der Besteuerung der Gewinne auf der Untemehmensebene gegeniiber der Besteuerung der Untemehmer als private Haushalte. Bei der steuerlichen Behandlung der entnommenen Oder ausgeschiitteten Gewinne sieht der „Sachverstandigenrat" eine Unterscheidung zwischen dem „Normal-„ und „t}bergewinn" vor. Der Normalgewinn entspricht einer kapitalmarktiiblichen Verzinsung des Eigenkapitals (5-8%). Die dariiber hinausgehenden sogenannten Ubergewinne werden der Einkommensteuer unterzogen. Damit soil die Verlagerung von Einkiinften aus der hoheren Einkommensteuer in die niedrige Untemehmenssteuer vermieden werden. Diese Trennung zwischen Normal- und Ubergewinnen ist okonomisch sehr strittig. Das zeigt sich bereits an der Frage, welcher Normal-Zinssatz in das Steuergesetz geschrieben werden wird. Verteilungspolitisch ist es zudem zweifelhaft, daB bei den Gewinnen in der Kapitalgesellschaft lediglich der einheitliche Steuersatz von 25% gilt. Gegeniiber dem SVR-Konzept verzichtet die „Kommission Steuergesetzbuch" auf diese problematische Trennung zwischen Normal- und Ubergewinnen. Auch wird die Einkommensteuer mit ihren bisherigen Einkunftsarten beibehalten und damit weiterhin die
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synthetische Besteuerung praferiert. Dem Vorschlag des SVR, alle Kapitaleinkommen nur noch mit 25% gegeniiber dem Spitzensteuersatz auf die Arbeitseinkommen von 42% zu besteuem, folgt die Kommission Steuergesetzbuch also nicht. Diese Spaltung zwischen den Arbeitseinkommen einerseits und alien Kapitaleinkommen andererseits widerspricht eindeutig dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der einheitlichen Besteuerung nach dem Prinzip der okonomischen Leistungsfahigkeit. Und auch dieses Konzept fuhrt unter dem Ziel, die Untemehmenssteuerlast zu senken, zu schwerwiegenden Problemen, denn dieses Modell schafft Anreize zur schwer kontrollierbaren Verlagerung von Einkommen auf die Untemehmensebene. Vor allem aber kommt es zu einer unakzeptablen Verschiebung der relativen Steuerlast zu Ungunsten der Arbeitseinkommen. Zusammenfassend laCt sich folgendes festhalten: (1) Das Konzept einer allgemeinen Untemehmenssteuer zielt am Ende auf Steuerentlastungen fur die Untemehmenswirtschaft, nicht nur durch die Senkung des Tarifs, sondem durch die Akzeptanz von Steuervorteilen, die die Bemessungsgrundlage verkiirzen. (2) Die Einheitlichkeit wird zudem durch viele Ausnahmeregelungen erkauft (bei Liquidation, Anlaufverlusten, Anrechenbarkeit mit privaten Verlusten). Zur Vereinfachung des ansonsten sehr komplizierten und gestaltungsanfalligen Verfahrens werden bei der Ausschiittung sowie den Kleinuntemehmen Sonderregelungen bis 120.000 € pro Jahr vorgesehen. (3) Im Unterschied zum SVR ist eine Totalreform der Einkommensteuer nicht erforderlich. Hervorzuheben ist, daB die synthetische Einkommensteuer beibehalten wird. Daflir setzt das Konzept auf die Beseitigung der Gewerbesteuer, wahrend die Neuregelungen der kommunalen Finanzen zu vielen Nachteilen fuhren. (4) Die scharfe Trennung zwischen Untemehmer- und Untemehmensebene schafft im Unterschied zum SVR groBe Anreize, Einkunftsquellen aus der (hoheren) Einkommensbesteuerung in die allgemeine Untemehmenssteuer zu verlagem. Der steuermindemden Gestaltung steht Tiir und Tor offen. Beispielsweise droht die Gefahr, daB Arbeitseinkommen von Geschaftsfuhrem einer Personengesellschaft in die Besteuemng des Untemehmenssektors verlagert und damit Steuem eingespart werden. Auch dieses Modell erhoht am Ende den Reguliemngs- und Kontrollbedarf durch die Finanzamter. Die in das System eingebaute Suche nach steuermindemdem Verhalten eroffnet der Steuerberatung ein lukratives Geschaftsfeld. (5) Die Absenkung des Steuersatzes fiir Untemehmensgewinne auf 30% bis 25% gegeniiber der Besteuemng der Arbeitseinkommen und anderen Kapitaleinkiinften von derzeit bis zu 42% widerspricht dem verfassungsrechtlichen Gmndsatz der Besteuemng nach der okonomischen Leistungsfahigkeit. (6) Wahrend mit Steuerausfallen bei einem gesamten Steuersatz von 30% auf Untemehmensgewinne bis zu 11 Mrd. € zu rechnen ist, verschiebt sich die Lastenverteilung zu Ungunsten der Lohnsteuer. 3.2 Das „ Vier-Sdulen-Modell *' zur Neuordnung der kommunalen Finanzen Zum Ausgleich fur die Einnahmeausfalle der Kommunen durch die Abschaffung der Gewerbesteuer schlagt die „Kommission Steuergesetzbuch" auf der Basis der allgemeinen
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Untemehmenssteuer und Einkommensteuer vier Einnahmesaulen vor, die den Kommunen eine groBteils selbstbestimmte Finanzierung sichem soUen. Bei den von mir mit jeweils kritischen Anmerkungen versehenen vier Saulen handelt es sich um folgende: (1) Die Grundsteuer. Bei der Grundsteuer gibt es einen grofien Reformbedarf (vor allem wegen der veralteten, viel zu niedrigen Einheitswerte, auf deren Basis die Immobilien in der Kegel besteuert werden). Praferiert wird das Reformmodell der Lander Bayem/Rheinland-Pfalz. Die Eckwerte sind hier: Wegfall der Grundsteuer A und Erweiterung der Grundsteuer B sowie die Schaffiing einer neuen Bemessungsgrundlage (Bewertung von Grund und Boden nach Bodenrichtwerten). Die Lander soUen die Option erhalten, die Grundsteuer per Landesgesetz zu erheben. Berechnungen zeigen allerdings, daB nach diesem Modell die Geschaftsgrundstticke in Stadten gegeniiber der derzeitigen Regelung bevorteilt werden und daher dort mit Einnahmeverlusten zu rechnen sein wird. (2) Die Biirgersteuer. Mit einem proportionalen Tarif von 3% fur die Kommunen wird sie mit einer entsprechenden Absenkung des Einkommensteuertarifs verbunden. Dafiir wird der derzeitige Anteil der Kommunen am Gesamtaufkommen an der Einkommensteuer mit 15% gestrichen. Fiir die Biirgersteuer konnen die Kommunen, wie bei der jetzigen Gewerbesteuer, einen Hebesatz selbst festlegen. Diese Biirgersteuer ist eine echte Kopfgeburt derjenigen, die von der spezifischen fiskalischen Konkurrenzsituation zwischen GroBstadten und den Kommunen im Umland nichts verstehen. Denn mit dieser Biirgersteuer wiirde das fiskalische Gefalle zwischen GroBstadten und Umlandgemeinden verscharft. GroBstadte miissen wegen des hoheren Ausgabenbedarfs je Einwohner hohere Hebesatze im Vergleich zu den Umlandgemeinden durchsetzen. Dies befordert die Flucht in die Umlandgemeinden, wahrend gleichzeitig das hohe Leistungsangebot der GroBstadte genutzt wird („Trittbrettfahrer"). Im Verhaltnis zwischen Stadt und kleinen Umlandgemeinden laBt sich mit der Biirgersteuer das kommunale Band zwischen Einnahme- und Ausgabenentscheidungen wegen der hohen Vorteile der Bewohner in Umlandgemeinden (Extemalitaten) nicht sinnvoU herstellen. (3) Die kommunale Untemehmensteuer, flir die ein Satz von 6% bis 8% vorgesehen ist. Sie stellt eine spezielle Anwendung der allgemeinen Untemehmenssteuer dar. Die Kommunen, die auch bei dieser Steuer ein Hebesatzrecht erhalten, verlieren dafiir die bisherige Gewerbesteuer, die bisher nur gewerbsteuerpflichtige Betriebe zu bezahlen hatten. Der gesamte Steuersatz aus allgemeiner und kommunaler Untemehmenssteuer, der zwischen 25% und 30% liegen soil, ist deutlich niedriger als die Summe der nominalen Steuersatze bei Kapitalgesellschaften mit 38,7%. Positiv hervorzuheben ist die Absicht, den Kreis der Steuerpflichtigen gegeniiber der Gewerbesteuer auszuweiten. Damnter fallen gewerbliche Einkiinfle, Einkiinfte aus selbstandiger Arbeit (Freibemfler und Selbststandige), Vermietung und Verpachtung. Im Rahmen der Ermittlung der Bemessungsgmndlage besteht gegeniiber der Gewerbesteuer allerdings ein Manko. Durch den Wegfall der Teilanrechnung von Schuldzinsen, Mieten und Pachten fallt die Bemessungsgmndlage deutlich niedriger aus als bei der Gewerbesteuer.
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(4) An die Stelle der bisherigen Beteiligung der Kommunen an der Gewerbesteuer mit ca. 2% soil diesen zum Ausgleich ein Anteil von 2% am betrieblichen Lohnsteueraufkommen zuflieBen. Es handelt sich also um einen vorgezogenen Finanzausgleich, der zu Lasten des Bundes und der Lander bei der Verteilung des Lohnsteueraufkommens geht. Da es sich um keine eigene Steuer, sondem nur um eine Umverteilung im foderalen Steuersystem handelt, kann es auch kein Hebesatzrecht der Kommunen geben. Die BezugsgroBe Steuem auf die Lohnsumme ist wirtschaftsstrukturell problematisch. Denn Betriebe mit einer hohen Kapitalintensitat ftihren tiber eine vergleichsweise geringere Lohnsumme auch zu einem schwacheren Aufkommen aus der Lohnsteuer. Die zwar dringend zu reformierende Gewerbesteuer bezieht sich dagegen auf die Gewinne, die durch den Einsatz von Arbeit und Kapital entstehen. 4
Die Folgen der Anpassung der Unternehmensbesteuerung Deutschlands an die aggressive Konkurrenz durch Niedrigsteuerlander
Der durch die Wirtschaft, Wissenschaft und groBe Teile der Politik geforderte Systemwechsel bei der Unternehmensbesteuerung dient letztendlich dem Ziel, die Steuersatze auf den Untemehmensgewinn massiv zu reduzieren. Steuem werden ausschlieBlich als Kosten gesehen, die es unter dem Druck der intemationalen Konkurrenz durch die Niedrigsteuerlander zu senken gilt. Die Folgen dieser neoliberalen Blindheit sind, wie bereits angedeutet, katastrophal: (1) Die relative Verteilung der Steuerlast verschiebt sich zu Ungunsten der Masseneinkommensbezieher iiber die Besteuerung der Einkommen aus unselbstandiger Arbeit sowie dem privaten Konsum - insbesondere iiber die Mehrwertsteuer. Durch die damit verbundenen Kaufkraftverluste wird die ohnehin in den letzten Jahren stagnierende Binnenwirtschaft belastet. (2) Das Versprechen, durch die Anpassung der untemehmerischen Steuerlast an die Niedrigsteuerlander den FluB der Direktinvestitionen aus Deutschland bremsen zu konnen, ist naiv. Die Entscheidung, Produktionsstatten in kostengiinstigere Lander zu verlagem bzw. neue Produktionsstatten aufzubauen, wird maBgeblich nicht durch niedrigere nominale Steuersatze bestimmt, selbst wenn diese erheblich niedriger sind. Entscheidend sind vielmehr die Kundennahe, eine ausreichende offentliche Infrastruktur, Rechtssicherheit sowie die Verftigbarkeit qualifizierter und motivierter Arbeitskrafte. (3) Reduzierte Steuersatze auf die Gewinne losen - im Widerspruch zur angenommenen Wirkungskette neoliberaler Doktrin - im Inland kaum Sachinvestitionen fiir neue Arbeitsplatze aus. Diese immer wieder beschworene Hoffnung einer Selbstfinanzierung von Steuersenkungen iiber wirtschaftliche Wachstumsimpulse gleicht eher einer Voodoo-Okonomie. Die Untemehmenssteuerreform von 2001 liefert den empirischen Beleg hierfur. Die Reduzierung der Steuem auf Gewinne ging mit einem gigantischen Verfall der Investitionen einher. Ursachlich dafiir ist die fehlende inlandische Nachfrage, die das Wachstumspotential blockiert. Dazu tragi der Staat auch noch bei, wenn er auf die erodierende Finanzbasis mit Einspamng offentlicher Ausgaben reagiert. (4) Insgesamt wird mit dieser Politik untemehmerischer Steuerentlastung die Finanzierbarkeit offentlicher Aufgaben deutlich eingeschrankt. Der Dmck, Ausgaben auch im Bereich
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der materiellen und sozialen Infrastruktur zu kurzen, ist groB. So haben die Steuergeschenke an die Wirtschaft den Riickgang offentlicher Investitionen trotz dringlichem Bedarf erzwungen. Soweit nicht der gesamte Einnahmeausfall durch Ausgabenreduzierung aufgefangen wird, droht die Staatsverschuldung anzusteigen. Steuerausfalle durch offentliche Kreditaufnahme zu kompensieren, verdient jedoch uneingeschrankt das Etikett unserioser Finanzpolitik. (5) Die neoliberale Reduktion der Untemehmenssteuem steht am Ende im Widerspruch zum vorgegebenen Ziel, den Produktionsstandort Deutschland zu starken. Steuem sind eben nicht nur Kosten, sondem die wichtigste Quelle zur Finanzierung von Staatsaufgaben. Werden offentliche Investitionen in den Bereichen der sozialen und materiellen Infrastruktur sowie des okologischen Umbaus zuriickgefiihrt, dann gehen wichtige Standortvorteile auch zu Lasten der Untemehmen verloren. Unter der derzeitigen Finanzklemme des Staats werden okologisch dringliche Ersatzinvestitionen, wie etwa in der Kanalisation, bereits heute unterlassen. Deutschland rutscht mit dieser fortgesetzten Schrumpfstrategie im Standort-Ranking unweigerlich an das Ende. Die Dramatik zeigt sich an folgendem Hinweis zu den offentlichen Investitionen: Wiirde wenigstens die durchschnittliche Quote der offentlichen Investitionen am Bruttoinlandsprodukt in Deutschland auf das viel hohere durchschnittliche Niveau der EU-Lander angehoben, so miiBten ca. 20 Mrd. € mehr durch den Staat investiert werden. 5
Ein alternatives Konzept gerechter Steuerpolitik fiir einen leistungsfahigen Staat
Die beschriebenen negativen Folgen der Anpassung der Untemehmensbesteuerung Deutschlands an die aggressive Konkurrenz durch die Niedrigsteuerlander machen deutlich: Die Reform des deutschen Steuersystems mu6 sich an zwei Zielen ausrichten, namlich dauerhafte Finanzierbarkeit eines zukunftsfahigen Staats zum einen, sowie gerechte Verteilung der Steuerlast zum anderen. Niemand kann emsthaft die vor allem in den osteuropaischen EU-Landem bestehenden extrem niedrigen Steuersatze fur Untemehmensgewinne bezweifeln. Die schicksalhafte Anpassung an die Autoritat extrem niedriger Tarife ist jedoch falsch und perspektivlos. Der zum Teil mit Dumpingmethoden betriebene Steuersenkungswettbewerb sprengt den Zusammenhalt der EU. Dadurch wird am Ende die dringende Entwicklung modemer Wirtschaftsstrukturen in den neuen EU-Landem blockiert. Trotz der bekannten Schwierigkeiten muB eine Harmonisierung der Untemehmensbesteuerung auf einer Mindestbasis in der Europaischen Union durchgesetzt werden. SchlieUlich kann der EU-Binnenmarkt nur gelingen, wenn er in einen den Wettbewerb ordnenden, sozialen, okologischen und eben auch steuerlichen Rahmen eingebettet wird. Eine auf die Finanzierbarkeit offentlicher Aufgaben sowie eine gerechte Lastverteilung konzentrierte Altemative zur Untemehmensbesteuemng ist ohne gmndsatzliche Verletzung der Rechtsform- und Finanziemngsneutralitat machbar. Sie kniipft allerdings, mit dem Ziel, die Untemehmenslast wieder ins rechte Lot zu bringen, am bestehenden System an, und zwar mit den folgenden Eckwerten: (1) Die definite Besteuemng der Gewinne der Kapitalgesellschaften erfolgt iiber die Korperschaftssteuer. Der Steuersatz wird jedoch von derzeit 25% auf 30% angehoben, um eine der Beanspmchung offentlicher Leistung angemessene Beteiligung an der Finanziemng durch die Untemehmen zu sichem.
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(2) Die Gewerbesteuer wird durch eine Gemeindewirtschaftssteuer, die von alien Unternehmen in einer Kommune aufzubringen ist, ersetzt (vgl. nachfolgende ausfiihrliche Beschreibung). (3) Personengesellschaften und Einzeluntemehmen unterliegen wie bisher der Einkommensteuer. Der Verlauf des Einkommensteuertarifs, der auf die neuen vier, statt sieben Einkunftsarten gleichermaBen anzuwenden ist (synthetische Besteuerung), wird wie folgt reformiert: (steuerfreier) Grundfreibetrag von 8.000 € (fur Alleinstehende), Eingangsteuersatz mit 15%, Spitzensteuersatz bei 45% statt derzeit 42%, Anstieg des Grenzsteuersatzes von 15% bis 45% linear (Zuwachs der Besteuerung wachst konstant). (4) Wahrend die Kapitalgesellschaften mit der Korperschaftsteuer (30%)) und der durchschnittlichen Gemeindewirtschaftsteuer auf eine Gesamtbelastung von ca. 45% kommen, wird den der Einkommensteuer unterliegenden Untemehmen mit einem Spitzensteuersatz von 45%) weiterhin das Recht eingeraumt, die Gemeindewirtschaftsteuer mit der Einkommensteuer zu verrechnen. Dadurch wird zumindest kein Anreiz zur Steuererspamis bei der Wahl der Rechtsform des Untemehmens gesetzt. (5) Zur Versteuerung der ausgeschiitteten Gewinne (Dividenden) wird wieder das Vollanrechnungsverfahren eingefuhrt. Die auf der Untemehmensebene bereits einbehaltene Steuer mit 30%o wird bei der Veranlagung zur individuellen Einkommensbesteuerung abgezogen. Eine annahemde Gleichbehandlung von Dividenden aus dem Ausland, bei denen die deutsche Kapitalgutschrift meistens nicht anfallt, ist durch den Abzug einer auf die Herkunftslander bezogenen Mindeststeuer auf der Untemehmensebene durchaus losbar. Der Reformbedarf bei einer periodennahen, gerechten Ermittlung der zu versteuemden Gewinne (Bemessungsgrundlage) ist riesig. Darauf kann an dieser Stelle aus Platzgriinden jedoch nicht naher eingegangen werden. Im Mittelpunkt des altemativen Steuerkonzepts steht die Untemehmensbesteuerung. Aus der Kritik an den verschiedenen Vorschlagen zum Systemwechsel bei der Besteuerung der Gewinne, die dem Ziel dienen, den Steuersatz deutlich zu senken, ist von mir der Vorschlag einer Reform unter Beibehaltung der Korperschaft- und Einkommensteuer prasentiert worden. Zu einem modemen, die Last gerecht verteilenden Steuersystem gehoren aber weitere steuerpolitische Schwerpunkte. Das beinhaltet notwendige Reformen wichtiger Steuem. Hierzu gehoren insbesondere der Umbau der Gewerbesteuer zu einer Gemeindewirtschaftsteuer sowie eine gerechtere Gestaltung der Erbschaft- und Schenkungssteuer, worauf ich im folgenden naher eingehen werde. Vorab jedoch muB die allgemeine Umsatzsteuer (Mehrwertsteuer), deren fiskalische Bedeutung zugenommen hat, thematisiert werden. Heute liegt das Gewicht der Mehrwertsteuer mit einem Anteil von iiber 32% am Gesamtsteueraufkommen bereits vor dem friiheren Spitzenreiter Lohnsteuer. Die Mehrwertsteuer treibt zusammen mit der Okosteuer (spezielle Verbrauchsteuer) den Anteil der indirekten Besteuerung nach oben. Im Jahr 2005 lag der Anteil der indirekten Steuem bei iiber 54%). Nach Vorstellungen groBer Kreise der Finanzwissenschaft wird ein gmndlegender Umbau des Steuersystems mit dem Schwerpunkt indirekte Steuem gefordert. Wie ist dieser Trend zur Zunahme des Anteils der indirekten Steuem zu bewerten? Zur Beantwortung dieser Frage hilft der Blick auf die unterschiedliche Gmndlage der Besteuemng. Beispielsweise setzt die wichtigste direkte Steuer, die Einkommensteuer, an der Einkommenserzielung an, was die Besteuemng nach dem Prinzip der okonomischen Leistungsfahigkeit zulaBt. Bei der Mehrwertsteuer gilt dagegen nicht die Leistungsfahigkeit, sondem die Ver-
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wendung des Einkommens flir Konsumausgaben. Die Folge sind sich diametral gegeniiberstehende Verteilungswirkungen. Die Last der Besteuerung durch indirekte Steuem wird maBgeblich durch das Konsumverhalten bestimmt. Generell gilt: Je hoher die Konsumausgaben bezogen auf das verfiigbare Einkommen ausfallen, umso hoher ist die zu tragende Last. Wenn jedoch mit wachsenden verfugbaren Einkommen die Konsumquote abnimmt, muB die relative Belastung durch die allgemeine Umsatzsteuer zuriickgehen. Das aber heiBt nichts anderes, als daB Erspamisse, deren Anteil mit wachsendem Einkommen zunimmt, nicht besteuert werden. Auf die Verteilung der Steuerlast wirkt die Umsatzsteuer regressiv. Die Wucht der Umverteilung uber die Mehrwertsteuer, die bei nur einem einzigen Steuersatz voU spurbar werden muBte, wird durch die sozial-okonomisch begriindete Differenzierung der Steuersatze nach gesetzlich defmierten Konsumausgabengruppen abgeschwacht. In Deutschland gilt derzeit der Normalsteuersatz von 16%. Vor allem existenzwichtige Giiter und Dienstleistungen werden dagegen nur mit dem ermafiigten Steuersatz von 7% besteuert (beispielsweise Nahrungsmittel, auch Biicher und Zeitungen). SchlieBlich werden bestimmte Ausgaben - wie fur Arzte, Bankdienstleistungen, Mieten und Pachten - uberhaupt nicht besteuert. Davon profitieren auch die unteren Einkommensbezieher: Wahrend das gesamte Einkommen fur den Konsum ausgegeben wird, ist der Anteil der Giiter und Dienstleistungen, die beispielsweise nur mit 7% belastet werden, vergleichsweise viel hoher als bei einem einkommensstarken Haushalt. Nicht nur wegen ihrer Verteilungswirkungen ist die von der Bundesregierung beschlossene Erhohung des Normalsteuersatzes der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte auf 19% kritisch zu bewerten. Eine neuere Untersuchung zeigt, daB trotz der Beibehaltung des ermaBigten Steuersatzes und der Nullbesteuerung die Erhohung des Normalsatzes zu einer regressiven Lastverteilung ftihrt (Bach 2005). Wahrend gemessen am Einkommen langerfristig die Belastung der unteren 5% der Einkommensbezieher - also der Schwachsten in dieser Gesellschaft - mit Mehrwertsteuer bei 1,55% liegt, werden die oberen 5% der Einkommensbezieher nur mit 0,78% belastet. Die Ursache dafur liegt im Anstieg des mehrwertsteuerfreien Sparens bei zunehmendem Einkommen. Gemessen an den Verteilungswirkungen bleibt die Mehrwertsteuer ungerecht. Sicherlich lieBe sich durch weitere niedrige Steuersatze diese ungerechte Lastverteilung abschwachen. Doch dann ist es sinnvoller, gleich auf die leistungsbezogene direkte Steuer abzustellen. Die Erhohung des Normalsatzes bei der Mehrwertsteuer lost aber nicht nur bei den privaten Haushalten, sondem auch in der Wirtschaft unterschiedlich verteilte Lasten aus. Die Mehrwertsteuer ist so konzipiert, daB im Prinzip von jeder Produktionsstufe die Steuer bis zum privaten Haushalt durchgewalzt wird. Dazu dient der Vorsteuerabzug. Ein Unternehmen bekommt auf seiner Produktionsstufe die im Lieferpreis enthaltene Vorsteuer vom Finanzamt erstattet. Ob jedoch die Uberwalzung gelingt, hangt von der okonomischen Macht der belieferten Untemehmen ab. Berechnungen zeigen, daB kurzfristig nur zwei Drittel der Mehrwertsteuererhohung iiberwalzt werden konnen. Dies fuhrt bei Zulieferbetrieben, die von machtvoUen Untemehmen abhangig sind, zu Kostensteigerungen. Aber auch auf der Endstufe sind Handwerker und kleine Einzelhandler benachteiligt. Sie sind oftmals nicht in der Lage, den gesetzlich gewollten Aufschlag an den Privatkunden weiterzureichen. Im Handel beschleunigt dieser Mehrwertsteuersprung den KonzentrationsprozeB. So hat etwa der groBflachige Anbieter „Media Markt" viele Moglichkeiten, die Mehrwertsteuererhohung so zu managen, daB die Kunden am Ende auch noch glauben, der Anbieter iibemahme die Kosten.
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Gesamtwirtschaftlich ist die Mehrwertsteuererhohung ebenfalls Gift. Die Preise steigen und die Kaufkraft wird dadurch abgewertet. SchlieBlich fuhrt die hohere Mehrwertsteuer zum Anstieg der Inflationsrate, die wegen der Bedeutung Deutschlands fur die Euro-Zone zu geldpolitischen Gegenreaktionen fiihren kann. Alles in allem ist die Erhohung der Mehrwertsteuer okonomisch, sozial und fiskalisch nicht sinnvoll. Vielmehr muB die Besteuerung starker iiber die direkten Steuem an der okonomischen Leistungsfahigkeit ansetzen. Die Basis bilden hier nicht nur Einkommen, sondem auch Vermogen, die EinfluB auf die okonomische Leistungsfahigkeit haben. Kommen wir nun zur Gewerbesteuer, hier besteht dringender Reformbedarf. Die derzeit geltende Gewerbesteuer sollte zu einer fur die Kommunen ergiebigen Gemeindewirtschaftsteuer umgebaut werden. Es handelt sich um eine eigenstandige Steuer der Kommunen, die an dem engen Band zwischen der Wirtschaft einerseits und den Kommunen mit ihrem offentlichen Leistungsangebot andererseits ansetzt. Der hier unterbreitete Vorschlag einer Gemeindewirtschaftsteuer lehnt sich an die Vorstellungen der „Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbande" an. Auf der Basis eines allgemeinen Gesetzes zur Gemeindewirtschaftsteuer wird den Kommunen - wie bei der Gewerbesteuer - durch das Recht, den Hebesatz (auf den SteuermeBbetrag) zu gestalten, fiskalische Autonomic eingeraumt. Dabei ist verbindlich ein minimaler Hebesatz von 200% vorzusehen. Diese Mindestbesteuerung hat die rot-griine Vorgangerkoalition mit Wirkung ab 2005 eingefiihrt. Sic richtet sich gegen die Gemeinden, die mit einem Hebesatz von Null den Untemehmen eine Steueroase angeboten haben. Dem MiBbrauch durch sogenannte Briefkastenfirmen irgendwo in einem kleinen Dorf in der Provinz ist somit ein Riegel vorgeschoben worden. Der Gemeindewirtschaftsteuer unterliegen alle Untemehmen, also auch die Freiberufler und Selbstandigen. Damit wird die bisherige, fiktive Abgrenzung von Gewerbebetrieben gegeniiber anderen Untemehmen sowie Freibemflem iiberwunden. Die Steuerbasis ist der Gewinn aller Untemehmen, die ja auch von der kommunalen Infrastmktur profitieren. Besteuert wird der gesamte Ertrag. Dem in der Einkommen- und Korperschaftsteuer entsprechenden Gewinn werden Ertragsteile hinzugerechnet, die als Entgelte fur betrieblich genutztes Kapital abgeflossen sind. Das sind im wesentlichen Fremdkapitalzinsen sowie anteilig Mieten, Pachten und Leasingraten. Gewinnverlagemngen iiber manipulierte Finanziemngsvorgange - etwa von einer Kommune mit einem hohen Hebesatz in eine andere mit einem niedrigen Hebesatz - wird ein Riegel vorgeschoben. Die Steuer betragt 3% des Betriebsertrags, multipliziert mit dem von der Kommune festgelegten Hebesatz, der mindestens 200% betragen muB. Der bisherige Staffeltarif ftir Personenuntemehmen wird gestrichen. Ein Freibetrag von 30.000 €, der bis zu einem Ertrag von 60.000 € wieder abgeschmolzen wird, ist vorzusehen. Die Gemeindewirtschaftsteuer bleibt weiterhin als Betriebsausgabe abzugsfahig. Nach dem oben vorgeschlagenen Konzept einer einigermaBen konsistenten Untemehmensbesteuemng wird ftir Untemehmen, die der Einkommensteuer unterliegen, dariiber hinaus noch ein pauschalierter Abzug der Gemeindewirtschaftsteuer von der Einkommensteuerschuld ermoglicht. Der derzeitige Anrechnungsfaktor betragt das l,8fache des SteuermeBbetrags. Da hierdurch eine komplette Neutralisiemng der Gewerbesteuer unter bestimmten Annahmen nur bei einem Hebesatz von 341% erfolgt, es also bei dariiber hinausgehenden Hebesatzen zu Belastungen kommt, sollte entsprechend den Vorschlagen der rot-grunen Bundesregiemng vom Febmar 2003 eine Anhebung auf das 3,8fache erfolgen. Die derzeitige, jeweils halftige Beteiligung der Lander und des Bundes an der Gewerbesteuer iiber die sogenannte Gewerbesteuemmlage wird abgeschafft. Die
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Gemeindewirtschaftsteuer wiirde den Kommunen eine von der Konjunktur vergleichsweise unabhangige, stabile und breite Einnahmenquelle sichem, uber deren Hohe vor Ort entschieden wird. Da neben den Einkommen die Hohe des Vermogensbesitzes uber die okonomische Leistungsfahigkeit entscheidet, ist deren eigenstandige Besteuerung notwendig. Die Vermogensteuer orientiert sich an der in Deutschland starken zunehmenden Ungleichverteilung der Vermogen. Wahrend nach den Daten der Einkommens- und Verbraucherstichprobe zwischen 1998 bis 2003 das Nettovermogen nominal um 17% auf 5 Billionen € gestiegen ist, ist der Anteil der vermogendsten 10% der privaten Haushalte um zwei Prozentpunkte auf knapp 47%) geklettert. Dagegen sind die unteren 50%) der Haushalte nur mit weniger als 4%) am Nettovermogen beteiligt. Die Vermogensteuer ist also keine „Neidsteuer". Eher entsteht der Eindruck, ihre Ablehnung ist die Folge eines satten Geizes. Wer uber ein hohes Vermogen verfugt, hat beste okonomische Chancen der individuellen Lebensentfaltung. Die darauf bezogene Vermogensteuer fur private Haushalte ist nicht nur aus Gerechtigkeitsgriinden richtig. Aus den Einnahmen lafit sich vielmehr offentliches Angebot finanzieren, das auch den Vermogenden niitzt. Die Vermogensteuer ist in vielen Landem eine Selbstverstandlichkeit, beispielsweise in Frankreich, Spanien, der Schweiz und den USA. So wurden im Jahr 2000 die Vermogen, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, in Deutschland mit 0,9%o, in der Schweiz dagegen mit 2,9%) und in Frankreich sogar mit 3,2% belastet. Deutschland weist im EU-Vergleich insgesamt eine sehr niedrige Besteuerung des Kapitals auf, vor allem weil die Vermogensteuer seit 1997 auBer Kraft gesetzt worden ist. Dringend erforderlich ist deshalb die Wiederbelebung einer verfassungskonformen Vermogensteuer - allerdings nur fur private Haushalte. In seinem Urteil vom 22. Juni 1995 hat das Bundesverfassungsgericht die damalige Vermogensteuer aus zwei Grunden als grundgesetzwidrig identifiziert: Zum einen wurde vollig zu Recht die Ungleichbehandlung des voll erfaBten Geldvermogens gegeniiber dem nur zu ca. 50%) berticksichtigten Marktwertes der Immobilienvermogen reklamiert; die geforderte Angleichung der Immobilienbewertung an die Marktwerte bei der kunftigen Vermogensteuer ist schlichtweg eine Selbstverstandlichkeit. Zum anderen wurde der dubiose Grundsatz einer maximal „halftigen Teilung zwischen privater und offentlicher Hand" („Halbteilungsgrundsatz") gegen die Vermogensteuer angefiihrt. Danach darf maximal die Halfte des sogenannten „Sollertrags" per Steuem durch den Staat beansprucht werden. Diese Eigentumsgarantie ist jedoch verfassungsrechtlich sowie steuertechnisch (Durchschnitts- oder Grenzsteuersatze) hochst umstritten. Auch zieht der Hinweis, mit der Vermogensteuer wurde eine doppelte Besteuerung vorgenommen, zuerst das Einkommen und dann das daraus gebildete Vermogen, nicht, denn schlieBlich steigert der Vermogensbesitz die okonomische Leistungsfahigkeit. Abgesehen davon kann die Mehrfachbesteuerung unterschiedlicher okonomischer Tatbestande durchaus sinnvoll sein. Jedenfalls ist sie bei der Umsatzbesteuerung selbstverstandlich. Zuerst werden die Einkommen mit der Einkommensteuer belastet, um dann deren konsumtive Verwendung nochmals mit (indirekten) Verbrauchsteuem zu belegen. Dabei wird die Vermogensbildung im Zuge der Verwendung des verfugbaren Einkommens fur Erspamisse nicht besteuert. Gegen die interessengeleitete Propaganda wird deshalb hier die Wiederbelebung der 1997 ausgesetzten Vermogensteuer mit folgenden Eckwerten gefordert: Besteuert werden nur die privaten Haushalte, nicht die Betriebsvermogen, deren Besteuerung auf der Basis der natiirlichen Eigentiimer maBgeblich erfolgt. Der Steuersatz betragt l%o jenseits des
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Freibetrags. Fur eine Familie mit 4 Personen wird ein Freibetrag von iiber 500.000 € eingeraumt (ausgenommen das selbst genutzte Wohneigentum, Ehepaar 300.000 €, je Kind 100.000 €). Die Einnahmen aus der Vermogensteuer werden auf etwa 14 Mrd. € geschatzt. Die Sorge, die Erhebungskosten wiirden die Einnahmen extrem reduzieren, sind angesichts dieses Volumens nicht emst zu nehmen. In der Diskussion sind auch unbiirokratische Verfahren zur Ermittlung der Vermogenswerte. Dabei gibt es eine Erhebungstechnik, welche die Kosten fiir die Finanzamter niedrig halten kann. Die Einnahmen aus der Vermogensteuer sollten auf die Finanzierung von Bildungsinvestitionen konzentriert werden. Die Verletzung des sogenannten Nonaffektationsprinzips, das eine spezifische Verwendung einzelner Steuem prinzipiell ausschlieBt, ist durchaus hinnehmbar. Es geht, wie beim Solidaritatsbeitrag auf die Einkommen- und Korperschaftsteuerschuld, der zur Finanzierung des „Aufbaus Ost" eingesetzt werden soil, um die Bereitschaft, zusatzliche Einnahmen fiir Bildungsinvestitionen zu nutzen. Dringender Reformbedarf besteht schlieBlich auch bei Erbschaft- und Schenkungssteuer, die den Vermogenswechsel im Falle des Erbanfalls bzw. der Schenkung besteuert. Da dieser Vermogenswechsel ohne eigenes Zutun die okonomische Leistungsfahigkeit der Erbnehmer erhoht, ist die Besteuerung dieses Vorgangs wichtig. Das Bundesverfassungsgericht hat die Bundesregierung in den vergangenen Jahren mehrfach aufgefordert, eine Gleichstellung bei der Bewertung der Immobilien gegenuber den Geldvermogen sicherzustellen. Derzeit sind die Freibetrage sowie die Steuersatze nach Verwandtschaftsgrad und der Hohe des Vermogenswertes gestaffelt (steigender Steuersatz mit zunehmendem Vermogenswert sowie abnehmendem Verwandtschaftsgrad). Nach einer Schatzung wird derzeit das jahrliche Erbschaftsvolumen mit durchschnittlich 65.000 € fiir rund 1,5% aller Privathaushalte angegeben. Daran gemessen ist das gegenwartige Volumen mit 3 Mrd. €, das entspricht 1% an den Steuereinnahmen, recht niedrig. Dies ist die Folge vergleichsweise niedriger Steuersatze und hoher Freibetrage. Wahrend 2001 der Anteil an Einnahmen an der Vermogensteuer in Deutschland nur 0,15% betrug, fallt in anderen wichtigen Okonomien die relative Belastung deutlich hoher aus: Frankreich 0,56%, USA 0,36%, Niederlande 0,31%, Schweiz 0,28% und GroBbritannien 0,24%. Die Eckwerte der notwendigen Reform der Erbschaft- und Schenkungsteuer sind deshalb wie folgt zu benennen: Marktnahe Bewertung der Immobilien bis mindestens 80% des Verkehrswertes; Senkung der derzeit viel zu hohen Freibetrage vor allem in der Steuerklasse I (unmittelbar Verwandte); Senkung des Spitzensteuersatzes bei den unmittelbaren Verwandten mit derzeit nur 30%, der erst ab einem zu versteuemden Erbe von 25 Mio. € einsetzt. Eine an den Zielen Finanzierung staatlicher Aufgaben, gerechte Lastverteilung und gesamtwirtschaftliche Effizienz ausgerichtete Steuerreform gehort zu einer altemativen Wirtschaftspolitik. Dieses Reformprojekt stoBt jedoch auf massiven Widerstand. Untemehmen wollen ihre Steuerlast minimieren und behaupten, damit einen Beitrag zum Wirtschaftswachstum und zum Abbau der Arbeitslosigkeit zu leisten. Die rot-griine Steuerpolitik hat vor allem mit der Untemehmenssteuerreform 2001 gezeigt, daB die angebotsorientierte Steuerpolitik am Ende nur die Staatsschulden nach oben treibt und zum Verlust infrastruktureller Standortqualitat fiihrt. Deshalb sind Altemativen notwendig. Sie sind, wie hier gezeigt wird, auch machbar. Voraussetzung dafflr ist, die Okonomie aus ihrer Dominanz herauszulosen und in die Gesellschaft zielorientiert einzubetten. Diesem erkenntnisleitenden Interesse Dieter EiBels ordnet sich der hier vorgelegte Beitrag unter.
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Literatur Bach, Stefan (2005): Koalitionsvertrag: Belastungen durch Mehrwertsteuererhohung werden nur zum Teil durch Senkung der Sozialbeitrage kompensiert, in: DlW-Wochenbericht, Berlin, No. 47/2005, S. 705-714. Herzig, Norbert/Bohn, Alexander (2006): Reform der Untemehmensbesteuerung - Zwischenbericht zum Konzept der Stiftung Marktwirtschaft, in: Der Betrieb, No. 01/06, S. 1-7. Sachverstandigenrat zur Begutachtung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung (2005): Jahresgutachten 2005/2006, Wiesbaden. Sachverstandigenrat zur Begutachtung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung/Zentrum fiir europaische Wirtschaftsforschung/Max-Planck-Institut fur Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht (2006): Reform der Einkommens- und Untemehmensbesteuerung durch die duale Einkommensteuer, Expertise im Auftrag der Bundesminister der Finanzen und fiir Wirtschaft und Arbeit, Wiesbaden. Stiftung Marktwirtschaft (2005): Tagungsbericht „Neuordnung der Untemehmenssteuer" (www.stifliing-marktwirtschaft.de/Publikationen/Stellungnahmen).
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Gerhard Backer
Niedrig- und Kombi-Lohne: soziale Spaltung statt Abbau der Arbeitslosigkeit
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Anhaltende Arbeitslosigkeit trotz „Hartz IV"
Gut 18 Monate nach Inkrafttreten der mit „Hartz IV" umschriebenen groBen Arbeitsmarktreform ist von den versprochenen Erfolgen noch nichts zu spiiren. Die Zusammenfuhmng von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe in das neue Leistungssystem „Grundsicherung fur Arbeitsuchende" nach dem SOB II hat bis dato zu keinem Riickgang von Zahl und Quote der Langzeitarbeitslosen gefuhrt. Vielmehr ist ein Anstieg der Langzeitarbeitslosigkeit zu verzeichnen. Gleichzeitig flihrt die Zunahme der Zahl der Leistungsempfanger von Arbeitslosengeld II bzw. Sozialgeld zu wachsenden Ausgaben von Bund und Kommunen (Mietkosten). Die GroBe Koalition redet - unterstiitzt durch die Medien - von „MiBbrauch", einer „Aufblahung von Bedarfsgemeinschaften" und „uberhohten Leistungen", die keinen Anreiz zur Aufnahme einer Erwerbsarbeit boten und insofem die Arbeitslosigkeit verfestigten. Was ist zu tun? Ratlosigkeit macht sich breit. Wahrend sich die SPD aufs Abwarten verlegt (die Reformen brauchen nach ihrer Auffassung Zeit, bis sie sich auswirken konnen), radikalisieren sich die Forderungen von seiten der CDU und der Wirtschaftsverbande. Die Langzeitarbeitslosigkeit - so die Position - soil durch die Schaffung und den Ausbau eines Niedriglohnsektors auf dem Arbeitsmarkt bekampft und gelost werden. Im Niedriglohnbereich sollen in Millionenhohe Arbeitsplatze neu geschaffen und die institutionellen Rahmenbedingungen insbesondere in bezug auf das SGB II so justiert werden, daB die Arbeitslosen auch bereit sind, diese Arbeitsplatze anzunehmen und zu besetzen. 2
Der Niedriglohnsektor ist schon vorhanden
Die Erwartung, sich durch die Schaffung eines Niedriglohnsektors aus der Falle der Arbeitslosigkeit zu befreien, basiert auf dem Erklarungsmuster der neoklassisch-liberalen Arbeitsmarkttheorie und wird durch die Medien popularisiert. Im Kern lautet die These, daB in Deutschland die Kosten fiir einfache Arbeit iiberhoht seien und es sich far die Unternehmen nicht rechne, „niedrigproduktive" Arbeitsplatze bereitzustellen, da sich die erstellten Produkte und angebotenen Dienstleistungen angesichts ihrer hohen Entstehungskosten auf dem Markt nicht rentabel absetzen lieBen. Als Grund fur das MiBverhaltnis zwischen niedriger Arbeitsproduktivitat und iiberhohten Arbeitskosten wird in aller Regel die Tarifpolitik der Gewerkschaften genannt, die einer Ausfacherung der Lohnstruktur auf dem Arbeitsmarkt nach unten entgegenstehe. Diese „tFberteuerung" einfacher Arbeit werde noch durch die hohen Lohnnebenkosten verscharft; insbesondere die steigenden Beitrage zur Sozialversicherung wiirden die bei den Betrieben anfallenden Arbeitskosten nach oben treiben. Aus dieser theoretischen Perspektive ist Arbeitslosigkeit demnach in erster Linie
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ein Problem unzureichender Arbeitsnachfrage aufgrund iiberhohter Arbeitskosten am unteren Ende des Arbeitsmarktes. Hinzu kommt bei der Erklarung der Arbeitslosigkeit ein zweiter Aspekt, der ebenfalls zum Mainstream in der medialen Debatte iiber die Ursachen der Arbeitslosigkeit zahlt. Arbeitslose, so heiBt es, seien auch nur unzureichend bereit, im Bereich unterer Einkommen eine Arbeit aufzunehmen. Denn durch die Konstruktion des SGB II sei eine „Arbeitslosigkeits- und Armutsfalle" entstanden: Infolge eines tiberhohten Leistungsniveaus von Arbeitslosengeld II und Sozialgeld „rechne" es sich fur die Betroffenen nicht, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen. Ohne Arbeit lebe es sich besser als mit Arbeit. Dadurch werde aber ein impliziter Mindestlohn festgeschrieben, der den Niedriglohnsektor nicht zum Durchbruch kommen lasse. Die Untemehmen konnten die entsprechenden Arbeitsplatze erst gar nicht besetzen. Nach dieser Sichtweise ist also Arbeitslosigkeit ein Problem eines institutionell fehlgesteuerten Arbeitsangebotes. Wenn man sich mit diesen Erklarungsansatzen kritisch auseinandersetzt, so erstaunt als erstes die Forderung, daB in Deutschland ein Niedriglohnsektor „geschaffen" werden miisse. Denn die empirischen Befiinde machen Uberdeutlich, daB es diesen Sektor langst und mit wachsender Bedeutung gibt. So hat sich nach Berechnungen des Instituts fur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (lAB) der Anteil der Geringverdiener von 15,8% (1997) auf 17,4% (2001) erhoht (Rhein/Gartner/Krug 2005; KalinaAVeinkopf 2006). Dieser Abwartstrend diirfte sich 2001 durch die angestiegene Arbeitslosigkeit, aber auch durch den Druck von „Hartz IV" noch verstarkt haben. Im Tarifbereich wird mittlerweile ein Wachmann (in Thuringen) mit einem tariflichen Grundentgelt von 4,15 Euro in der Stunde abgefunden (Bispinck 2006). Wichtiger aber noch ist die Feststellung, daB die kollektivvertragliche Festlegung von Arbeitsentgelten schon langst nicht mehr selbstverstandlich ist. Gerade im Bereich von Dienstleistungstatigkeiten und in den Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit (insbesondere in den neuen Bundeslandem) breitet sich die auBertarifliche Bezahlung rapide aus. 3
Kommt es bei Niedriglohnen zu Netto-Beschaftigungseffekten?
Fragt man jetzt nach den moglichen Beschaftigungseffekten einer weiteren Ausdehnung des Niedriglohnsektors, ist zunachst darauf zu verweisen, daB als Erfolgskriterium nicht die Schaffung bzw. Besetzung einzelner Arbeitsplatze dienen kann, sondem der Zuwachs an Arbeitsplatzen auf dem Arbeitsmarkt insgesamt. Es geht also um NettoBeschaftigungseffekte, d.h. die neuen Arbeitsplatze miissen mit den Arbeitsplatzen saldiert werden, die infolge dieser MaBnahme womoglich an einer anderen Stelle im Betrieb und/oder auf dem Arbeitsmarkt insgesamt entfallen. Zu beriicksichtigen sind also immer die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und Riickwirkungen. Die Erwartung eines positiven Netto-Beschaftigungseffektes beruht dabei auf der neoklassischen „Grenzproduktivitatstheorie der Entlohnung". Der Leitsatz lautet: Nur durch die Entlohnung nach der (Grenz-)Produktivitat, also durch eine „markt- und produktivitatskonforme" Entlohnung, entstehen neue Einfacharbeitsplatze. Unterstellt wird das Modell eines sich auf dem Arbeitsmarkt frei bildenden, produktivitatsgerechten Gleichgewichtslohnes, der den Arbeitsmarkt „raumt".
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Die zu klarende Frage ist nun gerade, wie in einer Marktwirtschaft unter Beriicksichtigung gesamtwirtschaftlicher Ruckwirkungen der markt- und produktivitatsgerechte (Real-) Lohn zu bemessen und zu beziffem ist (zum folgenden vgl. Backer 2002). Schon bei industriellen Arbeitsplatzen ist dies schwierig. Bei Dienstleistungstatigkeiten versagt der Ansatz ganzlich. Was ist - um Beispiele zu nehmen - die „Produktivitat" und gar „Grenzproduktivitat" einer Krankenschwester, eines Pfi)rtners oder einer Putzhilfe, an der sich die Entlohnung orientieren soil? Die neoklassische Lohn- und Beschaftigungstheorie macht es sich hier leicht: Da Arbeitslosigkeit als Indikator fur iiberhohte, nicht markt- und produktivitatsgerechte Lohne dient, miissen die Lohne so weit und lange herabgesetzt werden, bis endlich Arbeitslosigkeit iiberwunden ist. Mit diesem ZirkelschluB („die iiberhohten Lohne sind fiir die Arbeitslosigkeit verantwortlich, und die anhaltende Arbeitslosigkeit zeigt, daB die Lohne zu hoch sind") immunisiert sich diese Theorie allerdings gegen jede Beweisflihrung. GleichermaBen schwierig zu bemessen ist der Produktivitatszwwac/?^, der als MaBgroBe ftir Lohnerhohungen dienen kann. Ublicherweise wird ein Zuwachs konstatiert, wenn bei gleichem Arbeitseinsatz der Output steigt. Aber was ist der Output bei einer Krankenschwester, bei einer Putzhilfe usw.? Mit der wesentlich auf technologischen RationalisierungsmaBnahmen beruhenden Produktivitatssteigerung in der Industrie laBt er sich nicht vergleichen, weil der Einsatz von Maschinerie gerade bei den sozialen und haushaltsbezogenen Diensten begrenzt ist. Wenn eine Krankenschwester oder eine Putzhilfe mit ihren Tatigkeiten keinen im industriellen Sinne vergleichbaren Produktivitatszuwachs erzielen, soil das heiBen, daB der Lohnsatz far ihre Tatigkeiten dauerhaft festgeschrieben bleiben muB, weil es ansonsten zur Vemichtung ihrer Arbeitsplatze kommt? Eine solche Festschreibung der Lohne fur vermeintlich „unproduktive" Tatigkeiten ist okonomisch weder sinnvoll noch machbar, da die Hohe der Lohnsatze eben auch durch die Reproduktionskosten der Arbeitskraft bestimmt wird. Wenn dem nicht so ware, durfte eine Krankenschwester in Berlin, die nicht „produktiver" ist als ihre Kollegin in osteuropaischen Landem, nicht mehr als diese verdienen. Die notwendigen Reproduktionskosten bestimmen den (Min-dest-)Preis der Arbeit, sie sind nicht fur alle Lander gleich und auch nicht ein far allemal festgeschrieben, sondem hangen vom allgemeinen Leistungs- und Wohlstandsniveau einer Gesellschaft ab. Diese Hinweise zeigen, daB es okonomisch nicht auf die „technische" Produktivitat ankommt, sondem immer auch die preisliche Komponente berucksichtigt werden muB. So steigt die „okonomische" Arbeitsproduktivitat auch dann, wenn far eine Dienstleistung auf einem Markt ein hoherer Preis erzielt werden kann. Da der Marktpreis einer Dienstleistung neben den Entstehungskosten auch durch die Wertschdtzung der Nachfrager bestimmt wird, hangt es auch von der Wertschatzung der Nachfrager ab, wie „okonomisch" produktiv ein Arbeitnehmer bei der Erbringung einer Dienstleistung ist. Auch insofem ist die Krankenschwester in Berlin „produktiver" als ihre Kollegin in Warschau. Ob die Wiedereinfuhrung von „Leichtlohngruppen" im industriellen Sektor iiberhaupt zu Beschaftigungsgewinnen fahrt, ist kaum wahrscheinlich. Es miiBte zu einer Substitution von Kapital durch Arbeit kommen; dies ist angesichts des hohen Rationalisierungsdrucks, in der sich die im globalen Wettbewerb stehende Exportindustrie befmdet, eine wenig erfolgreiche und sinnvolle Strategic. Denn in der betrieblichen Wirklichkeit wird die Wahl des Produktionsverfahrens nicht primar durch Faktorpreisveranderungen bestimmt, vielmehr sind die Einsatzrelationen von Kapital und Arbeit - zumindest auf mittlere Sicht weitgehend vorgegeben und nicht beliebig substituierbar. Und auch der langfristige Trend
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der Umsetzung des technischen Fortschritts und der Kapitalintensivierung der Produktion hangt mehr von anderen Daten ab als von den relativen Lohn- und Kapitalkosten. Unter den Bedingungen intemationaler Konkurrenz ist die Anwendung der technologischen Neuentwicklung eine Wettbewerbsgrofie, die sich vergleichsweise unabhangig von Verschiebungen der Lohnstruktur ergibt. Dies um so mehr, wenn hoch entwickelte, kapitalsparende Technologien zum Einsatz kommen. Fiir diesen Zusammenhang spricht auch, daB die unteren Lohn- und Gehaltsgruppen im industriellen Bereich in den zuruckliegenden Jahren immer schwacher besetzt sind, d.h. daB die vorhandenen Niedriglohne gar nicht genutzt werden, da sie nicht mehr der gewandelten, hoherwertigen Arbeitsplatzstruktur entsprechen. Bei den personen- und haushaltsbezogenen Dienstleistungen laBt sich der Zusammenhang zwischen niedrigen Arbeitskosten, entsprechend niedrigen Preisen und einer hoheren Nachfrage durch die privaten Haushalte in der Richtung sehen, daB es sich die Haushalte vermehrt leisten konnen, auf Hilfen aller Art zuriickzugreifen und Eigenarbeit durch bezahlte Fremdarbeit zu ersetzen. „Kaufen statt machen", heiBt die Devise. Allerdings bleibt offen, im welchem MaBe sich im Nettovolumen, also unter Berucksichtigung der gesamtwirtschaftlichen Kreislaufeffekte, ein hoheres Beschaftigungsniveau ergibt. Wird das Einkommen der privaten Haushalte ceteris paribus vermehrt fur (preiswertere) private Dienstleistungen ausgegeben, dann verschiebt sich zunachst nur die private Nachfrage, etwa zu Lasten der Nachfrage nach industriellen Produkten mit entsprechenden Absatz- und BeschaftigungseinbuBen dort. 4
Verdrangungseffekte auf dem Arbeitsmarkt
Ein weiterer grundlegender Gesichtspunkt bleibt zu beachten: Bei der Arbeitsnachfrage der Untemehmen handelt es sich stets um eine aus dem am Markt absetzbaren Produktionsbzw. Dienstleistungsvolumen abgeleitete Nachfrage. Arbeitsmarkte sind den Produkt- und Dienstleistungsmarkten nachgelagert. Wenn es nicht zu einer Erhohung des Produktionsund Dienstleistungsvolumens insgesamt, also zu einer Steigerung des Sozialproduktes kommt, besteht die Gefahr, daB ein Niedriglohnsektor gesamtwirtschaftlich lediglich zu einer Substitution von Arbeitskraften, nicht aber zu einer Mehrproduktion und einer entsprechenden Erhohung des Arbeitsvolumens ftihrt. Das heiBt: Betroffen von der Ausweitung von Niedriglohnen durften nicht nur die Beschaftigten in den untersten Lohngruppen sein. Vieles spricht dafiir, daB die Untemehmen als Folge erweiterter Moglichkeiten, Arbeitskrafte preiswerter beschaftigen zu konnen, eher mit einer Ersetzung teurer durch verbilligte Arbeit reagieren, als daB iiber eine ErschlieBung neuer Produkte und Dienstleistungen zusatzliche Arbeitsplatze geschaffen werden. Solche Substitutionseffekte sind nicht unmittelbar im Betrieb erkenntlich, da sie nicht primar iiber Anpassungen auf den innerbetrieblichen Arbeitsmarkten erfolgen, sondem sich im wesentlichen iiber Anpassungsprozesse zwischen den Untemehmen vollziehen. Ein Untemehmen, das nur noch Personal zu den abgesenkten Tarifen beschaftigt, wird andere Wettbewerber, die (noch) zu den bisherigen Tarifen bezahlen, unter Dmck setzen und auch hier einen AbwartsprozeB erzwingen. Das pragnanteste Beispiel fur diesen Verdrangungsmechanismus bietet die Entwicklung der geringfiigigen Beschaftigungsverhaltnisse in Deutschland. Bei einem insgesamt riicklaufigen Arbeitsvolumen und sinkenden Beschaftigungszahlen haben die Betriebe die
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kostengunstigen Minijobs deutlich ausgeweitet - zu Lasten sozialversicherungspflichtiger Arbeitsverhaltnisse (Backer 2006). Wenn das Einkommensniveau in einer Gesellschaft insgesamt steigt, dann konnen auch die Lohne in jenen Tatigkeitsfeldem des Dienstleistungssektors wachsen, deren technische Produktivitat gering ist bzw. die ihre technische Produktivitat nicht gesteigert haben, da ja auch die kaufkraftige Nachfrage nach diesen Tatigkeiten steigt. Bei der allgemeinen Lohnentwicklung in den Dienstleistungsberufen und -branchen bleibt zu beachten, daB sich diese in der Bundesrepublik nicht am industriellen, sondem am ge^amrwirtschaftlichen Produktivitatsfortschritt orientiert hat. Auch die Lohnentwicklung in der Industrie ist in der Tendenz dem gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt gefolgt. Das aber heiBt, daB sich im industriellen Bereich Preissenkungen durchgesetzt haben. Die in der Folge entstehenden Zuwachse der Realeinkommen eroffnen ihrerseits die Moglichkeit, einen steigenden Anteil des Einkommens ftir Dienstleistungen auszugeben bzw. die offentliche Bereitstellung von Dienstleistungen durch hohere Abgaben zu fmanzieren. 5
Was ist einfache Arbeit?
Es fallt auf, daB bei der Niedriglohnstrategie durchgangig von niedrig qualifizierten Einfacharbeitsplatzen die Rede ist. Um welche Dienstleistungen soil es sich hierbei handeln? Dies wird meist nicht naher erlautert. Der Markt wird es richten, lautet die iibliche Antwort. Hinweise auf die Beschaftigungsliicken im Gesundheitswesen und den sozialen Diensten sowie auf die sogenannten distributiven Dienste und die freizeitbezogenen Dienste lassen allerdings erahnen, daB es sich hier in erster Linie um Frauenarbeitsplatze handelt. Gemeint sind tatsachlich die Tatigkeiten von Frauen und unter der Hand werden personenbezogene und soziale Dienstleistungstatigkeiten mit unqualifizierten Tatigkeiten gleichgesetzt. Es zeigt sich aber, daB diese Dienstleistungen in den meisten Fallen zugleich qualifizierte Tatigkeiten sind. Soziale Dienste an alteren Menschen beispielsweise, auch sogenannte einfache Dienste, um ein Beispiel zu nehmen, setzen sowohl eine allgemeine als auch eine fachliche Qualifikation voraus. Zusammenfassend: Auch wenn diese Tatigkeitsfelder im industriellen Sinne wenig „produktiv" sind, so begnindet dies noch langst keine Billiglohne. Weder aus allokativen noch aus distributiven Griinden gibt es einen AnlaB, arbeitsintensive und hohe Motivation und Verantwortung voraussetzende Tatigkeiten in den Sozial- und Humandiensten von der allgemeinen Einkommensentwicklung abzukoppeln. Auf Dauer wiirden sich ftir diese Tatigkeiten qualifizierte Beschaftigte nicht mehr finden lassen. Die Aktivierung der privaten Dienstleistungsnachfrage durch eine Lohnspreizung nach unten kann also in wirtschaftsund beschaftigungspolitischer Sicht iiberhaupt nur bei gering qualifizierten Einfachsttatigkeiten Sinn machen und sie wird kontraproduktiv sein, wenn die Tatigkeiten Qualifikationen erfordem, wie beispielsweise im Bildungsbereich, bei den sozialen Diensten oder bei handwerklichen Tatigkeiten.
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Kombi-Lohne als sozialvertragliche Niedriglohne?
Auch sozial- und gesellschaftspolitisch ist die Niedriglohnstrategie kritisch zu bewerten. Der entscheidende Punkt ist, ob das Entgeltniveau uberhaupt noch die Voraussetzungen bietet, damit das sozial-kulturelle Existenzminimum zu gewahrleisten ist und Armutslagen zu vermeiden sind. Ist das nicht der Fall, kame es zu einer Situation der „Amiut in der Arbeit" bzw. der working-poor. Aber auch darauf gibt es im Mainstream wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Denkens eine Antwort: Die niedrigen Lohne sollen im Sinne einer „Kombi-Lohn-Strategie" im Bedarfs- und Bediirftigkeitsfall aufgestockt werden. Oder die Arbeitgeber sollen durch den Staat subventioniert werden, so daB sich uber diesen Weg die tatsachlichen Arbeitskosten verringem. Einkommenssubventionen (Kombi-Lohne) fur Arbeitnehmer als Aufstockungsleistungen sind allerdings nichts Neues. Sie sind im SGB II bereits fest verankert. Denn das durch das „Nachrangprinzip" charakterisierte ALG II rechnet Erwerbseinkommen auf die Hilfeleistungen nicht voll an, sondem sieht Freibetrage vor: Grundfreibetrag 100 Euro, zusatzlich anrechnungsfrei bis zu 800 Euro 20% sowie 10% zwischen 800 Euro und 1.500 Euro mit Kindem bzw. 1.200 Euro ohne Kinder. Erwerbstatige Hilfeempfanger stehen sich dadurch in ihrem Gesamteinkommen immer etwas besser als nicht erwerbstatige Hilfeempfanger. Nun laBt sich dariiber diskutieren, diese Freibetrage hoher anzusetzen, um den Anreiz zur Aufnahme einer Arbeit zu verstarken. Dieser Ansatz beruht auf der oben skizzierten Diagnose, die Aufnahme niedrig bezahlter Arbeit „lohne" sich nicht. Genau dieser Ansatz ist aber als Erklarung fiir die Arbeitslosigkeit nicht tragfahig. Denn das Kemproblem der Lage auf dem Arbeitsmarkt besteht in der Diskrepanz zwischen den vorhandenen Arbeitsplatzen und dem hohen Potential an Menschen, die einen Arbeitsplatz suchen. Die Arbeitsuchenden kommen deswegen nicht in Arbeit, weil die Zahl der Arbeitsplatze zu gering ist, und zwar in der gesamten Breite des Arbeitsmarktes: Auch offene, d.h. unbesetzte Stellen im Niedriglohnbereich, deren Bezahlung sich nach den unteren Tarifgruppen richtet, so z.B. im Einzelhandel, gibt es in nennenswerter Zahl nicht. Einen treffenden Beleg fur den Tatbestand, daB Arbeitslosigkeit Folge eines Arbeitsmarktungleichgewichtes ist und nicht als Problem fehlender Arbeitsanreize oder unzureichender Sanktionsinstrumente umgedeutet werden kann, findet man, wenn die Arbeitslosigkeit regional aufgeschlusselt wird. Sind Arbeitsmotivation und Arbeitsanreize in jenen Regionen gering, die durch hohe Arbeitslosenquoten gekennzeichnet sind? Soil etwa das Verhalten der Menschen im Ruhrgebiet oder in den neuen Landem fur die dort hohe Arbeitslosigkeit (mit Arbeitslosenquoten von bis zu 30%) verantwortlich sein? Sind die Arbeitsmarktregionen im Suden Deutschlands deswegen begiinstigt (mit Arbeitslosenquoten von teilweise unter 5%), weil die Menschen hier eine hohere Arbeitsbereitschaft aufweisen? Es bleibt die schlichte Erkenntnis, daB durch einen groBeren Anreiz oder Druck, Arbeit aufzunehmen, nicht plotzlich neue Arbeitsplatze entstehen. Vielmehr weist alles darauf hin, daB es zu verscharften Selektions- und Verdrangungseffekten gerade zu Lasten der Geringqualifizierten und Langzeitarbeitslosen kommt. Auch die Annahme, Arbeitslose wUrden sich fur langere Zeit im Sozialleistungsbezug „einrichten", laBt sich nicht bestatigen. Qualitative Studien kommen zu dem Ergebnis, daB sich die Menschen bei der Aufnahme von Erwerbsarbeit eben nicht vorrangig an monetaren Nutzen-Kosten-Kalktilen orientieren. Die Anreizstrukturen und das tatsachliche Verhalten
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der Menschen konnen nicht gleichgesetzt werden, da andere Faktoren und Beweggriinde fiir die Bereitschaft zur Erwerbstatigkeit viel entscheidender sind (Gebauer/Petschauer/ Vobruba2002). Wenn diese Befonde zur Kenntnis genommen werden, was soil daiin iiber hohere Freibetrage, d.h. eine nur noch sehr begrenzte Anrechnung des Arbeitseinkommens auf den Transferbezug, erreicht werden? Eine nur noch begrenzte Anrechnung des Erwerbseinkommens auf die Leistungen nach dem SGB II, uber die geltenden Freibetrage hinaus, fiihrt zwangslaufig zu dem Problem, daB es zu einem erheblichen Zuwachs der Empfangerzahlen und zu erheblichen fmanziellen Mehrbelastungen kommt: Zum einen bleiben mehr Arbeitslose im Leistungsbezug, da bis in mittlere Einkommensbereiche hinein Leistungsanspruche bestehen wiirden; zum anderen gebietet es der Gleichbehandlungsgrundsatz, nicht nur jenen Anspriiche auf Transfers zu gewahren, die aus der Arbeitslosigkeit heraus eine Erwerbstatigkeit aufnehmen, sondem auch jenen, die bereits erwerbstatig sind und bei hoheren Freibetragen mit ihrem Nettoeinkommen nun unterhalb der Leistungsschwelle liegen (Backer 2000). Das Problem eines bis in mittlere Einkommensgruppen reichenden Anspruchs auf Transfers ist auch fur alle Varianten einer Negativsteuer typisch. So hatten bei einem Anrechnungsfreibetrag von 50% des Erwerbseinkommens alle Erwerbstatigen Anspruch auf erganzende Transferzahlungen, deren Nettoeinkommen bis zur doppelten Hohe des haushaltsbezogenen Existenzminimums reicht. Die Leistungsempfangerzahl wiirde sich gegenuber der heutigen Situation vervielfachen. Zugleich ergabe sich eine breite Oberschneidung zwischen Einkommensteuerzahlungen und Transferleistungen. Um dies zu vermeiden, miiBte - wie in den Negativsteuerkonzepten auch konsequent vorgesehen - der steuerliche Grundfreibetrag bis zur Transfergrenze angehoben werden. Die Folge waren massive Steuerausfalle. Als Folge dieser Doppelwirkung von steigenden Ausgaben und sinkenden Steuereinnahmen wurden sich Belastungen fiir die offentlichen Haushalte in dreistelliger Milliardenhohe und eine sehr hohe steuerliche Grenzbelastung jenseits der Transferentzugsgrenze ergeben (Bundesministerium der Finanzen 1996). Unter der Rahmenbedingung begrenzter fiskalischer Spielraume lassen sich im Ergebnis hohere Freibetrage nur fmanzieren, wenn gleichzeitig das Existenzminimum drastisch abgesenkt wird, namlich um ein Drittel bis zur Halfte! Das Existenzminimum wiirde dann nur noch durch die Kombination von Arbeitseinkommen und Transferleistung erreicht (Sinn et al. 2006, Bonin/Kempe/Schneider 2003). Es kame zu einem „Kombi-Einkommen", das aber nicht automatisch, sondem dann (und nur dann) gezahlt wird, wenn Bediirftigkeit im Haushaltszusammenhang besteht, wenn also zuvor das Einkommen und Vermogen der Leistungsbezieher und ihrer unterhaltspflichtigen Angehorigen in Anrechnung gebracht worden sind. Die eigentliche Intention der MaBnahmen liegt insofem darin, den „Sperrklinkeneffekt" des gegenwartigen Existenzminimums („Anspruchslohn") aufzuheben und die Lohne unter dem Druck, unter alien Umstanden einen Arbeitsplatz zu finden, noch unter die gegenwartigen tariflichen Niedrigentgelte hinaus abzusenken. Letztlich geht es also darum, zugleich die Arbeitsnachfrage im Niedriglohnsegment zu verstarken. Die Konsequenzen einer solchen, auf den ersten Blick rein technisch erscheinenden Regelung waren drastisch. Es wiirde der Weg zu einer anderen Gesellschaft eingeschlagen, weg von den Grundsatzen eines Sozialstaates, wie sie auch im Grundgesetz normiert sind, hin zu einem ungehemmten, deregulierten Arbeitsmarkt. Arbeitslose waren gezwungen, jeden Job zu jeglichen Be-
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dingungen anzunehmen, um iiberhaupt iiberleben zu konnen. Arbeit um jeden Preis! Wer redet da noch von der „Wurde des Menschen" (Art. 1 GG) oder von der Verpflichtung des Sozialstaates, Armut zu vermeiden, das sozial-kulturelle Existenzminimum zu sichem und soziale Teilhabe zu gewahrleisten? Was aber, wenn dennoch Arbeitsplatze fehlen? Die Kommunen sollen verpflichtet werden, Arbeitsgelegenheiten fiir alle Arbeitslosen anzubieten. Dies waren dann „1 EuroJobs" fiir Millionen. Da es nach dem Selbstverstandnis der Neoklassik unfreiwillige Arbeitslosigkeit gar nicht gibt, weil es nur darauf ankommt, daB sich die Arbeitsuchenden ausreichend flexibel an die Bedingungen des Marktes anpassen, was vor allem die Hohe der Entgelte betrifft, gilt die Lebenslage dieser Personen als „freiwillig" gewahlt. Der Tatbestand, daB Arbeitslosigkeit etwas mit fehlenden Arbeitsplatzen und ungiinstigen gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu tun hat, kommt in diesem Modelldenken nicht vor. 7
Kombi-Lohne durch Subventionierung der Lohnnebenkosten
Von einer Niedriglohnstrategie im engeren Sinne sind jene MaBnahmen zu unterscheiden, die darauf abzielen, die Arbeitskosten der Untemehmen im unteren Qualifikationsbereich zu senken, ohne daB es zu einer Minderung der ausgezahlten Lohne und zu einer moglicherweise notwendigen Lohnaufstockung durch Sozialleistungen/erganzendes ALG II kommt. Dies kann durch eine Verminderung der Lohnnebenkosten in diesem Beschaftigungssegment erreicht werden. An Vorschlagen und Modellen in dieser Richtung mangeh es nicht (Backer 2005). Den derzeit prominentesten Platz in der deutschen arbeitsmarktund sozialpolitischen Diskussion nimmt das Modell ein, wonach der Staat im unteren Einkommensbereich die Finanzierung der Sozialversicherungsbeitrage iibemimmt. Fiir die Arbeitgeber sinken dadurch die Lohnnebenkosten, fiir die Beschaftigten mindert sich die Spanne zwischen Brutto- und Nettoentgehen. Danach wird bei der Beitragsbemessung analog zur Einkommensteuer ein Sockelfreibetrag eingefiihrt (vorgeschlagen wird ein Betrag von 250 Euro im Monat), auf den keine Beitrage erhoben werden. Im Ergebnis werden damit zwar alle Einkommen entlastet, die unteren Einkommen aber deutlich iiberproportional. Auch hier werden die Beitragsausfalle durch den Bund erstattet, so daB - im Unterschied zur gegenwartigen Mini-Job-Regelung - die Leistungsansprtiche im unteren Einkommensbereich nicht beeintrachtigt werden. Da diese Beitragssubventionierung eine neues Segment des Arbeitsmarktes eroffnen soil und als Dauerleistung angelegt ist, kann sie nicht nur auf die Beschaftigung von Arbeitslosen beschrankt werden, sondem muB nach dem Gleichheitsgrundsatz den Arbeitgebem fiir alle Beschaftigten zustehen, die unter diese Einkommensgrenzen fallen. Betroffen waren also auch die bestehenden Arbeitsverhaltnisse in diesem Einkommenssegment. Es kommt also auf jeden Fall zu Mitnahmeeffekten. Die Dauersubventionierung der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeitrage wird zu einem enorm fmanzaufwendigen Unterfangen, das auch nicht durch fmanzielle Entlastungen infolge sinkender Arbeitslosigkeit kompensiert wird. Die Gewerkschaften geraten bei dem Modell tarifpolitisch stark unter Druck: Denn wenn die Aussage stimmt, daB die Arbeitskosten zu hoch sind und der Staat diese heruntersubventionieren muB, um mehr Beschaftigung zu schaffen, dann bleibt den betroffenen Gewerkschaften wenig anderes iibrig, als im Niedriglohnsegment ihre Tarifpolitik quasi
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„einzustellen". Jede Tariferhohung wiirde namlich im Zuge der jahrlichen Tarifrunden die Arbeitskosten wieder erhohen! Die erwarteten Beschaftigungseffekte dieser unterschiedlichen Formen einer Umfinanzierung griinden wiederum auf der These, die Arbeitslosigkeit im allgemeinen sowie die Beschaftigungsprobleme von Unqualifizierten im besonderen seien eine Folge uberhohter Arbeitskosten und konnten durch die Absenkung der Beitragssatze zur Sozialversicherung gelost werden. Folgt man jedoch der Diagnose, daB die krisenhafte wirtschaftliche Entwicklung keine Konsequenz einer Angebots- und Kostenproblematik ist, sondem maBgeblich durch die unzureichende Konsumnachfrage der privaten Haushalte verursacht wird, fiihrt der kostenbetonte Umfinanzierungsansatz in die falsche Richtung. Irritierend ist des weiteren, daB die beschaftigungspolitisch gefuhrte Debatte um die erforderliche Absenkung der Lohnnebenkosten lediglich einen Teil der Arbeitskosten als den Dreh- und Angelpunkt des Beschaftigungsniveaus ansieht. Es kommt aber bei der Kalkulation eines Untemehmens nicht auf einzelne Elemente der Arbeitskosten, sondem auf die Personal- bzw. Arbeitskosten insgesamt an. Dabei ist es letztlich unerheblich, wie die Arbeitskosten intern aufgeteilt werden. Wenn also Niveau und Struktur der Lohnnebenkosten und hier insbesondere der Arbeitgeberbeitrage zur Sozialversicherung als beschaftigungsfeindlich identifiziert werden, dann muB dieses Diktum erst recht flir die Arbeitsgesamtkosten, die im wesentlichen durch die tarifvertraglich vereinbarten Elemente von Niveau und Struktur der direkten Arbeitsentgelte bestimmt sind, Geltung haben (Backer 2005). Zugleich ist zu beriicksichtigen, daB eine Finanzierung der ausgefallenen Sozialversicherungsbeitrage iiber Steuem - auf das Einkommen oder den Verbrauch - auf die Hohe der Arbeitskosten zuriickwirkt. Allerdings lassen sich die Auswirkungen einer Umfmanzierung der Sozialversicherung auf Niveau und Struktur der Arbeitkosten vorab kaum bestimmen, da sie letztlich im Verteilungskonflikt entschieden werden. So bleibt offen, in welchem MaBe die Gewerkschaften beispielsweise einen Anstieg des Preisniveaus, der durch eine Mehrwertsteuererhohung bewirkt wiirde, in den TarifVerhandlungen zur Geltung bringen und ausgleichen konnten. Bei einer Reduzierung der Beitrage sind also zwingend die Wirkungen durch die Gegenfmanzierung zu beriicksichtigen (Kaltenbom et al. 2004). Auf der einen Seite erfolgt durch die Beitragssatzsenkungen eine Entlastung von Unternehmen und Beschaftigten mit der Folge sinkender Arbeitskosten bei den Untemehmen und steigender Nettoeinkommen sowie Nachfragepotentiale bei den Beschaftigten. Auf der anderen Seite werden durch Steuererhohungen (z.B. Anhebung von Einkommensteuer oder Mehrwertsteuer) nachfragemindemde Effekte ausgelost. Berechnungen auf der Basis von Simulationsmodellen kommen zu einem emiichtemden Ergebnis: Bei einer Beitragssatzsenkung um einen Punkt und einer Gegenfinanzierung durch die Anhebung der Mehrwertsteuer entsteht - je nach Anlage des Modells und den unterstellten gesamtwirtschaftlichen Reaktionsmustem - ein Beschaftigungseffekt in der Schwankungsbreite zwischen minus 17.000 Personen und plus 129.000 Personen (Walwei/Zika 2005). Bei der Interpretation dieser Ergebnisse ist zu beriicksichtigen, daB die verwandten Simulationsmodelle auf der kritisch zu diskutierenden Annahme basieren, daB sinkende Reallohne einen Beschaftigungsaufbau bewirken. So errechnet sich ein um so hoherer Beschaftigungseffekt, je weniger die gesunkenen Beitrage und die gestiegene Mehrwertsteuer dazu fiihren, daB hohere Lohne durchgesetzt werden.
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Vorrang fiir eine offensive Beschaftigungsstrategie
Der in den letzten Jahren verstarkt feststellbare Ruckgang der Beschaftigung von Geringqualifizierten laBt sich nicht gleichsetzen mit einem Ruckgang der Arbeitsplatze, die nur geringe Qualifikationen erfordem. Viele dieser Arbeitsplatze sind noch vorhanden, aber falsch besetzt. Eine zentrale Ursache fur die uberproportional hohe Arbeitslosigkeit der Geringqualifizierten liegt insofem darin, als unter dem Druck eines langjahrigen globalen Arbeitsmarktungleichgewichts ein Verdrangungswettbewerb (Downgrading) zu Lasten der weniger Qualifizierten und Leistungsfahigen auf dem Arbeitsmarkt stattgefunden hat und durch die Verscharfung von Zumutbarkeitsregelungen noch gefordert worden ist. Im Ergebnis gibt es eine hohe qualifikatorische Fehlbesetzung von Arbeitsplatzen (KalinaAVeinkopf 2005). Insbesondere viele Frauen befinden sich auf ausbildungsinadaquaten Arbeitsplatzen, also in unterwertiger Beschaftigung. Diese Zusammenhange zeigen, daC es irreftihrend ist, in einer insgesamt hoch entwickelten Volkswirtschaft das Heil in einer Ausweitung von Einfacharbeitsplatzen zu suchen. Die Beschaftigungsperspektiven in Deutschland bestehen gerade nicht darin, einfache Dienstleistungsarbeitsplatze auszubauen. Vielmehr besteht - nicht nur gemessen an den USA, sondem auch an einem beschaftigungspolitisch so erfolgreichen Land wie Danemark - Nachholbedarf bei qualifizierten untemehmens- und personenbezogenen Dienstleistungen. Gelingt diese Vorwartspolitik einer Ausweitung qualifizierter (Dienstleistungs-)Arbeitsplatze, bieten sich Aufstiegschancen fur die unterwertig Beschaftigten und die freigemachten Platze konnen mit Geringqualifizierten besetzt werden. Zwischen qualifizierten und unqualifizierten Dienstleistungen besteht zugleich ein komplementares Verhaltnis: Bei einer insgesamt verbesserten Beschaftigungssituation und einer zunehmenden Zahl qualifizierter Arbeitsplatze laBt sich auch eine Ausweitung der Arbeitsplatze fiir Geringqualifizierte erwarten. DaB es bei einer besseren Arbeitsmarktlage moglich ist, Arbeitsplatze ftir Geringqualifizierte zu schaffen bzw. mit Geringqualifizierten zu besetzen, zeigt ein Blick auf die regionalen Arbeitsmarkt- und Arbeitslosigkeitsstrukturen in Deutschland. In den Arbeitsmarktbezirken und -regionen mit einer niedrigen Arbeitslosenquote liegt auch die Arbeitslosigkeit der Geringqualifizierten (absolut und relativ) deutlich unter dem gesamtwirtschaftlichen Schnitt - ohne daB es dort des Ausbaus von Einfacharbeitsplatzen und Niedriglohnen bedurft hatte. Dieser Zusammenhang bedeutet aber auch, daB die Erwartung verfehlt ist, die Beschaftigungsprobleme in den strukturschwachen Regionen (insbesondere in den neuen Bundeslandem) durch einen Niedriglohnsektor bei den Dienstleistungen zu losen. Der Schliissel zur Beschaftigung auch von Geringqualifizierten liegt eindeutig in der Verbesserung der allgemeinen Wirtschaftslage. AUerdings nimmt in einem Hochtechnologie- und Hochlohnland der Anteil von Einfacharbeitsplatzen ab, und zwar gleichermaBen im industriellen wie im Dienstleistungssektor. Eine vorwarts gerichtete Beschaftigungsstrategie kann deshalb nicht darauf verzichten, die Arbeitsmarktchancen von Geringqualifizierten durch QualifizierungsmaBnahmen zu verbessem. Ein GroBteil der Betroffenen ist durch solche MaBnahmen erreichbar. Die Qualifizierung muB sich aber auch auf jene Arbeitnehmer beziehen, die - womoglich iiber einen langeren Zeitraum - unterwertig beschaftigt sind, aber zu anderen, anspruchsvolleren Tatigkeiten durchaus in der Lage waren. LFber diesen Weg kann ein Upgrading-VxozQ^ einsetzen, der auch jene erfaBt, die auf der untersten Stufe der Treppe stehen. Sicherlich ist
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es richtig, daB allein eine bessere Qualifizierung keine Arbeitsplatze schafft, aber sie hilft, Mismatch-FrohlQWiQ zu verringem. Eingebunden in eine allgemeine Beschaftigungsforderung, laBt sich das Risiko von Forder- und Qualifizierungsketten vermeiden. Bei einer differenzierten Analyse der Beschaftigungsprobleme von Geringqualifizierten ist ein weiterer Punkt zu berucksichtigen: Der niedrige formale Qualifikationsgrad alleine erweist sich nicht als das Haupthindemis fur den Ubergang von Arbeitslosigkeit in Beschaftigung. Entscheidendes Vermittlungshemmnis ist das fortgeschrittene Lebensalter. Immerhin zwei Drittel aller Langzeitarbeitslosen sind 45 Jahre und alter. Zwar schneiden Arbeitslose ohne Qualifikation bei der beruflichen Eingliederung immer schlechter ab als solche mit einer Ausbildung. Der Unterschied ist jedoch im Vergleich zu den sich durch das Alter ergebenden Problemen gering. Noch schwieriger erweist sich die Lage, wenn gesundheitliche Beeintrachtigungen hinzutreten. Fiir diese Gruppe der haufig mehrfach benachteiligten alteren Arbeitslosen sind besondere arbeitsmarkt- und sozialpolitische Antworten notwendig. Die Aufforderung, „Einfacharbeitsplatze im Dienstleistungssektor" zu besetzen, geht an dem Leistungsvermogen der Betroffenen vorbei. Gerade bei den Einfacharbeitsplatzen im Dienstleistungssektor sind korperliche Fitness und flexible Einsatzfahigkeit gefordert; diese Voraussetzungen bringen die Alteren in der Kegel nicht mit. Die Jiingeren hingegen werden nach relativ geringer Dauer der Arbeitslosigkeit wieder eine Beschaftigung finden, ohne daB dafur eigens ein Niedriglohnsektor etabliert werden mtiBte. MaBnahmen und Angebote miissen also nach den sehr heterogenen Teilgruppen der Geringqualifizierten (lemschwache Jugendliche, Migranten, angelemte, d.h. betriebsspezifisch qualifizierte Arbeitslose, Personen mit psychischen und sozialen Problemen usw.) differenzieren (Weinkopf 2002). Zweifelsohne gibt es einen Kreis von Arbeitslosen, der zu QualifizierungsmaBnahmen nicht in der Lage oder bereit ist, der auf einfache Arbeitsplatze angewiesen ist und der auch nicht - oder nur sehr zeitverzogert - von der Besserung der allgemeinen Arbeitsmarktlage erfaBt wird. Hier bedarf es gezielter Eingliederungshilfen. Die sozialvertragliche Losung des Problems der Langzeitarbeitslosigkeit liegt darin, diesen Personengruppen spezifische Integrationshilfen anzubieten. Eine Verbesserung der Beschaftigungsmoglichkeiten fiir Geringqualifizierte kann nur im Zusammenhang eines breiten Biindels von MaBnahmen erreicht werden. Die als Patentlosung daherkommende Empfehlung, Arbeitsplatze durch Niedriglohne zu schaffen, birgt demgegenuber vielfaltige Risiken: Die Beschaftigungswirkungen sind ungewiB und die finanziellen Belastungen unkalkulierbar. Absehbar ist allein die soziale Sprengkraft einer solchen Strategic. Literatur Backer, Gerhard (2000): Vorsicht Falle! Niedriglohne durch Kombi-Einkommen, in: Schafer, Claus (Hg.): Geringere Lohne - mehr Beschaftigung?, Hamburg, S. 144-175. Backer, Gerhard (2002): Arbeit um jeden Preis? Umbau des Sozialstaates durch Niedriglohnbeschaftigung, in: WISO - Wirtschafts- und Sozialpolitische Zeitschrift 1/2002. Backer, Gerhard (2005): Umfinanzierung der Sozialversicherung: Losung der Beschaftigungs- und Finanzierungskrise?, in: WSI-Mitteilungen No. 7/2005, S. 355-361. Backer, Gerhard (2006): Was heiBt hier „geringfugig"? Minijobs als wachsendes Segment prekarer Beschaftigung, in: WSI-Mitteilungen, No. 5/2006.
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Bispinck, ReinhardAVSI-Tarifarchiv (2006): Unterste TarifVergiitungen, Daten aus 39 Wirtschaftszweigen. Elemente qualitativer Tari^olitik No. 61, Dusseldorf (www.boeckler.de/pdf/ p_ta_elemente_unterste_tarifverguetungen.pdf). Bonin, Holger/Kempe, Wolfram/Schneider, Hilmar (2003): Kombilohn oder Workfare? Zur Wirksamkeit zweier arbeitsmarktpolitischer Strategien, in: Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung, No. 1/2003, S. 51-67. Bundesministerium der Finanzen (1996): Probleme einer Integration von Einkommensbesteuerung und steuerfinanzierten Sozialleistungen. Gutachten einer Experten-Kommission „Altemative Steuer-Transfer-Systeme", Bonn. Gebauer, Ronald/Petschauer, HannaA^obruba, Georg (2002): Wer sitzt in der Armutsfalle? Selbstbehauptung zwischen Sozialhilfe und Arbeitsmarkt, Berlin. Kalina, Thorsten/Weinkopf, Claudia (2006): Mindestens sechs Millionen Niedriglohnbeschaftigte in Deutschland: Welche RoUe spielen Teilzeitbeschaftigung und Minijobs?, in: lAT-Report, No. 3/2006. Kalina, Thorsten/Weinkopf, Claudia (2005): Beschaftigungsperspektiven von gering Qualifizierten, lAT-Report, No. 10/2005. Kaltenbom, Bruno/Koch, Susanne/Kress, Ulrike/Walwei, Ulrich/Zika, Gerd (2004): Arbeitsmarkteffekte eines Freibetrags bei den Sozialabgaben, Mering. Rhein, Thomas/Gartner, Hermann/Krug, Gerhard (2005): Niedriglohnsektor: Aufstiegschancen fur Geringverdiener verschlechtert, lAB-Kurzbericht, No. 3/2005. Sinn, Hans-Wemer/Holzner, Christian/Meister, Wolfgang/Ochel, Wolfgang/Werding, Martin (2006): Aktivierende Sozialhilfe 2006 - Das Kombilohn-Modell des Ifo-Instituts, IFO-Schnelldienst, No. 2/2006. Walwei, Ulrich/Zika, Gerd (2005): Arbeitsmarktwirkungen einer Senkung der Sozialabgaben, in: Sozialer Fortschritt, Jg. 54, No. 4, S. 77-90. Weinkopf, Claudia (2002): Subventionierte Niedriglohnjobs - kein Konigsweg zu mehr Beschaftigung, in: Bosch, Gerhard/Hennicke, Peter/Hilbert, Josef/Kristof, Kora/Scherhom, Gerhard (Hg.): Die Zukunft von Dienstleistungen, Frankfiirt/New York, S. 305-327.
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Jutta Trdger
Soziale Gerechtigkeit fiir Familien und Frauen in Deutschland - umdenken im Bereich der staatlichen Forderungspolitik!
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Einleitung
Gerechtigkeit ist multidimensional. Stellt man den Begriff „soziale Gerechtigkeit" in den Fokus der Betrachtung, kann dieser „auf den ersten Blick als Programm gegen Ungleichheit verstanden werden" (Opielka 2006: 32). Allerdings umfaBt auch Ungleichheit vielfaltige Dimensionen: Hierzu zahlen beispielsweise Einkommen, Vermogen, Talente, Bildung und Geschlecht. DaB der modeme Wohlfahrtsstaat zur sozialen Gerechtigkeit wie auch zur Reduktion von sozialer Ungleichheit beitragt, wird von seinen Burgerinnen und Btirgem durchaus wahrgenommen. Dies zeigen unter anderem die Ergebnisse der „Allgemeinen Bevolkerungsbefragung der Sozialwissenschaften" (ALLBUS) und des „Intemational Social Survey Programme" (ISSP)\ die seit 1984 in ihren Untersuchungen in regelmaBig wiederkehrenden Zyklen Fragen nach sozialer Ungleichheit und Wohlfahrtstaatlichkeit einen zentralen Stellenwert einraumen.^ Die Etablierung des modemen Wohlfahrtstaates ist auf sehr vielfaltige und komplexe Weise mit der Entwicklung der Familie verbunden. Nach Michael Opielka gilt neben okonomischen und politischen Ursachen der Wandel der Gemeinschaftssysteme, insbesondere der Familien, als Voraussetzung wie auch als Folge sozialpolitischer Ausdifferenzierungen (Opielka 2004: 104). Die Einbindung der Familien in das System wohlfahrtstaatlicher bzw. sozialpolitischer Regelungen ist allerdings international sehr verschieden ausgepragt und gilt in Deutschland als ungeniigend (Kaufmann 1995: 175ff.). Dabei weisen aktuelle Forschungsergebnisse darauf hin, daB in den Mitgliedslandem der Europaischen Union die Ungleichheit zwischen Familien insgesamt zunimmt: „Increasing disparities are found in the standards of living of families within and between countries. Within societies, lone-parent and large families (...). The gap between work-rich and work-poor families has widened. While the social benefits received by families and children by head of population rose during the 1990s across the Union, regional variations increased. The highest level of spending on families was recorded in Ireland and Germany (...)." (European Commission 2004: 8)
Das ISSP ist ein weltweiter Forschungsverbund von sozialwissenschaftlichen Instituten, der gemeinsam regelmaBig sozialwissenschaftliche Umfragen mit wechselnden Themen durchfuhrt. Dem intemationalen Verband gehoren mittlerweile 39 Lander an (fur weiterfuhrende Informationen zum ISSP siehe: http://www.issp.org). Der Fragebogen des ISSP wird im Rahmen der „Allgemeinen Bevolkerungsumfrage der Sozialwissenschaften" (ALLBUS) mit durchgefiihrt. 2
Zur Akzeptanz und Legitimitat sozialer Ungleichheit auf Basis des Allbus vgl. ausfiihrlich Noll/Christoph 2004 sowie Opielka 2006: 35f
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Die soziale Ungleichheit zwischen Familien ist in Deutschland, trotz der im Vergleich mit dem EU-Durchschnitt eher hohen Ausgaben fur familiare Transferleistungen mit einem Anteil von 2,1% des BIP, als groB einzustufen; der EU 15-Durchschnitt betragt 1,4% des BIP (Opielka 2004: 111). Dieser Umstand hangt ursachlich mit der Entwicklung und Ausgestaltung des deutschen Wohlfahrtsregimes zusammen. 2
Das deutsche Wohlfahrtsregime
Die Wohlfahrtstaaten der westeuropaischen Lander haben sich seit ihrer Entstehung Mitte des 19. Jahrhunderts sehr unterschiedlich entwickelt. Zu Beginn der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts entwickelte G0sta Esping-Andersen im Rahmen der vergleichenden Wohlfahrtstaatsforschung drei verschiedene Typen von Wohlfahrtsregimen, die eine Klassifizierung der europaischen Sozialstaatsmodelle ermoglichten. Esping-Andersen unterscheidet den sozialdemokratischen (Skandinavien), den konservativ-korporatistischen (Bundesrepublik Deutschland) und den liberalen (GroBbritannien und USA) Wohlfahrtstaatstypus. Die zentralen Unterscheidungsmerkmale sind die Organisation der sozialen Sicherungssysteme, das Niveau der De-Kommodifizierung (Freistellung vom Arbeitszwang durch Gewahrung staatlicher Transferleistungen) sowie die De-Familiarisierung (Angebot an Dienstleistungen zur Entlastung der Frauen von Familienaufgaben) (Esping-Andersen 1990 u. 2002). Der deutsche Wohlfahrtstaat kann nach der Typologie von Esping-Andersen nicht nur als konservativ-korporatistisch defmiert werden, sondem gilt international sogar als besonders ausgepragtes Beispiel fiir diesen Typ. Wahrend in liberalen und sozialdemokratischen Regimen Frauen tendenziell eher neutral als Arbeitnehmerinnen behandelt werden, steht im korporatistisch-konservativen Regimetyp die RoUe als Mutter und Ehefrau im Vordergrund. Kennzeichnend ist die ungleiche Aufteilung von Erwerbs- und Betreuungsarbeit zwischen den Geschlechtem, der hohe Grad der De-Kommodifizierung fur den Familienernahrer sowie die niedrige De-Familiarisierung (Leitner 2003: 360ff.). In den Sozialwissenschaften wird in diesem Kontext vom „mannlichen Familienemahrermodell" gesprochen, welches in Deutschland nach wie vor normative Grundlage der wohlfahrtstaatlichen Regelungen ist: „The German welfare state, however, is institutionally unequipped to act as a compensatory operator of employment. It is, in fact, powerfully biased towards reducing labour supply. On the supply-side, it is a welfare of subsidiarity, meaning that woman and social services (outside health) belong to the domain of family. Hence, it has been very reluctant to provide the kinds of services which permit women to take employment, and which, in the end, provide them with job-market. But, it is also a welfare state powerfully dedicated to income maintenance for those who have 'earned' it. However, German eligibility-conditions are comparatively strict, and to earn benefits require a long work-career, a serious disadvantage for many women." (EspingAndersen 1990:224) Diese Ausrichtung kann darauf zuruckgefiihrt werden, daB ein zentrales Merkmal des deutschen Wohlfahrtstaates, der in der Rekonstruktionsphase nach dem Zweiten Weltkrieg
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konstituiert wurde, das Prinzip der „Familiensubsidiaritat" ist.^ Dieses Prinzip geht davon aus, daB der Staat nicht als Anbieter von Transferzahlungen und Dienstleistxingen ftir das Individuum eintreten soil, sondem nur erganzend in dem Fall, daB die Familie die notigen Leistungen nicht eigenstandig erbringen kann. In dieser Konstruktion wird, angelehnt an das Leitbild der traditionell burgerlichen Familie, die Frau vorwiegend im Bereich der privaten Familiensphare verortet. Ihre Hauptaufgabe wird dementsprechend in der Erziehung der Kinder, der Pflege von Angehorigen und der Versorgung der Familie gesehen. Der Wirkungsbereich des Mannes konzentriert sich vomehmlich auf die Erwerbstatigkeit respektive okonomische Existenzsicherung der Familie und die Politik. Diese geschlechtspezifische Arbeitsteilung wurde mit der Etablierung des mannlichen Emahrermodells in Deutschland verfassungsrechtlich verankert."^ Die Institutionalisierung des Modells erfolgt durch die Verkniipfiing von sozialer Sicherung mit der Erwerbsarbeit einerseits und mir der Ehe andererseits (Auth 2002: 37). Ersteres driickt sich im Aquivalenzprinzip der Sozialversicherungen und der Lebensstandardsicherung bei kontinuierlicher VoUzeiterwerbstatigkeit aus, letzteres in der abgeleiteten Sicherung der Ehefrau und weiterer Familienmitglieder. Der Zugang zum deutschen Sozialversicherungssystem ist somit eng an die Ausubung einer Erwerbsarbeit gebunden. Die Starke Koppelung von Erwerbsarbeit und Zugang zum Sozialversicherungssystem flihrt dazu, daB sozialstaatliche Leistungen auf lohnabhangige Beschaftigte ausgerichtet sind und die Leistungsempfanger/innen von Sozialtransfers wiederum an den Arbeitsmarkt gebunden sind. Georg Vobruba (1990: 28ff.) expliziert drei Kategorien von lohnarbeitszentrierten Vorbehalten im deutschen Sozialversicherungssystem, die eng mit den arbeitsmarktbezogenen Zugangsvoraussetzungen verkniipft sind. Im ersten Fall hangen die Sozialleistungen direkt mit der vorherigen Erwerbsarbeit und den hier erbrachten Leistungen zusammen (Arbeitslosen- und Rentenversicherung sowie Krankengeld). Im zweiten Fall steht der gewahrte Leistungsbezug in direktem Zusammenhang mit der dezidierten Bekundung, „arbeitsbereit" zu sein. Die Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung und der Sozialhilfe werden nur so lange gewahrt, wie keine zumutbare Arbeit vorhanden ist. Im dritten Fall hangt die Hohe der sozialstaatlichen Leistungen von der Hohe des zuvor erzielten Einkommens und der Dauer der Arbeitszeit ab. Analog zum Aquivalenzprinzip werden die Beitrage und Leistungen einkommensabhangig gewahrt. Ausnahmen bilden die Kranken- und Pflegeversicherung, in deren Rahmen die Leistungen nach dem medizinischen Bedarf gewahrt werden. Weiterer Indikator fur die Lohnarbeitszentrierung des deutschen Sozialversicherungssystems ist die fiir alle abhangig Beschaftigten bestehende Versicherungspflicht. Sozialversicherungsleistungen erhalten nur jene Personen, die ihre Existenz nicht Uber ein lohnabhangiges Einkommen sichem konnen. Diesem System nachgeordnet stehen Leistungen, die im Rahmen der Sozialhilfe gewahrleistet werden. 3
Subsidiaritats- und Solidaritatsprinzip bilden grundlegende Elemente des deutschen sozialen Sichemngssystems. Das Subsidiaritatsprinzip geht auf die katholische Soziallehre des 19. Jahrhunderts zuriick (papstliche Sozialenzyklika von 1891) und stellt darauf ab, daB die Selbstvorsorge Prioritat vor der Fremdhilfe hat; fur weitergehende Ausfuhrungen hierzu vgl. SachBe 2003. Das biirgerliche Familienideal wurde erstmals 1896 im Burgerlichen Gesetzbuch (BGB) rechtlich verankert, mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wurden Ehe und Familie unter den besonderen Schutz des Staates gestellt. Trotz der verfassungsrechtlichen Gleichstellung der unterschiedlichen Arbeitsfelder, auBerhausliche Erwerbsarbeit auf der einen Seite und Haus- bzw. Betreuungsarbeit auf der anderen, manifestierte sich eine Hierarchisierung der Arbeit zu Lasten der Haus- und Betreuungsarbeit. Hierzu trugen die Regelungen des Steuerund Sozialversicherungssystems erheblich bei (Auth 2002: 23; siehe auch Herve 1995; Dingeldey 2000: 14ff.).
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Ebenso kennzeichnend wie die Lohnarbeitszentrierung ist die Ehezentrierung des deutschen sozialen Sicherungssystems. Die soziale Absicherung der Ehefrau und Mutter erfolgt iiber die Versorgungsinstanz der Ehe bzw. Familie. Die hierarchisch nachgeordnete Haus- und Betreuungsarbeit bzw. Familienarbeit unterliegt damit ebenfalls staatlicher Regulation. Die Familie wird zwar einerseits als Privatsphare konstruiert, andererseits unterliegt sie gleichzeitig umfangreichen staatlichen Eingriffen. Dies verdeutlichen die normativen Grundlagen des Grundgesetzes und des Burgerlichen Gesetzbuches, welche die Institutionen Ehe und Familie durch umfangreiche Regelungen, beispielsweise beim Scheitem einer Ehe, unter besonderen Schutz stellen (Auth 2002: 39). Dementsprechend ist das soziale Sicherungssystem in Deutschland mit der Institution Ehe sowie der Familie eng verbunden. Nichterwerbstatige Familienmitglieder, in der Kegel Ehefrauen und Kinder, sind in der Kranken- und Pflegeversicherung kostenlos mitversichert. Das Steuersystem unterstreicht diese Ausrichtung zusatzlich. Obwohl in den meisten europaischen Staaten das Prinzip der Familien- bzw. Ehegattenbesteuerung zugunsten einer individuell ausgerichteten Besteuerung modifiziert wurde^, gehort Deutschland zu den wenigen Landem Europas, das nach wie vor an einer stringenten Ehegattenbesteuerung festhalt und durch steuerliche Entlastungen das Emahrermodell respektive die „Hausfrauen-Ehe" gezielt fordert. Durch das Ehegattensplitting bleibt somit in Deutschland das zweite Einkommen (in der Kegel dasjenige der Ehefrau) im Haushalt nach wie vor unattraktiv (Klammer 2005). Zusatzliche Hiirden fur die Erwerbstatigkeit von Miittem sind das mangelhafte Angebot an Kinderbetreuungseinrichtungen sowie die unflexiblen Offhungszeiten der jeweiligen Einrichtungen. Lediglich 5,5% der Kinder im Alter von unter drei Jahren fmden in Westdeutschland einen Krippenplatz. Damit zahlt Deutschland zu den SchluBlichtem in Europa. Femer mangelt es an der Qualitat der Einrichtungen, was u.a. auch von der PISA-Studie bestatigt wurde. Einschrankend ist in diesem Kontext festzuhalten, daB das Familienemahrermodell als soziale Kealitat tatsachlich nur fur einen relativ kurzen Zeitraum und auch nur fur Frauen der Mittelschicht in den Landem Europas Geltung hatte. In „Keinform" existierte das Familienemahrermodell, das bezahlte Arbeit ftir Frauen ganzlich ausschloB, tatsachlich zu keiner Zeit.^ Dennoch ist die Wirkungsmacht dieses Modells im letzten Jahrhundert wie auch heute noch hinsichtlich seines normativen Gehaltes betrachtlich. Faktisch besteht in den europaischen Gesellschaften allerdings eine Kluft zwischen Normativitat und Wirklichkeit Zu den Typen der Steuersysteme in den verschiedenen Lander Europas sowie Begiinstigungen und Belastungen unterschiedlicher familiarer Erwerbsmuster in den Steuer- und Sozialversichemngssystemen Europas vgl. Dingeldey 2000: 16 ff. sowie Dingeldey 1999). Beispielsweise nahmen in der unmittelbaren Nachkriegszeit relativ viele Mutter eine Teilzeitbeschaftigung an, so daB Vorstellungen iiber erwerbstatige Mutter durchaus nicht ungewohnlich waren. Allerdings stand diese Entwicklung feministischen Stromungen gegenuber, welche die Ansicht vertraten, dafi Mutter grundsatzlich eine Erwerbstatigkeit aufgeben sollten, sobald Kinder geboren wiirden und bis zur VoUendung der Schulzeit der Kinder ausschlieBlich fur die Erziehungsarbeit zustandig sein sollten (Myrdal/Klein 1960). Die Idee eines mannlichen Familienemahrermodells wurde allerdings auch schon von Gesellschaftstheoretikem des spaten 19. Jahrhunderts als ein Ideal propagiert. Als Begrundung wurde in diesem Zusammenhang die unterschiedliche Konstitution von Mannem und Frauen angefiihrt, die im Rahmen des Fortschritts eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung erfordem wiirden. Diese Sicht wurde von mannlichen Gewerkschaften wie auch den Frauen selbst geteilt und ist aus damaliger Perspektive wenig iiberraschend, da Frauen der Arbeiterklasse haufige Schwangerschaften durchlebten und gleichzeitig schwere Hausarbeit zu leisten batten. Erst mit der Moglichkeit der Geburtenkontrolle und der zunehmenden Verfugbarkeit von modemer Haushaltstechnologie gewann die Erwerbsarbeit fiir Frauen an Bedeutung (Lewis 2003: 30).
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(Lewis 2003: 30ff.; Klammer/Klenner 2004: 178ff.). Insbesondere das deutsche Vereinbarkeitsregime (d.h. die Gesamtheit der institutionellen Regelungen, welche die Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienleben bestimmen), basiert nach wie vor auf der Norm des Familienemahrermodells. Soziale Sicherungssysteme und arbeitsrechtliche Regelungen orientieren sich am vorwiegend mannlichen Haushaltsvorstand. Unklar ist bisher, welches AusmaB die Auflosung der geschlechterspezifischen Arbeitsteilung in der Gesellschaft angenommen hat und inwieweit alternative Vereinbarkeitsmodelle in der sozialen Realitat von den familiaren Akteuren tatsachlich gewunscht sind bzw. umgesetzt werden. 3
Abschied vom Familienernahrermodell
Mit dem Ubergang zu einer neuen, postindustriellen Phase des Kapitalismus zeichnet sich nach Nancy Eraser (1998: 469f.) die Erosion des Familienemahrermodells deutlich ab. Indikatoren, die auf eine Veranderung der traditionellen, industriellen (Geschlechter-)Ordnung weisen, sind die folgenden: Auf den Arbeitsmarkten des postindustriellen Kapitalismus bieten nur wenige Arbeitsplatze ein Einkommen, das fiir den Unterhalt einer Familie als ausreichend angesehen werden kann. Es existieren mittlerweile flexible Beschaftigungsformen, z.B. Teilzeitarbeitsplatze, befristete Arbeitsplatze sowie atypische bzw. prekare Arbeitsverhaltnisse etc., mit der Folge, dafi die bisherigen „Normal-Erwerbsbiographien" immer weniger die Regel sind. Die Beschaftigungsquoten wie auch das Qualifikationsniveau der Frauen sind seit etlichen Jahren gestiegen, gegeniiber sinkenden mannlichen Beschaftigungsquoten. Gleichzeitig sind die Geburtenraten riicklaufig und stagnieren momentan auf niedrigem Niveau. Im EU-Vergleich haben Deutschland mit 1,4 und Italien mit 1,3 Kindem pro Frau die niedrigste Geburtenrate (Karelson/Longo/Nimeus/Trager 2003: 29ff.). Damit gehen Veranderungen der Formen familiaren Zusammenlebens einher. Zwar sind 80% der Familien mit Kindem im Haushalt nach wie vor Ehepaarfamilien (sogenannte „Kemfamilie"), andererseits kann gleichzeitig das Anwachsen der Vielfalt von Haushalts- und Familienformen konstatiert werden. Die sogenannte „Kemfamilie" beschreibt somit lediglich einen Ausschnitt aus der Realitat, in der modeme Familien in der Gesellschaft leben. Tatsachlich aber bestehen mittlerweile vielfaltige Familienkonstellationen nebeneinander wie auch in biographischer Hinsicht nacheinander, z.B. Ein-Generationen-Familien (Eltempaare ohne Kinder), Drei-Generationen-Familien (Angehorige von drei Generationen im Haushalt), Alleinerziehende, nichteheliche Lebensgemeinschaften mit und ohne Kinder sowie ein standig wachsender Anteil an Alleinlebenden in Einpersonenhaushalten (Statistisches Bundesamt 2004: 38ff.; Lewis 2004: 64ff.). In der Konsequenz haben diese Entwicklungen einerseits zu einer Erosion des Familienemahrermodells bzw. der Normalfamilie und zu einer Ausdifferenziemng der Vereinbarkeitsmodelle gefuhrt, andererseits zur „(...) Obsoleszenz der immer noch an diesen normativen Fundamenten und Normalitatsunterstellungen orientierten sozialstaatlichen Sichemngsarrangements" (Butterwegge/Holm/Zander et al. 2003: 110). Da das Familienemahrermodell nicht nur zu Ungleichheiten zwischen den Geschlechtem gefiihrt hat, sondem auch die Gmndlage des Wohlfahrtstaates selbst bildete, ist der Wandel des Emahrermodells umso komplizierter, zumal es bisher keine klar definierte Altemative dazu gibt, die das Modell ersetzen konnte, wahrend die stmkturellen Gmndlagen aber zur Disposition stehen.
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Das gilt insbesondere fur den Bereich des Steuer- und Sozialsystems sowie die offentlichen Dienstleistungen. Dies ftihrt dazu, daB allerlei ad hoc-Anpassungen vorgenommen werden, die konstituierenden Strukturen aber beibehalten werden - eine Tendenz, die sich nach Trudie Knijn in absehbarer Zeit nicht andem wird (Knijn 2002: 189). Kritisch zu bewerten ist, daB „mit der institutionellen Fortschreibung des Emahrermodells und der Verweisung eines GroBteils der Sorgearbeit in die Privatsphare (...) Familien ein Lebensmodell nahegelegt (wird), das maBgeblich flir fmanziell prekare Lagen verantwortlich ist" (Klammer 2002: 126). Das staatlich geforderte Emahrermodell bringt somit besonders untere Einkommensschichten mit Kindem in finanzielle Notlagen. Besonders von Armut bedroht sind diejenigen Familien, denen das zweite Einkommen oder bei Alleinerziehenden sogar das einzige Gehalt fehlt. Aber auch kinderreiche Familien, auslandische Familien sowie Haushalte mit minderjahrigen Kindem in Ostdeutschland sind deutlich haufiger von sozialer Ausgrenzung und Armut betroffen (BMAS 2004: 76f. u. 84f.; Becker/Hauser 2003: 15If.). Besonders prekar ist die Lage flir diese Gruppen, weil die offentlichen Aufwendungen fur Kinder und Jugendliche relativ gering sind und die Kosten des Heranwachsens iiberwiegend den Eltem aufgebtirdet werden.^ In diesem Kontext weist der „Zweite Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung" zu Recht daraufhin, daB die Unterschiedlichkeit der Familienformen und die Heterogenitat der Familien unterschiedliche Lebenslagen schaffen, mit denen die sozialstaatlichen Regelungssysteme nicht Schritt halten (BMAS 2004: 74). Besonders betroffen sind auBerhalb der Normfamilie lebende Kinder, die ein erheblich hoheres Armutsrisiko haben, da das soziale Sicherungssystem sowie die Familienpolitik sich nach wie vor am Familienemahrermodell orientieren und weiter an der Ehezentrierung festhalten. Von Armut betroffen sind in erster Linie Frauen, die wegen mangelnder Kinderbetreuungseinrichtungen keiner Erwerbstatigkeit nachgehen konnen, deren (Ehe-)Partner erwerbslos sind oder nur iiber ein geringes Einkommen verfugen (Butterwegge/Holm/Zander et al. 2003: 112). Irene Becker und Richard Hauser kommen im Rahmen ihrer Analyse zur Entwicklung der personellen Einkommensverteilung in Deutschland zu dem Ergebnis, daB sich fur die Gruppe der Familien mit Kindem die Einkommenssituation klar verschlechtert hat. Seit 1969 stieg bei den (Ehe-)Paarhaushalten mit Kindem die Betroffenheit von relativer Einkommensarmut von einem zunachst durchschnittlichen Niveau und zwischenzeitlichem Absinken auf einen vergleichsweise iiberdurchschnittlich hohen Wert von ca. 12% im Jahr 1998 an. Bei den Alleinerziehenden stieg das Armutsrisiko von 17% im Jahr 1969 auf 36%) im Jahr 1998 an und lag damit beim Doppelten bis Dreifachen des Durchschnitts in der Bevolkemng (Becker/Hauser 2003: 151). Trotz der Verbessemng des Familienlastenausgleichs nach 1996 konnte dieser Trend nicht umgekehrt werden. Die Erhohung der Leistungen flir Kinder, insbesondere des Kindergeldes, konnen die Auswirkungen anderer soziookonomischer Entwicklungen, wie beispielsweise Arbeitslosigkeit und niedrige Lohnabschliisse, nicht ausgleichen. Dieser Umstand kann angesichts begrenzter offentlicher Mittel auch durch keinen noch so groBztigig gestalteten Familienlastenausgleich kompensiert werden. Prekare Einkommensverhaltnisse und Einkommensarmut von Familien sind weniger ein allgemeines als ein spezifisches Problem von Teilgmppen, insbesondere von Familien mit einer geringfiigig beschaftigten oder nicht erwerbstatigen Person (in der Regel die Frau) Vgl. hierzu auch den Beitrag von Christoph Butterwegge in diesem Band.
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sowie von AUeinerziehenden, wobei die Situation in den neuen Landem deutlich brisanter ist als in den alten Bundeslandem. Bei fehlender oder nur geringfugiger Beschaftigung von Muttem kann es sich um freiwillige Verhaltensweisen, infolge einer Entscheidung, der Kindererziehung und -betreuung den Vorrang vor einer Erwerbstatigkeit geben, oder auch um einen unfreiwilligen Zustand handeln, infolge unzureichender Betreuungseinrichtungen oder Arbeitslosigkeit. Bei politischen MaBnahmen sollten deshalb Erwerbswiinsche der Frauen und Bediirfnisse der Familien, die sehr unterschiedlich sein konnen, starker berticksichtigt werden. Insofem sind Transfers im Rahmen des Familienlastenausgleichs und die offentliche Forderung von Betreuungseinrichtungen nicht als konkurrierende, sondem eher als komplementare Konzepte zu diskutieren, die den betroffenen Familien Entscheidungsspielraume uberlassen sowie familien- und geschlechtsspezifische Aspekte beriicksichtigen. 4
Paradigmenwechsel in der Familienpolitik?
„Wenn nun die Grundlage der Beziehungen zwischen Familien und Erwerbssphare, die historische Dichotomie von Privatheit und Gesellschaftlichkeit, von Reproduktion und Produktion infrage steht" (Opielka 2004: 112), miissen sich diese Veranderungen in der Sozialpolitik bzw. der Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme widerspiegeln. Geldwerte Leistungen stehen in der deutschen Familienpolitik traditionell im Vordergrund und auch die jungsten familienpolitischen Reformen, der Familienlastenausgleich und das Erziehungsgeld, konzentrieren sich zunachst auf monetare staatliche Transferleistungen. Esping-Andersen hat kritisiert, daB in Deutschland nach wie vor ein sehr enger Begriff von Familienpolitik dominiert und soziale Unterstiitzung nur im Fall eklatanter familiarer Defizite gewahrt wird. Diese familienpolitische Ausrichtung jedoch wird den zentralen Herausforderungen der heutigen Zeit nicht mehr gerecht. Als solche konnen drei Kembereiche identifiziert werden: Der erste Bereich bezieht sich auf die Familiengriindung, das zweite Feld umfaBt die Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben und der dritte Bereich die „immer emsteren Folgen einkommensbezogener und sozialer Probleme in der Kindheit" (Esping-Andersen 2003). Seit Beginn der rot-griinen Legislaturperiode 1998 und unter Fortsetzung der aktuellen GroBen Koalition von CDU/CSU und SPD kundigt sich ein (zogerlicher) Paradigmenwechsel in der Familienpolitik an. Neben den vorab genannten geldwerten Leistungen wurden parallel die zeitwerten Leistungen mit der Reform des Bundeserziehungsgeldgesetzes wie auch die sachwerten Leistungen durch das Inkrafttreten des Tagesbetreuungsausbaugesetzes (TAG) fur Familien ausgedehnt (Thenner 2000: lOOff.; BMFSFJ 2004). Zunehmend geraten bevolkerungspolitisch motivierte MaBnahmen, in deren Blick insbesondere die niedrige Fertilitatsrate steht, auf den familienpolitischen MaBnahmenkatalog. Es wurde ein MaBnahmenpaket zur Steigerung der Frauenerwerbsquote sowie zur Erhohung der Kinderzahl ausgearbeitet. Durch einen Policy-Mix, bestehend aus fmanziellen Transferleistungen - Erhohung des Kindergeldes bzw. der Freibetrage und bessere steuerliche Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten (Familienlastenausgleich) -, dem Ausbau der Betreuungsinfrastruktur im Vorschul- und Schulalter - TAG, beschlossen am 28.10.2004 - sowie der Erleichterung der Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben - Eltemzeitgesetz vom 01.01.2001 -, sollen die Kembereiche der familienpolitischen Herausforderungen angegangen werden (Butterwegge 2001: 180ff.; BMFSFJ 2006; Magvas/Spitznagel 2002; Koch
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2001). Allerdings bleiben die Wirkungszusammenhange der Interventionen bzw. die zugrundeliegenden Annahmen bisher im Unklaren, da Familienleben von sehr unterschiedlichen Faktoren beeinfluBt wird. Hierzu zahlen personale bzw. biographische Indikatoren wie die Qualitat der Paarbeziehung, bio-medizinische Faktoren, beispielsweise das Alter Oder Krankheiten der Partnerin oder des Partners, kulturelle Leitbilder sowie die bereits skizzierten soziookonomischen Faktoren. Eine detailliertere Betrachtung der familienpolitischen MaBnahmen zeigt die Schwachen auf: (1) Beim Familienlastenausgleich fiihrte die durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts 1996 angestoBene Reform zu einer erheblichen Erhohung des Kindergeldes, die Einkommensabhangigkeit des Kindergeldes wurde ebenfalls abgeschafft und die Kinderfreibetrage wurden verdreifacht (Becker/Hauser 2003: 41). Allerdings wurde das Optionsmodell, bei welchem Familien zwischen Kindergeld und Freibetragen wahlen konnen, beibehalten. In der Folge erfahren hohere Einkommen durch die Freibetrage eine absolut hohere und mit dem Einkommen steigende Entlastung als niedrige Einkommen. Demgegeniiber stehen sich Alleinerziehende deutlich schlechter, da der 1986 eingefuhrte Haushaltsfreibetrag fur Alleinerziehende von 2.916 Euro im Zeitraum 2001-2004 auf Null reduziert wurde. Damit verstoBt das Optionsmodell „gegen vertikale Gerechtigkeitsanforderungen" und verscharft die verteilungspolitischen Probleme des Familienlastenausgleichs (Schratzenstaller 2002: 129). (2) Das Ehegattensplitting, das vorwiegend die Ehe und nicht gezielt Familien mit Kindem fbrdert, wird beibehalten, obwohl in der Mehrzahl der europaischen Lander die Steuer- und Sozialsysteme zumindest teilweise individualisiert sind und die Erwerbstatigkeit von Miittem und Vatem gefordert wird. Insgesamt verbuchte der deutsche Staat durch das Ehegattensplitting, das neben dem Familienlastenausgleich den zweitgroBten Posten der Familienforderung darstellt, im Jahr 2001 Steuermindereinnahmen von Uber 22 Mrd. Euro (Schratzenstaller 2002: 130; Klammer 2002: 126). (3) Einen weiteren Schwerpunkt der Reform bildet die Neuregelung des Bundeserziehungsgeldgesetzes. Seit der Neuregelung konnen beide Eltemteile, verheiratete wie auch nicht verheiratete Paare, gleichzeitig Eltemzeit nehmen und jeweils bis zu 30 Wochenstunden arbeiten. Hier wurden ebenfalls Wahloptionen eingefiihrt: erstens hinsichtlich des Zeitraums, da das dritte Eltemzeitjahr bis zum achten Geburtstag des Kindes aufgehoben werden kann, und zweitens kann zwischen der bisher zweijahrigen Bezugszeit von Erziehungsgeld mit einer monatlichen Zahlung von 300 Euro altemativ eine Budgetlosung gewahlt werden, wonach das Erziehungsgeld nur fiir ein Jahr, dafur aber in einer Hohe von 450 Euro monatlich gewahrt wird. Neben der positiv zu bewertenden Gleichbehandlung verheirateter und unverheirateter Paare, welche die Pluralisierung der Familienformen beriicksichtigt sowie einer zumindest im Ansatz erkennbaren Aufbrechung der strikten Zuordnung von Erwerbs- und Erziehungsarbeit, hat allerdings das Erziehungsgeld keinen einkommenssubstituierenden Charakter. Dadurch schafft es bei unterschiedlich hohen Einkommen der (Ehe-)Paare einen Anreiz, daB der- oder diejenige mit dem hoheren Einkommen weiterhin erwerbstatig ist. Unter Bezugnahme auf die nach wie vor erheblichen Einkommensungleichheiten zwischen Mannem und Frauen in Deutschland bleibt somit in der Regel die Frau zuhause (Ziegler 2005).
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(4) Die Umsetzung des Tagesbetreuungsausbaugesetzes (TAG), das die verbindliche Schaffung von deutlich mehr Betreuungsplatzen fiir unter dreijahrige Kinder bis zum Jahr 2010 regelt, steht noch aus. Bisher konnten lediglich Kinderbetreuungskosten, die den Betreuungsfreibetrag von 1.548 Euro iiberschreiten, steuerlich geltend gemacht werden. Die teilweise Abzugsfahigkeit der Betreuungskosten begiinstigt - wie auch schon die Freibetrage Familien mit hoheren Einkommen, wahrend untere und mittlere Einkommen von der Regelung kaum Vorteile haben. Allerdings gilt ruckwirkend zum 01. Januar 2006, daB Familien ein Drittel der Kinderbetreuungskosten selbst bezahlen und dann weitere Kosten bis zu 4.000 Euro von der Steuer absetzen konnen. Bei der neuen gesetzlichen Regelung gewinnen kleine und mittlere Einkommen, da der Eigenanteil niedriger sein kann. Allerdings kann nicht von einer deutlichen Entlastung dieser Einkommen ausgegangen werden (BMFSFJ 2006). Die „Konzentration aktueller deutscher Familienpolitik auf monetare Leistungen bei gleichzeitiger Vemachlassigung sachwerter Leistungen (...) (entspricht) den tatsachlichen Bediirfnissen sowie dem tatsachlichen Bedarf von Eltem nur ungeniigend und stellt somit eine Fehlallokation offentlicher Mittel beachtlichen AusmaBes dar" (Schratzenstaller 2002: 130). Ebenso problematisch ist in diesem Kontext, daB die bisherige staatliche Forderung vorwiegend nach dem „GieBkannenprinzip" stattgefunden hat und weniger mittels gezielter Hilfen bediirftige Familien unterstiitzt wurden. In der Folge werden Ungleichheiten zwischen den verschiedenen Teilgruppen manifestiert, anstatt eine sozialpolitisch verantwortungsvolle Umverteilung vorzunehmen. Eine notwendige und dringende Forderung an die Familienpolitik ist deshalb, daB der Ausbau der Transferkomponente zukunftig an die Bediirftigkeit angepaBt sein sollte, um die von Armut und sozialer Ausgrenzung bedrohten familiaren Teilgruppen besser abzusichem (Becker/Hauser 2003: 202; Butterwegge/Holm/ Zander etal. 2003: 11 Iff.). Resumierend kann an dieser Stelle festgehalten werden, daB die bisherigen familienpolitischen MaBnahmen entschieden zu kurz greifen. Den heterogenen Familienformen wird auf der gesetzlichen Ebene nicht entsprochen. Daruber hinaus wird weiterhin ein Sozialstaatsmodell aufrechterhalten, das keine individuelle Absicherung gewahrleistet, nur einen geringen Anteil an offentlicher Kinderbetreuung (insbesondere in der Kleinkindphase) bereitstellt und damit Diskontinuitaten bei der Miittererwerbstatigkeit bewuBt in Kauf nimmt, sowie keine ausreichende Kompensation bei Arbeitzeitreduzierung anbietet. Dementsprechend muB eine zukunftsweisende Familienpolitik die Erwerbstatigkeit von Muttem und Vatem durch die Schaffiing einer quantitativ und qualitativ guten Betreuungsinfrastruktur erleichtem, die Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben durch groBziigig und flexibel gestaltete Freistellungsregelungen vereinfachen sowie eine bedarfsgerechte Gestaltung staatlicher Transferleistungen an von Armut und sozialer Ausgrenzung bedrohte Familien umsetzen. Leitbild einer modemen Familienpolitik sollte nicht die Einschrankung individueller Wahlmoglichkeiten sein, sondem deren Forderung. Verantwortungsvolle familienpolitische MaBnahmen werden insbesondere dann benotigt, wenn Familien nicht uber geniigend eigene Ressourcen verfugen, um das eigene Wohlergehen zu sichem.
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Bernd
Kafiebaum
Bildung und soziale Gerechtigkeit
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Lagebeschreibung
Das gegliederte deutsche Schulsystem ist in einem Punkt unbestritten erfolgreich: „Es gelingt ihm nahezu perfekt, gesellschaftliche Ungleichheit in Bildungsungleichheit zu iibersetzen und die Vererbung sozialer Privilegien zu legitimieren, indem Schulerfolg als Resultat individueller Leistung und Begabung erscheint" (Bottcher 2005: 7). Die beiden PISAStudien sowie andere Schulleistungstests haben mit Macht Tatbestande in den Blick der Offentlichkeit geriickt, die in vielen Studien der letzten Jahrzehnte immer wieder hervorgehoben wurden. Das deutsche Schul- und Bildungssystem ist in hohem MaBe sozial selektiv. Es hat tiberdies erheblich Mangel, die durch ein innerdeutsches Ranking zwischen den Bundeslandem auch nicht iiberdeckt werden konnen. Die strukturellen Merkmale, die fur die ungleiche Verteilung von Bildungschancen verantwortlich sind, haben auch maBgeblichen EinfluB auf die Bildungsqualitat. Die GEW zieht aus der zweiten PISA-Studie in einer Erklarung folgende Erkenntnisse (GEW 2005): (1) In keinem anderen vergleichbaren Staat der Welt hangt der Schulerfolg so stark von Einkommen und Vorbildung der Eltem ab wie in Deutschland. Das deutsche Schulsystem versagt bei der Forderung von Arbeiter- und Migrantenkindem. Bei gleichen kognitiven Grundfahigkeiten und gleicher Lesekompetenz hat ein Akademikerkind in Deutschland eine dreimal so groBe Chance, das Abitur zu machen, wie ein Facharbeiterkind. (2) Emeut ist der Anteil sogenannter Risikoschiiler erschreckend hoch. Fast jeder vierte 15jahrige in Deutschland kann einfachste Texte nicht lesen und verstehen sowie allenfalls auf Grundschulniveau rechnen. In keiner anderen groBen Industrienation ist die Zahl der Schiller, die nur das unterste Testniveau erreichen, so hoch wie in Deutschland. (3) In keinem anderen vergleichbaren Industriestaat klaffen so groBe Leistungsunterschiede zwischen guten und schlechten Schulen wie in Deutschland. (4) Die Leistungsspreizung zwischen guten und schwachen Schiilem ist eher groBer als kleiner geworden. Beim Lesen und Textverstandnis hat sich die Gruppe der Leistungsstarken gegeniiber dem ersten PISA-Test leicht verbessert, die schwachen Schiiler/innen sind dagegen schwach geblieben. (5) In Sachen Leistung gibt es zwar bei dem von den Medien gem herausgestellten „Staatenranking" ein paar kleinere Sprunge nach oben, tatsachlich sind nach den bisherigen Erkenntnissen die Leistungspunktverbesserungen bei den Mittelwerten jedoch minimal. Man kann diese Befunde nicht ohne weiteres auf andere Teilsysteme der Bildung iibertragen. Jedoch setzen sich Ausgrenzungen in der dualen Ausbildung, in Hochschule und Weiterbildung, massiv fort. Hierzu ein paar Fakten:
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Ca. 20% eines Schiilerjahrgangs, davon mehr als 50% der Hauptschiiler/innen, verlassen die Schule ohne AbschluB. Die Hauptschule hat einen Anteil von Schiiler/innen ohne Migrationshintergrund von ca. 20%, das Gymnasium von 35%. 25% brechen die berufliche Ausbildung ab. Der Anteil von Kindem aus Arbeitnehmerhaushalten an den Hochschulen ist wieder riicklaufig. Der Anteil von sogenannten angelemten sowie ungelemten Arbeitskraften in der betrieblichen Weiterbildung ist nach wie vor verschwindend gering.
Die „17. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks" kommt zu folgendem trostlosen Bild: „Im Jahre 2003 nehmen von den Kindem, deren Vater uber eine Hochschulreife verfiigt, 84 Prozent ein Hochschulstudium auf (...). Nur ein Drittel so hoch (...) ist dieser Anteil unter den Kindem, deren Vater einen RealschulabschluB hat. Noch geringer sind die Chancen fur Kinder von Vatem, die maximal das Zeugnis einer Hauptschule besitzen: Mit 21 Prozent ist ihre Bildungsbeteiligung nur ein Viertel so groB wie die der Kinder von Vatem mit Hochschulreife." (BMBF2004: 13f) War 1985 bei 29% der Eltem von Studierenden ein HochschulabschluB der hochste AbschluB, ist dieser Anteil bis 2003 auf 46% gestiegen, wahrend parallel hierzu der Anteil der Eltem ohne BerufsabschluB von 41% auf 28% gesunken ist (BMBF 2004: ebd.). Die Ausgrenzungsmerkmale sind soziale oder ethnische Herkunft, Geschlecht und Region. In bezug auf das Geschlecht haben sich die Verhaltnisse innerhalb des Bildungssystems - allerdings nicht im Beschaftigungssystem - in den letzten Jahrzehnten gewandelt. Der Anteil junger Frauen mit hoheren Bildungsabschliissen ist deutlich gestiegen, er liegt mittlerweile bei iiber 50%. Ausgrenzungs- und Diskriminierungstendenzen bestehen weiter in den naturwissenschafllich-mathematischen Fachem und sie haben sich auf das Beschaftigungssystem verlagert. In Deutschland entscheidet auch der Wohnort iiber die Bildungschancen. Es gibt ein deutliches Gefalle zwischen Stadt und Land sowie innerhalb der Stadte zwischen den Stadtteilen. Auch die Lander verfolgen unterschiedliche Strategien: So haben in Bayem z.B. aufgrund der relativ geringen Zahl an Gymnasien und des unvergleichlich hohen Anteils an Hauptschiilerinnen und -schiilem Kinder aus Oberschichtfamilien eine wesentlich groBere Chance auf eine hohere Bildung als in anderen Bundeslandem. Die Reform der foderalen Struktur der Bundesrepublik wird diese Situation noch verscharfen (Klemm/Block 2005). Mit besonderer Scharfe entscheidet die ethnische Herkunft iiber den Bildungsweg. Die Hauptschulen sind fiir Kinder aus Migrantenfamilien die Regelschule. Der Anteil von auslandischen Jugendlichen bis 25 Jahre ohne Berufsausbildung betrug 1998 z.B. 36,5%, wahrend der fiir Jugendliche aus deutschen Familien bei 11,3% lag (DGB/GEW/IG Metall o.J.). Was aus gewerkschaftlicher Sicht besonders dramatisch ist: die Diskriminierung wegen der sozialen Herkunft, die dort ein besonders schwerwiegendes Problem aufwirft, wo sie sich mit der ethnischen Herkunft verbindet. Wahrend Kinder aus Akademiker- und Beamtenfamilien zu ca. 50% das Gymnasium und zu ca. 10% die Hauptschule besuchen, ist das Verhaltnis bei Kindem von sogenannten an- und ungelemten Arbeiterinnen und Arbeitem nahezu umgekehrt: 10% besuchen das Gymnasium und 40% die Hauptschule.
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Konnte in der Geschichte der Bundesrepublik durch die Bildungsexpansion in den 1970er und 80er Jahren und den mit ihr verbundenen Reformen eine Phase erreicht werden, in der die Zahl von Kindem aus sozial schwachen Familien an sogenannten hoheren Bildungsgangen zunahm, zeigen jiingere Zahlen, daB die vertikale Durchlassigkeit zwischen den Bildungssystemen in den letzten Jahrzehnten in Deutschland wieder abgenommen hat und weiter abnimmt. Fiir den schulischen Bereich betrug das Verhaltnis zwischen Auf- und Abstufungen Anfang der 1980er Jahre noch 1:2,5, d.h. auf zwei Schiiler/innen, die von der Haupt- auf die Real- oder von der Realschule auf das Gymnasium wechselten, kamen 5 Abstufungen. Inzwischen betragt dieses Verhaltnis 1:19 (Rolff 2005). Nach einer kurzen Offnung im Zuge der Verbesserung des Studenten-BafSGs ist zu befiirchten, daB die Einfuhrung von Studiengebiihren zu einem weiteren massiven Riickgang der Studentenzahlen aus sozial schwachen Familien flihren wird, der auch nicht durch noch so iippig ausgestattete Stipendienregelungen oder Kreditvergaben aufgefangen werden kann (Nagel 2003). 2
Chancengleichheit
Materielle und kulturelle Armut auf der einen und der Mangel an Bildungschancen auf der anderen Seite bedingen einander und stabilisieren sich gegenseitig. Bildungsarmut erscheint daher nicht nur als ein Tatbestand des mangelnden Zugangs zu qualifizierter Aus- und Weiterbildung, sondem auch als Folge wie Voraussetzung sozialer Armut. Es gibt im Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland Verfestigungs- und SchlieBungstendenzen, die langst wieder an die Verhaltnisse in den fiinfziger Jahren des letzten Jahrhunderts erinnem. Hauptschiiler/innen und erst recht Schiiler/innen, die aus Griinden der „Lembehinderung" auf die Sonderschule geschickt wurden - in Berlin ist ihre Zahl ungefahr so groB wie die der Hauptschiiler/innen - sehen sich mit einigem Recht und Realitatssinn als Verlierer im Kampf um Ausbildungs- und Arbeitsplatze. Jeder dritte Berliner Jugendliche mit Migrationshintergrund ist einmal oder mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Christoph Ehmann schatzt, daB flir einen Sonderschuler bzw. eine Sondeschiilerin in etwa das Doppelte bis Dreifache von dem ausgegeben werden muB, was fur eine/n Gymnasiast/in ausgegeben wird. Er kommt zu dem SchluB: „Man laBt sich die Ausgrenzung von Personen richtig Geld kosten" (Ehmann 2005). AUerdings ist fiir eine Politik der sozialen Offnung mehr notig als eine Politik der Teilhabegerechtigkeit, auf die sich eine groBe Koalition von Sozialpolitiker/innen der beiden groBen politischen Lager und ein veroffentlichter „Mainstream" seit Jahren einzustimmen sucht. Es geht nicht nur darum, Mauem einzureiBen, sondem auch darum, denjenigen Briicken zu bauen, die aus eigener Kraft bestimmte Wege nicht gehen konnen. Der Begriff der Teilhabegerechtigkeit klammert wichtige strukturelle und kulturelle Fragen aus. Es geht nicht darum zu sagen, wenn das Arbeiter- oder Migrantenkind gute schulische Leistungen erbringe, miisse es die hohere Schule besuchen diirfen. Dies ist in der biirgerlichen Gesellschaft ein selbstverstandliches Recht. Vielmehr geht es um das Aufspiiren und Aufheben struktureller Benachteiligung im Bildungs- und Beschaftigungssystem, z.B. um die Klarung der strukturellen Voraussetzungen fiir eine Praxis, schulische Leistung entlang sozialer Merkmale zuzurechnen.
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Bildungs- und Berufswege sind verkniipft mit den sozialen Interessen von Gruppen, Schichten und Milieus. Nicht nur Reichtum reproduziert sich in bestimmten Milieus und sozialen Schichten, sondem auch Armut. Das Problem von Begabungsforschung ist nicht selten, daB die Beziige zwischen schulischer Leistung bzw. Leistungs(an)erkennung und sozialer Schichtung ausgeklammert werden. Materielle Bediirftigkeit, soziale Armut und Milieuverhaftungen spielen haufig Hand in Hand. So wie die Lehrenden unbewuBt die Bildungschancen des Kindes aus einer Beamtenfamilie fur das Gymnasium hoher einzuschatzen wissen als jene eines Kindes aus einem Migrantenhaushalt und deshalb entsprechende Schulempfehlungen aussprechen, fiihren ambivalente Erfahrungen der Eltem, deren BildungsabschluB z.B. der HauptschulabschluB ist, dazu, dem eigenen Kind den erfolgreichen Besuch eines Gymnasiums und damit den Austritt aus dem vertrauten Milieu auch nicht zuzutrauen. Die Reproduktion sozialer Ungleichheit wird durch einen subtilen ProzeB der Entwicklung von „kulturellem Kapital" in den Kopfen der Menschen unterstiitzt, unterlegt und legitimiert, und zwar sowohl derer, die sozial benachteiligt sind als auch derer, die zu den Gewinnem der Reorganisationsprozesse gehoren. Hierauf haben Bourdieu und andere immer wieder hingewiesen (Bourdieu/Passeron 1971). Nach Dahrendorf (1964) miissen jedoch die Arbeiterkinder nicht nur an die Hochschule, sondem auch die Hochschule zu den Arbeiter/innen kommen. Es geht also nicht nur darum, Habitusveranderungen bei denen zu bewirken, die des kulturellen Kapitals der Lehrenden nicht machtig sind, sondem auch damm, jene zu sensibilisieren, deren Umfeld das Biirgertum ist und die nach Abitur und Studium auBer dem wissenschafllichen kein anderes Arbeitsverhaltnis kennengelemt haben. Eine Politik der Chancengleichheit muB an der Fordemng derjenigen ansetzen, die sozial benachteiligt sind. Sozialpolitische Netzwerke und Beratungsstmkturen, die hier in den letzten Jahren entstanden sind, diirfen nicht zerstort werden. Infrastmkturen, wie etwa die qualitative Ganztagsbetreuung, miissen geschaffen werden. Gerade in den Bildungsinstitutionen, die sich in ihren Rekmtiemngspolitiken der Bildungsinstitutionen nicht aus ihrer sozialen Verhaftung herausbewegen, muB mehr Transparenz und Offnung hergestellt werden (Hartmann 2002). Eine Politik der Chancengleichheit hat bildungspolitische Dimensionen, sie ist aber auch Teil von Gesellschaftspolitik, weil die Fordemng und stmkturelle Reform in jenem Feld auch die Frage der Verandemng des politischen Koordinatensystems in Gesellschaft und Wirtschaft aufwirft. Hierbei geht es um zweierlei: Erstens fuhrt gerade der stmkturkonservative Weg der verstarkten SchlieBung und des Abbaus der Durchlassigkeit, der nach bayerischem Vorbild derzeit auch in Hessen und Nordrhein-Westfalen Einzug halt, zu einem eklatanten Widerspmch zwischen Bildungsund Beschaftigungssystem. Wer wie in Bayem z.B. Haupt- und Realschulabschliisse zur Regel und das Abitur zur Ausnahme macht, wird dem Anspmch an den Qualifikationsbedarf der sogenannten „Wissensokonomie" ebensowenig gerecht wie dem anstehenden Dmck des demographischen Wandels. Die Zahl von qualifizierten Fachkraften muB weiterhin auf hohem Niveau bleiben und die Zahl der Hochschulzugangsberechtigten muB in Deutschland weiterhin wachsen. Dafiir muB die Bildungsbeteiligung gesteigert werden und es bedarf einer Politik der Durchlassigkeit und der Gleichwertigkeit von bemflichen und allgemeinen Bildungsabschliissen. Versteht man diesen Weg als Voraussetzung fiir die Innovationsfahigkeit von Volkswirtschaft und Gesellschaft, dann stehen Innovation und Chancengleichheit in einem engen Zusammenhang - und dieser Zusammenhang eroffnet
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der gestaltenden Bildungspolitik Spielraume, die genutzt werden sollten. Erinnert man sich der Reformpolitik der „siebziger Jahre", der Bildungspolitik der sozialliberalen Koalition, so war nicht der Impetus der Chancengleichheit, sondem der enge Zusammenhang von Bildungsbeteiligung und okonomisch-technischer Leistungsfahigkeit der Volkswirtschaft der entscheidende Ansatz (Roder 2004). Gegenwartig stellt sich die Frage, ob Volkswirtschaften, die sich in nicht enden wollenden Kostenwettbewerben die Vergeudung von „Humanressourcen" leisten und - wie die deutsche Gesellschaft - den Staat als Wettbewerbsstaat begreifen, d.h. den Foderalismus als Wettbewerbsfoderalismus defmieren und die Bildungsinstitutionen in den Kostenwettbewerb fuhren, nicht zunehmend okonomische Probleme bekommen werden, weil die Innovationsfahigkeit zerstort wird und Qualifikationspotentiale ungenutzt bleiben. Zweitens muB an dieser Stelle an die Debatte um Chancengleichheit erinnert werden, die in den 1970er und 80er Jahren auch in den Gewerkschaften noch wesentlich verbreiteter war als heute und an die unter den Bedingungen zunehmender Deregulierung durchaus angekniipft werden kann. Es ging hierbei um jenen Teil der Reformdebatte, der auf den Ausbau des Sozialen zielte und fur den Bildungspolitik Teil eines gesellschaftspolitischen Projektes war. Hier standen die sozialen und strukturellen Aspekte von Chancengleichheit im Vordergrund. Eine Politik der Chancengleichheit war nur denkbar, wenn sie in ein Konzept der Demokratisierung von Gesellschaft und Wirtschaft eingebunden war. Nicht der Ruf nach mehr wirtschaftlicher Freiheit, der gegenwartige Regierungspolitik leitet, sondem der Ruf nach mehr politischer und kultureller Freiheit wie auch nach mehr Demokratie mit all den damit verbundenen Auseinandersetzungen und Widersprtichen - haben bekanntlich jenen Jahren einen Stempel aufgedrtickt. Mit anderen Worten: Nicht Angela Merkels Leitmotiv „Freiheit wagen", sondem Willy Brandts Formel, „Demokratie wagen", enthalt die entscheidende Botschaft zur Weiterentwicklung einer Politik des Sozialen. Im bildungspolitischen Programm des DGB von 1982 spielen deshalb drei Begriffe eine zentrale Rolle, namlich Demokratisiemng, Integration und Fordemng. Sie werden wie folgt ausgefflhrt: „Demokratisierung heiBt: Standesprivilegien abzubauen und alien gleiche Chancen einzuraumen. Dies erfordert, das dreigliedrige Schulsystem durch die Einfuhrung der integrierten Gesamtschule zu iiberwinden und die Bildungseinrichtungen fiir eine gemeinsame Erziehung aller Kinder und Jugendlichen zu offnen. Die Lembedingungen sind so zu gestalten, daB demokratisches Verhalten eingeiibt und demokratische Rechte ausgeiibt werden konnen. Lemende und Lehrende miissen eigene Gestaltungsmoglichkeiten und Mitbestimmungsrechte wahmehmen konnen. Integration heiBt: Die erzwungene Trennung von Kindem und Jugendlichen aus unterschiedlichen sozialen Schichten und gesellschaftlichen Gruppen zu iiberwinden und sie gemeinsam und voneinander lemen zu lassen. (...) Integration heiBt auch die herkommliche Trennung von allgemeiner und beruflicher Bildung zu beseitigen und gemeinsame Bildungsabschlixsse zu ermoglichen. Integration heiBt schlieBlich, behinderte und nichtbehinderte Kinder und Jugendliche gemeinsam zu erziehen. (...) Fordemng heiBt: Nicht auszulesen, sondem unterschiedliche Lemvoraussetzungen zu berucksichtigen und individuelle und schichtenspezifische Unterschiede auszugleichen." (DGB 1982: 9f.) Die hier angedeutete gewerkschaftliche Debatte um Chancengleichheit hat sich in einem mehrschichtigen Bildungsbegriff niedergeschlagen. Chancengleichheit hat danach die Bedeutung, die stmkturellen Voraussetzungen zu schaffen, Kindem und Erwachsenen unabhangig von ihrer sozialen Herkunft die Moglichkeit zu eroffnen, tiber SchulabschluB und 195
Ausbildung eine qualifizierte Arbeit zu erlangen. Die Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind abhangig vom BildungsabschiuB und von der Qualitat der Ausbildung. Bildung meint jedoch mehr: Jeder Mensch mu6 auch die Chance bekommen, seine Personlichkeit umfassend entwickeln zu konnen. Dazu gehoren neben den beruflichen Qualifikationen die Entwicklung kultureller und sozialer Kompetenz. Nicht zuletzt gehort dazu auch die politische Kompetenz in einem demokratischen Gemeinwesen. Bildung steht in engem Kontext zur Emanzipation von Individuum und Gesellschaft. 3
Querschnittsaufgaben zur sozialen Gestaltung des Bildungssystems Einschatzungen und Forderungen des DGB
Der DGB sieht in seinem bildungspolitischen Leitantrag fur den BundeskongreB 2006 folgende Querschnittsaufgaben fur eine gestaltende Bildungspolitik (DGB 2006b): Die erste Herausforderung macht die soziale Selektion zum Thema. Die Herausforderung ist die Orientierung an einer „Bildung ohne Ausgrenzung". Die zweite Herausforderung bezieht sich auf die Entwicklung und die Etablierung von Qualitatsstandards. Bildungsinstitutionen sollten sich als „lemende Organisationen" verstehen. Der DGB will, daB in Deutschland ein umfassendes, unter staatlicher Aufsicht stehendes Qualitatsmanagement ftir alle Bildungseinrichtungen etabliert wird. Die dritte Herausforderung lautet: „Durchlassigkeit als Voraussetzung fiir lebenslanges Lemen gewahrleisten - Recht auf zweite Chance". Gerade weil das deutsche Bildungssystem segmentiert und ausgrenzt, sind Ubergange zwischen den Bildungssystemen schwierig zu gestalten. Es fehlen individuelle Beratung und Forderung. Die Ubergange zwischen den Bildungsangeboten mtissen durchlassig sein und die Bildungssysteme die Moglichkeit fiir „nachholendes Lemen bieten"; es ist eine „zweite Chance" zu gewahren. Madchen und Jungen haben unterschiedliche Chancen im Bildungswesen. Das Ziel der Geschlechterdemokratie ist noch lange nicht erreicht: Uberwiegend Jungen gehoren zur „Risikogruppe", deren Lesekompetenz ungeniigend ist. Zu viele Madchen und junge Frauen konnen ihre schulischen Erfolge nicht auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt in zukunftstrachtigen Ausbildungen und beruflichen Positionen mit Aufstiegschancen nutzen. Der DGB setzt sich deshalb fiir eine geschlechtergerechte Bildung und Erziehung und die Anwendung des „Gender Mainstreaming" ein. Der DGB engagiert sich daruber hinaus fur die Verwirklichung interkultureller Bildung. Bildung soil damit auf die Tatsache reagieren, daB Deutschland ein Einwanderungsland ist. Wichtig sind die Forderung der Mehrsprachigkeit und das Lemziel, daB „kulturelle Vielfalt Bereicherung bedeutet". Das Bildungswesen hat die Aufgabe, auch Kindem und Jugendlichen mit Migrationshintergrund eine bestmogliche Bildung zu vermitteln. Erwerbsarbeit im Bildungssektor ist fiir die Beschaftigten nicht attraktiv. Vor allem im Weiterbildungsbereich wurden in den letzten Jahren viele Arbeitsplatze vemichtet und prekare Arbeitsformen etabliert. Es liegt auf der Hand, daB sich die Gewerkschaften ftir die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der im Bildungsbereich Beschaftigten einsetzen. Das deutsche Bildungssystem ist chronisch unterfmanziert und - was gewissermaBen die Kehrseite ist - der Anteil privat fmanzierter Bildung nimmt in Form von Sponsoring, kostenlos zur Verfugung gestellten Unterrichtsmaterialien u.v.a.m. zu. Der DGB fordert eine sachgerechte Bildungsfmanzierung als eine der wichtigsten Aufgaben des Bundes, der
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Lander und der Kommunen. „Der Staat muB sicherstellen, daB das Recht auf Bildung, Ausbildung und Erziehung frei von finanziellen Zwangen wahrgenommen werden kann" (DGB 2006b). Das Bildungswesen muB sich an den Interessen der Arbeitnehmer/innen und ihrer Familien orientieren. Die neoliberale Bildungspolitik gaukelt Chancengerechtigkeit vor, indem sie den scheinbar freien Wettbewerb durch Bildungsgutscheine und Gebiihren forciert. Abgehangt werden dabei aber die sozial Schwacheren und Menschen mit geringerem Qualifikationsniveau. Der anhaltende Rtickgang der Zahl betrieblicher Ausbildungsplatze zeigt, daB auch berufliche Qualifizierung staatlicher Intervention bedarf. Eine Verstarkung des „bildungspolitischen Wettbewerbsfoderalismus" ist nach Einschatzung des DGB falsch. Die Mobilitat von Schul- und Hochschulabsolventen innerhalb der Bundesrepublik wie auch innerhalb Europas wird zusatzlich erschwert. Zudem gerat die grundgesetzlich gebotene Herstellung gleichwertiger Lebensverhaltnisse weiter aus dem Blick. „Ein zukunftsorientiertes deutsches Bildungssystem setzt auf einen klar definierten nationalen und europaisch orientierten Rahmen" (DGB 2006a). 4
Sine gute Schule fiir alle
In den letzten Jahren hat sich die schulpolitische Debatte weitgehend um Strukturfragen herumgewunden. Dies hat einen wesentUchen Grund in der Erfahrung der fruchtlosen und frustrierenden Debatten um die Einfuhrung der integrierten Gesamtschulen. So wurde in der Bundesrepublik lange Zeit ein erreichter Status quo nicht angepackt. Er erschien als vertretbarer KompromiB, solange die sogenannten A-Lander (SPD-gefuhrt) jenen, die sogenannten B-Lander (CDU-regiert) diesen Weg gehen konnten und Platz fiir weitere regionsspezifische Besonderheiten blieb. Die soziale Grundlage fur diesen Status quo ist heute jedoch nicht mehr gegeben. Der Riickgang der Schiilerzahlen zwingt zu wirtschaftlich begrundeten schulpolitischen Strukturentscheidungen, sei es der Riickzug aus der Flache oder die Etablierung zweigliedriger Systeme. Zudem rief die PISA-Debatte Schulpolitiker jedweder politischen Couleur auf den Plan. Standardisierte Leistungstests und eine strikte Trennung der Schulformen hier, der Versuch, integrierte Modelle zu denken dort. Letztlich haben auch die Veranderungen in den politischen Mehrheitsverhaltnissen in den Landem eine Rolle gespielt. Plotzlich war es in Hessen, Niedersachsen oder Nordrhein-Westfalen moglich, einen jahrzehntelang zwischen den gesellschaftlichen Gruppen ausbalancierten KompromiB in der Schulpolitik in Frage zu stellen und unter strikt strukturkonservativ ausgerichteten Zielvorstellungen neu zu ordnen. Zur Zeit erleben wir also eine konservative Reorganisation des Schulsystems, welche die Bezeichnung „Strukturdebatte" durchaus rechtfertigt. Dabei ist dieser Weg auch aus Sicht der Wirtschaft alles andere als unumstritten. Das Risiko, im Schulsystem eine nicht ausreichende Zahl von qualifiziert ausgebildeten Absolventinnen und Absolventen zu produzieren und im Bereich der Studienanfangerzahlen weiterhin weit unter dem europaischen Durchschnitt zu liegen, hat z.B. den badenwiirttembergischen Handwerkstag zu seiner bekannten schulpolitischen Position gefuhrt, in deren Mittelpunkt ein weit iiber das heutige MaB hinaus realisierter gemeinsamer Unterricht steht. Aus dem Blickwinkel der „Ausbildungsreife" werden iiberdies Forderungen an die Schulen gestellt, die sich nicht immer mit den schulpolitischen Vorstellungen der konserva-
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tiven Parteien decken. Okonomische Modemisierung und strukturkonservative Reorganisation des Schulsystems scheinen wie Ende der 1960er Jahre in Widerspruch zu geraten. Die Gewerkschaften haben in dieser Situation das Zukunftsbild „einer guten Schule fur alle", das auch in der Sozialdemokratie immer popularer wird, zu ihrem schulpolitischen Leitbild erhoben (GEW/IG BCE/IG MetalWer.di 2006). Danach sind soziale Ausgrenzung und Leistungsmangel zwei Seiten einer Medaille. Die Ursachen dafiir liegen in gesellschaftlichen Strukturen und in strukturellen Mangeln des deutschen Bildungssystems. Das deutsche Schulsystem ist u.a. gekennzeichnet: durch die strikte Trennung nach Schulformen durch Halbtags- statt Ganztagsunterricht durch die friihe Auswahl der Schiiler/innen auf die Schulformen durch quantitative und qualitative Betreuungsdefizite im vorschulischen Bereich durch die Orientierung an scheinbar homogenen Lemgruppen durch den Mangel an individueller Forderung und Durchlassigkeit durch ein Defizit an arbeitsweltlichen Themen und berufsweltlichen Orientierungen Ein Neuanfang, so die SchluBfolgerung fiir den DGB und seine Gewerkschaften, ist in der Schul- und Bildungspolitik notwendig. Die Fortsetzung und Verscharfiing des Alten, so wie es derzeit konservative Schulpolitik in groBen Schritten betreibt, wird zu einer VergroBerung von Leistungsdefiziten und sozialer Ausgrenzung fuhren. „Eine gute Schule fiir alle" bedingt daher aus Sicht der Gewerkschaften die Einlosung der folgenden Forderungen: • • • • • •
eine Neuausrichtung von Schulpolitik, Lehreraus- und -fortbildung die Einrichtung von Ganztagsschulen, welche die Kinder bis zum 10. Schuljahr in integrativen Konzepten gemeinsam unterrichten die Orientierung auf individuelle Forderung der Schiilerinnen und Schuler die Orientierung der schulischen Lemkulturen an heterogenen Lemgruppen die Forderung von Selbstandigkeit und selbstandigem Lemen die starkere Orientierung an berufsweltlichen Anforderungen
Dabei setzen die gewerkschaftlichen Forderungen bereits im vorschulischen Bereich an. Kindertageseinrichtungen sind als Teil des Bildungssystems anzusehen; Gebiihren fiir mindestens das letzte Kindergartenjahr sind zu erlassen. 5
Durchlassigkeit und Gleichwertigkeit als Forderungen an die Gestaltung des europaischen Hochschulraums
Unter dem Gesichtspunkt von Chancengleichheit ist der gegenwartige ProzeB der Reorganisation des Hochschulbereichs mit der Einfiihrung der gestuften Studiengange nicht unproblematisch. Obgleich die neuen Studiengange, insbesondere die Bachelor-Studiengange, nominell an einer verstarkten Hinwendung zur Berufsbefahigung orientiert sind, lassen empirische Studien und Erfahrungen von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftem in den
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jeweiligen Gremien nicht den SchluB zu, daB generell eine neue Qualitat in bezug auf Praxisorientierung und die Anerkennung beruflich erworbener Kompetenzen erreicht wurde. Im Gegenteil: Die Fachhochschulen reduzieren vielfach Praxisanteile. Zugleich wird die sogenannte „workload", die Zahl der in einem Studium zur Verfiigung stehenden Lemzeiten, an einem „Vollzeitstudium" orientiert und vemachlassigt so den hohen Anteil an Studierenden, die neben ihrem Studium jobben miissen, um ihren Lebensunterhalt ganz oder teilweise bestreiten zu konnen. Gerade die von den Landem beschlossenen Studiengebuhren werden diese Situation noch verscharfen und dazu fiihren, daB viele Jugendliche ein Studium im Angesicht der drohenden Verschuldung nicht aufnehmen werden (KaBebaum/ Koch-Bantz/Neef 2005). In dem MaBe, in dem in Zusammenhangen der Berufspraxis und in europaischen wie auch nationalen Netzwerken iiber die Qualitatskriterien der neuen Studiengange debattiert wird, nimmt praktisch der SchlieBungsprozeB im Hochschulbereich zu und wird Leistung auf das - falsche - Instrument der Hochschulzugangsberechtigung reduziert. Dieser Weg wird dazu fuhren, daB beruflich erworbene Kompetenzen unberucksichtigt bleiben. Wenn die Hochschulen zukunftig die Studierenden auswahlen diirfen, werden formale Kriterien, z.B. die Anerkennung des Facharbeiterabschlusses, und zusatzlich erworbene berufliche Erfahrungen zweitrangig werden. Die europaische Diskussion iiber die starkere Gewichtung von „leaming outcomes" und die dadurch unter gewissen Umstanden zu realisierende Anerkennung von Kompetenzerwerb auBerhalb der Hochschulen ist bildungspoHtisch ambivalent zu beurteilen. Jedoch konnte sie bei alien Risiken eine starkere Offnung zum beruflichen System gewahrleisten, etwa wenn es gelange, die Systeme der Kreditierung von Studiengangen (ECTS) und beruflicher Aus- und Weiterbildung (ECVET) starker aufeinander zu beziehen. Aus gewerkschaftlicher Sicht ist nicht zu akzeptieren, daB die Akkreditierung der neuen Studiengange nach wie vor ein sehr formaler und an vielen Input-Kriterien wie Semesterwochenzahlen, Dauer und Lange von Modulen, Zahl der Lehrveranstaltungen u.a. organisierter ProzeB ist, der Gefahr lauft, an den Hochschulen jegliche Anerkennung zu verspielen. Ein ProzeB, der inhaltliche Studienreform (wenn man nicht schon die Einfiihrung der gestuften Studiengange als ReformprozeB begreifen mochte) nicht nur nicht fordert, sondem in manchen Fallen (wie z.B. bei der Eliminierung des Praxissemesters aus den an der Fachhochschule angebotenen Bachelor-Studiengangen) sogar eine Verschlechterung gegeniiber dem alten Zustand in den Diplomstudiengangen in Kauf nimmt. Aus gewerkschaftlicher Sicht ist die Einfiihrung der gestuften Studiengange kein Selbstzweck, sondem ihre Einschatzung daran gebunden, was an starkerer Berufsorientierung in die Studiengange gelangt, wie Praxis in den Studiengang integriert wird (wobei die Forderung nach einer reflektierten Praxis erhoben wird) und mit welchen Inhalten und Methoden in einem problemorientierten und in Teilen auch selbst organisierten Studium gearbeitet werden kann (Roder 2005). Hierbei wird es gerade aus den strukturierten Bereichen der beruflichen Weiterbildung in Zukunft Anforderungen an die Durchlassigkeit und Anerkennung beruflich erworbener Kompetenzen geben, die mit den heutigen Regelungen formaler Anerkennung des „Hochschulzuganges Berufserfahrener" wenig gemein haben. Ob die Hochschulen auf diesen Offnungsdruck aus dem Beschaftigungssystem, wie oben befurchtet, durch SchlieBung an anderer Stelle reagieren, sollte beobachtet werden. Im Zuge einer Bildungspolitik der Chancengleichheit jedoch ist nicht tolerierbar, wenn an Stelle der allgemeinen Zugangsbe-
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rechtigung kunftig die Auswahl der Studierenden iiber Tests, gestaffelte Gebiihren und selektiv gezahlte Stipendien riickt und berufliche Erfahrungen ausgegrenzt werden. 6
Bildung ist keine Ware
Zwei Entwicklungen drangen zu einer massiven Kommerzialisierung des Bildungsbereiches. Erstens das kaum noch auf Gegenwehr stoBende Postulat der Wettbewerbsfanatiker in den zentralen Institutionen des Weltmarktes und der europaischen Deregulierung; zweitens eine unmittelbar mit dieser Politik und ihren theoretischen Postulaten korrelierende Politik der Entstaatlichung. Fiir den Bildungsbereich hat dies zur Folge, dafi - wie die Auseinandersetzungen um GATS und um die EU-Dienstleistungsrichtlinie gezeigt haben -, die Tendenz um sich greift, offentliche Bildungsausgaben als wettbewerbsverzerrende Subventionierung anzusehen, die im Interesse des freien Marktes entweder auch den (privaten) Wettbewerbem zugestanden oder aber eingeschrankt werden miissen, damit sich der Wettbewerb erst entfalte. Ein weiterer Bezug ergibt sich aus den Tendenzen, die privatwirtschaftliche Akteure und ihre Angebote, sei es im Bereich des Sponsoring, der Entwicklung von aufwendigen Lehrangeboten oder Angeboten in der Lehrerfortbildung, vielfaltig mit dem schulischen AUtag zu vemetzen. Dem stehen mangelhafte Angebote anderer gesellschaftlicher Akteure gegeniiber und - was weit schwerer wiegt - ein weitreichender Riickzug des Staates aus wichtigen Bereichen der Schulpolitik, etwa wenn - wie in Hessen - Lehrkrafte zur Weiterbildung angehalten, zugleich aber die staatliche Fortbildungsstruktur zugunsten privater Anbieter aufgelost wird. Dabei ist die Kritik nicht so sehr, daB sich die Schule immer starker auf Wirtschaft bezieht, auch die Gewerkschaften fordem seit langem einen starkeren Bezug auf Berufsorientierung und Arbeitswelt in den allgemeinbildenden Schulen und eine bessere Qualitat der Berufsschulen, sondem daB sie diesen Bezug haufig recht einseitig und unreflektiert praktiziert. Okonomische Bildung darf nicht zu Okonomismus ftihren. Die Schule droht ein fatales MiBverstandnis zu reproduzieren, namlich daB der „Arbeitskraft-Untemehmer" der Staatsbiirger des Neoliberalismus sei, auf den Bildung entsprechend hinzufuhren habe (Liebel 2006). Der Bildungsbereich leidet wie kein anderer unter der offentlichen Armut. Da aber unter der Vorherrschaft marktradikaler Wirtschaftstheorien und einer groBen Koalition derjenigen Krafte in der Politik, die angesichts der vermeintlichen Wachstumsschwachen und der Belastungen durch Massen- und Dauerarbeitslosigkeit keine Altemativen sucht, wird der Anteil offentlich fmanzierter sozialer Infrastruktur weiter reduziert und nimmt umgekehrt der Anteil privat erbrachter Bildungsleistungen zu. Hierzu gehoren fflr die Familien auch die Gebuhren im Vorschulbereich, die Kosten fiir die Ausbildung in vielen Sozialberufen, die Studiengebiihren u.a.m. Die OECD (2005) sieht den Anteil der offentlichen Ausgaben fur Bildung in Deutschland bei knapp 10%. Unser Land belegt damit in der Liste der untersuchten Lander den viertletzten Platz, wahrend Lander wie Norwegen, Schweden, Korea und Belgien deutlich mehr offentliches Geld fiir Bildung aufwenden. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt lagen die offentlichen Bildungsausgaben in Deutschland im Jahr 1975 noch bei iiber 5%, im Jahr 1990 bei 3,75% und liegen heute bei ca. 4% (Klemm 2005).
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Verschiedene Strategien zur Sicherung der finanziellen Ausstattung des Bildungsbereiches werden derzeit diskutiert: Klemm (2005) und Ehmann (2005) versuchen z.B. die intemen Budgets des Bildungssystems in ein Verhaltnis zu setzen. So ergibt sich - durch den hohen Personalkostenanteil und die unterschiedliche Vergiitung von Lehrkraften in den verschiedenen Schulformen allerdings ein Bild, nach dem fur den Sekundarbereich II in Deutschland uberdurchschnittlich viel im Verhaltnis zum Primarbereich ausgegeben wird. Die skandinavischen Schulmodelle zeigen, daB die hohere Bewertung der friihkindlichen Bildungsphasen und ein friihes Erlemen von Selbstorganisationsmethoden im spateren Verlauf die Schiiler-LehrerRelationen verandem hilft. Die Kommission zur Finanzierung lebenslangen Lemens wiederum hat neben anderen MaBnahmen das sogenannte „Bildungssparen" vorgeschlagen, mit dem analog zum Vermogensbildungsgesetz der Staat Bildungssparen fbrdem solle, um sogenannte „bildungsfeme Gruppen" zu animieren, einen Teil ihres Einkommens in lebenslanges Lemen zu investieren. Der DGB hat in seiner Stellungnahme darauf hingewiesen, daB der Ertrag dieser MaBnahme fiir die Bildungsfmanzierung nicht iiberbewertet werden diirfe. Einkommensschwache Familien waren kaum in der Lage, neben dem Bestreiten ihres materiellen Unterhalts in nennenswertem Umfang Sparguthaben fiir die Verwendung in Bildungsprozessen zu bilden. Schon gar nicht werden sie in der Lage sein, jene Summen zu bilden, die kiinftig fiir ein schuldenarmes Studium notwendig sein werden. Klaus Klemm hat auf den heute schon hohen Anteil privater Aufwendungen im Bildungsbereich, hier insbesondere im vorschulischen Bereich und im Weiterbildungsbereich durch die Gebuhren, aufmerksam gemacht (Klemm 2005). Deshalb kommt eine Politik, die zum Ziel hat, mehr Chancengerechtigkeit herbeizufiihren, eine Politik, die mehr und bessere Bildungsbeteiligung will, bei allem Ausnutzen von Einsparpotentialen nicht umhin, auch den Anteil der offentlichen Bildungsausgaben zu thematisieren. Wiirde man den Anteil der Bildungsausgaben in Deutschland am Bruttoinlandprodukt am Durchschnitt der OECD-Staaten orientieren, so miiBte man ihn von 4,4 auf 5,1% erhohen. Absolut ergabe sich daraus eine Steigerung um ca. 13-14 Mrd. Euro. Erhohte man den Anteil auf jenen Wert, der in den 1970er Jahren gait, ware der fmanzielle Effekt ungleich hoher. Aber wie man es dreht und wendet: Dies geht nicht unter den Uberschriften „Entstaatlichung" und „Wettbewerbsstaat"; gefordert ist die Wiedergeburt des aktiven und gestaltenden Sozialstaats. Gefordert ist eine Debatte, die den Zusammenhang von wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung sucht. Literatur Bottcher, Wolfgang (2005): Soziale Auslese und Bildungsreform, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 12/2005, S. 7-20. BMBF/Bundesministerium fur Bildung und Forschung (Hg.) (2004): Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in den Bundesrepublik Deutschland 2003 (17. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks, durchgefiihrt durch HIS Hochschulinformationssystem), ausgewahlte Ergebnisse, Bonn/Berlin. Bourdieu, Pierre/Passeron, Jean-Claude (1971): Die Illusion der Chancengleichheit, Stuttgart. Dahrendorf, Ralf (1964): Arbeiterkinder an deutschen Universitaten, Tubingen.
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Peter Henkenborg
Freiheit bewaltigen - politische Bildung und die Herausforderung der Gerechtigkeit
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Ausgangspunkte - der Zusammenhang von Freiheit und Gerechtigkeit in der politischen Bildung
„Freiheit (Unabhangigkeit von eines anderen notigender Willktir), sofem sic mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist das einzige, urspriingliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht" (Kant, zit. n. Wellmer 1993: 133). Die Idee der Freiheit und die Idee einer Erziehung zur Freiheit im Sinne dieser These Kants als einen normativen Kern politischer Bildung zu begreifen, ist ein traditionsreicher Gedanke in der Theorie politischer Bildung. In der deutschen Politikdidaktik hat z.B. Bemhard Sutor die Idee der Freiheit - neben der Idee der Gleichheit - zu den „beiden Hauptgrundrechten" gezahlt. Freiheit definiert Sutor als „die Moglichkeit und Fahigkeit zum SelbstvoUzug des Personseins", wozu die gesellschaftliche Ordnung die Voraussetzungen schaffen miisse. Unter Gleichheit versteht er die „prinzipielle Gleichwertigkeit aller Menschen" (Sutor 1971: 35f.). In der neuen didaktischen Diskussion ist dieser Zusammenhang zwischen Freiheit und Gleichheit nicht mehr selbstverstandlich, sondem umstritten. So vertritt z.B. Wolfgang Sander die These, die politische Bildung sei alleine aus der Idee der Freiheit zu begriinden, weil die Freiheit der „kleinste gemeinsame Nenner politischer Bildung in der Demokratie" sei - im Gegensatz zu umstrittenen Werten wie Gleichheit, Gerechtigkeit oder Solidaritat (Sander 2001: 42). Wenn normative Begriindungen einer Theorie der politischen Bildung allerdings an Unterscheidungen zwischen kommunalistischen und individualistischen sowie zwischen negativen und positiven Freiheitsmodellen (Taylor 1992; Wellmer 1993) anknupfen, laBt sich begriinden, daB die Perspektive der Freiheit nicht ohne die Perspektiven der Gerechtigkeit und Gleichheit verwirklicht werden kann. Der Grundgedanke des liberalen Freiheitsbegriffs besteht in der Begrenzung von HerrschaftsUbergriffen und Staatseingriffen in die burgerlichen Lebensbereiche, d.h. besonders in die Bereiche des Eigentums, der Familie, der Uberzeugungen und spater auch der Grundrechte. Solchen negativen Freiheitsmodellen liegt nach Taylor ein Moglichkeitsbegriff der Freiheit zugrunde, „dem zufolge frei zu sein davon abhangt, was wir tun konnen, was unserem Handeln offensteht, unabhangig davon, ob wir etwas tun, um diese Optionen wahrzunehmen oder nicht" (Taylor 1992: 121). Der positive Freiheitsbegriff dagegen verbindet Freiheit nach Taylor mit Vorstellungen von „Selbstverwirklichung", „Selbstregierung", „Selbstlenkung", „Selbsterfullung" oder mit der Idee einer „kollektiven Kontrolle iiber das gemeinsame Leben". Weil unter Freiheit die „faktische Praxis steuemder Kontrolle iiber das eigene Leben" verstanden wird, basieren positive Freiheitsmodelle nach Taylor im Unterschied zu negativen Freiheitsvorstellungen nicht auf einem Moglichkeitsbegriff, sondem auf einem Verwirklichungsbegriff
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der Freiheit. Nach diesem Freiheitsverstandnis sind „wir nur in dem MaBe frei, in dem wir tatsachlich uber uns selbst und die Form unseres Lebens bestimmen" (Taylor 1992: 121). In der neuen Freiheitsdiskussion findet sich dieses positive Freiheitsmodell in der „aktivierenden" Konzeption der Freiheit des indischen Wirtschaftswissenschaftlers Amartya Sen. Der Ausgangspunkt seiner Uberlegungen liegt in der Frage, welche Vorstellungen wir von einer „akzeptablen Gesellschaft" haben. Sen beantwortet diese Frage, indem er einerseits die „Perspektive der Freiheit" in den Mittelpunkt stellt und andererseits die Idee der Freiheit untrennbar mit der Idee der Gerechtigkeit verkniipft. Freiheit interpretiert Sen im Sinne von „Verwirklichungschancen" {capability of a person) als die Fahigkeit von Menschen, Lebenschancen {beings and doings) zu erkennen, wahrzunehmen und zu verwirklichen. Unter Freiheit im Sinne von Verwirklichungschancen versteht Sen dann „die Grundrechte, die freiheitlichen Moglichkeiten, ein mit Griinden schatzenswertes Leben zu wahlen" (Sen 2000: 94). Freiheit im Sinne von Verwirklichungschancen bedeutet also „die Freiheit, unterschiedliche Lebensstile", d.h. fur Sen „verschiedene Dinge (...), die eine Person gem tut oder die sie gem mag" zu erkennen und zu verwirklichen (Sen 2000: 95). Freiheit ist bei Sen mit der Idee der Tatigkeit verkniipft. Mehr Freiheit, so Sen, starke die Fahigkeit des Menschen tatig zu sein, d.h. „sich selbst zu helfen", „auf die Welt einzuwirken", „Verandemngen" zu bewirken und Leistungen zu erbringen, „die in Bezug auf seine eigenen Werte und Ziele zu bewerten sind" (Sen 2000: 30f.). Damit Menschen ihre Freiheit, ihre ^^capabilities'' entwickeln konnen, unterscheidet Sen zwischen „Verfahren" und „Chancen". Eine Gesellschaft muB einerseits uber Verfahren verfflgen, die fiir jeden Menschen die gleiche formale Handlungs- und Entscheidungsfreiheit garantieren, und andererseits bezieht Sen Freiheit auf „die realen Chancen, die Menschen angesichts ihrer personlichen und sozialen Umstande" haben (Sen 2000: 29). Verwirklichungschancen miissen nach Sen nicht nur fair verteilt sein, sondem mtissen auch entwickelt werden konnen. Die Voraussetzungen der Freiheit beschreibt Sen als substantielle Freiheiten, zu denen er insbesondere folgende Formen der Freiheit zahlt: erstens die politische Freiheit (z.B. Meinungsfreiheit, Wahlen, Partizipation), zweitens soziale Chancen (z.B. die Einrichtungen einer Gesellschaft fiir Bildung und Gesundheit etc.), drittens wirtschaftliche Einrichtungen, die die „Chancen der Individuen, sich okonomischer Ressourcen zum Zwecke des Konsums oder der Produktion zu bedienen", sichem, viertens Garantien fiir Transparenz und fiinftens Garantien fiir soziale Sicherheit (Sen 2000: 2Iff.). Durch die Idee der individuellen Befahigung ist der Freiheitsbegriff bei Sen untrennbar mit der Idee der Gerechtigkeit verbunden - mit dem Ziel der Befreiung der individuellen Lebenschancen von den Zufalligkeiten der sozialen Herkunft, des Geschlechts und der natiirlichen Begabung. In dieser Verkntipfiing von Freiheit mit den politischen, sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Verwirklichung bei Sen wird die Bedeutung positiver Freiheitsmodelle fiir das Selbstverstandnis der politischen Bildung deutlich. Weil Freiheit im Sinne von Selbstverwirklichung als Verwirklichungsbegriff verstanden wird, sind die positiven Gegenentwiirfe zu einem individualistischen Freiheitsbegriff immer iiber einen negativen Freiheitsbegriff hinausgegangen. Damit Freiheit nicht abstrakt bleibt, so die gemeinsame Gmnduberzeugung von Konzepten positiver Freiheit, miissen gesellschaftliche Bedingungen geschaffen werden, die es den Menschen iiberhaupt erst ermoglichen, als freie Burger zu handeln. Solche Neudeutungen einer positiven Freiheit umfassen deshalb die Idee der
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politischen Freiheit einerseits und die Idee der sozialen Freiheit andererseits. Die politische Freiheit soil die gemeinsame Gestaltung des Gemeinwesens durch politische Partizipationsrechte ermoglichen, die den Staat und seine Burger erst zu einem „Gebilde der Freiheit" machen. Die soziale Freiheit - die Emanzipation von der Unfreiheit z.B. durch die Uberwindung von Armut und sozialer Ungleichheit - soil die sozialen Bedingungen der Freiheit, z.B. freie Zeit, Bildung, soziale Rechte und Chancen, garantieren. Das Fazit lautet: Die Bewaltigung von Freiheit setzt als Bedingung Gerechtigkeit voraus. Damit Menschen autonom und selbstbestimmt iiber das eigene Leben entscheiden konnen, muB es Ziel der Gerechtigkeit sein, daffir reale Moglichkeiten im Sinne politischer und sozialer Teilhaberechte zu garantieren. Der Sozialphilosoph Rainer Forst hat vorgeschlagen, zwischen „fundamentaler" und „maximaler Gerechtigkeit" zu unterscheiden. Die Aufgabe der maximalen Gerechtigkeit sei die Verwirklichung einer umfassend gerechtfertigten Grundstruktur. Die Aufgabe der fundamentalen Gerechtigkeit liege in der Herstellung einer „Grundstruktur der Rechtfertigung". Bei der fundamentalen Gerechtigkeit gehe es um die erste Frage der Gerechtigkeit, d.h. fflr Forst um die Frage der Macht: „Es geht darum, wie (...) Giiter produziert werden und vor allem: wer iiber die Produktion und Verteilung bestimmt. Dies ist der urspriingliche politische Sinn der Gerechtigkeit". Fundamentale Gerechtigkeit erfordere die Institutionalisierung von „fairen und effektiven Rechtfertigungsverfahren unter den Biirgerinnen und Burgem" (Forst 2005: 7ff.). Gerechtigkeit mu6 nach Forst eine doppelte Perspektive einnehmen: „Der erste Blick der Gerechtigkeit wendet sich auf die Verteilung dieser Macht innerhalb der wichtigsten gesellschaftlichen Strukturen, der zweite darauf, wie auf dieser Basis begehrte und gesellschaftlich knappe Giiter verteilt werden" (Forst 2005: 8). Die Bedeutung dieses Gesichtspunktes far eine politische Bildung ist offensichtlich. Heute, d.h. unter den Bedingungen sozialer Freisetzung, ist eine wachsende Zahl von Kindem und Jugendlichen durch „negative Anerkennungsbilanzen" (Endrikat/Schaefer/ Mansel/Heitmeyer 2002) betroffen: z.B. durch die Erfahrung von Arbeitslosigkeit, von sozialer Desintegration und verweigerter politischer und sozialer Teilhabe oder durch die Erfahrung von Selbstwertverlusten, sozialer Orientierungslosigkeit und von fehlendem sozialen Riickhalt. Solche Erfahrungen verweigerter Anerkennung treffen die Padagogik im Kern. Die Padagogik, so die These von Lothar Bohnisch, habe es als selbstverstandlich genommen, daB die Schule in eine sozialstaatlich verfaBte Gesellschaft eingebettet sei und Kindem und Jugendlichen durch Bildung gleichzeitig Identitatsentwicklung und soziale Integration garantieren konne. Unter den Bedingungen von Globalisierung und Individualisierung ist dieser gesellschaftlich-sozialstaatliche Hintergrund der Padagogik briichig geworden. Wenn heute in der Padagogik deshalb von einer „neuen Verlegenheit der Padagogik", von einer „gefahrdeten Balance zwischen Padagogik und Gesellschaft" die Rede ist Oder davon, daB der Begriff der „Sorge" die Idee der Emanzipation ablost, dann geht es immer um das Problem, daB diese gesellschaftlichen Bedingungen der Bildung im Zeitalter von Globalisierung und Individualisierung zunehmend bruchiger geworden sind: „Die Padagogik sieht sich nun mit ihren sozialen Voraussetzungen, um die sie sich nie so richtig kiimmem musste, konfrontiert und wird gewahr, dass es nicht mehr die Voraussetzungen sind, von denen sie bisher ausgegangen war" (Bohnisch/Schroer 2001: 89). In der pluralistischen und individualisierten Gesellschaft ist politische Bildung mit Blick auf die „Kinder der Freiheit" vielleicht weniger „Anstiftung zur Freiheit" (Sander
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2001), sondem eher mehr „Ermutigung zur Freiheit" (Reichenbach 2004) und sogar „Bewaltigung" von Freiheit (Bohnisch/Schroer 2001). 2
Herausforderungen der Gerechtigkeit - Beobachtungen iiber die soziale Frage an einem Berufsschulzentrum
DaB sich dieses Problem der „Bewaltigung von Freiheit", d.h. das Problem des Zusammenhangs von Freiheit und Gerechtigkeit in der heutigen Schule sehr konkxet stellt, haben die PISA-Studien gezeigt, die eine dramatische Benachteiligung von Arbeiter- und Migrantenkindem im deutschen Schulwesen belegen. An Schulen, in denen man ausgegrenzte und marginalisierte Kinder und Jugendliche antrifft, z.B. an vielen Hauptschulen, Sonderschulen Oder an Schulen in sozialen Brennpunkten, ist die soziale Frage also schon lange ein sehr konkretes und sinnlich erfahrbares Thema: als Problem von Lebens- und Lemgeschichten von Schtilerinnen und Schiilem, als Frage nach berechtigten und unberechtigten Normalitatserwartungen politischer Bildung und damit als Problem der Rahmenbedingung fur das professionelle Handeln von Lehrerinnen und Lehrem. Im folgenden soil das Problem der „Bewaltigung von Freiheit" als Zusammenhang von Freiheit und Gerechtigkeit aus der Mikroperspektive von teilnehmenden Beobachtungen geschildert werden, die ich an einem gewerblich-technischen Berufsschulzentrum in Hessen durchgefuhrt habe. „Viele werden keine AnschluBperspektive haben, viele werden keine glanzenden schulischen Leistungen bringen, die Lemfortschritte, die diese Schiiler machen, verlaufen in sehr kleinen Schritten und sie sind nicht bei ,Jugend forscht' oder sind nicht in der Lage, einen tollen Vortrag zu halten", sagt eine Lehrerin dieser Schule uber ihre Schuler und sie fiigt hinzu: „Das, was man sich traditionell unter Unterricht und Schule vorstellt, wurde in den Klassen gar nicht erst flinktionieren". An dem gewerblich-technischen Berufsschulzentrum in Hessen, an dem die Lehrerin unterrichtet, werden von den 2.500 Schulem der Schule rund 120 Schuler in besonderen Bildungsgangen unterrichtet. In solchen MaBnahmen treffen sich Schuler, die schwieriger sind als die Schiiler, auf die sich die Normalitatsvorstellungen politischer Bildung bislang immer noch konzentrieren: weil sie, wie eine Lehrerin erzahlt, „durch die vielen Bruche, die sie in ihrem Leben erlebt haben, kaputter und durchgeknallter sind, demotivierter, unkonzentrierter und unkontrollierter oder heterogener in ihren schulischen Leistungen und ihrem Forderbedarf. Es sind gleichzeitig Schiiler, bei denen ihr „die Arbeit aber auch SpaB macht, weil das nur die eine Seite ist, das andere ist, das sind alles Schiiler, die ihre Emotionalitat sehr direkt ausdriicken, die spontan sein konnen". Der Politikunterricht an einer solchen Schule wird zum Brennglas fiir einen Ausschnitt alltaglicher politischer Bildung, der in einem immer noch auf Normalbiographien eingestellten und konzentrierten Fachdiskurs, wenn iiberhaupt, allenfalls am Rande vorkommt.
2.1 Die Jugendlichen: „ Sie sehen sich selbst als Monster " Die Jungen einer Arbeiterklasse sind dafiir ein Beispiel: Die Gruppe ist jugendkulturell durchmischt: Punks, Jugendliche vom Dorf, Marvin und Nerhat signalisieren durch ihre Ghetto-Rapper-Kleidung, daB sie fur gefahrlich gehalten werden wollen. Ein Junge ist ganz
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in schwarz gekleidet. Christian hat eine Sonderschulgeschichte hinter sich und arbeitet als ungelemter Arbeiter in der gleichen Firma wie sein Vater. Er wtinscht sich, in der Firma eine Ausbildung machen zu konnen, hat aber wenig Hoffnung. Michael ist seit zwei Jahren beschaftigungslos und hat gerade einen BuBgeldbescheid wegen hoher Fehlzeiten bekommen. Er argert sich iiber seine friihere Faulheit und will sich jetzt eine Arbeit suchen, weiB aber nicht, ob er es schaffen wird. Michael hat nach seinem HauptschulabschluB keine Lehrstelle gefiinden und durchwandert jetzt die verschiedenen AuffangmaBnahmen. Philipp hat bereits Jugendarrest hinter sich. Dennis hat eine Lehre als Orthopadiemechaniker abgebrochen, weil ihm der theoretische Teil der Ausbildung zu schwer war. Markus hat eine absteigende Schulkarriere vom Gymnasium auf die Realschule hinter sich. Derzeit arbeitet er als Praktikant im Krankenhaus. Seinen urspriinglichen Berufswunsch des Krankenpflegers scheint er aber aufzugeben, eine Alternative ist noch nicht in Sicht. Frank hat eine Lehre als Maler und Lackierer nach einem Streit mit dem Chef abgebrochen. Melvin und Nerhat haben bereits Jugendarresterfahrungen. Ein Schiiler ist neu in der Gruppe, weil er nach dem Abbruch der Fachoberschule die Zeit iiberbrucken muB. Patrik ist in seine Punker-Kluft gehiillt, das Gesicht kaum zu erkennen. Markus setzt sich alleine an eine Bank und arbeitet wahrend der gesamten Stunde sehr aktiv mit. Gabriel hat bereits Jugendgefangniserfahrungen hinter sich und wartet jetzt auf eine emeute Gerichtsverhandlung wegen Beteiligung an einem Bankraub, flir den er die Waffe besorgt haben soil. Er erzahlt freimiitig: „Wir hatten nichts zu tun und da haben wir unseren Freund zum Bankiiberfall iiberredet". Tatsachlich scheint Langeweile ein groBes Problem zu sein: „Sie setzen sich in den Bus und fahren durch die Gegend", beschreibt ein Lehrer das Freizeitproblem der Jugendlichen. Selten treffe die Schule auf Eltem, von denen „man sagen kann, die sind eine echte Hilfe". In einem intemen Papier der Schule hat er die komplexe Problemsituation der Jugendlichen festgehalten: in der Schule gescheitert, in der Familie gestorte Beziehungen, Video, Konsum, Alkohol und aggressives Verhalten in der Freizeit und schlieBlich, vielleicht als Summe aus alledem, dem Arbeitmarkt nicht gewachsen. Eine Lehrerin sagt uber die Schuler in diesen MaBnahmen: „Kein Schiiler, der nicht ein Problem darstellt und viele kommen hierher, weil die anderen Schulen sie loswerden wollen". In schulischen Anerkennungskampfen geht es immer auch um das Gefuhl, in den Moglichkeiten der eigenen Krafte wahrgenommen zu werden. Wo solche Gefuhle keine positiven Ausdrucksformen finden, mussen sie auf Storungen, Verweigerungen und Aggressionen als Mittel der (mannlichen) Selbstfmdung und Selbstdarstellung zugreifen. Eine Lehrerin hat in einem Bericht iiber einen einwochigen Seminaraufenthalt mit einer solchen Gruppe das Selbstbild der Jugendlichen so beschrieben: „Sie sehen sich selbst als Monster", „Sie konnen besser dazu stehen Ekel zu sein, als ganz nett", „Sie wollen immer boser sein, als sie sind". Eine andere Lehrerin erzahlt von Schiilem, die alles, was im Unterricht passiert, niedermachen miissen und die Unterschiede, z.B. beim Lesen, nicht als Unterschiede in ihren Starken darstellen konnen, sondem als Unterschiede der Schwachen demonstrieren miissen: „Es gibt jemanden, der ist noch schlechter als ich". Die selbst erlittenen Versagenserlebnisse sollen andere wiederholen, um dann selbst „in einer starken Rolle zu sein". In den Beschreibungen der Lehrer rundet sich das Bild ab: Viele Jugendliche sind vorsichtig geworden, auch darin, sich auf neue Chancen einzulassen: „Nicht wieder eine Hoffnung haben, die sich wieder zerschlagt". Diese Distanz ist vielleicht auch eine Form von Realitatstiichtigkeit: „Sie konnen vielleicht nicht lesen und schreiben", sagt eine Lehre-
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rin, „aber das heiBt nicht, daB sie die Realitat und vor allem ihre soziale Realitat und ihre Zukunftschancen nicht kennen. Da sind sie ganz gut informiert". Orientiert man sich an Michael Vespers Typologie westdeutscher Politikstile (1993), fallen die Jugendlichen in diesen Kursen vielleicht am ehesten unter die „Deklassierten" und zeichnen sich entweder durch enttauscht-apathische oder durch enttauscht-aggressive gesellschaftspolitische Einstellungen aus. 2.2 Schule und Politikunterricht - warum lernen ? Das Fach „Gesellschaftliche Orientierung", wie der Politikunterricht heiBt, kann sich in diesen drei MaBnahmen auf keinen verbindlichen Lehrplan stiitzen. Die Schule orientiert sich in ihrer Curriculum-Planung an einem Entwurf, der allerdings nie verabschiedet wurde. In dem Entwurf heiBt es: „Das Fach Politik und Wirtschaft soil den Schiilem/Schulerinnen bei der Aufarbeitung ihrer personlichen Situation und bei der Bewaltigung aktueller politischer Probleme Hilfe geben". Als Themenfelder des Faches „Politik und Wirtschaft" werden genannt: Berufs- und Arbeitswelt, Okologie, Geschichte der technischen und sozialen Entwicklung und aktuelle politische Themen Themen, die sich mit den Jugendlichen behandeln lassen, sagt eine Lehrerin, sind z.B. „Gehalt und Steuem", „Jugendschutzgesetz", „Jugendkriminalitat" oder Themen, bei denen es um ihre Situation geht. Dennoch bleibt eine „zentrale Frage, die sich fur uns immer stellt", auch im Politikunterricht: „Wie schaffen wir es, den Jugendlichen deutlich zu machen, daB diese gesamte Veranstaltung in der Schule fiir sie noch Sinn macht?" Der Unterricht sei deshalb so schwierig, weil bestimmt die Halfte der Schiiler, sich von „diesem schulischen Rahmen, dem Lernen in Klassen, wenig versprechen" wiirde. Szene 1: In der Metallwerkstatt -jenseits der Unterrichtsschule In der Metallwerkstatt der Schule haben sich 6 der 12 Schiiler eines Eingliederungslehrgangs in die Berufs- und Arbeitswelt (EBA) fiir jugendliche Aussiedler und jugendliche Auslander eingefiinden. In der Werkstatt hangen Bilder, die Projekte aus vorangegangenen Kursen dokumentieren, z.B. Kunst in der City, das Bemalen von Schaltkasten in der Innenstadt mit Mondrian-Motiven, den Umbau eines Trabi-Motors, die Renovierung einer „Dickwurzmaschine" fiir ein Heimatmuseum, die Herstellung von 23 Selbstportraits in einer Projektwoche auf dem Jugendhof Domberg. Deutlich wird, was hier Programm ist: nicht Spiel, sondem emsthafte Arbeit und (Klein-)Produktion, also Qualifizierung moglichst nicht in padagogischen Schonraumen, sondem durch Anforderungen mit Emstcharakter. „Dort waren sie immer am Rande, hier stehen sie im Mittelpunkt", sagt eine Lehrerin und beschreibt den Anspruch der Abteilung fiir besondere Bildungsgange. In diesen Bildungsgangen muB eine normale Schule schon langst mehr sein als reine Unterrichtsschule, um iiberhaupt noch mit ihrer Schulerklientel arbeiten zu konnen. In den Merkmalen des Schulprogramms, an dem die Schule derzeit arbeitet und das teilweise bereits realisiert wurde, sind wichtige Bausteine einer selbstemeuerten Schule erkennbar:
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(a) die Verzahnung von Fachpraxis und theoretischem Unterricht, von Arbeit und Lemen, z.B. in einer im Aufbau befindlichen Produktionsschule fur die Jungarbeiterklassen, in der Firma „Sinn und Zweck" fur die Jugendlichen im Berufsvorbereitungsjahr (BVJ) oder in anderen produktionsorientierten Projekten fur den EBA-Bereich; (b) die Offnung von Schule im Sinne einer regelmaBigen und koordinierten Zusammenarbeit mit freien Tragem der Jugendberufshilfe in der Region; (c) die Bemiihung um Differenzierung und teilweise Individualisierung des Unterrichts; (d) eine intensive sozialpadagogische Orientierung: Eine fmanzierte Schulsozialarbeit ermoglicht fur je 12 Schuler eine halbe Sozialarbeiterstelle, mit jedem Schiiler wird ein Binzelgesprach geftihrt und ein individueller Forderplan erstellt; (e) erlebnispadagogische Angebote, wie Kanufahren, Klettem oder Skifahren. Szene 2: Rosenmontag in einer Jungarbeiterklasse Paul Ackermann (1998) hat versucht, die Burgerrolle in der modemen Demokratie in zehn Merkmalen zu beschreiben, u.a. durch die Merkmale „mit Verwaltungsbehorden umgehen" und „sich an Planungen beteiligen". Die Unterrichtsbesuche zeigen immer wieder, daB beide Dimensionen in diesen Klassen elementar und existentiell sind. Am Rosenmontag sind zur ersten Stunde lediglich zwei Jungen der Gruppe erschienen. Die Stunde hat zwei Telle. Im ersten Teil informiert die Lehrerin die beiden Jungen iiber Stellenangebote, die sie aus der Zeitung ausgeschnitten und aus dem Informationspool des Arbeitsamtes besorgt hat. DaB in einer Stellenanzeige ein Maurerlehrling mit mittlerer Reife gesucht wird, erregt allgemeine Emporung. Ein allzu groBes Interesse an den Anzeigen haben die Jungen nicht. Im zweiten Teil der Stunde sollen die Schiiler auf einem Zeitstrahl positive und negative Erlebnisse aus der Vergangenheit sowie Zukunftstraume und -plane eintragen. Die Lehrerin gibt ihnen dafiir auch Zeitschriften, Kleber und Schere fur den Fall, daB die Jungen ihre Lebenslinie illustrieren wollen. Das Angebot trifft eher auf Ablehnung („Ist ja Kindergarten hier") und auf bittere Kommentare („Schule war immer scheiBe", „Zukunftswunsche hab' ich keine, ich werde nicht mal 25"). Nur dank beharrlicher Aufforderungen der Lehrerin tragen die Jungen einige Passagen in die Lebenslinie ein (z.B. Fuhrerschein, eigene Wohnung, Ausbildung, Freundin). Als sie sich ihre Lebenslinien gegenseitig frei erzahlen sollen, weigem sich beide Jungen. Das Angebot der Lehrerin, ihre Lebenserfahrungen und -planungen zu erfragen, nehmen sie allerdings mit Emsthaftigkeit und manchmal groBer Betroffenheit (Tranen in den Augen) an. Die Lehrerin schafft es durch ihre einfuhlende und beharrliche Frage„technik" und ihre ermutigenden Riickkoppelungen fiir einen kurzen Augenblick, eine emsthafte und eine die Jungen personlich betreffende Gesprachssituation entstehen zu lassen, selbst wenn diese aus der Gesprachssituation ausbrechen wollen. Szene 3: „Es kommt, wie es kommt" Der Lehrer, den ich begleite, hat in einer Gruppe im Berufsvorbereitungsjahr (BVJ) 10 Stunden Mathematik, Deutsch, Sport und politische Bildung. Er sagt, er unterrichte geme hier. Von den eigentlich 10 Schiilem sind heute 6 Schiiler erschienen. Der Lehrer hat die Gruppe vor drei Wochen iibemommen. Die sozialen Hintergriinde sind ihm noch fremd, wichtiger war es ihm, sich zunachst uber die Lemprobleme der Schiiler zu informieren. Die Stunde beginnt mit einem kurzen Gesprach dariiber, daB einige Schuler in der letzen Stunde
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unentschuldigt gefehlt haben. Die Frage des Lehrers, ob er ihr Fehlen personlich nehmen solle, wird von den Schiilem glaubwiirdig vemeint. Der Lehrer beginnt seinen Politikunterricht jeden Freitag morgen damit, daB die Schuler die Bild-Zeitung lesen, sich jeweils ein Thema des Tages heraussuchen und miteinander dariiber diskutieren. Andere Zeitungen, so der Lehrer, wurden die Schuler erst gar nicht lesen. In der letzten Woche sei der Unterricht toll gelaufen. Ein auf kannibalistische Motive anspielender Artikel iiber einen Morder, der seine Opfer zersagt hatte, habe eine rege Diskussion iiber die Frage ausgelost, welche Gewaltschwelle iiberschritten werden miisse, damit Gewaltberichte noch Aufmerksamkeit erregten. Heute lauft die Diskussion schleppender. Die Jungen lesen die Zeitungen, die der Lehrer ihnen gekauft hat, fast 20 Minuten durch. Aber nur drei Schuler hangen ihr Tagesthema auf. Zweimal wird das in „Bild" groB aufgemachte Kurdenthema gewahlt, einmal ein Bericht iiber einen StrafprozeB, in dem ein Entftihrungsfall behandelt wird. Ein Gesprach im eigentliche Sinne kommt aber nicht zustande, eher ein Zwiegesprach des Lehrers mit einem Jungen, der iiber die Kurdenthematik starker informiert ist als die anderen. Zwischendurch besteht der Lehrer immer wieder kleine Machtkampfe („FiiBe vom Tisch", daraufhin der Schiiler zomig: „Wollen sie sich mit mir schlagen" - Antwort des Lehrers nach kurzer Pause: „Nein, mit dir schlage ich mich nicht"). Die Unterrichtssituation ist sehr labil: konzentrierten Phasen (Bild-Zeitung lesen), folgen Phasen, die immer umzukippen drohen und in denen der Lehrer mehr ein ruhiger und souveraner Dompteur ist, der Kampfsituationen immer wieder geschickt umspielt. Im zweiten Teil der Stunde beantworten und vergleichen die Schuler vom Lehrer entwickelte Fragen zu einer Informationsbroschiire der Sparkasse iiber die „richtige Bewerbung". Als der Lehrer das Thema Bewerbung ankundigt, protestiert ein Schuler recht heftig: „Ich schreib hier keine Bewerbung, das sag' ich Ihnen gleich". Antwort des Lehrers: „MuBt Du auch nicht, wenn Du nicht willst". Aber auch dieser Schiiler liest die Broschure durch und versucht die Fragen zu beantworten. Spater erklart mir der Lehrer, daB er urspriinglich eigentlich etwas anderes habe machen wollen, er aber dann das Gefiihl hatte, die Planung verandem zu miissen und die Einheit „Bewerbung" aus dem Koffer ziehen zu miissen. Sein Kommentar dazu: „Es kommt, wie es kommt". AufschluBreich ist auch eine andere Erzahlung: Im Politikunterricht will er die Schuler nicht zwingen: „Sie sollen freiwillig arbeiten, sonst funktioniert das nicht". Der Sportunterricht lauft anders: „Das ist fast wie Knast", sagt der Lehrer. Um die Aggressivitat gegeneinander und gegen Sachen zu kontrollieren, sind die Jungen immer unter Bewachung. 3
Unsicherheiten - Moglichkeiten und Grenzen padagogischer Professionalitat
In diesen Episoden aus der alltaglichen politischen Bildung einer Berufsschule wird ein Grundproblem einer an Freiheit und Gerechtigkeit orientierten politischen Bildung deutlich: Wie kann politische Bildung in der Schule heute iiberhaupt gelingen, oder anders formuliert: Was konnen und miissen Lehrerinnen und Lehrer eigentlich anstellen, damit in Schule und Unterricht uberhaupt ein Arbeitsbiindnis zustande kommt, in dem politische Bildung gelingen kann? Folgt man dem Soziologen Peter Fuchs, dann reprasentieren solche Beobachtungen aus dem Schulalltag ein zentrales Problem der heutigen Schule. Die Schule sei fflr viele an ihr Beteiligten zu einem „Angstort" geworden, weil der Unterrichtsalltag von „Formen
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expliziter und impliziter Gewalt" durchsetzt sei. Die Ursache sieht Fuchs darin, daB die Schule - im Unterschied zu anderen Teilsystemen der Gesellschaft - noch kein Medium gefunden habe, das ahnliche Leistungen garantiere wie das Geld in der Wirtschaft, die Macht in der Politik oder die Liebe in der Intimbeziehung. Erziehung sei ein unwahrscheinliches Angebot, ein Ansinnen, das bei Schtilerinnen und Schiilem eher den Reflex der Abwehr wecke. Fuchs nennt dies die „Unwahrscheinlichkeit der Erziehung". Die heutige Schule leide daran, daB sie iiber keine iiberzeugenden Medien verfuge, mit denen sie dieses Problem der „Unwahrscheinlichkeit der Erziehung" iiberzeugend bearbeiten konne (Fuchs 2004: 17). Auch solche Erfahrungen mit der „Unwahrscheinlichkeit der Erziehung" haben in der Padagogik Unsicherheiten und Kontroversen daruber ausgelost, was heute padagogische Professionalitat iiberhaupt bedeutet. In seinem Buch iiber das „Ende der Erziehung" hat Hermann Giesecke zu begriinden versucht, warum das traditionelle ganzheitliche Erziehungsmodell der Padagogik zu einer antiquierten Idee geworden ist, die nicht mehr zur Realitat der offentlichen Schule in der pluralistischen Gesellschaft mit einer durch Medien und Gleichaltrigengruppen bestimmten Sozialisation paBt und die deshalb auch nicht mehr Grundlage eines professionellen Berufsverstandnisses von Lehrerinnen und Lehrem sein kann. Padagogische Professionalitat beinhaltet far ihn „nicht erziehen, sondem Lemen ermoglichen". Lemen statt Erziehung und Lemhilfe statt Menschenbildung bilden die Leitmotive padagogischer Professionalitat (Giesecke 1985). Das Leitmotiv einer Padagogik der Lemhilfe und das Bemfsverstandnis des Lemhelfers haben sicher den Vorteil einer pragmatischen Sicht des Lehrerbemfes. Problematisch an dem Modell ist allerdings seine „ungebrochene Selbstreferenzialitat": Die selbstreferentielle Schule, so Bohnisch/Schroer (2001), erscheine weiterhin als ein verselbstandigtes System, das der Gesellschaft gegeniiberstehe und das nur die gegenwartigen Probleme von Kindem und Jugendlichen aufnehme, die professionell transformierbar und didaktisierbar seien. Die Schule werde deshalb von den sozialen Problemen der Gesellschaft und der Schiiler/innen abgekoppelt. Die Padagogik der Lemhilfe iibersehe, daB der gesellschaftliche Auftrag an die Schule selbst ambivalenter und widerspriichlicher geworden sei. Ftir viele Jugendliche sei die eigene Lebensplanung zu einem angstbesetzten und unsicheren Projekt geworden. Aufgmnd der Umbriiche in der modemen Gesellschaft konnten Menschen zunehmend nicht mehr auf den gewohnten gesellschaftlichen Orientiemngs- und Verstandigungsmustem aufbauen, wenn sie sich in den veranderten Lebensverhaltnissen zurechtfmden wollten. Dadurch riicke die Frage nach der Handlungsfahigkeit von Menschen in anomischen Stmkturen in den Vordergmnd. Padagogik miisse sich deshalb an einem „Bewaltigungsparadigma" orientieren. Lebensbewaltigung bedeute „das Streben nach subjektiver Handlungsfahigkeit in kritischen Lebenssituationen", in denen das Selbstwertgeftihl und das Gefuhl sozialer Anerkennung gefahrdet sei (Bohnisch/Schroer 2001: 221). Das Bewaltigungsparadigma kritisiert die Fixiemng des Lemhelfermodells auf die Lehrerrolle und pladiert statt dessen fur die Perspektive des „Lehrerseins", durch die jene „spannungsreichen, aber meist verdeckten sozialen Beziehungen", die Schule und Unterricht bestimmen, eher in den Blick kommen.
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Perspektiven - Freiheit bewaltigen in einer Kultur der Anerkennung
Im Gegensatz zu Fuchs (2004) pladiert der Sozialpadagoge Burkhard Miiller fur einen anderen Umgang mit dem Problem einer „Unwahrscheinlichkeit der Erziehung", den er auf die folgende These zuspitzt: „Wer heute politische Bildung (...) bzw. Emanzipation voranbringen will, muss sich radikaler als je zuvor einem wechselseitigen Kampf um Anerkennung mit Kindem und Jugendlichen stellen, um uberhaupt Lemhilfen fur diesen Prozess erfolgreich anbieten zu konnen" (Miiller 1998: 14). Einen solchen Kampf um Anerkennung versteht Miiller als „Bedingung der Moglichkeit" einer politischen Bildung, die heute weder ein durch „anerkannte Autoritat" bestimmtes padagogisches Verhaltnis fraglos voraussetzt, noch eine Gleichheit der Interessen zwischen Padagogen und Kindem und Jugendlichen unterstellen oder gar auf eine Demokratisierung der Gesellschaft durch Erziehung vertrauen konne. Eine Padagogik der Anerkennung, die den Kampf um Anerkennung deshalb als Strukturmerkmal padagogischen Handelns begreift, muB nach Muller stattdessen die „Verschiedenheit des Wollens", die „begrenzte Durchschaubarkeit und Steuerbarkeit" jugendlicher Bediirfnisse, Interessen und Absichten ebenso akzeptieren, wie die Grenzen der „Herrschaftsanspriiche" von Erwachsenen (Miiller 1996: 324). Die entscheidende Frage heiBt fiir Miiller, was Padagogen tun miissen, „um die Anerkennung von Jugendlichen zu bekommen", welche „Art der personlichen Glaubwiirdigkeit" politische Bildner entwickeln miissen, um diese Aufgabe bewaltigen zu konnen und welche „Kompromissgesinnung" dafiir notwendig ist (Miiller 2002: 243). Die entscheidende Frage ist deshalb, wie unter diesen Bedingungen struktureller Asymmetric ein Arbeitsbiindnis zwischen Padagogen einerseits und Schulerinnen und Schiilem andererseits entstehen kann. In der Padagogik hat Hartmut von Hentig einen MaBstab fiir diese Frage formuliert, der auch fur die politische Bildung giiltig ist. Padagogik wie politische Bildung konnen „gerade nicht die Verhaltnisse andem, sondem nur die jungen Menschen gegen diese starken" (von Hentig 1999: 57). Wie also kann die politische Bildung junge Menschen bei der Bewaltigung von Freiheit starken? Wenn sich Schule und Unterricht, wie in der interaktionistischen Schultheorie als „Kampf um Anerkennung" begreifen lassen, kann das Paradigma der Anerkennung ein normativer und empirischer Orientierungsrahmen fiir die Theorie politischer Bildung sein. Die Chance einer positiven Selbstbeziehung ist an die Erfahrung wechselseitiger Anerkennung gebunden. Die Erfahrung sozialer Anerkennung ist die entscheidende Bedingung ftir die Entwicklung von Identitat, Autonomic und Miindigkeit (Henkenborg 2002). Zunachst setzen gegliickte Anerkennungskampfe Formen kognitiver Achtung voraus. Schiilerinnen und Schuler mussen die Chance bekommen, sich auf sich selbst als gleichberechtigte Interaktionspartner aller Mitmenschen zu beziehen und dadurch Selbstachtung zu entwickeln. Kognitive Anerkennung erfordert - im Sinne flindamentaler Gerechtigkeit z.B. eine Partizipationskultur, symmetrische Kommunikationsformen und eine Lemkultur, die Schiiler/innen gleichzeitig fordert und fordert. Ein professionstheoretischer Kern kognitiver Anerkennung liegt in der hermeneutischen Kompetenz von Padagogen, an die bei Schiilem immer schon vorhandenen Kompetenzen produktiv anzukniipfen. Das Beispiel der Bemfsschule hat gezeigt, daB dafiir auch innovative Verbessemngen (Leminhalte, -methoden, -stmkturen und -umgebungen) entwickelt werden miissen, die das traditionelle Modell der alien Unterrichtsschule aufbrechen und verandem: Lemen mit Emstcharakter,
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Offnung der Schule, Differenzierung und Individualisierung des Lemens, Forderorientierung sowie sozialpadagogische Angebote gehoren u.a. dazu. Dariiber hinaus zeigen empirische Untersuchungen, daB die Fahigkeit und Bereitschaft von Lehrerinnen und Lehrem zur Solidaritat - zur Empathie und Fursorge fflr das Wohlergehen von Schtilerinnen und Schulem - eine entscheidende Voraussetzung fiir gelingende Anerkennungsbeziehungen ist. Auch die Lehrerinnen und Lehrer der oben genannten hessischen Berufsschule haben ein gutes Gespiir dafur, was Solidaritat im Kern meint, aber auch mit welchen Widerstanden zu rechnen ist: „Man muB den Schulem klar machen, daB sie erwiinscht sind an dieser Schule, daB man sie in ihren Starken und Schwachen akzeptiert", formuliert eine Lehrerin. Ihr Kollege hat diese Aussage in einem intemen Konzeptpapier der Schule zur Arbeit mit diesen Gruppen zu einem padagogischen Anspruch erhoben, die Eigenschaften und Fahigkeiten des jeweils anderen als bedeutsam fur den gemeinsamen LemprozeB anzuerkennen: „Wir sollten die Schuler zunachst so akzeptieren, wie sie sind". Dazu gehore auch, sie nicht aufzugeben, sondem die Schuler zu fordem. Was die Arbeit so schwierig macht, wird aus folgender Erlauterung einer Lehrerin deutlich: „Man weiB nicht genau, was ist eigentlich der Erfolg, wann mache ich eine erfolgreiche Arbeit, was sind gesellschaftlich akzeptierte Kriterien, wenn Lemfortschritte nicht deutlich werden?". Sie schildert dies an einem Beispiel: „Ich hatte einen Aussiedlerschtiler, da war der Erfolg unserer Arbeit, daB er irgendwann gelachelt hat. Dazu brauchten wir aber iiber ein halbes Jahr. Das kann man aber niemandem wirklich als Erfolg vermitteln. Das gilt nicht als Erfolg in der Schule. DaB er gelachelt hat, war aber die Voraussetzung daflir, daB er dann wieder bereit war zu lemen". Auf die Frage, wie sie es geschafft hatten, dem Schiller das Lacheln zuruckzugewinnen, antwortet sie: „Indem wir ihn nicht aufgegeben haben". Gleichzeitig lassen sich in den Gesprachen mit dem Lehrpersonal der Schule auch Einstellungsunterschiede zwischen einzelnen Lehrem und Lehrerinnen erkennen. Wegen der groBen Probleme wiirden nicht viele Lehrer/innen in diesem Bereich unterrichten wollen. Im Kollegium gebe es, so die Aussage eines Lehrers, Widerstande gegen „die Jugendlichen, die hier eigentlich nicht hingehoren" und Skepsis „gegeniiber dem, was wir hier treiben" und nicht zuletzt auch „Vomrteile gegen die Auslander". Ein anderer Kollege ist zuruckhaltender. Es gebe Kollegen, sagt er kritisch, die wollten noch , jeden bekehren". Er personlich konne diesen Anspmch jedoch nicht durchhalten. In dieser Ambivalenz gegenuber schwierigen Schulem erscheint das Lehrerkollegium als ein Spiegel der Gesellschafl. SchlieBlich bestatigen die Erfahmngen der Lehrerinnen und Lehrer aber auch empirische Hinweise auf eine „minima paedagogica" emotionaler Zuwendung, ohne die padagogische Tatigkeit im Politikunterricht offensichtlich nicht gelingen kann. In den geschilderten Bespielen gelungener, aber gleichzeitig schwieriger Anerkennungsbeziehungen laBt sich eine padagogische Gmndhaltung erkennen, durch die sich ein guter Padagoge fur Hartmut von Hentig heute vor allem auszeichnen sollte, namlich dadurch, daB er „Unterschiede wahr- und emst nimmt - Eigenarten, die er nicht antasten, Eigensinn, den er nicht brechen (...) darf. (...) Es gehort (...) zu seiner Bemfsvemunft, auch das Unvemunftige zu respektieren, wo es die Person ausmacht". Weil sich aus der Perspektive der Normalgesellschaft in den Jugendlichen dieser MaBnahmen das „Unvemunftige" gleichsam bundelt und potenziert, hangt das Gelingen von Anerkennungskampfen von der Fahigkeit ab, diese Bemfsvemunft immer wieder herzustellen oder wie eine Lehrerin sagt: „Es gibt Unterrichtssituationen, wo nichts mehr geht, wo sich eine ganze Klasse verweigert, stort, chaotisiert, wo man nur abbrechen kann. Trotzdem muB man in der nachsten Stunde wieder rein.
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man muB bereit sein, jeden Morgen wieder neu anzufangen, wenig nachtragend sein, sondem sagen, es gibt fiir uns alle neues Spiel, neues Gliick".
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Peter Schmidt / Phillip Winkelnkemper / Elmar Schliiter / Carina Wolf
Welche Erklarung fiir Fremdenfeindlichkeit: relative Deprivation oder Autoritarismus?
1
Einleitung
Nach der Vereinigung beider deutscher Staaten im Jahr 1990 hat sich neben dem Verhaltnis zwischen Ost- und Westdeutschen die Beziehung zwischen Deutschen und Auslandem als besonders zentral fiir die weitere Entwicklung Deutschlands erwiesen. Sowohl im Verhaltnis zwischen Ost- und Westdeutschen als auch in den Beziehungen zwischen Deutschen und den in Deutschland lebenden Auslandem stellt sich die Frage nach gerechter Verteilung (Kluegel/Mason/Wegener 1995). Diese bezieht sich aber nicht nur auf objektive Faktoren, wie das Erreichen bestimmter Bildungsabschlusse, beruflicher Positionen und das Einkommen. Vielmehr wirken die objektiven sozialstukturellen Merkmale auf das MaB der wahrgenommenen Benachteiligung auf individueller und gruppenbezogener Ebene. In der Debatte um die Erklarung des AusmaBes der Abwertung von Auslandem werden zwei Erklamngsansatze besonders haufig genannt: Die eine Argumentation geht davon aus, daB Menschen infolge des gesellschaftlichen Umbaus bzw. Wandels in prekare soziale Lagen geraten. Daher wtirden sie dazu neigen, andere Gmppen, insbesondere Auslander, verstarkt abzuwerten. Dieser These liegt die Annahme zugmnde, daB mittels eines solchen Abwertungsprozesses subjektive Benachteiligung und Ausgrenzungsgefuhle kompensiert werden. Diese Vorstellung basiert auf der Theorie der „relativen Deprivation", die Formen von wahrgenommener Benachteiligung bezeichnet, welche sich entweder aus dem Vergleich der eigenen Situation mit derjenigen anderer Personen ergeben oder aus dem Vergleich der eigenen Gmppe mit einer anderen Gmppe. (Stouffer et al. 1949; Runciman 1966) Die andere theoretische Argumentation bezieht sich darauf, daB Personen aufgmnd ihrer Sozialisation eine autoritare Personlichkeit bzw. Charakterstmktur aufweisen und daher dazu neigen, eigene Unzulanglichkeiten und Schwachen durch Abwertung bestimmter Minderheiten und Fremdgmppen auszugleichen. Diese Uberlegungen basieren auf der Theorie der autoritaren Personlichkeit (Adomo et al. 1950) und sind in einer Vielzahl empirischer Untersuchungen und Metaanalysen bestatigt worden (Lederer/Schmidt 1995; Herrmann 2001; Rippl/Seipl 2002). Nun stellt sich die Frage, ob wirklich beide Ansatze einen wichtigen Beitrag zur Erklamng der Abwertung von Auslandem leisten und ob sie ggf. miteinander in Beziehung gesetzt werden miissen, um das AusmaB der Auslanderfeindlichkeit zu erklaren. Ausgehend von dieser Zielsetzung werden wir zunachst beschreiben, in welchem Umfang Wahmehmungen der relativen Deprivation in einer reprasentativen Befragung der deutschen Bevolkemng verbreitet sind. AnschlieBend stellen wir dar, in welcher Weise Autoritarismus in einer reprasentativen Studie von 2005 erkennbar ist.
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In einem zweiten Schritt wird untersucht, welche Zusammenhange einerseits zwischen dem Gefuhl der Benachteiligung und fremdenfeindlichen Einstellungen sowie andererseits zwischen Autoritarismus und fremdenfeindlichen Einstellungen bestehen. Drittens analysieren wir, inwieweit die beiden Faktoren sich in ihrer Wirkung auf Fremdenfeindlichkeit gegenseitig verstarken oder ob dies nicht der Fall ist. Hierbei gehen wir auf eine bereits in den 1930er Jahren formulierte These und Untersuchung von Erich Fromm naher ein, der 1933 dem Zusammenhang von Deprivation und Autoritarismus in bezug auf Anfalligkeit fur den Nationalsozialismus nachgegangen ist (Fromm 1983). 2
Relative Deprivation und Autoritarismus
Der Begriff der „relativen Deprivation" bezeichnet die subjektive Wahmehmung einer Person, im Vergleich zu anderen ungerecht behandelt und benachteiligt zu werden. Damit bezieht sich das Konzept auf das wahrgenommene MiBverhaltnis zwischen den tatsachlich vorhandenen Ressourcen einer Person im Vergleich zu jenen, von denen eine Person denkt, daB sie ihr zustehen (Stouffer et al. 1949; Runciman 1966). Die Wahmehmung eines solchen MiBverhaltnisses hangt u.a. davon ab, welche Form des Vergleichs herangezogen wird. Hierbei lassen sich zwei Formen differenzieren: (1) Die personliche Situation wird mit der Lage anderer Personen aus der eigenen Gruppe verglichen. Dann resultiert aus einem schlechteren Abschneiden der eigenen Person das Gefuhl der „individuellen relativen Deprivation". Die Frage, welche Personen zum Vergleich herangezogen werden, bildet den Gegenstand der Theorie sozialer Vergleichsprozesse (Festinger 1954), auf die hier nicht naher eingegangen werden kann. (2) Wenn dagegen die Gesamtsituation der Eigengruppe im Vergleich zur Lage einer anderen Gruppe als benachteiligt eingestuft wird, wie z.B. die der Deutschen im Vergleich zur Situation der in Deutschland lebenden Auslander, wird von „fratemaler Deprivation" gesprochen. Beide Formen relativer Deprivation als subjektive Reaktionen auf wahrgenommene gesellschaftliche Ungerechtigkeit werden als Determinanten von Auslanderfeindlichkeit angesehen. Das Konzept der autoritaren Personlichkeit bzw. seine empirische Umsetzung hat besonders seit 1990 eine starke Wiederbelebung und verstarkte Aufmerksamkeit erfahren. Insbesondere die Arbeiten von Altemeyer (1981 und 1988) haben hierzu beigetragen. Die empirischen Ergebnisse vieler Untersuchungen zeigen, daB der Autoritarismus ein sehr erfolgreiches Konzept zur Erklarung von Ethnozentrismus und Auslanderfeindlichkeit darstellt (Lederer/Schmidt 1995; Rippl/Seipl 2002). AUerdings ist der theoretische Zusammenhang zumindest in Adomos Originalwerk (Adomo et al. 1950) nicht systematisch ausgearbeitet worden. Dort ist unklar, ob Auslanderfeindlichkeit und Abwertung von Minderheiten theoretisch eine - wenn auch nicht explizite - Dimension des Autoritarismus darstellt oder ob es sich um eine eigenstandige Dimension handelt, die nicht zum Autoritarismus gehort. Fiir die These, die beiden Konzepte zu trennen, sprechen insbesondere zahlreiche faktorenanalytische Befunde (z.B. Heitmeyer/Heyder 2002). Vielmehr stellt der Autoritarismus nur eine der moglichen Ursachen von fremdenfeindlichen Einstellungen dar. An-
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dere Ursachen sind Situationsfaktoren, wie relative Deprivation, Anomie und soziale Dominanz (Heitmeyer 2005 und 2006). 3
Relative Deprivation und Autoritarismus als Determinanten der Auslanderfeindlichkeit
Gehen wir nun auf unsere Frage ein, was die moglichen Ursachen der Auslanderablehnung sind. Wir untersuchen in dieser Arbeit, ob demographische Merkmale, individuelle und fratemale Deprivationswahmehmungen sowie Autoritarismus direkte oder indirekte Ursachen von Auslanderfeindlichkeit sind. Zur Bedeutung von individueller Deprivation als Ursache von Auslanderfeindlichkeit existiert eine groBe Zahl empirischer Untersuchungen (Runciman/Bagley 1969; Wasmer 2000; Herrmann 2001; Semyonov 2006). Vanneman und Pettigrew (1972) fuhrten eine der ersten Forschungsarbeiten durch, die das Deprivationskonzept systematisch zur Erklarung negativer Einstellungen gegeniiber Minderheiten anwendete. Sie zeigten, daB weiBe US-Amerikaner, die ihre Eigengruppe im Vergleich zu schwarzen US-Amerikanem als benachteiligt ansahen, also fraternal depriviert waren, in hoherem MaBe ablehnende Einstellungen gegeniiber schwarzen US-Amerikanem hatten als diejenigen Befragten, die ausschlieBlich Gefuhle der individuellen Deprivation auBerten. Vergleichbare Ergebnisse ergaben sich auch aus einer Untersuchung zur Erklarung der Diskriminierung von Immigranten (Pettigrew/Meertens 1995; zur Kritik siehe Coenders et al. 2001). Diese Untersuchungen konnten die Bedeutung gruppenbezogener Deprivation fiir die Entstehung von Vorurteilen ebenfalls im europaischen Kontext belegen. Auch Wolf/Schluter/Schmidt (2006) konnten mit den Daten des GMF-Surveys bereits den verstarkenden Effekt der fratemalen und individuellen Deprivation auf Auslanderfeindlichkeit belegen. Im Rahmen der Theorie der „autoritaren Personlichkeit" wird davon ausgegangen, daB mit steigendem Autoritarismus auch die Tendenz zur Abwertung von Minderheiten steigt (Adomo et al. 1950). Dariiber hinaus stellt sich die Frage, ob ein Zusammenhang zwischen Autoritarismus und relativer Deprivation besteht. Bereits in der Theorie der autoritaren Personlichkeit wurde argumentiert, daB Autoritarismus dazu fuhrt, daB Personen unabhangig von der tatsachlichen Benachteiligung ein starkeres Benachteiligungsgefiihl gegeniiber bestimmten Gruppen aufweisen, die sie fiir ihre schlechte Lage verantwortlich machen. Ein solcher Zusammenhang wurde unserer Kenntnis nach bisher nicht untersucht. Wir gehen davon aus, daB der Autoritarismus nicht nur direkt auf Fremdenfeindlichkeit wirkt, sondem auch uber die fratemale und individuelle Deprivation. Beziiglich der hier untersuchten demographischen Merkmale Geschlecht, Alter, Bildung und Einkommen gehen wir davon aus, daB sie bis auf Bildung nicht direkt auf Fremdenfeindlichkeit wirken, sondem ihre Wirkung durch die fratemale Deprivation, die individuelle Deprivation und den Autoritarismus mediiert wird. Mit anderen Worten: Sie wirken nur indirekt auf Fremdenfeindlichkeit. ZusammengefaBt lassen sich demnach folgende Hypothesen ausformulieren, die die Basis fiir unser spateres Modell abgeben:
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Hypothesen zur Erklarung von individueller und fraternaler Deprivation HI: Frauen neigen eher dazu, sich individuell depriviert zu fiihlen als Manner. H2: Frauen neigen eher dazu, sich fraternal depriviert zu fuhlen als Manner. H3: Mit steigendem Alter nimmt die wahrgenommene individuelle Deprivation zu. H4: Mit steigendem Alter nimmt die wahrgenommene fraternaler Deprivation ab. H5: Mit steigender Bildung nimmt die wahrgenommene individuelle Deprivation ab. H6: Mit steigender Bildung nimmt die wahrgenommene fraternaler Deprivation ab. H7: Ostdeutsche fiihlen sich starker individuell depriviert als Westdeutsche. H8: Mit steigendem Autoritarismus steigt die wahrgenommene individuelle Deprivation. H9: Mit steigendem Autoritarismus steigt die wahrgenommene fratemale Deprivation. Hypothesen zur Erklarung des Autoritarismus HIO: Mit steigendem Alter steigt der Autoritarismus. HI 1: Mit steigender Bildung sinkt der Autoritarismus. H12: Ostdeutsche neigen eher zu Autoritarismus als Westdeutsche. Hypothesen zur Erklarung der Fremdenfeindlichkeit HI3: HI4: HI5: HI6:
Mit steigender Bildung sinkt die Fremdenfeindlichkeit. Mit steigender individueller Deprivation steigt die Fremdenfeindlichkeit. Mit steigender fraternaler Deprivation steigt die Fremdfeindlichkeit. Mit steigendem Autoritarismus steigt die Fremdenfeindlichkeit.
Das postulierte Modell wurde nun mit Hilfe eines Strukturgleichungsmodells formalisiert und empirisch geschatzt. Hierdurch sind wir in der Lage, quantitativ den EinfluB der Variablen aufeinander zu ermitteln und dariiber hinaus auch direkte und indirekte Wirkungen berechnen zu konnen. Gehen wir nun auf die empirischen Ergebnisse naher ein. 4
Wahrgenommene Benachteiligung in der deutschen Bevolkerung 2005
Basis der empirischen Ergebnisse war eine representative Bevolkerungsstudie (GMF-Survey) im Jahre 2005 (Heitmeyer 2006). Die folgende Tabelle 1 stellt die Items zur Messung von Autoritarismus und Fremdenfeindlichkeit und die relativen Haufigkeiten der Antworten dar. Beim Autoritarismus reprasentieren die beiden Items die Subdimension autoritare Aggression, die von der autoritaren Unterwiirfigkeit zu unterscheiden ist. Individuelle relative Deprivation wurde im GMF-Survey gemessen durch die Frage: „Im Vergleich dazu, wie andere hier in Deutschland leben: Wie viel, glauben Sie, erhalten sie personlich? Mehr als Ihren gerechten Anteil, Ihren gerechten Anteil oder weniger als Ihren gerechten Anteil?" Fratemale relative Deprivation wird durch folgende Frage operationalisiert: „Wenn Sie die wirtschaftliche Lage der Deutschen mit der der in Deutschland lebenden Auslander vergleichen, wie geht es den Deutschen im Vergleich zu den Auslandem? Besser, ungefahr gleich oder schlechter?"
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Tabelle 1: Autoritarismus und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland (Angaben der Antworthaufigkeiten in %) stimme ijberhaupt nicht zu
stimme eher nicht zu
stimme eher zu
stimme voli und ganz zu
Anzahl der Befragten
Autoritarismus Verbrechen sollten barter bestraft werden
2,0
10,6
23,4
64,0
1771
Urn Recht und Ordnung zu bewahren, sollte man barter gegen Auflenseiter und Unruhestifter vorgehen
3.3
17,9
28,5
50,3
1771
Es leben zu viele Auslander in Deutschland
9,9
28,9
28,1
33,0
1781
Wenn Arbeitsplatze knapp werden, sollte man die Auslander in die Heimat zurijckschicken
19.8
44,1
15,5
20,6
1752
Fremdenfeindliciikeit
In Abbildung 1 findet sich die Verteilung fiir die wahrgenommene individuelle und fraternaler Deprivation in der deutschen Bevolkerung. 24% der Befragten schatzen die Lage der Deutschen im Vergleich zur Lage der in Deutschland lebenden Auslander als schlechter ein. Dies bedeutet, daB sich nach diesem Indikator jeder Vierte fraternal depriviert fuhlt. Der Prozentsatz der individuell Deprivierten ist jedoch noch hoher. Denn mit 35% meint mehr als ein Drittel der Befragten, weniger als den gerechten Anteil zu erhalten. Abbildung 1:
Wahrgenommene individuelle und fratemale relative Deprivation in der Gesamtbevolkerung
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Weiterhin besteht auch ein Zusammenhang zwischen relativer fratemaler und individueller Deprivation. Quantitativ ausgedruckt zeigt sich, daB 38% der Befragten, die sich individuell depriviert fiihlen, ebenfalls der Ansicht sind, daB Deutsche in einer vergleichsweise schlechteren Lage sind als die in Deutschland lebenden Auslander. Mit anderen Worten heiBt dies, daB diejenigen, die der Auffassung sind, daB die Deutschen im Vergleich zu den in Deutschland lebenden Auslandem benachteiligt sind, auch mit groBerer Wahrscheinlichkeit der Auffassung sind, weniger als den gerechten Anteil zu bekommen und umgekehrt. Die empirischen Ergebnisse zeigen nun folgendes: Frauen fiihlen sich etwas starker als Manner von individueller Deprivation betroffen. Hierbei betragt jedoch der Unterschied nur 6 Prozentpunkte. Eine ahnliche Verteilung zeigt sich auch bei der Analyse der fratemalen Deprivation. Auch hier sind mehr Frauen (26%) als Manner (21%) der Meinung, daB sie als Gruppe der Deutschen gegenuber den Auslandem benachteiligt sind. Hinsichtlich der Wirkung des Bildungsniveaus der Befragten zeigt sich, daB die Befragten mit hoherem BildungsabschluB sich sowohl individuell als auch fraternal weniger depriviert fiihlen als Befragte mit niedrigerem BildungsabschluB. Hierbei ist der negative Zusammenhang zwischen Bildung und fratemaler Deprivation etwas groBer als der Zusammenhang zwischen Bildung und individueller Deprivation. Dies konnte damit zusammenhangen, daB ein hoherer BildungsabschluB zu starker ausgepragten kognitiven Fahigkeiten fiihrt, die ihrerseits Vomrteilen vorbeugen, als auch mit dem Status zusammenhangen, da hoher Gebildete nicht so stark um Arbeitsplatze mit Auslandem konkurrieren wie niedrig Gebildete (Heyder 2003). Die Zusammenhange zwischen Deprivationserfahmng und dem Einkommen der Untersuchungsteilnehmer stellen sich folgendermaBen dar: Die Ergebnisse belegen die Hypothese, je hoher das Einkommen der Befragten ist, desto geringer ist deren Selbsteinschatzung, von individueller und fratemaler Deprivation betroffen zu sein. Sehr deutlich wird das bei den beiden Extremkategorien. Lediglich 9% der Befragten in der hochsten Einkommenskategorie meinen, daB sie weniger bekommen als ihren gerechten Anteil. Umgekehrt meinen aber 59% aus der untersten Einkommenskategorie, daB sie weniger bekommen als ihren gerechten Anteil. Besonders interessant ist hier aber auch, daB sich der Anteil derjenigen, die glauben, mehr zu bekommen als ihnen zusteht, kaum in diesen beiden Extremgmppen des Einkommens unterscheidet. In der Personengmppe mit dem hochsten Einkommen sind es ca. 6% und in der Personengmppe mit dem niedrigsten Einkommen 11%. 5
Test durch ein Strukturgleichungsmodell
Um alle 14 Hypothesen empirisch zu testen, wurde das in der folgenden Abbildung 2 wiedergegebene Modell spezifiziert und getestet. Die Pfeile in der Grafik geben die postulierte Kausalrichtung zwischen den Variablen an, Doppelpfeile kennzeichnen symmetrische Zusammenhange. Die an den Pfeilen wiedergegebenen Koeffizienten sind standardisierte partielle Regressionskoeffizienten, die den EinfluB einer Variablen unter Konstanthaltung der anderen Variablen reprasentieren.^ Die Koeffizienten liegen im Wertebereich von -1 Ausnahmen sind die Parameter an den Doppelpfeilen in Abb. 2, hierbei handelt es sich um Korrelationskoeffizienten.
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bis +1. Je hoher der Absolutbetrag der Koeffizienten ist, desto starker ist der Effekt. Alle dargestellten Koeffizienten sind mindestens auf dem 5%-Niveau signifikant. Die inferenzstatistischen und deskriptiven AnpassungsmaBe fiir das Gesamtmodell zeigen, daB das Modell gut an die Daten angepafit ist. Damit ist die postulierte Kausalstruktur nicht durch die Daten widerlegt worden. (Arbuckle 2005) Die entsprechenden Kennwerte: CMIN/DF = 1.486, RMSEA = 0.24, Pclose -.99, AGFI= .981 und CFI=0.993. Die hohen und in etwa gleichen Regressionskoeffizienten des Autoritarismus auf seine beiden Indikatoren (.77 und .84) konnen als ein Beleg fur die hohe Validitat der Indikatoren angesehen werden. Dies gilt auch fur die Hohe der Faktorenladungen der Indikatoren von Fremdenfeindlichkeit (.81 und .75). Aus der Abbildung laBt sich erkennen, daB mit steigendem SchulabschluB die Abbildung 2: Determinanten der Fremdenfeindlichkeit
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individuelle Deprivation sinkt (-.09) und Bewohner Ostdeutschlands eine hohere individuelle Deprivation zeigen als Bewohner Westdeutschlands (.09). Die fratemale Deprivation sinkt ebenfalls mit steigender Bildung (-.12) und zusatzlich mit steigendem Alter (-.13). Die Effekte sind jedoch alle nicht sehr stark. Damit sind nur die Hypothesen H4, H5, H6 und H7 bestatigt, wahrend die Hypothesen HI, H2 und H3 widerlegt sind. Autoritarismus steigt mit zunehmendem Alter (.09) und sinkt mit steigendem Bildungsgrad (-.37), was bisherigen Befunden entspricht (z.B. Schmidt/Heyder 2000). Frauen und Personen aus Ostdeutschland sind autoritarer als Manner und Personen aus Westdeutschland (.12 und .18). H9-H11 sind damit bestatigt, wahrend der Effekt des Geschlechts nicht den Hypothesen entsprach. Aus der Abbildung ist ersichtlich, daB, wie in Hypothese 9 postuliert, Autoritarismus (.31) die fratemale Deprivation beeinfluBt. Dieser Effekt ist quantitativ auch wesentlich starker als der EinfluB von Alter und SchulabschluB auf fratemale Deprivation. Der positive Effekt von Autoritarismus auf individuelle relative Deprivation bestatigt Hypothese 8. Fremdenfeindlichkeit wird am starksten von Autoritarismus erklart (.57). Die Wirkung von fratemaler und individueller relativer Deprivation ist zwar signifikant, aber wesentlich schwacher. Als einzige demographische Variable wirkt auch Schulbildung direkt auf Fremdenfeindlichkeit (-.11). Insgesamt zeigt sich also, daB mit steigendem Autoritarismus und steigender fratemaler wie relativer Deprivation die Fremdenfeindlichkeit steigt. Hingegen sinkt sie bei ansteigender Schulbildung. Damit sind die Hypothesen H13-H16 alle bestatigt. Aus der Abbildung 2 ist erkennbar, daB sowohl die demographischen Merkmale als auch Autoritarismus (auch) indirekt auf Fremdenfeindlichkeit wirken. Die Summe der indirekten und der direkten Effekte aller erklarenden Variablen werden als totale Effekte bezeichnet. In der nun folgenden Tabelle 2 finden sich die totalen Effekte von Alter, Schulbildung, Geschlecht, OstAVest-Zugehorigkeit und Autoritarismus auf Fremdenfeindlichkeit. Tabelle 2: Standardisierte totale Effekte auf Fremdenfeindlichkeit
Fremdenfeindlichkeit
weiblich
Schulabschiul^
Ost
Autoritarismus
fratemale Deprivation
individuelle Deprivation
Alter
,079
-,384
,127
,638
,156
,141
,035
Man erkennt, daB der positive totale Effekt von Autoritarismus mit .638 groBer ist als der direkte Effekt und auch total die starkste EinfluBgroBe bildet. Der totale Effekt von Schulbildung auf Auslanderfeindlichkeit ist im Vergleich zum direkten Effekt verdreifacht und liegt bei -.384. Der totale Effekt von OstAVest ist ausschlieBlich ein indirekter Effekt und betragt .127. Die Wirkungen von Geschlecht und Alter sind hingegen zu vemachlassigen. In einer weiteren Analyse wurde mit einem multiplen Gmppenvergleich gepruft, ob die Wirkung individueller Deprivation und fratemaler Deprivation bei Personen mit hohem Autoritarismus wesentlich starker ist als bei Befragten mit niedrigem Autoritarismus. Hierfiir wurde die Stichprobe am Median des Autoritarismusindex geteilt. Dabei zeigte sich, daB kein signifikanter Unterschied in den beiden Gmppen auftrat. Dies kann als ein Indiz dafur gesehen werden, daB zwischen Autoritarismus und Deprivation keine Interaktion hinsichtlich ihrer Wirkung auf Auslanderfeindlichkeit besteht. Allerdings kann dieses empi-
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rische Ergebnis auch darauf zuruckzufiihren sein, daB die Skala zur Messung des Autoritarismus nur vierstufig ist und eine sehr schiefe Verteilung aufweist. 6
Sozialisation oder Situation als Determinanten der Fremdenfeindlichkeit?
Im offentlichen Diskurs wurde immer wieder die Frage aufgeworfen, welches die zentralen Ursachen fur die Auslanderfeindlichkeit sind und welche MaBnahmen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene angemessen sind. Zum Beispiel hat sich im Juli 2006 der „Integrationsgipfel" im Bundeskanzleramt schwerpunktmaBig mit moglichen MaBnahmen zur Integration von Auslandem und zum Abbau von Fremdenfeindlichkeit auf alien gesellschaftlichen Ebenen befaBt. Um diese Fragen angemessen zu beantworten, ist ein angemessenes Eklarungsmodell far Fremdenfeindlichkeit und Integration notwendig, wenn auch nicht hinreichend. In diesem Beitrag wurde die Frage untersucht, inwieweit der Aspekt der Sozialisation, reprasentiert durch den im SozialisationsprozeB erworbenen Autoritarismus, und Situationsfaktoren wie das AusmaB der wahrgenommenen Gerechtigkeit, erfaBt durch individuelle bzw. fratemale relative Deprivation, Fremdenfeindlichkeit erklaren. Hierbei differenzierten wir den Beitrag der wahrgenommenen individuellen Deprivation und den der wahrgenommenen fratemalen Deprivation. Als Kontrollvariablen bzw. objektive EinfluBgroBen berucksichtigten wir dariiber hinaus Schulbildung, Alter, Geschlecht und OstAVest-Zugehorigkeit. Diese reprasentieren objektive Unterschiede in der Verfugbarkeit von Ressourcen. Es zeigt sich sehr klar, daB der Autoritarismus der bei weitem starkste EinfluBfaktor ist. Sowohl relative wie fratemale Deprivation wirken auf Auslanderfeindlichkeit, aber ihr EinfluB ist relativ gering. Hingegen ist der EinfluB der Schulbildung unter Berucksichtigung der indirekten Effekte wesentlich starker als der EinfluB der relativen und fratemalen Deprivation, wenn auch geringer als der Effekt des Autoritarismus. Fiir gesellschaftspolitische Interventionen heiBt dies, daB Interventionen im Kindergarten und der Schule von besonderer Bedeutung fur den Abbau der Fremdenfeindlichkeit sind. Die prekare soziale Situation eines Teils der Bevolkemng hat jedoch einen eigenen, nicht zu unterschatzenden Effekt auf die Beziehung zwischen Deutschen und Auslandem und damit auf das Gelingen einer erfolgreichen Integration. Literatur Adomo, T.W./Frenkel-Brunswik, E./Levinson, D.J./Sanford, R.N. (Hg.) (1950): The Authoritarian Personality, New York. Alba, R./Schmidt, P.AVasmer, M. (Hg.) (2000): Deutsche und Auslander: Freunde, Fremde oder Feinde, Wiesbaden. Altemeyer, B. (1981): Right-Wing Authoritarianism, Winnipeg. Altemeyer, B. (1988): Enemies of Freedom. Understanding Right-Wing Autoritarianism, San Francisco. Arbuckle, J.L. (2005): AMOS 6.0 Users Guide, SPSS, Chicago. Coenders, M./Scheepers, P./Sniderman, P.M.A'erberk, G. (2001): Blatant und Subtle Prejudice: Dimensions, Determinants, and Consequences: Some Comments on Pettigrew and Meertens, in: European Journal of Social Psychology, 31, S. 281-297. Festinger, L. (1954): A Theory of Social Comparison Processes, Human Relations 7, S. 117-140.
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Adalbert Evers / Claudia Wiesner
Das Programm ,,Soziale Stadt" in Hessen - veranderte Konzepte der Armutsbekampfung verlangen neue Formen lokaler Politik und Steuerung^
1
Der Ausgangspunkt: andere Konzepte der Armutsbekampfung als Herausforderung an Politik und Verwaltung
DaB fiir mehr soziale Gerechtigkeit die Bekampfiing von Armut eine Schliisselrolle spielt, kann fast als ein Allgemeinplatz gelten. Was aber „Annut" bedeutet und wie sie bekampft werden kann, dariiber gibt es verschiedene Ansichten. Diesem Beitrag liegt die These zugrunde, daB neue Konzepte von Armut und Armutsbekampfung auch neue Politiken, Verwaltungs- und Beteiligungsformen verlangen und er will zeigen, daB das Programm „Soziale Stadt" ein anschauliches Beispiel dafiir bietet. Gezeigt werden soil aber auch, wie schwierig erste Schritte hin zu solchen anderen Formen der governance sind. Wenn man zunachst in aller Kiirze skizzieren will, was altere (mit dem herkommlichen Sozialstaat verbundene) und neuere Konzepte von Armut und ihrer Bekampfiing voneinander unterscheidet, dann fallen vor allem drei Punkte ins Auge: (1) In herkommlichen Konzepten geht es fast ausschlieBlich um soziale Ungleichheit; in der heutigen Debatte wird dagegen starker wahrgenommen, wie sich die damit verbundenen sozialen Ungerechtigkeiten mit jenen Diskriminierungsmustem uberlagem, die mit Multikulturalitat und den entsprechenden Statushierarchien und Anerkennungsverweigerungen zu tun haben; Migranten sind nicht nur materiell arm, sondem auch zumeist schlecht angesehen; mehr Einkommen allein andert das noch nicht. (2) In herkommlichen Konzepten wurde die Armutsproblematik fast ausschlieBlich an Lebenslagen und entsprechenden (fehlenden) Ressourcen festgemacht: Einkommen, Bildung, Versorgung mit Transfers und Diensten; heute hingegen werden sehr viel mehr auch der Mangel an anderen Ressourcen und die Subjektivitat der Betroffenen thematisiert: der Mangel an sozialen Unterstutzungsnetzwerken und Gefahren fiir eine ziviles Miteinander (Mangel an social capital, insbesondere bridging social capital)', bei den Personen selbst geht es um Mangel an Kompetenz auch jenseits schulischen Wissens - eine Armut des Darstellungs- und Ausdrucksvermogens, des SelbstbewuBtseins und der Handlungsfahigkeit. (3) Dementsprechend ging es den herkommlichen Konzepten von Armutsbekampfung fast ausschlieBlich um die verbesserte Versorgung der armen Gruppen, immer davon ausgehend, daB mit mehr Ressourcen auch mehr Entwicklungsmoglichkeiten entstiinden, von Der vorliegende Artikel basiert auf dem Teilprojekt „Politiknetzwerke und dialogische Begleitung" im Rahmen der Begleitforschung zum Bund-Lander-Programm „Soziale Stadt" in Hessen. Es ist an der Universitat GieBen angesiedelt und wurde unter Leitung von Prof. Dr. Adalbert Evers durchgefuhrt (vgl. ausfuhrlich hierzu den AbschluBbericht des Projekts: Evers/Schulz/Wiesner 2004).
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denen die Betroffenen dann schon Gebrauch machen wiirden. Heute hingegen spielen Fragen von empowerment eine groBere Rolle und das verlangt einerseits, einen breiteren Kranz von Ressourcen in Betracht zu Ziehen und andererseits auch zum Thema zu machen, was die Betroffenen daran hindert, eventuell Chancen individuell wie kollektiv tatsachUch auch in Richtung auf eine Uberwindung ihrer bisherigen Situation zu nutzen. Zusammengenommen bedeutet das: Wahrend traditionelle PoHtikkonzepte vor allem auf sozialpolitische MaBnahmen setzten, wird heute starker diskutiert, wie auch wirtschafts-, arbeitmarkt- und vor allem bildungspolitische MaBnahmen zum Zuge kommen konnen. AuBerdem gewinnt das vieldeutige Schlagwort von der „Aktivierung" einen zentralen Stellenwert, sei es zur Entwicklung von Perspektiven und Handlungsbereitschaft, sei es zur Beteiligung am gemeinschaftlichen sozialen und politischen Leben, aber speziell auch an entsprechenden MaBnahmen und Programmen. Insgesamt konnte man so formulieren: Wo es im herkommlichen Sozialstaat vor allem um Fragen der Unterversorgung ging, geht es heute im „aktivierenden" Sozialstaat daruber hinaus auch um die Vermittlung individueller und kollektiver Entwicklungsmoglichkeiten und Moglichkeiten des Zusammenlebens. Mit all dem ist nicht gesagt, daB der Wandel von Armutsbekampfiingskonzepten als Ubergang von einem Konsens zu einem neuen zu verstehen ist. Politische und konzeptionelle Kontroversen gab es unter der Dominanz des herkommlichen Konzepts und es gibt sie auch heute wieder. Gegenwartig drehen sie sich z.B. darum, wie sehr die Entwicklungsperspektiven vor allem auf die Erziehung zum „tiichtigen Arbeitskraftuntemehmer" fokussiert sein sollen und welchen Stellenwert das Ziel haben soil, daB arme und randstandige Gruppen auch mehr Chancen und Kompetenz als BUrger, Mitglieder von Familien und communities bekommen. Umstritten ist auch, welche Eingliederungs- und AnpassungsmaBnahmen als fair angesehen werden konnen. Doch obwohl es kontroverse Varianten von Armutsbekampfungs- und Eingliederungsstrategien gibt - es bleibt die Erkenntnis, daB mit herkommlichen Defmitionen und Praktiken auch herkommliche PoHtikkonzepte sowie Formen des Regierens und Verwaltens nicht mehr greifen. Andere Armutsbekampfungsstrategien (selbstverstandlich: nicht nur sie) erfordem andere Formen von Politik und Verwaltung. Sie sollen an den Lebensverhaltnissen vor Ort in einem umfassenderen Sinne ansetzen und nicht nur die soziale Lage, sondem auch das SelbstbewuBtsein der Betroffenen wie auch deren Fahigkeiten verbessem. Und wo es um Entwicklungsmoglichkeiten ftir Gebiete, Stadtquartiere und Bewohner und nicht allein deren bessere Ausstattung geht, ist nicht nur der Sozialstaat gefragt, sondem auch offentliche Politik in Sachen Wirtschaft, Gewerbe, Arbeitsmarkt und Ausbildung. 2
Neue Politik und Steuerungsformen am Beispiel des Programms „Soziale Stadt"
Ein sehr illustratives Beispiel fur neue Konzepte der Armutsbekampfung und dementsprechende neue PoHtikkonzepte und Steuerungsformen ist das Programm „Soziale Stadt". Es wurde vor dem Hintergrund sich verscharfender sozialer und infrastruktureller Problemlagen eingerichtet, die sich in bestimmten Stadtteilen biindeln. Von 16 Programmstandorten, die in Hessen im Jahr 2000 gefordert wurden, gaben viele oder die meisten in der Vorstellung ihres Stadtteils ftir das offizielle Programmbegleithefl des Landes an, folgende Merkmale aufzuweisen (Hessisches Ministerium ftir Wirtschaft, Verkehr u. Landesentwicklung
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2000: 30ff.): hoher Sanierungsbedarf bei Infrastruktur und Bebauung, raumliche Trennung vom Stadtkem, insgesamt schlechte Verkehrs- und Versorgungsinfrastruktur, fehlende Freizeitangebote sowie hohe Luft- und Larmbelastung. Sozialstruktur und Milieu wurden vielfach gepragt durch eine hohe Arbeitslosenquote, einen hohen Anteil an Sozialhilfe beziehenden Personen, einen hohen Anteil an Personen mit Migrationshintergrund, einen hohen Anteil an Alleinerziehenden, Kindem und Jugendlichen sowie einen hohen Anteil an alteren Menschen. Zum Bild der Armut in den betroffenen Stadtgebieten gehort dariiber hinaus aber auch der soziale und politische Riickzug ganzer Personengruppen und das Gefuhl, nicht anerkannt, wahrgenommen oder gar diskriminiert zu werden. Gleichzeitig fehlen haufig die individuellen und gemeinschaftlichen Kompetenzen, um Strategien zu entwikkeln, die zu nachhaltigen Veranderungen beitragen. Soziale Spannungen, Vandalismus, Fluktuation, fehlende Identifikation der Bewohner/innen mit dem Quartier und fehlendes soziokulturelles Leben sind zentrale Elemente dieser Art von Armut und verbauter Entwicklungsmoglichkeiten. Das Programm „Soziale Stadt" beruft sich dabei immer wieder auf zwei Politikziele (Difu 2000; Hessisches Ministerium fiir Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung 2000). Das erste hat vor allem mit sozialer Gerechtigkeit zu tun. Sie wird hier iibersetzt in eine Frage sozialraumlicher Chancengleichheit: Niemand, so konnte man die Philosophie des Programms hier kurz fassen, soil ganzlich sozial abgekoppelt werden, weil er oder sie in einem sozial benachteiligten Stadtteil lebt. Das zweite zentrale Ziel hat eher mit der Erhaltung funktionierender sozialer und auch politischer Gemeinwesen zu tun: Menschen, die in solchen Quartieren leben, sollen durch verschiedene Formen der Ansprache, der sozialen und politischen Beteiligung als Mitglieder lokaler Gruppen des Stadtteils, der Gemeinde und auch als Mitbiirger besser an- und eingebunden werden; in ihrem eigenen Interesse wie auch im Interesse des Erhalts eines funktionierenden Gemeinwesens. Mit Bezug auf diese Ziele vertritt das Bund-Lander-Programm „Soziale Stadt" den Anspruch, mit einem breit angelegten und umfassenden Ansatz in den Stadtteilen zu arbeiten. Es unterscheidet sich damit in mehrfacher Hinsicht von traditioneller Planung und Steuerung in der Armutsbekampfung. In Stadtteilen „mit besonderem Entwicklungsbedarf sollen MaBnahmen gebiindelt werden und bei den Lebensbedingungen und den Personen selbst ansetzen. Kooperation bekommt damit gleich mehrfach einen zentralen Stellenwert: zwischen verschiedenen Verwaltungs- und Politikbereichen bzw. -ebenen, zwischen verschiedenen Akteuren und Investitionstragem sowie zwischen den Bewohnem und solchen, auf UnterstUtzung zugeschnittenen Netzwerken. Die gefi)rderten Kommunen sollen Ressourcen verschiedener beteiligter Akteure nutzen, wie etwa die Forderprogramme verschiedener Ministerien. Partizipation und Aktivierung der lokalen Bevolkerung, der entsprechenden Gruppen und Institutionen sollen zentraler Bestandteil des Stadtentwicklungsprozesses sein. Das Programm „Soziale Stadt" richtet sich zudem nicht nur auf „traditionelle" stadtplanerische und stadtebauliche MaBnahmen, sondem auch auf Themen wie etwa die Arbeitsmarkt- und Beschaftigungspolitik sowie die Bildungspolitik - auch das erweitert Kooperationsaufgaben. Der Aufbau kooperativer Netzwerkstrukturen und die direkte Beteiligung der Bevolkerung sind also nicht zufallig Kembestandteile des Programms (Difu 2000; Hessisches Ministerium fiir Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung 2000; Thies 1999).^ 2
Die Leitlinien zum Hessischen Programm drucken diese Anforderung so aus: „Das Bund-Lander-Programm bedarf nachdriicklich der Erganzung und Unterstutzung durch Bundelung aller fur die Gebietsverbesserung in
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Das Programm „Soziale Stadt" ist damit in dreifacher Hinsicht ein Testfall fiir neue Formen der Steuerung und Netzwerkbildung im Feld der deutschen lokalen Sozialpolitik und Stadtemeuerung. Es bewegt sich erstens in verschiedenen Politikfeldem. Anspruch des Programms ist es zweitens, sich weg vom klassischen „Regieren" (government) starker auf aushandlungs- und netzwerkorientierte Formen (governance) zu orientieren (Benz 2004). Drittens handelt es sich um das erste Bund-Lander-Programm in diesem Bereich, das einen solchen integrierten und kooperativen Ansatz verfolgt.^ Das Programm stellt damit einen hohen Anspruch an die Verwaltung und die entscheidenden Akteure in bislang praktizierten Steuerungsformen. Etablierte Routinen sollen sich verandem und neue Arbeitsweisen erlemt und umgesetzt werden. Die Schliisselstichworte in der Debatte um das Programm zeigen, welche Herausforderung dies fur die Administration darsteUt: dezematsiibergreifende Kooperation, Aufbrechen etablierter Ressortzustandigkeiten, Offnung und Lemen von Verwaltung, Aufbau breiter Kooperationen, Einbindung von Partnem, Einwerben von Ressourcen und schliefilich Aktivierung, Partizipation und Einbindung der Bevolkerung. Es handelt sich also bei der „Sozialen Stadt" dem Anspruch nach auch um ein Programm fur die Entwicklung neuer Formen der Steuerung und Kooperation. Die Erfahrungen mit ahnlichen Prozessen zeigen allerdings, daB Veranderungen in der politischen Steuerung und im Handeln von Administrationen nur schwer zu erreichen sind (Evers 2006). Die Entwicklungsprozesse bringen eine Reihe von Widerspriichen und Ungleichzeitigkeiten mit sich. Neue Praktiken miissen mit etablierten Handlungsweisen abgestimmt werden - oder beide existieren nebeneinander, denn oftmals werden sie nur in einem Teil der Politikfelder bzw. -bereiche begonnen. Neue Konzepte mischen sich also in solchen Prozessen mit alten Realitaten, und dies ftihrt letztendlich dazu, daB Mischformen des Regierens, der Administration und der Steuerung entstehen, die nicht dadurch erfaBt werden konnen, daB man einfach „neue" und „alte" Grundideen einander gegeniiberstellt. Dies ist auch bei der „Sozialen Stadt" der Fall. In den beiden zentralen Politikbereichen des Programms gibt es jedoch bereits Traditionen des Dialogs und der partnerschaftlichen Arbeit: Zum einen werden in der Stadtplanung Betroffene seit Jahren durch Workshops, Mediationsverfahren und aktivierende MaBnahmen eingebunden. Zum anderen existieren in der lokalen Sozialpolitik seit langem verschiedene Formen der altemativen Steuerung, wie beispielsweise Partnerschaften und Kooperationen mit Wohlfahrtsverbanden, freien Tragem und in wachsendem AusmaB auch privaten Leistungsanbietem. Die Herausforderung liegt nun darin, erstmals im Rahmen eines bundesweiten Modellprogramms nicht nur die beiden Bereiche der Stadtplanung und der kommunalen Sozialpolitik, sondem daruber hinaus auch noch weitere Akteure in einen kooperativen ProzeB der sozialen Stadtentwicklung einzubinden. Als vermittelnde Einrichtung, zur Sicherstellung von Kooperation, Gemeinwesenbezug und Umsetzung von konkreten Projekten sollen Stadtteilbtiros eingerichtet werden. Betracht kommenden Ressourcen und Programme, insbesondere in den Bereichen Arbeits- und Ausbildungsforderung, Soziales, Jugend- und Sozialhilfe, Integration der zugewanderten Bevolkerung, Frauen, Sicherheit, Schule und Kultur, Wirtschaft und Umwelt, Wohnungsbau und Verkehr" (Hessisches Ministerium fur Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung 2000: 16). Ahnliche Prozesse sind in vielen europaischen Nachbarlandem in den letzten zwanzig Jahren begonnen worden, etwa in GroBbritannien, Frankreich oder den Niederlanden. In der Bundesrepublik gab es ab den 1990er Jahren in einigen Landem Vorlauferprogramme, wie etwa das „integrierte Handlungsprogramm fur Stadtteile mit besonderem Emeuerungsbedarf in Nordrhein-Westfalen.
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Neue Steuerung, Politiknetzwerke und „Soziale Stadt" - eine Untersuchung
Das integrierte Vorgehen des Programms erfordert also die Entwicklung, Nutzung und Pflege von Kooperationsbeziigen zwischen verschiedensten Akteuren aus Politik und Verwaltung, Wirtschaft und ortlichem Gemeinwesen. Dieser besondere Modemisierungsbeitrag des Bund-Lander-Programms „Soziale Stadt" war AnstoB fiir ein Begleitforschungsprojekt, in dem wir von 2001 bis 2004 die Umsetzung des Programms in Hessen untersucht haben. Kooperationsformen, wie sie das Programm anstrebt, werden als Politiknetzwerke bezeichnet. In der gangigen Literatur werden Netzwerke jedoch vor allem aus einer organisationstechnischen Perspektive erortert: Sie sollen Schwachen mangelhaft koordinierter Handlungszusammenhange verringem helfen, indem sie durch die formale Beteiligung an Politiknetzwerken verbesserte Kommunikations- und Arbeitszusammenhange schaffen, von deren Koordinationserfolgen schlieBlich alle Beteiligten profitieren (Difu 2000; Hessisches Ministerium fur Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung 2000; Pappi 1993). Eine derartige, auf Effektivitats- und Effizienzfragen politischer Verwaltung konzentrierte Perspektive laBt jedoch zumeist eine andere auBer acht - demokratiepolitische Rahmenbedingungen und Aufgaben. In einer reprasentativen Demokratie ist die unmittelbare Beteiligung interessierter wirtschaftlicher und sozialer Akteure nicht unproblematisch; demokratiepolitische Abwagungsgebote konnen nicht nur durch EinfluBnahme wirtschaftlicher Interessenten, sondem auch durch die Aufwertung dieser oder jener Partikularinteressen von Betroffenengruppen in Frage gestellt werden. AuBerdem sind bei partizipativen Konzepten des „Mitregierens" verschiedener organisierter Bevolkerungsgruppen (oder: der „co-governance") immer Absichten der bloBen Legitimationsbeschaffung und der Erzeugung von Zustimmungszwangen einerseits und Absichten, sich auf andere Perspektiven und Blickwinkel tatsachlich einzulassen andererseits, zu unterscheiden. Es gibt beide und sie sind oft nur schwer unterscheidbar. Aus demokratiepolitischer Perspektive konnen Netzwerke mitsamt neuen Zugangschancen zu Entscheidungen, die sie unterschiedlichen Gruppen und Akteuren eroffnen, also auch unerwunschte Effekte zeitigen. Was Politiknetzwerke als eine Form partizipatorischer Erganzung bisheriger lokaler politischer Verwaltung erbringen, sollte deshalb nicht nur mit Blick auf (a) Effektivitats- und Effizienzziele, sondem auch (b) im Hinblick auf Fragen der Demokratie diskutiert werden. Ihrem Anspruch nach wollen die Beteiligungs- und Steuerungskonzepte des Programms „Soziale Stadt" beides erreichen - eine wirksamere und demokratischere Kultur von Planung und Kooperation. Bei diesem Versuch mtissen sie sich aber auch mit anderen, schon laufenden Modemisierungskonzepten fiir Politik und Verwaltung vor Ort auseinandersetzen, vor allem den neuen Steuerungsmodellen fiir die lokale Verwaltung (Naschold 1993). Das verweist auf die Schwierigkeit, mit den eigenen Konzepten vor Ort auch tatsachlich FuB zu fassen, so daB auch dann, wenn das Programm „Soziale Stadt" als zeitlich befristete gemeinschaftliche Anstrengung von Bund, Landem und Gemeinden einmal eingestellt werden sollte, sich die damit entwickelten neuen Kooperations- und Netzwerkstrukturen weiter entwickeln konnen (Thies 1999; Becker/Franke/Lohr/Rosner 2002). Neben (a) Effektivitat, Effizienz und (b) Demokratie sollte man sich deswegen auch mit (c) der Nachhaltigkeit der Netzwerkstrukturen in den am Programm beteiligten Kommunen beschaftigen.
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Aufbauend auf diesen Uberlegungen haben wir folgende Arbeitsdefinition von Politiknetzwerken entwickelt: Politiknetzwerke sind dauerhafte formalisierte Kooperationsbeziehungen staatlich-kommunaler, gesellschaftlicher und privatwirtschaftlicher Akteure bei der Bearbeitung gemeinsamer Aufgaben - in vertikaler und horizontaler Dimension. Ihr allgemeinstes Ziel ist in unserem Zusammenhang die Starkung der Handlungsfahigkeit lokaler Akteure im Hinblick auf die Ziele der „Sozialen Stadt"; bei Wahrung und Verbesserung der demokratischen Qualitat politischer Steuerung. Unter dem Signum „Politiknetzwerk" haben wir uns auf zweierlei konzentriert: (a) auf ditformalen Kemelemente von lokalen Netzwerken, also Beteiligungs- und Kooperationsstrukturen, die geplant und regelmafiig stattfinden; weitere informelle Abstimmungs- und Kooperationsformen konnten nicht systematisch untersucht werden; (b) auf die „horizontale" lokale Dimension der Netzwerke; die Frage der Kooperation zwischen Stadten oder mit moglichen Partnem auf Landes- und Bundesebene wurde ausgeklammert. 4
Zentrale Ergebnisse der Begleitforschung
Vor diesem Hintergrund haben wir versucht, bei der Erfassung und Analyse der Politiknetzwerke um das Programm in Hessen die drei genannten Aspekte zu trennen, die haufig verbunden diskutiert oder vermischt werden: (a) die Frage danach, was Kooperation in Netzwerken leisten und was mit ihr erreicht werden kann, (b) die Frage nach den Moglichkeiten von Partizipation und Demokratie in den Netzwerken und (c) die Frage nach den Perspektiven fiir die Erhaltung und Ausweitung von veranderten Formen der Steuerung. Unsere Untersuchung iiber lokale Kooperationsnetzwerke um die „Soziale Stadt" in Hessen hatte zwei Phasen. In der ersten Phase haben wir mit Hilfe einer Synopse der zentralen Programmdokumente, von Besuchen in den Standorten, leitfadengestutzten Interviews, der Auswertung von standortbezogenen Dokumenten und Angaben sowie einer ersten vergleichenden Auswertung der Befiinde Struktur und Funktion der lokalen Kooperationsnetzwerke in 18 Standorten der „Sozialen Stadt" in Hessen naher analysiert."^ In der zweiten Phase haben wir, ausgehend von den Ergebnissen der ersten Phase, eine vertiefende Langzeitbeobachtung der Standorte in ausgewahlten Bereichen vorgenommen. Dazu kamen der Dialog mit Vertretem und Vertreterinnen der Standorte sowie die Rezeption von deren Berichten und Prasentationen bei Arbeitstreffen. Darauf aufbauend haben wir die Ergebnisse der ersten Phase tiberarbeitet und vertieft. Im folgenden werden zentrale Ergebnisse entlang von elf Kemthesen vorgestellt, die jeweils den drei Gesichtspunkten Effektivitat/Effizienz, Demokratie und Nachhaltigkeit zugeordnet sind. Eine Reihe von Aussagen betreffen alle drei genannten Gesichtspunkte; sie sind dort plaziert worden, wo wir den engsten Bezug sehen.
4
Es konnten damit etwa zwei Drittel der Forderstandorte des Programms „Soziale Stadt" in Hessen untersucht werden: Darmstadt Eberstadt-Siid; Darmstadt Kranichstein; Dietzenbach Ostliches Spessartviertel; ErlenseeRiickingen; Eschwege-Heuberg; Frankfurt-Gallus; Frankfurt Unterliederbach-Engelsruhe; GieBen Nordstadt; Hanau Lamboy-Nord; Hanau-Siid; Hattersheim „Siedlung"; Kassel Nordstadt; Kassel-Oberzwehren; Marburg Oberer Richtsberg; Marburg Unterer Richtsberg; Offenbach Ostliche Innenstadt; Riisselsheim Dicker Busch II; Seligenstadt-Nord.
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4.1 Effektivitdt und Effizienz Hier haben wir uns mit Punkten beschaftigt, die man als „notwendig, aber noch nicht hinreichend" bezeichnen konnte, um ein effektives und effizientes lokales Kooperationsnetzwerk zu erreichen. Die entsprechenden Fragen beziehen sich etwa auf den Grad, in dem es gelungen ist, Akteure aus den verschiedensten relevanten Feldem und Sektoren zusammenzubringen. Dies ist im Zusammenhang mit dem Programm „Soziale Stadt" besonders bedeutsam, weil es eine traditionelle strategische Differenz gibt: Wahrend Stadtplanung und Wirtschaftsforderung den Schwerpunkt ihrer Aktivitaten auf die Einbindung von fmanzkraftigen Investoren legen und auf eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung zielen, war es auf der anderen Seite traditionell Ziel der sozialen Stadtentwicklung und von Strategien der Sozialdezemate, okonomisch „schwachere" Biindnispartner zusammenzubringen, wie etwa freie Trager, Vereine und Beschaftigungsgesellschaften. Fiir ein Konzept der Armutsiiberwindung, das diese weder als Nebenprodukt wirtschaftlicher Belebung noch als Produkt isolierter Umverteilungsstrategien ansieht, geht es aber nun gerade darum, beides, wirtschaftlich orientierte Entwicklungspartnerschaften und sozial orientierte Netzwerke der Quartiersverbesserung zusammenzubringen. Genau das ist jedoch eine unkonventionelle und schwierige Aufgabe. Kein Wunder, daB auch in den 18 hessischen Standorten die Bilanz sehr gemischt ausfallt. Ergebnis 1: Dieformellen Kooperationsnetzwerke, auf die wir gestofien sind, dokumentieren, dafi an strategisch wichtigen Punkten „Ldcher" im Beteiligtennetzwerk existieren Die in unseren Fallstudien beobachteten Kooperationsbeziehungen in den Standorten weisen deutliche Starken, aber auch Schwachen auf. Die „Locher" spiegeln zum Teil auch den Umstand, daB bestimmte Politikfelder und Akteure in der Programmatik des Programms „Soziale Stadt" insgesamt, aber auch lokal, bislang nicht angemessen beriicksichtigt worden sind: Die Netzwerke in den Standorten zeigen eine hohe Reprasentanz von Bewohnergruppen, Wohlfahrtsverbanden, Wohnungsbaugesellschaften und Schulen. Wohlfahrtsverbande sind an vielen Standorten als Partner in den Stadtteilburos vertreten. Wohnungsbaugesellschaften beteiligen sich als Eigentiimer des Wohnungsbestandes in den Standorten. Bei den Schulen ist das Bild widerspriichlich: Zum einen waren viele als Partner in die Tragerkooperationen eingebunden, stellten Raumkapazitaten zur Verfugung oder beteiligten sich bei umweltbezogenen und padagogischen Projekten oder solchen der Spielplatzgestaltung. Eine Einbindung des SdawXsystems zur Forderung der schulischen und spateren beruflichen Entwicklung von Kindem aus sozial schwachen Familien gab es allerdings nicht. Genau die ware aber fur neue Strategien der Armutsbekampfting, bei denen die Vermittlung schulischen Wissens und sozialer Kompetenzen im Zentrum steht, besonders wichtig. Eine zweite Akteursgruppe aus offentlichen Dienstleistem und Gremien zeichnet sich durch eine mittlere Beteiligungsstarke aus. Kindergarten, Beschaftigungsgesellschaften, Ortsbeirate, Auslanderbeirate etc. stehen in vielen Standorten in direkten Projektzusammenhangen - als Planer, Auftragnehmer oder zur politischen Legitimation der Projekte. Eine dritte Gruppe von Akteuren war nur selten in den Tragerkooperationen vertreten, so z.B. Arbeitsamt, Wirtschaftsforderung oder Interessengemeinschaften der lokalen Wirt-
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schaft. Nur selten kam es auch zu - fiir kleine Gemeinden besonders wichtigen - Kooperationen mit der meist relativ „ortsfemen" Kreisverwaltung. Alles in allem: Die vorhandenen Netzwerke waren noch zu sehr auf der Achse Stadtplanung-Gemeinwesenarbeit verortet. Uberwunden wird mit kooperativen Konzepten und Ansatzen des empowerments dabei zwar in vieler Hinsicht das traditionelle Denken und Handeln in Versorgungskategorien, nicht jedoch schon die sozial-politische Verengung von Armutsbekampfungsstrategien, die als Entwicklungskonzepte auch eine wirtschaftliche Dimension haben sollten. Es ist deshalb auch fraglich, inwieweit sie nicht nur als sozialpolitische VerbesserungsmaBnahmen, sondem auch als Entwicklungspartnerschaften ftinktionieren konnen. Ergebnis 2: Es Idfit sich immer wieder feststellen, dafi in den Netzwerken liber den Status bestimmter Akteure und die Identitdt, mit der sie arbeiten und teilnehmen, Unklarheiten vorhanden sind Welches Profil z.B. ein Stadtteilbiiro haben soUte, welcher Status einer Stadtteilkonferenz zukommt und was vor allem ihre Aufgabe sein soil - zu diesen Fragen gab es immer wieder verschiedene koexistierende Auffassungen. Bleiben solche Fragen ungeklart, dann kann ein fehlender Konsens die Effizienz der Zusammenarbeit spiirbar verringem. In den besuchten Standorten haben wir entsprechend sehr unterschiedliche Praktiken vorgefunden. Wahrend ein vom Hessischen Wirtschaftsministerium entwickeltes Grundmodell das Stadtteilburo als eine Organisationsform vorsieht, in der die stadtebauliche Planung, die Netzwerkpflege und die Gemeinwesenarbeit als gleichwertige Elemente zusammenwirken, entwickelten die Kommunen die Tatigkeitsfelder der Stadtteilburos selektiv in unterschiedlichen Variationen. Beispielsweise fand man dort haufig nur die Gemeinwesenarbeit angesiedelt, die einem in der Verwaltung angesiedelten oder ausgelagerten, fiir stadtebauliche Planung und Netzwerkpflege zustandigen „Stadtteilmanagement" untergeordnet ist. Ahnliche Differenzen bestanden in bezug auf Tragerkooperationen und Stadtteilkonferenzen. Wo die einen zur gezielten Mitarbeit an bereits festgelegten Aufgaben einluden, versprachen sich die anderen ein offenes Diskussionsforum fiir die Erorterung von Perspektiven und Entscheidungsbeteiligung. Ist man vor allem zur Mitarbeit oder auch zur Mitentscheidung eingeladen - im Hinblick darauf waren die RoUe der Beteiligten und der Beteiligungsgremien oft unklar. Fiir Strategien der Armutsbekampfung, die die Betroffenen starker zu Akteuren und Kooperanden machen wollen, ist dieser Punkt aber besonders wichtig. Ergebnis 3: Es lassen sich kaum strukturierte Ziel- und Zeitvorgaben bei der kooperativen Netzwerkarbeit flnden In der ProzeBgestaltung bei der kooperativen Netzwerkarbeit hatte die im Prinzip begruBenswerte Form einer ergebnisoffenen und lemenden Planung oft noch die Kehrseite, daB ohne strukturierte zeitliche Vorgaben in Hinblick auf bestimmte Ziele und Projekte gearbeitet wurde. Ziele und Aufgabensetzungen waren haufig nicht in Form strukturierter lokaler Aktionsplane mit nachprufijaren Indikatoren konkretisiert. Die Kommunen sind zwar durch die Finanzplanung, d.h. durch die Antrage im Rahmen des Programms „Soziale Stadt", zu einer allgemeinen Ziel- und Projektplanung gezwungen. Verzogerungen bei der Planung
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von Projekten, beim Abrufen der Mittel und Frustrationen der Bewohner/innen und verschiedener beteiligter Akteure wurden aber als „programminharent" gesehen und in Kauf genommen. Zwischen einer Methode, bei der vorab „Planziele" und Zeitvorgaben festgesetzt werden, und einem Verfahren, bei dem die Entwicklung in jeder Hinsicht offen bleibt, muB ein realistisches Vorgehen in den meisten Fallen erst noch geftinden werden. Ergebnis 4: Die Aufgabe der Mobilisierung lokaler Ressourcen hat bislang einen geringen Stellenwert Die meisten Standorte fixierten sich bei der Einwerbung weiterer Ressourcen vorwiegend auf Programme „von oben", wie etwa vom Hessischen Sozialministerium, von Bundesministerien oder der Bundesanstalt fur Arbeit. Lokale Mittel kamen zu einem nicht unerheblichen Teil von Wohnungsbaugesellschaften oder durch die formelle Miteinberechnung der ohnehin laufenden Angebote der Wohlfahrtsverbande, die vor Ort in der Gemeinwesenarbeit nun im Rahmen des Programms „Soziale Stadt" aktiv wurden. Unklar blieb im Hinblick auf die von den Projekttragem verzeichneten lokalen Ressourcen zunachst, inwieweit in den Kooperationsrunden lediglich verwaltet wird, was die entsprechenden Akteure seit jeher im fraglichen Programmgebiet einbrachten, oder ob bei den Beteiligten tatsachlich zusatzliche Investitionsbereitschaft ausgelost wurde. Gerade letzteres schien oft zu fehlen, insbesondere was den Bereich privater Trager jenseits von Verwaltung und Sozialverbanden angeht - selten wurden mit den offentlichen Mitteln auch private Investitionen ins Boot geholt. Ziel der „Sozialen Stadt" aber ist, jenseits des Aufbaus einer Beteiligungsinfrastruktur, die Mobilisierung nicht-monetarer Ressourcen und „sozialen Kapitals" in ein forderliches Wechselspiel mit der Mobilisierung materieller Ressourcen zu bringen. Alles in allem: Die Moglichkeiten, durch die Bildung von Kooperationsnetzwerken Einflufi auf lokale Akteure und Initiativen zu nehmen und daftir zu werben, daB Ressourcen und Finanzmittel mehr als bisher dem Programmgebiet zugute kommen, sind - mit Einschrankung - in vielen Fallen bisher nicht ausreichend ausgeschopft worden. Gerade wenn Armutsbekampftingsstrategien in Begriffen einer Ressourcen mobilisierenden lokalen Entwicklungsstrategie gesehen werden, muB es Ziel der „Sozialen Stadt" sein, die Mobilisierung materieller Ressourcen in ein forderliches Wechselspiel mit der Mobilisierung „sozialen Kapitals" zu bringen. Gute Techniken im Rahmen der traditionellen Strategic einer Beschaffung allein supralokaler und offentlicher Mittel verfehlen ein solches Konzept. Ergebnis 5: Projektgruppen, Arbeitsgruppen und dhnliche Organe, die an der Konkretisierung und Umsetzung von Vorhaben arbeiten, verdienen besondere Beachtung In fast alien besuchten Standorten fanden sich mehrere Projektgruppen, die sich mit konkreten operativen Vorhaben beschaftigten. In den meisten Fallen arbeiten diese an ubergreifenden Aufgaben und Themen, wie z.B. Nachbarschaftsproblemen, Stadtteilfesten, Stadtteilzeitungen oder der Kinder und Jugendarbeit. Es fanden sich aber auch Projektgruppen, die sich mit stadtebaulichen Fragen befaBten. Beschaftigungs- und wirtschaftspolitische Themen spielten wiederum eine geringere Rolle. Projektgruppen treffen sich in der Regel haufiger als z.B. Stadtteilrunden und die Mitarbeit ist mit konkreten Aufgaben verbunden. Daher konkretisiert sich in diesen Institutionen Mitwirkung unter alien ihren Aspekten, positiven, aber auch problematischen. Positiv kann z.B. sein, daB sich hier dichte Muster
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der Mitarbeit und Mitentscheidung entwickeln, wie sie gelegentliche offentliche Erorterungen Oder Stadtteilrunden mit vielen Beteiligten nicht bieten; kompetente Schlusselpersonen und informelle Jeadership'' koiinen sich hier ausbilden, etwas, das flir einen neuen Entwicklungsansatz im Umgang mit Armut ganz wichtig ist. Negativ ist es, wenn die Dominanz solcher Projekt- und Arbeitsgruppen von einem lediglich instrumentellen und funktional orientierten Mitwirkungskonzept zeugt, der vereinzelten Mitarbeit an einem Projekt, auf das man als Ganzes kaum EinfluB hat und wo auch die „bereichemden" UberschuCeffekte keine Aufmerksamkeit erfahren. 4.2 Demokratie Hier war fur uns von Interesse, inwieweit die durch das Programm angestoBenen Veranderungen von Steuerung und Kooperation sich auf Aspekte der Demokratie auswirken, und zwar verstanden als aktive Beteiligung von Biirgerinnen und Biirgem sowie von Akteuren auBerhalb der Verwaltung, als Chance zur Uberwindung geringen biirgerschaftlichen SelbstbewuBtseins und einer entsprechenden Armut an Kompetenzen. Dazu haben wir Einfliisse aus den Debatten um die Zivilgesellschaft und „soziales Kapital" aufgenommen und verschiedene Formen der Partizipation analysiert, die in den lokalen Kooperationsnetzwerken um die „Soziale Stadt" auftauchen: (a) die Beteiligung gut organisierter Akteure und Interessen als eine Form, etablierte Kooperationen und Strukturen zu iiberwinden, die eher informeller Art sind und „hinter verschlossener Tiir" stattfinden; (b) die Beteiligung jener Gruppen, die schwer zu aktivieren sind und nur selten in formalisierten Zusammenhangen partizipieren, wie junge Menschen und ethnische Minderheiten - hier braucht es zunachst differenzierte aktivierende MaBnahmen und lokales ^.community building'', um sie in Kooperationsnetzwerke einbeziehen zu konnen; (c) Partizipation im Sinne der Schaffung von Raumen und Orten fur offentliche Debatte und demokratische Praxis, wie beispielsweise Stadtteilkonferenzen oder gewahlte Beirate, wo Projekte entwickelt, vorgestellt und diskutiert werden konnen. Demokratie und Beteiligung wurden in den 18 untersuchten Standorten unterschiedlich interpretiert und behandelt. Es gab Standorte, die groBen Wert auf intensive Mitsprache von Biirgerinnen und Biirgem legten, andere bezogen diese gezielt nur in projekt- und umsetzungsorientierte Zusammenhange ein. Ahnliches gilt fiir die Einbindung von Tragem und verwaltungsextemen Organisationen. Ergebnis 6: Aktive Beteiligung von Trdgern und Organisationen jenseits von Verwaltung undPolitik LFber das Niveau der formellen Beteiligung von Tragem und Organisationen jenseits von Verwaltung und Politik in den Kooperationsnetzwerken konnen keine abschlieBenden Aussagen gemacht werden. In bezug auf die Frage, ob und inwieweit Akteure auBerhalb der Verwaltung iiber die neuen formellen Beteiligungsstmkturen (statt weiterhin in erster Linie informell) tatsachlich vorgangige Einstellungen, Strategien und Konzepte von Lenkungsgmppen und anderen Elementen, die in erster Linie das politisch-administrative System reprasentieren, beeinflussen konnten, vermittelten die Fallstudien aber folgende Eindriicke: Strategiebildungsprozesse scheinen in der Kegel nach wie vor eine Sache des politisch-
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administrativen Systems und informeller Abstimmungen zu sein. Kooperationsnetzwerke konnen Informiertheit und Mitwirkung weniger gewichtiger Gruppen und Akteure verbessem, sichem jedoch nicht per se auBeradministrativen Akteuren auch eine formelle Mitsprachemoglichkeit bei Strategic- und Konzeptbildungen. Ergebnis 7: Der Wert der Kooperation liegt eher in dem Einwerben von „Zustimmung'' als in der Eroffnung von „ Mitsprache'' Die bisherigen Befunde weisen darauf hin, daB der Wert speziell jener Elemente in den Kooperationsnetzwerken, die auf den Einbezug einer groBen Breite und Vielfalt von Akteuren zielen (Stadtteilrunden und -konferenzen) eher in der grundsatzlichen Schaffung von Artikulationsmoglichkeiten und Foren liegt als bei einer bestimmten anspruchsvoUen Nutzung derselben. Abstimmung mit und Beschaffung von Zustimmung von den Beteiligten uberwiegt gegeniiber der oft geforderten, sehr viel anspruchsvolleren „Mitsprache" und „Innovationsbeteiligung". Ein Indiz dafiir sind unterschiedliche Beteiligungsgrade der Bewohner/innen und Akteure in den Stadtteilen. Wahrend im Rahmen sozialer und gemeinwesenorientierter Aufgaben (z.B. in Projektgruppen) diesen Personengruppen und Akteuren zum Teil ein hohes MaB fiinktional bestimmter und eingegrenzter Mitarbeit abverlangt und angeboten wird, werden sie in bezug auf stadtebaulich und strategisch wichtige Projekte (z.B. Wirtschaftsstrukturentwicklung im Stadtteil) meist lediglich informiert oder zu Stellungnahmen eingeladen, deren Gewicht fur den EntscheidungsprozeB weitgehend offen und unbestimmt bleibt; in einem Fall erftihren die Bewohner/innen von Planungen zu Veranderungen erst iiber die Presse. Zudem sind Mitwirkungsmoglichkeiten und Bedeutung von partizipativen Elementen der Netzwerke wie Stadtteilkonferenzen etc. durch unregclmaBige und zeitlich weit auscinanderliegende Besprechungstermine beeintrachtigt (z.B. quartalsweise stattfmdende einstiindige Treffen). Dies schlieBt mitunter von vomherein aus, daB Koordinationsund Entscheidungsprozesse hier wesentlich angereichert werden. Ergebnis 8: Probleme lassen sich insbesondere im Hinblick auf die Aktivierung zur organisierten Beteiligung feststellen („ empowerment'' schwacher und vielfach benachteiligter Gruppen) Schwache gesellschaftliche Gruppen im Quartier sind selten organisiert und formell in den Kooperationsnetzwerken vertreten. Das schlieBt jedoch eine Prasenz und Berucksichtigung ihrer Anliegen in den Projekten und MaBnahmen nicht aus. Uber die Moglichkeit, sich Gehor zu verschaffen und formell beteiligt zu sein, entscheidet nicht die Zugehorigkeit zu einer bestimmten sozialen, ethnischen oder kulturellen Gruppe per se, sondem die Frage, welchen Status und wieviel Akzeptanz die Gruppe oder ihre einzelnen Mitglieder im gesamten lokalen Kontext gewonnen haben. Hier zeigt sich ganz deutlich, warum es neuen Armutsbekampfiingskonzepten nicht nur um soziale und materielle Benachteiligung, sondem auch um den Kampf gegen verweigerte Anerkennung gehen muB. Einen hohen formellen Organisationsgrad hatten in den besuchten Standorten vor allem altere Bewohner/innen und teilweise auch Migranten. Sie waren auch entsprechend haufig im Gesamtnetzwerk direkt anerkannt und beteiligt. Andere Gruppen, wie jugendliche Arbeitslose oder RuBland-Deutsche treffen hingegen oft auf Vorurteile und haben auBerdem die Tendenz,
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sich in informellen eigenen Subkulturen abzuschotten. Oft bedarf es hier erst einer vorbereitenden Offiiung nach auBen, z.B. in Form entsprechender Kulturprojekte, iiber die sich solche Gruppen anders „einfinden" und auch gegeniiber anderen darstellen konnen, damit sie Akzeptanz und eine eigene Stimme gewinnen. Je mehr Armutsbekampfiing sich neben Fragen materiellen Mangels auch flir diese kulturelle Dimension von Ungleichheit und Diskriminierung sensibilisiert, desto mehr wird sie auch entsprechende Formen der Unterstiitzung von Selbstorganisation und community building aufwerten miissen. 4.3 Nachhaltigkeit SchheBlich bewegte uns die Frage nach der Nachhaltigkeit der durch das Programm angestoBenen Veranderungen in der Administration und den lokalen Steuerungs- und Kooperationsformen. Dabei geht es bei Veranderungen wie denen, die durch die „Soziale Stadt" angestoBen werden, eben nicht um einen simplen Vorher-Nachher-Gegensatz, denn solche Entwicklungen bewegen sich stets innerhalb etablierter Routinen und Hierarchien, aber auch neben anderen Konzepten der Verwaltungsreform wie dem „neuen Steuerungsmodell". „Altes" und verschiedenartiges „Neues" existieren also in der Politik- und Verwaltungspraxis nebeneinander, ganz so, wie das wohl auch in Hinblick auf Konzepte von Armut und Armutsbekampfiing der Fall ist. Auch dies macht die Umsetzung von etwas Neuem so schwierig. Im Hinblick auf die Nachhaltigkeit der Veranderungen stellt sich deshalb sowohl die Frage, ob sie iiberhaupt zu erreichen sind, als auch danach, wo sie erreicht werden konnen. Zum einen kommt es darauf an, ob dezematsubergreifende Kooperation, offentlich-private Zusammenarbeit und neue Steuerungsformen nach dem Auslaufen der Forderung durch das Programm fortbestehen oder ob etablierte Routinen sich schon in wenigen Jahren wieder durchsetzen konnen. Zum anderen ist entscheidend, in welchem AusmaB und in welchen Bereichen sich die demokratie- und partizipationsorientierten Kooperationsformen der „Sozialen Stadt" durchsetzen konnen, denn sie stehen zumindest bis zu einem gewissen Grad im Widerspruch zu den Ideen des „neuen Steuerungsmodells" oder konkurrieren mit ihnen. Fiir die Nachhaltigkeit der mit dem Programm angestoBenen oder erreichten Veranderungen stellen sich, so unser Fazit, eine Reihe von Anforderungen und Schwierigkeiten. Die Grundproblematik dabei ist, daB das anspruchsvolle Vorhaben des Programms - eine neue Kultur der Planung und Kooperation, die auch in der Lage ist, einem neuen, entwicklungsorientierten Konzept der Armutsbekampfiing zu geniigen - auf einen Verwaltungskontext trifft, in dem „Soziale Stadt" oft ein Programm (und eine Finanzierungsmoglichkeit) unter vielen bleibt: Das Programm bekam in den meisten Standorten eher eine niedrige verwaltungsinteme Prioritat. Ergebnis 9: Schwierigkeiten, an vorhandene „Kooperations-Vorldufe" anzuschliefien DaB an vielen Standorten schon vor dem Programm „Soziale Stadt" mit neuen planerischen Konzepten gearbeitet worden ist, die darauf zielten, Trager aus Wirtschaft und Gesellschaft zu beteiligen und bewohnemahe Strukturen aufzubauen, ist grundsatzlich ein Vorteil. Offenbar ist es jedoch schwierig, sich ausdriicklich diesem Erbe und den damit verbundenen Erfolgen und Niederlagen zu stellen - sei es um die Notwendigkeit zu begninden, es dies-
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mal wieder neu und anders zu machen, oder um explizit an dem anzukniipfen, was als positive Ressource aus diesen Vorlaufen oft vor Ort geblieben ist - Anlaufstellen, intermediare Strukturen und andere Handlungsansatze. Ergebnis 10: Hduflge Externalisierung zentraler Aufgahenbereiche Die Verantwortung fiir die Planung, die Netzwerkpflege und die Gemeinwesenarbeit sind in den meisten Kommunen bei extemen Auftragnehmem angesiedelt. Die haufigsten Auftragnehmer sind erwerbswirtschaftliche Organisationen oder Selbstandige sowie fi-eigemeinniitzige Trager. Auch Planungsbeauftragte sind in den meisten Standorten exteme Organisationen oder Personen, meist erwerbswirtschaftliche Organisationen oder Selbstandige. Die Organisation der Stadtteilburos liegt in den meisten der besuchten Standorte bei fi'ei-gemeinnutzigen Tragem oder der Tragerkooperation; nur selten werden sie von der Verwaltung selbst betrieben. Diese haufige Delegation von Verfahrenstragerschaft und Stadtteilbiiros an auBenstehende Organisationen wirft Fragen nach eventuellen Konsequenzen fiir das Lemen von Politik und Verwaltung auf; je mehr neue Aufgaben und die damit verbundenen Herausforderungen extemalisiert werden, desto eher muB auch erwartet werden, daB Lem- und Qualifizierungsaspekte fiir die Verwaltung ausbleiben. Ergebnis 11: Trotz besonderer Anspruche - die Administration des Programms „ Soziale Stadt" erfolgt wie die anderer Forderprogramine Es ist eine traditionell weit verbreitete Praxis, daB man neue Programme und Aktivitaten an vorhandene Strukturen einfach „anbaut": Man emennt Zustandige und ignoriert weitgehend Anforderungen und Konsequenzen, die sich - z.B. im Zusammenhang mit neuen beteiligungsoffenen Formen der Steuerung - fiir den Aktionsmodus von Politik und planender Verwaltung insgesamt ergeben konnten. Ein weiteres Indiz fiir eine mit Einschrankung geringe Nachhaltigkeit ist der Umstand, daB in der iiberwiegenden Zahl der Standorte die Programmkoordination auf der Sachbearbeiter- bzw. Referentenebene angesiedelt ist. Zwar kann durch diese Organisation die Qualitat und Professionalitat aufgrund des groBeren fachlichen Know-hows dieser Verwaltungsebene steigen. Erst durch eine Ansiedlung der Programmkoordination auf einer hoheren Hierarchieebene oder in einer Stabsstelle wurde jedoch die Umsetzung der Leitideen des Programms hinsichtlich Verwaltungsmodemisierung und Kooperation fachstellenubergreifend gefordert. Selbst dann bleiben jedoch nachhaltige Lemeffekte in Richtung auf kooperative governance-FovrnQn schwierig. Denn in der generellen Diskussion iiber lokale Politik und Verwaltung dominiert weithin das Leitbild des „neuen Steuerungsmodells" (Hinte 2000), das viel eher mit Binnenrationalisierung nach privatwirtschaftlichen Mustem als mit einer dialogischen Offnung nach auBen zu tun hat. Es ist mehr auf eine effizientere und kontrolliertere Variante traditioneller Formen der Ressourcenzuteilung angelegt, als auf jene dialogischen Formen der Entwicklung von Lebensund Arbeitsbedingungen sowie der Kompetenzen der Akteure selbst, auf die das Programm „Soziale Stadt" zielt. Biirger und gesellschaftliche Trager und Interessengruppen fiingieren im Leitbild der „neuen Steuerung" (in einer „Dienstleistungskommune") in erster Linie als professionell zu bedienende Kunden oder zu kontrollierende Anspruchsteller, kaum jedoch, wie in der Programmphilosophie zur „Sozialen Stadt", als an der governance formell zu
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beteiligende und ggf. daflir zu ermutigende und zu qualifizierende Mitverantwortliche (als Elemente einer „Burgerkommune"). 5
SchluBfolgerungen
Die bisherigen Ergebnisse unserer begleitenden Untersuchung verweisen nicht einfach nur auf Liicken in der Implementation eines koharenten Programms, sondem auch auf im Programm „Soziale Stadt" selbst enthaltene problematische Annahmen, Akzente und Leerstellen. Wo liegen mogliche Aufgaben? Neue Strategien der Armutsbekampfung, die nicht nur umverteilen, sondem in Entwicklungskonzepte eingebettet sein und bessere Zugange zur Welt der Arbeit schaffen wollen, miissen auch versuchen, die wirtschaftlichen Grundlagen der Entwicklung in ihren Aktionsgebieten mit einzubeziehen. Effektivitdt und Ejfizienz lassen sich damit ohne die Mitarbeit von Vertretem der Bereiche Wirtschaft, Handel und Gewerbe nicht erreichen. Bislang wurde dies zu sehr vemachlassigt. Es geht auBerdem um das SchlieBen strategischer Locher in Kooperations-Netzwerken, wie sie derzeit insbesondere im Bereich Schule/Bildung und der Beschaftigungs- und Arbeitsforderung zu beobachten sind. Effizienter wurde ein solchermaBen breiter zusammengesetztes Netzwerk aber wohl erst dann arbeiten, wenn es nach offenem Planungsvorlauf auch eine groBere Verbindlichkeit bei der Ausweisung von Ziel- und Zeitvorgaben in lokalen Handlungsplanen gabe; in diesem Rahmen sollte mehr als bisher versucht werden, auch lokale monetare und nicht-monetare Ressourcen zu mobilisieren, insbesondere aus dem privatwirtschaftlichen Bereich. Fiir neue Strategien der Armutsbekampfung, die nicht einfach nur besser „ausstatten" und „versorgen", sondem die Entwicklungsmoglichkeiten ihrer Adressaten verbessem wollen, ist die Entwicklung speziell ihrer Fahigkeiten und Moglichkeiten zur Mitsprache und Mitarbeit im Gemeinwesen ein entscheidender Punkt. Es gibt aber nicht nur die Gefahr verweigerter Mitwirkung, sondem auch die Gefahr leerer Versprechungen, von Ritualen und Uberfordemngen, oder auch einfach die mangelhafte Prazisiemng dessen, was eigentlich unter dem vieldeutigen Signum der „Partizipation" genau erwartet wird. Unter Gesichtspunkten von Demokratie und „empowerment" sollte - auch zur Vermeidung von (Ent)tauschungen - deutlicher als in der bisher recht verschwommenen Partizipationsrhetorik gesagt werden, wo man sich bei der Bildung von ortlichen Netzwerkstmkturen welche Art und welches Niveau von Mitwirkung erwartet; eine Stadtteilkonferenz kann der Information und dem Einholen von Meinungen dienen - nicht weniger, aber auch kaum mehr. Wieder eine andere Aufgabe hat Aktiviemng zur Beteiligung mit Mitteln der Gemeinwesenarbeit. Auch hier konnte gezielter gearbeitet werden - wamm sollte man sich etwa nicht auch ftir die Starkung von Vereins- und Selbsthilfestmkturen ausdriickliche Ziel- und Zeitvorgaben setzen? Eine genauere Differenziemng und Ausweisung der verschiedenen gewiinschten und erforderlichen Beteiligungsformen und -effekte (Information, Abstimmung, Offentlichkeit, Motiviemng, partnerschaftliche Mitarbeit u.a.m.) ist notwendig, um zu Beteiligungsangeboten und Praktiken zu kommen, die bei den Betroffenen die Kultur des Riickzugs aufs Private oder die jeweilige Einzelgmppe aufzuweichen vermogen und auch in dem Sinne „bereichemd" wirken, daB sie Kompetenzgewinne im Hinblick auf Artikulationsvermogen und Fahigkeit des Dialogs mit anderen Gmppen ermoglichen. Bleibt all das aus, dann besteht die Gefahr, daB hinter dem Nebel einer mit groBen Anspruchen aufgela-
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denen Partizipationsrhetorik der bekannte kommunale „Filz" und Klungel mit seinen Klientelstrukturen und informellen Zugangen zu den Entscheidungszentren weiterhin unangetastet bleibt. Was schlieBlich die Nachhaltigkeit der neuen Steuerungs- und Kooperationsformen in Netzwerken angeht, so ware bereits viel gewonnen, wenn im Programm insgesamt, aber auch lokal, die fiir „Soziale Stadt" maBgebliche Planungs- und Steuerungsphilosophie deutlicher als bisher ausformuliert und begriindet wiirde. Je mehr traditionelle sozialpolitische und stadtplanerische Konzepte weiterverfolgt werden, die mit ihren Armutsberichten und Sozialkonzepten Armut fast ausschliefilich als Frage mangelnder Versorgungsangebote mit Transfers, Einrichtungen und Diensten definieren, desto eher rechtfertigen sich auch traditionelle Politik- und Verwaltungsformen, die darauf bin konstruiert wurden. Sie sind aber nicht in der Lage, komplexe Entwicklungsprozesse in Gang zu setzen, die auf eine Bekampfiing von Armut auch in Kategorien von Mangel an Anerkennung, von sozialen Netzen und Artikulationsvermogen im Hinblick auf Lebenslagen setzen. Die entsprechenden neuen Ansatze im Programm „Soziale Stadt" miissen, wenn sie nachhaltig wirken wollen, allerdings auch zum gegebenen planerischen und Verwaltungskontext in Beziehung gesetzt werden. Man kann z.B. Ubereinstimmungen mit parallelen Entwicklungen in anderen Politik- und Verwaltungsbereichen profilieren. Auf Gebieten wie z.B. der Jugendhilfeplanung gibt es bereits ahnliche neue Formen der governance. Offen diskutiert werden sollte aber auch, wie das Planungsverstandnis der „Sozialen Stadt" mit konkurrierenden Konzepten, wie etwa denen zur Verwaltungsmodemisierung, im Rahmen des neuen Steuerungsmodells koexistieren kann. Beide Ansatze stehen in Gegnerschaft zu den herkommlichen Verwaltungsroutinen - aber haben sie auch gemeinsame Perspektiven fur die Zukunft? Literatur Becker, Heide/Franke, Thomas/Lohr, Rolf-Peter/Rosner, Verena (2002): Drei Jahre Programm Soziale Stadt - eine ermutigende Zwischenbilanz, Berlin. Benz, Arthur (Hg.) (2004): Governance - Regieren in komplexen Regelsystemen. Eine Einfiihrung, Wiesbaden. Difu/Deutsches Institut fur Urbanistik (2000): Arbeitspapiere zum Programm Soziale Stadt, Band 3+4: Programmgrundlagen, Berlin. Evers, Adalbert (Hg.) (2006): Regieren in der Sozialpolitik. Zeitschrift fiir Sozialreform, Jg. 50, Heft 1-2. Evers, Adalbert/Schulz, AndreasAViesner, Claudia (2004): Netzwerkanalyse und dialogische Begleitung. Endbericht zur HEGISS-Begleitforschung, Universitat GieBen, Dezember 2004 (download unter: http ://www .hegiss. de/hemain.htm). Hessisches Ministerium ftir Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung (2000): Hessische Gemeinschaftsinitiative „Soziale Stadt" - HEGISS, Wiesbaden. Hinte, Wolfgang (2000): Verwaltungsreform und integrierte Stadtentwicklung - zwei gegenlaufige Strategien?, in: Forum Wohneigentum 7, S. 253-256. Naschold, Frieder (1993): Modemisierung des offentlichen Sektors, Berlin. Pappi, Franz Urban (1993): Policy-Netze: Erscheinungsform modemer Politiksteuerung oder methodischer Ansatz?, in: Heritier, Adrienne (Hg.): Policy-Analyse. Kritik und Neuorientierung, Jg. 34, Sonderheft 24, S. 84-94. Thies, Reinhard (1999): Soziale Stadtemeuerung in gefahrdeten Wohngebieten - Praventionsstrategien durch Quartiersarbeit und kooperatives Stadtteilmanagement, in: Dietz, Berthold/EiBel, Dieter/Naumann, Dirk (Hg.): Handbuch der kommunalen Sozialpolitik, Opladen.
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4 Europaische Entwicklungen und Internationale Perspektiven
Karl Georg Zinn
Kulturelle Unterschiede als Einflufigrofien auf das wirtschafts- und gesellschaftspolitische Handeln - zu den nationalen Differenzen in der Wahrnehmung sozialer Gerechtigkeit
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Sozialethische Unterschiede zwischen kapitalistischen Landern
Der Reichtum der entwickelten kapitalistischen Lander erreicht langst ein Niveau, das es erlauben wiirde, alien dort lebenden Menschen einen dem Entwicklungsstand angemessenen Lebensstandard zu gewahrleisten und dennoch cine des Leistungsanreizes halber sinnvoll erscheinende maBige Verteilungsungleichheit aufrechtzuerhalten. Es gibt also weiten Spielraum fur unterschiedliche Verteilungsverhaltnisse in den etwa gleich entwickelten kapitalistischen Landern. Bekanntlich variiert das AusmaB der okonomischen Ungleichheit zwischen den kapitalistischen Landern auch erheblich, und entsprechend stark differieren die Lebenslagen breiter Bevolkerungsschichten zwischen diesen Landern. Es handelt sich nicht um eine kurzfristige Erscheinung, die sich mit jedem Regierungswechsel verandert, sondem um stabile, langfristige Konstellationen. So sind beispielsweise groBere Veranderungen in der Rangordnung beim Index der menschlichen Entwicklung (Human Development Index), der vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen seit 1990 jahrlich inzwischen fiir 177 Lander - berechnet wird, nicht allzu haufig. Vor allem erweist sich die Rangordnung bei den hoch entwickelten Landern als recht stabil iiber den Berichtszeitraum der vergangenen 16 Jahre (Menschliche Entwicklung 2004). Die Differenzen resultieren oberflachlich betrachtet aus den Unterschieden der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, aber diese sind selbst erklarungsbediirftig. In den Wohlstandsverteilungen der Lander spiegeln sich geschichtlich gewachsene Unterschiede der geistig-moralischen Haltung wider, die iiber Klassenunterschiede hinweg das soziale Klima einer Gesellschaft einfarben und sich auch im politischen Handeln niederschlagen. In diesem Sinn laBt sich von Unterschieden in der Wahrnehmung sozialer Gerechtigkeit reden und zwar im doppelten Sinn des Wortes „Wahmehmung". Was damit gemeint ist, laBt sich beispielsweise sehr deutlich bei der Gegeniiberstellung der kapitalistischen USA mit den kapitalistischen Landern Skandinaviens erkennen. Als eine Art „Sauretest" erweisen sich insbesondere die unterschiedlichen sozial- und beschaftigungspolitischen Reaktionen in schweren Wirtschaftskrisen. Dieser Sachverhalt war nach 1929 im Verlauf der GroBen Depression bereits auffallig, und wahrend der lang anhaltenden Wachstumsschwache der „westlichen" Lander seit Mitte der 1970er Jahre treten die Unterschiede emeut sehr deutlich hervor. Die skandinavischen Lander etwa weisen iiber einen langerfristigen Zeitraum hinweg markant giinstigere Werte der Beschaftigung und der sozialen Sicherung auf als andere hoch entwickelte Volkswirtschaften (Heintze 2005). Die nordeuropaischen Lander haben sich bisher zu der neoliberalistischen Ideologic des „privat ist gut, staatlich ist schlecht" distanzierter als andere OECD-Staaten verhalten, und die nordeuropaischen Ge243
sellschaften akzeptieren seit langem die hochsten Steuer- und Staatsquoten, um den dort heimischen Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit politische Geltung zu geben. Ein positiver „Nebeneffekt" der gediegenen Finanzpolitik, offentliche Daueraufgaben auch durch ordentliche (Steuer-)Einnahmen zu finanzieren, zeigt sich in der relativ geringen Staatsverschuldung der skandinavischen Landergruppe (ausfuhrlich dazu Heintze 2005 und 2002), was sogar von der (neoliberalen) OECD Lob eintrug. Wie lassen sich solche gravierenden Unterschiede erklaren? Die Wirtschaflstheorien im engeren Sinn, vor allem Neoklassik und Keynesianismus, geben - anders als die fast „ausgestorbene" Historische Schule der Nationalokonomie und jungere entwicklungstheoretische Arbeiten (Bliimle 2004; Landes 2004) - keine Antwort auf jene tiefgehenden Gegensatze zwischen kapitalistischen Landem gleichen Entwicklungsstandes. Um dieses Erkenntnisdefizit kreisen die folgenden Ausfiihrungen und sie aktualisieren einen Erklarungsansatz, der auf Alfred Webers Entwicklungstheorie zuruckgreift und neuere Ergebnisse der interkulturellen Wirtschaftsforschung einbezieht. Langfristig durchgehaltene zwischenstaatliche Differenzen der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik werden als in starkem MaBe „kultureir' beeinfluBt begriffen und spiegeln somit historische Wirkkrafte wider, die sich unter anderem auch in der jeweiligen Mentalitat einer Gesellschaft, einschlieBlich des davon beeinfluBten kollektiven Verstandnisses von sozialer Gerechtigkeit und des sozialen Vertrauens (Delhey/Newton 2004), niederschlagen. Bekanntlich gibt es eine Vielzahl von Definitionen des Kulturbegriffs (Perpeet 1976; Singer 1972) und keine allgemein verbindliche. Hier wird keine explizite Definition vorausgesetzt, sondem „Kultur" bzw. „kultureir' wird im Sinne der in den folgenden Ausfuhrungen verwendeten neueren Literatur zum „interkulturellen" Vergleich verstanden. Erlautemd ist hierzu festzustellen, daB nicht die gesamte Breite des Kulturellen erfaBt wird, sondem nur bestimmte Aspekte der geistig-moralischen Befindlichkeit einer Gesellschaft. Unseres Erachtens ware es daher in diesem Kontext auch angemessener, gar nicht von Kultur, sondem nur von Mentalitat zu sprechen. Mentalitat bildet sozusagen eine Komponente der Kultur im umfassenden Sinn - andere Komponenten waren etwa Bildende Kunst, Musik etc. DaB zwischen den Komponenten Wechselwirkungen bestehen, wird im allgemeinen nicht bestritten. Im Detail darauf einzugehen, welcher Art sie sind und ob es innerhalb des umfassenden Phanomens Kultur bestimmte Kausalbeziehungen und Regelkreise zwischen den einzelnen Komponenten gibt, wurde nicht nur den Rahmen dieser Erortemng sprengen, sondem ist fiir das Verstandnis der folgenden Cberlegungen auch nicht erforderlich. Auch eine allgemein akzeptierte soziale Gerechtigkeitsnorm gibt es noch nicht, doch die Menschenrechte, das Gleichheitsprinzip als eine Gmndlage jeder Demokratie, philosophische Gerechtigkeitstheorien - etwa Rawls' einfluBreiche Begriindung, wamm nicht das Gleichheitsprinzip, sondem die Abweichung davon legitimationsbediirftig ist (Rawls 1975) - und theologisch fiindierte Soziallehren, die mehr oder weniger ausgefiihrt auch sozialistische Elemente aufweisen\ geben Orientiemngen. Sie beanspmchen zu Recht ein hohes
Das gilt vor allem fur den religiosen Sozialismus, der seit den 1920er Jahren markante Vertreter hatte - zu denken ist etwa an Eduard Heimann (Katterle 1989: 49ff.) - und im Nachkriegsdeutschland fur eine kurze Zeit politischen EinfluB gewann, wie sich u.a. im Ahlener Programm der CDU Nordrhein-Westfalens vom 3. Februar 1947 nachlesen laBt (vgl. Huster et al. 1972: 424ff.). Mit Blick auf die aktuelle Dominanz neoliberalistischer Maximen sei darauf aufmerksam gemacht, dafi der politische Liberalismus das Gleichheitsprinzip, ohne das der Demokratie die normative Gmndlage fehlen wurde, verfocht, wohingegen der Wirtschaflsliberalismus die Ungleichheit - legitimiert durch die nicht zu bestreitenden leistungsbezogenen Unterschiede zwischen den Menschen
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MaB an moralischer Verbindlichkeit. Sie wurden in einem langen geistesgeschichtlichen Aufstieg der Menschheit auskristallisiert und verteidigen die Interessen der iiberwiegenden Mehrheit der globalen Bevolkerung gegen die machtopportunistische Ideologie der Ungleichheit, wie sie vom neoliberalistischen Kapitalismus vertreten wird. 2
Ahnliches ist nicht dasselbe - Typen kapitalistischer Gesellschaften
Keynesianismus und Neoklassik, die beiden Antipoden in der gegenwartigen nationalokonomischen Theoriedebatte, abstrahieren von historischen, kulturspezifischen Unterschieden zwischen den nationalen Gesellschaften. Die historische Ausdiinnung der Wirtschaftstheorie spiegelt die Ausrichtung der Sozialwissenschaften am naturwissenschaftlichen Leitbild wider, wie sie sich bereits bei den klassischen Okonomen abzeichnete. Die Neigung zur vereinheitlichten, universell giiltigen Wirtschaftstheorie und zur starken (mathematischen) Formalisierung wurde nach dem Zweiten Weltkrieg erheblich verstarkt. Damit fehlt aber der Zugang zur Erklarung wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Unterschiede zwischen den Landem und der damit korrespondierenden Affmitat zu bestimmten ideologischen Wegweisungen fiir die Wirtschaftsgestaltung. Das historische Defizit gegenwartiger Wirtschaftstheorie suggeriert Homogenitat sozialokonomischer Problemlagen und moglicher Problemlosungen: Fiir Neoklassiker liegt das Heil im Marktradikalismus, Keynesianer erwarten die Krisenbewaltigung von Staatsinterventionen. Beide Schulen fragen jedoch nicht, warum beispielsweise in den USA der Marktradikalismus, in den skandinavischen Landem staatliche Vor- und Fiirsorgeorientierung hohe Politikverbindlichkeit aufweisen und entsprechend unterschiedliche Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit in den jeweiligen GesellschaftskoUektiven vorherrschen. Die homogene Perspektive, unter der verschiedene kapitalistische Gesellschaften analysiert werden, profitiert zumindest unbewuBt von der eurozentristischen Vorstellung, daB im Verlauf der kapitalistischen Entwicklung und der ihr eingebetteten Kanalisierungen von Technik, Innovationsgeschehen, Konsumismus etc. auch die sozialen und kulturellen Verhaltnisse und damit auch die gesellschaftlich leitenden Werteinstellungen angeglichen wurden; es komme schlieBlich zu einer Art (kapitalistischer) Weltkultur. Diese Vorstellung impliziert auch die Homogenisierung sozialethischer Normen - sozusagen die Herausbildung einer globalen kapitalistischen „Gerechtigkeitsnorm". Auf dieser Linie liegt auch die Modethese vom „Ende der Geschichte", was heiBt, daB es zum neoliberal-kapitalistischen Weg keine Alternative mehr gebe. Damit entfiele die Notwendigkeit, kulturelle Vielfalt wirtschaftstheoretisch zu beriicksichtigen und das kulturpluralistische Vorgehen der Historischen Schule erwiese sich eben als Irrweg. Die Engfuhrung des wirtschaftstheoretischen Gesichtsfeldes wurde aber auch immer wieder kritisiert, und - wie u.a. Benjamin Ward vor mehr als drei Jahrzehnten konstatierte - in der sozialen Welt herrschen keine ewigen Naturgesetze, sondem gerade „(•••) die Natur (nimmt) einen Teil der Informationen uber wirtschaftliche Zusammenhange, die wir ihr im Laufe der Jahre abgerungen haben, andauemd wieder zuriick (...)" (Ward 1972: 72ff.). Aus der Vielzahl von Indikatoren, mit denen die Unterschiede der Lebenslagen zwischen den Landem beschrieben werden konnen, seien im Hinblick auf die Krisenbetroffenheit der Menschen vier hervorgehoben: die Arbeitslosenquote (= ALQ) uber einen mittleren - betont und fiir „ihren" Bereich, die kapitalistische Wirtschaft, demokratische Selbstbestimmung verwirft bzw. in einer abstrusen Deutung den Markt als demokratische Institution - jeder Euro ist ein Stimme - feiert.
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Zeitraum, der Index der menschlichen Armut (Human and income poverty = HIP) sowie zwei Teilindizes letzterer, namlich die Langzeitarbeitslosigkeitsquote (= LAQ) und die soziale Armut (= SA; Anteil der Gesamtbevolkerung unterhalb des Medianeinkommens). Der Index der menschlichen Armut fur die OECD-Lander erfaBt auBerdem noch den Bevolkerungsanteil mit unterdurchschnittlicher Lebenserwartung sowie den funktionalen Analphabetismus. Die Indikatoren geben ein (grobes) Bild der mehr oder weniger ausgepragten Exklusion in der jeweiligen Gesellschaft. Betrachtet wird eine Auswahl von 22 hoch entwickelten Landem, ffir die mit einigen Ausnahmen vergleichbare Daten vorliegen. Es handelt sich um die Lander, die die Platze 1 bis 18 sowie 21, 20, 24 und 27 in der Rangordnung des Human Development Index des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen einnehmen (Human Development 2005: 230). Darin eingeschlossen sind die USA, Japan und die 15 Lander der Europaischen Union vor der Osterweiterung (Tab. 1). In der Tabelle 1 sind die Lander nach ihrem Rangplatz des Human Development Index aufgefflhrt. Der Human Development Index (Human Development 2005: 219ff.) kann als Index der Lebensqualitat der an der Sonnenseite Lebenden verstanden werden; der Index der menschlichen Armut beschreibt die Schattenseite einer Gesellschaft. Arbeitslosigkeit wird haufig als Hauptgrund fur soziale Armut angeftihrt. Das ist plausibel, aber durch die starke Ausweitung des Niedriglohnbereichs bzw. der Niedrigeinkommen in den vergangenen beiden Jahrzehnten - insbesondere in den USA stellt das Phanomen der „workingpoor'' wohl die Hauptursache der sozialen Armut dar (Ehrenreich 2001) - spielt die Einkommensverteilung doch eine noch wichtigere RoUe. Denn die angelsachsischen Lander weisen sowohl vergleichsweise niedrige Arbeitslosenquoten als auch einen geringeren Anteil an Langzeitarbeitslosigkeit als der Durchschnitt der in Tabelle 1 aufgefuhrten Lander auf, aber zugleich liegen menschliche und soziale Armut in den USA, in GroBbritannien und in Australien weit tiber dem intemationalen Durchschnitt. Die skandinavischen Lander, die abgesehen von dem Sonderfall Finnland^ ebenfalls relativ niedrige Arbeitslosigkeit zeigen, zugleich noch erheblich niedrigere Langzeitarbeitslosigkeit als die angelsachsischen Lander realisieren, verbinden diese giinstige Beschaftigungslage aber mit den besten Rangplatzen bei der menschlichen und der sozialen Armut. Die mitteleuropaischen EU-Lander zeigen ein uneinheitliches Bild. Die groBen Volkswirtschaften, Deutschland, Frankreich, Italien, leiden seit Jahren unter einer hohen Arbeitslosigkeit, was auf die beschaftigungspolitische Erfolglosigkeit verweist. Der Exklusionsgrad - gemessen an der menschlichen und sozialen Armut - liegt mit der Ausnahme Italiens zwar niedriger als in den angelsachsischen Gesellschaften, aber doch erheblich hoher als in der skandinavischen Landergruppe. Die beiden kleinen Staaten Niederlande und Osterreich stechen mit ihren quasi „skandinavischen" Werten sowohl bezUglich der Arbeitslosendaten als auch bei der Exklusion positiv hervor.
2
Filmland geriet nach dem Zusammenbruch des „Ostblocks", in den das Land einen erheblichen Anteil seiner Exporte ausfuhrte, in eine Stmkturkrise. Die daraus resultierende Arbeitslosigkeit wurde jedoch in erheblichem Mafie abgebaut. Die fmnische Arbeitslosenquote (standardisierter OECD-Wert) erreichte 1994 den Spitzenwert von 16,8% und sinkt inzwischen kontinuierlich; bereits im Jahr 2000 wurde die 10%-Schwelle unterschritten (OECD 2004: 270). Vor allem aber weist Finnland trotz seines erheblichen Beschaftigungseinbruchs in den 1990er Jahren eine niedrige soziale Armut auf (Rang 4 beim HIP; vgl. Tab. 1).
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Tahelle 1: Indikatoren zur gesellschaftlichen Exklusion in ausgewahlten kapitalistischen Okonomien Rang HIP
SA
7.0
2
6.4
...
...
...
12.8
14.3
11.4
14 8 9 1 7 16 13 17 12 3 4 5 15 10
...
...
29.9*
18 6 11
Rang HDI
Land
ALQ 1993-2003
LAQ 2003
HIP 2003
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 20 21 24 27
Nonwegen
Niederlande
4.3 3.5 7.7 3.0 8.6 6.3 3.4 8.5 8.5 5.3 4.0 4.8
Finnland
12.2
Danemark GroRbritannien
5.8 7.0
Frankreich
10.7
Osterreich
5.4
5.7
0.3 0.4 1.4 1.0 0.8 0.9 1.1 1.6 3.7 0.7 1.8 1.2 2.2 1.1 1.2 4.2 1.4 5.1 4.6 4.5 5.4 2.0
7.19
2.11
Durchschnitt vorstehender Lander
Island Australien Luxemburg Kanada Schweden Schweiz Irland Belgien
USA Japan
Italien
10.7
DEUTSCHLAND
8.1
Spanien
14.5
Griechenland
10.2
Portugal arithmetisches Mittel
11.1 11.3
6.5 11.0 15.2 12.4 15.4 11.7
8.2 8.2 8.9 14.8
10.3 11.6
... ... 12.09**
... ... —
6.0 7.4 6.5 9.3 12.3
8.0 17.0 11.8
7.3 5.4 9.2 12.5
8.0 8.0 12.7
8.3 10,1
... ... 9.5
... 1.4 11.35 8.3 * Der „AusreiBer" Italien erreicht den besonders schlechten Wert aufgrund des mit 47% extrem hohen funktionalen Analphabetismus (der Bevolkerung zwischen 15-65 Jahren im Zeitraum 1994-2003) ** ohne Italien: 11.04 Quelle: Human Development 2005: 219, 230, 288. 3
Median
6.65
Gefiihle, Mentalitaten und Politik
Es lage nahe, die relativ jungen Angaben aus Tabelle 1 - eventuell erganzt durch weitere der wohlfahrtstaatlichen Typisierung von Esping-Andersen (1990) zu konfrontieren, doch dies wiirde von unserem Hauptthema fortfiihren. Es sollte hier nur gezeigt werden, dafi die verschiedenen kapitalistischen Lander erhebliche Unterschiede im Exklusionsgrad aufweisen. Dieser Sachverhalt spiegelt die grofien Differenzen in der kollektiven Sensibilitat fiir Ausgrenzung von Teilen der Gesellschaft wider und verweist auf die interkulturellen Auf-
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fassungsunterschiede, wie eine Gesellschaft mit ihren Armen umgeht, ob und wie ihr Gerechtigkeitsempfinden von Armut und Ausgrenzung verletzt wird. Was als sozial gerecht, ftir das Gemeinwohl geboten bzw. ihm abtraglich erscheint, welche Belastungen (etwa Steuer- und Staatsquote) von der gesellschaftlichen Mehrheit akzeptiert werden, um Exklusion zu unterbinden und ein hohes sozialstaatliches Niveau zu halten, differiert eben in erheblichem MaBe zwischen den Landem. Es sind also moralische Verschiedenheiten, die sich in jenen Differenzen zeigen und sie lassen sich auf kulturelle, historisch gewachsene Einstellungen zuriickfuhren. Deshalb kann Hofstede auf der Grundlage seiner Forschungsergebnisse, denen wir uns noch ausfuhrlicher zuwenden, konstatieren: „(...) das Angstniveau ist von Land zu Land unterschiedlich. Bestimmte Kulturen sind angstlicher als andere; sie weisen relativ hohe Unsicherheitsvermeidung auf (Hofstede 2001: 162). Es ist auch auBerst bemerkenswert, daB in einem intemationalen Vergleich jeweiliger Bevolkerungsanteile mit hohem „allgemeinen Vertrauen" gegeniiber ihren Mitmenschen, das als ein Indikator fiir die Kohasionsstarke einer Gesellschaft angesehen werden kann (insgesamt wurden 60 Gesellschaften untersucht), die drei skandinavischen Lander, Norwegen (65), Schweden (60) und Danemark (58), mit deutlichem Abstand vor den anderen europaischen Staaten rangieren^. AuBerhalb Europas erreichen nur die VR China (52) und Kanada (53) vergleichbar hohe Werte. Niedrige Unsicherheitsangst und hohes allgemeines Vertrauen in den nordischen Gesellschaften fligen sich plausibel zusammen, und entsprechend hoher bzw. niedriger liegen in anderen Landem die Werte der Unsicherheitsangst und des Vertrauens der Menschen zueinander. Angstlichere Gesellschaften neigen zu relativ starker „Maskulinitat" - zu ihnen gehort auch Deutschland (vgl. Tab. 2) -, geben in ihrer Politik anderen sozialokonomische Zielen Vorrang als die Lander mit schwacher Maskulinitat (z.B. Schweden). Hofstede nennt folgende Prioritaten fur „maskuline" Kulturen: „1. Belohnung der Starken gegenuber Solidaritat mit den Schwachen"^; 2. Wirtschaftswachstum gegenuber Umweltschutz; 3. Rustungsausgaben gegenuber Hilfe fur die armen Lander" (Hofstede 2001: 117, 138). Angstlichkeit ist in aller Regel kritischem BewuBtsein und Zivilcourage abtraglich. Die subalteme Bereitschaft, sich mit harmonistischen Heilsparolen zufrieden zu geben oder sich aus „Parteidisziplin" selbst dann noch dem sogenannten Fraktionszwang zu unterwerfen, wenn damit demokratische Grundprinzipien ins Wanken geraten^, mag damit positiv korrelieren, d.h. politische Semantik und symbolisches Handeln finden Anklang in einer Offentlichkeit, die lieber zustimmt als protestiert. Vor diesem Hintergrund mag der Erfolg der jiingeren deut3 ••
Ubrige europaische Lander in der Folge ihrer Werte ftir soziales Vertrauen: Niederlande (53), Finnland (49), Irland (47), Island (44), Nordirland (44), Deutschland (39), Schweiz (37), Italien (35), Belgien (34), Osterreich (32), Montenegro (32), GroBbritannien (30), Serbien (30), Spanien (30), Bulgarien (29), Tschechien (29), Bosnien (28), Albanien (27), Slowakei (27), Lettland (25), Kroatien (25), Frankreich (23), Ungam (23), Estland (22), Litauen (22), Portugal (22), Rumanien (19), Polen (18), Slowenien (16), Mazedonien (8). Zum Vergleich einige auBereuropaische Lander: Kanada (53), VR China (52), Japan (42), Taiwan (42), USA (36), Ukraine (31), RuBland (24) (Delhey/Newman 2004: 15). Die Untersuchung von Delhey/Newman grenzt ihren Untersuchungsgegenstand „allgemeines Vertrauen" scharf von dem „Vertrauen" im Kontext tauschwirtschaftlicher Reziprozitat, dem rationalen tit-for-tat-Prinzip ab. Es geht also beim allgemeinen Vertrauen gerade nicht um kalkuliertes strategisches Verhalten. 4
Die Parole „Leistung muB sich wieder lohnen" gehort zu den rhetorischen Standardfloskeln deutscher Fuhrungseliten, die sich als „Leistungstrager" beloben. Erinnert sei beispielsweise an die unter der Kanzlerschaft Gerhard Schroders eingefuhrte Praxis, wichtige gesellschafspolitische Entscheidungen in auBerparlamentarischen Beratungsgremien und Beiraten formulieren und das dann von der Regierungsmehrheit im Parlament faktisch widerspruchslos absegnen zu lassen.
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schen Reformrhetorik verstandlich werden: Es gibt wohl kein anderes europaisches Land, in dem der Reformbegriff derart radikal in sein Gegenteil verkehrt wird; nicht Verbesserung, sondem Verschlechterung der Lebensverhaltnisse breiter Bevolkerungsschichten wird als „Reformpolitik" propagiert (Hebel 2005: 34ff.; Mtiller 2004). 4
Kultur widersetzt sich globaler Homogenisierung
Alfred Weber unterscheidet drei gesellschaftliche Bereiche der langfristigen Entwicklung von Gesellschaften: (1) den ZivilisationsprozeB, (2) den sozialen ProzeB und (3) die Kulturbewegung (Weber 1920; 1931/1959). Der ZivilisationsprozeB und der soziale ProzeB umfassen die technischen, wirtschaftlichen und sozialorganisatorischen Angleichungen der gesellschaftlichen Verhaltnisse der Lander im Verlauf der (kapitalistischen) Modemisierung. Diese Prozesse sind in ihren Folgen - vor allem durch AnalogieschluB von weiterentwickelten auf noch zuruckgebliebene Gesellschaften - in groben Umrissen prognostizierbar, was auf die Kulturbewegung nicht zutrifft. ZivilisationsprozeB und sozialer ProzeB geben einen Korridor, einen relativ breiten Kanal der Entwicklung vor, aber damit bleibt Spielraum ftir den konkreten politischen Kurs innerhalb des Korridors. Hierbei kommt dann die Kultur ins Spiel. In der Kulturbewegung treten die durch lange historische Einfliisse gepragten, relativ stabilen Eigenheiten einer Ethnic hervor, und sie spent sich gegen die Homogenisierung der Gesellschaften durch ZivilisationsprozeB und sozialen ProzeB, indem die jeweilige Kultur die beiden quasi gesetzmaBig ablaufenden Prozesse modifiziert. Die Kulturbewegung konturiert die geistige, moralische und mentale Ausrichtung einer Gesellschaft und damit das WIE bei der politischen Reaktion auf die beiden Modemisierungsprozesse - Zivilisation und Sozialgestaltung. Auch wenn die kulturellen Eigenheiten nicht unberuhrt von jenen bleiben, so wirken diese doch in kulturell spezifischer Weise auf den Verlauf der Zivilisation und die sozialen Veranderungen ein. Die Verschiedenheiten zwischen kapitalistischen Gesellschaften lassen sich daher als kulturell bedingt begreifen. Nachstehendes Schema mag die Beziehungen zwischen den drei nur aus theoretischer Sicht unterscheidbaren Bereichen verdeutlichen. Abbildung 1:
Die drei Gesellschaftsbereiche nach Alfred Weber
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Erkldrung: Zivilisations- und GesellschaftsprozeB folgen in ihrer Entwicklung dem universellen Modemisierungstrend und ihre Ergebnisse lassen sich in groben Ziigen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit vorhersagen. Dies gilt bspw. fiir das Fortschreiten technischer Entwicklungen (Inventionen, Innovationen), die Industrialisierung, den sektoralen Strukturwandel und auch fiir das Wirksamwerden relativer Sattigung im Sinne des Gossenschen Sattigungsgesetzes und der u.a. von Keynes prognostizierten Abnahme der Wachstumsraten wohlhabender Volkswirtschaflen. Hierbei schafft der technisch-wirtschaftlich dominierte ZivilisationsprozeB die Voraussetzungen auch fur den ihm quasi zwangsweise korrespondierenden GesellschaftsprozeB und dieser hat iiber einen historisch langeren Zeitraum auch Starke Wirkungen auf die Kulturbewegung. Jedoch weist die Kulturbewegung im Unterschied zu den beiden anderen, grob prognostizierbaren Prozessen eine traditionsbedingte Eigenstandigkeit (vor allem im Geistig-Moralischen) sowie ein AusmaB an Kreativitat auf, die sie weitgehend unvorhersehbar macht. Aus den Interdependenzen zwischen den drei Bereichen folgt, daB Zivilisations- und GesellschaftsprozeB trotz ihrer durchschlagenden historischen Machtigkeit unter dem EinfluB der gesellschaftsspezifischen Kultur(bewegung) in gewissen Grenzen modifiziert werden. Es laBt sich von einem historischen „Entwicklungskorridor" sprechen, dessen Richtung und Weite durch Zivilisationsund GesellschaftsprozeB bestimmt werden; der konkrete Geschichtsverlauf innerhalb dieses Korridors hangt jedoch von den kulturellen Besonderheiten ab. Das Pfeilschema verdeutlicht die in ihrer jeweiligen Starke asymmetrischen Riickwirkungen bzw. Interdependenzen der drei Bereiche der gesellschaftlichen Gesamtbewegung. 5
Konkretisierung kultureller Differenzen
In diesem Abschnitt wird naher auf die bereits oben verwendeten Forschungsergebnisse von Geert Hofstede zuriickgegriffen. Es geht dabei um scharfe Konturierung. Vollstandigkeit in der Wiedergabe des umfassenden Materials ist hier weder moglich noch ware das sinnvoll. Vielmehr soUen Beschrankung und Zuspitzung - u.a. durch entsprechende Auswahl von Zitaten - das provokative Moment der Problemstellung hervorheben. Die kulturvergleichende Untersuchung von Hofstede (2001) gelangt zu vier bzw. fiinf durch Indizes quantifizierten Kriterien, um die kulturellen Differenzen zwischen Nationen bzw. Gesellschaften zu beschreiben: Machtdistanz, Individualitat, Maskulinitat und Unsicherheitsvermeidung fur die „westlichen" kapitalistischen Lander. Das fiinfte Kriterium, Langfristorientierung, wurde erst als kulturspezifisch relevant erkannt, als die „konfuzianischen" Lander Ostasiens einbezogen wurden. Insgesamt erfaBt Hofstede funfzig Lander und drei Regionen. Wir verwenden hier eine auf nur drei representative entwickelte kapitalistische Lander reduzierte Auswahl und fiigen zum Vergleich noch die Daten ftir ein „konfiizianisches" Land hinzu: Deutschland, Schweden, USA und China. Die angeftihrten Indikatoren messen statistische Unterschiede zwischen Kollektiven. Es geht also im Sinne Pierre Bourdieus um die „kollektive Programmierung des Geistes", und der sogenannte „okologische FehlschluB", d.h. der SchluB vom Kollektiv auf das Individuum, ist genauso unzulassig wie der „individualistische FehlschluB" vom Einzelnen auf das Kollektiv. Beispielsweise gibt es naturgemaB in Gesellschaften mit starker Femininitat, wie der Schwedens, auch Individuen und (Minderheits-)Gruppen, deren innere Haltung (Habitus) dem Gegenteil, also starker Maskulinitat entspricht. Wesentlich ist eben nicht das geistig-moralische
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Kleinklima in den Enklaven von „Dissidenten", sondem die Gesamtatmosphare eines Kollektivs. Machtdistanz ist „ein Gradmesser ftir Ungleichheit" und „spiegelt das Spektrum der moglichen Antworten wider, die in den verschiedenen Landem auf die grundsatzliche Frage, wie man mit der Tatsache umgehen soil, daB die Menschen ungleich sind, gegeben wurden" (Hofstede 2001: 27). Individualitat mit dem Gegenpol Kollektivitat „beschreibt Gesellschaften, in denen die Bindungen zwischen den Individuen locker sind' (ebd.: 66), und „sein Gegensttick, der Kollektivismus, beschreibt Gesellschaften, in denen der Mensch von Geburt an in starke, geschlossene Wir-Gruppen integriert ist, die ihn ein Leben lang schutzen und dafur bedingungslose Loyalitdt verlangen" (ebd.: 66f.; Hervorhebungen im Original). Maskuline Gesellschaften zeigen eine klare Abgrenzung der Geschlechterrollen. „Manner haben bestimmt, hart und materiell orientiert zu sein, Frauen miissen bescheidener, sensibler sein und Wert auf Lebensqualitat legen. Femininitat kennzeichnet eine Gesellschaft, in der sich die Rollen der Geschlechter iiberschneiden: sowohl Frauen als auch Manner sollten bescheiden und feinfuhlig sein und Wert auf Lebensqualitat legen" (ebd.: 115). Unsicherheitsvermeidung meint „die (In-)Toleranz gegeniiber der Uneindeutigkeit in einer Gesellschaft" (ebd.: 164). Niedrige Unsicherheitstoleranz korreliert mit starkerer Angstlichkeit, was unmittelbar plausibel erscheint. Auch die negative Korrelation zwischen dem AusmaB der Angstlichkeit bzw. der Unsicherheitsvermeidung und dem des subjektiven Wohlbefindens fiigt sich der Plausibilitatsvermutung. Paradox wirkt jedoch auf den ersten Blick „die in Landem mit starkerer Unsicherheitsvermeidung erlaubten hoheren Geschwindigkeiten" (ebd.: 165) im StraBenverkehr. Hofstede deutet dies dahingehend, daB Unsicherheitsvermeidung nicht unbedingt zur Verminderung von Risikobereitschaft fuhrt, sondem „zu einer Reduziemng von Uneindeutigkeit" und er fugt hinzu, daB hohe Unsicherheitsvermeidung in einer Gesellschaft bewirkt, „daB Zeit eine hohere Prioritat genieBt als Menschenleben" (ebd.: 165). Unsicherheitsvermeidung begiinstige auch die Entstehung von Feindbildem: „In Kulturen mit starker Unsicherheitsvermeidung sind Klassifikationen im Hinblick auf Schmutziges und Gefahrliches streng und absolut. (...) Schmutz und Gefahr beschranken sich nicht auf Materie, sie beziehen sich auch auf Menschen. Rassismus entsteht in Familien. Kinder lemen, daB Menschen aus einer bestimmten Kategorie schmutzig und gefahrlich sind. Man konnte sogar behaupten, daB Kulturen mit starker Unsicherheitsvermeidung Kategorien von gefahrlichen anderen Menschen brauchen, um sich gegen sie wehren zu konnen" (ebd.: 167f). Ftir das politische Handeln ergeben sich aus der mehr oder weniger hohen Unsicherheitsvermeidung bestimmte Konsequenzen, die auch ftir die wirtschafts- und gesellschaftspolitische Orientiemng wichtig sind: „Menschen in Landem mit starker Unsicherheitsvermeidung sind tendenziell konservativer, selbst innerhalb von Parteien, die sich als progressiv bezeichnen. Das Bediirfnis nach ,Recht und Ordnung' ist starker. (...) In diesen Landem ist es wahrscheinlicher, daB extremistische Minderheiten in der politischen Landschaft auftreten, als in Landem mit schwacher UV, und es ist auch wahrscheinlicher, daB politische Gmppiemngen, deren Programme als gefahrlich gelten, verboten werden". (...) „Alle drei Achsenmachte des Zweiten Weltkriegs - Deutschland, Italien und Japan - sind durch starke Unsicherheitsvermeidung plus Maskulinitat gekennzeichnet (...)" (ebd.: 182f.).
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Tabelle 2: Indizes zum interkulturellen Vergleich nach Hofstede Indexwerte (Rangplatze) der Lander
BRD
Schweden
USA
VR China (T=Taiwan)
Machtdistanz
35 (42/44)
31 (47/48)
40 (38)
T: 58 (29/30)
Individualitat
67(15)
71(10/11)
91(1)
T:17(44)
Maskuiinitat
66(9/10)
5(53)
62(15)
T: 45 (32/33)
Unsicherheitsvermeidung
65 (29)
29 (49/50)
46 (43)
T: 69 (26)
Langfristorientierung
31 (14)
33(12)
29(17)
118(1)
Quelle: Hofstede 2001: 31, 70f., 117f., 160, 238. Wie bereits bemerkt, stellt Langfristorientierung ein quasi ostasiatisches bzw. konfiizianisches Merkmal dar, das keine vergleichbare Relevanz in westlichen Gesellschaften besitzt. Der tiefe „philosophische Graben" (Hofstede 2001: 245) zwischen dem europaischamerikanischen Kulturkreis und Asien soil hier nicht iiberschritten werden, so dal3 auf eine Erlauterung der „konfuzianischen Dynamik" verzichtet wird. Erwahnt sei jedoch, daB die meisten OECD-Lander - Ausnahmen finden sich wiederum in Skandinavien - insofem einen eklatanten Mangel in der langfristigen Orientierung aufweisen, als sie keine sachgemaBe Finanzierung der ftir hoch entwickelte Volkswirtschaften auf Dauer unabdingbaren offentlichen Aufgaben (materielle und immaterielle Infrastruktur) sicherstellen und damit gerade die viel beschworene Zukunftsfahigkeit aufs Spiel setzen. Beispielsweise sank in Deutschland der Anteil der offentlichen Investitionen am Bruttoinlandsprodukt auf nur noch 1,2%; der Durchschnitt der EU-Lander liegt bei 2,5%. AUein uber Wachstum lassen sich, wie von der OECD 2004 prognostiziert wurde (OECD 2004: 32f.), die Haushaltsprobleme langst nicht losen. Zur Haushaltskonsolidierung stehen somit nur die Altemativen weitere Ausgabenkiirzungen (also Mangelverscharfiing im staatlichen Vor- und Fiirsorgehandeln) oder Steuererhohungen zur Verfiigung. Jene entsprechen dem neoliberalistischen, von den kontinentaleuropaischen Landem und der EU-Kommission iibemommenen Konzept; voile Steuerfinanzierung des staatlichen Bedarfs findet sich tendenziell beim „skandinavischen Modell" und kann als keynesianisch charakterisiert werden. Es diirfte noch in Erinnerung sein, mit welcher Aufregung und fast hysterischen Abwehr die bundesdeutschen Medien - und eben nicht nur sie - auf die kurz erwogene Moglichkeit reagierten, nach der Bundestagswahl vom September 2005 eine Minderheitsregierung zu bilden. In anderen europaischen Landem - beispielsweise in Schweden - stellen Minderheitsregierungen eine normale Moglichkeit in einer Demokratie dar. Deutschland fliichtete in die vermeintliche Sicherheit einer zweiten GroBen Koalition. Deren vorrangiger Programmpunkt ist die Haushaltskonsolidierung. Daran will sie sich messen lassen - nicht etwa an der Uberwindung der Massenarbeitslosigkeit, an der Bewahrung des Sozialstaates im urspriinglichen Sinn oder an der Sanierung des maroden Bildungssektors. Der Begriff der sozialen Gerechtigkeit sieht sich einer Diskreditierung ausgesetzt, und Gleichheit wird nur als solche der Chancen, nicht (mehr) auch der Ergebnisse propagiert (Steinbruck 2005). Damit werden die Zufalligkeiten, die durch Informations- und Machtasymmetrien bewirkten Verzerrungen in den Marktergebnissen, die milieubedingten Hindemisse der Chancengleichheit, die quasi mechanische Potenzierung von Ausgangsungleichheiten im KonkurrenzprozeB bagatellisiert oder sogar als leistungsgerecht beschonigt. Solidaritat ist zu einem 252
Schlagwort fur Fensterreden abgewertet worden, und wenn von Kohasion die Rede ist, wird das faktische AusmaB der Exklusion nicht mehr thematisiert. Im Gegenteil gefallt es, in unsaglicher Diffamierung der von Exklusion Betroffenen immer wieder die „Faulenzer"und „Druckebergerdiskussion" anzuheizen. Das paBt in das Bild einer angstlichen Gesellschaft, die anscheinend Feindbilder „braucht" (vgl. Zitat oben), sobald eine Wirtschaftskrise die Zukunftsunsicherheit emporschnellen laBt. Der Vergleich der Beschaftigungsentwicklung und des an der Langzeitarbeitslosigkeit sowie an der sozialen Armut (vgl. Tab. 1) ablesbaren Exklusionsgrades zwischen Deutschland und den skandinavischen Landem, aber auch den Niederlanden und Osterreich, macht deutlich, daB soziale Gerechtigkeit im erwahnten Sinn der Menschenrechte, des Gleichheitsprinzips und der philosophischen Gerechtigkeitstheorie(n) in Deutschland geringere praktische Bedeutung hat als in jenen Nachbarstaaten. Der Landervergleich belegt eindeutig, daB kapitalistischen Landem sehr unterschiedliche wirtschafts- und gesellschaftspolitische Optionen verfugbar sind, daB aber die Auswahl und die Prioritatensetzung nicht dem Zufallsprinzip folgen, sondem der kulturellen, historisch verwurzelten und in der kollektiven Psyche bzw. der Mentalitat intemalisierten moralischen Orientierung einer Gesellschaft geschuldet sind. Die skandinavischen Lander verwirklichen ein hoheres Niveau sozialer Gerechtigkeit nicht, weil sie „kleine" Lander sind oder weil sie Uber mehr natUrliche Ressourcen verfiigen oder was sonst von deutschen Medien und Politikem als vermeintliche Erklarung der dort „ganz anderen Situation" angefuhrt wird, sondem wegen des hohen Stellenwertes der dort (insbesondere in Schweden) noch semantisch unverfalschten gesellschaftlichen Solidaritat zukommt. Es ist also der moralische Unterschied, und er hat keine biologischen, genetischen Ursachen, sondem historische. Es ist daher auch verstandlich, daB der Equity-Index^, ein neueres Verfahren zur Messung der okonomischen (Un-)Gleichheit, fur die nordeuropaischen Lander ein weitaus hoheres Gleichheitsniveau ausweist als fur die kontinentaleuropaischen Lander - mit der positiven Ausnahme Osterreichs (Radermacher 2005: 89).
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Mentalitat und die Selektion affiner Ideologic
Mehrmals ist im vorhergehenden Text bereits der Zusammenhang zwischen Mentalitat und moralischer Einstellung, genauer: dem Verstandnis sozialer Gerechtigkeit, erwahnt worden. Daran lassen sich Fragen ankniipfen, die zwar erst durch sehr viel weiter gehende, vor allem auch historische Untersuchungen beantwortet werden konnen, aber doch wichtig genug sind, um hier wenigstens umrissen zu werden. Die erstaunliche Tatsache, daB viele entwikkelte Lander Massenarbeitslosigkeit zulassen, ja: zulassen und das Reich-Arm-Gefalle nicht nur hinnehmen, sondem auch noch leistungsideologisch verbramen, wahrend zugleich iiberzeugende Beispiele - wie dargelegt die skandinavischen Lander - fur eine humanere Politik und Gesellschaftsgestaltung existieren, kann nicht mit irgendwelchen Zufalligkeiten Es handelt sich um eine VerteilungsmeBziffer, deren mathematische Formuliemng von Kampe, Radermacher und Pestel erarbeitet wurde. Vereinfacht gesagt gibt der Equity-Faktor, der theoretisch zwischen 0 und 1 bzw. 0% und 100% liegen kann (1 bzw. 100% entspricht voUiger Gleichverteilung), an, wie weit eine Gesellschaft von der voUigen Gleichverteilung, dem extremen „Kommunismus", entfemt ist. Beispielsweise hat Deutschland den Equity-Faktor 58,8%, Nordeuropa 62% und Osterreich 64,9%. Der Gini-Koeffizient, das bisher meist benutzte Verteilungsmafi, liegt theoretisch ebenfalls zwischen 0 und 1, aber 0 indiziert voUige Gleichverteilung und 1 das Gegenteil.
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erklart werden, sondem erschlieBt sich durch den Rtickgriff auf die langfristig gewachsenen Dispositionen der „kollektiven Psyche". Dieser Weg ftihrt uns zur geistig-moralischen VerfaBtheit einer Gesellschaft, also in ihre Mentalitatsgeschichte. Mentalitatsgeschichte ist eine relativ junge Forschungsrichtung (Raulff 1987b) und sie steht bisher weit entfemt von der Wirtschaftswissenschaft; wofiir wohl diese, nicht jene die Hauptschuld tragt. „Mentalitdt (...) ist geistig-seelische Disposition. (...) Mentalitat ist geistig-seelische Haltung. Ideologic aber geistiger Gehalt (...). Mentalitat ist ,fruher', ist erster Ordnung - Ideologic ist ,spater' oder zwciter Ordnung (...). Mentalitat ist Lebensrichtung - Ideologic ist Uberzeugungsinhalt (...). Mentalitat ist, im Bilde gesprochen, eine Atmosphdre - Ideologic ist Stratosphdre. Mentalitat ist cine Haut - Ideologic ist cin Gewand" (Theodor Geiger, zit. n. Raulff 1987b: 10). Wenn Mentalitat „fruhcr", also als historisches Prius, und geistigmoralisch tiefer liegcnd als Ideologic die Menschen und die Gesellschaft bestimmt, so ist zu fragen, warum in Deutschland die originare Ideologic der Sozialen Marktwirtschaft als „Gchalt" gesellschaftspolitischer Oricnticrung scit den 1980er Jahren uber Bord geworfen und von einer neuen Ideologic, dem Neoliberalismus, abgelost werden konnte, deren Propagandisten sich allcrdings noch scheuen, sich auch den stimmigen Namen zu geben - etwa „Kapitalistischer Kampfbund fiir Sozialabbau". Pikant ist, daB die positive Konnotation des Begriffs Sozialc Marktwirtschaft in der breiten Offentlichkeit eines der ideologischen Bataillone des bundesdeutschen Neoliberalismus, die „Initiativc Neue Soziale Marktwirtschaft", dazu bestimmtc, sich gerade dieses irrcfuhrende Etikett anzuheften. Konnte es sein, daB das „Vorher" (die Mentalitat) EinfluB auf das „Nachher" (die Ideologic) in dem Sinne ausiibt, daB sich die Mentalitat die ihr adaquate Ideologic auswahlt. Ware also der neolibcralistische Marktradikalismus der deutschen Mentalitat adaquater als die Sozialstaatlichkeit der ersten Nachkriegsjahrzehnte? Wieso war es dann aber moglich, daB das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft zeitweilig iiberhaupt politischc Geltung erlangte? Eine Antwort konnte in der auBcrgcwohnlichcn historischen Situation im Nachkriegsdeutschland licgen. Unter dem traumatisierenden EinfluB groBcr historischer Erschtitterungen - einer Weltwirtschaftskrise wie in den 1930er Jahren, einem Krieg oder einer schweren militarischen Niederlagc mit aller Zerstorung, Not und Elcnd - mogen sich temporar Wandlungen des kollektiven BewuBtscins ergeben, die obcrflachlich betrachtet als Wandel der Mentalitat erscheinen, tatsachlich aber doch nur ideologischer Natur sind, sozusagen einer historischen Opportunitat geschuldet, die aus der Katastrophe erwachst. Im Laufc der Zeit macht sich dann wieder die Mentalitat als „prareflexiv-affektive Oricnticrung" (Raulff 1987b: 11) geltend und bestimmt das politischc Verhalten. Die bundesdeutschc Sozialstaatlichkeit der ersten Nachkriegsjahrzehnte entfaltete sich in einer Situation, die von der vorhcrgchenden Geschichtskatastrophe gepragt war, die wegen des Besatzungstatus nur schr cingeschrankt deutsche Eigenstandigkeit zulicB und vor allem aber mchrheitlich Politiker in fiihrende Positionen brachte, die den „dreiBigjahrigen Krieg" von 1914 bis 1945 lebensgeschichtlich erfahren und die Lektion des „nie wieder" nicht aus Biichem gelemt hatten. „Deutschtum" als cin mentales Gebilde stellte cher einen Grund fiir Scham dar, konnte und durfte nicht unbefangen in Politik umgesctzt werden, weil das als Kontinuitat zum Vorhcrgchenden hatte erscheinen miissen. Die Wiedcrherstellung kapitalistischer Verhaltnisse verlicf sozusagen unter dem ideologischen Deckmantel des volligen Neubeginns, wie es die „Stundc-NuH"-Metapher suggcriert. Das internationale politischc Umfcld wurde zudem durch die Systemkonfrontation strukturiert, und der Eiscme Vorhang ruckte die BRD und die DDR in die Rolle von Frontstaaten.
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Die tiefe Verstrickung des deutschen Kapitalismus und seiner Reprasentanten in das nationalsozialistische Regime verbot zugunsten der Wiederherstellung kapitalistischer Verhaltnisse ein allzu unmaskiertes Auftrumpfen der alten und neuen wirtschaftlichen Machteliten - nicht zuletzt gegentiber den Gewerkschaften (Zinn 1998b). Das alles ist Vergangenheit. Die Generation von Nachkriegspolitikem, die die Weltwirtschaftskrise, Nazideutschland und Zweiten Weltkrieg erlebt hatten, ist tot, jedenfalls langst nicht mehr an der Regierung. Opportune Riicksichten auf ihre kompromittierende KoUaboration mit dem deutschen Faschismus braucht die okonomische MachteHte - trotz aller medialen Erinnerungsrhetorik - nicht mehr zu nehmen. Der leistungsideologische Anti-Egalitarismus, der weit ins 19. Jahrhundert zuruckreichende Anti-Kommunismus, der ja bereits in 1950er Jahren wieder breiteste offentliche Zustimmung gefiinden hatte, sah und sieht sich mit dem Zerfall des ehemaligen „Ostblocks" quasi von der Geschichte bestatigt. Der Boden ist langst bereitet, um die von der Sozialen Marktwirtschaft temporar bedeckte Mentalitat nicht nur bei den Machteliten wieder unverhtillt politisch walten zu lassen - und sie sich die ihr affme Ideologic anzueignen. Vor dem Hintergrund der kulturellen Merkmale der deutschen Bundesrepublik im Sinne von Hofstedes Daten scheint die neoliberalistische Weltdeutung diesem Land gemaBer zu sein als die aus der deutschen Katastrophe geborene Sozialstaatlichkeit. Wenn es zutrifft, daB es „kein Indiz dafur (gibt), daB sich die Kulturen heutiger Generationen aus unterschiedlichen Landem einander annahem" (Hofstede 2001: 23), steht es flir die soziale Gerechtigkeit in unserem Land in Zukunft schlecht. Literatur Bliimle, Ceroid (Hg.) (2004): Perspektiven einer kulturellen Okonomik, Munster. Delhey, Jan/Newton, Kenneth (2004): Social Trust: Global Pattern or Nordic Exceptionalism, WZB discussion paper, Berlin, Juni 2004 (SP 12004 - 202). Ehrenreich, Barbara (2001): Arbeit poor - Unterwegs in der Dienstleistungsgesellschaft, Munchen. Esping-Andersen, Gosta (1990): The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge. Hebel, Stephan (2005): Parteien allein zu Hause. Wie eine ganz groBe Koalition den gesellschaftlichen Wandel verpaBte, in: Hebel, Stephan/Kessler, Wolfgang/Storz, Wolfgang (Hg.): Wider die herrschende Leere. Neue Perspektiven fur Politik und Wirtschaft, Frankfurt am Main/Oberursel, S. 27-52. Heintze, Cornelia (2005): Das skandinavische Erfolgsmodell und seine kulturelles Fundament - eine Annaherung, in: Arbeit, Jg.l4, H. 3, S. 221-237. Heintze, Cornelia (2002): Die Zukunftsblockade. Klimawandel, BSE, Armut, Terrorismus - Warum in der Gesellschaft kollektives Vorsorgelemen miBlingt, Berlin. Hofstede, Geert/Hofstede, Gert Jan (2005): Cultures and Organizations. Software of the Mind, 2. Auflage, New York et al. Hofstede, Geert (2001): Lokales Denken, globales Handeln. Interkulturelle Zusammenarbeit und globales Management, 2. Auflage, Munchen. Human Development (2005): Report 2005. International cooperation at a crossroads: Aid, trade and security in an unequal world. New York. Huster, Emst-Ulrich/Kraiker, Gerhard/Scherer, Burkhard/Schlotmann, Friedrich-KarlAVelteke, Marianne (1972): Determinanten der westdeutschen Restauration 1945-1949, Frankfiirt am Main. Katterle, Siegfried (1989): Altemativen zur neoliberalen Wende. Wirtschaftspolitik in der sozialstaatlichen Demokratie, Bochum. Landes, David S. (2004): Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind, 2. Auflage, Berlin.
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Jeremy Leaman
Soziale Gerechtigkeit in Grofibritannien - ein Modell fiir Deutschland und Europa?
1
Einleitung: soziale Gerechtigkeit - Irrungen und Wirrungen eines Begriffs
„Soziale Gerechtigkeit" scheint ein beliebig dehnbarer Begriff zu sein. Er darf auf jeden Fall in keinem Wahlmanifest oder Regierungsprogranun fehlen. Er gehort ganz selbstverstandlich in das taktische Vokabular eines jeden Populisten. Aber trotz dieser Vieldeutigkeit laBt er sich kaum ersetzen, weder in der politischen Praxis noch im Diskurs der modernen Gesellschaftswissenschaften. Die „soziale Gerechtigkeit" kann etwa in der Tradition des politischen Liberalismus so eng ausgelegt werden, daB sie sich mit der formalen Gleichheit des Biirgers vor einem autonom (gerecht) verwalteten unparteiischen Gesetz erschopft. Andererseits impliziert die soziale Gerechtigkeit im kommunistischen Gedankengut so etwas wie einen Gini-Koeffizienten von 0,0, bei dem jedes Gesellschaftsmitglied theoretisch oder praktisch einen gleichen Anteil am Volkseinkommen bzw. -vermogen genieBen soil. Den groBtmoglichen Interpretationsspielraum bietet John Rawls' Definition der Gerechtigkeit, welche die Zulassigkeit von Ungleichheit betont: „Falls bestimmte Ungleichheiten des Reichtums und der Macht jeden besser stellen als in dem angenommenen Ausgangszustand, stimmen sie mit der allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellung tiberein" (Rawls 1994: 84). Im real existierenden Post-Kommunismus, d.h. in den verschiedenen Varianten des jetzt scheinbar unerschiitterlichen globalen Kapitalismus (Albert 1991; Esping-Andersen 1990), der die materielle Ungleichheit tatsachlich als funktionale Voraussetzung hat, bleibt die Bemessung von „sozialer Gerechtigkeit" vieldeutig und verwirrend. Noch verwirrender ist der gesellschaftspolitische Diskurs seit dem Kollaps des sogenannten „keynesianistischen Konsenses"; bis in die 1970er Jahre wurde die berichtigende Rolle des Staates in bezug auf fehlerhafte Markte und zyklische Krisen von den meisten Parteien aller OECDLander akzeptiert. Seitdem aber versuchen neoliberale Theoretiker, uns das tyrannische Potential des Staates (Hayek 1945) oder „die bereichemden Ratsel der Ungleichheit" (Gilder 1982: 101) und die Dysfiinktionalitat der Steuerprogression (Laffer/Seymour 1979) einzureden. Der groBten Verwirrung scheint wohl die Sozialdemokratie anheimgefallen zu sein, als friihere ideologische Heimat des staatlichen Interventionismus und der staatlichen Umverteilung. Die Verwirrung gait schon 1959 fiir die deutsche Sozialdemokratie, die im Godesberger Programm die Grundsatze des Ordo-Liberalismus mit dem Umverteilungsimperativ zu vereinbaren versuchte; in jungerer Zeit ereilte sie dann auch die britische LabourParty, die sich in den 1990er Jahren zu „modemisieren" gedachte. Die intellektuelle Verwirrung (s.u.) hat den scheinbaren politischen Erfolg von New Labour bislang allerdings nicht beeintrachtigt. Labour-Eminenzen wir Tony Blair und Gordon Brown glauben sogar, sich in dem Ruhm sonnen zu konnen, die Liberalisierung der Markte mit „sozialer Gerechtigkeit" vereinbart zu haben, ja sie beanspruchen sogar Modell-Charakter fiir ihre Politik:
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„Genau wie GroBbritannien harte, langfristige Entscheidungen hat treffen miissen, um Stabilitat, Wachstum und Flexibilitat zu erzielen, muB die EU eine ahnliche Wahl treffen, um global wettbewerbsfahig zu bleiben" (Rede Gordon Browns in der Londoner City vom 22. Juni 2005). Der hier vorliegende Beitrag beabsichtigt, die Modellhaftigkeit der LabourEntscheidungen zu hinterfragen und die New Labour-Politik auf ihre Nachhaltigkeit hin zu testen. 2
GroBbritannien, Deutschland und der „dritte Weg"
Die Ausrichtung nach einem „britischen Vorbild" ware in den 1960er und 70er Jahren wohl keinem in Europa eingefallen, sei es in bezug auf die Hauptindikatoren des Wirtschaftserfolges oder sei es in bezug auf die Qualitat langlebiger Konsumgiiter britischer Herkunft. Viel haufiger waren die Hinweise auf „das britische wirtschaftliche Desaster" (Glyn/Harrison 1980) oder „die englische Krankheit", auf die sinkende Wettbewerbsfahigkeit britischer Firmen im intemationalen Handel und auf die Demiitigung des britischen Schatzkanzlers, Dennis Healey, wegen seines im Jahre 1976 notwendig gewordenen „Ganges zum IWF", als das traditionelle Kreditgeberland GroBbritannien gezwungen wurde, einen Oberbriickungskredit zur Deckung des Leistungsbilanzdefizits zu beantragen. Das scheinbar klagliche Abschneiden GroBbritanniens in der ersten Stagflationskrise der 1970er Jahre - etwa im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland - diente deshalb eher als Paradebeispiel flir die diskreditierte Orthodoxie des Keynesianismus. Die Lorbeeren im hektischen Kampf gegen die Auswiichse der Bretton Woods-Krise (197Iff.) und der ersten 01krise (1973ff.) emteten eher die sozial-liberale Koalition unter Helmut Schmidt und die Deutsche Bundesbank, was sogar dazu fiihrte, daB die SPD zwei Bundestagswahlkampfe unter dem Banner „Modell Deutschland" gewinnen konnte. „Ein Musterbeispiel der okonomischen Steuerung" hieB es in einer oft zitierten Studie neoliberaler Pragung (Zweig 1976). DaB die zweite Olkrise und die Machenschaften von FDP und Bundesbank Helmut Schmidt zu Fall brachten, andert nichts an der Tatsache, daB das deutsche Modell einer ordoliberalen „sozialen" Marktwirtschaft damals noch weitgehenden Respekt von seiten anderer europaischer Staatspolitiker genoB. Zwar versprach die neue Kohl-Regierung 1982 eine groBe „Wende" in der Wirtschaftspolitik und lobte besonders die Deregulierungsexperimente Margaret Thatchers in GroBbritannien, aber Deutschlands Schwenk in Richtung Neoliberalismus wurde vor dem Hintergrund einer im Grunde selbstsicheren (vielleicht selbstgefalligen) politischen Okonomie untemommen, deren Fundamente noch unerschtittert blieben: auBerordentliche Handelsdominanz, fast permanente auBenwirtschaftliche Uberschtisse, harte Wahrung, niedrige Inflation, gut ausgebildete Arbeitskrafte, hohe Investitions- und Innovationsquoten und massive Gold- und Devisenreserven. Heute, knapp 25 Jahre nach Helmut Kohls „Wende", wird das deutsche „Modeir' haufiger flir tot erklart, wahrend das angelsachsische „Modeir' zunehmend als Rettungsboot ftir die krisenbehafteten Wirtschaften der Eurozone gepriesen wird. Vor allem konservative Stimmen in Deutschland - in den Wirtschaftsforschungsinstituten, in der CDU/CSU und der FDP, im SchloB Bellevue und in den Untemehmerverbanden - rufen nach einer durchgreifenden Liberalisierung der Arbeitsverhaltnisse, nach einem radikalen Abbau des Kiindigungsschutzes sowie nach einer deutlichen Senkung der direkten und indirekten Arbeits-
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kosten und bekxaftigen ihre Argumente mit Hinweisen auf die Erfolge der britischen Wirtschaft im intemationalen Vergleich, vor allem in bezug auf Arbeitslosigkeit und Wachstumsstabilitat. Horst Kohler, der amtierende und bislang freimiitigste Bundesprasident, sprach wortwortlich vom „britischen Vorbild" anlaBlich des Besuchs von Konigin Elizabeth II. im November 2004. Es iiberraschte nicht, daB die deutsche Linke wenig begeistert vom Neoliberalismus Thatcherscher Pragung blieb (etwa Funken 1994), doch mit dem Regierungsantritt von New Labour im Jahre 1997 begann eine nahere Beschaftigung und allmahliche Annaherung insbesondere des rechten Fliigels der deutschen Sozialdemokratie mit der Gedankenwelt des sogenannten ..Third Way" (Giddens 2000), wobei u.a. die soziale Dimension - zur Abgrenzung gegen den „Thatcherismus pur" - herausgearbeitet wurde (u.a. Hombach 2000). Dieses Engagement zeigte sich formal in der gemeinsamen Veroffentlichung des „Schroder-Blair-Papiers" (1999), in dem vor allem die Vorstellungen einer angebotsorientierten Sozial- und Wirtschaftspolitik entwickelt wurden. Die sozial- und wirtschaftspolitischen Reformen in beiden Landem in den folgenden Jahren zeugen in hohem MaBe von dem EinfluB der Third ^oy-Ideologie, die vor allem eine der modemen Welt angepaBten „soziale Inklusion" verheiBt. Von zentraler Bedeutung in dem Erfahrungsaustausch zwischen deutschen und britischen Sozialdemokraten im Sog des Schroder-Blair-Papiers war die Erkenntnis, daB die politische Praxis der rot-griinen Koalition sehr oft dem Beispiel von New Labour zu folgen schien, das seinerseits tatsachlich viele Ziige der Thatcher-Major-Ara tragt. Die zentralen Reformen der zwei rot-griinen Legislaturperioden spiegelten in der Steuer-, Renten-, Arbeitsmarkt- und Gesundheitspolitik nicht nur den generellen Trend des Standortwettbewerbs (d.h. des „Wettlaufs nach unten") wider, sondem ahmten wesentliche Elemente britischer Reformen nach. Der Ausgangspunkt dieses Beitrags ist, daB dieser NachahmungsprozeB - der wohl von der neuen schwarz-roten Koalition noch intensiviert werden konnte - groBe Gefahren ftir die Funktionsfahigkeit der deutschen politischen Okonomie und fur die Zukunft des gesellschaftlichen Zusammenhalts in Deutschland in sich birgt. Der Zweck der folgenden Analysen ist es daher, sowohl den Mythen des „britischen Erfolgs" nachzugehen als auch die spezifische Frage der Ubertragbarkeit eines fremden sozialpolitischen Modells auf ein ganz anders geartetes Wirtschafts- und Sozialsystem zu iiberprlifen. 3
Wagnis als Tugend und Notwendigkeit - der britische Ausweg aus der Krise
Die Dringlichkeit einer wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Umkehr in GroBbritannien in den 1970er und 80er Jahren stand den meisten Beobachtem klar vor Augen. Einen Konsens iiber den passenden Ausweg aus der Krise aber gab es naturlich nicht. Neue Linke wie Neoliberale sahen in der strukturellen Krise der Wirtschaft wie in der fiskalen Krise des Staates eine Bestatigung ihrer jeweils ganz unterschiedlichen Praferenzen bzw. Ziele, namlich einerseits der Modemisierung und Verfeinerung kollektiver Ansatze bei strafferer Bandigung der Marktkrafte, andererseits den Rtickzug des „uberforderten" Staates {roll-back) sowie die weitgehende Liberalisierung der nationalen und intemationalen Marktkrafte. Die tatsachliche Entwicklung folgte schlieBlich vor allem dem intemationalen Trend in Richtung Tertiarisiemng, wenn auch zweifellos die Wucht der Entindustrialisiemng in GroBbritannien starker als in vielen anderen OECD-Landem war.
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Tabelle I: Prozentualer Anteil des Dienstleistungssektors an der Gesamtbeschaftigung im Zeitraum 1973-2000 1973
1980
1990
2000
Deutschland
43.0
47.2
56.8
63.9
Frankreich
48.5
55.3
64.0
70.4
Italien
38,6
48.0
58.2
62.2
Grolibritannien
54,7
59.4
68.9
72,8
Quelle: OECD Landerberichte. Die Entindustrialisierung in Grofibritannien war sowohl eine strukturell bedingte, organische Entwicklung der Okonomie als auch ein politisch gesteuerter Prozefi. Die konsequente Vemachlassigung produktivitatsfordemder Investitionen auf seiten britischer Industrieuntemehmen, die im Nachkriegsboom der 1950er und friihen 60er Jahre noch keine schmerzhafte Gewinnminderung mit sich gebracht hatte, bewirkte unter den Krisenverhaltnissen der 1970er und 80er Jahre einen umso dramatischeren Kollaps der britischen Manufaktur. Bessere Produkte der auslandischen Konkurrenz - gestiitzt entweder vom strategischen Merkantilismus (Japan, Siidkorea) oder von engen langfristigen Beziehungen zwischen Industrieuntemehmen und Banken (Japan, Deutschland) - verdrangten britische Produkte von vielen Markten: insbesondere in der Stahlindustrie, im Schiffbau, der Automobilindustrie, bei Haushaltsgeraten sowie in der Textil- und Schuhproduktion. Das Qualitatsetikett .Made in England' (ursprunglich zur Abgrenzung von der deutschen „Mangel-Ware" Ende des 19. Jahrhunderts eingesetzt) wurde nun allzuoft zum Symbol fur Unzuverlassigkeit und Pannenanfalligkeit. Im offentlichen Diskurs, gerade in den vorwiegend konservativen Printmedien, war es die britische Gewerkschaftsbewegung, die an der Wirtschaftsmisere GroBbritanniens ftir schuldig erklart wurde. Die Streikwellen der konservativen Ara unter Premierminister Heath (1971-1974) und wahrend des Labour-Interregnums unter Wilson und Callaghan (1974-1979) verstarkten die Entschlossenheit der konservativen „Reformer" unter Thatcher, die „Macht der Gewerkschaften" in den Bastionen der fordistisch gepragten Industriebeschaftigung zu brechen. Damit sollte nicht nur das Hauptvehikel der gesellschaftlichen Solidaritat geschwacht werden, sondem auch ein wichtiger Schutzwall des Beveridge-Systems staatlicher Wohlfahrt, das nach dem Zweiten Weltkrieg von Attlees Labour-Regierung aufgebaut worden war. Ein zentraler Zweck der Arbeitsmarktreformen unter Thatcher und Major war es dementsprechend, nicht nur die Reichweite koUektiver Tarifabschliisse zu reduzieren bzw. zu individualisieren, sondem auch die Vorsorge fur die typischen Lebensrisiken zu privatisieren, entsprechend dem beruchtigten Grundsatz Margaret Thatchers, wonach die Gesellschaft nicht existiere: „Und, wissen Sie, so etwas wie die Gesellschafl gibt es nicht. Es gibt einzelne Manner und Frauen und es gibt Familien. Und keine Regierung kann etwas auBer durch die Menschen untemehmen, und die Menschen miissen sich zuerst um sich selbst kummem und dann um unseren Nachbam" (in einem Interview mit der Frauenzeitschrift Woman's Own vom 31.10.1987). Die gewerkschaftsfeindliche Gesetzgebung der 1980er Jahre {Employment Acts 1980 u. 1981, Trade Union Act 1984), zusammen mit der geduldeten Entindustrialisierung und dem strategisch wichtigen Sieg iiber die Gewerkschaften beim Bergarbeiterstreik 1983-84, bewirkte tatsachlich eine Abnahme der sektoralen Tarifabschliisse auf nur 47% aller Tarif-
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vertrage im Jahre 2002; die inzwischen auch in Deutschland sinkende Deckungsrate sektoraler Tarifabschlusse lag damals noch bei 90% (Leaman/Daguerre 2004). Entgegen vielen Erwartungen bzw. Hoffnungen blieben die Kembestimmungen der konservativen Beschaftigungsgesetze nach dem Labour-Sieg 1997 erhalten. Mehr noch: New Labour distanzierte sich von der traditionellen Partnerschaft mit den Gewerkschaften und beendete die finanzielle Abhangigkeit von ihnen, pflegte stattdessen strategisch entscheidende Beziehungen mit wichtigen Personen in den Printmedien - vor allem mit Rupert Murdoch und News International - und versuchte die Londoner City mit der sofortigen Autonomisierung der Bank of England (im Jahr 1997) sowie durch eine Fortsetzung der engen Haushaltsgrenzen der konservativen Vorganger zu beschwichtigen. Die „Modemisierung" des britischen Wohlfahrtsstaates war ein zentrales Element des Wahlmanifests von 1997. Man grenzte sich von den hauptsachlich negativen Anreizen der Tories (Taylor-Gooby et al. 2004: 579) dadurch ab, daB man die Konditionierung bzw. Begrenzung der Leistungsanspruche mit vielfaltigen positiven AktivierungsmaBnahmen zu verbinden versprach. Eine individualisierte Betreuung vor allem junger Menschen und Langzeitarbeitsloser durch personliche Berater in den Arbeitsamtem sollte die Abhangigkeit von Sozialleistungen beenden und zur (Re-)Integration der Empfanger in die Arbeitswelt ftihren - iiber die Wohlfahrt zur Arbeit hin {welfare to work). Weiterhin sollte ein besserer „Ausgleich zwischen der Arbeit und dem Leben" {work-life balance) durch besondere Hilfen fur Familien, Eltem und alleinstehende Mutter geschaffen werden. Nicht zuletzt verpflichtete sich New Labour zur Fortsetzung der von der konservativen Regierung eingefuhrten Forderung von privaten Zusatzrenten, allerdings unter solideren Bedingungen. (Labour Party 1997) Die Ziele von New Labour wurden und werden aber nicht im Sinne von Umverteilung formuliert: .Redistribution" kommt im Vokabular von New Labour so gut wie nicht vor. Die Bekampfung der Armut von Kindem und Rentnem wird eher im Sinne der „Inklusion", d.h. der einfachen Teilhabe der armeren Gesellschaftsmitglieder am wachsenden Wohlstand verstanden. Die soziale Gerechtigkeit wird daher nicht in erster Linie quantitativ konzipiert, sondem qualitativ im Sinne der Behebung der Ausgrenzung. Die Wirklichkeit zeigt gleichwohl eine gewisse Umverteilung zugunsten der Armsten (Brewer/Goodman et al. 2004 u. 2005). Allerdings ist, wie diese zwei Berichte zur Situation von „Annut und Ungleichheit in GroBbritannien" zutage gefordert haben, der Grad der Einkommensungleichheit im Jahr 2005 - trotz fiskalischer UmverteilungsmaBnahmen - auf dem gleichen Niveau wie 1996/97, d.h. am Vorabend der Regierungsiibemahme durch New Labour. Die wachsende Ungleichheit der Markteinkommen (d.h. vor kompensierenden staatlichen Transfers) konnte also bei starken Zuwachsen des BIPs und der staatlichen Einnahmen knapp neutralisiert werden. Mit anderen Worten: Ohne den Einsatz von konjunkturell begiinstigten Tax Credits u.v.a.m. ware die soziale Ungleichheit noch markanter gewesen, als sie ohnedies ist. Eine Verschlechterung der konjunkturellen Situation wird den fiskalen Spielraum der Sozialleistungen wohl erheblich einengen, was eine emeute Verstarkung der Einkommensdisparitaten in GroBbritannien mit sich bringen konnte. Der entscheidende Test fur die VerlaBlichkeit der „Modell-Hypothese" steht damit also erst noch bevor. Das erste Stadium der Globalisierung iiberstanden zu haben - und zwar mit relativ giinstigen Wachstumsraten und Beschaftigungszuwachsen - ist keineswegs ein Beweis fur die Nachhaltigkeit des „dritten Wegs", geschweige denn fur dessen Ubertrag-
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barkeit auf andere Gesellschaften. Ein besseres Urteil wird erst vor dem mittelfristigen Hintergrund mehrerer Wachstums- und Handelszyklen moglich sein. Die Kontinuitat zwischen dem angebotsorientierten Neoliberalismus der Tories und den wirtschafts- und sozialpolitischen Praferenzen von New Labour sticht vor allem in der Betonung des einzelnen Burgers als „Humankapital-Einheit" ins Auge. Das Kollektive als dominanter Faktor der keynesianistischen Nachfragetheorie - in der Form der MakroGroBen von Verbrauchs-, Investitions- und staatlicher Nachfrage - wird zugunsten der Angebotssituation des einzelnen Arbeitnehmers bzw. des einzelnen Untemehmens beiseite geschoben. Der Schwerpunkt der angebotsseitigen Arbeitsmarktreformen bei den Tories lag hauptsachlich in dem negativen Entzug der Beschaftigungssicherheit als Anreiz zur Selbsthilfe und Reintegration. Die „neue angebotsorientierte Agenda fur die Linke" betont die „erste Prioritat" des „aktiven Staates" als „die Investition in menschliches und soziales Kapital" (Schroder/Blair 1999). Die ,,employability" des nicht-aktiven Individuums soil durch Beratung, Umschulung, Uberbriickungsleistungen und Arbeitgeberhilfen aufpoliert werden. Der „Sozialintensivstaat" (Giddens 1999) prasentiert sich als Aussohnungsinstanz zwischen fiskaler Effizienz und sozialer Gerechtigkeit: „Qualitatsvolle (sic) soziale Dienstleistungen sind ein zentrales Anliegen der Sozialdemokraten, aber soziale Gerechtigkeit laBt sich nicht an der Hohe der offentlichen Ausgaben messen. Der wirkliche Test fiir die Gesellschafl ist, wie effizient diese Ausgaben genutzt werden und inwieweit sie die Menschen in die Lage versetzen, sich selbst zu helfen" (Schroder/Blair 1999). Fiskalpolitisch wie wahlkampfstrategisch ist die rhetorische Betonung der „Hilfe zur Selbsthilfe" anscheinend sehr attraktiv; vor allem die Forderung jiingerer Generationen und das Setzen von ehrgeizigen Zielen bei der Bekampfung der Jugendarbeitslosigkeit sowie bei der Kinderarmut bezweckt eine dankbare Akzeptanz bei den Wahlem und weckt gleichzeitig die Zuversicht (der „Markte") in den verantwortungsvollen Umgang mit offentlichen Mitteln: „Die wesentlichen okonomischen Ursachen sozialer Ausgrenzung wurden besonders betont, wie die Arbeitslosigkeit, die Armut und das Investieren in Kinder (sic!), um den Zyklus der tJbertragung sozialer Nachteile zu brechen" (Social Exclusion Unit 2004: 8). Im Unterschied zum Thatcherismus ist das „Neue" an New Labour, daB positiv fi)rdemde Elemente (als Zuckerbrot) verbunden werden mit der negativen Diskretion des Staates, Leistungen zu kiirzen oder zu stoppen, wenn der Leistungsempfanger es versaumt, die Anweisungen des Arbeitsamtes zu befolgen. Die MaBnahmen zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, zur Entlastung der Untemehmen und zum Anlocken von auslandischen Direktinvestititionen wurden deshalb unter New Labour durch ambitiose und zum Teil sehr teuere Aktivierungsprogramme erganzt. Diese haben seit 1998 versucht, bestimmte Zielgruppen unter den Nicht-Erwerbstatigen durch intensive Beratung und Umschulung sowie durch Reintegrationszuschtisse - falschlicherweise „7ax Credits'' (Steuerkredite) genannt zu erreichen. Die bisher teuersten Aktivierungsprogramme waren die sogenannten New DealProgramme. Das Verwaltungssystem wurde dadurch modemisiert, daB die staatlichen Arbeitsamter und die Sozialamter zusammengelegt und fiinktional integriert wurden, um die sogenannten Jobcentre P/w^-Agenturen zu schaffen. Durch eine gezielte Aufstockung des Personalhaushalts in diesen Agenturen wurden iiber 5.000 neue Betreuer eingestellt, die eine relativ iiberschaubare Liste von arbeitslosen „Kunden" zugewiesen bekommen. Fiir die nicht mehr so anonymen „Kunden" sollen individuell zugeschnittene Forderprogramme
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vereinbart werden, bei denen der Erhalt der Arbeitslosenunterstutzung (Job Seeker's Allowance) nur durch Einhaltung des vereinbarten „Vertrags" garantiert ist. Die (Re-)Integration von nicht-erwerbstatigen Haushaltsmitgliedem, alleinstehenden Miittem oder Eltem von jiingeren Kindem, wurde durch eine Reihe von gezielten Leistungen {Child Tax Credit, Working Family Tax Credit usw.) sowie durch Kinderbetreuungshilfe {Sure Start) gefordert. Die Tax Credits dienen im Grunde als staatliche Subventionen fiir arbeitslose Individuen beim ersten Schritt in den Niedriglohnsektor, dessen Forderung bereits im SchroderBlair-Papier (1999) fiir unverzichtbar gehalten wurde. Der britische Niedriglohnsektor wurde allerdings durch die Einfiihrung eines gestaffelten Mindestlohns im Jahre 1998 reguliert; im Oktober 2005 betrug der Mindestlohn fiir Erwachsene £ 5,05 pro Stunde (€ 7,30), fiir 18- bis 21jahrige £ 4,25 (€ 6,16) und fiir 16- bis ITjahrige £ 3,00 (€ 4,35). 4
Eigenverantwortung und die unsoziale Demokratie - Schattenseiten des britischen „Modells"
Die glanzende Fassade der wohlfahrtsstaatlichen MaBnahmen unter New Labour darf nicht dariiber hinwegtauschen, daB GroBbritannien „ein verhaltnismaBig schwacher Wohlfahrtsstaat" ist (Taylor-Gooby 2004: 577), dem immer noch ein relativ hoher Grad an sozialer Ausgrenzung gegenubersteht. Bei genauerem Hinsehen ergibt sich deshalb auch ein weit weniger positives Bild als das, was haufig nach auBen vermittelt wird: (1) Im intemationalen Vergleich ist der Grad an Kinderarmut in GroBbritannien noch hoher als in den meisten westeuropaischen Landem (Unicef 2005: 4), trotz des ehrgeizigen Ziels des Ministeriums fiir Arbeit und Renten, die Kinderarmut bis 2010 zu halbieren, bis 2020 vollig zu eliminieren und „unter den Besten in Europa" zu rangieren (Department for Work and Pensions 2003). (2) Die statistische Basis fiir die offizielle Kalkulation der Armut wurde unter New Labour dadurch modifiziert, daB Wohnungskosten nicht berucksichtigt werden, vor allem wenn es darum geht, den politischen „Erfolg" bei der angestrebten Verringerung der Kinderarmut festzustellen. Zwar wird der Erfolg bei der Bekampfixng der Rentnerarmut durch die Einbeziehung von Wohnkosten stark iibertrieben - ohne Einrechnung der Wohnkosten (BHC) sank die Rentnerarmut zwischen 1998 und 2002 „nur" um 40%, wahrend bei Einbeziehung der Wohnkosten (AHC) der Riickgang voile 59% betragt; bei Rentnem ist namlich der Anteil der Wohnkosten relativ gering im Verhaltnis zu den sonstigen Haushaltskosten, weil die iiberwiegende Mehrheit Hausbesitzer mit langst getilgten Hypothekenschulden sind. Dagegen zeigt im Fall von Kindem in Haushalten mit jiingeren Eltem, die in letzter Zeit haufig von hoher Immobilieninflation und entsprechend hohen Hypothekenschulden belastet werden, die AHC-Kalkulation ein weit weniger erfi-euliches Bild der Kinderarmut als die BHC-Ziffem. In dem Fiskaljahr 2003/2004 betmg die Kinderarmut (AHC) 3,5 Mio., aber nur 2,6 Mio. BHC; 900.000 Kinder gelten also nach letzterem MaBstab nicht mehr als arm (Brewer/Goodman et al. 2005: 1). Die Ubemahme dieses MaBstabs bedeutet folglich, „(...) daB weniger Kinder aus der Armut gerettet werden miissen, um die Ziele der Regiemng zu erreichen" (Brewer/Goodman et al. 2004: 3). (3) Der Erfolg bei der Steigemng der Beschaftigung wird statistisch auch dadurch iibertrieben, daB GroBbritannien einen hoheren Grad an Teilzeitbeschaftigung hat (24,1%) aller
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Beschafligten im Jahre 2004) als im Durchschnitt der europaischen OECD-Lander (15,5%); mit der Tertiarisierung der Wirtschaft liegt der Lowenanteil der in letzter Zeit geschaffenen Arbeitsplatze im Dienstleistungssektor, vor allem im Niedriglohnbereich. Nicht zuletzt iibertreibt die im intemationalen Vergleich relativ niedrige Arbeitsproduktivitat die arbeitspolitischen Erfolge, weil ein hoheres Arbeitsvolumen in GroBbritannien erforderlich ist, um dasselbe Arbeitsergebnis zu erzielen wie in anderen Okonomien. (4) Ein rosigeres Bild der Arbeitslosenrate wird dariiber hinaus dadurch geschaffen, daB ein sehr hoher Anteil der erwerbslosen Bevolkerung als „arbeitsunfahig" registriert wird und infolgedessen die groBziigigeren Leistungen der „Arbeitsunfahigenhilfe" (Incapacity Benefit/lB) bezieht statt die Arbeitslosenhilfe (Job Seeker's Allowance/JSA). Im Vergleich zu alien EU-15 Landem weist GroBbritannien die hochste Rate an physisch und psychisch Kranken im Arbeitsalter auf. Mit 7% liegt GroBbritannien weit vor Deutschland (2,1%) Oder Frankreich (0,3%) (Zahlen fiir das Jahr 2001). Im Januar 2006 bezogen 2,7 Mio. Menschen die Arbeitsunfahigenhilfe (Guardian vom 16.01.2006). Der Anstieg denjenigen Menschen, die langfristig Arbeitsunfahigenhilfe (IB) beziehen, um ca. 2 Mio. seit 1979 kann nicht etwa durch wirkliche Veranderungen der Volksgesundheit erklart werden (Webster 2001). Die Griinde sind vielschichtig: Abgesehen von der wirklichen Beeintrachtigung der Gesundheit durch besondere Arbeitsbedingungen bzw. durch die Auswirkungen langfristiger Erwerbslosigkeit, waren viele Arzte in Bezirken mit hoherer Arbeitslosigkeit angesichts der niedrigeren Arbeitslosenhilfe (JSA) oft bereit, Langzeitarbeitslose krankzuschreiben, damit diese ein etwas besseres Haushaltseinkommen beziehen konnten. Die JSA-Zahlungen in Hohe von maximal £ 56,20 (€ 81,45) pro Woche sind sowohl niedriger als die IBLeistungen von durchschnittlich £ 80 (€ 115) als auch nach Bediirftigkeit gestaffelt; bei Arbeitslosen mit Erspamissen in Hohe von £ 8.000 und mehr wird die JSA nicht gewahrt. Arbeitsunfahigenhilfe wird jedoch bisher ohne Bediirtigkeitspriifling gezahlt. Die steigenden Kosten der „Arbeitsunfahigkeit" - £ 12 Mrd. (€ 17,4 Mrd.) im Fiskaljahr 2004/2005 haben die Blair-Regierung inzwischen dazu bewogen, den vermeintlichen MiBbrauch des IB-Systems rigoros zu begrenzen. Nach Pilot-Projekten in einigen Bezirken will man das IB-System einem ahnlichen Aktivierungsprogramm unterziehen wie bei der Arbeitslosenhilfe - mit personlichen Beratem, Umschulung, Wiedereingliederungshilfen und eventuell befristeten Leistungen (BBC News: 03.01.2006). Dieser geplanten Reform steht aber ein betrachtlicher Widerstand gegeniiber, hauptsachlich von Labour-Hinterbanklem, deren Wahlkreise besonders hohe Zahlen von IB-Empfangem aufweisen, die aber auch aus prinzipiellen Griinden eine Verscharfung des ohnehin stark diskretionaren Elements bei der Wohlfahrtsverwaltung ablehnen. Diese und andere strittige Sozialreformen im Bildungsund Gesundheitswesen werden sich dementsprechend moglicherweise nur mit der parlamentarischen Unterstiitzung der konservativen Opposition durchsetzen lassen. Die derzeitige Konstellation einer gemeinsamen Front zwischen dem New Labour-Kabinett und einer verjtingten und erfrischten Opposition der Konservativen unter Fiihrung David Camerons kann nicht iiberraschen; beide besetzen ahnliches wirtschafts- und sozialpolitisches Terrain. Eine solche Konstellation ist aber weniger die logische Konsequenz eines „Trends zur Mitte hin" als vielmehr die Allianz zweier populistischer Parteiapparate, die einen extremen Neoliberalismus durch die zynische Rhetorik der „Inklusion" und der „Eigenverantwortung" schmackhaft machen wollen. Bei aller Vagheit des alten Wohlfahrtskeynesianismus, konnte man den ehemaligen Parteifiihrem der Labour Party und auch
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der Partei der Konservativen doch einen gewissen Umverteilungswillen zugunsten der armeren Volksschichten nicht abstreiten. Zwei Weltkriege und das Elend der GroBen Depression hatten starke Spuren eines sozialen Gewissens in der politischen Elite GroBbritanniens bis in die 1970er Jahre hinein hinterlassen. Nicht ob umverteilt werden soUte, sondem wieviel, war der Konfliktstoff der britischen Politik unter Macmillan, Wilson, Heath und Callaghan. Dagegen bezweckte der Neoliberalismus vor allem Umverteilung zugunsten des Kapitals als vermeintlich notwendige Basis fur die Bekampfung der Wachstumsschwache und als Vorbedingung fur die Schaffung von Arbeitsplatzen. Die tatsachliche (und politisch erwiinschte) Senkung der bereinigten Brutto- und Netto-Lohnquote in alien OECD-Landem in den 1980er und 90er Jahren sollte die Vorbedingung fur einen circulus virtuosus sein, bei dem hohere Profite zu hoheren Investitionen flihren wiirden, die wiederum entsprechend neue Wachstums- und Beschaftigungsmoglichkeiten schaffen wiirden. Die Rechnung ging aber nicht auf, denn die hoheren Profite wurden nur zu einem Bruchteil in neue produktive Anlagen investiert. Der Lowenanteil diente entweder dem Erwerb von Finanztiteln oder der Finanzierung von Ubemahmen und Fusionen. Die politische Logik des Neoliberalismus entsprach damit in keiner Weise der Logik des Kapitals: Devisenspekulationen, Ubemahmen und Fusionen zerstorten bestehende Arbeitsplatze, statt daB sie neue schufen. Die „Liberalisierung" von Markten auf globaler Ebene forderte vielmehr den aggressiven Erwerb von Marktanteilen durch die Neutralisierung von Konkurrenten durch deren Aufkauf, und die tatsachlichen produktiven Investititionen dienten weniger der Beschaftigungsexpansion als der Reduktion der Arbeitsintensitat durch die Erhohung der Arbeitsproduktivitat. Das Schroder-Blair-Papier von 1999 driickt den Wunsch nach einer „wirkliche[n] Partnerschaft bei der Arbeit" und nach einem „fortlaufenden Dialog mit den Sozialpartnem" (Blair/Schroder 1999) aus, ignoriert dabei aber die fundamentale Asymmetric im Verhaltnis zwischen der Macht des hoch mobilen Kapitals und der relativen Machtlosigkeit der territorial gebundenen Arbeit. Die „Chance, die Fruchte des Erfolgs mit den Untemehmem zu teilen" (Blair/Schroder 1999), hangt in hohem MaBe von der Bereitschaft des Untemehmens und dessen Aktionaren ab, auf „Outsourcing" zu verzichten. Der anhaltende Trend zum Outsourcing auf seiten britischer Banken, Fluggesellschaften und Versorgungsuntemehmen zeugt allerdings von einem ziemlich begrenzten Willen zur Partnerschaft. Angesichts der Plane der Blair-Regierung, diesem Trend zu folgen und zigtausende von Stellen im offentlichen Dienst durch billigeres Outsourcing in Obersee zu streichen (Guardian vom 24.01.2006), klingt der Ruf nach Partnerschaft und Teilhabe ziemlich hohl. Im Kontext der scheinbaren Altemativlosigkeit einer deregulierten britischen Wirtschaft behalt der Appell an die Eigenverantwortung - das Kemelement der staatlichen „Aktivierung" - trotz allem eine starke Uberzeugungskraft in der Vorstellungswelt weiter Telle der Bevolkerung, well er erstens das Selbstwertgefuhl der Erwerbstatigen als selbstverantwortliche Individuen bestatigt und well er zweitens das Ende der Wohlfahrtsabhangigkeit durch die Teilnahme an der bloBen Welt der Arbeit als individuelle Leistung psychisch kront. In einer Gesellschaft, in der diese Abhangigkeit durch die Medien vorwiegend als parasitar dargestellt wird und Erwerbslosigkeit als personliches Scheitem stigmatisiert wird (Golding 1999), scheint jede Art von Arbeit besser als keine. Individual- und sozialpsychologisch schlagt das Gerede von der Selbstverantwortung also genau in die richtige Kerbe. Die Forderung und Forderung von Eigenverantwortung klingt ebenfalls im Abstrakten
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gerecht. Das Verlogene an den Reformen von New Labour aber ist die Tatsache, daB die bloBe Teilnahme am Wettbewerb des Arbeitsmarkts und die nominale Teilhabe am Wirtschaftsprodukt als hochste Ziele einer modemen, sozialdemokratischen Wirtschafts- und Sozialpolitik dargestellt werden. Der Begriff „Gleichheit" kommt fast nur noch in Kombination mit „Chancen" zum Ausdruck; Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit werden rhetorisch haufig gepaart (Hutton 2006; Schroder/Blair 1999; Brown 1997), soziale Gerechtigkeit mit „Teilhabe-Gerechtigkeit" gleichgestellt. Von wirklichen Versuchen zur Herstellung einer (zumindest etwas) groBeren Verteilungsgerechtigkeit in der britischen Gesellschaft hat man sich langst verabschiedet. Der „dritte Weg" scheint tatsachlich „die beste ideologische Schale des Neoliberalismus" zu sein (Anderson 2000: 11), indem das einfache „Mitmachen-durfen" als Inklusion verkauft wird und die verbleibenden Machtverhaltnisse voUig ignoriert werden. Die Kehrseite der individualisierten „Aktivierung" ist eben die Atomisierung der lebendigen Arbeit in einer Marktsituation, in der seit mindestens drei Jahrzehnten das Angebot an „Humankapital" die Nachfrage nach Arbeit deutlich iibertriffl. Produktivitatssteigerungen verstarken diesen Trend, verstarken also die Nachfragemacht der Arbeitgeber. Der Trend dient den Interessen des Kapitals und ohne politische „Aktion" widerspricht er dem Imperativ der Verteilungsgerechtkeit. Aktivierung beeinfluBt diesen Trend in keiner Weise. Der Appell an die Eigenverantwortung entspricht der Wahmehmung einer nach individuellen Konsummoglichkeiten gesteuerten UberfluBgesellschaft und wird zudem von einer obsessiven Betonung der personlichen Wahloptionen in den New Labour-Reformen von Bildungs- und Gesundheitswesen verstarkt (Ashley 2005). Hier aber zeigt sich einer der vielen Widerspruche der Blairschen Heilslehre. Der Erfolg der „Teilhaber" bemiBt sich in GroBbritannien vor allem am Volumen der konsumierten Giiter und Dienstleistungen sowie an der Fahigkeit, sich die jeweils gerade im Trend liegende, neueste „Marke" leisten zu konnen; die kontinuierliche Modifizierung der Modelle bei PKW z.B. nahrt sich bekanntermaBen in hohem MaBe vom Vorzeigefetisch qua conspicuous consumption, also dem demonstrativen Konsum im Sinne offentlicher Zurschaustellung. Der Nicht-Besitz der „richtigen" Trainingsschuhe, der „coolsten" Jeans oder des modemsten Mobiltelefons wird in einer UberfluBgesellschaft mit groBen Einkommensdisparitaten zum Zeichen (Stigma) der relativen Armut. Die brutale Kehrseite des britischen „Teilhabe-Paradieses" reflektiert eben diese taglich erlebten Disparitaten: eine hohe Kriminalitatsrate (insbesondere Gewaltverbrechen und Jugendkriminalitat) und hohe Ziffem an Inhaftierten findet man nicht zufallig in einem Land mit einem Gini-Koeffizienten von 36,8.
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Tabelle 2: Einkommensungleichheit, Gefangnisinsassen, Kinderarmut und Arbeitslosigkeit im intemationalen Vergleich Gefangnisinsassen pro 100.000 Einwohner
Einkommensverteilung (GiniKoeffizient)
Kinder in Haushalten nfiit weniger als 50% des durchschnittlichen Einkommens
Arbeitslosenquote in % der EnA/erbsbevolkerung
25,0 2,4 59 4,9 25,0 4,2 68 4,5 96 30.0 10,2 9.3 15,4 GB 139 36,8 4,8 40,8 USA 686 21.9 5,1 Quellen: National Statistics 2006; CIA World Factbook 2003; UNICEF 2005; OECD 2005. Danemark Schweden Deutschland
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Fazit: der britische Weg - keiner fiir Deutschland!
Es darf vor dem Hintergrund der genannten Daten und Fakten nicht verwundem, daB der in Deutschland anzutreffende Enthusiasmus flir New Labours aktivierenden „dritten Weg" in den verbliebenen Refugien der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Vemunft Deutschlands auf Skepsis und Stimrunzeln stoBt: „In Europa waren da weniger GroBbritannien oder Irland (...) die Vorbilder fur Deutschland als Schweden, Danemark, die Niederlande und Finnland. Diese Lander sind das wahre ,neue Europa', das Konsolidierung mit sozialem Zusammenhalt und Modemisierung verbindet" (Dauderstedt 2003: 13; vgl. auch Butterwegge 2005: 267ff.). Diesem Urteil kann man nicht nur im Hinblick auf die tatsachlichen Gegebenheiten im angeblichen Modelland GroBbritannien beipflichten, sondem auch in bezug auf die Frage, ob das sogenannte britische Modell zur Reform einer Wirtschafts- und Sozialordnung wie derjenigen Deutschlands paBt, die in so vieler Hinsicht ganz verschieden ist. Deutschlands gesellschaftliche Institutionen sind zweifellos reformbedurftig, aber sie bediirfen gerade Reformen, die den spezifischen Starken und Schwachen der deutschen politischen Okonomie Rechnung tragen. Die wissensintensive, innovationsabhangige Produktions- und Handelskultur Deutschlands, die vom hohen fachlichen Konnen der Arbeitskrafte, der F&ETeams, des Mittelstandes, des Kundendienstes, der AuBenhandelskonsortien und vielem anderem mehr abhangig ist, wird von marktradikalen Aktivierungsexperimenten angelsachsischer Provenienz und von einer weiteren Umverteilung zugunsten des Kapitals nicht profitieren. Die tiefliegenden demographischen Probleme lassen sich auch nicht durch Sozialabbau und Einschiichterung losen. Vor allem aber ist der neoliberale Marktradikalismus GroBbritanniens mit seinem im intemationalen Vergleich billigen und schwachen Sozialstaat nur Gift angesichts der kolossalen Herausforderungen der deutsch-deutschen Vereinigung (Leaman 2005). Die anhaltende Vereinigungskrise wurde allzu oft und allzu zynisch als Vehikel fiir die pauschale Verurteilung der sogenannten „Vollkasko-Mentalitat" deutscher BUrger/innen und fur die entsprechend pauschale Reform des deutschen Sozialstaats miBbraucht, anstatt ein langfristig koordiniertes, strukturpolitisches Krisenmanagement durchzusetzen. Die Kombination aus sturem Monetarismus und blindem Neoliberalismus in den ersten Jahren der Vereinigung und die darauf folgende Vemachlassigung der Inlandsnachfrage waren katastrophal, nicht nur ftir Deutschland, sondem auch fiir Europa. Eine 267
weitere Dosis dieses Gifts - mit oder ohne verlogene Rhetorik der „Inklusion" - konnte wirtschaftlich und sozial todlich sein. Statt daB man die Verteilungsfrage als hinderliche Irrelevanz beiseite schiebt und groBere soziale Ungleichheit nach Rawlsscher Manier als pareto-optimal rechtfertigt, miiBte den kritischen Stimmen groBeres Gehor geschenkt werden, welche die ungleiche Verteilung der Einkommen, des Vermogens, der Ressourcen, des Wissens, der Bildung, der medizinischen Versorgung und der Hoffnung ins Zentrum des gesellschaftlichen Diskurses stellen. Trostlich ist, daB es diese kritischen Stimmen nach wie vor gibt - Dieter EiBel gehort dazu. In der Forschung, in der Lehre und auch in der politischen Praxis wurden seine Bemiihungen ganz wesentlich von der Einsicht getragen, daB wachsende Ungleichheit national wie international dem Gemeinschaftssinn schadet und den Konflikt fordert. Ohne diese kritischen Stimmen und ohne Verteilungsgerechtigkeit geht es in die Barbarei zuriick.
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269
Christine Stelzer-Orthofer /Johann Backer
Sozialabbau und Neokonservativismus in Osterreich
1
Umbau und Abbau des osterreichischen Wohlfahrtstaates
Wie in alien Landem westlichen Wohlfahrtstypus fanden auch in Osterreich in den letzten Jahr(zehnt)en umfangreiche gesellschafts- und sozialpolitische Anderungen statt. Erste Ansatze dazu wurden bereits Mitte der 1990er Jahre vor dem Hintergrund der sogenannten „Krise des Sozialstaats" mit dem Ziel der Budgetkonsolidierung zur Erreichung der Maastricht-Konvergenzkriterien umgesetzt. Einsparungen im offentlichen Dienst durch die Reduktion der Dienstposten und SparmaBnahmen an den Universitaten wurden ebenso vorgenommen wie beispielsweise Leistungsktirzungen in der Pensions- und Arbeitslosenversicherung sowie bei familienpolitischen Transfers (Rofimann 1995; WISO 1996). Bis zum historischen Jahr 2000, in dem nach 30 Jahren die federftihrende Regierungsbeteiligung der Sozialdemokratischen Partei Osterreichs (SPO) von einer Regierungskoalition der Osterreichischen Volkspartei (OVP) und der Freiheitlichen Partei Osterreichs (FPO) abgelost wurde, waren diese Anderungen meist durch den Konsens jener beiden groBen Parteien (SPO und OVP) getragen, die in der Summe betrachtet die iiberwiegende Mehrheit der osterreichischen Bevolkerung hinter sich wuBten. Die neue „schwarz-blaue" Bundesregierung, im Jahr 2000 gerade einmal mit 53,8% der Wahlerstimmen ausgestattet (Plasser/Ulram 2006: 560), wurde nicht nur von vielen demokratischen Kraften im Inland skeptisch betrachtet. Vorbehalte und MiBtrauen, insbesondere wegen rechtspopulistischer und auslanderfeindlicher Parolen der FPO, begriindeten die mehrere Monate dauemden EU-Sanktionen, jene kurz nach der Regierungsbildung verhangten MaBnahmen der anderen EU-Lander, „denen zufolge die bilateralen Kontakte eingefroren und keine osterreichischen Kandidaten mehr in Internationale Organisationen aufgenommen werden sollten" (Gehler 2006: 47) und die im nachhinein als kontraproduktiv zu bewerten sind, da sie zum einen den intensiveren Zusammenhalt der Regierungsparteien und zum anderen Solidarisierungseffekte auch vom regierungskritischen Lager bewirkten. Dennoch bescherte die durch die vorzeitige Beendigung der Koalition im Jahr 2002 notwendige Neuwahl den beiden Parteien lediglich 52,3% der Wahlerstimmen (Plasser/Ulram 2006: 560). Durch diese nunmehr insgesamt seit sieben Jahren agierende rechts-biirgerliche oder auch Mitte-rechts-Regierungskonstellation wurden sowohl in der Programmatik als auch in der Gesetzgebung neue Akzentuierungen gesetzt, die sich mit dem Begriff eines Paradigmenwechsels beschreiben lassen: Deregulierung und Privatisierung, Familialismus statt Genderpolitik, Treffsicherheit (sprich: Sozialabbau) statt umfassende soziale Sicherheit (Gehler 2006: 49). Beispielhaft dafur seien der Verkauf von vormals (im iiberwiegenden AusmaB) im staatlichen Eigentum stehenden Betrieben (z.B. voestalpine, PSK) genannt oder auch die in groBem Tempo und ohne Einbindung der Sozialpartner beschlossenen, mit einschneidenden Leistungsktirzungen verbundenen Reformen der Pensionsversicherung (Talos 2005: 61-66). 271
Nicht zuletzt sei noch auf die massiven SparmaBnahmen im gesamten Bildungsbereich, unter anderem auf die Einftihrung von Studiengebuhren an den osterreichischen Universitaten, verwiesen. Die Anderung der beitragsfreien Mitversicherung in der Krankenversicherung bei Kinderlosigkeit, die Einftihrung des Kinderbetreuungsgeldes auf die Auswirkungen zur Erwerbstatigkeit von Miittem sowie die primar vom MiBbrauchsverdacht getragenen Anderungen fiir die Inanspruchnahme von Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung werden exemplarisch im folgenden etwas genauer dargelegt, da sie sich hinsichtlich ihrer Intention - wenn auch zum Teil versteckt - deutlich von MaBnahmen aus der Zeit vor dem Jahr 2000 unterscheiden: Anderung der beitragsfreien Mitversicherung in der Krankenversicherung War es bis zum Jahr 2000 moglich, den nicht erwerbstatigen Lebens- oder Ehepartner in der gesetzlichen Krankenversicherung beitragsfrei mitzuversichem, wurde - als eine der ersten MaBnahmen der neuen Regierung - diese Moglichkeit fur Kinderlose abgeschafft, wiewohl Untersuchungen zeigen, daB mehr als die Halfte aller bis zu diesem Zeitpunkt mitversicherten Personen ohne eigenes Kind dem unteren Einkommensdrittel zuzurechnen sind (Wohlfahrt 2001: 317-318). Bestatigt wird dies durch eine Erhebung bei den osterreichischen Krankenversicherungstragem (Kamleitner 2003: 95), die zeigt, daB mehr als die Halfte der nun beitragspflichtigen Mitversicherten ein Bruttohaushaltseinkommen von unter 1.400 Euro aufweisen. Am bislang vorrangigen Ziel der osterreichischen Gesundheitspolitik, moglichst alle zu gleichen Bedingungen in die gesetzliche Krankenversicherung einzubinden, wird zum einen aus finanziellen Erwagungen sowie zum anderen aus demographischen Griinden nicht mehr festgehalten. Da die diesbeziiglichen zusatzlichen Einnahmen der Krankenversicherung deutlich unter den Erwartungen liegen und eher bescheiden ausfallen (Kamleitner 2003: 87), kann die Abschaffiing der beitragsfreien Mitversicherung als weiterer Baustein zur Re-Privatisierung sozialer Risiken sowie als „Bestrafiing" kinderloser Frauen angesehen werden, da 9 von 10 beitragspflichtig Mitversicherten weiblich sind. Kinderbetreuungsgeld Dem Wahlkampf 1999 gebiihrt „in geschlechterpolitischer Hinsicht die Etikette Familienwahlkampf (Rosenberger 2006: 750), ein Wahlkampf, der sich in der Folge in der Einftihrung des Kinderbetreuungsgeldes niedergeschlagen hat. Dieses hat das vormals sozialversicherungsabhangige Karenzgeld, das als - wenn auch niedrige - Lohnersatzzahlung durch die Unterbrechung der kinderbedingten Erwerbstatigkeit konzipiert war, abgelost. Somit kam es zu einer Entkoppelung von der Erwerbsarbeit, da das Kinderbetreuungsgeld unabhangig von Versicherung und Erwerbstatigkeit in Anspruch genommen werden kann. Sozialpolitisch kann dies zum einen insofem positiv gesehen werden, als der Kreis der Bezieher ausgeweitet, eine beachtliche Verlangerung der Bezugsdauer sowie die Erhohung der Zuverdienstgrenzen festgelegt wurden. Dennoch belegen mittlerweile erste Evaluierungen zum Kinderbetreuungsgeld die von Kritikem erwarteten Befiirchtungen, daB Miitter - entgegen den Proklamationen der Regierung - nun langer dem Erwerbsarbeitsmarkt den Riikken kehren (Lutz 2004: 30-31). So gesehen wird wenig auf eine aktive Gleichstellungspoli-
272
tik abgestellt, vielmehr kommt es zu einer Familialisierung der Sozialpolitik, „der Familie in Gestalt der Mutter mit Kleinkind (wird) politische Prioritat gegeniiber strukturellen MaBnahmen der Gleichstellung gegeben" (Rosenberger 2006: 752). Restriktionen in der Arheitslosenversicherung Schon im Rahmen der Budgetkonsolidierung der 1990er Jahre kam es zu einer tendenziellen Senkung der Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung durch die Ausdehnung des Bemessungszeitraums, durch eine veranderte Bemessungsgrundlage, durch die Kiirzung der Notstandshilfe und durch die Erhohung der Sperrfrist von vier auf sechs Wochen bei Arbeitsverweigerung (Stelzer-Orthofer/Mendler 1998: 297). Entsprechend dem gemeinsamen schwarz-blauen Bekenntnis zur „Erhohung der sozialen Treffsicherheit", das zugleich MiBbrauch sozialer Leistungen verhindem soil, kam es neuerlich zu Restriktionen fur Bezieher von Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung. Kontrollen und Sanktionen wurden nochmals verscharft, das Leistungsniveau auf 55% Nettoersatzrate gesenkt, die Anwartschaft bei wiederholter Inanspruchnahme von 26 auf 28 Wochen verlangert (Talos 2006: 635). Ebenso wurde eine vierwochige Sperrfrist flir Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung bei Selbstkiindigung eingefahrt. Die erfolgten Einschrankungen und der begonnene Umbau zu einem „schlankeren" osterreichischen Sozialstaat werden - wie auch in Deutschland - okonomisch begriindet. Aber nicht nur EiBel (1997) hat schon in den 1990er Jahren flir Deutschland darauf aufmerksam gemacht, daB die ange^hrten Begrundungen vielfach empirisch nicht haltbar sind und der Abbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen viel weniger okonomisch notwendig, als ideologisch motiviert ist. Der Abbau steht in der Tradition der neoliberalen Sozialstaatskritik, in der in entwickelten Wohlfahrtsstaaten ein UbermaB an sozialer Sicherheit konstatiert wird, das wirtschaftliche Dynamik und Eigeninitiative schwacht. Soziale Leistungen und bestehende Strukturen des Wohlfahrtsstaates werden dabei „flir beinahe alle LFbel dieser Welt verantwortlich" gemacht (Butterwege 2005: 80). Der Umbau des osterreichischen Sozialstaats orientiert sich an neoliberalen und neokonservativen Politikkonzepten und zielt auf einen entschlackten Sozialstaat ab (StelzerOrthofer 2001). Ob dies u.a. zu einer Zunahme von neoliberalen bzw. neokonservativen Einstellungen bei der osterreichischen Bevolkerung geflihrt hat, soil im nachfolgenden empirischen Teil auf der Basis des Sozialen Surveys Osterreichs (SSO, Schulz/Haller/Grausgruber 2005) gepruft werden. Der SSO ist - vergleichbar dem ALLBUS - eine in regelmaBigen Abstanden durchgefiihrte sozialwissenschaflliche Mehrthemenumfrage. Daten sind verfagbar flir die Jahre 1986, 1993 und 2003, also etwa flir die letzten zwanzig Jahre. Befragt werden jeweils ca. 2000 in Osterreich lebende Personen ab 16 Jahren. 2
Neokonservatives und neoliberales Denken in Osterreich
Einen Schwerpunkt sozialwissenschaftlicher und politologischer Untersuchungen bildete in den letzten Jahren das Erstarken rechtspopulistischer und rechtsextremer Bewegungen und Parteien. Vielfach wird dabei angenommen, daB „Modemisierungsverlierer" rechtsextreme
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Einstellungen und Verhaltensweisen entwickeln. Diese einfache Kausalkette ist empirisch nicht haltbar: Die NDP beispielsweise wird nicht nur aus Protest, sondem auch aus rechter Uberzeugung gewahlt und letztere ist unabhangig von der eigenen Wirtschaftslage (Bacher 2001). Die umgekehrte Frage, ob durch die sozialpolitischen Reformen der letzten Jahre das neokonservative und neoliberale Denken in Osterreich bei den „Modemisierungsgewinnem", also den hoher Gebildeten und den beruflich Erfolgreichen, zugenommen hat, oder ob neokonservative und neoliberale Einstellungsanderungen vorausgingen, wurde bisher noch nicht empirisch untersucht. Ausgehend von den USA in den 1960er Jahren gewann der Neokonservativismus auch in Europa schrittweise an Bedeutung. Wiewohl er keine in sich geschlossene Theorie anzubieten hat (Fetscher 1983; Habermas 1985), kann die Verkniipfiing von wertkonservativen mit neoliberalen Denkweisen als zentrales Charakteristikum angesehen werden. Dies fiihrt dazu, daB Werte wie Familie, Staat, Heimat, Nation, Religion usw. geschatzt werden. Im Unterschied zum Konservativismus alter Pragung wird ein weitgehender Riickzug des Staates auf seine klassischen Sicherheitsaufgaben gefordert und damit eine neoliberale Position eingenommen. Im Unterschied zum Neoliberalismus vertritt der Neokonservativismus zu Lebensformen, zu Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der Kultur rigide traditionelle Auffassungen. Zwischen dem (Neo-)Konservativismus einerseits und dem Rechtspopulismus und -extremismus (Benz 1994: 14; Heitmeyer 1989: 206; Jager/Jager 1999: 66-68) andererseits gibt es Uberschneidungen, aber auch deutliche Unterschiede. In beiden Stromungen sind Werte wie Familie, Staat, Heimat und Nation positiv besetzt. Im Unterschied zum Neokonservativismus wird im Rechtsextremismus aber eine auf Ethnien, Rassen und Nationen bezogene Gleichheitsideologie - bei gleichzeitiger Ungleichheit zwischen den Nationen vertreten. Im Neokonservativismus dagegen wird Ungleichheit innerhalb einer Nation, wie z.B. schichtspezifische Ungleichheit, als gegeben und fiinktional betrachtet. Erziehung der Kinder und Jugendlichen ist im Rechtsextremismus Aufgabe des Staates, im Neokonservatismus wird sie der Familie zugeordnet. Staatliche Eingriffe, die iiber die Sicherheitsaufgaben hinausgehen, sind mit rechtsextremen Positionen vereinbar, werden im Neokonservatismus abgelehnt. Charakteristisch ftir rechtsextremes Denken sind die Ablehnung der Demokratie und die Befurwortung von Gewalt. Neokonservative Positionen vertreten dagegen eine elitare Vorstellung von Demokratie, derzurfolge die geistige (und wirtschaftliche) Elite eines Landes ein groBeres Gewicht bei der politischen Meinungsbildung haben sollte. SchlieBlich vertreten rechtsextreme Positionen eine Distanz zu Kirchen, Neokonservative halten dagegen eine starke Kirche ftir wichtig. Untersucht man anhand der auf der Basis des Sozialen Survey verftigbaren Items, inwiefem neokonservatives Denken in Osterreich in der Bevolkerung verbreitet ist, ergibt sich das in der Tabelle 1 dargestellte Bild. Einschrankend ist dazu vorab anzumerken, daB nicht alle oben genannten Aspekte des neokonservativen Denkens erfragt wurden. Die Analyse stiitzt sich daher auf Einstellungen zu GeschlechterroUen und zu sozialstaatlichen Aufgaben. Erstere decken die wertkonservativen Elemente des Neokonservativismus ab, letztere die neoliberalen Argumente. Zusatzlich einbezogen wurden Kirchgangshaufigkeit, Autoritarismus sowie die Einstellung zum Mythos „vom Tellerwascher zum Millionar". Fiir die einzelnen Jahre sind inhaltliche Verschiebungen erkennbar: Im Vergleich zu 1986 und 1993 hat im Jahr 2003 bei der Gruppe der Neokonservativen beispielsweise die
274
Zustimmung, daB es „Aufgabe des Mannes ist (...) Geld zu verdienen, die der Frau, sich um Haushalt und Familie zu kummem", abgenommen, sie liegt dennoch deutlich hoher als bei der Gesamtheit der Befragten.^ Die tendenzielle Ablehnung von „Eine berufstatige Mutter kann ein genauso herzliches Verhaltnis zu ihren Kindem finden wie eine Mutter, die nicht berufstatig ist", macht deutlich, daB der Erwerbstatigkeit von Miittem ambivalent begegnet und der traditionellen Frauenrolle nach wie vor der Vorzug gegeben wird. Die Gruppe der osterreichischen Neokonservativen zeichnet sich zudem durch eine deutlich hohere und weitgehend konstante Zustimmung zwischen 1986 und 2003 zu Leistung und sozialem Aufstieg („Jeder, der sich wirklich anstrengt, hat bei uns die Chance, hoch hinauf zu kommen") aus. Tabelle 1: Mittelwerte zur Zustimmung und Ablehnung zu den untersuchten Indikatoren fur Neokonservatismus alle Items 1986 1993 2003 Eine berufstatige Mutter kann ein genauso herzli1,9 1.8 1,7 ches und vertrauensvolles Verhaltnis zu ihren Kindern finden wie ein Mutter, die nicht berufstatig ist[HERZVERH](a) 2.2 2,4 Die Aufgabe des Mannes ist es, Geld zu verdie1,8 nen, die der Frau, sich um Haushalt und Familie zu kummern [ZUHAUSE] (a) Wenn es aus finanziellen Grunden nicht unbedingt 1,2 1,4 1,5 erforderllch ist, sollte eine Frau zu Hause bleiben [FINGRUND] (b) 2,2 Jeder, der sich wirklich anstrengt, hat bei uns die 2,3 2,1 Chance, hoch hinauf zu kommen [CHANCE] (a) Viele Dinge funktionieren besser, wenn einer 1,6 1,7 1,4 befiehit und die anderen gehorchen[BEFEHL] (b) Der Staat sollte einen Arbeitsplatz fur jeden bereit1,7 1,9 1,7 stellen, der arbeiten will [ARBEITSPLATZE] (a) 2,2 Der Staat sollte die Einkommensunterschiede 1,8 1,8 zwischen Arm und Reich abbauen [UMVERTEILUNG] (a) haufiger Kirchgang (einmal im Monat oder ofters) 3,9 4,0 4,1 [KIRCHGANG] (c) (a) Skala von 1 (stimme vol! und ganz zu) bis 4 (stimme iiberhaupt nicht zu) (b) Skala von 1 (stimme zu) bis 2 (stimme nicht zu) (c) Skala von 1 (wochentlich und mehrmals in der Woche) bis 6 (nie)
Neokonservative 1986 2003 1993
2,7
2,7
2,3
1,4
1,3
2.0
1.1
1.1
1,2
1,9
1,6
1.9
1,3
1.4
1.4
2,0
2,1
2,4
2,5
2,2
2.6
2,8
2,6
2,4
Neutral wird staatliches Agieren ftir eine gerechtere Einkommensverteilung zwischen Arm und Reich bewertet. Hier zeigen sich neben der Haufigkeit von Kirchenbesuchen, die entsprechend der Ausgangsuberlegung von Neokonservativen ungleich ofter erfolgen, die groBten Abweichungen zur Gesamtgruppe. Umgekehrt zeigt sich, daB sozialstaatliche Aufgaben, wie beispielsweise die Bereitstellung von Arbeitsplatzen, von den osterreichischen Neokonservativen 1986 und 1993 tendenziell noch befurwortet wurden, wahrend dies im Zum methodischen Vorgehen siehe Anhang A.
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Jahr 2003 - entgegen des Grofiteils der Bevolkerung - von einer neutralen Einstellung abgelost wurde. Deutliche Unterschiede zeigen sich auch beim Autoritarismus: Wahrend die Gesamtheit der Osterreicher die Aussage „Viele Dinge funktionieren besser, wenn einer befiehlt und die anderen gehorchen" eindeutig ablehnt, zeigt sich eine diesbeziiglich neutrale Position mit einer leichten Zustimmungstendenz bei den Neokonservativen. FaBt man die Einzelitems zu einem Gesamtpunktwert zusammen (siehe Anhang A), so zeigt sich, daB neokonservative und neoliberale Einstellungen zwischen 1986 und 2003 abgenommen haben: 1986 betrug der Anteil der dem neokonservativen Lager zuzuordnenden Osterreichem 27,2%, er sank im Jahr 1993 auf 14,9% und im Jahr 2003 auf 10,9%. Die Abnahme zwischen 1986 und 2003 ging mit einer allgemeinen Abschwachung eines konservativen Frauenbildes in der osterreichischen Bevolkerung einher (Schulz/Hummer 2005: 352). Zugute kam ihr ein weiterer Trend, namlich eine nach wie vor bestehende - allerdings nicht mehr durchgehende - Wertschatzung bei einzelnen sozialstaatlichen Leistungen (Grausgruber 2005). Eine Bestatigung dafur, daB neokonservative Einstellungsmuster in hoheren Bildungsund Berufsschichten generell haufiger auftreten, laBt sich empirisch nicht nachweisen: Zwischen der abgeschlossenen Schulbildung und dem Berufsprestige bestehen keine signifikanten Zusammenhange mit dem Neokonservativismus. Deutlich erkennbar wird jedoch ein durchgehend signifikanter Zusammenhang fur das Alter (Tabelle 2): Altere befiirworten zu alien Befragungszeitpunkten haufiger neokonservative Auffassungen. Im Jahr 2003 ergibt sich aber eine starkere Polarisierung zwischen den Altersgruppen: Wahrend von den bis 55jahrigen 3%o bzw. 9% dem neokonservativen Lager zugerechnet werden konnen, sind es in der Gruppe der iiber 55jahrigen 21%. Tabelle 2: Neokonservatives Denken in Abhangigkeit vom Alter Anteil Neokonservativer Altersgruppe
1986
1993
2003
16-29Jahre
20,5%(n=219)
5,2% (n=232)
3,1%(n=227)
30-55Jahre
26,8% (n=328)
15,2% (n=336)
8,6% (n=509)
56 Jahre und alter
34,2% (n=222)
24,3% (n=230)
20,8% (n=293)
gesamt
27,2% (n=769)
14,9% (n=798)
10,9% (n=1029)
Cramers V
0,157 (p<0,1%)
0,205 (p<0,1%)
0,213 (p<0,1%)
Lesehilfe: 20,5% der 16- bis 29-Jahrigen konnen im Jahr 1986 als gemaBigte Neokonservative bezeichnet werden. Dieser Altersgruppe gehorten 1986 insgesamt 219 Falle an. Quelle: SSO 1986-2003 (Schulz/Haller/Grausgruber 2005), eigene Berechnungen. Damit einher geht ein statistischer Zusammenhang zwischen sozialem Status und neokonservativem Denken. Pensionare neigen 2003 in einem groBeren AusmaB zu neokonservativen Einstellungen als Personen mit einem anderen Status: Die Zustimmung in der sozialen Gruppe der Pensionare liegt bei mehr als 20,2%, bei den anderen Gruppen variiert sie zwischen 6,7%) (Lehrlinge, Selbstandige, Freiberufler), 7,4%o (Arbeitnehmer) und 10,2% (arbeitslose Menschen). Bei einer Detailanalyse fur die Gruppe der Pensionare zeigt sich ein Zusammenhang mit der Schulbildung. Pensionare mit hoherer Bildung fmden neokonservative Positionen attraktiver als jene ohne hohere Bildung: Die Zustimmung bei Pensionaren ohne Abitur liegt bei 16,6%o, bei jenen mit Abitur bei 40,0%). Da letztere Gruppe aber rela-
276
tiv klein ist (n=40), kann somit nur in der Tendenz die Vermutung, daB neokonservative Uberzeugungen von Personen mit hoherer Bildung vertreten werden, bestatigt werden. Beziiglich der Parteipraferenz zeigt sich fur alle drei Zeitpunkte, daB Befragte mit einer Praferenz ffir die OVP erwartungsgemaB neokonservativen Argumenten aufgeschlossener sind als andere Personen. 2003 kommen Personen mit einer Praferenz flir die FPO hinzu. Erklarbar ist dies durch die erwahnte Regierungsbeteiligung der FPO, die damit maBgebend am neoliberalen Umbau Osterreichs mitbeteiligt ist. 3
Strategien gegen den Neokonservativismus
In einem nachsten Analyseschritt wurde die von EiBel (1997) aufgeworfene Frage nach moglichen politischen Gegenstrategien untersucht. Dazu wurde die Annahme getroffen, daB sich diese klar vom Neokonservativismus abgrenzen miissen. Daher wurde angenommen, daB eine Gleichstellung der Geschlechter eindeutig befurwortet, Autoritarismus unmiBverstandlich abgelehnt und staatliche Verantwortlichkeiten in der Arbeitsmarkt- und Umverteilungspolitik eingefordert werden.^ Untersucht man die Akzeptanz einer derartigen Strategic, so ergeben sich die in Tabelle 3 wiedergegebenen Befunde. Aus den Ergebnissen ist ersichtlich, daB im Vergleich zu einem neokonservativen PoUtikprogramm seit 1993 der Gegenstrategie der Vorzug gegeben wird: Wahrend 1986 jeder dritte Befragte die Gegenstrategie attraktiv fand, stieg der Anteil im Jahr 1993 auf 52% und im Jahr 2003 auf 59%. Dieser Wandel seit 1993 ist - wie erwahnt - im Zusammenhang mit einer Modemisierung des Frauenbildes bei einer weitgehenden Akzeptanz einzelner sozialstaatlicher Leistungen zu sehen. Ob die in den ersten Jahren der Mitte-rechts-Regierung durchgefuhrten Reformen diesen Trend verstarkt oder abgeschwacht haben, laBt sich empirisch mit den vorliegenden Daten nicht bestimmen. Tabelle 3: Attraktivitat einer gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Gegenstrategie Attraktivitat einer gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Gegenstrategie nicht attraktiv unentschieden attraktiv gesamt
Im Vergleich zu einer neo-konservativen Position 1986 29,8% 36,9% 33,3% 100% (n=772)
1993 18,0% 29,7% 52,3% 100% (n=801)
2003 8,5% 32,2% 59,3% 100% (n=1031)
im Vergleich zu einer „Sowohl als auch-Politik" („Politik der Mitte") 1986 66,7% 32,9% 0,4% 100% (n=772)
1993 47,7% 50,3% 2,0% 100% (n=800)
2003 ^ 40,7% 58,4% 0,9% 100% (n=1031)
Lesehilfe: 1986 fanden 29,8% aller Befragten die angenommene Gegenstrategie nicht attraktiv. Fiir 33,3% war sie attraktiv, 36,9% waren unentschieden usw. Quelle: SSO 1986-2003 (Schulz/Haller/Grausgruber 2005), eigene Berechnungen, Cramers V fur Attraktivitat im Vergleich zur neokonservativen Politik = 0,186 (p < 0,1%), Cramers V fur Attraktivitat im Vergleich zu einer Politik der Mitte (Sowohl als auch-Politik) = 0,159 (p < 0,1%).
' Zum methodischen Vorgehen siehe Anhang A.
277
Wen konnte eine Politik, die sich gegen Neokonservatismus und Neoliberalismus wendet, ansprechen? Eine hohe Attraktivitat wiirde diese Politik bei Befragten mit einer Parteipraferenz fur die SPO und die Grtinen besitzen (siehe Tabelle 4): MiiBten sich SPO-nahe Personen zwischen einer neokonservativen Politik oder einer diesbeziiglichen Gegenstrategie entscheiden, so wiirden sich 65% fur die Gegenstrategie aussprechen. Bei den Anhangem der Griinen waren es sogar 75%. Aber auch Personen ohne Parteipraferenz konnten gewonnen werden sowie jeder zweite OVP- und etwa jeder dritte FPO-Sympathisant - unter der theoretischen Voraussetzung, daB lediglich zwischen der Alternative „neokonservative Politik" oder „Gegenstrategie" zu wahlen ist. Anzumerken ist, daB es realiter mehr als zwei politische Optionen gibt und sich fur andere Entscheidungsaltemativen abweichende Ergebnisse ergeben konnen (siehe unten). Die berichteten Befunde gelten nur fiir die analysierten Entscheidungsvarianten. Wahrend zwischen der Parteipraferenz und der Attraktivitat der angenommenen Gegenstrategie ein statistisch nachweisbarer Zusammenhang besteht, gilt dies nicht fiir die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft: Gewerkschaftsmitglieder und Nicht-Mitglieder unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Praferenzen in der betrachteten Entscheidungssituation nicht signifikant. Die Attraktivitat der Gegenstrategie liegt bei beiden Gruppen (Gewerkschaftsmitglieder und Nicht-Mitglieder) bei 57 bzw. 60%. Leichte Unterschiede gibt es beziiglich der Ablehnung der Gegenstrategie. Sie ist bei den Gewerkschaftsmitgliedem geringer. Tabelle 4: Attraktivitat einer Strategic gegen Neokonservativismus nach Parteipraferenz und Gewerkschaftsmitgliedschaft 2003 (Zeilenprozente) Attraktivitat der Gegenstrategie im Vergleicii zu einer neokonservativen Politik Parteipraferenz
nicht attraktiv
unentsciiieden
attraktiv
SPO (n=275)
4,0
30,9
65,1
OVP (n=202)
10,9
39,1
50,0
FP0(n=41)
19,5
51.2
29,3
Grune(n=104)
1,9
23,1
75,0
andere Partei oder keine (n=398)
10,3
30,2
59,9
5.9 9.5
37,1
57,0
30,8
59,7
Gewerkschaftsmitgliedschaft ja (n=256) nein (n=770)
Lesehilfe: Von den SPO-Anhanger/innen finden 2003 65,1% die angenommene Gegenstrategie attraktiv. Bei den OVP-Anhanger/innen sind es 50,0% usw. Quelle: SSO 2003 (Schulz/Haller/Grausgruber 2005), eigene Berechnungen, Cramers V fiir Parteipraferenz = 0,152 (p < 0,1%); Cramers V fiir Gewerkschaftsmitgliedschaft = 0,074 (n.s.). Da die OVP-FPO-Koalition ihre Politik als „Politik der Mitte" bezeichnet, wurde zusatzlich analysiert, wie attraktiv diese Politik im Vergleich zu der erwahnten Gegenstrategie ist. Kennzeichen dieser „Sowohl als auch-Politik" sind rhetorische Signale in unterschiedliche Richtungen, sie sind „uneinheitlich, widerspriichlich sowie oft beliebig" (Rosenberger/Schmid 2003: 105). MaBnahmen und diskursive Signale widersprechen sich nicht selten. Es wird der Eindruck erweckt, daB sowohl partnerschaftliche als auch traditionelle
278
Geschlechterrollenmodelle befiirwortet und politisch gefordert werden. In der Arbeitsmarkt- und Umverteilungspolitik wird bei bestimmten Anlassen staatliche Verantwortung eingefordert, in anderen Kontexten werden dagegen staatliche Eingriffe mit Verweis auf das bessere Funktionieren von Marktmechanismen abgelehnt. Diese ambivalente Politik besitzt zwar nach wie vor eine groBere Attraktivitat als die angenommene Gegenstrategie. Diese Attraktivitat hat aber deutlich abgenommen (vgl. Tabelle 3): Wahrend 1986 noch zwei Drittel der Befragten Sympathien fiir eine Politik der Mitte zeigten, waren es im Jahr 2003 nurmehr etwas iiber 40%. Die Mehrheit der Befragten ist nun unentschieden. Sie waren somit fiir eine Strategic gegen eine neokonservative Politik in Osterreich zu gewinnen. Dazu miiBte es gelingen, starker als bisher die neokonservativen und neoliberalen Ztige der Regierungspolitik herauszuarbeiten. 4
Fazit
In Osterreich fanden wie auch in anderen Landem Europas in den letzten Jahren umfangreiche Anderungen des Sozialstaates statt, die eine neokonservative Handschrift tragen. Beispielhaft dargestellt wurde dies fiir familienpolitische MaBnahmen, wie z.B. die Anderung der beitragsfreien Mitversicherung in der Krankenversicherung und die durch das Kinderbetreuungsgeld geforderte langere Erwerbsunterbrechung von Miittem. Wahrend diesen beiden MaBnahmen ein konservatives Familien- und Frauenbild zugrundeliegt, tragen andere Anderungen starker eine (neo-)liberale Handschrift, wie z.B. restriktivere Bestimmungen beim Bezug von Arbeitslosengeld. Diese werden mit dem Verweis auf MiBbrauch und negative Arbeitsmarkteffekte begrundet. In der Folge wurde die Frage untersucht, ob diese sozialpolitischen Reformen in Osterreich zu einer starkeren Akzeptanz des neokonservativen und neoliberalen Denkens in der Bevolkerung, insbesondere bei „Modemisierungsgewinnem", gefuhrt haben bzw. ob der Reformpolitik ein kultureller Wandel in Richtung Neokonservativismus vorausging. Es laBt sich zwar eine Gruppe bestimmen, die als neokonservativ bezeichnet werden kann. Diese Gruppe hat aber im Zeitverlauf deutlich abgenommen. 2003 konnen knapp 11% der Befragten als neokonservativ bezeichnet werden. Parallel dazu ist die Attraktivitat einer Politik, die sich als Gegenstrategie zum Neokonservativismus versteht, gestiegen. Diese Befimde legen die These nahe, daB den Reformen in Osterreich nicht ein umfassender kultureller Wandel in Richtung Neokonservativismus vorausgegangen ist, sondem daB der strukturelle Wandel der sozialen Sicherungssysteme „von oben" initiiert und bestimmt wurde, ohne daB eine breite Zustimmung in der Bevolkerung vorlag. Zu beachten ist allerdings, daB hier nur ein quantitativer Trend abgebildet wird, der sich auf einige Einstellungen stiitzt. Eine Primarerhebung, die sich auf die Erfassung von Neokonservativismus konzentriert, konnte allenfalls differenziertere Aussagen dazu ermoglichen, insbesondere wenn diese mit qualitativen Methoden erganzt ware. Damit konnte beispielsweise die Hypothese gepriift werden, ob es tatsachlich eine kleine Gruppe von Neokonservativen ist, die jedoch stark die Politikgestaltung beeinfluBt. Die Vermutung, daB „Modemisierungsgewinner" (Personen aus hoheren Bildungsund Berufsgruppen) eine groBere Nahe zum neokonservativen Denken haben, konnte empirisch nicht bestatigt werden. Die groBte Zustimmung ist bei alteren Personen gegeben. Eine
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deutlicher Zusammenhang besteht - wie erwartet - mit der Parteipraferenz: OVP- und ab 2003 FPO-Anhanger haben eine groBere Nahe zum neokonservativen Denken. Eine politische Gegenstrategie hatte durchaus Erfolgschancen. Ihr miiBte aber der Nachweis gelingen, da6 die derzeitige Politik entgegen deren Beteuerungen nicht in der Mitte steht und einen Ausgleich unterschiedlicher Positionen sucht, sondem eindeutige neokonservative und neoliberale Zuge tragt. Dies setzt eine intensivere ideologiekritische Auseinandersetzung mit dem Neokonservativismus voraus als dies derzeit der Fall ist. Erforderlich ist femer eine Sozial- und Politikforschung im Sinne von Dieter EiBel, die unter Beriicksichtung okonomischer Prozesse Fragen zur Chancengleichheit und zur sozialen Gerechtigkeit sowie zu Veranderungen der Lebensbedingungen kritisch untersucht.
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281
Anhang A: Spezifikation der untersuchten politischen Positionen Fiir die Analyse wurden drei politische Positionen definiert. Es handelt sich dabei um idealtypische Festlegungen, die in Reinform empirisch nicht auftreten. Fiir diese wurden folgende Mittelwertprofile in den betrachteten Variablen definiert:
HERZVERH ZUHAUSE FINGRUND CHANCE BEFEHL ARBEITSPLATZE UMVERTEILUNG KIRCHGANG
Neokonservative Position 4 (starke Ablehnung) 1 (starke Zustimmung) 1 (starke Zustimmung) 1 (starke Zustimmung) 1 (starke Zustimmung) 4 (starke Ablehnung) 4 (starke Ablehnung) 2 (drei Mai pro Monat)
Gegenstrategie 1 (starke Zustimmung) 4 (starke Ablehnung)) 2 (starke Zustimmung) 4 (starke Zustimmung) 2 (starke Zustimmung) 1 (starke Ablehnung) 1 (starke Ablehnung) - nicht einbezogen -
„Sowohl als auch-Politik" (PolitikderMitte) 2,5 (Zu- und Abstimmung) 2,5 (Zu- und Abstimmung) 1,5 (Zu- und Abstimmung) 2,5 (Zu- und Abstimmung) 1,5 (Zu- und Abstimmung) 2,5 (Zu- und Abstimmung) 2,5 (Zu- und Abstimmung) - nicht einbezogen -
Die Bedeutung der Variablennamen werden nachfolgend erklart. Fiir die neokonsvervative Position wurden folgende Annahmen getroffen: • •
• • •
•
Die Aussage „Eine berufstatige Mutter kann ein genauso herzliches und vertrauensvolles Verhaltnis zu ihren Kindem fmden wie eine Mutter, die nicht berufstatig ist [HERZVERH]", wird stark abgelehnt. Der Aussage „Die Aufgabe des Mannes ist es. Geld zu verdienen, die der Frau, sich um Haushalt und Familie zu kiimmem [ZUHAUSE]", wird dagegen stark zugestimmt, ebenso der Aussage „Wenn es aus finanziellen Grunden nicht unbedingt erforderlich ist, sollte eine Frau zu Hause bleiben [FINGRUND]". Stark zugestimmt wird auch der Aussage „Jeder, der sich wirkHch anstrengt, hat bei uns die Chance, hoch hinauf zu kommen [CHANCE]". Ebenfalls eine starke Zustimmung fmdet der Autoritarismus, der mit der Aussage „Viele Dinge funktionieren besser, wenn einer befiehlt und die anderen gehorchen [BEFEHL]", abgefragt wurde. Stark abgelehnt werden dagegen die beiden Items zu sozialstaatlichen Eingriffen: „Der Staat sollte einen Arbeitsplatz fur jeden bereitstellen, der arbeiten will [ARBEITSP L A T Z E ] " und „Der Staat sollte die Einkommensunterschiede zwischen Arm und Reich abbauen [UMVERTEILUNG]". Angenommen wurde schlieBlich eine mittlere Kirchgangshaufigkeit.
Die Gegenstrategie wurde als das genaue Gegenteil definiert. Fiir die Variable HERZVERH wurde eine starke Zustimmung angenommen, fur die Variable ZUHAUSE eine starke Ablehnung usw. Fiir eine Politik, die sich als „Politik der Mitte" prasentiert, wurde angenommen, daB sie sich zwischen der neokonservativen Politik und der Gegenstrategie positioniert. Die Auspragungen ergeben sich daher als Mittelwerte aus den fiir die beiden anderen Strategien angenommenen Werten. In der Variablen HERZVERH ergibt sich daher ein Wert von (l+4)/2 = 2,5. 282
Die Kirchgangshaufigkeit wurde in die Definition der Gegenstrategie und der „Politik der Mitte" nicht einbezogen, da angenommen wurde, daB sich diese beiden Konzepte fiir eine klare Trennung von Staat und Kirche aussprechen. Fur die weitere Analyse wurde berechnet, wie stark die Antworten jeder Person von diesen politischen Positionen abweichen. Dazu wurden gewichtete quadrierte euklidische Distanz berechnet: DCC^(Person g) = (HERZVERHg - AfiA + (ZUHAUSE, - \flA + (FINGRUNDg - l / + (CHANCEg - \flA + (BEFEHLg - l / + (ARBEITSPLAlZEg - Af + (UMVERTEILUNGg - AfiA + (KIRCHGANGg - if IA sowie ohne Kirchganghaufigkeit DC^(Person g) = (HERZVERHg - AfiA + (ZUHAUSEg - \flA + (FINGRUNDg - 1)^ + (CHANCEg - \flA + (BEFEHLg - 1)^ + (ARBEITSPLAlZEg - Af + (UMVERTEILUNGg-4)^/4 neo-konserv. Pos. DS^(Person g) = (HERZVERHg - 1)^/4 + (ZUHAUSEg - 4)^4 + (FINGRUNDg - if + (CHANCEg - 4)^/4 + (BEFEHLg - if + (ARBEITSPLATZEg - 1)^ + (UMVERTEILUNGg - 1)^/4 Gegenstrategie DM^(Person g) = (HERZVERHg - 2,5)^/4 + (ZUHAUSEg - 2,5)^/4 + (FINGRUNDg - 1,5)^ + (CHANCEg - 2,5)^/4 + (BEFEHLg - 1,5)^ + (ARBEITSPLATZEg - 2,5)^ + (UMVERTEILUNGg - 2,5)^/4 Sowohl als auch-Pos. Als neokonservativ wurden Personen mit einer durchschnittlichen Distanz kleiner 0,8 bezeichnet. Fiir sie gilt also: dcc(Person g) < 0,80 mit dcc(Person g) = Wurzel(DDC^ (Person g) / 8) Zur Messung der Attraktivitat einer politischen Strategic im Vergleich zu einer anderen (z.B. Gegenstrategie im Vergleich zu einer neokonservativen Position) wurden aus den Distanzen Wahrscheinlichkeiten, daB die Gegenstrategie fiir attraktiv gefiinden wird, wie folgt berechnet: im Vergleich zur neo-konserv. Politik: PI = exp(-2*DS^/2) / (exp(-2*DSV2) + exp(2*DC^/2)) im Vergleich zur Politik der Mitte: P2 = exp(-2*DS^/2) / (exp(-2*DSV2) + exp(-2*DM^/2))
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Die Wahrscheinlichkeiten, daB die Gegenstrategie attraktiv ist, wurden anschlieBend trichotomisiert mit: 0 bis 0,25 = nicht attraktiv 0,25 bis 0,75 = unentschieden 0,75 bis 1,00 = attraktiv
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Ewa Rokicka / Wielislawa Warzywoda-Kruszynska
Social Justice and Social Inequalities - Analysis of the Public Discourse in Poland^ „ The slogan of social justice may be twisted into a menacing nonsense, yet it should not be renounced. Without it we would lose the sense of belonging to the human community which is despite conflicts, wars and killings - a morally defined entity, the awareness of which makes us humans." Leszek Kolakowski^ 1
Introduction
For over seventeen years sociological studies have invariably shown that large sections of Polish society are not able to accept the high social costs of transformation, such as poverty, unemployment, or the progressing stratification of society, despite the declared approval of the direction of changes commenced in 1989 (Pankowski 2005; Zagrodzka 2004; GizaPoleszczuk 2004). Naturally, the notion of "social costs" is not neutral. What some people see as "costs" or evidence of social injustice, others perceive as a sign of normality and confirmation of the theory about "helplessness learned in the former political system" by certain social groups, particularly those of lower social status (Wodz 2005). An important element of this discussion is the problem of reconciling inequalities with social justice. The discussion on the Polish variety of capitalism along with the types of inequalities it produces and reproduces is set within the wider context of the debate led in developed democracies which are past the periods of both absolute freedom of financial capital as well as periods of more or less developed welfare systems. Global economic transformation leads to the fact that the solutions worked out in old democracies do not stand the pressures of new challenges. Thus, new solutions need to be found. Giddens' (1998) concept of the "third way", Abrahamson's (1997) welfare mix or Gilbert's (1995) activating state are only a few examples of the numerous attempts at finding new solutions in the area of a social policy that is oriented at overcoming inequalities. Bauman writes that prioritising capital over work marks the contemporary world. This takes away power from the welfare state and gives "new impetus to the processes of unstoppable polarisation (...). Inequalities (....) reach dimensions considered to already belong to the past" (Bauman 2000: 46). Social inequalities and their relationship to a sense of social justice are among the universal themes of an ongoing public debate. It is worth looking into not only because interpretations and evaluations of the effects of transformation in Poland, manifested in the growth of social inequalities, done by average citizens, experts, authors, and politicians of different political options differ considerably, but also because it refers to the issues of national, European, and global dimensions. The authors express their gratitude to M. Rek, W. Wozniak and T. Drabowicz for their contribution in the analysis of public discourse. ^ See Kotakowski 2000. 285
Using the elements of the framework analysis of public discourse, in this article we will reproduce the main themes of the discussion on social justice and inequalities in the Polish press. Articles which have been published during the last two years in two popular weekly magazines will be analysed: the conservative-liberal Wprost and the Przeglqd of left-wing profile. 2
Conceptual frameworks: Social inequalities and social justice - ideologies and theories
In sociological literature it is underlined that no persisting structure of economic and social inequalities exists in the absence of some kind of system of meanings that seeks both to justify and to explain the unequal distribution of societal resources (Crompton 1993). These systems are the secular and religious ideologies, doctrines and political programmes that serve specific group interests, and broad philosophical systems and scientific theories whose main goal is to explain inequalities. Some of them underline the necessity of inequalities, pointing to their useful social functions, unlike others who oppose inequalities in society, arguing for egalitarianism and equalisation of life opportunities. In the discussion, the problem of compromising inequalities with the principles of social morality is given much attention. Ideologies of inequality can be divided into three types: (1) Elitist, assuming that social groups exist which possess a "higher" standing by nature than others and must therefore occupy a higher position in society, manifested in their entirely well-founded privileges. (2) Egalitarian, underlining the equality of people, demanding - depending on the degree of radicalism - the equality of outcome, equal satisfaction of minimum needs, equal start and life opportunities (or equality under the law), or equality of civil rights. (3) Meritocratic, assuming that inequalities are justified in so far as they are the consequences of people's own merits and benefits brought to society due to individual actions. From this perspective, inequality is a reward for individual effort and social utility. In its extreme version, the ideology puts the blame for poverty and unemployment on an individual as his failure. It admits extensive polarisation of society if it is explained as the result of merits exclusively. In its moderate version, it assumes that poverty and unemployment can be the results of external circumstances, not caused by members of the community and allows provision of the minimum living conditions to them regardless of their merits. Moreover, it postulates correction, i.e. flattening of income by introducing a progressive tax system. In this case, it is a compromise with the moderate egalitarianism appealing to people's minimum, common needs (Sztompka 2002). The reflection on the subject of inequalities does not limit itself to ideological justifications only. In social sciences, numerous theories aimed at explaining the causes and mechanisms producing inequalities have been formulated. The most significant are: the functional theory of stratification and the theory of accumulated superiorities or, in other words, the theory of conflict. Elitist and meritocratic ideologies refer to the first one, and the egalitarian ideology refers to the second. The functional theory of stratification assumes that inequalities are ever-present and irremovable; furthermore they are indispensable for the existence and
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functioning of societies. The existence of inequalities motivates the members of society to educate and qualify themselves (Davis/Moore 1945). In turn, the theory of conflict assumes that there is no equality of opportunities in society, positions are inherited and this leads to the polarisation of society. Limiting and overcoming inequalities is therefore desirable since inequality is the conflict-generating factor, upsetting and disorganising social life. Both theories are not free of weaknesses. The weakness of the functional theory, e.g., is that it does not mention violating the principle of equal opportunities, e.g. through inheriting parents' material status or the problem of educational inequalities which do not result from personal merits but, as Bourdieu (1986) says, from the comparably unequal cultural capital of parents. The strength of the theory of conflict, on the other hand, lies in demonstrating that equal opportunities cannot prevent inequalities of outcome. But while the theory describes well how inequalities develop, it does not give the answer to the question of when and how they are produced. Different concepts of social justice correspond to different models of social justice. However, the exact correspondence between these concepts and models is not possible, just as their identification with political ideologies. It is, however, worth pointing out some tendencies: on what principles of justice are the meritocratic, elitist, and egalitarian models of inequality based? The elitist model is based on the assumption that social inequalities are spontaneous and self-producing and every search for principles that would justify them is irrational. The existence of inequalities is motivated by the fact that they are the necessary conditions for the development of culture and civilization. The meritocratic model "tends to endorse the value of equality of opportunity, with inequality of outcome deemed legitimate if it reflects differences in merit, but cannot agree about the conditions that are necessary to ensure that kind of equality or about what attributes are meritorious" (Marshall/Swifl/Roberts 1999: 7). The extreme version of meritocracy assumes that people are entitled to do as they want since the freedom of an individual is the ultimate value. Every limitation of freedom, including equality of opportunity is equivalent to suppression of the spirit of entrepreneurship, initiative, and economic development. The egalitarian model appeals to the equality of outcome, i.e. equal share in goods and services. It argues that meritocracy does not guarantee lower classes their satisfaction of needs on an adequate level since equalisation of opportunities does not prevent inequalities of life. It rejects meritocracy because it holds equality of opportunity to be a powerful justification for inequality - it offers the equality of opportunities to position people in a hierarchy (Domanski 2004). The subject that receives particular attention in the discussions on social justice and inequalities is the possibility of compromising the principle of equal opportunities, on which the moderate version of the meritocratic model of inequalities is based, with the principle of equality of outcome typical of the egalitarian model. The model of equal opportunities and equal outcomes in its pure form has no chance of being put into practice. The former, developed within social-liberal trends, combines the notion of social justice with freedom, the latter, developed within the leftist current, links the idea of social justice with the idea of social equality. Both ideals of freedom and equality - brought to extremes - are self-destructive. It is therefore an illusion to search for single-solution answers. Social sciences do not give a single answer to the question about the desirable shape of inequalities. Wide room for discussion is thus being opened: who is right in the dispute? An
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unequivocal answer cannot be given. Governments and institutions holding power in society are the ones deciding about the form of inequalities connected with distribution of goods as the ultimate authorities. They make principal decisions in such matters as: Who pays which taxes, who is able to study, who is guaranteed medical care? Whether the solutions adopted in society are evaluated as "fair" or "unfair" is in turn decided by convictions accepted by society. The content of the idea of social justice is historically variable and depends on the features of a given civilization and cultural sphere, the climate of an epoch, interests and mentality of individual nations, religious, or regional communities, as well as local traditions. This means that the realisation of the idea of justice (i.e. "fair society") is influenced by both its interpretation and the arrangement of political forces. For this reason, it is worth analysing ideological discussions in the press, actors participating in them, and arguments raised. This discourse is, on the one hand, the reflection of principles held by members of society but also, on the other hand, the instance shaping them. The press is an arena of conflict in "the battle for souls" and electorates. 3
The analysis of the public discourse in Poland on social justice and social equality
Polish society is pluralist and strongly divided in evaluations of the socio-economic transformation and its results. Particular environments generate their own particular forms of reflecting on what is and what is not just and what the relation between social inequalities and social justice is. Our objective is to attempt to reconstruct these reflections. We wish to show the discourse strategies adopted by selected social actors in order to present their own definitions (interpretations) of social problems and promote solutions accordant with their own convictions, preferences, and interests (Donati 1992). The notion of "discourse" is used here as a metaphor for the social dialogue in which social actors (language users) take part (Fisher 1997), whereas the discourse analysis is about the reconstruction of the visions of the world (ideologies) that constitute the foundation of these discourses. In the article, we refer to the selected elements of the conception of ideological discourse analysis of Teun A. van Dijk (1995). He defines ideologies as systems that are at the basis of the socio-political cognitions of groups (Lau/Sears 1986; Rosenberg 1988).^ According to van Dijk "( ..) ideologies organise social group attitudes consisting of schematically organised general opinions about relevant social issues (...). Depending on its position, each group will select from the general cultural repertoire of social norms and values those that optimally realise its goals and interests and will use these values as building blocks for its group ideologies." (van Dijk 1995: 138) He assumed that ideologies are structured by group schema categories and that discourse meanings are influenced by such ideologies. If it is so, ideological discourse analysis allows us to answer the following questions: • Who are We? Who do (do not) belong to Us? {Self-identity descriptions)
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For summary of vast discussion of ideologies in the social sciences see CCCS 1978; Eagleton 1991; Larrain
1979; Thompson 1984.
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• • • •
What do We do? What are Our activities? What is expected of Us? (Activitydescriptions) What are the goals of these activities? (Goal-descriptions) What norms and values do We respect in such activities? To which groups are We related: Who are Our friends and enemies? (Norm and value descriptions) What are the resources We typically have or do not have (privileged) access to? (Resource description)
To analyse some opinion articles on the topic of social justice and social inequality we have selected 16 op-ed articles in the Wprost (1) and Przeglqd (9) that had the above-mentioned words in their subject-list. The op-ed articles in the Wprost and Przeglqd reflect the two contrasting political actors' definitions and perceptions of social justice and inequality in Poland. Wprost is a socio-political weekly paper of liberal-conservative character."^ Its journalists opt for the neo-liberal vision of economy, pro-US politics, and moral conservatism. They oppose state interventionism in economy. The reasons behind selecting the paper for analysis were: the clear ideological options in reference to economy and economic policy that the paper represents as well as its popularity with readers. We assume that the journal expresses the ideological mainstream in Poland. If so, the ideological discourse on social justice in this illustrates the broadness of the ideological debate on the subject. The weekly Przeglqcf represents the part of the market of opinion-forming press in Poland that is associated with views of socio-democratic character.^ Its vision is quite well described by the definition in the Internet encyclopaedia Wikipedia: "The paper is said to be connected with the Democratic Left Alliance and the Labour Union, it is critical towards the policy of the Solidarity governments after 1989. It also opposes the monetary policy of Leszek Balcerowicz, as well as Poland's participation in the intervention in Iraq. It considers the role which the Catholic Church plays in the Polish social life to be too large." (http://pl.wikipedia.org/wiki/Przegl^d) The choice of Przeglqd can be justified by the need to confront the ideological discourse of the journalists representing the left and the right wings of the political stage in Poland. 3.1 Wprost The matter of "social justice" seldom appears in Wprost, and when it does it is in the context of the tax system and welfare state. It does not however occur in discussions on political and economic systems. This is of no surprise, since in liberal and especially also con^ It has been published in Poland since 1989 (circulation of 284.000). It is the second most popular opinionforming weekly after Polityka in Poland. ^ It has been published since 1999 as a continuation of Przeglqd Tygodniowy published from 1990 (according to the weekly Press, its circulation was app. 35.000). ^ An important supplement to the ideological message of the weekly are the texts Publisher in Trybuna, the leftwing daily paper established in 1989 as a continuation of the Trybuna Ludu (Polish United Workers' Party press). In our analysis of the Left's ideological discourse, we will develop some of the theses mentioned in Przeglqd by referring to the program articles published in Trybuna.
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servative doctrines, the group approach to justice is questioned and emphasis is put on individualistically understood justice as a general moral and legal principle. Who are We, what are Our properties? The specific ideological manifesto of the paper may be found in the issue no. 1000: "The weekly 'Wprost' was thefirstto destroy the taboo that was connected with wealth and entrepreneurs who used to be scornfully called 'greengrocers'. (...) Against the myths about 'equal pockets' and pseudo truths about 'heavy, working-class labour' we set the image of businessmen and enterprising managers. (...) In 'Wprost', Prof Waclaw Wilczynski popularised the notion of the hostile protective state; the state whose inefficiency, corruption and, above all, failure to realise deceitful promises made by politicians evoke hostility. (...) Pointing to the advantages of Poland's integration into the European Union, we at the same time broke the taboo nurtured by the Euro-enthusiasts and astonished the readers with the statement that the hostile welfare state ideally matches the model of the social state, being the cancer consuming Western Europe." (Boguslaw Mazur, Tabulamacz, Wprost, issue no. 1000, 27 January 2002) In the fragment mentioned above the values and aims constituting the program of the weekly are basically laid out. Neo-liberal values, i.e. the strengthening of market mechanisms, minimising state influence on the economic processes, moving away from state control and interventionism, stimulating the development of enterprise, and economic growth, are the basic elements of the axiological system which is presented in Wprost. According to the authors of the texts published in Wprost^ the neo-liberal economic theory is the only correct and scientifically proven knowledge about the economy. Its theses and foundations are equally legitimate as the rules of nature or the laws of physics. Competitive opinions are treated slightingly with epithets such as: "Neo-Keynesian downfall" or "the third way leading to nowhere" (Waclaw Wilczynski, Papierek lakmusowy/Litmus paper, Wprost, issue no. 1189, 18 September 2005). As it can be easily noticed, self-identity descriptions of authors writing for Wprost are generally positive. Seldom do there appear statements that point to the negative reception of liberalism in Polish society. Blame for the creation of a negative image of liberalism is put on ideological enemies' lack of competence, dishonest intentions, and private interests. "For some groups, the term 'liberal' carries a negative connotation. Liberalism tries to introduce itself as a trend disrespecting ethics and honesty, alienatedfi'omsociety and its anxieties. Market economy, rather than specific people, is blamed with uncommitted faults and unjustified accusations, all in order to maintain power in the hands of people (rather than giving it up to the market) as well as institutional, group privileges. Out-of-date and confiited theories having nothing in common with the present state of knowledge are referred to" (see Waclaw Wilczynski, 2 x 2 = 4 - Intelektualna niedowaga/2 x 2 = 4 - Intellectual imbalance, Wprost, issue no. 1195, 30 October 2005). What are Our tasks? What do We do? What are Our goals? Popularising neo-liberal ideas is one of the aims of the authors writing for the weekly. In their articles, they very often opt for specific legislative solutions, which - in their opinion - would improve the economic situation by stimulating economic growth and thus contri-
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buting to the improvement of the life situation of Polish citizens. The list of postulations is typical for the followers of neo-liberal economics: the lowering of labour costs through liberalisation of the labour code and reduction of taxes is supposed to encourage investments and the creation of new jobs. The allies of the periodical in the campaign for the free market are foreign intellectuals of neo-liberal orientation or, in the case of international affairs, of neo-conservative orientation, e.g.: Raymond Boudon, George Weigel, Michael A. Ledeen, Charles Krauthammer, Milton Friedman, Alan Greenspan, Thomas C. Schelling, Paul Wolfowitz. Besides giving interviews for the paper, articles they have written are translated and reprinted in Wprost. In recent months, Leszek Miller, the ex-Prime Minister of the leftist government joined the team of regular commentators of the weekly. Miller's government as well as he himself as Prime Minister were severely criticised by the paper for the scandals in which left-wing politicians were involved. However, some decisions of the government gained the acknowledgement of the weekly: "Miller cut down the Corporate Income Tax. After its lowering, the income of the state has gone up and in the middle of 2004 it is 6.7m zloty, (...)- approximately 40% more than planned. Lower, 19% tax may now be paid by natural persons leading economic activity too (Personal Income Tax). Formerly, they gave back up to 40% of income to the fiscal office. The reduction of taxes for the entrepreneurs and integration with the common European market yielded the fruit of gigantic growth of exports of Polish goods. According to the Central Statistical Office, export in the first half of the year has increased by about 40% (...)." (Jan Pinski/Michal Zielinski, Drugi skok tygrysa?/The second jump of the tiger?, Wprost, issue no. 1139, 26 September 2004) The reduction of CIT and PIT (from 27% to 19%) mentioned in the above quotation was the cause of quite an abrupt conflict on the left side of the Polish political stage. It was particularly inflamed by statements in which Miller considered the introduction of a flat tax on personal income by the ex definitione social-democratic government. In a text entitled "Miller's Manifesto", the ex-Prime Minister presented the economic views that can serve to explain his presence in Wprost "For the traditional Left, the taxes are the instrument for realising the principles of social justice, the linear tax being commonly understood as deeply unfair. For the modem Left, taxes should be the instrument of economic growth. Application of one or another tax system should be preceded by the question whether it favours economic growth or not. In other words - it is unimportant how the tax is called, what is significant is whether it stimulates or disturbs growth. (...) The economy, which for half a century was the field of radical polarisation, ceases being the field of confrontation of the Left and the Right. Differences slowly get blurred because the dispute between liberalism and socialism has already been settled. It is plainly visible to the naked eye which system is more effective. It is also easily possible to prove that it is not worth fighting/arguing with the market because in the end the market is always right." (Leszek Miller, Manifest Millera/Miller's Manifesto, Wprost, issue no. 1183, 30 July 2005) In his subsequent articles. Miller disputed with politicians of the Left who accused him of betraying and abusing social-democratic principles: "Liberal conceptions of socio-economic development, underlining the meaning of democracy, free market, enterprise, and the limited role of state interference were achieving success. This 291
model of development was successfully applied in e.g. Great Britain, Ireland, Finland, and especially the United States." (Leszek Miller, Buty Blaira/Blair's Shoes, Wprost, issue no. 1184, 14 August 2005) The above-mentioned statements are symptomatic. Miller, writing about the successes of the market economy, mentions countries of unusually diverse political, social, and economic systems in one breath, omitting fundamental differences between the economic policy of e.g. Finland and the United States. Other journalists from Wprost, particularly regular columnists, professors of economy Waclaw Wilczynski and Jan Winiecki, focus mainly on the example of the United States as the country with the most liberal economy in the world and Ireland as the most liberal state in Europe. Great Britain and the Scandinavian countries implementing the policy of the so-called third way are practically not referred to. A thesis can be put forward that the successes of these countries do not match the black-and-white vision of economy that is presented by Wprost. What norms and values do We respect? Who is the friend and who is the enemy? The authors from Wprost remain in a permanent conflict with the followers of pro-social, social-democratic, or interventionist visions concerning the state and the economy. Writing about the economy, they seldom refer to political opinions. Both the leftist government in power from 2001 to 2005 as well as the minority government of the "Solidarity Electoral Action" (1999-2001) were criticised for the lack of neo-liberal changes in economy. The earlier period, especially the first years of the Polish transformation, are regarded to be the greatest Polish success: "Polish transformation, like every pioneer change of the economic system of this kind, was not perfect, but none of the changes which took place after this one (with an exception of the Estonian transformation several years later) has been more internally coherent nor conducted more skilfully. For the first ten years of the transformation (1990-1999) (...) Poland was the leader of systemic changes." (Jan Winiecki, Balcerowicz i gorsi/Balcerowicz and worse, Wprost, issue no. 1213, 12 March 2006) Among the weekly's opponents are politicians promoting non-liberal laws and opinions as well as economists and intellectuals that support them. The major object of journalistic attacks is the concept of the welfare state and the idea of social justice associated with it. The concept of the welfare state is criticised for axiological reasons: for inhibiting human activity, supporting domination of an omnipotent state, encouraging development of claiming attitudes, and state control in economy. Moreover, in the texts by Wprost authors the long-lasting discussion on the European models of the welfare state and their transformations is often left out while the term "welfare state" is sometimes used to describe the actions of the Polish politicians. "(...) post-communist government and parliaments have been soaked with the ideology of the welfare state, the state which is supposed to give, to assure, and to guarantee and thus to rule and not to be restrained to the role of the ruled. Our political class - and each fraction of it - does not know that the welfare state does not integrate, does not unite the society, does not favour building of the civil society. On the contrary: it creates the feeling of alienation and inferiority, strangeness of those who get towards those who give as they always give too little to me, cer292
tainly less than to others. Disastrous opinions about the poUticians in opinion polls tell all about the 'successes' of the welfare state." (Waclaw Wilczynski, Korupcja czy wladza?/Corruption or the power?, Wprost, issue no. 1175, 12 June 2005) As the above quotation reveals, the authors forgot any considerations relating to the vision and role of the welfare state in building the developed civil societies and modem knowledge-based economies in Scandinavian countries, in which politicians enjoy comparatively high confidence and whose political scenes belong to the most stabilised in Europe. France, Germany, or Italy are most often referred to as negative examples illustrating the destructive influence of welfare on the condition of economy and society. The article devoted to them and entitled "Deadly welfare state" begins with the following lead: "The social state brought up egoists who are in France euphemistically called individualists". The text is further structured by the subtitles: "The trap of welfare", "The state instead of the relatives", "The egoists' social state", "Do not give away!" (Katarzyna Grzybowska, Zabojcze panstwo opiekuncze/Deadly welfare state, Wprost, issue no. 1090, 19 October 2003). Without going into a detailed socio-linguistic analysis, one should underline that these words are extremely characteristic for the style in which authors of Wprost write about other than neo-liberal visions of the state and economy. In the very same text there appeared a reference to the notion of social justice, very rare for the gist of the weekly: "One of the superior principles of socialism which had the strongest influence on the European societies was equalisation of outcome (conditions of living, working etc.) through free distribution. It constitutes the core of the so-called 'social justice' principle." (Katarzyna Grzybowska, Zabojcze panstwo opiekuncze/Deadly welfare state, Wprost, issue no. 1090, 19 October 2003) In the whole article, however, there is not a hint of the fact that there are many different varieties of the welfare state in Europe. Not only individual European countries, but also fimdamental principles held in the European Union are subject to sharp criticism in Wprost. For example, basic measures for boosting opportunities and reducing disproportions among individual members of the EU, such as the EU funds are denounced, e.g. by Winiecki: "'Assistance', as it is called in bureaucracy jargon although it has an adverse impact on economy, strengthens the begging and claimant attitudes among citizens and political representatives and accustom people to living on 'social benefits' at the expense of other states. They can therefore slow down the pace of the introduction offree-marketreforms." (Jan Winiecki, Sroki na "socjalu", Wprost, issue no. 1136, 05 September 2006) During the last presidential and parliamentary elections, the attitude towards the economy was the reason for an important axis of division and rivalry between the two strongest parties "Civic Platform" and the victorious "Law and Justice". "Law and Justice" politicians attacked their rivals' excessive belief in market mechanisms and extremely neo-liberal economic orientation. Against the liberalism of the "Civic Platform" they set the ideas of social solidarism. The "Law and Justice" agenda was subject to severe criticism in Wprost: "The Law and Justice wants to build the coalition of the followers of 'living with a hand in the neighbour's pocket'" (Jan Winiecki, Ekonomia zawisci/Economics of envy, Wprost, issue no. 1196, 06 November 2005); "Law and Justice proposes the program of moderately quick catastrophe" (Michal Zielinski, Podwodna Lodz zaglowa/Submarine sailing boat, 293
Wprost, issue no. 1182, 31 July 2005). These are the leads of only two of the numerous publications on the economic program of the "Law and Justice". After victorious elections, more texts appeared treating the economic ideas of the party slightingly, especially the reference to the idea of social justice: "However, the Law and Justice (I dislike such promising names) would be eager to provide the second part of it with the adjective "social". Personally, I prefer justice rather than social justice. Law and Justice reluctantly refer to the acceptance of material inequality, which does not mean the acceptance of misery but is the key for progress and development. It is time to understand that were there not therightto individual economic success and material inequality, there would not be any means to fight poverty because they would not be any produce." (Waclaw Wilczynski, Niedowaga intelektualna/Intellectual imbalance, Wprost, issue no. 1195, 30 October 2005) What are the resources We typically have or do not have (privileged) access to? The neo-liberal ideology, which is close to that of the journal's authors, is represented by the second largest party in the Sejm: "It is time to say that on the Polish political scene only the Civic Platform meets the realities and challenges of the present day to a satisfactory degree. Only this party speaks clearly for the system that has passed and is still passing the historical test. Only the system appealing to an individual, her dynamism, her successes may pass this test and not the system promising pure distribution/free giving away of resources." (Waclaw Wilczynski, Niedowaga intelektualna/Intellectual imbalance, Wprost, issue no. 1195, 30 October 2005) The electoral result of the "Civic Platform" in recent parliamentary elections (24.14% votes) is to some degree also the success of the weekly Wprost, which consistently and with a large commitment convinced readers of neo-liberal ideas. Such a good electoral result of the neo-liberal party is an exception on the European scale, one to which the ^ro^-^ journalists have also strongly contributed. 3.2 Przeglqd Social justice is one of the most important notions associated with left-wing ideologies. However, in the period covered by analysis it rarely appears in the texts published in Przeglqd in heterogeneous ideological context. In environments uninvolved in the Left this fact is interpreted as one of the symptoms of the collapse of the Left, and the confirmation the non-leftist character of the "Democratic Left Alliance", the party representing the left wing of the Polish Parliament, which in reality, as the opponents argue, is a centre-right wing formation (see: Zakowski, Z ktorej strony jest lewica?AVhich side is the Left? Polityka, issue no. 4/2006). Except for one article, texts referring explicitly to social justice in Przeglqd do not constitute coherent statements of authors permanently connected with the paper. The exception is the text "Social justice is a Utopia or..." (Przeglqd, issue no. 11/2004) edited by Bronislaw Tumilowicz and published in the regular column "Confrontations". The idea of this column is to confront various positions on a given subject (but there is no editor's no294
te). Yet, the confrontation of opinions does not form a discussion; it is merely the review of different points of view. A similar problem is tackled in the analogically constructed text "How should 'capitalism with a human face' be expressed" (Przegl^d, issue no. 17/2005). In both cases, experts' opinions were presented.^ Who are We, what are Our properties? The manner of talking about social justice confirms the thesis that after 1989 the Left ("Democratic Left Alliance") lost "the battle for language" in Poland and the ideological left was pushed into the intellectual ghetto. Let us look closer at the ideological discourse in the left wing and decide whether in Przeglqd and the writing by journalists connected with it there appear arguments of the Left which stand left of the Democratic Left Alliance, especially such that work out their own analysis and interpretation of the social and political situation in Poland. This Left has adopted a conviction that the field of socio-economic discussion was appropriated by specialists and politicians representing the neo-liberal approach. This phenomenon is pointed out in Przeglqd by the journalists of the quarterly Political critique (Maciej Gdula, Stawomir Sierakowski, Z czego lewica nie moze zrzygnowac/What the Left cannot give up, Przeglqd, issue no. 29/2005) and Trybuna (Michal Syska): "The largest success of the Polish neo-liberals is that their ideology is rooted in the public discourse as 'scientifically objective' truth which is not subject to discussion." (Michal Syska, Jak wygrac wojn? idei/How to win the war of ideas, Trybuna, 22 June 2005) The strength of the neo-liberal viewpoint of the world can be detected when one tries to argue with it. Any attempt to criticise the course taken by the reformers of the Polish economy over 17 years ago faces immediate counter-attack and allegations of incompetence and the intention of constant quibbling: "The need for further privatisation, deregulation, commercialisation of successive areas of life, reduction of taxes, and the state institutions' withdrawal from social tasks are the elements uniting all forces of mainstream Polish policy - from the right-wing to the left-wing. Whoever dares to be of a different opinion will surely be called 'the enemy of the necessary reforms', 'the orphan of the Polish Peoples' Republic' or 'the populist'." (Michal Syska, Jak wygrac wojn? idei/How to win the war of ideas, Trybuna, 22 June 2005) The reasoning criticised above may be endorsed, according to left-wing journalists, by other press titles, which according to them, underwent economically axiological dictatorship, especially the weekly Wprost.
Discussion of social justice was entrusted to: professors of philosophy, law and psychology, two Catholic priests (professor of philosophy and the bishop), representatives of the Polish industrial lobby and the Adam Smith Center, representatives of the youth branches of the "Civic Platform" (the leader of the National Young Conservatives' Committee) and the Self-Defense of the Republic of Poland (the leader of the National Youth Organization of Self-Defense RP). A doctor of philosophy was asked to give his opinion on capitalism with a "human face" as an academic specializing in the capitalist ethics, two professors of sociology, a professor specializing in the history of political doctrines, heads of trade unions (The Polish Alliance of Trade Unions and "Solidarity"), the president of the Polish Employers' Confederation and the Catholic priest - the secretary of the Silesian metropolitan.
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What are Our tasks? What do We do? What are Our goals? The left-wing authors expose the axiological consequences a neo-liberal model entails. In their opinion, the acceptance of the individualistic vision of the free market paves the way to legitimising social inequalities and the lack of elementary justice. This in turn results in the acceptance of the exploitation of employees lacking social protections as well as "public contempt for the poor" (Tomasz Ciborowski, Przyganial kociol gamkowi/The pot called the kettle black, Trybuna, 21 May 2005). "The predominant discourse creates the symbolicframesin which the social life actors perform. Businessmen acting in the climate of consent for using the liberal labour code, may with a clear conscience afford themselves to exploit these who work, and ignore those who become unemployed. (...) The dominating cognitive categories in the public sphere strongly limit the possibility of changing the lot of people in extreme poverty. The poor people's situation is selfdeserved and it is up to them to get out of the situation in which they find themselves." (Slawomir Sierakowski, Przegl^d, issue no. 29/2005). The reluctance towards the poor is the result of the conviction written in the liberal outlook that differences in the quantity of supplies determine individual's moral quality (Maciej Gdula/Slawomir Sierakowski, Z czego lewica nie moze zrezygnowac/What the Left cannot give up, Przegl^d, issue no. 29/2005). Syska points to the methods employed by the enemy (followers of neo-liberalism) in order to successfully fight for the maintenance of hegemony. Initiation into the predominant discourse already takes place on the level of elementary and secondary school. The liberal economic model promotes itself as equivalent to scientific knowledge, e.g. under the pretence of organising competitions for school youth in cooperation with the opinioncreating media and the Polish National Bank (Michal Syska, Jak wygrac wojn? idei/How to win the war of ideas, Trybuna, 22 June 2005). Both in Przeglqd as well as in Trybuna, expressions of critical opinions can be found towards the assumptions and effects of neo-liberal economic reforms conducted in Poland after 1989. In Przeglqd WQ read e.g.: "The stabilising policy of the deputy prime minister and the minister of finance, Leszek Balcerowicz, had set out to fight inflation but failed to cope with it, instead it led to the deepest recession in post-war Poland and an unemployment growth of up to almost 3m at the end of 1993. This socio-economic catastrophe may only be referred to as the period of the great crisis." (Lech Mazewski, Liberalna ci^losc/Liberal continuity, Przeglqd, issue no. 46/2004) In Przeglqd and Trybuna, authors point out the errors in thinking of liberally oriented economists who try to justify the poor results of the Polish economy with inconsistent liberalisation and the outsized expansion of the social sphere financed by the state. The assumptions of this type are proven false by the good state of economies that are far from the liberal ideal (K.T. Toeplitz, M^drzejemy?/Are we getting wiser?, Przeglqd, issue no. 22/2005) and by the fact that in some countries the introduction of liberal economic instruments such as the flat rate tax postulated by the "Civic Platform" did not bring the expected results, e.g. faster economic growth (Andrzej Dryszel, He oddac fiskusowi?/How much to be given to tax office? Przeglqd, issue no. 49/2004).
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What norms and values do We respect? Who is the friend and who is the enemy? The answer to the economic ideas of neo-liberals is the vision of a modem welfare state, economically efficient and able to realise the principle of distribution justice (such a combination of advantages is impossible in the eyes of adversaries, while attempts at putting it into practice most harmful). It is, however, worth pointing to the fact that this demand is rarely formulated in the texts under analysis. The partial rejection of the rhetoric associated with the traditional, Marxist-oriented European Left and the attempt to rather promote both the solutions and the language of a "third way" may reinforce the thesis about the domination of the liberal discourse. The leftist press has attempted to oppose the thesis about the "bankruptcy of the welfare state" voiced by both the neo-liberal economists (Leszek Balcerowicz) and authors writing for Wprost or Gazeta Wyborcza ("Hostile" welfare state/"Wrogie" panstwo opiekuncze, Przegl^d, issue no. 47/2005). It substantiates its contradiction pointing out the Swedish model of the welfare state. The desired vision of socio-economic policy involves promoting such economic instruments as observing the minimum wage, progressive tax, as well as active educational and labour market policies. Following this line of argument, the provision of a minimum income is not a concession to "claimants", but the fiindamental condition for participation in social life (Maciej Gdula, Slawomir Sierakowski, Z czego lewica nie moze zrezygnowacAVhat the Left cannot give up?, Przegl^d, issue no. 29/2005). In the social sphere, the state should implement the policy built on the principle of subsidiarity (supporting civic initiatives and encouraging people to be active citizens). According to Kowalik (Tadeusz Kowalik, "Hostile" welfare state/"Wrogie" panstwo opiekuncze, Przegl^d issue no. 47/2005), the success in implementing the above model is to a large extent dependent on the system of values prevailing in a given society - e.g. a tendency towards altruism, respect for the law (these requirements make the realisation of the welfare state particularly difficult). What are the resources We typically have or do not have (privileged) access to? A very important element of the ideology of the Polish Left is the attitude towards the European Union and Polish membership. The Community's economic and social policy as well as the possibility of absorbing money from the EU ftinds provides the chance of implementing social solidarism (Robert Walenciak, Model liberalny nie buduje klasy sredniej/Liberal model does not build the middle class, Przegl^d, issue no. 3/2005). In order to be able to effectively oppose the liberals' domination, the Democratic Left Alliance (the biggest left-wing party in Poland) must propose an adequate economic program. "The economic agenda of the Democratic Left Alliance should be a modem one, fit for the 21^* century and at the same time well adapted to social reality. We do live in a global economy, we are a EU, OECD, World Trade Organisation, Monetary Fund, and World Bank member. It is therefore not possible to introduce into the Polish economy solutions from a former century." (Pawet Bozyk, Mi^dzy liberalizmem a populizmem/Between the liberalism and populism, Przegl^d, issue no. 37/2005)
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It seems that despite the clear distance from the neo-liberal vision of the economy, the leftwing authors do not always succeed at reaching beyond the neo-liberal categories of the market description. In the quoted article by Bozyk, we read that under Polish conditions it is nowadays most important to endorse pro-developmental macroeconomic policy, that is the "(•••) policy of interest rate, currency rate, and fiscal, investment, etc. policies. Up until now it was led unilaterally, in favour of the foreign capital, ignoring the needs of the Polish businessmen entirely." That pro-developmental course could however mean renouncing hard monetarism in favour of solutions closer to Keynesianism. Self-identification of the young left-wing authors (M. Syska, M. Gdula, S. Sierakowski) is based on a double opposition: on the one hand towards the neo-liberals and on the other towards the post-communist Left (which has lost the ideological battle and has yielded to the domination of the former in the economic sphere). Their opponents are first of all the former Prime Minister and the "Democratic Left Alliance" leader, Leszek Miller, as well as Wlodzimierz Cimoszewicz and Dariusz Rosati. Syska writes: "The Democratic Left Alliance politicians, in their deadly opportunism, have totally ignored the sphere of ideas and have not created any intellectual background resources at all. Therefore, today the glorious reputation of unbiased experts is attributed to the members of the Adam Smith Centre, regularly performing in public debates." (Michal Syska, Jak wygrac wojn^ idei/How to win the war of ideas, Trybuna, 22 June 2005) Gdula and Sierakowski present a similar point of view: "The post-PRL (Polish People's Republic) group camp, in exchange for the possibility of ftirther participation in ruling the state, approved of a transformation generating social inequality. The only idea of the Left was fitting it effectively into the new order branded by Leszek Balcerowicz. The plan was realised effectively enough to wipe out all traces of the left-wing identity. (...) Political order with a dummy Left lasting for several years resulted in the fact that the realisation of a program which would be oriented first of all at improving the situation of the majority of people disadvantaged by the new Poland seems to be either pure madness or impossibility." (Maciej Gdula/Slawomir Sierakowski, Z czego lewica nie moze zrezygnowacAVhat the Left cannot give up, Przegl^d, issue no. 29/2005) In the Gdula and Sierakowski's texts, echoes of revolutionary tones typical for the "traditional" left-wing manifestos can be heard: "The process of building the leftist language and uniting the engaged people is on the way. Such a left must join in the international initiatives aiming at breaking down the neo-liberal order. Hence large interest in the processes of European integration and reflection on the status of multi-national states in a contemporary word (...). The Left should insist that new technologies servefightinginequalities and post-colonial order rather thanftirtherincreasing inequalities (...). The advantage that the ideological opponents have in the sphere of public awareness means that a lot of effort will be needed in order to make the leftist economic policy reappear among the options seriously considered. Achieving such a semantic revolution in the Polish public sphere is the condition of re-emerging of the strong Left. (...) The problem is that the Left can only be rebuilt from the very foundations, that isfromthe critique of the sphere of public ideology, constantly reproduced in the media, in academic disputes, and in bus stop-conversations." (Maciej Gdula/Slawomir Sierakowski, Z czego lewica nie moze zrezygnowac/ What the Left cannot give up, Przegl^d, issue no. 29/2005)
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The results of the last parliamentary elections reveal that the Poles willingly identify themselves with social postulates. However, the success of "Law and Justice", the party which during the election campaign made extensive use of slogans referencing social justice for populist purposes, combining them with moral conservatism and state interventionism in many spheres of public life, is not synonymous with the triumph of the protective state and social justice ideas in the understanding proposed by the leftist authors. Social justice should also stretch beyond the area of redistribution and into the sphere of ideology being at the same time the way of realisation of the idea of open society. 4
Results
(1) The analysis of ideological discourse on social justice in the Polish Press reflects the structure of political forces in the country. The mainstream discussion was dominated by neo-liberal and rightist options. (2) The overall strategy of all ideologies, as defined here, appears to be positive selfpresentation and negative other-presentation. (3) The language used by the journalists fails to be unbiased (to which they are entitled), but it contributes to the colonisation of the public consciousness and failure in understanding of the processes occurring in society. It does not endorse thinking independently; it promotes a one-sided judgment of problems. The knowledge generated and disseminated by authors of the analysed papers and press titles neither contributes to a better understanding of true motivations, ways of thinking and behaviours of particular social groups, nor helps social (political) actors to interpret social problems and search for solutions. (4) The discourse has an ideological character, involving a (collective) group-thinking syndrome and strongly polarised views rejecting compromises and middle-of-the-road solutions. The underdevelopment of the sphere of public communication with which we are dealing in Poland results, to a high degree, from the weakness of the Polish democracy and the civil society (Glinski 2000). (5) „Disagreement" in Poland has an apriority value. It is the most significant element of identity for many intellectual and political milieus. Such communication standards prevent actual dialogue. Bibliography Abrahamson P. (1997): Conceptualizing Welfare Pluralism and Welfare Mix, in: Friske, K./Polawski, P. (eds.): Welfare State Historia. Kryzys i przysztosc nowoczesnego panstwa opiekunczego. Wybor tekstow, Warszawa (IS UW). Bauman, Z. (2000): Ponowoczesnosc jako zrodlo cierpien, Waszawa. Bourdieu, P. (1986): Distinction. A Social Critique of the Judgement of Taste, London (Routledge & Kegan Paul). Cambell, T. (1988): Justice, London (Macmillan). CCCS (Centre for Contemporary Cultural Studies) (1978): On Ideology, London (Hutchinson). Crompton, R. (1993): Class and Stratification. An Introduction to Current Debate, Cambridge (Polity Press). Davis, K./Moore, W.E. (1945): Some principles of stratification, in: American Sociological Review, 10, pp. 242-249.
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Procopis Papastratis
Aspects of Unemployment in Greece
1
Introduction
"The Greeks are wealthier than the Portuguese", declared the title of an article in an Athenian newspaper last January. In order to disperse any false optimism, the subtitle underlined that Greece ranked fourteenth among the fifteen old EU members. Based on Eurostat data the article pointed out that the indices referring to the Greek position within the EU process of conversion are disquieting. In spite the fact that Greece has for a number of years had a comparatively high development rate among the members states (3.6% in 2005 compared to 2% of the EU) its per capita NGP is only 73% of the European average (To Vima, 8 January 2006). Employment is considered the main reason for the unenviable position of Greece at the bottom of this economic ranking. At the same time, two indices underline the weak position of Greece. The percentage of those threatened by poverty rose to 20% compared to a European average of 15%. The rate of long-term unemployment in Greece is much higher than in the European Union of the fifteen (5.1% compared to the 3.3% of the EU). 2
Developments of unemployment in contemporary Greek history
With brief intervals, unemployment has been a permanent feature of the Greek economy and society. In the post-war period, starting in 1949 when the civil war came to an end, successive governments initiated political measures to combat unemployment. The solution of emigration did in fact speed up the process of social transformation and offered considerable means for the development of Greece. At the same time however, it blocked the establishment of the necessary institutional mechanisms, which were capable of creating policies to fight unemployment. The absence of hundreds of thousands of residents in the period 1950-1970 reduced social tensions in the aftermath of a bitterly fought civil war and secured a steady influx of foreign currency through their remittances. Nevertheless, society successftilly fended off the question of unemployment (Dedousopoulos 2002: 31).^ This is hardly an innovating approach to a problem that accompanies contemporary Greek history since the turn of the 20th century. Much more than a solution, emigration was elevated into an ideological construct in order to justify the absence of a constructive policy on unemployment. This is evident in the interwar period following the world economic crisis of 1929 (Hadjiossif 1986). The importance of emigration for the Greek ecoThis paper is based to a considerable degree on the extremely valuable periodical publication "Labor 2002" and "Labor 2005" edited by a group of academics of Athens' Panteion University who are specialised on this field. Dedousopoulos, G. Kouzis, X. Petrinioti, S. Robolis, P. Getimis and others monitor, analyse and present critically the development on the question of employment in relation to the EU policies (for details see bibliography at the end of this article).
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nomy was a common point of departure in the speeches of all political leaders during the debate in the Greek Parliament on the Venizelos-Attaturk Agreements of 1930. "Greece lives constantly with emigrations" pointed out P. Tsaldaris, the leader of the "People's Party". The Foreign Secretary of the Venizelos government agreed, describing emigration as a "safety valve" (Papastratis 1990: 169). This time-honoured policy was readily upheld by successive governments from the 1950s until the fall of the military dictatorship in 1974. During the period of 1947-1977, approximately 235.000 Greeks immigrated to the USA. However, emigration to Europe was much higher: Between 1955 and 1974 725.331 Greeks immigrated to countries in Western Europe; 638.141 of them to Germany alone. The main reason was extensive unemployment.^ Unemployment reappeared in the 1980s. However the state policy, instead of drawing conclusions from past mistakes and experiences, adopted poorly designed and ineffective measures in order to secure community funds. This policy did not allow for proper planning, organising and managing of employment programs while at the same time indispensable funds and precious time to solve the actual problem were wasted. Even more, this policy created vested interests and crystallised attitudes and practices which obstructed all attempts to bypass these initial ineffective measures and inaugurate a fresh effort to challenge unemployment. A typical result and an example of mismanagement of funds during the period of this policy was the establishment and function of the Centres of Professional Training. In the 1990s the ineffectiveness of this policy became obvious and a series of measures were taken in order to remedy the situation. A number of institutions were established for this purpose: the "National Institute for Labour", the "Employment Observatory" and other organs for initial and continuous training. In spite of their evident necessity however, these organs were kept in the background, were not allowed to function according to their terms of reference and in many cases were bogged down by bureaucracy. In the first years of this decade, the concept of work flexibility was introduced as another means to combat unemployment. It was soon promoted to the status of a "panacea": although the results on those who were subjected to it were far from satisfactory, the doctors prescribing it insisted on constantly increasing doses. "New Democracy", the rightwing leading opposition party at the time, advocated the paradigm of flexibility and competition in education, health system and social services. This adoration of flexibility, although seriously contested on theoretical and empirical grounds, was entrenched in the agenda of the "New Democracy" opposition, partly because it served the needs of market economy. At the same time it was elevated to a political argument and as such was beyond any scientific debate. During its time in government up to March 2004, the socialist "PASOK" had also accepted flexibility as the key to an energetic policy to fight unemployment. It was argued to be an indispensable economic necessity within the framework of the modernisation of the Greek economy and as such long overdue. ''Flexibility has a tense political and ideological dimension and has been described as an essentially contested concept. Nevertheless, the Organisation of European Cooperation 2
The other countries were Britain, Austria, Belgium, France, Switzerland, Italy, Holland and Sweden. 2.811 went to other countries and 414 to USSR (Ekdotiki-Athinon publisher/History of the Greek Nation 2000: 526-531). Australia also received large numbers of Greek immigrants during this period.
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and Development (OECD) considers a "flexible'' labour market one of the most important presuppositions for a successful campaign against unemployment. The OECD reference to Greece on this issue in the late 1980s has conveniently been used as another argument in favour of its application (Theoharakis 2002). Consistent employment policies are singularly missing in Greece's post Second World War period. The only visible policy pertaining to the problem of unemployment peripherally was the facilitation of the large-scale emigration during the 1960s. Early in the 1970s training schools were established with financial aid from the World Bank. This only attempt to apply an employment policy remained extremely limited and inefficient however (Dedousopoulos 2005). 3
European Labour Market Policies and their adoption by Greek governments and parties: "employability^% "activation*^ and "flexibility^'*
The employment policy advanced by the European Union following the Luxemburg Summit Conference in 1997 is based on the notion oi" employability as the main instrument in fighting youth unemployment. This particular EU policy has raised strong criticism in Greece. It is argued with good reason that the concept of "employability'' promotes a negative view of the unemployed who are perceived as a social group lacking technical skills, certified knowledge and social abilities to claim and maintain a job. Rather, they are depicted as lacking motivation and desire to work. "New Democracy" nor "PASOK" has neither significantly challenged this perception, especially when they held the office of government. In essence, this approach transfers the responsibility for the existing unemployment to personal characteristics attributed to the unemployed themselves thus succeeding in presenting them as the guilty part in this relation. As a result, the problem of unemployment and especially that of young people is dealt with as a moral issue and not as the economic and social question, which in fact it is. Within the framework defined by the concept "employability" the only policy solution suggested to combat unemployment is the "activation" of the unemployed. The problem has gradually reached this stage because during the last 25 years the views that have prevailed on this issue have formulated a conceptual framework according to which: (1) Unemployment is voluntary and it is caused by the negligence of the unemployed themselves. (2) The main target of economic policy is to fight inflation and not unemployment. As a result, the percentage of unemployment is subjected to limitations imposed by government decisions influenced by the rate of inflation and the deficit of the budget. (3) The rights of the working people, which have been recognised since the end of the Second World War, are now relegated into personal privileges granted from administration authorities or employers. (4) In spite the occasional official proclamations, it is to be doubted whether the government and the employers are seriously contemplating an official policy that provides full employment to the work force and at the same time improves the quality of working conditions.
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Greek governments in recent years have been content in relying exclusively on the available European Union funds on this issue. At the same time, the employment policy that is implemented manifestedly ignores the social policies related to the labour market and even more the human beings who are directly affected by the crude neo-liberal doctrines it is based on (Dedousopoulos 2005). The net result of this line of policy is high unemployment especially among the young. According to the National Statistical Service of Greece, unemployment reached 9.7% at the end of 2005 and the total number of registered unemployed was 470.000. However, among the young between 15-29 years unemployment rose to 19.1%; 13.1%o for men and 26.6%) for women. In this age group the percentage of the long-term unemployed women was 43.2% while the average in the Euro-zone was 21.1% during the same time, with Italy in first place with 49%. Unemployment among those with a postgraduate degree or a Ph.D. was especially high, having reached 8.5% at the end of 2005 from the 5.9% at the end of 2004. The university graduates were not doing better from 8% at the end of 2004, unemployment fell slightly to 7.1% the following year. Unemployment among graduates of Higher Technological and Professional Training was even higher at 12.6%. (Avgi, 19 March 2006: 13). The statistical figures at the end of 2005 underline a disturbing fact: those with a Master or a Ph.D. degree and those with no education have almost the same opportunities of finding work. Their percentage in unemployment is 8.5%) and 93% respectively. This disquieting tendency is reinforced by the comparison of unemployment among primary school graduates at 7.3%o and university graduates at 7.1%) (Epohi, 3 April 2006: 10). The doubtful benefits arising from the transformation of Universities into Higher Education Training Centres as ordained by the Bologna Convention are not as yet available in Greece because the Universities are resisting the pressure from the Ministry of Education to comply with a decision, which has been presented as inevitable. In this sense, Greece is perhaps not behaving as a true European Union member.^ At the same time, the competent authorities are conspicuously silent on the influence the new Bologna-designed degrees will have on unemployment. The recent successful demonstrations in France against the measures Prime Minister Dominique De Villepin and his government approved to introduce more "flexibility'' into the labour market brought to pubic attention for yet another time the ever pressing problem of unemployment in Greece. In this context, prominent economists underlined that scientific research has proven that 'flexibility'' with "security", applied by the EU member-states, is in fact responsible for preserving the high level of unemployment in Greece and the EU. It also contributes to lower productivity due to the insecurity of the temporarily employed."^ However, the expert-opinion on the issue can hardly convince a government that describes itself as bent on reforming the economy irrespectively of the political cost. In Greece's
The German Parliamentary State Secretary for Education Thomas Rachel, while in Athens to inaugurate the "International Education Fair 2006", pointed out in an interview that one third of the university degree studies in Germany are now providing bachelors and masters. There was no reference on how and to what extent this educational transformation affects unemployment among university graduates (Kathimerini, 19 March 2006: 15); for more on the "Bologna Process" see Papastratis 2004.
4
See for example the interview of the Director of the "Institute of Labor" Professor S. Robolis in the newspaper "Avgi", 25 March 2006.
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case, supporters of "flexibility in the labour market never really intended to debate this issue on scientific or empirical grounds. The direction of the reforms have always been a political question and it is abundantly clear that the two major political parties, "New Democracy", currently in power, and "PASOK", are eager to keep it as such. Thus, on the political level, the burden of resistance against the implementation of this political construct of work flexibility has fallen to the parties of the Left, the "Communist Party of Greece" and the "Coalition of the Radical Left" ("SYRIZA"). Trade Unions are not supporting the government and its policy on 'flexibility'' either, not even the ruling party's followers who form a substantial part of their membership. In this context it has become evident that only political pressure can influence the extent of the application of this policy. The Greek government is obviously observing developments in the political struggle regarding employment in the European Union, especially the reaction against the De Villepin legislation. But also the conflict within the German coalition government has caught its attention: here the conservative Minister of Economics and Technology Michael Glos has been promoting legislation that facilitates lay-offs against the agenda of the Social Democrat Minister of Labour and Social Affairs Franz MUntefering. In spite of its comfortable parliamentary majority, the government of "New Democracy" cannot ignore the strong reactions to its neo-liberal legislation and the resulting worsening state of the economy. After the elections in the spring of 2004, it inaugurated with hardly concealed "modesty" and self-assurance its campaign to "readjust the economy and inevitably the labour market irrespective of the political cost, as it was emphatically stated. It was an effort to cultivate the image of a comparatively more effective administration, which was at the same time detached from any responsibility for the strong reactions resulting from its legislation. Soon however, the government announced that it was undertaking a ''mild readjustment' of the economic reforms. In March 2006, government sources explained that repeated ministerial meetings had brought to light the danger of this policy provoking strong social reactions in the immediate fiiture. Consequently it was decided to slow down the pace of the "mild readjustment" even further in order to avoid inevitable tensions (Kathimerini, 19 March 2006: 4). At the heart of the controversy is the implementation of the "work flexibility" legislation for the largely state-owned public utility corporations that are in the process of acute privatisation. While the unpopularity of the government is rising, it faces continuous strong protests from the well-established trade and student unions as well as the challenge of general municipal elections in October 2006. Therefore it is the political cost and not its professed social awareness that is forcing the government to delay its economic policy and wait for the outcome of the municipal elections in order to decide on the next stages of its economic policy. 4
Conclusion
The strong reaction mentioned above but also the widespread feeling of dissatisfaction that permeates the largest part of the Greek society is based also on the fact that unemployment
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is often higher and more persistent that the official figures reveal.^ There is an additional hidden unemployment of 1.7% which, although it is calculated by the National Statistical Service of Greece, is not included in the official figure of 9.9%. This stems from the fact that the method applied by Eurostat and adopted by Greece authorises a discreet but official manipulation of figures. Factored in, total unemployment rises to an unacceptable 11.4%. In addition, there is also another a series of facts that even if they do not attract public attention underline the unacceptable face of unemployment as experienced in Greece. 5.2%, i.e. 220.000 persons, of those employed, work on part-time jobs, half of them because they cannot find afiiU-timejob. This amounts to another 2.6%) of the working force, i.e. 110.000 persons that are underemployed for reasons beyond their own decision. The unemployment allowance of 311 euro per month is granted for a period of 12 months and amounts to the 51% of the wage of unskilled worker instead of the 66.3% as postulated by the relevant legislation. The registered foreign workers, once heralded as a convenient and cheap labour force, now suffer the same fate as their Greek counterparts. At the end of 2005, 7.7% of them were unemployed (Avgi, 19 March 2001: 13).^ Almost fifty years ago, a well-known political leader who in the opposition at the time commented on the government's economic policy: "When figures prosper, people suffer." Perhaps it is no more true than today. Arguments in favour of a radical change in the EU social and economic policies are being proposed from quite opposite points of view. A recent article in the conservative "International Herald Tribune" recommended that Europe reject U.S. market capitalism, calling it inefficient and abusive to the public interest. This system has transformed labour into an anonymous commodity and put it into competition with an effectively unlimited global labour supply. This has resulted in employment insecurity, reduced or static wages, diminished or eliminated benefits and pensions, and destructive social pressures of falling living standards. Europe instead, a modem industrial society, which, in aggregated terms, is larger and wealthier than the United States, is perfectly capable of looking for social and economic solution on its own terms (Pfaff 2006). In the seminars of the 4^^ European Social Forum held in Athens in early May 2006, representatives of the main trade unions, the French CGT, the Italian CGIL, the German IG-Metall, the Belgian FGTB, and the Greek GSEE-ADEDY discussed the formation of a new alliance between trade unions and social movements. They also argued for the establishment of a new European social model that presupposes the overthrow of the strategy adopted at the Lisbon Convention (Avgi, 7 May 2006: 9). An alternative solution to the neo-liberal policies emanating from Brussels must be an entirely different model, promoting development and employment based on active state participation and not on the interests of private enterprises. Active state participation is seen as the best guarantor possible to make sure the interest of employees and people in general remain at the centre of the employment policy. In Greece, the problem is more acute. Apart A characteristic case of the stagnation in the labour market can be seen in Thessaloniki: At the end of 2005 in the sector of small to medium size enterprises 1.939 jobs were lost while 860 new ones were created (Imerisia, 19 April 2006). When the Census of March 2001 was conducted, 762.191 aliens (without Greek citizenship) were living in Greece, including Greeks from Eastern Europe and EU citizens. Immigrants from Asia and Egypt and Syria are to a greater extent men. 70% of the immigrants from Ukraine, Moldavia and Philippines are women. 80% of the aliens are of working age (15-64 years) as compared to 80%of the Greeks (Petrinioti 2005: 21).
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from the effects of the extended public sector, which traditionally reduces unemployment, it has been argued in this paper that the state strategy to face this problem was far from satisfactory for the past decades. The answer must be a concerted action within the context of Europe, especially in view of the fact that this kind of strategy would contradict the official policy of the EU. It is true that Greece sought to enter the European Economic Community mainly for political reasons and it was in fact accepted on this account, as it is the case of the Eastern Enlargement, which is still in progress (Papastratis 2005). The Greeks therefore are particularly sensitive and realise the necessity for political decisions within the EU. What however is increasingly difficult to accept is the fact that the social and economic policy of the EU is geared to favour private economic interests. This policy is presented as an edifice of historical necessity, a convenient way to conceal its true nature. The intensity with which the socalled benefits of market economy are being trumpeted tends to obscure the fact that at the bottom line it is public versus private interests. In my opinion the answer to this question is so obvious that it defies an explanation. To paraphrase the former French Prime Minister George Clemenceau, employment is too serious a business to be entrusted to private economic interests.
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Udo Bullmann /Johannes Loheide
Europa als entscheidendes Feld sozialer Auseinandersetzungen
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No Way Back - No Way Out?
Soziale Gerechtigkeit steht im Mittelpunkt der Diskussion um politische Weichenstellungen in Europa. Auf nationaler Ebene scheiden sich die Geister an nichts so sehr wie an der Weiterentwicklung der Sozialsysteme. Dariiber sturzen Regierungen oder kommen an die Macht, auch wenn die Kemfragen oft durch populistische Inszenierungen, nicht selten mit xenophobischem Hintergrund, tiberlagert werden. Parteien des sozialen Fortschritts, deren historischer Weg eng mit dem Kampf um eine stete Verbesserung der Lage der abhangig Beschaftigten verbunden ist, stehen unter Druck. „Das soziale System anpassen, um zu uberleben", ist zu einer Devise geworden, unter der sie zum Teil schwerwiegende EinbuBen an Zustimmung zu verzeichnen haben. Sorgen und Angste der Menschen markieren zu Anfang des 21. Jahrhunderts die Wegscheiden der politischen Entwicklung in Europa. Aktuell gilt dies gerade auch ftir das politische Einigungswerk selbst. So stolperte die von den Staats- und Regierungsvertretem der EU angenommene Verfassung ausgerechnet iiber das „Non!" und „Nee!" von Franzosen und Niederlandem, zweier Volker also, deren Staaten von Anfang an am politischen Aufbau der heutigen EU beteiligt waren. Wie Umfi-agen zeigen, wird eine Europaische Verfassung aber in beiden Landem von einer sehr breiten Mehrheit unterstiitzt. In Wirklichkeit zielen die Besorgnisse auf wirtschaftliche und soziale Fragen, die gelegentlich mit ungelosten Problemen von Migrationsgesellschaften vermischt werden (Europaische Kommission 2005a/b; Eurobarometer 2005). In den europaischen Gesellschaften droht sich eine neue Spaltung zu vollziehen: Auf der einen Seite diejenigen, die iiber die Mittel verftigen, sich in einer zunehmend kosmopolitischen Welt zurechtzufinden und die von weiteren Horizonten profitieren, auf der anderen Seite jene, denen diese Moglichkeiten verschlossen bleiben und die sich deshalb zunehmend an den Rand gedrangt und in ihrem sozialen Status, wenn nicht gar in ihrer Existenz, bedroht sehen. Die gesellschaftliche Integrationskraft von Politik steht auf dem Prufstand. Schmale Ergebnisse in der realen Welt scheinen umgekehrt proportional mit dem beliebigen Wortschwall einer nicht enden wollenden Anzahl von Talkshows zu korrelieren. Sozialwissenschaftler konstatieren ein „wachsendes Machtgefalle" zwischen territorial fixierten politischen Akteuren (Regierungen, Parlamenten, Gewerkschaften) und global agierenden Kapital- und Finanzmachten (Beck 2005 u. 2002: 101). Taglich umkreist soviel fluides Kapital den Erdball wie es der Summe aller Giiter und Dienstleistungen der Weltbevolkerung in einem halben Jahr entspricht. Offene Volkswirtschaften erlauben keinen Riickzug mehr zu Konzepten, die in kleinen abgeschotteten Nationalokonomien noch erfolgreich waren.
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Nicht wenige Kommentatoren wollen hierin die endgiiltige Abkehr vom Sozialstaatskonsens der Nachkriegsara begriindet sehen. Was bleibt als die Suche nach der richtigen nationalen Strategie, um zu retten, was zu retten ist? Gebeutelt von einem mit Schulden finanzierten VoUzug der deutschen Einheit wird diese Debatte gerade in der Bundesrepublik vor allem unter fiskalischen Gesichtspunkten gefiihrt. Unter „Modemisierung" wird bei dauerhaften finanziellen Restriktionen vielfach eine altemativlose, vielleicht noch moglichst intelligente „Verschlankung" des Sozialstaates verstanden, wahrend den widerstandigen Verteidigem sozialer Anliegen haufig das Etikett der ruckwartsgewandten „Orthodoxie" oder der „Besitzstandswahrer" anklebt. Mit Blick auf die europaische Entwicklung pladieren wir entschieden dafur, diesen verengten Diskursrahmen zu sprengen - und dies aus zwei Griinden: Fiir europaische Volkswirtschaflen wird es keine national erfolgreichen Strategien mehr geben, Wachstum und soziale Wohlfahrt alleine oder vorrangig mit nationalen „Bordmitteln" auf guten Kurs zu bringen. Die Verflochtenheit der Okonomie im europaischen Binnenmarkt erfordert vielmehr eine europaische Strategie zum Ausbau von Sozialstaatlichkeit. Aber nicht die EU anstelle der Nationalstaaten kann es richten, notwendig ist vielmehr die bewuBte Offnung von Gestaltungsraumen, die sich erst durch ein Zusammenspiel im gesamten politischen Mehrebenensystem ergibt. Gesellschaftliche Modemisierung in Europa, die Sozialstaatlichkeit erhalten und unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts emeuem will, muB deswegen zwei parallele, aber miteinander verbundene Bewegungen vollziehen: Auf der Ebene der Europaischen Union muB der von Anfang an asymmetrische Vorrang der Wirtschaftsintegration mit einem nur schleppenden Ausbau der sozialstaatlichen Elemente im Nachgang zugunsten eines aktiven und besser ausgewogenen Policy-Mix iiberwunden werden. Dies verlangt nichts weniger als eine zielstrebige Politik der Mitgliedstaaten, den sozialstaatlichen Korridor der Rechtssetzung und Politikgestaltung in der EU zu vergroBem und ihn nicht durch Auslassen von Chancen oder taktische Blockaden zu vertun. Gleichzeitig mtissen die eigenen nationalen Reformanstrengungen im Lichte der groBen gesellschaftlichen Herausforderungen, aber auch der besten in Europa praktizierten Losungen vorangetrieben werden. Europa kann voneinander lemen, jedenfalls dann, wenn eine ganzheitliche Betrachtung erfolgreicher politischer Konzepte zum MaB wird und nicht einzelne Elemente aufgrund vermeintlicher tagespolitischer Opportunitat isoliert werden. 2
Der zogerliche Aufbau von Sozialstaatlichkeit in der EU
Schon der erste Vertrag zur Griindung der Europaischen Wirtschaftsgemeinschaft von sechs Mitgliedstaaten aus dem Jahr 1957 enthielt ein Kapitel „Die Sozialpolitik", doch blieb seine Relevanz nicht zuletzt aufgrund der Verhandlungsposition der Deutschen Bundesregierung auBerst beschrankt. Im Unterschied zur Agrar-, Wettbewerbs- oder Verkehrspolitik wurde kein eigenstandiger Handlungsauftrag fur die Sozialpolitik (etwa Arbeitsrecht oder Systeme der sozialen Sicherheit) im Gemeinschaftsrecht erteilt. Unter den Regelungen mit sozialpolitischem Gehalt fanden sich die Vorschrift zur Gleichbehandlung der Geschlechter durch die Mitgliedstaaten sowie Vorkehrungen zur sozialen Absicherung der Arbeitnehmerfreiziigigkeit. Zudem konnten - gewissermaBen durch die Hintertur - Rechts-
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und Verwaltungsvorschriften einstimmig zur Verwirklichung eines Vertragsziels angeglichen werden, auch wenn keine ausdriickliche ermachtigende Handlungsnorm bestand. Doch erst in den 1970er Jahren kann von aktiv gestaltender EG-Sozialpolitik tiber die Regelung direkt grenziiberschreitender und marktnaher Aspekte (wie der Absicherung der Freiziigigkeit) hinaus die Rede sein. Auf einer EU-Gipfelkonferenz 1972 in Paris schluBfolgerten die Staats- und Regierungschefs, dafi wirtschaftliche Expansion kein Selbstzweck sei, sondem dazu verhelfen musse, die Lebensqualitat und den Lebensstandard der Bevolkerung zu heben. Ein sozialpolitisches Aktionsprogramm wurde in Auftrag gegeben, mit dem der Rat 1974 ausdriicklich anerkannte, daB Aktivitaten der EG zur Erreichung der drei Hauptziele, namlich Bekampfung der Arbeitslosigkeit, Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie einer weitergehenden Beteiligung der Sozialparteien, notig seien. Seither hat sich die Anzahl der sozialpolitischen Rechtsakte in Europa von Dekade zu Dekade ungefahr verdoppelt. Blieb die Anzahl der Sozialrichtlinien bis 1981 noch unter 10, so ist sie bis 2002 auf uber 50 (einschlieBlich Ausdehnungen und Anderungen sogar auf 79) angestiegen. Die weitaus meisten Gesetzesinitiativen entfielen dabei auf die Bereiche „Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz", auf eine dariiber hinausreichende Regelung der generellen Arbeitsumstande und -bedingungen (wie „Arbeitszeit", „Europaische Betriebsrate", „Jugendarbeitsschutz", „befristete und Teilzeitarbeitsverhaltnisse" etc.) sowie auf „Nichtdiskriminierung und Geschlechtergleichstellung" (Schulz 2003: 7ff.; Kowalsky 1999: 58f; Falkner 2004). Qualitative Spriinge wurden dabei durch die Reform der Europaischen Vertrage bewirkt (vgl. Tab. 1), die Einheitliche Europaische Akte von 1986 (Einfiihrung des Mitentscheidungsverfahrens, wodurch das Europaische Parlament zum gleichwertigen Gesetzgeber wurde), der Maastrichter Vertrag von 1992 (Sozialprotokoll) sowie die Vertrage von Amsterdam (1997) und Nizza (2001). Bemerkenswert ist dabei sicherlich der entscheidende Durchbruch zur Etablierung sozialer Gesetzgebung auf EU-Ebene wahrend und im Gefolge der Kommissionsprasidentschaft des franzosischen Sozialisten Jacques Delors (1985-1994). Vor allem das „WeiBbuch iiber Wachstum, Wettbewerbsfahigkeit und Beschaftigung" aus dem Jahr 1993 legte die Grundlage fiir eine gemeinsame europaische Sozial-, Wirtschafts- und Beschaftigungsstrategie, die ihren Niederschlag im Vertrag von Amsterdam und vorher schon im Sozialprotokoll der EU von Maastricht fanden.
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Tabelle 1: Sozialpolitische Handlungsauftrage im E(W)G-Vertrag^ EWGVertrag 1957
Einheitliche Akte 1986
Maastrichter Sozialabkommen 1992
Amsterdamer Vertrag 1997
..MaUnahmen" zur Verbesserung der zwischenstaatlichen Kooperation
-
-
-
-
++
AnreizmaBnahmen gegen Diskriminierung
-
-
-
-
++
„Mallnahmen" zur Bekampfung sozialer Ausgrenzung
-
-
-
+
+
++
++
Explizite EWG- Kompetenz2 fiir
„Ma(lnahmen" zur Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Mannern undFrauen
Vertrag 1 von Nizza 20013
-
-
-
++ +
++
+
Soziale Sicherheit und Schutz der Arbeitnehmer/innen
-
-
+
+
+
Schutz der Arbeitnehmer/innen bei Beendigung des Vertrags
-
-
+
+
+
Kollektive Interessenvertretung, Mitbestimmung
-
-
+
+
+
Beschaftigung von Staatsangehorigen dritter Lander
-
-
+
+
+
Arbeitsbedingungen (allgemein)
-
-
++ ++
++ ++
++ ++
++
++
++
Koordinierung der Beschaftigungspolitik Finanzierung der Beschaftigungspolitik
Unterrichtung und Anhorung der Arbeitnehmer/innen Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt und Gleichbehandlung am Arbeitsplatz 1 Eingliederung in den Arbeitsmarkt
-
-
++
-
++ ++
++ ++
++ ++
1 Sozialversicherungskoordinierung fur Wanderarbeitnehmer/innen
+
+
keine Auswirkungen
+
+
1 Freizijgigkeit der Arbeitnehmer/innen
++
++
keine Auswirkungen
++
++
1 Arbeitsumwelt (Sicherheit und Gesundheitsschutz)
Legende: Verabschiedung mit qualifizierter Mehrheit: ++ Einstimmigkeitserfordernis :+ Keine Erwahnung :1 Angegeben werden die erste Zuschreibung einer bestimmten Kompetenz und ihre Aufrechterhaltung in spateren Reformen. Es kommt ein breiter Begriff von Sozialpolitik zur Anwendung, der auch Nichtdiskriminierung gemali Art. 13 EGV und die Arbeitnehmerfreizijgigkeit umfaUt. 2 Wenn nicht anders angegeben (z.B.: „Ma(inahmen" oder „Koordinierung"), bezieht es sich auf die Kompetenz zur Rechtsetzung. 3 In einigen Fallen kann der Rat auf dieser Basis einstimmig beschlielien, dali das Verfahren der Mitentscheidung (und damit qualifizierte Mehrheit bei der Beschlulifassung im Rat) anwendbar wird (Schutz der Arbeitnehmer/innen bei Beendigung des Arbeitsvertrags, Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen 1 sowie Interessen von Drittstaatsangehorigen; vgl. Art. 137.2 EGV).
Quelle: Falkner 2004.
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Zwar anderte sich an dem Grundprinzip der nationalen Kemzustandigkeit nur wenig, aber die RoUe der europaischen Institutionen wurde gestarkt. Sie erhielten neue Aufgaben und der Zusammenhang zwischen den einzelnen Elementen der europaischen Wirtschafts- und Sozialpolitik wurde betont. Das Ziel der Beschaftigung wurde ebenso wichtig wie die makrookonomischen Ziele Wachstum und Stabilitat. Zusammen mit einer vorsichtigen Ausdehnung der europaischen Regelungsmaterie wurden zwei neue, quasi methodische Elemente des „europaischen Policy-Making" eingeftihrt: Im Maastrichter Sozialprotokoll wurde vorgesehen, daB die Kommission ohne Unterscheidung der Themen im Zuge der Gesetzgebung zunachst die Sozialparteien konsultieren und potentiell verhandeln lassen muB. Europaische Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen konnen somit selbst dazu beitragen, neue europataugliche ReguHerungen zu finden. Die Regelung, die auf die schon in der Einheithchen Europaischen Akte von 1986 verankerte Praxis des Sozialdialogs zuriickgreift, raumt den Sozialparteien, wenn gewunscht, neun Monate Prioritat vor legislativen Gemeinschaftsakten ein. So wurde beispielsweise eine Vereinbarung zum Eltemurlaub vom 14. Dezember 1995 als Richtlinie 96/34 vom 03. Juni 1996 in Kraft gesetzt. Eine getroffene Ubereinkunft zur Teilzeitarbeit wurde 1997 umgesetzt. Wie die Erfahrungen der zurtickliegenden Jahre belegen, scheiterten Arbeitgeber und Arbeitnehmer aber gerade auch in essentiellen Fragen, wie z.B. bei der Richtlinie ffir Europaische Betriebsrate (1993) und der Regelung der Leiharbeit (2001). In beiden Fallen muBte die Gesetzgebung iiber den Weg der qualifizierten Mehrheitsentscheidung betrieben werden (mit noch offenem Ende bei der Leiharbeit). Das bislang auf dem Wege des Sozialkontrakts zustande gekommene Gemeinschaftsrecht kann als Fortschritt betrachtet werden, da es in einigen Landem iiber bestehende nationale Regelungen hinausgeht und Bestrebungen fur Deregulierungen Schranken setzt. Allerdings bleibt kritisch anzumerken, daB von den Moglichkeiten des Sozialdialogs gerade seitens der Vertreter von Untemehmen und Arbeitgebem nur dann Gebrauch gemacht wurde, wenn dadurch weiterreichende Vorhaben der EU-Gremien verhindert werden konnten. Gerade das Spektrum der europaischen Untemehmer- und Arbeitgeberseite hat sich zudem noch als eher zerkliiftet und wenig interessiert an der Wahmehmung neuer legislativer Aufgaben erwiesen. Eigenstandige Gesetzesinitiativen der Kommission werden deshalb durch die hinzutretenden Moglichkeiten der Sozialparteien keineswegs ersetzt. Grundsatzlich bleibt die Kritik an der Option „Sozialstandards durch Sozialkontrakt" bestehen, daB der Rat bei einer Verbindlichkeitserklarung von Sozialvereinbarungen keine Gestaltungsbeftignisse mehr hat und auch das Parlament kein Mitentscheidungs- oder Anhorungsrechte mehr geltend machen kann. Eine weitere methodische Innovation wurde erstmals mit der auf dem Gipfel von Luxemburg 1997 verabschiedeten Europaischen Beschaftigungsstrategie eingefiihrt.^ Ohne an der Kemkompetenz der Mitgliedstaaten im Bereich der Beschaftigungspolitik zu rutteln, kommt die Konmiission ihrer europaischen Verantwortung fur das europaische Politikfeld dadurch nach, daB sie Vorschlage unterbreitet, die vom Rat unter Mitwirkung des Europaischen Parlaments angenommen werden. Die Mitgliedstaaten antworten durch eigene AkDie vier „Saulen" der Beschaftigungsstrategie sind: (1) Erhaltung und Erhohung der Beschaftigungsfahigkeit, (2) Forderung der Selbstandigkeit und des Untemehmergeistes, (3) Forderung der Anpassungsfahigkeit von Unternehmen und Arbeitnehmem an den technischen und wirtschaftlichen Wandel, (4) Bekampfiing von Diskriminierung und Ausgrenzung am Arbeitsmarkt.
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tionsplane, welche durch die Kommission bewertet werden und deren Umsetzung zur Grundlage der Evaluation im Hinblick auf den nachsten Jahreszyklus wird. Die hierbei angewandte „Offene Methode der Koordinierung" folgt dem Schema: „prinzipiell unverbindliche Zielvorgabe durch die EU" - „Antwort durch nationale Aktionsplane" - „Evaluation und Festlegung europaischer Benchmarks mit Empfehlungen an Mitgliedstaaten". Diese in Abgrenzung zur europaischen Gesetzgebung (Richtlinien, Verordnungen) auch als „Soft-law-procedure'' bezeichnete Vorgehensweise wird in der Folge zunehmend dort erwogen Oder praktiziert werden, wo europaischer Handlungsdruck langst unabweisbar ist, sich die Mitgliedstaaten aber nicht zu substanziellerem Souveranitatsverzicht bereit sehen. Mit der Formulierung der Charta der Grundrechte der Europaischen Union, die am 07. Dezember 2000 in Nizza proklamiert wurde, sind sozialpolitische Rechte weiter gestarkt worden. Die Grundrechtscharta formuliert neben Freiheits-, Burger- und Menschenrechten auch Arbeitnehmerrechte. Soziale Rechte wie Kiindigungsschutz, Streikrecht, der Anspruch auf Leistungen der sozialen Sicherheit sowie der Zugang zum Gesundheitsschutz wurden aufgenommen. Durch die Aufnahme der Grundrechtscharta in den Entwurf des Verfassungsvertrags werden sie zu Zielbestimmungen der EU. Aber schon jetzt sind sie wirkungsmachtig, da der Europaische Gerichtshof in seinen Urteilen bereits auf die Grundrechtscharta rekurriert. 3
Die Ausweitung der re-distributiven EU-Politik
Der Einsatz finanzieller Ressourcen der EU fur Aufgabenbereiche der europaischen Sozialpolitik wird geme unterschatzt. Auch wenn die Hauptsaulen des Sozialstaates im Falle von Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Invaliditat weiterhin national reguliert und fmanziert werden, ist durch die letzten Jahrzehnte hinweg ein erhebliches Element an re-distributiver EU-Sozialpolitik entstanden. Der Europaische Sozialfonds (ESF) war schon im ursprunglichen EWG-Vertrag von 1957 vorgesehen. Als Ziel wurde definiert, „(...) innerhalb der Gemeinschaft die berufliche Verwendbarkeit und die ortliche und berufliche Mobilitat der Arbeitskrafte zu fordem sowie die Anpassung an die industriellen Wandlungsprozesse und an Veranderungen der Produktionssysteme insbesondere durch berufliche Bildung und Umschulung" zu erleichtem (ehem. Art. 123, jetzt Art. 146 EGV). Zu Anfang erstattete der Sozialfonds den Mitgliedstaaten nachtraglich einen Anteil ihrer Kosten, solange Bedingungen wie die sechsmonatige Wiederbeschaftigung der Geforderten im AnschluB an die MaBnahme erfullt waren, ohne jedoch in die Arbeitsmarktpolitik selbst einzugreifen. Seither stiegen die durch den ESF vergebenen Mittel in absoluten wie in relativen Zahlen deutlich an. 1970 betrugen die tatsachlich verausgabten ESF-Mittel noch 1,0%, 1980 4,3%, 1990 7,0%, 1999^ 8,5% und 2004 7% des Gemeinschaftshaushaltes (vgl. Abb. 1; Europaische Kommission 2005c: 158ff.). Es werden langst Projektkriterien definiert, an denen sich die Mitgliedstaaten orientieren. Die Gewahrung von Teilfinanzierungen sichert einen zusatzlichen Multiplikatoreffekt durch die erforderlichen nationalen Erganzungsmittel. Im Zeitraum 2000-2006 forderte der ESF schwerpunktmaBig MaBnahmen fur arbeitsuchende Jugendliche, Langzeitar2
Es wurde der Anteil von 1999 gewahlt, da der Wert von 2,8% fur 2000 die Entwicklung verzerrt darstellt. Aufgrund des Beginns der neuen Programmplanungsperiode sind die tatsachlichen Mittelabfltisse in diesem Jahr sehr gering.
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beitslose, sozial benachteiligte Gruppen sowie Frauen auf dem Arbeitsmarkt (Falkner 2004). Abbildung 1:
Entwicklung der Ausgaben des Europaischen Sozialfonds im Verhaltnis zu den Strukturfonds insgesamt
Quelle: Eigene Darstellung, Daten: Europaische Kommission 2005c: 158ff. Um das AusmaB der re-distributiven Wirkung der EU-Politiken zu bemessen, muB man neben dem ESF die anderen inzwischen eingerichteten EU-Strukturfonds^ in die Betrachtung einbeziehen. Deren Anteil am gesamten EU-Haushalt stieg auf den gesamten zuruckliegenden Zeitraum bezogen (iberproportional an und belief sich im Jahr 2004 auf 33,7%, d.h. ein Drittel des gesamten Budgets steht fur re-distributive Aufgaben zur Verfiigung. Nicht unerwahnt bleiben darf in diesem Zusammenhang aber auch, daB der Anteil des die Agrarmarktpreise stiitzenden Garantiefonds fur die Landwirtschaft im Jahr 2004 bei immer noch 42,6% des Gesamthaushalts lag (Europaische Kommission 2005c: 160ff.).
Europaischer Fonds ftir regionale Entwicklung (EFRE), der Europaische Ausrichtungs- und Garantiefonds fiir die Landwirtschaft (EAGL), hier aber nur die Abteilung „Ausrichtung", das Finanzinstrument fiir die Ausrichtung der Fischerei (FIAF) sowie der 1987 geschaffene Kohasionsfonds, der Vorhaben in den Bereichen Umwelt und transeuropaische Netze in den Mitgliedstaaten finanziert, deren Wirtschaftsleistung pro Kopf unter 90% des Gesamtdurchschnitts der EU betragt.
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Abbildung 2:
Ausgabenentwicklung der EU-F6rdermittel in % des Gesamthaushalts
Quelle: Eigene Darstellung, Daten: Europaische Kommission 2005c: 160ff. 4
Von Fortschritten und Blockaden
Welche Faktoren miissen also im Riickblick als entscheidend ftir Tempo, AusmaB und Qualitat des Aufbaus sozialstaatlicher Strukturen im europaischen Rahmen angesehen werden? Der deutliche Anstieg der re-distributiven Ausgaben spiegelt den dynamisch wachsenden Bedarf ftir soziale wie territoriale Anpassungs- und EntwicklungsmaBnahmen im europaischen Binnenmarkt wider. Aus ex post geleisteten Ausgleichszahlungen an die nationalen Finanzminister ist langst ein EU-spezifisches Forderregime geworden, das die nationale Forderpraxis pragt und auf nationaler Ebene zur zusatzlichen Mobilisierung erheblicher Ressourcen fiihrt. Behindemde Faktoren bestehen zum einen in dem weiter hohen Anteil am EU-Haushalt, den der preisstutzende Garantiefonds ftir die Landwirtschaft einnimmt. Dieser Haushaltsteil ist weiterhin der einzige, der einer vollen Mitentscheidung durch das Europaische Parlament entzogen bleibt und allein von den europaischen Landwirtschaftsministem festgelegt wird. Eine Anderung wiirde aber durch das Inkrafttreten des vorgeschlagenen Verfassungsentwurfs bewirkt, in dem die Abschaffling der Trennung zwischen „obligatorischen" (Garantiefonds) und „nicht-obligatorischen" Ausgaben vorgesehen ist. Zusatzlich eingeschrankt wird die sozialpolitische Umverteilungswirkung durch ein Aufstellungsverfahren zum jahrlichen Haushalt wie zur mittelfristigen Finanzplanung, wobei
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der Rat als Vertretungsorgan der Mitgliedstaaten notorisch fiXr einen Plafond des EUHaushalts pladiert, der sich unterhalb des vertraglich als Obergrenze vorgesehenen Niveaus von 1,24% des Bruttonationaleinkommens der EU bewegt. Abhilfe konnte dagegen ein zukunftiges Finanzierungssystem schaffen, in dem die EU iiber eigene Einnahmequellen verfugt und den Biirgerinnen und Burgem so auch eine transparentere Sicht auf die KostenNutzen-Bilanz der EU-Politik ermoglicht wiirde. Europaische Sozialgesetzgebung im engeren Sinne konnte nur insofem betrieben werden, als die Mitgliedstaaten bereit waren, Rechtsetzungskompetenz auf die europaische Ebene zu tibertragen. Dies erfolgte nur zogerlich und bis heute ohne daB davon die traditionell sehr unterschiedlichen nationalen Systeme der sozialen Sicherung im Kern betroffen waren. Qualitative Spriinge ereigneten sich aber seit den 1980er und 90er Jahren dennoch, und zwar mit der sukzessiven Ausweitung der sozialpolitischen Rechtssetzungsmaterie (u.a. Sicherheit und Gesundheitsschutz, allgemeine Arbeitsbedingungen, neue MaBnahmen und Koordinationsfiinktionen) im Zuge der Vertragsreformen. Wesentliche Telle der neuen Aufgaben sehen eine Verabschiedung (mit qualifizierter Mehrheit im Rat) durch das Mitentscheidungsverfahren vor, in dem das Europaische Parlament die Rolle des gleichberechtigten Gesetzgebers einnimmt (vgl. Tab. 2). Daneben gilt das Mitentscheidungsverfahren fiir viele wichtige Politikfelder, wie etwa Verkehr, Umwelt oder Verbraucherschutz. Auch die gesamte Gesetzgebung fur den Binnenmarkt erfolgt nach dem Art. 251 EGV, also mit voUer Mitentscheidung des Europaischen Parlaments. Nicht selten greifen Rechtsmaterien aus Wirtschaft, Binnenmarkt und Sozialpolitik so ineinander, daB die Folgen der Gesetzgebung auch unmittelbar Konsequenzen fiir die benachbarten Politikfelder nach sich ziehen. Gerade in diesen Sektoren der Politik riickt ein neues Spielfeld mit seinen jeweiligen Krafteverhaltnissen in den Blick. 1st eine sozial- oder wirtschaftspolitische Rechtsmaterie erst einmal in die europaische Entscheidungsfindung iiberfahrt, werden die Mehrheitsverhaltnisse im Europaischen Parlament wie im Rat zu entscheidenden GroBen fur den Ausgang des Gesetzgebungsverfahrens. Sozialer Fortschritt oder Deregulierung zu Lasten der Beschaftigten entscheiden sich im Zusammenspiel der europaischen Institutionen, haufig noch in Verbindung mit den nationalen Folgegesetzgebungen.
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Tabelle 2: Sozialpolitische Gesetzgebungsbereiche in der EU nach dem Vertrag von Nizza* Auf Vorschlag der Kommission beschlieBt der Rat mit qualifizierter Mehrheit unter Zustimmung des Parlaments gemaft Art. 251 EGV = Art.lll-396 V (Mitentscheidungsverfahren)
• Verbesserung der Arbeitsumwelt, Schutz der Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz • Arbeitsbedingungen • Unterrichtung und Anhorung der Arbeitnehmer • berufliche Eingliederung der auf dem Arbeitsmarkt ausgegrenzten Personen Art. 141 EGV=^ Art. 111-214 V: • Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Mannern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt
Art. 13II EGV = Art. 111-124 y:
Der Rat beschlie&t einstimmig auf Vorschlag der Kommission nach Anhorung des Europaischen Parlaments
Art. 137 EGV = Art. 111-210 V: • soziale Sicherheit und Schutz der Arbeitnehmer • Arbeitnehmerschutz bei Beendigung des Arbeitsvertrags • Vertretung und kollektive Wahrnehmung von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen, einschliedlich der Mitbestimmung • Beschaftigungsbedingungen der Staatsangehorigen drifter Lander, die sich rechtmaliig im Gebiet der Gemeinschaft aufhalten
Der Rat kann einstimmig auf Vorschlag der Kommission nach Anhorung des Europaischen Parlaments beschlie&en, daft in folgenden Bereichen des Art. 137 EGV = Art. 111-210 V das Mitentscheidungsverfahren angewandt wird • Arbeitnehmerschutz bei Beendigung des Arbeitsvertrags • Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen, einschlielllich der Mitbestimmung • Beschaftigungsbedingungen der Staatsangehorigen drifter Lander, die sich rechtmaRig im Gebiet der Gemeinschaft aufhalten
Art. 131 EGV= Art. 111-124 V: • Antidiskriminierungsmadnahmen gegen soziale Ausgrenzung
• Fordermalinahmen der Mitgliedstaaten zur Antidiskriminierung von Menschen Art. 148 EGV = Art. 111-219 V: • Durchfuhrungsbeschlijsse fiir den Europaischen Sozialfonds Die Gesetzgebung gilt nichtiur das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht sowie das Ausspen'ungsrecht. Die Befugnis der Mitgliedstaaten, die Gmndprinzipien ihres Systems der sozialen Sicherheit festzulegen, werden durch die eriassenen Bestimmungen nicht beriihrt. Art. 139 EGV = Art. 111-212 V regelt die Rechtsetzungsbefugnis von Sozialpartnem. Sie konnen auf Gemeinschaftsebene Vereinbarungen schlieUen. Die Durchfuhrung der Vereinbarungen kann in den durch Art. 137 EGV= Art. 111-210 V erfadten Bereichen ohne Beteiligung des Parlaments durch BeschluR des Rates auf Antrag der Sozialpartner erfolgen. * Zusammenstellung: Esther Benthien, Buro Udo Bullmann
Beispiel Offentliche Auftragsvergabe - haben Tarijvertrdge noch Bestand? Die Vergabe offentlicher Auftrage nach europaischen Standards zu regeln, ist ein Erfordernis fairen Wettbewerbs im Binnenmarkt. Dennoch wird sofort klar: Wenn hier Anbieter mit den unterschiedlichsten Lohnniveaus gegeneinander antreten, kann sehr schnell nicht nur Wettbewerbsverzerrung, sondem auch dramatisches Sozialdumping die Folge sein. Aus diesem Grund forderte die sozialdemokratische Fraktion im Europaischen Parlament bei
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der Neufassung der Richtlinie die Durchsetzung einer Tariftreueklausel, die jedoch von CDU/CSU mit der Mehrheit der Europaischen Volkspartei (EVP) in erster Lesung im Januar 2002 abgelehnt wurde. Die EVP wollte die Vergabe von offentlichen Auftragen nur an die Standards von ftir „allgemeinverbindlich erklarten Tarifvertragen" binden, wodurch lediglich rund 1% der in Deutschland gultigen Vereinbarungen erfaBt worden waren. Erst im „Gemeinsamen Standpunkt des Rates" und spater in zweiter Lesung des Parlaments gelang es, eine Offnungsklausel fur „zusatzliche Bedingungen" durchzusetzen, nach der insbesondere „soziale und umweltbezogene Aspekte" durch den offentlichen Auftraggeber zugrundegelegt werden konnen."^ Was bedeutet das far die Praxis in einem Mitgliedstaat wie der Bundesrepublik Deutschland? Offentliche Auftraggeber, die etwa Nahverkehrskonzessionen ausschreiben, konnten nach europaischem Recht ortsiibliche Tarife verpflichtend machen. Nach deutschem Recht ware hierfar aber ein nationales oder auf Landerebene beschlossenes Tariftreuegesetz erforderlich, weil ein aus den 1950er Jahren stammendes „Gesetz gegen Wettbewerbsbeschrankungen" die Zulassigkeit „vergabefremder Kriterien" von einer eigenstandigen Rechtsnorm abhangig macht. Wenn also gegenwartig die Stundenlohne von Busfahrem von ehemals 12 Euro auf zum Teil unter 7 Euro in Zeitarbeitstarifen gesenkt werden, muB dies in Deutschland keinesfalls als Ausdruck zwingenden europaischen Wettbewerbsrechts akzeptiert werden. Helfen wiirde ein bundesweites Gesetz, das jedoch im Jahr 2002 am Widerstand einer CDU/CSU-gefiihrten Mehrheit im Bundesrat scheiterte. Die Lander Bayem (nur far den Baubereich), Berlin, Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Saarland, und Schleswig-Holstein haben eigene Tariftreuegesetze erlassen, andere wiederum, alien voran Hessen, dies jedoch ausdriicklich abgelehnt. Im Rahmen von Nahverkehrskonzessionen fahrt das in Bundeslandem ohne Tariftreuegesetz zu der sozialpolitisch fragwiirdigen Situation, daB es moglich ist, die Verwendung umweltfreundlicher Busse, ja sogar die Farbe der Haltestangen im Bus oder die Kleidung des Fahrers festzulegen. Dies wiirde aber nicht fur den Tarifv^ertrag gelten, nach dem die Fahrer entlohnt werden sollen, selbst wenn die ausschreibende offentliche Korperschaft, z.B. die Kommune, dies geme tun wiirde und bereit ware, einen entsprechend hoheren Preis zu akzeptieren. Beispiel Leiharbeit - warum keine einheitlichen europaischen Standards? Der Anteil der Leiharbeitnehmer/innen in Europa wachst kontinuierlich mit durchschnittlichen Steigerungsraten von rund 10% pro Jahr. Die einen sehen hierin ein wichtiges Element flexibler Arbeitsmarkte, die anderen verweisen kritisch auf die zumeist deutlich schlechteren Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen. Vor diesem Hintergrund schlug die EU-Kommission eine europaweit einheitliche Gesetzgebung vor, die dem allgemeinen Grundsatz der Nichtdiskriminierung von Leiharbeitnehmem folgte. Ausnahmen sah der Entwurf fiir Tatigkeiten in Untemehmen vor, die nicht langer als sechs Wochen dauem, worunter aber ein GroBteil der betroffenen Arbeitsverhaltnisse fallt. 4
Richtlinie 2004/17/EG des Europaischen Parlaments und des Rates vom 31. Marz 2004 zur Koordinierung der Zuschlagserteilung durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste vom 31. Marz 2004.
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Das Europaische Parlament beschloB daraufhin - auf Druck der linken Fraktionen und mit Untersttitzung christdemokratischer Gewerkschafter -, diese Ausnahmen abzuschaffen. Entsprechend der ersten Lesung vom November 2002 sollten Leiharbeiter vom ersten Tag an die gleichen Arbeits- und Entlohnungsbedingungen vorfinden wie diejenigen Kollegen, die sie ersetzen. Allein wenn eine angemessene und fortlaufende Entlohnung zwischen den tjberlassungen durch die Leiharbeitsfirmen gewahrleistet werde, sollten hierftir die Standards der mit den Gewerkschaflen ausgehandelten Tarifv^ertrage gelten. Eine solche Regelung, die Dumpingpraktiken weitgehend den Boden entzogen hatte, wird aber bis heute von einer Sperrminoritat im Rat blockiert. Das Vereinigte Konigreich, Irland, Danemark, Deutschland, Polen, Malta und die Slowakei (Stand Ende 2004) woUten dieses Ergebnis der Parlamentsberatung nicht akzeptieren. Einige dieser Staaten mochten gar eine Karenzzeit von sechs Monaten verwirklicht sehen. Fiir manche Lander, wie Spanien Oder Frankreich, in denen 80% der Einsatze einen Zeitraum von hochstens einem Monat nicht iiberschreiten, wiirde die Gesetzgebung damit gegenstandslos. Der Grundsatzstreit am Beispiel des Kampfs um die Dienstleistungsrichtlinie Die Dienstleistungsfreiheit gehort seit den Anfangen der europaischen Einigung zu den Grundfreiheiten, die die beteiligten Staaten untereinander garantieren. Nur wie diese Freiheit ausgeiibt und gewahrleistet wird, sollte iiber viele Jahre hinweg zu einem der heiBesten Streitpunkte in der EU-Geschichte werden. So hatte die Europaische Kommission unter Federfuhrung des seinerzeitigen Binnenmarktkommissars Frits Bolkestein im Januar 2004 den Entwurf fiir eine europaische Dienstleistungsrichtlinie^ vorgelegt. Kemelement der Regelung: Die Dienstleistung erfolgt nach dem sogenannten „Herkunftslandprinzip". Dienstleistungserbringer sollten grundsatzlich nur noch den Gesetzen des Landes unterliegen, in dem sie niedergelassen sind. Das Heimatland sollte auch fiir die KontroUe der Einhaltung der rechtlichen Regelungen verantwortlich sein. Die Ziellander hatten Standards der Entlohnung, des Umweltschutzes oder der Qualitat der Ausftihrung danach nur noch sehr eingeschrankt bis gar nicht mehr kontrollieren konnen. Eine Vielzahl von zivilgesellschaftlichen Organisationen, alien voran die Gewerkschaften, haben massiv gegen diesen Vorschlag mobilisiert. Nach zweijahriger offentlicher Debatte und mehreren europaweiten GroBdemonstrationen wird nun das Herkunftsland als Grundprinzip der Regelung aus der Richtlinie gestrichen. In dem auf Druck der sozialdemokratischen Fraktion mit der konservativen EVP im Europaischen Parlament am 16.02.2006 in erster Lesung erzielten KompromiB wurden das Arbeits-, das Arbeitskampf-, das Gewerkschafts- und Sozialrecht, der Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie maBgebliche Telle des offentlichen Dienstes voUstandig von der Richtlinie ausgenommen. Die Absicht Bolkesteins, der Richtlinie Vorrang vor alien anderen europaischen Regelungen zu verschaffen, wurde gestoppt und zum Teil in ihr Gegenteil verkehrt. Bestimmungen, nach denen eine effektive KontroUe des Arbeitslandes gegeniiber Entsendeflrmen praktisch unmoglich gemacht worden waren, wurden vom Parlament gestrichen. Doch im Nachgang dazu fmdet die Auseinandersetzung derzeit ihre Fortsetzung. Die Kommission legte auf der Basis des Parlamentsentscheids am 04.04.2006 einen revidierten Vorschlag fiir eine Richtlinie des Europaischen Parlaments und des Rates iiber Dienstleistungen im Binnenmarkt (KOM/2004/0002 endg.).
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Entwurf vor, in dem sie aber in Teilen, wie bei der Kontrollkompetenz der Mitgliedstaaten etwa oder durch parallel lancierte Leitlinien ftir die Entsendung von Arbeitnehmem „verlorenes Terrain" zuruckgewinnen will. Der Rat steht unter dem Druck verschiedener Interessen, auch von Landem, die weiter deregulieren wollen. Danach wird wieder das Parlament am Zug sein, das sich in jedem Falle zugute halten kann, den Kurs der Gesetzgebung vollig neu abgesteckt zu haben. Wird das alleine hinreichend sein, die sozialen Standards von Arbeitsverhaltnissen in der Bundesrepublik zu schiitzen? Im Falle der Umsetzung der urspriinglichen BolkesteinRichtlinie wiirde sich diese Frage so nicht mehr stellen. Doch auch nach der Kurskorrektur wird gelten: Selbst unter weniger streitigem europaischem Dienstleistungsrecht laBt sich nur der soziale Standard garantieren, der nationalen Regelungen entsprechend existiert. Die Bundesrepublik Deutschland weist hier weiterhin zwei dramatisch „offene Flanken" auf, die einer Vielzahl von Arbeitnehmem im ansonsten so wertvollen Binnenmarkt zum Verhangnis werden: Das europaische Entsenderecht, das den Schutz von Arbeitsbedingungen und Lohnen in alien Branchen des Arbeitslands erlaubt, ist in Deutschland weiterhin nur sehr eingeschrankt umgesetzt (Bau- und Baunebengewerbe, neuerdings Gebaudereinigung). Wenn wir nicht schnell zu angemessenen gesetzlichen oder tariflich garantierten Mindestlohnen finden, werden sich Mitbewerber aus Landem mit niedrigeren Lohnen vollig legal auf den Gmndsatz der Nichtdiskriminiemng stiitzen konnen. Wer also eine sich angleichende positive Spirale von Lohnen und Einkommen „nach oben" in Europa will, muB vor allem hier ftir entschiedene Andemngen sorgen. 5
Ein neuer Ansatz - die Strategic von Lissabon
Ein Binnenmarkt fur 450 Mio., mit dem Beitritt Bulgariens und Rumaniens bald 482 Mio. Menschen, eine gemeinsame Wahmng, der sich immer mehr Mitgliedstaaten anschliefien werden - aber 25, demnachst 27 einzelne politische Systeme und nationale Regiemngen? Was Europa fehlt, ist „Regiemngskapazitat", um die eigene okonomische Potenz mit den berechtigten Interessen seiner Biirgerinnen und Biirger an sozialem Fortschritt zu versohnen. An dieser Stelle tritt die im Jahre 2000 von dem damaligen sozialistischen Ministerprasidenten Portugals, Antonio Guterres, unterbreitete Lissabon-Strategie auf den Plan. Auf seinen Vorschlag hin verabschiedeten die in der portugiesischen Hauptstadt versammelten Staats- und Regiemngschefs ein politisches Programm, nach dem Beschaftigungsfordemng, Wettbewerbsfahigkeit, Umweltschutz und Kampf gegen soziale Ausgrenzung sich wechselseitig bedingen und verstarken. Europa soil sich zu einer Wissensgesellschaflt fortentwickeln und in die Fahigkeiten jedes einzelnen investieren. Die Lissabon-Strategie sollte auch die Instmmente liefem, um in Zukunfl ein koordiniertes und gemeinsames Handeln der EU und ihrer Mitgliedstaaten bei wichtigen gemeinsamen Zielsetzungen zu gewahrleisten. Angestrebt wird im Gmnde die Koordiniemng eines BUndels sich gegenseitig beeinflussender Reformen. Die MaBnahmen eines Mitgliedstaates gewinnen an Wirkung, wenn andere Mitgliedstaaten sie auch durchflihren. Wenn ein Mitgliedstaat zum Beispiel mit fmanziellen Anreizen, regionalen Innovationszentren, einer besseren Verbindung von Industrie und Umwelt sowie hoheren Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen ein erfolgrei-
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ches Innovationsregime schafft, ist das gut. Wenn es 25 tun und die EU deren Zusammenarbeit durch das Forschungsrahmenprogramm fordert, dann kann dies eine sich gegenseitig verstarkende Dynamik auslosen. Wenn man sich dann noch auf die gezielte Forderung wesentlicher Zukunftstechnologien verstandigt und kostenintensive GroBprojekte europaisch finanziert, dann hatte man ein Stuck mehr des gemeinsamen Potentials erschlossen. Die Lissabon-Strategie dient dazu, solche konzertierten Anstrengungen zu erzeugen. Ebenso konnen Reformen in einem Politikbereich Chancen in anderen eroffnen. Investitionen in ganztagige Kinderbetreuung ab dem Krippenalter bieten Eltem die Moglichkeit, Beruf und Familie zu vereinbaren. Frauen, aber auch Manner, konnen leichter nach der Familienpause ins Erwerbsleben zuruckkehren. Fruhzeitige und umfassende Kinderbetreuungsangebote steigem zudem nachweislich die Chancen von Kindem aus sozial schwacheren Familien und heben die SchuUeistungen allgemein, was langfristig ftir den Ubergang zur Wissensgesellschaft wesentlich ist. Tabelle 3: Neuer Koordinierungszyklus im Lissabon-ProzeB Vorschlag fiir Jahr t Winter JANUAR jahrlicher EUFortschrittsbericht in Jahr t, basierend auf Nationalen LissabonProgrammen in Jahrt-1,einschlieHlich Entwurf GBBundDurchfijhrungsbestimmungen zu Grundzugen der Wirtschaftspolitik
FriJhjahr
|
1 FEBRUAR/ IVIARZ
MARZ
~ER^ Beitrage FruhjahrsRatstagung formationen zu integriertem Leitlinienbilligt integrierPaket -ESPHCA tes Leit- ECOFIN linien- (COMP) Paket und EP zum Gesamtpaket
Sommer
Herbst
Winter
Nationale Lissabon-Programme (ruckblickend/ vorausschauend), aufderGrundlage von Beschaftigungsleitlinien und Grundzugen der Wirtschaftspolitik, einschliedlich NAP Beschaftigung. Stab.- und Konv.Programme getrennt vorgelegt
Kommission ijberpruft Umsetzung
APRIL ~Rat verabschiedet integriertes Leitlinien-Paket ECOFIN verabschiedet Grundzijge ESPHCA verabschiedet Beschaftigungsleitlinien
GBB: Gemeinsamer Beschaftigunc isbericht ESPHCA: Rat Beschaftigung, Sozialpo itik, Gesundhe it und Verbraucherschutz ECOFIN: RatWirtschaftundFinanzen COMP: RatWettbewerbsfahigkeit 1 NAP: Nationaler Aktionsplan Quelle: Europaische Kommission, Begleitdokument zur Mitteilung an die Friihjahrstagung des Europaischen Rates 2005 (COM (2005) 24): Zusammenarbeiten fur Wachstum und Arbeitsplatze. Ein neuer Start ftir die Lissaboner Strategie SEC (2005) 193, Brussel, 03.02.2005.
Der Koordination von MaBnahmen, der gemeinsamen Situationsanalyse und der Vorgabe konkreter Ziele kommt eine entscheidende Bedeutung zu. So wird jahrlich ein Fruhjahrs-
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gipfel der Staats- und Regierungschefs abgehalten, der aufgrund eines Kommissionsberichts neue Ausrichtungen vomehmen soil. Wirtschafts- und beschaftigungspolitische Leitlinien der EU sollen erarbeitet und in einem „Integrierten Richtlinienpaket" zusammengefaBt werden. Die Mitgliedstaaten entwickeln nationale Aktionsplane und berichten iiber den Fortschritt bei der Umsetzung (vgl. Tab. 3). Allerdings krankt dieser Versuch zum gemeinschaftlichen Aufbau von mehr ,,economic and social governance capacity" bis heute an einer halbherzigen Umsetzung. Zum einen haben sich die beteiligten Mitgliedstaaten und wirtschaftlichen Akteure diesen Ansatz nur in sehr eingeschranktem MaBe zu eigen gemacht („0>v«^r5'/?//7"-Problematik). Zum anderen geriet der urspriinglich ausbalancierte und mehrdimensionale Ansatz einer modernen Gemeinschaftsstrategie immer wieder unter Druck. Zahlreiche am GemeinschaftsprozeB beteiligte Institutionen und Interessenvertreter untemahmen den Versuch, die Arithmetik des Ansatzes bin auf eine wettbewerbsorientierte neoliberale Agenda zu verschieben (BullmannAVollny 2005). 6
^Benchmark Europe" - wer liegt vorn?
Wenn diese Widerstande iiberwunden und gleichzeitig entschiedene Kurskorrekturen hin auf eine aktiv gestaltende Wirtschafts- und Sozialpolitik vorgenommen wiirden, konnte die Lissabon-Strategic trotz emiichtemder Halbzeitbilanz zu einem zentralen Instrument flir Europas Fortentwicklung werden (Europaische Kommission 2005d und 2006). Aber schon jetzt laBt sich ablesen, mit welchen Mitteln sich Mitgliedstaaten in Europa in die ersten Range spielen: Im Leistungsvergleich auf dem Arbeitsmarkt schneiden die skandinavischen Staaten iiberdurchschnittlich gut ab. Sic haben Erwerbsraten von iiber 70% im allgemeinen und nur geringfugig schwachere fur Frauen. Deutschland kommt auf 65%, bei Frauen aber nur auf 59%, wobei ein hoher Teil der Erwerbsbeteiligung aus Teilzeitstellen besteht. Neben Umverteilung - Schwedens Gesamtsteuer- und Abgabenbelastung betragt 51% des BIP, Danemarks 49%, wahrend Deutschland bei nur 40% liegt (EiBel 2004) -, einem hohen Sozialschutzniveau und einem flexiblen Arbeitsmarkt spielen eine Reihe pro-aktiver MaBnahmen eine groBe RoUe. Deren Bedeutung wird von all jenen unterschatzt, die einer Deregulierung vor alien anderen MaBnahmen das Wort reden. Dazu gehort eine aktive Arbeitsmarktpolitik, die den einzelnen vom ersten Tag der Arbeitslosigkeit an betreut und fbrdert, ihn fordert, aber auch die Voraussetzungen dafur schafft, daB er die in ihn gesetzten Erwartungen erfiillen kann. Ausbildung und Umschulung - und zwar ein Leben lang - sind wesentliche Bestandteile der Beschaftigungsstrategie, auch fiir jene Gruppen, die vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind. Aktive MaBnahmen zur Geschlechtergleichstellung, einschlieBlich der Forderung von gleicher Bezahlung fur gleichwertige Arbeit, gehoren ebenso dazu. In letzter Instanz tritt der Staat als Arbeitgeber auf und subventioniert die Anstellung von Geringqualifizierten. Diese Politik garantiert niemandem Job-Sicherheit. Aber sie garantiert, daB Menschen nicht in Armut abgleiten und daB die Gemeinschaft einem hilft, eine neue Stelle zu fmden, dies aber auch erwartet. Orientiert wird auf ein Modell des „individuellen, erwachsenen Arbeitnehmers". Steuersystem, Transferleistungen, Forderung sowie Angebote flir Kinder
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und betreuungsbediirftige Personen gehen von individueller Erwerbsarbeit aus und stiitzen sich damit auf ein modemes Familienbild (BullmannAVollny 2005). Der Unterschied, den Bildungsinvestitionen und MaBnahmen zur Forderung von Kindem und Jugendlichen im Hinblick auf die soziale Entwicklungsfahigkeit europaischer Gesellschaften machen, kann nicht hoch genug bewertet werden. In Danemark stehen fur 64% der Kinder im Alter von unter drei Jahren Betreuungsplatze zur Verfiigung. Deutschland gehort hier bislang zu den SchluBlichtem in der EU: Nur 8,5% der deutschen Kinder werden in Krippen oder in der Tagespflege betreut, die westdeutsche Quote betragt sogar nur 2,7% (BMFSFJ 2006). Die Investitionen der skandinavischen Staaten in Bildung und Forschung iibersteigen die vergleichbaren Ausgaben anderer europaischer Staaten, aber auch die der USA und Japans deutlich. Wahrend der EU-Durchschnitt (EU-25) der Bildungsausgaben^ im Jahr 2002 bei 5,2% des Bruttoinlandproduktes lag, betrugen diese in Danemark 8,5%, in Schweden 7,7% und in Finnland 6,4%. Deutschland hingegen liegt mit 4,8% deutlich hinter den USA und dem EU-Durchschnitt zuruck (Eurostat 2006), und das nicht erst seit gestem, sondem schon seit Jahren (EiBel 1999). Abbildung 3:
Offentliche Bildungsausgaben im intemationalen Vergleich (2002)
Quelle: Eigene Darstellung, Daten: Eurostat 2006. Ausgaben fur Humanressourcen (offentliche Gesamtbildungsausgaben) in Prozent des BIP (Eurostat 2006).
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Der Anteil der Jugendlichen mit BerufsbildungsabschluB oder Abitur^ ist in Deutschland von 81,3% im Jahr 1993 auf 72,8% im Jahr 2004 gesunken. Ziel der Lissabon-Strategie ist aber eine Quote von 85%. Zwar sind die Zahlen auch in Skandinavien zuriickgegangen, aber ein Land wir Schweden hat immer noch eine Quote von 86,3%) (Eurostat 2006). Vor allem aber beim lebenslangen Lemen liegt Deutschland hoffnungslos zuruck. In Landem wie Schweden, Finnland oder Danemark, aber auch GroBbritannien sind drei- bis funfmal mehr Menschen in Aus- oder Fortbildung begriffen als in Deutschland (vgl. Abb. 4). Abhildung 4: Lebenslanges Lemen im europaischen Vergleich (2004)
Quelle: Eigene Darstellung, Daten: Eurostat 2006.
Der Beitrag, den der technische Fortschritt zum Wachstum liefert, betragt dementsprechend in Schweden 73%), in Danemark 72%), in Finnland 62%, in Deutschland aber nur 50% (Hishow 2006: 46). Mit ihrer klaren Orientierung an Bildungsinvestitionen und aktiver Integrationspolitik legen die nordischen Staaten die Grundlage ihrer Wettbewerbsfahigkeit bei gleichzeitiger Fortschreibung und Modemisierung ihres Sozialmodells.
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Anteil der 20-24jahrigen, die die Sekundarstufe II (Abitur oder BerufsabschluB) erreicht haben (Eurostat 2006).
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Ausblick und Ansatzpunkte fiir eine emanzipatorische Perspektive in Europa
Welche Perspektive bietet sich angesichts der hier angeflihrten Beispiele und Analysen fiir eine emanzipatorische Politik in Europa? Wie konnen sozialpolitische Errungenschaften vor dem Hintergrund von Globalisierung und der Weiterfflhrung des europaischen Projekts gesichert, vor allem aber weiterentwickelt werden? Im Zentrum einer politischen Strategie, die nach vome weist und sich nicht auf die bloBe (und mittelfristig aussichtlose) Ruckwartsverteidigung eines nationalen Status quo beschrankt, muB die Verkniipfiing nationaler und europaischer Reformen stehen. Politik zur sozialen Emeuerung Europas wird deshalb bewuBte und in strategischer Absicht formulierte MehrebenenpoHtik sein miissen. Dies wird an den obigen Beispielen der Dienstleistungsrichtlinie wie auch der offentlichen Auftragsvergabe besonders deutlich. Sie zeigen, daB nationale Rechtsetzung in europaisch dominierten Feldem „europataugHch" ausgestaltet werden muB, wenn europaisch formulierte soziale Schutzklauseln in den Mitgliedstaaten tatsachlich greifen sollen. Umgekehrt weist die Auseinandersetzungen um die Leiharbeit darauf hin, daB eine nationale Blockade durch wenige Mitgliedstaaten einen europaischen Fortschritt in der Sozialpolitik behindem kann, es also auch auf nationaler Ebene eine Auseinandersetzung um die Politik des jeweiligen Staates auf der europaischen Ebene geben muB. Das Beispiel der nordischen Staaten zeigt, daB Modemisierung und Wettbewerbsfahigkeit auf nationaler Ebene sehr wohl mit der Starkung des eigenen Sozialmodells einhergehen konnen. Eine integrative Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik scheint sie umgekehrt geradezu fiir europaische Spitzenpositionen zu pradestinieren. Die jeweiligen Modemisierungsansatze in den skandinavischen Landem haben durchaus auch experimentiert, sich aber mit Erfolg jeweils um PaBfi)rmigkeit im Interesse der Adressaten ihrer Politik bemiiht. Dabei wurde die Ressourcen- und Verteilungsfrage gerade nicht ausgeblendet. Bei durchaus unterschiedlichen Finanzierungssystemen gelingt es den nordischen Landem, die erforderlichen Finanzmittel durch hohere Umverteilungs- und Steuerquoten fiir eine modeme Sozialstaatspolitik zu mobilisieren. Auf europaischer Ebene muB der Ansatz von Lissabon in seiner originaren Form - mit den Eckpfeilem Wettbewerbsfahigkeit, Beschaftigung, sozialer Zusammenhalt und Nachhaltigkeit - gestarkt werden. Geeignet hierzu ware eine koordinierte Initiative fiir Zukunftsinvestitionen in der EU. Statt mit hohen eigenen Sparraten iiber Kapitalmarkte vermittelt ein immenses Haushaltsdefizit zu finanzieren wie in den USA, sollten wachstums- und nachhaltigkeitswirksame Investitionen in Bildung, Wissen, Forschung, Kinderbetreuung, soziale Dienstleistungen, lebenslanges Lemen und europaische InfrastrukturmaBnahmen flieBen. Eine solche, vom ehemaligen schwedischen Finanzminister und Generaldirektor der GD Beschaftigung der EU-Kommission, Allan Larsson (2006), als ,^mart growth'' bezeichnete Strategie sollte die „oW grow^/z"-Orientierung ablosen, nach der Wachstum alleine aus Deregulierungsschritten folgt. Eine bessere makrookonomische Koordination muB eine konjunktur- und wachstumsgerechtere Anwendung des Stabilitatspaktes mit einbeziehen. Um dem Gleichklang der Lissabonziele gerecht zu werden, bedarf es auch im Rahmen der europaischen Gesetzgebung zur Durchsetzung des Binnenmarkts einer ausgewogenen Beachtung der verschiedenen Ziele. Im Spannungsverhaltnis von unbeschranktem Wettbewerb auf der einen sowie sozial- und umweltpolitischen Belangen auf der anderen Seite, ist
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der Schwerpunkt in der Vergangenheit zu sehr auf den Aspekt des Wettbewerbs gelegt worden, wie die Beispiele Dienstleistungsrichtlinie und Vergaberecht zeigen. Die Europaische Union braucht eine neue Diskussion zum Verhaltnis von Wettbewerbsregeln, sozialen und umweltpolitischen Zielen und insgesamt der offentlichen Giiterproduktion. Kein Markt funktioniert ohne offentliche Dienstleistungen, deren Stellenwert in einer europaischen Rahmenrichtlinie definiert werden sollte. Angesichts der Unterschiede zwischen den Sozialmodellen innerhalb der EU ist eine Angleichung auf ein „Standardsystem" kurzfristig nur schwer denkbar (Heise 2004: 6). Das hindert aber nicht daran, eine aktive Sozialgesetzgebung auf europaischer Ebene zu betreiben, die ihre Spielraume nutzt. Sozial- und Binnenmarktgesetzgebung konnen nicht nur Mindeststandards setzen, sondem dariiber hinaus Integration fordem und Teilhaberechte verburgen helfen. Dies auf der europaischen Ebene erreichen zu wollen, muB aber zu einem klar umrissenen Auftrag nationaler Regierungspolitik werden. Nur dann werden die europaischen Institutionen wie Rat und Parlament (entsprechende Mehrheitsverhaltnisse vorausgesetzt) ihre Gestaltungsmoglichkeiten voll ausschopfen konnen. Ein „Aufbruch nach vom" wird nur moglich sein, wenn um die zentralen Themen offentliche Meinungsbildung iiber nationale Grenzen hinweg entsteht. Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und sozialen Initiativen kommt eine entscheidende Bedeutung zu, wenn es darum geht, die Diskussion in alien Stufen des europaischen Mehrebenensystems zu intensivieren. Um sozialen Fortschritt fur das europaische Projekt zu erstreiten, wird es daher auch in Zukunft aller Anstrengungen bedtirfen. Ob diese Aufgabe gelingt, entscheidet iiber die Zukunft unserer Gesellschaften. Literatur Beck, Ulrich (2005): Befreiung von der Vollbeschaftigungsorthodoxie, in: Boll.Thema, Das Magazin der Heinrich-Boll-Stiftung, Berlin, Ausgabe 3, S. 29-30. Beck, Ulrich (2002): Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter, Frankfurt am Main. Benz, Benjamin (2004): Nationale Mindestsicherungssysteme und europaische Integration, Wiesbaden. Bullmann, UdoAVollny, Heinrich (2005): Die Lissabon-Strategic. Chancen fur eine sozialdemokratische Offensive, spw H. 146, Ausgabe 6/2005. BMFSFJ (Bundesministerium fiir Familie, Senioren, Frauen und Jugend) (2006): Die Betreuungssituation fur Kleinkinder in Europa;http://www.deutschland-wird-kinder-freundlich.de /Redaktion BMFSFJ/RedaktionFamilienfreundlich/PDF-Anlagen/hintergrund-europ-vergleich,property=pdf ,bereich=familienfreundlich,rwb=true.pdf, vom 26.04.2006. EiBel, Dieter (2004): Steuergerechtigkeit oder der Marsch in den Lohnsteuerstaat, in: Gewerkschaftliche Monatshefte Heft 2/2004, S. 70-79. EiBel, Dieter (1999): Offentliche Armut, privater Reichtum und der Stellenwert der Bildung, in: Neumann-Schonwetter, Marek et al. (Hg.): Anpassen und Untergehen. Beitrage zur Hochschulpolitik, Marburg. Eurobarometer (2005): Eurobarometer 64. Die offentliche Meinung in der Europaischen Union, Herbst 2005. Nationaler Bericht Deutschland; http://europa.eu.int/comm/public_opinion/ archives/eb/eb64/eb64_de_nat.pdf, vom 25.01.2005. Europaische Kommission (2006): Zeit zu handeln - Fortschrittsberichtbericht 2006 iiber Wachstum und Beschaftigung der Europaischen Kommission; http://www.europa.eu.int/growthandjobs/ annual-report_de.htm, vom 04.02.2006.
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Jorg
Huffschmid
Erneuerung des Sozialstaates gegen die Herrschaft der Finanzmarkte - Herausforderungen demokratischer Wirtschaftspolitik in Europa
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Politik als Demontage des Sozialstaates - die neoliberale Gegenreform
Die europaische Wirtschaft ist im letzten Vierteljahrhundert in einen Teufelskreis aus Wachstumsschwache, Massenarbeitslosigkeit und Umverteilung von unten nach oben getrieben worden. Die Elemente verstarken sich gegenseitig: Geringes Wachstum fuhrt dazu, daB zum Ausgleich ftir die durch Rationalisierung vemichteten nicht geniigend neue Arbeitsplatze geschaffen werden und die zusatziich auf den Arbeitsmarkt kommenden Menschen keine Beschaftigung finden; folglich steigt die Arbeitslosigkeit. Dies setzt die Gewerkschaften unter Druck und macht es ihnen schwer, Lohnsteigemngen durchzusetzen, die den Lebensstandard der Beschaftigten sichem und ihren Anteil an der gesamtwirtschaftlichen Wertschopfiing zumindest halten; die Lohnquote sinkt. Als Folge stagniert oder vermindert sich der private Verbrauch, auf den mehr als die Halfte der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage entfallt. Weiterer Druck auf das Wachstum ist die Folge, die nachste Runde beginnt... Die Krafte des Marktes werden diese Abwartsspirale nicht durchbrechen, sie haben sie im Gegenteil hervorgebracht und werden sie weiter verfestigen. Fur einen Ausbruch aus dem Teufelskreis bedarf es energischer wirtschaftspolitischer Gegensteuerung. Sie kann an alien Elementen des Abstiegs ansetzen: Sie kann z.B. durch offentliche Investitionen Wachstum und Beschaftigung ankurbeln und damit zugleich den Verfall der offentlichen Infrastruktur in den meisten Landem der EU stoppen. Wachstum wiirde aber auch gefordert, wenn die staatlichen Behorden ihre Politik des Personalabbaus beendeten, die sie unter dem Diktat der Maastricht-Kriterien und des Stabilitats- und Wachstumspaktes seit mehr als 10 Jahren betreiben und als dessen Folge der Umfang offentlicher Dienstleistungen fast uberall geringer und ihre Qualitat deutlich schlechter geworden sind. Selbst ohne gesamtwirtschaftliches Wachstum gibt es direkt wirkende Mittel gegen die Arbeitslosigkeit. Das wichtigste ist die Verkiirzung der individuellen Arbeitszeiten fiir die Beschaftigten. Die offentlichen Arbeitgeber konnten hierbei vorangehen und durch gesetzliche Begrenzung der Hochstarbeitszeit wie auch der Uberstunden die Bedingungen fur Arbeitszeitverkiirzungen in der Privatwirtschaft verbessem. SchlieBlich gibt es auch Moglichkeiten zur politischen Korrektur der Fehlentwicklungen bei der Einkommensverteilung, wie z.B. eine starker progressive Besteuerung, oder die Einfiihrung eines gesetzlichen Mindestlohnes. Nichts davon geschieht jedoch. In den meisten Landem der EU steuert die Politik dem okonomischen Abstieg und der sozialen Polarisierung nicht entgegen, sondem verstarkt beide. Eine fiindamentalistische Finanzpolitik halt den Abbau der Staatsschulden und den Ausgleich der offentlichen Haushalte fiir ihre wichtigsten Aufgaben und will gleichzeitig durch Steuersenkungen fiir die Untemehmen deren Position auf dem Weltmarkt starken.
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Folglich streicht sie vor allem die Sozialleistungen und erhoht die Steuem da, wo Unternehmen nicht belastet werden. Die offentlichen Arbeitgeber sind Pioniere bei der Verlangerung der wochentlichen Arbeitszeit und bei der Vemichtung von Arbeitsplatzen. Deutschland ist im Ergebnis dieser Politik in der Tat - wie schon in den 1980er Jahren - Exportweltmeister, aber die Hoffnung, daB die durch Ausfiihrwachstum geschaffenen Arbeitsplatze die Arbeitsplatzvemichtung ausgleichen konnen, welche durch die Schwache der Binnennachfrage entsteht, ist seit langem widerlegt. In den anderen Landem - wie z.B. Italien - tragt die deutsche Exportposition obendrein zu Leistungsbilanzdefiziten und massiven Entwicklungsproblemen bei. Warum wird eine Politik, deren wirtschaftliche und soziale Versprechungen so offensichtlich und so lange nicht eingehalten werden, dennoch nicht korrigiert, sondem - auch unter wechselnden Regierungskonstellationen - weiter betrieben? Die Antwort kann in drei Teilen gegeben werden: Erstens gibt es direkte und unmittelbare Profiteure der aktuellen Regierungspolitiken: die groBen intematonal operierenden Konzeme, fur die Lohn- und Sozialabbau unmittelbare Kostensenkungen bedeuten und die sich den schadlichen Folgen fur die Binnennachfrage durch verstarkte intemationale Expansion entziehen konnen. Hierzu gehoren auch die groBen Finanzkonzeme, die an Boom und Krise gleichermaBen verdienen. Sie verfiigen iiber groBe Macht und Zugange zu den politischen Entscheidungszentren. Zweitens richtet sich die Politik gegen einen wirtschaflts- und sozialpolitischen Reformkurs, der bis in die 1970er Jahre in Westeuropa mehrheitsfahig war, dem Untemehmerlager aber insgesamt (nicht nur den GroBkonzemen) nicht paBte, weil er ihre okonomische und politische Vorherrschaft einschrankte. Dies ist ein weltweiter ProzeB: die Entwicklung des Neoliberalismus als umfassende Strategic der Gegenreform und des .Rollback'' gegeniiber den Reformfortschritten nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie wird nicht nur vom Kapital, sondem auch von den Eliten in Politik, Medien und Wissenschafl getragen, die dabei auf die Zwange der Globalisierung und die Gesetze der Finanzmarkte verweisen und sich durch den Zusammenbruch des „realen Sozialismus" in Osteuropa bestatigt sehen. Drittens schlieBlich akzeptiert auch - immer noch - die Mehrheit der Menschen diese Politik, obgleich sich ihre Lebensbedingungen hierdurch offensichtlich verschlechtem. Der Grund hierfiir liegt darin, daB ihnen eine plausible Alternative fehlt, ftir die sie sich politisch einsetzen konnen und wollen. 2
Fiihrungswechsel - Aufstieg der Finanzmarkte zur Speerspitze der Gegenreform
2.1 Von begrenzter Kooperation zu unbegrenzter Konkurrenz Die Veranderung der gesamten wirtschafts- und sozialpolitischen StoBrichtung in Richtung auf umfassende Gegenreform ist in hohem MaBe durch die Entwicklung der intemationalen Finanzmarkte und der auf ihnen fuhrenden Akteure vorangetrieben worden. Am Anfang dieser Entwicklung standen die Aufkiindigung der intemationalen wahmngspolitischen Kooperation der kapitalistischen Lander und die Freigabe ungeziigelter Konkurrenz auf dem Weltmarkt. Die Zusammenarbeit - unter klarer Fiihmng der USA - war gegen Ende des Zweiten Weltkrieges in Bretton Woods verabredet worden und sollte den Wiederaufbau der nationa-
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len Volkswirtschaften vor storenden intemationalen Einfliissen absichem, ohne den Welthandel einzuschranken. Diesem Zweck diente das System der festen Wechselkurse, welches das Wechselkursrisiko in die politische Verantwortung stellte und damit fur die Privatwirtschaft ausschaltete. Diesem Zweck diente auch die Einrichtung des intemationalen Wahrungsfonds als Beistandsinstanz zur tJberbruckung von kurzfristigen Zahlungsbilanzkrisen sowie die Akzeptanz von Kapitalverkehrskontrollen zur Absicherung einer Wachstums- und Vollbeschaftigungspolitik. Die Kooperation war aber - entgegen dem Ratschlag von Lord Keynes, der als britischer Vertreter an den Verhandlungen von Bretton Woods teilgenommen hatte - nicht so weit gegangen, auch eine gemeinsam verwaltete Weltwahrung zu etablieren und einen Mechanismus zur Verhinderung langfristiger Leistungsbilanztiberschtisse zu installieren. Stattdessen wurde der US-Dollar zur Leitwahrung gemacht und manche Lander, vor alien anderen die Bundesrepublik Deutschland, orientierten sich in ihrer Politik fruhzeitig am Export und erzielten immer hoher Leistungsbilanziiberschusse, mit der Folge zunehmender intemationaler Ungleichgewichte. In dieser Situation kiindigten die USA den Kooperationsrahmen: Sie hoben ihre Garantie fester Wechselkurse auf und forderten die Liberalisierung des intemationalen Kapitalverkehrs. Dies setzte eine neue Dynamik kapitalistischer Intemationalisiemng und Instabilitat frei. Sie wurde uber die Finanzmarkte transportiert und verlieh der neoliberalen Gegenreform eine enorme StoBkraft. Die Wahmngen traten in Konkurrenz zueinander und die Entscheidung, in welcher Wahmng fliissige Mittel angelegt werden sollten, wurde zu einem relevanten Faktor von Untemehmensmanagement: Zum einen muBte man sich gegen unerwartete Wechselkursandemngen absichem, zum anderen konnte man aber auch auf Wechselkursandemngen spekulieren und Anlageentscheidungen auf diese Spekulationen griinden. Diese neue Dimension intemationaler Konkurrenz konnte sich aber nur entfalten, wenn die Beschrankungen fur den intemationalen Kapitalverkehr fielen. Die Liberalisiemng des Kapitalverkehrs wurde daher zu einer Hauptfordemng der USA, der OECD und des Intemationalen Wahmngsfonds. Deutschland gehort zu den Landem, die diese Fordemng am friihesten, namlich bereits Anfang der 1980er Jahre, erfiillt hatten. Im Laufe der 1980er und 1990er Jahre anderte sich unter dem EinfluB dieser neuen Dynamik der Charakter der Finanzmarkte wesentlich. Sie wurden von nachfragegetriebenen zu angebotsgetriebenen Markten. Das heiBt, sie wurden von Markten, auf denen Investoren nach Fremdkapital zur extemen Finanziemng ihrer Investitionen suchen (oder Regiemngen nach Mitteln zur Finanziemng von Haushaltsdefiziten oder Haushalte zur Finanziemng langfristiger Anschaffungen), zu Markten auf denen die Besitzer fliissiger Mittel nach Investoren suchen, die ihnen diese Mittel abnehmen und dafur bezahlen. An die Stelle der Investitionsfinanziemng tritt das Finanzinvestment als treibendes Motiv der explosionsartigen Entwicklung globaler Finanzmarkte. Der tieferliegende okonomische Hintergmnd dieser fundamentalen Verandemng liegt aber nicht bei den Finanzmarkten, sondem darin, daB sich die kapitalistische Entwicklungsdynamik erschopft hatte und die Einkommensverteilung kontraproduktiv fur die weitere Entwicklung wurde: Sie fuhrte dazu, daB sich am oberen Ende der Einkommens- und Gewinnpyramide immer mehr Mittel ansammelten, die theoretisch fiir Investitionen zur Verfugung gestanden hatten, fur die aber aufgmnd der Wachstumsschwache rentable produktive Investitionsgelegenheiten fehlten.
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2.2 Liberalisierung, Spekulation, neue Akteure: neue Dynamik der Finanzmdrkte Start in den produktiven Kreislauf wurden diese Mirtel daher zunehmend an den Finanzmarkten investiert. Mit dieser Veranderung waren zwei weitere Entwicklungen an den Finanzmarkten verbunden: Zum einen nimmt das Gewicht des Handels mit bereits bestehenden Wertpapieren (des Sekundarmarktes) gegeniiber dem eigentlichen Finanzierungsgeschaft durch die Neuausgabe von Wertpapieren (Primarmarkt) massiv zu. Die Finanzinvestoren legen die Mirtel nicht mehr allein und oft nicht einmal in erster Linie da an, wo sie hohe Wertschopfiing und Zinsen oder Dividenden erwarten. Entscheidend wird zunehmend die Erwartung von Preis(=Kurs)anderungen der jeweiligen Aktien oder Anleihen. Diese Kursanderung muB nichts mit realen Substanzanderungen - z.B. bei der Produktivitat oder MarkterschlieBung - zu tun haben, sondem kann sich auch auf die Vermutung uber die Kaufe anderer Marktteilnehmer beziehen. Sie ist der Kern jeder Finanzspekulation. Erwartungen uber Kursanderungen bilden sich aufgrund sehr verschiedener - rationaler oder irrationaler - Faktoren und konnen sich schnell andem und in gegenteilige Erwartungen umschlagen. Das ist dann von Relevanz, wenn sie zu Massenphanomenen werden, die Finanzanleger in einer Art Herdentrieb veranlassen, einer einmal begonnenen Entwicklung zu folgen und diese dadurch - oft in irrrationaler Weise - zu verstarken, was zu Spekulationsblasen flihrt. Zum anderen hat sich in den letzten zwanzig Jahren eine neue machtige Gruppe von Akteuren auf den intemationalen Finanzmarkten herausgebildet und die Ftihrung iibernommen: die institutionellen Investoren. Dabei handelt es sich um Untemehmen, die als Versicherungen, Investment- oder Pensionsfonds groBe Mengen kleiner Betrage von Versicherten, kleinen Sparem und Beitragszahlem - oder als „Hedge-Fonds" oder „Private Equity-Gesellschaften" kleinere Mengen groBerer Betrage von reichen Individuen oder Unternehmen - konzentrieren und gewinnbringend anlegen. Damit schiebt sich eine zusatzliche Instanz zwischen Glaubiger und Schuldner, die zum einen die Macht der Geldbesitzer durch Konzentration der Mirtel potenziert und zum anderen ausschlieBlich dem Interesse verpflichtet ist, die Rendite dieser Geldbesitzer zu maximieren. Die drei zentralen Eigenschaften modemer Finanzmarkte, namlich erstens das Ubergewicht der Handels- gegeniiber den Finanzierungsgeschaften, zweitens die Dominanz der institutionellen Investoren und drirtens - als entscheidende Grundlage flir beides - die globale Mobilitat des angelegten Kapitals ergeben zusammen eine brisante Mischung. Sie verleiht den Interessen des Neoliberalismus entscheidende StoB- und Durchsetzungskraft. Sie fiihrt zu zunehmender Instabilitat und Unsicherheit, zu massivem Druck auf die Unternehmensftihrung und zur verscharften Standortkonkurrenz zwischen Landem. 2.3 Destabilisierung, Shareholder Value, Standortkonkurrenz: der Druck der Finanzmdrkte Die wirtschaftliche Instabilitat kommt vor allem in den massiven Finanzkrisen zum Ausdruck, die seit Beginn der 1980er Jahre in vielen Entwicklungslandem stattgefimden und groBe Schaden nicht nur im Finanzsektor angerichtet haben: Die Krisen in Mexiko 1994/95, in Asien 1996/97 und in Argentinien 2001/02 beispielsweise haben zu massiven Riickgangen der Produktion und zum Anstieg der Arbeitslosigkeit und der Armut in diesen
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Landem gefuhrt. Aber auch in den Industrielandem sind Finanzkrisen keine harmlosen Angelegenheiten. Die Krise des Europaischen Wahrungssystems 1992/1993 und das Platzen der Spekulationsblase im Jahre 2000 haben die Rezession in der EU und in Deutschland ebenfalls verscharft. Der Druck der groBen Finanzinvestoren auf die Untemehmen zielt auf eine grundlegende Veranderung der „Untemehmenskultur" oder der ..Corporate Governance'''. In Kontinentaleuropa hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine Management-Tradition herausgebildet, die groBe Untemehmen als komplexe Organisationen betrachtete, in denen neben den Eigentiimem als dominanter Gruppe auch andere Gruppen vertreten sind, deren Interessen in gewissem MaBe beriicksichtigt werden mtissen: Arbeitnehmer, Kreditgeber, Regionen, Kunden, Zulieferer etc. Die Einbeziehung dieser Gruppen in stabile Beziehungen und formelle oder informelle Netzwerke gewahrleistete eine gewisse Kontinuitat und Stabilitat der Untemehmensentwicklung. Aus der Sicht der neuen Finanzinvestoren handelt es sich dabei jedoch vielfach um MiBmanagement, das davon ablenkt, daB Untemehmen in erster Linie Veranstaltungen von Eigentumem^r Eigentiimer sind, und daB ihr Management sich daher ausschlieBlich an der Maximiemng des Werts fur die Aktionare als Eigentumer {Shareholder Value) zu orientieren habe. Dies ist der Kem der Shareholder ValueOrientiemng. Sie tritt in vielen GroBuntemehmen an die Stelle des traditionellen Korporatismus, der den Investoren als Verkmstung und Ineffizienz erscheint. Die Maximiemng des Shareholder Value ist allerdings eine hochst unsichere Sache. Denn um einen Untemehmenswert empirisch festzustellen, mtissen erwartete zukiinftige Ertrage auf den Gegenwartswert abdiskontiert werden. Da aber weder die zukiinftigen Ertrage noch die zukiinftigen Zins(Diskont)satze bekannt sind, tappt man hier weitgehend im Dunklen. Aus dieser Verlegenheit hilft die herrschende Theorie der Finanzmarkte, die Effizienzmarkttheorie: Sie besagt, daB der wahre Wert eines Untemehmens fur die Eigentumer sich jederzeit in seinem Aktienkurs spiegele, der alle verftigbaren Informationen tiber die aktuelle und zuktinftige Entwicklung des Untemehmens effizient verarbeite. Unter dieser Annahme, daB der Aktienkurs ein Nahemngswert („proxy") fiir den Wert des Untemehmens sei, wird dann in einer wissenschaftstheoretisch abenteuerlichen Umkehmng des Ursache-Folge-Verhaltnisses die Handlungsanweisung abgeleitet, daB das Management jederzeit danach streben miisse, den Kurswert eines Untemehmens zu steigem. Folge hiervon ist vielfach eine Kurzfristorientiemng zu Lasten der langfristigen Produktivitatsentwicklung. DaB sich dies langfristig schadlich fiir das Untemehmen auswirkt, ist ftir den Investor so lange nicht von Relevanz, wie er in der Lage ist, sich vor den absehbaren Riickschlagen durch Verkauf seiner Anteile aus dem Untemehmen zuriickzuziehen. Die verscharfte Standortkonkurrenz schlieBlich resultiert aus der Macht der Finanzinvestoren gegenuber Parlamenten und Regiemngen. Sie stiitzt sich auf die „Exit-Option", d.h. die mit freien Kapitalmarkten geschaffene Moglichkeit, Kapital schnell von einem Land ins andere zu verlagem. Um dies zu verhindem oder um zusatzliches Kapital ins Land zu locken, mtissen die Regiemngen die Bedingungen fiir die Investoren moglichst attraktiv machen. Das geschieht durch niedrige Kapital- und Gewinnsteuem, durch Senkung oder Befreiung von Sozialabgaben, die Lockemng des Kiindigungsschutzes oder der Umweltschutzbestimmungen, die Beseitigung von Biirokratie etc. Das Ergebnis dieses Dmcks ist ein wahnsinniger Wettlauf nach unten, der dazu fuhrt, daB die offentlichen Ausgaben gekurzt und die Steuerstmkturen zu Ungunsten der Arbeitnehmer (die im Unterschied zu den Finanzinvestoren nicht mobil sind) verschoben werden, Sozialausgaben, Infrastmktur und
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Bildung als offentliche Aufgaben vemachlassigt, der soziale Zusammenhalt der jeweiligen Gesellschaften untergraben und langerfristig auch ihre wirtschaftliche Leistungsfahigkeit beeintrachtigt werden. Besonders attraktive Angebote fur groBe Finanzinvestoren sind die Privatisierungen offentlicher Dienstleistungen bis bin zu sozialen Sicherungssystemen wie dem Renten- oder Gesundheitssystem, die aufgrund der leeren offentlichen Kassen nicht mehr offentlich finanzierbar sind. Hier schlieBt sich ein perverser Kreis: Zunachst verschafft der Staat den oberen Einkommensschichten durch Steuersenkungen das Geld, mit dem diese anschlieBend die offentlichen Dienstleistungsuntemehmen, die wegen der Steuerausfalle nicht mehr finanzierbar sind, kaufen und damit Gewinn machen konnen. In diesem Wettlauf nach unten erhalt die Konkurrenz eine neue Dimension, welche ihren Charakter grundlegend verandert: Zur Konkurrenz zwischen Untemehmen im Rahmen politisch vorgegebener sozialer und sonstiger Regeln tritt die Konkurrenz der Regeln selber, oder praziser: die Konkurrenz der Staaten mit Hilfe der Anpassung ihrer Gesetze und Regeln an die Interessen der Investoren. Das ist der Kern der Standortkonkurrenz. Sie verselbstandigt sich zunehmend gegeniiber einem demokratischen politischen ProzeB, der ihr Grenzen setzen konnte. Sie wird grenzenlos und setzt ihrerseits neue politische Regeln, die der Gesellschaft Grenzen setzt und sie an den Interessen der Investoren ausrichtet. Fiir diesen ProzeB ist der Begriff „Deregulierung" miBverstandlich: Es handelt sich nicht um die Abschaffung aller Regeln, sondem um die Abschaffung sozialstaatlicher Strukturen und Regeln zugunsten marktradikaler Regeln und plutokratischer Strukturen, um die Privatisierung offentlicher Aufgaben und die Ausgrenzung derer, die iiber nicht geniigend Kaufkraft verfugen, vormals offentliche Dienstleistungen jetzt privat auf den Markten zu kaufen. Der demokratische Sozialstaat wird zunehmend durch die Herrschaft der Finanzinvestoren ersetzt, die als Sachwalter der objektiven Sachzwange der Globalisierung auftreten. 3
Das europaische Gesicht des Neoliberalismus: Binnenmarkt, Wahrungsunion und Polarisierung
Die skizzierten Entwicklungen sind Bestandteile der weltweiten Gegenreform gegen die fortschrittlichen sozialen und politischen Reformen nach dem Zweiten Weltkrieg. Das ,Jloll-back" setzte Mitte der 1970er Jahre ein. Sein erster politischer Paukenschlag war der von den USA unterstiitzte gewaltsame Putsch in Chile, auf den ein radikal neoliberaler Umsturz in der Wirtschafts- und Sozialpolitik folgte. Je nach historischer Tradition, sozialokonomischen Gegebenheiten und politischen Krafteverhaltnissen nahm die Gegenreform verschiedene Formen an und gelangte unterschiedlich weit. Ihre europaische Version kristallisiert sich in den Projekten „Binnenmarkt 1992", „Wahrungsunion 1992/99" und „Stabilitatspakt 1997": Mit dem 1985 aufgelegten Projekt „Binnenmarkt 1992" nahm die EU (damals noch EWG) Abstand von der Konzeption, daB ein gemeinsamer, alle Mitgliedslander umfassender Markt eines gemeinsam gestalteten politischen und sozialen Rahmens (Harmonisierung) bediirfe. Sie setzte neben diese „positive" Integration den neuen „revolutionaren" Ansatz der „negativen Integration", der sich darauf beschrankt, die materiellen, technischen und steuerlichen Grenzen zwischen den Mitgliedslandem zu beseitigen und im iibrigen die jeweiligen nationalen Gesetze fiir die Tatigkeit von Untemehmen in alien Mitgliedslandem anzuerkennen. Dieses Prinzip der „gegenseitigen Anerkennung" soil zu einem „europa-
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ischen PaB" fur alle in einem Mitgliedsland zugelassenen Untemehmen fiihren, wobei dem Mutterland auch die Aufsicht und Kontrolle uber das nationale Untemehmen in der gesamten EU obliegt. Dies ist das „Herkunftslandprinzip", das jungst im Zusammenhang mit der europaischen Dienstleistungsrichtlinie eine gewisse Prominenz in der politischen Diskussion erhalten hat. Das Konzept der Harmonisierung wurde dabei allerdings nicht ganz aufgegeben, sondem in reduzierter Form beibehalten. Mittlerweile fmdet sie iiberwiegend als Harmonisierung nach unten oder Harmonisierung auf den kleinsten gemeinsamen Nennem statt, bei der die gemeinsamen Regeln vor allem der Reibungslosigkeit grenziiberschreitender Transaktionen dienen und nicht einem hohen Niveau bzw. hoher Qualitat von Sozial-, Umwelt- oder Verbraucherschutz. Mit der Wahrungsunion, die 1992 im Vertrag von Maastricht beschlossen und 1999 in 11 Mitgliedem der EU (zu denen 2002 Griechenland hinzukam) eingefuhrt wurde, hat die Gemeinschaft die Chance verpaBt, sich ein wahrungs- und geldpolitisches Instrumentarium zu schaffen, das neben fmanzieller Stabilitat und Preisstabilitat auch Wachstums- und Beschaftigungsziele umfaBt und berucksichtigt. Sie hat vielmehr die fundamentalistische Position der Deutschen Bundesbank in verscharfter Form iibemommen, derzufolge sich Geldpolitik ausschlieBlich um Preisstabilitat zu kiimmem habe. Diese Ausrichtung, die bei der Deutschen Bundesbank mit den Erfahrungen der galoppierenden Inflation der 1920er Jahre begriindet wurde, entspricht in hohem MaBe den Interessen der Finanzinvestoren, die ja vor allem an monetaren GroBen interessiert sind und nichts so sehr fiirchten wie deren Wertverlust. Auch die deutsche Tradition einer Unabhangigkeit der Zentralbank von politischen Diskussionen und Entscheidungen wurde iibemommen und durch das „Europaische System der Zentralbanken" (ESZB) sogar noch verscharft. Ein zentrales Instmment wirtschaftspolitischer EinfluBnahme und Steuemng wurde damit der demokratischen Gestaltung und Kontrolle entzogen. Der Stabilitatspakt von 1997 schlieBlich verstarkte die fundamentalistische Position, welche die EU schon mit dem Vertrag von Maastricht in der Finanzpolitik eingenommen hatte. Uber die 1992 beschlossene Begrenzung der offentlichen Defizite hinaus verpflichtete er die Mitgliedslander der Wahmngsunion darauf, ausgeglichene oder Uberschtisse aufweisende offentliche Haushalte anzustreben. Die Qualitat von Finanzpolitik soil also nicht daran gemessen werden, welchen Beitrag sie zur konjunkturpolitischen Stabilisiemng, zum innereuropaischen Zusammenhalt oder zur Bereitstellung europaischer offentlicher Gtiter leistet, sondem vor allem daran, ob die Haushalte ausgeglichen sind. Erganzt wird dieser finanzpolitische Rigorismus durch die Beschrankungen des Haushaltes der EU selbst: Er lag wahrend der 1990er Jahre bei mnd 1,1% des EU-weiten Bmttoinlandproduktes und soil in der nachsten mittelfristigen Planungsperiode 2007-2013 bis unter 1% fallen. Die in Aussicht gestellten positiven Wirkungen der europaischen Wirtschaftspolitik sind jedoch ausgeblieben. Weder die massive Liberalisiemng und Marktoffnung noch die fundamentalistische Geld- und Finanzpolitik haben den versprochenen dynamischen Schub beim Wachstum und der Beschaftigung gebracht. Beides zusammen hat die gesamtwirtschaftliche Entwicklung der EU vielmehr gebremst und die sozialen Verhaltnisse polarisiert. Die ehrgeizige Lissabon-Strategic des Jahres 2000, mit der die EU bis zum Jahre 2010 die USA iiberholt haben und zur wettbewerbsfahigsten Region der Welt mit VoUbeschaftigung geworden sein sollte, ist klaglich gescheitert. Ihre Neuauflage von Fruhjahr 2005 wird das gleiche Schicksal erleiden, well sie auf der gleichen fundamentalistischen Konzeption bemht. Das Wirtschaftswachstum der EU liegt - mit bemerkenswerten Ausnahmen fiir
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einige kleinere und die neuen Mitgliedslander - unter dem anderer Regionen der Welt. Die Verteilungsverhaltnisse haben sich zu Lasten der Beschaftigten und noch mehr zu Lasten der Arbeitslosen verschlechtert. Die Armut hat in den letzten Jahren wieder zugenommen und liegt EU-weit bei 16%, mit Spitzenwerten von iiber 20% in Spanien, Portugal, Irland, Griechenland und der Slowakei. Mehr als ein Viertel der Kinder in Spanien und Italien leben in Armut. 4
Ausbruch aus den Teufelskreisen - Alternative!! sind !noglich
Neoliberalismus wird von seinen Propagandisten nicht als breitangelegte Strategie wirtschaftlicher, sozialer und politischer Gegenreform, sondem als Sachzwang dargestellt, der erstens gut fur alle sei und zu dem es zweitens keine Alternative gabe. DaB die Politik der letzten drei Jahrzehnte gut nur fur eine kleine Minderheit von Untemehmen und reichen Personen, fur die groBe Mehrheit der Menschen aber schlecht war, hat sich allmahlich herumgesprochen. Unsicherheit herrscht aber noch uber die Moglichkeiten von Altemativen zum Neoliberalismus. Dies liegt zum einen an der Dominanz neoliberaler Ideologien in den Medien und der Wissenschaft, zum anderen an der Komplexitat der Materie und zum dritten daran, daB es unterschiedliche Entwicklungsaltemativen gibt, die offentlich diskutiert werden und liber die in einem demokratischen ProzeB der Meinungsbildung entschieden werden soUte. Im folgenden werden Altemativen auf zwei Ebenen skizziert: zunachst die Kontrolle und Reform der Finanzmarkte, deren Protagonisten eine wesentliche Rolle bei der Durchsetzung des Neoliberalismus spielten; sodann Grundelemente einer demokratischen Wirtschaflspolitik, die sich auf politisch defmierte wirtschaftliche und soziale Ziele richtet.
4.1 Kontrolle und Reform der
Finanzmarkte
Bei der Kontrolle der Finanzmarkte geht es darum, ihre spekulativen Exzesse zu verhindem und den Druck der Finanzinvestoren auf Untemehmen und Regiemngen zu beschranken. Die Finanzspekulation laBt sich zum einen durch Verteuemng, administrative MaBnahmen und intemationale Kooperation wirksam bekampfen. Steuem auf kurzfristige Kaufe und Verkaufe von Wahrungen oder Wertpapieren machen diese teurer und daher weniger attraktiv fiir spekulative Transaktionen. Der beruhmteste Vorschlag einer solchen Steuer ist die Devisentransaktions- oder „Tobin-Steuer", die sich auf den Umtausch von Wahmngen bezieht. Es ist aber auch sinnvoll und moglich, nationale oder innereuropaische Transaktionen, z.B. zur kurzfristigen Aktienspekulation, mit Umsatzsteuem zu belegen und letztere etwa degressiv zur Haltedauer der erworbenen Wertpapiere auszugestalten. Finanzmarktinstmmente, die vorwiegend der Spekulation dienen, wie z.B. „Hedge-Fonds", sollten ebenso verteuert und/oder behindert werden wie Geschafte mit Partnem in Offshore-Zentren, die keiner strengen Finanzaufsicht unterliegen. Die Kreditvergabe der Banken sollte besser gegen die spezifischen Risiken von Kettenreaktionen abgesichert werden, die typisch fiir Finanzkrisen sind. Dabei sollte auch die Rolle des ESZB als Ankerinstitution {Lender of last ressort) bei der Gewahrleistung der Stabilitat des Finanzsystems insgesamt gestarkt werden. Ein wichtiger Fortschritt auf dem Wege intemationaler Stabilisiemng ware eine
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Internationale - moglichst globale, solange dies nicht moglich ist, regionale - Kooperation beim Management der globalen Wahrungsrelationen. Solange derartige Fortschritte nicht durch globale Ubereinkommen gegen spekulative Attacken abgesichert sind, sollten die beteiligten Lander sich die Moglichkeit von Kapitalverkehrskontrollen nicht nehmen lassen, deren Wirksamkeit jiingst mehrfach - in Malaysia, Chile und China - unter Beweis gestellt worden ist. Eine zweite Seite bei der Kontrolle und Reform der Finanzmarkte ist der Schutz der Verbraucher, der Arbeitnehmer und der Regierungen gegeniiber dem Druck der Finanzmarkte im Interesse der Investoren. Das betrifft die Informations- und Fiirsorgepflichten fiir Verbraucher mit begrenztem Informations- und Kenntnisstand sowie den Schutz der Arbeitnehmer vor den Folgen von grenziiberschreitenden Untemehmenstibemahmen und -verlagerungen, etwa durch geeignete Bestimmungen im Gesellschaftsrecht, in den Unternehmensverfassungen und zur Mitbestimmung bei Investitionsentscheidungen. Drittens geht es auch darum, durch die Lenkung von Kapital und Kredit die wirtschaftliche Entwicklung in eine politisch erwUnschte Richtung zu gewahrleisten, etwa in der Energiewirtschaft, bei der Verkehrsstruktur oder der sozialen Infrastruktur. Hierzu sind auf der einen Seite offentliche Entwicklungsbanken und auf der anderen Seite Finanzinstitutionen erforderlich, die den heute fiir gesellschaftliche Teilhabe und Demokratie unabdingbaren Zugang aller zum Geld- und Zahlungssystem in Form von Bankkonten, Abhebe- und (jberweisungsmoglichkeiten sowie anderer grundlegender Finanzdienstleistungen gewahrleisten. Durch diese drei Politikbiindel zur Reform der Finanzmarkte soUen diese wieder in den Rahmen einer demokratischen Entwicklungsstrategie eingebettet werden, aus dem sie sich entfemt und demgegeniiber sie sich mittlerweile als Befehlsgeber profiliert haben. Wie aber konnte eine solche Politik aussehen? 4.2 Demokratische Wirtschaftspolitik in Europa Im folgenden werden in aller Kiirze sechs Elemente einer demokratischen Wirtschaftspolitik als Alternative zum Neoliberalismus skizziert. 4.2.1 Eckpunkte und Ziele Eine RUckeroberung demokratischer Souveranitat iiber die Herrschaft der Finanzmarkte macht es erforderlich, sich tiber die Ziele und Eckpunkte eines altemativen Entwicklungsmodells zu verstandigen. Dies ist kein einfacher ProzeB, nicht nur, weil die Probleme gravierend sind, sondem auch, weil die Interessen derjenigen Krafte, welche in Opposition zur neoliberalen Strategic stehen, in den verschiedenen EU-Mitgliedslandem keineswegs identisch sind. Die europaischen Institutionen behaupten immer wieder, es komme vor allem darauf an, die intemationale Wettbewerbsfahigkeit der EU in einer globalisierten Welt zu starken, zu erhalten oder uberhaupt wieder herzustellen. Das ist eine Fehleinschatzung. Es geht nicht um die intemationale Wettbewerbsfahigkeit, sondem um die Leistungsfahigkeit der Wirtschaft und den Wohlstand der Menschen in einem solidarischen Europa. Die Substanz
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des europaischen Sozialmodells als normativer Bezugsrahmen ftir eine alternative Politik laBt sich, bei alien Verschiedenheiten ihrer Umsetzung in den einzelnen Landem, in einer ersten Annaherung durch folgende Ziele konkretisieren: Vollbeschaftigung, soziale Sicherheit, soziale Gerechtigkeit, okologische Nachhaltigkeit sowie ausgeglichene und gleichberechtigte intemationale Wirtschaftsbeziehungen. Keines dieser Ziele ist unabanderlich festgelegt, alle stehen in der Diskussion und bediirfen jeweils der weiteren Konkretisierung, die fur einzelne Lander unterschiedlich ausfallen kann. Es gibt aber keinen Grund fur die Annahme, daB sie nicht durch eine angemessene Wirtschafts- und Sozialpolitik in der EU erreichbar waren. Auch die Globalisierung ist kein solcher Grund. Sie ist weder ein Naturgesetz noch ein auBerer Sachzwang, sondem eine politische Strategic, die darauf abzielt, alle wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereiche dem Zugriff des Kapitals zu unterwerfen. Ihr kann eine andere Strategic entgegengcsetzt werden, die darauf ausgerichtet ist, den obigen funf Zielen moglichst nahe zu kommen und die dabei der untemehmerischen Freiheit gewisse Grenzen setzt. 4.2.2 Regeln fur die Konkurrenz: Harmonisierung nach oben Eine europaische Entwicklungsstrategie soil sich nicht den Imperativen der intemationalen Konkurrenz unterordnen, sondem die intemationale Konkurrenz so weit gestalten und bandigen, daB sie die genannten Ziele nicht unterlauft. Sie soil also den Wettlauf beim Abbau von sozialen, okologischen und sonstigen Regeln in der Standortkonkurrenz beenden und den (miihsamen) Weg der Harmonisierung beschreiten, der zu gemeinsamen Regeln fuhrt. Angesichts der groBen Unterschiede zwischen den Mitgliedslandem ist eine schnelle Harmonisiemng nicht moglich. Aber es gibt sinnvolle Schritte, wie beispielsweise folgende: • • •
gegen die Steuerkonkurrenz: die EU-weite Vereinheitlichung der Steuerbemessungsgmndlagen und die Festsetzung von Mindeststeuersatzen; gegen Lohn- und Sozialdumping: Festsetzung von Mindestlohnen und sozialen Mindeststandards, die in jedem Land einzuhalten sind. Sie konnen zunachst von Land zu Land unterschiedlich sein, sollten aber schrittweise nach oben angeglichen werden; gegen okologisches Dumping: Mindestzielvorgaben fiir die Vermindemng von Energieverbrauch, Emissionen und Abfallerzeugung.
4.2.3 Der offentliche Sektor: nicht Ausnahme, sondem eigenstandige Altemative zur Konkurrenz Die Mitgliedslander der EU sollten sich auch dariiber verstandigen, welche Bereiche des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens sie nicht der Konkurrenz gewinnorientierter Untemehmen unterwerfen, sondem in offentlicher Regie betreiben wollen. Es gehort zu den
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Geburtsfehlem schon der EWG und zu den groBen Fehlentwicklungen der EU, daB der offentliche Sektor grundsatzlich als eine - eng definierte und immer umstrittene - Ausnahme vom ansonsten universell geltenden Wettbewerbsprinzip betrachtet wird. Fiir diese Verengung des Blickwinkels gibt es keinen rationalen Grund - auBer dem Interesse des Kapitals, grundsatzlich Zugriff auf alle Bereiche der Gesellschaft zu haben. Die vemiinftige Gegenposition besteht darin, die offentliche Organisation von Dienstleistungen nicht als Ausnahme, sondem als gleichwertige Alternative zur privatwirtschaftlichen Konkurrenz zu betrachten. In einem demokratischen politischen Diskussions- und EntscheidungsprozeB ware festzulegen, welche Bereiche - soziale Sicherung, Gesundheitswesen, Bildung, Versorgung mit Wasser, Gas und Strom, Nah- und Femverkehr, Telekommunikation, Finanzwesen - in erster Linie Gemeinwohlkriterien unterworfen und als offentliche Aufgaben organisiert werden sollen. Das erfordert allerdings auch, daB die EU ihre Positionen bei den Verhandlungen iiber die Liberalisierung von Dienstleistungen (GATS) im Rahmen der WTO revidiert und darauf besteht, daB jedes Land das Recht hat, seinen offentlichen Sektor autonom und ohne Priifung oder Angriff von seiten der WTO zu definieren und zu gestalten. 4.2.4 Gesamtwirtschaftliche Politik fur nachhaltiges Wachstum und Vollbeschaftigung Niemand bestreitet die groBe Bedeutung, die Geldpolitik far Wachstum und Beschaftigung hat. Offiziell tragt die Europaische Zentralbank (EZB) hierfur jedoch keine Verantwortung. Dies muB geandert werden. Europaische Geldpolitik muB sich gleichzeitig um Wachstum, Beschaftigung und Preisstabilitat kiimmem, und wenn es Widerspniche zwischen den drei Zielen gibt, dann muB sie Zwischenlosungen und Kompromisse suchen und sich zu diesem Zweck mit anderen Tragem der Wirtschaftspolitik abstimmen. Daher ist auch die voUstandige Unabhangigkeit der EZB kontraproduktiv, ganz abgesehen von ihrer demokratischen Fragwiirdigkeit. Geldpolitik sollte im Verbund mit anderen Akteuren betrieben werden, sie sollte eine Stimme im demokratischen ProzeB haben - und diesem verantwortlich sein. Fiir eine Finanzpolitik im Interesse des europaischen Sozialmodells ist es erforderlich, die fundamentalistischen Positionen des Maastricht-Vertrages zu uberwinden, welche 1997 im Stabilitats- und Wachstumspakt noch einmal verscharft worden waren und auch nach der jiingsten Reform auf dem Friihjahrsgipfel 2005 weiter bestehen. Entscheidend fiir die Qualitat der Finanzpolitik ist nicht der Ausgleich der offentlichen Haushalte, sondem ihr abgestimmter und fiinktionaler Einsatz: offentliche Investitionsprogramme gegen Wachstumsschwache und Rezessionen, Einsatz staatlicher Mittel im Kampf gegen die Armut und zur Verhinderung sozialer Polarisiemng, Ausbau offentlicher Beschaftigung zur Bereitstellung offentlicher Giiter wie Bildung, Gesundheit und Alterssicherung. Damit diese Aufgaben erfuUt werden konnen, ist es erforderlich, daB dem Staat ausreichende Einnahmen zur Verfiigung stehen, mit denen er seine Ausgaben fmanzieren kann. Dies ist wahrend der letzten Jahre durch den Steuersenkungswettlauf zunehmend verhindert worden. Seine Beendigung muB mit einer Anhebung der Steuem vor allem im oberen Einkommens- und Vermogensbereich verbunden werden, dort wo die monetare Leistungsfahigkeit besonders hoch ist. Daruber hinaus ist es auch ratsam, die offentliche Verschuldung zu enttabuisieren. Wenn Geld aus staatlicher Kreditaufnahme vemiinftig eingesetzt wird, handelt es sich nicht um Verschwendung zu Lasten, sondem um Politik zu Gunsten kiinftiger Generationen:
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Diese erhalten nicht nur ihren Kredit an den Staat mit Zinsen zuruck, sondem werden auch in einer Gesellschaft leben, deren produktive Basis durch kreditfinanzierte offentliche Ausgaben solider geworden ist. Wenn die EU wirtschafts- und sozialpolitisch handlungsfahig werden und emsthafte Schritte ftir Beschaftigung, soziale Sicherheit und Solidaritat gehen will, braucht sie neben einer besseren Abstimmung zwischen den Mitgliedslandem auch mehr Mittel fiir den zentralen EU-Haushalt. Die Alternative zur aktuell betriebenen weiteren Kiirzung ist eine schrittweise Erhohung der Mittel auf ca. 5% des EU-Sozialproduktes. Gleichzeitig sollte die Finanzierung dadurch einfacher und gerechter werden, dafi alle Mitglieder der EU durch eine progressive BIP-bezogene EU-Steuer entsprechend ihrer okonomischen Starke zu diesem Haushalt beitragen. 4.2.5 Sozialpolitik: mehr direktes Engagement der EU Sozialpolitik gehorte bisher iiberwiegend nicht zu den Kompetenzen der EU. Das wird wegen der groBen Unterschiede bei den sozialen Systemen zwischen den Mitgliedslandem ftir die meisten Bereiche auch so bleiben. Dennoch ist es sinnvoll, auf europaischer Ebene eine Politik zu betreiben, die sich vor allem besonderer sozialer Probleme und Brennpunkte annimmt. Ein wichtiges Thema ware beispielsweise die Armut und hier insbesondere die Kinderarmut, deren Existenz und Zunahme in der Mehrheit der EU-15 wahrend der letzten 10 Jahre skandalos und absolut inakzeptabel ist und jede Rede vom „europaischen Sozialmodell" diskreditiert. Hier schnell verbindliche Mindeststandards zu setzen und ihre Erfullung auch mit zentralen fmanziellen Mitteln zu fordem, sollte zu einer vorrangigen europaischen Aufgabe gemacht werden. Eine monatliche Unterstiitzung von zunachst 50 Euro, also 600 Euro pro Jahr fur die gegenwartig rund 80 Mio. Personen in der EU, die im Armutsrisiko leben, wiirde 48 Mrd. Euro kosten. Bei einem Gesamthaushalt von gegenwartig rund 100 Mrd. Euro ware das kaum finanzierbar. Schon bei einem Anstieg des EU-Haushaltes auf 3% (also noch vor Erreichen der vorgeschlagenen GroBenordnung von 5%) des EU-BIP wiirde ein solcher Transfer jedoch keine groBeren Finanzierungsprobleme aufwerfen. Er wiirde spiirbare Wirkungen haben, die in den armeren Landem wegen des hoheren relativen Gewichtes eines Festbetrages besonders groB waren. Erfolge einer solchen direkten Politik wiirden zugleich dazu beitragen, der EU wieder etwas von dem Ansehen und Vertrauen bei den Menschen zunickzugewinnen, die sie durch ihre neoliberale Politik in den letzten zwanzig Jahren in hohem MaBe verspielt hat.
4.2.6 Kooperative Internationale Wirtschaftsbeziehungen Demokratische und binnenmarktzentrierte Wirtschaftspolitik in Europa bedeutet keine europaische Isolierung, sondem ist mit umfangreichen und intensiven AuBenwirtschaftsbeziehungen vereinbar. Unvereinbar dagegen ist sie mit unbeschranktem Freihandel und volliger Liberalisiemng des Kapitalverkehrs, die in der Konzeption der WTO und der in ihrem Rahmen gefuhrten Verhandlungen iiber den Handel mit Dienstleistungen (GATS) vorgesehen sind. Diese Regelwerke fuBen auf der Behauptung, daB ungehinderter Freihandel und Liberalisiemng zu einer optimalen intemationalen Arbeitsteilung fuhrten, von der alle Be-
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teiligten profitieren. Dies trifft nicht zu. Eine optimale und fur alle Beteiligten vorteilhafte Internationale Arbeitsteilung laBt sich nur auf der Grundlage einer politischen Regulierung herstellen, in der dauerhafte Defizite im Handel mit Giitem und Dienstleistungen ebenso vermieden werden wie dauerhafte Uberschiisse. Eine Politik des Ausbaus und der Starkung der intemationalen Wettbewerbsfahigkeit stellt aber gerade auf solche Uberschiisse ab. Sie ist global inkonsistent - denn nicht alle konnen Uberschiisse erzielen - und politisch destabilisierend: Die dauerhaften Defizite, die Uberschiissen notwendigerweise gegeniiberstehen, schaffen Abhangigkeiten, die zu eskalierenden politischen Konflikten fiihren konnen. Nicht Uberschiisse, sondem ein Gleichgewicht in den Leistungsbilanzen, auf jeden Fall aber die Verhinderung langfristig nicht tragbarer Schuldnerpositionen auch bei den Partnerlandem sollte das langfristige Ziel einer vemunftigen Politik fiir die intemationalen Wirtschaftsbeziehungen der EU sein. Fiir die Beziehungen zu den Entwicklungslandem bedeutet das einerseits eine starkere Marktoffnung und andererseits ein deutliches Aufstocken der offentlichen Entwicklungshilfe. 5
Der Kern alternativer Wirtschaftspolitik in Europa: Umverteilung und Demokratisierung
Diese Skizze der Eckpfeiler einer altemativen europaischen Wirtschafts- und Sozialpolitik ist naturlich nicht realistisch in dem Sinne, daB Aussichten bestiinden, sie schnell zu verwirklichen. Es geht nicht um die Korrektur einer versehentlichen Fehlentwicklung, iiber deren Mangel allgemeiner Konsens in der Gesellschaft besteht. Es geht vielmehr um die politische Durchsetzung einer neuen Politik gegen die Krafte und Interessen, die von der seit Mitte der 1970er Jahre zunehmend dominant gewordenen Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftspolitik profitieren. Der Kern der notwendigen Neuorientierung ist Umverteilung von oben nach unten und Demokratisierung - wie der Kern der neoliberalen Gegenreform in Umverteilung von unten nach oben und Ent-Demokratisierung bestanden hat. Die Grundlage der notwendigen Umverteilung ist die Kritik und die soziale Mobilisierung gegen die herrschenden Zustande und ihre ideologische Verbramung. Die Kritik ist mittlerweile gut entwickelt und hat trotz der nach wie vor bestehenden neoliberalen Dominanz an Breite gewonnen. Auch die soziale Mobilisierung gegen den Neoliberalismus hat begonnen und in einigen Landem, wie z.B. Frankreich, ist sie weit fortgeschritten. Der Versuch, Neoliberalismus zum Verfassungsgebot in der gesamten EU zu machen, ist infolge der Ablehnung des Verfassungsvertrages durch die Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden gescheitert. Die Auseinandersetzungen um die europaische Dienstleistungsrichtlinie zeigen, daB Widerstand moglich ist und Wirkung zeigt. Sie zeigen aber auch, daB Widerstand nach wie vor notig ist und weiter wachsen muB. Die Versicherung, daB der Neoliberalismus gut fiir sie sei, glauben immer weniger Menschen. Uber die Alternativen ist Aufklarung und Diskussion notwendiger denn je. Sie miissen zeigen, daB eine andere Politik okonomisch moglich und vemiinftig und far die Mehrheit der Menschen vorteilhaft ist, daB Vollbeschaftigung, soziale Sicherheit und Gerechtigkeit sowie okologische Nachhaltigkeit durch eine entschlossene Politik herstellbar sind, ohne daB die Gesellschaft dafiir auf dem Rucken und zu Lasten anderer Lander leben miiBte. Wenn dennoch keines dieser wiinschenswerten Ziele verwirklicht wird, dann liegt es nicht daran, daB dies nicht moglich ist, sondem daran, daB eine Politik in diese Richtung von denjenigen verhin-
343
dert wird, die von den vorherrschenden Zustanden profitieren und iiber groBe politische, wirtschaftliche und mediale Macht verfugen. Diese setzen sie ein, um das Gerucht zu verbreiten, ihre Politik sei die einzig mogliche. Wenn mehr Menschen verstehen, daB dies nicht stimmt und eine andere Politik nicht nur besser fur sie, sondem auch moglich ist, konnte sie das ermutigen, sich an ihrer Durchsetzung zu beteiligen.
Literatur Attac Osterreich (Hg.) (2006): Das kritische EU-Buch. Warum wir ein anderes Europa brauchen, Wien. Benz, Benjamin/Boeckh, Jiirgen/Huster, Emst-Ulrich (Hg.) (2000): Sozialraum Europa. Okonomische und politische Transformation in Ost und West, Opladen. Bieling, Hans-Jiirgen/Steinhilber, Jochen (Hg.) (2000): Die Konfiguration Europas. Dimensionen einer kritischen Ingegrationstheorie, Munster. Etxezarreta, Miren/Grahl, John et al. (2006): Demokratische Wirtschaftspolitik gegen die Herrschaft der Markte. Vorschlage fur eine integrierte Entwicklungsstrategie in Europa, EuroMemo 2005, Hamburg. Grahl, John (1997): After Maastricht. A Guide to European Monetary Union, London. Hein, Eckhard/Nichoj, Torsten et al. (2004): Europas Wirtschaft gestalten. Makrookonomische Koordinierung und die Rolle der Gewerkschaften, Hamburg. Huffschmid, Jorg (2002): Politische Okonomie der Finanzmarkte, Hamburg. Karrass, Anne/Schmidt, Ingo et al. (2004): Europa: Lieber sozial als neoliberal, AttacBasis Texte 11, Hamburg. Kenen, Peter B. (1995): Economic and Monetary Union in Europe. Moving beyond Maastricht, Cambridge.
344
Margit
Schratzenstaller
Steuergerechtigkeit und personliche Einkommensbesteuerung - aktuelle Entwicklungen in europaischer Perspektive
1
Zur Einfuhrung
Steuem sind in jedem modemen Industriestaat das wichtigste Instrument zur Finanzierung der offentlichen Aufgabenerfullung. Neben der fiskalischen Funktion - also der Aufbringung der fur die Deckung der getatigten Ausgaben benotigten budgetaren Mittel - kennt die traditionelle Steuerlehre eine Reihe weiterer Besteuerungszwecke. Steuem sollen zur Stabilisierung der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung beitragen (Stabilisierungsfunktion), sie sollen das Verhalten individueller Wirtschaftssubjekte beeinflussen (Lenkungsfiinktion), und nicht zuletzt sollen sie die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermogen, die sich aus den Marktprozessen ergibt, abmildem, also als ein auf der Einnahmenseite der offentlichen Haushalte angesiedeltes Instrument der staatlichen Verteilungspolitik einen Beitrag zur „sozialen Gerechtigkeit" leisten (Neumark 1970; EiBel 2002). Daneben soil auch dies stellt einen Aspekt der Steuergerechtigkeit dar - die Steuerlast gerecht auf die Steuersubjekte bzw. Steuerbemessungsgrundlagen verteilt sein (Musgrave/Musgrave/ Kullmer 1993). In der neueren Steuerlehre fmdet zunehmend eine Abkehr von diesen traditionellen Grundsatzen und Zielen der Besteuerung statt (Reding/Mtiller 1999). Allokative Aspekte riicken - vorangetrieben insbesondere von der Theorie der optimalen Besteuerung, deren Ursprunge mittlerweile gut dreiBig Jahre zurlickreichen - zunehmend in den Vordergrund. Steuem sollen danach so neutral wie moglich wirken, negative Anreize (etwa beziiglich des Arbeitsangebotes der privaten Haushalte oder der Investitionen der privaten Untemehmen) sollen vermieden werden. Betont wird insbesondere der Gegensatz zwischen Effizienz und Verteilung; Steuersysteme mit stark umverteilenden Elementen sind danach mit gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtsverlusten verbunden. Hierauf begrundet sich die Fordemng, Umverteilung nicht primar iiber das Steuersystem, sondem iiber die Ausgabenseite - in Form von staatlichen Transfers - zu organisieren. Ein weiterer EinfluBfaktor fur die Ausgestaltung nationaler Steuersysteme, dem eine immer wichtigere Rolle zukommt, ist die wachsende intemationale Verflechtung der Volkswirtschaften und die damit einhergehende steigende Mobilitat von Steuersubjekten bzw. steuerlichen Bemessungsgmndlagen, insbesondere von Untemehmen bzw. deren Gewinnen sowie privaten Kapitalanlagen bzw. darauf erzielten Kapitaleinkiinften. Diese zunehmende intemationale Mobilitat bildet die Voraussetzung fiir einen sich intensivierenden zwischenstaatlichen Steuerwettbewerb, der vor allem die direkten Steuem bzw. die Steuem auf mobile Steuersubjekte bzw. Bemessungsgmndlagen unter Anpassungsdmck nach unten setzt.
345
Der vorliegende Beitrag konzentriert sich exemplarisch auf aktuelle Entwicklungen im Bereich der personlichen Einkommensbesteuerung in europaischer Perspektive und diskutiert diese unter dem Aspekt der Steuergerechtigkeit. 2
Steuergerechtigkeit und Einkommensbesteuerung
Die Frage danach, wie ein „gerechtes" Steuersystem ausgestaltet sein soil, kann auch dieser Beitrag nicht abschlieBend beantworten; diese normative Frage entzieht sich letztlich einer objektiv-wissenschaftlichen Beantwortung. Hier konnen nur einige tJberlegungen zu den Implikationen der Forderung nach „Steuergerechtigkeit" fiir die Ausgestaltung der personlichen Einkommensteuer prasentiert werden. Als Richtlinien fiir die gerechte Verteilung der gesamten Steuerlast auf die Steuersubjekte bzw. Steuerbasen finden sich in der Literatur zwei sogenannte Fundamentalprinzipien der Besteuerung: das Aquivalenzprinzip und das Leistungsfahigkeitsprinzip (Musgrave/Musgrave/Kullmerl993; Reding/Miiller 1999). Nach dem Aquivalenzprinzip soUen die Steuersubjekte gemaB dem Nutzen, den sie aus der Bereitstellung offentlicher Leistungen Ziehen, zu deren Finanzierung beitragen. Abgesehen von praktischen Umsetzungsproblemen - wie etwa der Frage der Nutzenmessung und -quantifizierung - wiirde eine rein aquivalenzorientierte Einkommensbesteuerung verteilungspolitische Elemente allerdings ausschlieBen. Anders das Leistungsfahigkeitsprinzip, wonach sich der Beitrag von Steuersubjekten bzw. Steuerbasen zur Finanzierung der Aufgaben der offentlichen Hand an der steuerlichen Leistungsfahigkeit bemessen soil. Neben Vermogen und Konsum wird als ein, wenn nicht sogar der wichtigste Indikator fiir die steuerliche Leistungsfahigkeit von Wirtschaftssubjekten das Einkommen betrachtet. GemaB der sogenannten „Reinvermogenszugangstheorie" sind samtliche Einkommen, unabhangig davon, aus welcher Quelle sie stammen und ob sie dem Zensiten regelmaBig oder unregelmaBig zuflieBen, der Einkommensteuer zu unterwerfen (synthetische Einkommensbesteuerung). Auch basiert die traditionelle Steuerlehre auf dem Konsens, daB eine „gerechte" Einkommensbesteuerung einen progressiven Steuerverlauf - also das Ansteigen der durchschnittlichen Steuerlast mit der Hohe des Einkommens - impliziert. Zu dieser vertikalen Dimension der Steuergerechtigkeit kommt die horizontale Steuergerechtigkeit, die die steuerliche Berticksichtigung von Einkunftserzielungsaufwendungen sowie besonderer personlicher Umstande der Steuerpflichtigen fordert, welche deren steuerliche Leistungsfahigkeit mindem (etwa das Vorhandensein von Kindem oder Fahrtkosten zum Arbeitsplatz). 3
Aktuelle Tendenzen der Einkommensbesteuerung in Europa
Die synthetisch-progressive Einkommensbesteuerung hat in Europa eine lange Tradition. Sie unterwirft in ihrer Reinform samtliche Einkunftsarten einem progressiven Einkommensteuertarif; es gibt keine Tarifdifferenzierungen oder Steuerbefreiungen fiir bestimmte Einkunftsarten. Die synthetisch-progressive Einkommensteuer kennt daruber hinaus in der Regel eine Reihe von steuerlichen Ausnahmetatbestanden, welche die individuelle Leistungsfahigkeit vermindemde besondere Belastungen der Steuerpflichtigen beriicksichtigen (etwa in Form von Abziigen von der Steuerbasis oder von der Steuerschuld), aber auch
346
positive Anreize (Lenkungseffekte) bewirken sollen (beispielsweise die steuerliche Absetzbarkeit von Weiterbildungsaufwendungen). Wahrend des vergangenen Vierteljahrhunderts war quer durch Europa eine zunehmende Erosion der synthetisch-progressiven Einkommensteuer zu beobachten, die auf zwei grundlegenden Reformmodellen der Einkommensbesteuerung basiert: der dualen Einkommensteuer sowie der Flat Tax (Ganghof 2004).^ Die duale Einkommensteuer in ihrer Reinform sieht eine unterschiedliche steuerliche Behandlung von Kapitaleinkiinften einerseits und Arbeitseinkiinften andererseits vor. Wahrend Kapitaleinkiinfte mit einem identischen, relativ niedrigen proportionalen Steuersatz belegt werden, wobei gleichzeitig viele Ausnahmetatbestande abgeschafft werden, unterliegen Arbeitseinkommen einem progressiven Einkommensteuertarif mit einem in der Regel deutlich hoheren Spitzensteuersatz. Zu den Kapitaleinkiinften zahlen vor allem die einkommensteuerpflichtigen Gewinne der Einzeluntemehmen, Gewinnanteile der Gesellschafter von Personengesellschaften, Gewinne der Kapitalgesellschaflen, Zinsen, Mieten und Pachten. Die duale Einkommensteuer umfaBt auch die Korperschaftsteuer; in der Reinform der dualen Einkommensteuer werden einbehaltene und ausgeschiittete Gewinne der Kapitalgesellschaften demselben proportionalen Einkommensteuersatz unterworfen wie die iibrigen Kapitaleinkunfte. Die duale Einkommensteuer wird auch als „nordische Einkommensteuer" bezeichnet, da sie ihren Ursprung in den nordischen europaischen Landem hat: Sie wurde Anfang der 1990er Jahre in Danemark (wo sie inzwischen wieder abgeschafft worden ist), Schweden, Finnland und Norwegen eingefflhrt. Die Flat Tax besteuert dagegen samtliche Einkunftsarten mit einem identischen, relativ niedrigen proportionalen Steuersatz; gleichzeitig werden steuerliche Ausnahmetatbestande vollstandig oder zumindest weitgehend beseitigt. In ihrer umfassenden Variante sieht die Flat Tax einen identischen Steuersatz fur die Einkommensteuer, die Korperschaftsteuer und die Umsatzsteuer vor. Das theoretische Konzept der Flat Tax ist nicht neu (Hall/Rabushka 1995), es konnte jedoch in der praktischen Steuerpolitik der westeuropaischen Lander bislang nicht FuB fassen. Erst mit dem Fall des Eisemen Vorhangs fand die Flat Tax Eingang in die praktische Steuerpolitik Europas: Sie ersetzt in den ehemaligen mittel- und osteuropaischen Zentralverwaltungswirtschaften zunehmend die grundsatzlich an einer synthetisch-progressiven Ausgestaltung orientierten Einkommensteuersysteme, welche dort unmittelbar nach Beginn der Transformation - und der in ihrem Zuge erfolgten Einfiihrung „marktwirtschaftlicher" Steuersysteme - zunachst nach dem Vorbild der westeuropaischen Lander implementiert worden waren. Die folgende Tabelle 1 gibt einen Uberblick iiber die Einkommensteuersysteme der 15 alten Mitgliedslander und der 8 neuen mittel- und osteuropaischen Lander der Europaischen Union mit Stand 2005.
Zu einer ausfuhrlicheren Darstellung der beiden Konzepte vgl. Sachverstandigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2003; Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen 2004.
347
Tabelle 1: Land Belgien Danemark Deutschland Finnland Frankreich Griechenland Groftbritannien Irland Italien Luxemburg Niederlande Osterreich Portugal Schweden Spanien Estland Lettland Litauen Polen Slowakei Slowenien Tschechien Ungarn
Einkommensteuersysteme in der EU 2005^ Einkommensteuersystem analytisch analytisch analytisch dual analytisch analytisch analytisch analytisch analytisch analytisch analytisch analytisch analytisch dual analytisch flat flat flat analytisch flat analytisch analytisch analytisch
Einkommensteuerspitzensatze in %
54 59 44,31 52,2 56,09
40 40 42 44,15 38,95
52 50 40 56,5
45 24 25 33 40 19 50 32 38
Besteuerung der Kapitaleinkunfte proportional gemischt progressiv proportional gemischt proportional gemischt gemischt proportional gemischt proportional proportional gemischt proportional gemischt proportional proportional proportional proportional proportional proportional proportional proportional
^^ EinschlieBlich Zuschlagssteuem. Quellen: Bundesministerium der Finanzen (2006); nationale Steuergesetze. Derzeit haben vier EU-Mitgliedslander eine Flat Tax.^ In ihrer umfassenden Form existiert die Flat Tax jedoch lediglich in der Slowakei, wo der proportionale Steuersatz von 19% nicht nur fiir die Korperschaftsteuer, sondem auch fur die Einkommensteuer und die Umsatzsteuer gilt. In Estland sind Einkommensteuersatz und Korperschaftsteuersatz identisch. Mit 15% liegt dagegen in Lettland und Litauen der Korperschaftsteuersatz deutlich unterhalb des proportionalen Einkommensteuersatzes, der sich auf 25% (Lettland) bzw. 33% (Litauen) belauft. Eine duale Einkommensteuer weisen Finnland und Schweden auf. Somit haben von den betrachteten 23 EU-Staaten nur sechs Lander eines der beiden „radikalen" Einkommensteuer-Reformmodelleeingefiihrt. Das bedeutet jedoch nicht, daB die iibrigen 17 EU-Mitgliedslander Einkommen einer synthetisch-progressiven Besteuerung unterwerfen. In keinem einzigen derjenigen Mitgliedsstaaten der EU, die ihre Einkommensteuersysteme bislang weder durch eine Flat Tax noch durch eine duale Einkommensteuer ersetzt haben, ist noch eine reine synthetischprogressive Einkommensteuer zu finden. Vielmehr ist eine zunehmende „Schedularisierung" - also eine steuerliche Differenzierung zwischen unterschiedlichen Einkunftsarten Flat Taxes gibt es dariiber hinaus in Rumanien, RuBland, Serbien, der Ukraine und Georgien. In einer Reihe weiterer Transformationslander wird uber ihre Einfiihrung emsthaft diskutiert.
348
festzustellen, die grundsatzlich demselben Prinzip wie die duale Einkommensteuer folgt: namlich der geringeren Besteuerung der Kapitaleinkiinfte gegeniiber den Arbeitseinkiinften. Die Einkommensteuersysteme dieser Lander sind daher nicht als synthetisch-progressiv, sondem als schedularisiert (Schratzenstaller 2003) bzw. analytisch (Sachverstandigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2003) zu klassifizieren. Tabelle 1 gibt daruber hinaus fiir die einbezogenen Lander an, ob Kapitaleinkunfte (Zinsen, Dividenden und VerauBerungsgewinne) proportional oder progressiv besteuert werden. Diese Betrachtung liefert mehrere interessante BefUnde: Erstens ist festzustellen, daB Deutschland das einzige der betrachteten Lander ist, in dem samtliche Kapitaleinkiinfte nach wie vor progressiv besteuert werden. Allerdings kann gerade nach den Einkommensteuerreformen der letzten Jahre nicht mehr von einer reinen synthetisch-progressiven Einkommensteuer gesprochen werden (Sachverstandigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2003). So ist 2001 das Anrechnungsverfahren in der Korperschaftsteuer durch ein Halbeinkunfteverfahren ersetzt worden. GemaB dem Anrechnungsverfahren werden Dividendeneinkiinfte voll in die personliche Einkommensbesteuerung einbezogen; die zuvor auf der Ebene der Kapitalgesellschaft gezahlte Korperschaftsteuer wird dabei angerechnet. Dieses Verfahren sorgt daflir, daB Dividendeneinkiinfte mit dem personlichen Einkommensteuersatz progressiv und in derselben Hohe wie die iibrigen Einkunftsarten besteuert werden. Im Halbeinkiinfteverfahren entfallt die Moglichkeit der Riickerstattung der auf der Ebene der Kapitalgesellschaft entrichteten Korperschaftsteuer. Um die Doppelbelastung aufgrund der Vorbelastung der ausgeschiitteten Dividenden mit Korperschaftsteuer abzumildem, werden Dividendeneinkiinfte deshalb nur mehr zur Halfte mit dem regularen personlichen Einkommensteuersatz besteuert.^ Ausgeschiittete Dividenden werden daher zwar weiterhin progressiv besteuert, allerdings werden bis zu einem personlichen Einkommensteuersatz von 40% Dividenden hoher als die iibrigen Einkunftsarten belastet, da die Doppelbesteuerung nicht vollstandig beseitigt wird. Dagegen werden bei Einkommensteuerpflichtigen, deren personlicher Einkommensteuersatz 40% iiberschreitet, Dividendeneinkiinfte im Vergleich zu den iibrigen Einkunftsarten etwas geringer besteuert. Bei privaten VerauBerungsgewinnen wird in Deutschland das Prinzip der synthetisch-progressiven Besteuerung in zweifacher Hinsicht durchbrochen. Zum einen werden VerauBerungsgewinne zumindest dann, wenn es sich nicht um substantielle Beteiligungen handelt, nur innerhalb einer Behaltefrist von einem Jahr besteuert; Gewinne aus dem Verkauf von Wertpapieren, die langer als ein Jahr gehalten wurden und eine gewisse Beteiligungsgrenze nicht iiberschreiten, bleiben dagegen steuerfrei. Zum anderen gilt auch fiir steuerpflichtige VerauBerungsgewinne das Halbeinkiinfteverfahren. Diese werden somit zwar progressiv besteuert, unterliegen de facto aber nur dem halben personlichen Einkommensteuersatz, werden somit also gegeniiber den iibrigen Einkommensarten steuerlich begiinstigt. Zweitens ist festzustellen, daB mit 15 Landem (darunter samtliche einbezogenen neuen EU-Mitgliedslander) die iiberwiegende Mehrheit der betrachteten EU-Lander Kapitaleinkiinfte proportional besteuert."^ Nur in einigen wenigen Landem (Danemark, Frankreich,
4
Das heiBt, dafi die andere Halfte der Dividendeneinkiinfte steuerfrei bleibt.
Bei dieser Betrachtung wird von progressiven Elementen bei der Kapitalbesteuerung, die in einigen Landem dadurch existieren, daB statt der Abgeltungssteuer auch fiir eine Einkommensteuerveranlagung optiert werden kann (was fiir Zensiten mit insgesamt geringen Einkommen und damit niedrigen personlichen Einkommensteuersatzen giinstiger ist), abgesehen.
349
GroBbritannien, Italien, Luxemburg, Portugal und Spanien) werden nicht alle Kapitaleinkiinfte proportional besteuert; ein Teil unterliegt nach wie vor der progressive!! Eii!ko!!!!!!ei!sbesteueru!!g. Tabelle 2:
Maxi!nale Ei!ikoi!ii!iei!Steuersatze !!ach Ei!!ko!!ime!isarte!! in Europa in % im Jahr 2004 Arbeitseinkommen (1)
Belgien
54
Zinsen
Dividenden^)
VerauBerungsgewinne^)
153)
43.96)
20,5
Durchschnitt Kapitaleinkommen (2H1) (2) 26,5
-27,5
59
594)
60,16)
43
54
-5
Deutschland
47,5
47,5
42,76)
23,8
30,1
-17,4
Finnland
52,2
293)
29
28
28,7
-23,5
Frankreich
56,1
254)
57,3
27
36,4
•19,7
Griecheniand
40
153)
35
0
16,7
-23,3
GroBbritannien
40
404)
47,5
24
37,2
-2,8
Irland
42
20
49,3
20
29,8
-12,2
Italien
46,2
12,53)
45,46)
18,5
25,5
-20,7
Luxemburg
39
39
446)
19,5
34,2
•4,8
Niederlande
52
-4)5)
54,26)
25
26,4
-25,6
Danemark
Osterreich
50
25
50,56)
0
25,2
-24,8
Portugal
40
20
426)
0
20,7
-19,3
56,5
303)4)
49,66)
30
36,5
-20
Spanien
45
454)
50
15
36,7
-8,3
0 EU15
48,0
28,1
46,7
19,6
31,5
•16,5
Estland
26
0
26
26
17,3
-8,7
Lettland
25
0
15
0
5
-20
Litauen
33
0
27,86)
15
14,3
-18,7 -15,7
Schweden
Polen
40
193)
34,86)
19
24,3
Siowakei
19
193)
196)
19
19
0
Slowenien
50
0
506)
0
16,7
-33,3
Tschechien
32
153)
38,86)
32
28,6
-3,4
Ungam
38
0
48,46)
25
24,5
-13,5
0 EU8
32,9
6,6
32,5
17
18,7
•14,2
0 EU23
42,4
22,8
41.8
20,9
27,8
•14,6
14,2 1 Diff. EU15-EU8 21.5 2,6 12,8 -2,3 15,1 ^^ Korperschaftsteuer + Einkommensteuer. ^^ Ggf. bei substantieller Beteiligung und auBerhalb der Spekulationsfrist. ^^ Abgeltungssteuer, sofem nicht Option zur Einkommensteuerveranlagung; ohne Option Italien (teilweise), Griecheniand (teilweise), Finnland (teilweise) und Schweden. "^^ Kontrollmitteilungen. ^^ Keine Einkommensteuer im engeren Sinne, sondem Steuersatz 30% auf einen fiktiven Ertrag des Reinvermogens; faktisch also 1,2% auf Bestand des Reinvermogens (= Vermogensteuer statt Einkommensteuer).
350
^^ Klassisches System mit TarifermaBigung beim Anteilseigner. ^^ Vollanrechnungssystem. ^^ Teilanrechnungssystem. ^^ Steuerbefreiungssystem (Anteilseigner). ^^^ Klassisches System ohne TarifermaBigung beim Anteilseigner. Quelle: Bundesministerium der Finanzen (2005); KPMG (2004); Mennel/Forster (o.J.); OECD (o.J.); eigene Berechnungen.
Tabelle 2 gibt detailliertere Auskunft iiber die Hohe der maximalen Einkommensteuersatze fur unterschiedliche Einkommensarten in den betrachteten 23 EU-Landem fiir das Jahr 2004. Dabei werden Zinsen, Dividenden und VerauBerungsgewinne (letztere bei substantiellen Beteiligungen bzw. auBerhalb einer Spekulationsfrist) einbezogen. Es zeigt sich zunachst, daB Kapitaleinkiinfte im Durchschnitt in samtlichen Landem niedrigeren maximalen Einkommensteuersatzen unterliegen als Arbeitseinkommen. Dies gilt sowohl fiir die alten als auch fur die neuen EU-Lander. AuBerdem ist festzustellen, daB in beinahe alien Landem - selbst in fast alien jener Lander mit einer dualen Einkommensteuer bzw. einer Flat Tax - die einzelnen Kapitaleinkommensarten mit unterschiedlichen maximalen Einkommensteuersatzen belegt werden. So werden etwa in Schweden, wo eine duale Einkommensteuer existiert, Dividendeneinkiinfte wesentlich hoher als die iibrigen Kapitaleinkommen besteuert, was auf die Doppelbesteuerung mit Korperschaftsteuer und Kapitalertragsteuer zuriickzufiihren ist. Somit kann auch konstatiert werden, daB nur Finnland eine duale Einkommensteuer in Reinkultur hat. Ebenso gibt es eine Flat Tax in Idealform lediglich in der Slowakei, wo samtliche Einkommensarten einheitlich mit einem proportionalen Steuersatz von 19% besteuert werden. In den drei baltischen Landem ist dagegen ebenfalls eine Schedulisiemng der gmndsatzlich als Flat Tax ausgestalteten Einkommensteuer festzustellen: entweder deshalb, weil bestimmte Kapitaleinkiinfte aus der Besteuemng ausgenommen sind (etwa Zinseinkiinfle) bzw. ermaBigt besteuert werden (VerauBemngsgewinne) oder aufgmnd der Doppelbesteuemng ausgeschiitteter Dividenden (Litauen). Nicht selten sind - und dies gilt fiir alle Arten von Einkommensteuersystemen - die maximalen Steuersatze auf Dividenden hoher als die auf Arbeitseinkommen angewendeten Spitzensteuersatze, da die Doppelbesteuemng mit Korperschaft- und Einkommensteuer nicht oder nur unvollstandig beseitigt wird. 4
Unterschiedliche Einkommensteuersysteme aus der Perspektive der Steuergerechtigkeit
In diesem Abschnitt soil nun eine Beurteilung der Entwicklung der Einkommensbesteuemng in Europa aus der Perspektive der Steuergerechtigkeit untemommen werden. Dazu werden unterschiedliche Anhaltspunkte und Dimensionen der Steuergerechtigkeit herangezogen. 4.1 Der Beitrag der Einkommensteuern zur Finanzierung der Staatstdtigkeit Zunachst interessiert, wie sich langfristig der Beitrag der Einkommensteuem zum gesamten Abgabenaufkommen (Steuem sowie Sozialversichemngsbeitrage) und damit zur Finanzie351
rung der Staatstatigkeit entwickelt hat. Tabelle 3 zeigt die Abgabenstrukturen der Jahre 1980 und 2003 fur Deutschland und im Durchschnitt fur die EU-15 sowie die OECD. Tabelle 3:
Abgabenstrukturen 1980 und 2003 im intemationalen Vergleich in %^^
Quelle: OECD 2005. Alle einkommensbezogenen Steuem zusammen (auf korperschaftsteuerpflichtige Unternehmensgewinne, im folgenden als „Untemehmenssteuem" bezeichnet, sowie auf die iibrigen, einkommensteuerpflichtigen Arbeits- und Kapitaleinkunfte, im folgenden als „sonstige Einkommensteuem" bezeichnet) haben in der EU-15 leicht, in der OECD relativ stark an Gewicht verloren. In Deutschland ist der Bedeutungsverlust der einkommensbezogenen Steuem am starksten: Ihr Anteil an den Gesamtabgaben ist von 35,1% im Jahr 1980 auf 27,4% im Jahr 2003 gesunken und unterschreitet damit deutlich die intemationalen Vergleichswerte. Diese Entwicklung ist zuriickzufuhren auf das sinkende Gewicht der sonstigen Einkommensteuem: Ihr Anteil an den gesamten Abgaben ist in der EU-15 von 27,8% im Jahr 1980 auf 25,2% im Jahr 2003 zuruckgegangen, in der OECD von 30,5% auf 25,1% und in Deutschland von 29,6% auf 23,9%. Die einkommensteuerpflichtigen Einkommen aus dem Einsatz von Kapital und Arbeit tragen somit im Jahr 2003 deutlich weniger zur Finanziemng der Staatstatigkeit bei als noch 1980. Die wachsenden Anteile der Untemehmenssteuem an den gesamten Einnahmen der offentlichen Hand, die im Durchschnitt der EU-15 sowie der OECD zu beobachten sind, konnten dies nur teilweise kompensieren. In Deutschland ist auch der Anteil der Steuem auf die korperschaftsteuerpflichtigen Gewinne gesunken. Es griffe jedoch zu kurz, hieraus den SchluB zu ziehen, daB die einkommensteuerpflichtigen Steuersubjekte bzw. Steuerbasen immer weniger einen angemessenen Anteil an der gesamten Abgabenlast iibemehmen. Die Abgabenstmktur beriicksichtigt nicht die Entwicklung der einzelnen steuerlichen Bemessungsgmndlagen und ist damit kein geeignetes MaB fiir die effektive steuerliche Belastung unterschiedlicher Steuersubjekte bzw. steuerlicher Bemessungsgmndlagen. Aussagekraftiger in dieser Hinsicht sind makrookonomische effektive Steuersatze (sogenannte „implizite Steuersatze"), die sowohl die steuerlichen Regelungen als auch die Steuerbasen beriicksichtigen. Tabelle 4 gibt die von der Europaischen Kommission berechneten impliziten Steuersatze auf Arbeit, Verbrauch und Kapital fiir die Jahre 1995 und 2003 an.
352
Tabelle 4:
Implizite Steuersatze 1995 und 2003 im europaischen Vergleich in % Verbrauch
EU-25 Eurozone Deutschland
1995 21,8 20,9 18,8
Arbeit 2003
1995
22
36
21,5 18,5
36.2 39,5
Kapital 2003 35,9 36,8 40,6
1995 23,2 23.3 21,2
2005 25,4 28,2 20,1
Quelle: European Commission 2005. Der effektive Steuersatz auf Verbrauch ergibt sich, indem samtliche Verbrauchssteuem auf die privaten Konsumausgaben bezogen werden. Zur Ermittlung des effektiven Steuersatzes auf Arbeit werden Einkommen- bzw. Lohnsteuem sowie Sozialversicherungsbeitrage ins Verhaltnis zu den Arbeitnehmerentgelten gesetzt. Der effektive Steuersatz auf Kapital ist die Relation aus von privaten Haushalten und Untemehmen gezahlten Steuem auf Transaktionen, Bestand und Ertrage von Vermogen sowie auf Untemehmensgewinne zum weltweiten Gewinn- und Vermogenseinkommen privater Haushalte und Untemehmen. Im europaweiten Vergleich sind unterschiedliche Tendenzen in der effektiven Belastung der einzelnen Steuerbasen mit Steuem und Abgaben festzustellen. In der EU-25 ist die effektive Besteuemng von Verbrauch und Arbeit so gut wie konstant geblieben, wahrend die effektive Kapitalbesteuemng um gut zwei Prozentpunkte (von 23,3% auf 25,4%) zugenommen hat. In der Eurozone, die 12 alte EU-Lander reprasentiert, werden Verbrauch und Arbeit im Jahr 2003 im Vergleich zu 1995 leicht, Kapital aber deutlich hoher besteuert (um etwa 5 Prozentpunkte). Fiir Deutschland ist dagegen eine leichte Entlastung von privatem Verbrauch sowie von Kapital und eine Zunahme der effektiven Abgabenlast auf Arbeit zu beobachten. Es muB allerdings darauf hingewiesen werden, daB der effektive Kapitalsteuersatz sowohl die Vermogenseinkommen der privaten Haushalte als auch die Gewinneinkommen der Untemehmen sowie die Steuem hierauf umfaBt, so daB die effektive Belastung einkommen- und korperschaftsteuerpflichtiger Gewinne bzw. Vermogenseinkommen nicht isoliert werden kann. Zudem ist zu beachten, daB die erfaBten Abgaben nicht nur einkommensbezogene, sondem auch vermogensbezogene Steuem beinhalten. Daher konnen auch diese effektiven Steuersatze nur begrenzte Hinweise auf den Beitrag einkommensbezogener Steuem zur Finanziemng der Aufgaben der offentlichen Hand geben. 4.2 Strukturen der Einkommensbesteuerung und Steuergerechtigkeit AbschlieBend werden die einzelnen Einkommensteuersysteme - das synthetisch-progressive Einkommensteuersystem, das schedularisierte bzw. analytische Einkommensteuersystem, die duale Einkommensteuer und die Flat Tax - aus der Perspektive der vertikalen sowie der horizontalen Steuergerechtigkeit betrachtet. Vertikale und horizontale Steuergerechtigkeit werden gmndsatzlich im synthetischprogressiven Einkommensteuersystem gleichzeitig verwirklicht. Bei einer synthetischprogressiven Einkommensteuer steigt die durchschnittliche Steuerbelastung mit der Hohe des Einkommens. Eine steigende steuerliche Leistungsfahigkeit (gemessen am Einkommen) wird mithin durch eine hohere Besteuemng abgeschopft; die Ungleichverteilung der Primareinkommen wird verringert. Auch die Fordemng nach horizontaler Steuergerechtig353
keit wird erfuUt, da Steuersubjekte mit identischem Einkommen - unabhangig von der Einkommensquelle - eine identische Steuerlast zu tragen haben. Zudem werden Tatbestande, die die steuerliche Leistungsfahigkeit der Steuerpflichtigen verringem, steuerlich beriicksichtigt, indem die Steuerbemessungsgrundlage (durch steuerliche Freibetrage) oder die Steuerschuld (durch Steuerabsetzbetrage) verringert wird. Allerdings konnen auch synthetisch-progressive Einkommensteuersysteme mit Gerechtigkeitsdefiziten verbunden sein (Wissenschafllicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen 2004). Diese hangen erstens zusammen mit der steuerlichen Beriicksichtigung von Tatbestanden, die die steuerliche Leistungsfahigkeit der Steuerpflichtigen vermindem. Je umfangreicher der Katalog dieser Ausnahmetatbestande ist und je komplexer und intransparenter die entsprechenden steuerlichen Regelungen sind, desto problematischer ist dies unter Gerechtigkeitsaspekten. Steuerpflichtige, die iiber die Ressourcen verfagen, diese Ausnahmetatbestande aufzuspiiren und steuermindemd zu nutzen, sind im Vorteil gegeniiber jenen, die diese Ressourcen nicht haben. Auch ist die Gestaltbarkeit steuerlicher Sachverhalte fur Bezieher/innen bestimmter Einkiinfte besonders groB; dies betrifft vor allem der personlichen Einkommensteuer unterworfene Einkiinfte aus untemehmerischer Tatigkeit (Selbstandigeneinkiinfte und Einkiinfte aus Gewerbebetrieb), in gewissem MaBe aber auch sonstige Kapitaleinkiinfte. Auch die konkrete Ausgestaltung der entsprechenden steuerlichen Regelungen spielt eine Rolle: So fiihren steuerliche Freibetrage in einem progressiven Einkommensteuersystem zu mit dem Einkommen (und damit dem personlichen Einkommensteuersatz) steigenden Entlastungsbetragen. Dagegen konnen Steuerpflichtige, die kein oder nur ein geringes steuerpflichtiges Einkommen haben, Steuerfreibetrage nicht oder nur in geringem MaBe nutzen. Ein zweites Gerechtigkeitsproblem entsteht dann, wenn die Durchsetzung der Besteuerung fur unterschiedliche Einkommensarten nicht in gleicher Weise und mit gleicher Konsequenz erfolgt. Dieser Aspekt ist besonders relevant im Vergleich von Arbeitseinkommen einerseits und Kapitaleinkunften andererseits. Arbeitseinkommen werden in der Regel an der Quelle (vom Arbeitgeber) einbehalten, so daB zumindest ftir unselbstandige Arbeitnehmer keine Moglichkeiten zur Steuerhinterziehung bestehen. Anders ist dies ftir jene Einkommen, die vom Steuerpflichtigen im Rahmen einer Einkommensteuererklarung deklariert werden: Existieren keine effektiven Kontroll- und Durchsetzungsmoglichkeiten (etwa Kontrollmitteilungen an die Steuerbehorden), so ist zu erwarten, daB ein erheblicher Teil dieser Einkiinfte vor den Steuerbehorden verheimlicht und damit der Besteuerung entzogen wird - nicht zuletzt durch die Verlagerung von Kapitalanlagen ins Ausland. Diese potentiellen Gerechtigkeitsprobleme einer synthetisch-progressiven Einkommensteuer werden haufig (neben einer Reihe von weiteren wirtschaftspolitischen Argumenten, auf die im Rahmen dieses Beitrags jedoch nicht weiter eingegangen werden kann) als Begriindung dafur herangezogen, die Einkommensteuersysteme in Richtung einer Flat Tax oder einer dualen Einkommensteuer zu reformieren bzw. Elemente einer Schedulensteuer einzuftihren. Die Tragfahigkeit dieser Argumente und Einwande soil nun kurz erortert werden. Nach Ansicht der Befurworter einer Flat Tax verringere ein insgesamt relativ geringer Steuersatz den Anreiz zur Steuerhinterziehung. Dieselbe positive Wirkung wird auch von schedulisierten bzw. dualen Einkommensteuersystemen erwartet, vor allem dann, wenn Kapitaleinkiinfte nicht nur einem geringeren Steuersatz unterliegen, sondem zusatzlich dieser Steuersatz an der Quelle (d.h. bei der auszahlenden Stelle) erhoben wird und als
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definitive Abgeltungssteuer gilt, so daB die betreffenden Einkiinfte nicht mehr im Rahmen einer Einkommensteuererklarung zu deklarieren sind. Da auBerdem steuerliche Ausnahmetatbestande weitgehend abgeschafft werden, werde die Privilegierung jener beseitigt, die diese Ausnahmetatbestande in besonders hohem MaBe nutzen konnten, weil sie uber die erforderlichen Ressourcen verfagen, besonders gestaltbare Einkommen beziehen oder ein hohes Einkommen haben. SchlieBlich wiirde aufgrund des einheitlichen Steuersatzes das Problem der regressiven Wirkung von Abziigen von der Steuerbemessungsgrundlage entscharft. Allerdings kann diesen Gerechtigkeitsdefiziten einer synthetisch-progressiven Einkommensteuer, die in der Realitat (und nicht nur in Deutschland) sicherlich existieren, auch im Rahmen einer geeigneten Ausgestaltung ohne eine radikale Systemanderung begegnet werden. Steuerhinterziehung kann durch die Einfuhrung nationaler bzw. grenziiberschreitender Kontrollmitteilungssysteme bekampft werden. Auch sind steuerliche Ausnahmetatbestande regelmaBig zu evaluieren und in einem ersten Schritt zu straffen und so weit wie moglich abzubauen. Werden neue Ausnahmetatbestande eingefuhrt, so sollte dies mit einer „Sunset-Klauser', also einer zeitlichen Befristung geschehen und nach dem Ablauf der zeitlichen Befristung die Notwendigkeit einer Fortfuhrung uberpriift und ggf. von einer weiteren Gewahrung der betreffenden steuerlichen Vergiinstigung abgesehen werden. Zusatzlich sollten steuerliche Ausnahmetatbestande in Form von Steuerabsetzbetragen, wie sie etwa in Osterreich uberwiegend genutzt werden, statt in Form von Steuerfreibetragen gewahrt werden (Nowotny 1999). Die steuerliche Entlastung ist dann unabhangig von der Hohe des individuellen Einkommens. Ftir jene Steuerpflichtigen, deren Einkommensteuerschuld so gering ist, daB sie durch Steuerabsetzbetrage keine Entlastung erfahren, waren diese als Steuerpramien bzw. als Negativsteuem zu leisten. Flat Taxes stellen dagegen einen VerstoB sowohl gegen die horizontale als auch gegen die vertikale Steuergerechtigkeit dar. Die horizontale Steuergerechtigkeit wird dann verletzt, wenn Steuerpflichtige zwar Uber identische Einkommen verfugen, aber ihre steuerliche Leistungsfahigkeit aufgrund unterschiedlicher personlicher Umstande differiert. Diese werden in Flat Tax-Systemen, die in ihrer Reinform keinerlei steuerliche Ausnahmetatbestande beinhalten, nicht beriicksichtigt. Ein von der Hohe des individuellen Einkommens unabhangiger proportionaler Einkommensteuersatz ist auch aus Sicht der vertikalen Steuergerechtigkeit unbefriedigend. Zwar kann ein gewisses AusmaB an Progression in den Tarif eingebaut werden, indem ftir die ganz unteren Einkommen ermaBigte Steuersatze gewahrt bzw. ein gewisser Betrag des Einkommens ganzlich steuerfrei bleibt (so wie das etwa in der slowakischen Flat Tax der Fall ist). Auf diese Weise kann eine gewisse (indirekte) Progression erreicht werden, deren AusmaB jedoch begrenzt bleiben muB. Vor allem im Bereich der oberen Einkommen ist die steuerliche Entlastung durch eine Flat Tax sehr hoch. Auch duale bzw. schedulisierte Einkommensteuersysteme entsprechen nur unzureichend den Postulaten der vertikalen und der horizontalen Steuergerechtigkeit. Die unterschiedlich hohe Steuerlast auf Arbeits- und Kapitaleinkommen (sowie ggf. die unterschiedliche steuerliche Behandlung der einzelnen Kapitaleinkommensarten) verstoBt gegen die horizontale Steuergerechtigkeit: Steuerpflichtige mit identischem Gesamteinkommen und damit identischer steuerlicher Leistungsfahigkeit, aber unterschiedlicher Einkommensstruktur haben unterschiedlich hohe Einkommensteuerzahlungen zu leisten. Die proportionale Besteuerung von Kapitaleinkiinften bedeutet eine Vemachlassigung der vertikalen Steuergerechtigkeit innerhalb dieser Einkunftsarten. Die duale Einkommensteuer ist daruber hin-
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aus mit dem praktischen Problem behaftet, daB die Einkommen aus untemehmerischer Tatigkeit, das in eigentumergefiihrten Untemehmen erzielt wird, in Arbeits- und Kapitaleinkommen aufgespalten, also dem Arbeitseinsatz (der progressiv besteuert wird) und dem Kapitaleinsatz (der proportional besteuert wird) zugerechnet werden muB. Damit entstehen Anreize, solche Einkiinfte so weit wie moglich in den Bereich der proportional besteuerten Kapitaleinkunfte zu verlagem, was eine mogliche Quelle fur steuerliche Ungerechtigkeiten darstellt. 5
Fazit
Die traditionellen Einkommensteuersysteme in Europa geraten, obwohl sie bereits jetzt samtlich nicht mehr der Reinform der synthetisch-progressiven Einkommensteuer entsprechen, zunehmend unter Druck. Vor allem die „Flat Tax-Bewegung", die eine Reihe von Transformationslandem ergriffen hat, greift zunehmend auch auf die westeuropaischen Lander iiber und setzt die dortigen Einkommensteuersysteme unter Rechtfertigungsdruck. Insgesamt ist festzustellen, daB die traditionellen progressiven Einkommensteuersysteme zwar eine Reihe von auch aus der Sicht der Steuergerechtigkeit problematischen Elementen enthalten. Dennoch sei vor einer vorschnellen Ubemahme radikaler Reformmodelle gewamt. Denn erstens sind die Rahmenbedingungen (Moglichkeiten der Durchsetzung der Besteuerung, Tradition der Einkommensbesteuerung) in den mittel- und osteuropaischen Landem nicht mit jenen der westeuropaischen Lander vergleichbar. Und zweitens gibt es durchaus Reformansatze, die die bestehenden Gerechtigkeitsprobleme der existierenden westeuropaischen Einkommensteuersysteme beseitigen konnen, ohne daB auf deren grundsatzlich progressive Ausgestaltung verzichtet werden muB. Steuererleichterungen fur Kapitaleinkunfte durch eine vertiefte steuerliche Differenzierung zwischen Arbeits- und Kapitaleinkunften (nach dem Ansatz der dualen Einkommensteuer) oder die Besteuerung samtlicher Einkiinfte mit einem einheitlichen Steuersatz (gemaB dem Flat Tax-Modell) verletzen sowohl die horizontale als auch die vertikale Steuergerechtigkeit: Zumal zu beriicksichtigen ist, daB in vielen europaischen Landem keine eigenstandigen Vermogensteuem mehr erhoben werden und einige Lander (Schweden, Italien) in den letzten Jahren auch die Erbschaftssteuer abgeschafft und dadurch die Progressivitat des Steuersystems insgesamt verringert haben. Literatur Bundesministerium der Finanzen (2006): Die wichtigsten Steuem im intemationalen Vergleich, in: Monatsbericht des BMF, No. 1/2006, S. 33-44. Bundesministerium der Finanzen (2005): Die wichtigsten Steuem im intemationalen Vergleich, in: Monatsbericht des BMF, No. 1/2005, S. 37-53. EiBel, Dieter (2002): Einkommens- und Vermogensverteilung. Argumente gegen eine wachsende Schieflage, in: Eicker-Wolf, Kai/Kindler, Holger/Schafer, Ingo/Wehrheim, Melanie/Wolf, Dorothee (Hg.): „Deutschland auf den Weg gebracht". Rot-grune Wirtschafts- und Sozialpolitik zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Marburg, S. 87-124. European Commission (2005): Structures of the Taxation Systems in the EU, Luxemburg.
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Ganghof, Steffen (2004): Einkommensteuer in der globalen Arena, in: Max-Planck-Forschung, No. 3/2004, S. 48-52. Ganghof, Steffen (2002): Griine Steuerpolitik - iiberangepasst oder sachgerecht?, in: Kommune. Forum fur Politik, Okonomie, Kultur, No. 5/2002, S. 43-46. Hall, Robert E./Rabushka, Alvin (1995): The Flat Tax, 2. Auflage, Stanford. KPMG (2004): Corporate Tax Rate Survey 2004, o.O. Mennel, Annemarie/Forster, Jutta (o.J.): Steuem in Europa, Amerika und Asien - Loseblattsammlung, Berlin. Musgrave, Richard A./Musgrave, Peggy B./Kullmer, Lore (1993): Die offentlichen Finanzen in Theorie und Praxis, Band 2, 5. Auflage, Tubingen. Neumark, Fritz (1970): Grundsatze gerechter und okonomisch rationaler Steuerpolitik, Tubingen. OECD (2005): Revenue Statistics, Paris. OECD (o.J.): www.oecd.org. Nowotny, Ewald (1999): Der offentliche Sektor, 4. Auflage, Berlin et al. Reding, Kurt/Miiller, Walter (1999): Einfuhrung in die Allgemeine Steuerlehre, Miinchen. Sachverstandigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2003): Jahresgutachten 2003/04, Wiesbaden. Schratzenstaller, Margit (2003): Dualisierung von Einkommensteuersystemen - Stand und Perspektiven im intemationalen Vergleich, in: DlW-Vierteljahrshefte, No. 4/2003, S. 535-550. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen (2004): Flat Tax oder Duale Einkommensteuer? Zwei Entwiirfe zur Reform der deutschen Einkommensbesteuerung, Berlin.
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Hanne-Margret Birckenbach
Soziale Gerechtigkeit als Menschenrecht: zum Europaischen des europaischen Sozialmodells
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Einleitung
Sorgen um die Zukunft des europaischen Sozialmodells werden haufig damit zuriickgewiesen, ein einheitliches Modell existiere gar nicht, vielmehr sei von drei, vier oder gar vielen Varianten des europaischen Wohlfahrtstaates auszugehen, die sich aus der jeweiligen Nationalgeschichte erklarten. Im Vordergrund stehen drei westeuropaische Typen, die heute als Leitbilder konkurrieren: das liberale Modell (GroBbritannien), das korporatistische (Frankreich) und das sozialdemokratische (Schweden). Hingegen werden die sozialpolitischen Erfahrungen aus den neuen, osteuropaischen Mitgliedstaaten der EU oder gar aus der Ukraine, aus Moldawien oder RuBland - obwohl doch alle ohne Zweifel europaisch - in einer Debatte nur selten berucksichtigt, die sich auf die Frage konzentriert, welche Sozialpolitik sich die europaischen Staaten kiinftig noch werden leisten konnen. In der Tat laBt sich beobachten, daB alle Varianten einer politischen und rechtlichen Institutionalisierung des Streits um sozialen Ausgleich durch Marktregulierung, vermittelt iiber die Europaische Union, in einem wenig durchschaubaren Zusammenspiel von top-down-, bottom-up- und middle-out-VrozQSSQn neu geordnet werden. Eine ganz andere Frage hingegen ist, was europaische Staaten sich aus Griinden des inneren und auBeren Friedens auch zukiinftig werden leisten mussen, was also im europaischen Kontext unbedingt erforderlich ist und nicht aufgegeben werden darf. Was daran ist europaisch und was daran Modell? Die Antwort kann nicht allein in der inneren Entwicklung der europaischen Staaten gefunden, sie muB auch im Kontext der intemationalen Entwicklung gesucht werden. Europaisch - so die These dieses Beitrags - ist vor allem die Methode der Zivilisierung von Klassenkampfen und intemationaler Konkurrenz durch verhandelte, als Menschenrechte konzipierte Mindeststandards. Sie hat einen Bezug zur globalen Ebene, ist normengeleitet und setzt auf Dialog. Die menschenrechtliche Fundierung von Sozialpolitik steht nicht nur Modell fur gesellschaftliche Beziehungen innerhalb Europas, sondem auch ftir die Beziehungen zwischen Nord und Siid. Ich werde im folgenden nachzeichnen, wie gegen viele, nie ganz ausgeraumte Bedenken, soziale Mindeststandards als Menschenrecht festgelegt wurden und man ihre Einhaltung iiberpriifbar gemacht hat. Dies gelang erst nach dem Zweiten Weltkrieg und nur im Zusammenspiel mit der globalen Ebene der Vereinten Nationen. Die Entstehung und Weiterentwicklung der Europaischen Sozialcharta von 1961 (ESC) hat hier eine Schliisselstellung und steht daher im Mittelpunkt dieses Beitrags. Ihre Wirkungskraft wird in der Offentlichkeit unterschatzt. DaB die Erfolgsgeschichte der ESC auch nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes fortgesetzt werden kann, ist nicht ausgemacht, aber auch nicht ausgeschlossen. Die Antwort wird auch davon abhangen, inwieweit die europaischen Staaten die menschenrechtliche Fundierung der Sozialpolitik als Vorteil erkennen und sie stiitzen, oder ob sie darin eine Last sehen und sich ihrer entziehen. Auch
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die deutsche Politik ist noch unentschieden, ob sie diese Methode begreifen und fordem will. Ein Vorbild ftir andere Staaten ist Deutschland bisher jedenfalls nicht. 2
Von der UN-Charta iiber die Europaische Sozialcharta zum Internationalen Sozialpakt
Die Tatsache, daB Menschen ein Recht auf soziale Unterstutzung und Forderung unabhangig davon haben miissen, wie sich dies politisch und wirtschaftspolitisch „rechnet", wurde in Europa erst spat propagiert. Diese Entwicklung reagierte auf die Politisierung und emotionale Aufladung der Idee der Gerechtigkeit sowie auf die Erfahrung, daB zerstorerische innergesellschaftliche Kampfe und verheerende Internationale Kriege die Folge sind, wenn nicht andere Wege gefunden werden, Gerechtigkeit einzufordem. Um aus diesen konfrontativen Kampfen um Gerechtigkeit aussteigen zu konnen, bedurfte es eines Umweges, namlich der Projektion der europaischen Probleme auf die globale Ebene. Zwar war bereits mit der Griindung der Internationalen Arbeitsorganisation (lAO) als Teil des Versailler Vertrages eine Verbindung zwischen dem politischen Ziel intemationaler Zusammenarbeit und der Propagierung sozialer Werte konzipiert worden (Senghaas-Knobloch 2005). Doch die politische Etablierung des Zusammenhanges von Frieden und sozialer Gerechtigkeit als einander bedingende Werte gelang erst nach 1945, mit der Griindung der Vereinten Nationen (VN). Die europaische sozialpolitische Entwicklung nach 1945 kann ohne Beachtung des internationalen Menschenrechtssystems nicht mehr verstanden werden. Die ersten NutznieBer des entstehenden Systems universaler politisch-sozialer Menschenrechte waren somit die Europaer selbst, die damit keinesfalls die entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit ihren ehemaligen Kolonien im Auge hatten, sondem schlicht sich selbst. Das Grunddokument ist die Charta der Vereinten Nationen von 1945. Sie verpflichtet die Staaten erstmals - wenngleich in der heutigen Wahmehmung auf diplomatisch auBerst zuriickhaltende Weise -, den Zusammenhang zwischen den Menschenrechten und der Entwicklung des Weltfriedens zu beachten. 1948, nur drei Jahre spater, verabschiedete die Generalversammlung der VN die „Allgemeine Erklarung der Menschenrechte" (AEMR). In ihr wird die Idee der Unteilbarkeit der Menschenrechte formuliert, also die Einsicht, daB politische und soziale Menschenrechte eine Einheit bilden (Bielefeldt 2005). UnmiBverstandlich heiBt es in Art. 22: „Jedermann hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit und hat Anspruch darauf, durch iimerstaatliche MaBnahmen und intemationale Zusammenarbeit unter Berucksichtigung der Organisation und der Hilfsmittel jedes Staates in den GenuB der fur seine Wurde und die freie Entwicklung seiner Personlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen." Dazu zahlen das Recht auf bezahlte und menschenwiirdige Arbeit, auf einen sozialen Mindeststandard, auf Bildung und kulturelle Teilhabe und der Anspruch, in einer sozialen und internationalen Ordnung zu leben, in der diese Rechte verwirklicht werden konnen. Der Transformation der AEMR von einer Willenserklarung mit empfehlendem Charakter zu einem verbindlichen Vertragswerk standen in den VN Differenzen entgegen, die zunachst uniiberbriickbar zu sein schienen: „Wir wiinschen freie Menschen, nicht wohlgenahrte Sklaven", argumentierte der britische Vertreter in den Verhandlungen um die 360
AEMR; „Freie Menschen konnen verhungem", hielt der ukrainische Vertreter dagegen. Als Kemargument gegen das Konzept sozialer Menschenrechte wurde auf westlicher Seite angefiihrt, diese seien nicht justiziabel, weil ihre Realisierung von den wirtschaftlichen Verhaltnissen abhangig sei und daher unprazise gefaBt sein miisse. Nun ist das sicher kein Alleinstellungsmerkmal sozialer Rechte. Auch politische Freiheitsrechte sind voraussetzungsreich und miissen kontinuierlich prazisiert werden (Chrucill/Khaliq 2004). Dennoch wird die Position, die Einhaltung sozialer Anspruchsrechte sei nicht uberpriifbar, auch heute noch vertreten und spielt selbst in den Kontroversen um die Grundrechtecharta der Europaischen Union - wider alle praktische Erfahrung (Heringa 1997) - eine zumindest ideologisch-abwehrende Rolle. Zwolf Jahre dauerte es, bis es in der Menschenrechtskommission der VN gelang, die wechselseitige Blockade aufzulosen. Der KompromiB wurde aber nicht in New York, sondem in Westeuropa gefunden. Auf dem geteilten Kontinent und unter den Bedingungen bewaffneter Systemkonkurrenz wurde der Streit um die Wertigkeit politischer Freiheitsund sozialer Gerechtigkeitsanspruche ungleich heftiger ausgetragen, nicht nur zwischen Ost und West, sondem auch innerhalb des westlichen Lagers. Parallel zu ihrer Arbeit in der UN-Menschenrechtskommission ergriff eine Gruppe westeuropaischer Staaten die Initiative, griindete den Europarat, europaisierte den Menschenrechtsstreit und verabschiedete zwei miteinander verbundene, aber getrennte Menschenrechtskonventionen. In der Grundungserklarung von 1949 heiBt es ankniipfend an die Charta der VN, „daB die Festigung des Friedens auf der Grundlage der Gerechtigkeit und intemationalen Zusammenarbeit far die Erhaltung der menschlichen Gesellschaft und der Zivilisation von lebenswichtigem Interesse ist". 1950 wurde die „Europaische Konvention der Menschenrechte und Grundfreiheiten" (EMRK), 1961 die „Europaische Sozialcharta" (ESC) verabschiedet. Ungeachtet der in der Folgezeit immer parallel zum Menschenrechtsschutz der VN erfolgten Weiterentwicklungen durch Zusatzprotokolle und mehr als 190 weitere Europaratskonventionen - Verbot der Folter und entwurdigenden Behandlung oder Strafe (1987), Beteiligung der Auslander/innen am offentlichen Leben der Gemeinden (1992), Schutz der Regionalund Minderheitensprachen (1992) - markieren die Einigungen iiber die EMRK und die ESC den Beginn des einheitlichen europaischen Menschenrechtsraumes (Therbom 2000), der soziale Gerechtigkeit als ein regulatives Prinzip des europaischen Friedens, aber auch des Weltfriedens anerkennt. Wie die EMRK zielt auch die ESC darauf ab, durch die Festlegung von Normen einen politischen ProzeB zu etablieren, durch den die Menschenrechtsvertraglichkeit nationaler Rechtssysteme erhoht wird. Mit der ESC hat der Europarat den Weg gewiesen, um die zunachst in Europa aufgeworfene Frage, ob der Friede das Werk der Gerechtigkeit oder die Gerechtigkeit das Werk des Friedens ist (Czempiel 1995; Senghaas 2004), zugunsten einer sich wechselseitig bestarkenden Praxis zu erledigen. Erst in der Folge und nach europaischem Vorbild gelang 1966 schlieBlich auch in den VN die Annahme von zwei eigenstandigen Abkommen: des „Intemationalen Paktes iiber biirgerliche und politische Rechte" (Zivilpakt) einerseits und des „Intemationalen Paktes iiber wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte" (Sozialpakt) andererseits. Anders als der Zivilpakt sieht der Sozialpakt differenziertere Umsetzungsverpflichtungen, offenere Kontrollen und (noch immer) keine Individual- oder Gruppenbeschwerde vor (Schneider 2004). Er verlangt aber von jedem Unterzeichnerstaat in Teil II, Art. 2, „einzeln und durch intemationale Hilfe und Zusammenarbeit, insbesondere wirtschaftlicher und technischer Art, unter Ausschopfung aller seiner Moglichkeiten MaBnahmen zu treffen, um nach und
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nach mit alien geeigneten Mitteln, vor allem durch gesetzgeberische MaBnahmen, die voile Verwirklichung der in diesem Pakt anerkannten Rechte zu erreichen". 3
Die Europaische Sozialcharta als Zielvereinbarung
Das europaische Menschenrechtssystem gait zunachst nur fur die westeuropaischen Mitgliedstaaten des Europarates. Da insbesondere die Parlamentarische Versammlung des Europarates gleichwohl beanspmchte, in gesamteuropaischer Perspektive zu sprechen, wurde es in Osteuropa ebenso wie von Sozialisten im westlichen Lager haufig nur als Instrument des Kalten Krieges wahrgenommen. Als gabe es aber eben doch eine „List der Vemunft", bildeten sich dessenungeachtet bereits in den 1960er Jahren erste Formen der Zusammenarbeit in den Bereichen Erziehung, Kultur, Bildung, Sport und Umweltschutz heraus, die es sogar ermoglichten, daB einige osteuropaische Staaten vor dem Ende des OstWest-Konfliktes einzelnen Konventionen beitreten konnten, lange bevor sie in den Europarat aufgenommen wurden und dieser dann maBgeblich zur politischen Transformation (Doye 2002) und zur Konfliktbewaltigung (Brummer 2005) beigetragen hat. Die Mitgliedschaft umfaBt heute 46 europaische Staaten: von Island bis Aserbaidschan, von Spanien bis RuBland, von Norwegen bis Zypem. Auch dann, wenn die Staaten die Europaratsnormen nicht erfiillen konnen oder wollen, lassen sie sich kontinuierlich daran messen. Nur Belarus gehort noch nicht dazu. Wahrend die Bedeutung der EMRX und des iiberprufenden Menschengerichtshofes unbestritten ist, erfahrt die ESC, zumindest in der deutschen sozialpolitischen Debatte, nur wenig Aufmerksamkeit. Dabei etabliert die ESC drei Griinde, um tatsachlich von einem „europaischen Sozialmodell" im Singular zu sprechen: die rechtsformige Verpflichtung der Mitgliedstaaten erstens auf eine Politik der sozialen Gerechtigkeit nach Standards, die fiir die europaische Konstellation konkretisiert wurden, zweitens auf den politischen Dialog iiber die nationale Sozialpolitik als Teil des Oberwachungssystems und drittens die Erweiterung des Implementierungssystems durch ein Beschwerdeverfahren. 3.1 Die europdischen Sozialstandards Die normativen Inhalte der ESC haben viele Wurzeln. Sie speisen sich aus religios motivierter Barmherzigkeit und humanistischer Menschenliebe, aus nationalen Traditionen, schlichten Eigeninteressen oder aus der Einsicht in das destruktive Potential von politisierter Not. Wie immer aber die Wertschatzung sozialer Gerechtigkeit begriindet wird, die europaischen Staaten bleiben auch dann, wenn diese Motivationsquellen versagen, daran gebunden, soziale Gerechtigkeit als Kemelement einer friedensfahigen politischen Ordnung zu achten und zu fordem und - sofem sie iiberfordert sind - dies in einem ProzeB der Annaherung und im Verbund mit anderen jedenfalls zu versuchen. Denn mit der ESC verpflichten sich die Staaten „mit alien zweckdienlichen Mitteln staatlicher und zwischenstaatlicher Art" zu einer Politik, die darauf abzielt, geeignete Voraussetzungen zu schaffen, damit 19 Rechte und Grundsatze, deren Inhalte in der Charta selbst sowie in einem inzwischen mehr als vierzigjahrigen AnwendungsprozeB interpretiert, prazisiert und aktualisiert wurden, ohne Ansehen der Person gelten - fur , jedermann" also, fiir „alle" Arbeitnehmer
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Oder ,jeden" Behinderten und auch fur Wanderarbeiter und ihre Familien, sofem diese Staatsangehorige einer Vertragspartei sind. Im einzelnen handelt es sich um: (1) das Recht auf Arbeit, (2) das Recht auf gerechte Arbeitsbedingungen, (3) das Recht auf sichere und gesunde Arbeitsbedingungen, (4) das Recht auf ein gerechtes Arbeitsentgelt, (5) das Vereinigungsrecht, (6) das Recht auf Kollektivverhandlungen, (7) das Recht der Kinder und Jugendlichen auf Schutz, (8) das Recht der Arbeitnehmerinnen auf Schutz, (9) das Recht auf Berufsberatung, (10) das Recht auf berufliche Ausbildung, (11) das Recht auf Schutz der Gesundheit, (12) das Recht auf soziale Sicherheit, (13) das Recht auf Fiirsorge, (14) das Recht auf Inanspruchnahme sozialer Dienste, (15) das Recht der korperlich, geistig oder seelisch Behinderten auf berufliche Ausbildung sowie auf berufliche und soziale Eingliederung oder Wiedereingliederung, (16) das Recht der Familie auf sozialen, gesetzlichen und wirtschaftlichen Schutz, (17) das Recht der Miitter und der Kinder auf sozialen und wirtschaftlichen Schutz, (18) das Recht auf Ausiibung einer Erwerbstatigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Vertragsparteien und (19) das Recht der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien auf Schutz und Beistand. Im Jahr 1996 wurde die Charta erweitert. Die „revidierte" Charta wird die Konvention von 1961 nach und nach ersetzen und hat sie um zwolf weitere sozialpolitische Verpflichtungen erganzt, namlich: (20) das Recht auf Chancengleichheit und Gleichbehandlung in Beschafligung und Beruf ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, (21) das Recht auf Unterrichtung und Anhorung im Untemehmen, (22) das Recht auf Beteiligung an der Festlegung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Arbeitsumwelt im Unternehmen, (23) das Recht alterer Menschen auf sozialen Schutz, (24) das Recht aller Arbeitnehmer auf Schutz bei Kiindigung, (25) das Recht aller Arbeitnehmer auf Schutz ihrer Forderungen bei Zahlungsunfahigkeit ihres Arbeitgebers, (26) das Recht aller Arbeitnehmer auf Wurde am Arbeitsplatz, (27) das Recht aller Personen mit Familienpflichten, die erwerbstatig sind oder erwerbstatig werden wollen, dies ohne sich einer Diskriminierung auszusetzen zu tun und, soweit dies moglich ist, ohne dafi es dadurch zu einem Konflikt zwischen ihren Berufs- und ihren Familienpflichten kommt, (28) das Recht der Arbeitnehmervertreter im Betrieb auf Schutz gegen Benachteiligungen und geeignete Erleichterungen zur Wahmehmung ihrer Aufgaben, (29) das Recht aller Arbeitnehmer auf Unterrichtung und Anhorung in den Verfahren bei Massenentlassungen, (30) das Recht jedermanns auf Schutz gegen Armut und soziale Ausgrenzung und (31) das Recht jedermanns auf Wohnung. Selbstverstandlich waren zum Zeitpunkt der Annahme der ESC in keinem europaischen Land diese Rechte vollstandig gewahrleistet. Gleiches gilt auch ftir die erganzte, revidierte Charta von 1996. Die Differenz zwischen nationaler Realitat und intemationaler Norm ist jedoch kein Einwand gegen das der Charta zugrundeliegende Konzept, sondem dessen Teil. Denn sie zielt nicht auf den Status quo, sondem auf dessen normgeleitete Veranderung, soil also einen ProzeB einleiten, in dessen Verlauf es zur Annaherung der Realitaten an die Normen sowie deren Konkretisierung durch entsprechende Praxis kommt. Ahnlich wie der Begriff des „Friedens" wird auch der Begriff der „Gerechtigkeit" als ProzeBkategorie gedacht. Wie sonst soil sich Gerechtigkeit entwickeln, wenn nicht durch die Orientierung an einem ausgehandelten Ziel? Obwohl die sozialen Rechte nicht unmittelbar gelten, sich also niemand etwa unter Berufung auf das „Menschrecht auf Arbeit" einen konkreten Arbeitsplatz erstreiten kann, stehen sie nicht bloB auf dem Papier. Die Vertragsparteien haben sich namlich dazu ver-
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pflichtet, die Geltung der Rechte als Ziele anzusehen, die sie mit alien geeigneten Mitteln verfolgen werden und uber ihre Bemiihungen Auskunft zu geben. Dabei erweist sich die ESC als bemerkenswert realitatstiichtig, wenn sie Widerstande, eingebildete und tatsachlich vorhandene Schwierigkeiten der Umsetzung in den Mitgliedstaaten einerseits mit einem Mix aus Verpflichtungen und Selbstverpflichtungen sowie andererseits mit einem individuellen und kommunikationsoffenen tJberwachungssystem vertragsmafiig einkalkuliert. Die ESC tragt so dem Umstand Rechnung, daB die Mitgliedstaaten sehr unterschiedliche Ausgangsbedingungen haben, vermeidet das Oktroyieren von auBen und beachtet das Prinzip der ..ownership''', demzufolge es sich bei der Umsetzung der Normen um einen ProzeB handeln muB, tiber dessen Ausgestaltung die Staaten innenpolitisch befinden und nicht etwa exteme Ratgeber. Die Methode ist komplex: Die ESC legt sieben Rechtsartikel als Kembereich fest: (1) das Recht auf Arbeit, (5) das Recht auf Vereinigungsfreiheit, (6) das Recht auf KoUektiwerhandlungen, (12) das Recht auf soziale Sicherheit, (13) das Recht auf Fiirsorge, (16) das Recht der Familien auf sozialen, gesetzlichen und wirtschaftlichen Schutz und (19) das Recht der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien auf Schutz und Beistand. Sie verlangt aber von den Staaten nicht etwa die Gewahrleistung des gesamten Kembereichs, sondem nur von „mindestens funf der sieben Rechte. Daruber hinaus iibernehmen die Staaten nach eigener Wahl zusatzlich so viele Rechtsnormen, daB die Gesamtzahl der Artikel oder numerierten Absatze, durch die sie gebunden sind, mindestens 10 Artikel oder 45 numerierte Absatze umfaBt. Eine „Notstandsklausel" erlaubt Abweichungen von den Verpflichtungen, sofem diese nicht im Widerspruch zum Volkerrecht stehen und der Generalsekretar des Europarates und durch ihn auch alle anderen Vertragsstaaten uber die Griinde informiert werden. 3.2 Der Verwaltungsdialog als Methode Der zweite Grund von einem „europaischen Sozialmodell" zu sprechen, besteht in dem nicht weniger komplexen Uberwachungssystem, das die europaischen Staaten zum politischen Dialog Uber ihre Sozialpolitik verpflichtet. Das Verfahren ist nicht gerichtsfbrmig und sieht auch keine Sanktionen vor. Vielmehr setzt es auf Kommunikation mit den Mitgliedstaaten, insbesondere auf den Informationsaustausch mit den nationalen Verwaltungen. Im Zentrum stehen Staatenberichte und deren Kommentierung. Nach einem vom Europarat festgelegten Verfahren ubermitteln die Staaten jahrlich dem Generalsekretar des Europarates (mit Kopie an die nationalen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbande) entweder einen Bericht uber die Anwendung der vom Vertragsstaat angenommenen Bestimmungen oder einen Bericht zur Entwicklung in den nicht angenommenen Bestimmungen. Diese Berichte werden an den „Europaischen AusschuB fiir Soziale Rechte" (EASR) weitergeleitet. Er besteht aus Sachverstandigen, die das Ministerkomitee des Europarates aus einer von den Vertragsparteien vorgeschlagenen Liste emennt, sowie zusatzlich einem Vertreter der Intemationalen Arbeitsorganisation (lAO). Der AusschuB priift, ob die nationalen Gesetze und die tatsachliche Praxis in den Staaten den Verpflichtungen der Charta entsprechen und erarbeitet „SchluBfolgerungen"; sie sind offentlich und inzwischen auch iiber die Web-Seite des Europarates (www.coe.int) zuganglich. In ihnen wird festgestellt und begriindet, (a) welche Verpflichtungen der AusschuB als erfiillt betrachtet, (b) welche als nicht erfiillt gelten und (c) in welchen Fragen eine Bewertung nicht erfolgen konnte, weil die zur Beur-
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teilung erforderlichen Informationen fehlen. Im letztgenannten Fall werden die Staaten aufgefordert, diese bis zum folgenden Bericht nachzutragen. Fur die nationalen Verwaltungen bedeutet das haufig, daB sie fur das angesprochene Problem iiberhaupt erst einmal eine Aufmerksamkeit entwickeln und Daten erheben miissen. Politisches Gewicht erhalten die SchluBfolgerungen, in dem sie in den Organen des Europarates erortert werden. Zunachst werden sie iiber den aus Vertretem der Vertragsstaaten gebildeten SozialausschuB dem Ministerkomitee und der Parlamentarischen Versammlung vorgelegt. Diese erarbeitet eine Stellungsnahme. Das Ministerkomitee kann nach Anhorung der Parlamentarischen Versammlung mit Zweitdrittelmehrheit an jede Vertragspartei Empfehlungen richten. Was diplomatisch „Enipfehlung" genannt wird, bezeichnet im Klartext die Aufforderung, Gesetze zu andem oder in der Praxis einzuhalten. Eine solche Aufforderung ergeht jedoch nur, wenn ein Staat dauerhaft keine MaBnahmen gegen die festgestellten Vertragsverletzungen ergreift. Eine umfassende Mikroanalyse des Berichtsverfahrens liegt bislang nicht vor. Eine Auswertung der jiingsten Berichtsrunde (European Committee of Social Rights 2004; Government of the Federal Republic of Germany 2005) kann aber exemplarisch zeigen, wie und auch wie spannungsreich - ein solcher Verwaltungsdialog ablauft, welche Schwachstellen hinsichtlich der Menschenrechte in diesem KommunikationsprozeB auf die Internationale Tagesordnung gelangen und nicht zuletzt auch, wie schwer es selbst Deutschland fallt, eine vergleichsweise sanfte „intemationale Einmischung" zu ertragen und diese konstruktiv zu beantworten. Der EASR hatte 2004 far Deutschland im Kembereich der ESC insgesamt elf Falle von Nicht-Konformitat festgestellt. Beeintrachtigt sah er emeut das Recht des Arbeitnehmers, seinen Lebensunterhalt durch eine frei ubernommene Tdtigkeit zu verdienen (Art. 1/2), weil friihere Bedienstete der DDR wegen ihrer vor der Wiedervereinigung ausgeiibten offentlichen oder politischen Funktionen, unabhangig von der zu bekleidenden Funktion, vom offentlichen Dienst ausgeschlossen werden konnen. Solches diirfe aber nur fiir besonders sensible Bereiche geschehen. Deutschland hatte gegen diese Kritik bereits zuvor argumentiert, daB es sich um Sonderkiindigungstatbestande des Einigungsvertrages handele, die durch Zeitablauf auBer Kraft getreten sind. Eine Anderung der Rechtsgrundlagen sei nicht mehr moglich, weil die DDR als Vertragspartner nicht mehr existiere. Ein Zugestandnis, daB der Einigungsvertrag mangelhaft gewesen sein konnte, weil seine Ubereinstimmung mit der ESC nicht gepriift wurde, wird nicht gemacht. Ein solches Zugestandnis jedoch ware fiir die Fortentwicklung europaischer Sozialpolitik forderlich. Denn auch in anderen Staaten sind Einigungsprozesse moglich, die es notwendig machen, soziale Menschenrechtsverpflichtungen von vomeherein besser zu beachten. Ebenfalls zum wiederholten Male kritisierte der EASR, daB Strafgefangene in privat betriebenen Werkstatten, ohne Einwilligung und unter Bedingungen, die einem freien Arbeitsverhaltnis nicht entsprechen, beschaftigt werden konnen. Dieser Aussage widerspricht die Bundesregierung. Die Arbeitsverhaltnisse seieii nach der Strafv^ollzugsordnung an die Zustimmung der Gefangenen gebunden. Auch sei die Kritik schon deshalb gegenstandslos, weil nur fiir 50% der Strafgefangenen Arbeitsangebote iiberhaupt vorliegen: Der Strafv^ollzug in Deutschland sei demnach nicht durch Pflichtarbeit fiir private Untemehmer gepragt. Pragend sei vielmehr der Umstand, daB fiir viele arbeitswillige Gefangene kein Arbeitsplatz vorhanden ist. Die Kritik an der geringen Vergiitung wird damit zurtickgewiesen, daB Strafgefangene zu den Kosten der Haft und zu den mit der Schaffiing von Arbeitsmoglich-
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keiten innerhalb des StrafVollzugs verbundenen zusatzlichen Aufwendungen angemessen beitragen miiBten. Es bleibt abzuwarten, ob sich der EASR mit dieser Antwort zufriedengibt Oder das Problem in seinen nachsten SchluBfolgerungen emeut thematisiert. Wahrend die Bundesregierung in den beiden dargestellten Fallen die Kritik grundsatzlich zuruckweist, muB sie die Wirksamkeit des ESC in zwei weiteren Fallen anerkennen. Im Fall des Rechts aufForderung von Verfahren fur Kollektiwerhandlungen (Art. 6/2) rtigt der AusschuB - ebenfalls zum wiederholten Male - die Einschrankung der Arbeitnehmerrechte ftir solche Beamte von Bahn und Post, die keine Hoheitsaufgaben wahmehmen. Die Bundesregierung beruft sich in ihrer Entgegnung auf das Grundgesetz, das den Beamtenstatus undifferenziert regelt. Auch argumentiert sie, die flachendeckende Versorgung der Biirger mit derartigen Kommunikationsdienstleistungen stelle eine hoheitliche Aufgabe dar. Femer sei den Beschaftigten bei der Privatisierung ein Wahlrecht eingeraumt worden, ob sie kiinftig weiterhin im Beamtenstatus verbleiben oder in ein vertragliches Arbeitsverhaltnis wechseln wollten. Zugleich informiert die Regierung den EASR aber auch uber eine Tendenz der deutschen Rechtsprechung, sich den Normen der ESC zu offnen. Das Bundesverwaltungsgericht habe namlich festgestellt, daB sich Einschrankungen beamtenrechtlicher Pflichten ergeben, wenn die berufliche Tatigkeit bei einer privatrechtlichen GmbH ausgeiibt werde und daB unter Umstanden die gleichen Koalitionsrechte wie bei anderen Arbeitnehmem gewahrt werden miiBten. Allerdings bestreitet die Bundesregierung die Relevanz, wenn sie zusatzlich feststellt, daB die Zahl der Betroffenen kontinuierlich abnehme und nur noch etwa 200.000 Beamte bei Bahn und Post betreffe. Zu Art. 6/4 moniert der AusschuB, daB weiterhin Streiks verboten sind, die nicht den AbschluB von TarifVertragen zum Ziel haben, z.B. Sympathiestreiks oder politische Streiks. Dagegen setzt die Bundesregierung die Ansicht, die deutschen Zulassigkeitsvoraussetzungen seien mit der ESC vereinbar. Eine Anderung der in Deutschland geltenden Rechtslage konne nicht in Aussicht gestellt werden, weil das dazu erforderliche MindestmaB an gesellschaftlichem Konsens derzeit nicht gegeben sei. Auch die Kritik, es sei fiir Gewerkschaften zu schwierig, zum Streik aufzurufen, sei unberechtigt. Weil ArbeitskampfmaBnahmen in Deutschland nur als letztes Kampfmittel betrachtet werden, herrsche eine Streikkultur, die nur selten zu Arbeitskampfen ftihre. Die geringe Anzahl von Streiktagen dokumentiere den Erfolg eines besonders effizienten Systems des kollektiven Arbeitsrechts. Interessanterweise schlieBt die Bundesregierung jedoch eine Anderung der Rechtsprechung nicht mehr aus, wenn sie das Bundesarbeitsgericht zitiert, das 2002 festgestellt hatte, die generalisierende Aussage, Arbeitskampfe seien stets nur zur Durchsetzung tarifVertraglicher Ziele zulassig, bediirfe im Hinblick auf Teil II, Art. 6/4 ESC einer emeuten Oberpriifung. Europapolitisch brisanter ist das Monitum des EASR, die in mehreren Artikeln der ESC geforderte Gleichbehandlung der auslandischen BUrger/innen aus alien Vertragsstaaten mit den Inlandem zu garantieren. Ein grober Vergleich mit den SchluBfolgerungen des EASR zu den Berichten anderer EU-Staaten (Belgien, Zypem, Frankreich, Danemark, Estland und Griechenland) zeigt allerdings, daB auch diese Staaten nicht immer ihren gesamteuropaischen Verpflichtungen nachkommen. Bei den Verletzungen der ESC handelt es sich daher nicht allein um ein deutsches, sondem ein europaisches Problem, dessen Losung durch Bereitstellung der landerspezifischen Informationen bestenfalls vorbereitet wird. Im deutschen Fall erkennt der AusschuB eine Verletzung des Rechts auf Gleichbehandlung von Staatsangehorigen anderer Vertragsparteien in der sozialen Sicherheit (Art. 12/4)^ weil der Bezug von Kindergeld und der Erwerb von Rentenanspriichen an die Wohnsitzvorausset-
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zung gebunden sind. Die Bundesregierung weist diese Kritik nicht zuriick, sondem informiert den EASR, Deutschland habe zwar mit der Tiirkei, Bulgarien, Kroatien, Mazedonien und Rumanien ein Sozialversicherungsabkommen geschlossen, nicht aber mit den Vertragsstaaten der ESC Albanien, Andorra, Armenien, Aserbaidschan und Moldawien. Mit der Ukraine seien aber im August 2004 und mit der Russischen Federation im Februar 2005 Sachverstandigengesprache aufgenommen worden. Im Fall des Rechts auf Fursorge, der Unterstiitzung und medizinischen Betreuung fur jede notleidende Person (Art. 13/1) und des Rechts auf Vorbeugung, Beseitigung und Linderung von Not (Art. 13/3) kritisiert der EASR, daB die in Deutschland sich rechtmafiig aufhaltenden Staatsangehorigen der anderen Vertragsparteien in bezug auf die Sozialhilfe nicht uneingeschrankt inlandergleich behandelt werden - insbesondere nicht bei den Hilfen zum Aufbau oder zur Sicherung der Lebensgrundlage und zur tJberwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten nach den §§30 und 72 Bundessozialhilfegesetz (BSHG). Die Bundesregierung halt dagegen, das geltende Rechtssystem der Sozialhilfe fur Auslander gewahrleiste jedem in Deutschland sich rechtmaBig aufhaltenden Auslander ein Leben in Wurde und bezeichnet den Vorwurf der Ungleichbehandlung von Auslandem gegenuber Inlandem als ungerechtfertigt, weil die Leistungen nach § 30 BSHG auch fiir deutsche Sozialhilfeempfanger nicht als Rechtsanspruch ausgestaltet sind, sondem nur nach Ermessen gewahrt werden. Gegentiber der Kritik, Deutschland verletze das Gleichheitsgebot im Fall des Rechts der Familie auf sozialen, gesetzlichen und wirtschaftlichen Schutz hinsichtlich zusatzlicher Leistungen zum Kindergeld (Art. 16) verweist die Bundesregierung auf die unterschiedliche Praxis in den Bundeslandem. Diese gewahren nur teilweise eine als Landeserziehungsgeld bezeichnete Sozialleistung. Wahrend Baden-Wiirttemberg entgegen der SchluBfolgerung des EASR aus Art. 16 ESC keinen Anspruch auf Gleichbehandlung anerkenne, praktiziere Bayem diesen seit 1999. Im Fall von Art. 19 (Recht der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien auf Schutz und Beistand), Abs. 4 (Beschaftigung, Organisationsrecht und Unterkunft), Abs. 6 (erleichterte Familienzusammenfiihrung), Abs. 8 (Garantien gegen eine Ausweisung) und Abs. 10 (Gleichbehandlung von Selbstandigen), wird der AusschuB mit umfangreichen Informationen uber die deutsche und EU-weite Rechtslage versorgt, ohne daB direkt auf die Verpflichtungen aus der ESC Bezug genommen wird. 33 Erweiterungen des Uberprufungs- undlmplementierungsverfahrens Hauflg ist eingewandt worden, ein auf Staatenberichten beruhendes und von staatlich kontrollierten Gremien vorgenommenes PrufVerfahren verftihre geradezu zur Schonfarberei, selbst wenn die Sozialpartner informell einbezogen werden. Im Europarat wurde diese Kritik emstgenommen. Vergleichsweise friih hat er begonnen, die Expertise von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zu nutzen. Seit 1952 konnen sie einen beratenden Status beantragen. Alle Organe der Organisation (Ministerrat, Parlamentarische Versammlung und KongreB der Regionen und Gemeinden) haben sich fur die Kooperation mit NGOs geoffnet. Fast 400 NGOs sind beim Europarat akkreditiert (2006), und ihre Rolle im DemokratisierungsprozeB der Mitgliedstaaten wird heute wie selbstverstandlich geschatzt. Sie arbeiten kontinuierlich, zunehmend vemetzt und zu alien Themenbereichen, mit denen der Europarat befaBt ist. So verstehen sich auch die auf sozialpolitische Fragen spezialisierten
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NGOs als treibende Krafte in der Entwicklung der sozialen Menschenrechte. Sie analysieren und kommentieren die diplomatisch gehaltenen Staatenberichte, verbreiten die Kenntnis der Inhalte der ESC und drangen darauf, ihre Durchsetzungschancen zu erhohen. So haben auch NGOs an der Erarbeitung eines 1995 zur Unterzeichnung ausgelegten und 1998 in Kraft getretenen ProtokoUs mitgewirkt, das es NGOs ermoglicht, vor dem „Europaischen AusschuB fiir soziale Rechte" ein Beschwerdeverfahren gegen einen Mitgliedstaat wegen einer Verletzung der aus der Charta resultierenden Verpflichtungen einzuleiten und damit in das Staatenberichtsverfahren direkt einzugreifen. Organisationen, denen ein solches Beschwerderecht zusteht, sind neben dem Europaischen Gewerkschaftsbund, dem Europaischen Arbeitgeber- und Industrieverband und dem Intemationalen Arbeitgeberverband alle NGOs mit Teilnehmerstatus beim Europarat, die in eine vom RegierungsausschuB zu diesem Zweck erstellte Liste aufgenommen sind, femer Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen des betreffenden Staates und - sofem ein Staat dem zugestimmt hat (wie z.B. Finnland) - auch nationale NGOs, die das iiblicherweise im Europarat geltende Kriterium der Intemationalitat nicht erflillen. Beschwerden miissen an das Generalsekretariat gesandt werden, das sie an einen AusschuB unabhangiger Experten weiterleitet. Erklart dieser eine Beschwerde fiir zulassig, wird ein schriftliches Verfahren in Gang gesetzt. Der AusschuB kann auch beschlieBen, eine offentliche Anhorung durchzuflihren. Femer entscheidet er, ob eine Beschwerde begrundet ist. Eine solche Entscheidung wird den betroffenen Parteien und dem Ministerkomitee in Form eines Berichts iibermittelt, der spatestens vier Monate nach seiner Ubermittlung veroffentlicht wird. Das Ministerkomitee faBt einen verfahrensabschlieBenden BeschluB, der gegebenenfalls dem jeweiligen Staat „empfiehlt", bestimmte MaBnahmen zu ergreifen, um die Situation mit der Charta in Einklang zu bringen. Zusatzlich zur Kollektivbeschwerde stehen dem Europarat heute weitere Instrumente zur Verfiigung, um die Implementierung der Sozialnormen zu fordem. Nicht nur der Europaische Menschengerichtshof, auch nationale Gerichte sowie der Europaische Gerichtshof (EuGH) verweisen in ihrer Arbeit auf die sozialen Menschenrechte (Zockler 2001). Abgesehen von diesem, die Ebenen iibergreifenden Rechtssystem setzen alle anderen Instrumente auf die Methode des politischen Dialogs. Alle Organe des Europarates sind daran beteiligt. Die sozialpolitischen Standards sind Gegenstand der Debatten in der Parlamentarischen Versammlung, der Aktivitaten des Menschenrechtskommissariats und der Generaldirektion „Soziale Kohasion". Insbesondere die dort angesiedelte Direktion fiir Sozial- und Gesundheitsangelegenheiten (DASS) ist fur die Entwicklung und Umsetzung der vom Ministerkomitee im Jahr 2000 beschlossenen und im Jahr 2004 revidierten Strategic fur die soziale Kohasion in den Bereichen soziale Absicherung, Zugang zu Sozialrechten, Beschaftigung, Wohnverhaltnisse, Sozialeinrichtungen und Schutz der sozial schwachsten Gruppen (Kinder, altere Menschen, Langzeitarbeitlose) zustandig. Das Sekretariat des Europarates organisiert Seminare, Konferenzen und Weiterbildungsveranstaltungen (insbesondere fiir Juristen in Osteuropa) zu Fragen einer an der ESC ausgerichteten Sozialpolitik und betreibt so capacity-building.
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SchluBlicht Deutschland
Die Bedeutung der ESC und die Wirksamkeit des Uberpriifungsverfahrens wird unter Fachleuten positiv bewert (Samuel 2002). Im Rahmen des Kontrollsystems ergehen Entscheidungen ganz unterschiedlicher Art. Mai wird ein Staat aufgefordert, seine Gesetze zu andem, mal Dienstleistungen etwa im Bereich der Arbeitsvermittlung bereitzustellen oder zu verbessem, mal Informationen einzuholen. Femer tragt das Verfahren durch Prazisierung der Normen dazu bei, deren Justiziabilitat zu erhohen. Eine Weiterentwicklung gelingt auch dadurch, daB das Pr-inzip der Nichtdiskriminierung auf Artikel angewendet wird, in denen dieses Prinzip nicht direkt formuliert wurde. Zu Recht wird darauf hingewiesen, daB die Sozialcharta des Europarates im Vergleich zum EU-Recht eine weichere Form der Rechtssetzung darstellt. Dennoch gibt es keinen Grund, sie darum geringer zu schatzen, erstreckt sie sich doch auf Gesamteuropa und erfullt sie doch mit der Initiierung eines menschenrechtlich fundierten Prozesses der Aushandlung von Minimalstandards schlicht eine andere, namlich rahmengebende Funktion (Becker 2003: 89). Auch wenn die unmittelbaren Wirkungen der ESC schwer nachweisbar sind, weil bei Dialogstrategien selten dingfest gemacht werden kann, wer und was tatsachlich einen Fortschritt ausgelost hat, laBt sich dennoch prognostizieren, von welchen politischen Bedingungen kiinftig die Wirksamkeit dieses auf Kommunikation und nicht auf Erzwingung angelegten Systems abhangen wird. Wesentlich geht es darum, ob einige Staaten ihre Vorbildfunktion weiter ausbauen und es ihnen gelingt, die Zurtickgebliebenen mitzuziehen oder gar zur Ergreifung eigener Initiative zu motivieren. Die ESC hat den Rahmen fur eine solche Strategic gesetzt, indem sie den Mitgliedstaaten erlaubt, die vereinbarten Normen starker zu erfullen als sie dies miissen und sich damit innerhalb der Staatenwelt wie auch in der europaischen Offentlichkeit zu profilieren. Dabei geht das Konzept davon aus, daB einem Staat, der eine aktive und unterstiitzende ESC-Politik betreibt, keine Nachteile, sondem Vorteile entstehen, weil sein EinfluB auf die sozialpolitische Agenda in Europa, aber auch auf globaler Ebene wachst. Die nordischen Staaten haben diesen Mechanismus mehr als andere zu nutzen gewuBt, Deutschland dagegen steht heute diesem europaischen Politikansatz eher im Wege. In den Anfangen war die deutsche Politik gleichwohl ermutigend. Deutschland hat die ESC 1961 unterzeichnet und 1965 ratifiziert. Es hat die sieben Kembereiche bis auf die Absatze 4/4 und 7/1 akzeptiert. Damit steht es zusammen mit den Niederlanden, der Slowakei und Spanien, die sich alien Verpflichtungen ohne Vorbehalt unterworfen haben, und Luxemburg, das ebenfalls zwei Ausnahmen gemacht hat (Abs. 4/4 und Abs. 6/4) an der Spitze der Unterstutzerstaaten der ESC von 1961. In den meisten Kembereichen bestatigt der AusschuB auch die Konformitat Deutschlands mit den geforderten Mindeststandards (Komer 2004). Der positive Eindruck schwindet jedoch dahin, wenn man beachtet, daB Deutschland keinem der Folgeabkommen beigetreten ist. Zwar hat es das ZusatzprotokoU von 1988 (iiber den Schutz der Arbeitnehmer vor Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes, das Recht informiert und beraten zu werden und bei der Verbesserung der Arbeitsbedingungen mitzuwirken, sowie das Recht alterer Arbeitnehmer auf sozialen Schutz) noch unterzeichnet, aber die Ratifizierung ist letztlich ausgeblieben. Nicht einmal unterzeichnet hat Deutschland drei weitere Abkommen: Hierbei handelt es sich erstens um das Turiner Protokoll (1991), bei dem es um die Verbesserung der Kontrollmechanismen geht. Zweitens
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geht es um das Zusatzprotokoll von 1995 uber ein System der Kollektivbeschwerde; damit behindert Deutschland nicht nur dessen Wirksamkeit in Europa, sondem gleichfalls die parallel laufenden Bemiihungen in den VN, auch dem „Intemationalen Pakt iiber wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte" von 1966 durch die Einfiihrung eines Beschwerdeverfahrens ein starkeres Gewicht zu geben (Engels 2000). Nach Chruchill/Khaliq (2004) liegt das Problem in Europa eben nicht so sehr beim Desinteresse einiger mittel- und osteuropaischer Staaten, wie Lettland und Mazedonien. Denn diese konnten durchaus zur Unterzeichnung des ProtokoUs motiviert werden, wenn GroBbritannien und Deutschland dem Protokoll endlich beitreten wurden, wie dies andere westeuropaische Staaten langst getan haben. Drittens schHeBlich weigert sich Deutschland, der revidierten ESC von 1996 beizutreten. Da 41 der 46 Staaten des Europarats die erweiterte Fassung der ESC unterzeichnet und immerhin 20 von ihnen sie auch ratifiziert haben (Stand Oktober 2005), muB Deutschland zusammen mit Kroatien, Lettland, Liechtenstein, Mazedonien und der Schweiz zu den SchluBlichtem des ESC-Prozesses gerechnet werden. Die deutschen Argumente sind wenig uberzeugend. Man will - so heiBt es - einen Beitritt von Prazisierungen abhangig machen. Die Arbeit an Prazisierungen von Standards ist jedoch ein wesentlicher Teil des Verfahrens selbst und gelingt am ehesten durch Mitwirkung. Ein deutsches Engagement in der Sache laBt sich jedoch nicht erkennen. Die Bundesregierung - so heiBt es rechtfertigend - habe schlechte Erfahrungen mit dem AusschuB zur Uberwachung der ESC gemacht, der in der Auslegung zu groBziigig und realitatsfem vorgehe. Man habe sich nun zum Ziel gesetzt, Internationale Verpflichtungen nur noch zu iibemehmen, wenn die Erfullung gewahrleistet werden konne (Hausmann 2002). Mit seiner Blockadehaltung gibt Deutschland zu erkennen, daB es die Methode nicht verstanden hat. Die Bomiertheit wachst. Im Koalitionsvertrag der rot-griinen Bundesregierung von 1998 wurde die ESC immerhin noch erwahnt, im schwarz-roten Koalitionsvertrag von 2005 findet sich dariiber kein Wort mehr. Das „europaische Sozialmodell" heiBt es darin, sei Bestandteil der Lissabon-Strategie der EU und miisse dahingehend weiterentwickelt werden, „dass es gelingt, die notwendige Flexibilitat mit sozialem Schutz und sozialer Sicherheit zu verbinden" (CDU/CSU und SPD 2005). ,J^lexicunty" - so die neue Sprechblase aus der EU-Debatte - mag vielleicht geeignet sein, nationale Arbeitsmarktpolitiken der EU-Mitgliedslander aufeinander abzustimmen. ,J^lexicurity" ist aber definitiv nicht geeignet, eine solche Politik menschenrechtlich zu fundieren. Denn das Versprechen, die Schwachen nach wirtschaftspolitischem Ermessen „flexibel" zu schiitzen, ist nur ein patemalistischer Abglanz des Rechts der Schwachen auf Schutz. Viel ware gewonnen, wenn die sozialpolitische Debatte beachten wiirde: ,J^lexicurity" kann Menschenrechtspolitik nicht ersetzen, ohne den europaischen Frieden und damit eng verbunden den Frieden in der Welt zu gefahrden. Literatur Bielefeldt, Heiner (2005): Menschenrechte dtirfen nicht Privileg der Besserverdienenden sein, in: Frankfurter Rundschau (Dokumentation) vom 10.12.2005. Becker, Ulrich (2003): The importance of the European social model in the debate on globalisation, in: Council of Europe (Hg.): The state and new social responsibilities in a globalising world, Strasbourg, S. 87-94. Brummer, Klaus (2005): Konfliktbearbeitung intemationaler Organisationen, Wiesbaden. 370
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Reimund Seidelmann
Soziale Gerechtigkeit im internationalen System - eine Problemskizze
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Der Ausgangspunkt
Der modeme mitteleuropaische Nationalstaat hat im Laufe seiner Entwicklung drei zentrale historische Leistungen fiir die von ihm organisierten Gesellschaften erbracht: Er hat erstens einen Normenkatalog entwickelt, der nicht nur in sich weitgehend stimmig, sondem auch durch eine Reihe von Mechanismen, Institutionen und Politikverstandnissen fur die praktische Politik handlungsanweisend ist. Dies gilt gerade auch fur den Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit - unabhangig davon, wie diese im einzelnen defmiert und implementiert wird. Er hat zweitens einen strategischen Ansatz entwickelt, innere Konflikte zu losen, zu begrenzen und zu verhindem und auf diese Weise einen hohen Grad an innerem Frieden herzustellen. Auch hierftir ist das soziale Verstandnis der modemen europaischen Zivilgesellschaft ein Beispiel: Mit seiner sozialen Ausgleichsleistung setzt es nicht nur die normativen Vorstellungen von Gleichheit und Gerechtigkeit in einem politisch besonders sensiblen Bereich durch, sondem schafft auch mit dem jeweiligen Katalog aus MaBnahmen, Institutionen und Verhaltensregeln jenen sozialen Frieden, der eine notwendige Voraussetzung fiir den Zusammenhalt einer Gesellschaft durch die Harmonisierung ihrer Interessenkonflikte darstellt. Er hat drittens - bezogen auf die europaische Region - nicht nur ein hohes MaB an innerem Frieden als eine Voraussetzung far Wohlstandserhalt und -mehrung geschaffen, sondem auch mit der EWG/EG/EU eine regionale Gemeinschaft aufgebaut, die sich durch einen weit entwickelten normativen Konsens, eine relativ hohe Wachstums- und Verteilungsgerechtigkeit sowie durch ein ebenso weit entwickeltes AusmaB an „Frieden-inSicherheit" auszeichnet. Es sind aber nicht nur diese Leistungen, sondem es ist auch die prinzipielle politische wie gesellschaftliche Lemfahigkeit, die diesen europaischen Nationalstaat auszeichnet. Dies gilt sowohl fur die innere Entwicklung als auch fiir das AuBenverhalten und die Modemisiemng der inneren wie auch der regionalen Ordnung. Selbst wenn diese Lemprozesse langsam vonstatten gehen und zum Teil von erheblichen politischen Rtickschlagen und gesellschaftlichen Kosten begleitet waren und sind, macht ein Vergleich dreier Stationen in der Entwicklung des modemen Staates in Europa die Qualitat und das AusmaB dieses Prozesses deutlich: erstens die postrevolutionare Situation im 19. Jahrhundert mit der Fiille ihrer sozialen und politischen Defizite, die spater zu Recht von der Arbeiterbewegung zum zentralen Thema erklart wurde; zweitens die nationalstaatliche Ordnung in der ersten Halfte des 20. Jahrhunderts, in der die Nationalstaaten weder Demokratie und allgemeinen Wohlstand noch den zwischengesellschaftlichen Frieden erhalten konnten; drittens das heutige EU-Europa, wo die drei zentralen Leistungen des Staates - d.h. demokratische
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Ausgestaltung, Wohlstand und Frieden - nicht nur allein im klassischen nationalstaatlichen Sinn, sondem in der Kombination aus einer national und supranational organisierten Ordnung verwirklicht werden, und zwar in einem historisch nie dagewesenen MaBe. Diese Erfahrung mit der grundsatzlichen Lem- bzw. Modemisierungsfahigkeit von Staaten und Gesellschaften ist in doppelter Hinsicht von Bedeutung. Erstens demonstriert sie, daB der aufklarerische Glaube an kollektive Vemunft im Grundsatz richtig ist. Zweitens - und dies darf nicht mit einer fmalistischen Geschichtsauffassung verwechselt werden verdeutlicht diese Entwicklung, daB Modemisierung von Strukturen, Institutionen und Mechanismen einerseits und Fortschritt andererseits keinen Gegensatz darstellen, sondem sich in diesem Fall wechselseitig bedingen. Die Herausbildung des europaischen Wohlfahrtsstaates wie auch der europaische Integrations- und VerfriedlichungsprozeB machen dies deutlich. So sind also die Vorstellungen Rousseaus zum Staatsvertrag, die Hoffnungen der Arbeiterbewegung auf eine sozial gerechte Produktions- und Verteilungsweise und das Pladoyer Kants fiir einen ewigen Frieden nicht nur historisches Gut, sondem Bezugspunkt flir die Aussage, daB der modeme Staat nicht nur im Gmndsatz verbessemngsfahig und -wiirdig ist, sondem daB eine fortschrittliche Umgestaltung gerade auch von staatlichen wie gesellschaftlichen Stmkturen gmndsatzlich machbar ist - wenn der dazu notwendige politische Wille entsteht bzw. vorhanden ist. Projiziert man nun die allgemeine Leistungsfahigkeit des modemen europaischen Nationalstaates und seine gmndsatzliche Lem- und Fortschrittsfahigkeit in das intemationale System, so muB man zunachst von einem gmndsatzlichen Ordnungsdefizit der intemationalen Staatengemeinschaft ausgehen. Es wird durch das spezifische Defizit an Wohlstandschancen und Verteilungsgerechtigkeit wie auch durch den Mangel an allgemein akzeptierter, normativ abgesicherter, demokratisch legitimierter und vor allem wirksamer Global Governance noch verscharft. Diese drei Defizite werden durch den Vergleich der Qualitat der innerstaatlichen mit der intemationalen Ordnung besonders deutlich. Die Kombination einer wirksamen staatlichen Ordnungsgewalt (charakterisiert durch das staatliche Gewaltmonopol) mit einer ebenso wirksamen demokratischen Kontroll- wie Gestaltungsgewalt stellt - ganz im Sinne Rousseaus - die notwendige Voraussetzung politischen, wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts der im modemen Staat organisierten Gesellschaft dar. Das Fehlen eines wirksamen globalen Staatsvertrages, der diese nationale Ordnung in eine entsprechende intemationale Ordnung einbringt bzw. die Tatsache, daB die intemationale Ordnung in erster Linie auf dem Gmndsatz nationalstaatlicher Souveranitat bemht, ist die zentrale Ursache fur die erheblichen Leistungsdefizite intemationaler Institutionen, Mechanismen und Verhaltensregeln, sowohl bei der wirksamen Umsetzung national akzeptierter und legitimierter Normenkataloge als auch bei der erfolgreichen Losung globaler Konflikte. Wie bereits erwahnt, ist dies deshalb umso erstaunlicher, als der modeme europaische Nationalstaat gelemt hat, unter Bezug auf das foderalistische Konzept Souveranitatskompetenzen nach „unten" und unter Bezug auf das Integrationskonzept ebenso Souveranitat nach „oben" abzugeben. Ahnlich wie das Demokratiedefizit in der allgemeinen Anlage und Durchftihmng von AuBenpolitik (das euphemistisch oft als „Primat der Exekutive" bezeichnet wird) kann dies historisch durch eine Kosten-Nutzen-Rationalitat erklart werden: Historisch bedeutete Souveranitat nicht nur den Ausbau des Governance-Mono^oh der nationalen Regiemng, sondem auch das Verbot der Einmischung von auBen in die „inneren Angelegenheiten". Die damit geschaffenen Handlungsspielraume erschienen histo-
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risch notwendig, um den neuen Staat zu etablieren und entsprechend zu modemisieren. Stellte diese „Nationalisierung" - wie auch Territorialisierung - des modemen Staates bereits einen Fehler bei der Entstehung dar, so wurde dies angesichts der zunehmenden Interdependenz (heute auch geme mit dem Schlagwort „Globalisierung" bezeichnet) immer weniger sinnvoll und schlieBlich kontraproduktiv. Die im klassischen Souveranitatsbegriff implizit angelegte Kosten-Nutzen-Rationalitat definiert souveranes AuBenverhalten dabei als Interessenmaximierung im Rahmen des Nullsummenspiels - d.h. eigener Nutzen wird auf Kosten des Nutzens des anderen erreicht. Dies erlaubt - und bewirkt letztlich - einen unverhiillten Egoismus des Nationalstaates, der ausschlieClich seine eigenen Interessen verfolgt und dies auch auf Kosten anderer Nationalstaaten, Regionen und der intemationalen Gemeinschaft tut. Eine zweite Besonderheit dieses Verstandnisses von Souveranitat ist, daB diese Interessenmaximierung auch mit militarischer, okonomischer und kultureller Gewalt durchgesetzt werden kann. Ob dies als „Sicherheitsdilemma", „organisierte Friedlosigkeit" oder - ganz im Sinne von Hobbes - als „Wolfsordnung" bezeichnet werden kann, ist dabei nachgeordnet. Die Problematik kann in dem Satz zusammengefaBt werden, daB der modeme Staat das, was er im inneren an individueller oder kollektiver Gewalt sanktioniert, nach auBen uneingeschrankt praktiziert. So zeigt der souverane Nationalstaat gestem wie heute ein dreifach widerspriichliches Ordnungsverhalten. Erstens hat er einen demokratischen Normenkatalog mit wirksamen Umsetzungsmechanismen entwickelt, den er aber trotz der universalistischen Natur dieser Normen nur innerhalb seiner territorialen Grenzen ftir giiltig erklart. Zweitens besteht er nach innen auf einem hohen Ordnungsgrad, den er aber unter Berufung auf das Souveranitatsprinzip ftir sein AuBenverhalten im intemationalen System bzw. fiir die Einfiihrung und Entwicklung einer funktional aquivalenten intemationalen Ordnung nicht gelten laBt und in der Regel alles tut, um Ansatze fiir die qualitative Verbessemng der intemationalen Ordnung zu begrenzen oder zu verhindem. Und drittens verfolgt der souverane Nationalstaat zwar fiir die Europaische Union eine Entwicklung zur Multi-level Governance, weigert sich aber, die globale Ebene in dieses Konzept mit einzubeziehen. In anderen Worten: Er ist auf der einen Seite im Rahmen der europaischen Integration zum Souveranitatstransfer bereit, lehnt aber auf der anderen Seite - unter Bemfung auf eben diesen von ihm selbst als anachronistisch definierten Souveranitatsgmndsatz - den Transfer von Kompetenzen und Ressourcen an intemationale Organisationen ab. 2
Wohlstandsegoismus im intemationalen System
Defmiert man Wohlstand und Sicherheit als die von der Gesellschaft gestellten zentralen Ziele oder Aufgaben des Staates - in seiner Form als Nationalstaat, als supra- bzw. superstaatliche Organisation oder als potentieller Weltstaat - und konzentriert man sich im Sinne der Fragestellung auf das erstere, so muB man vorab den Vorbehalt machen, daB beide Ziele einander durchaus bedingen. Voraussetzungen fiir Wohlstand und seine Mehmng sind ein MindestmaB an Frieden in Sicherheit und ein akzeptabler Ressourcenaufwand zur Sichemng dieses Friedens bzw. der Abwesenheit von Krieg, Kriegsdrohung und anderer Gewalt. Dieser Zusammenhang ist in der Formel „Frieden ist nicht alles, aber alles ist nichts ohne Frieden" auf den Punkt gebracht. Die Erfahmngen in Europa mit zwei Welt-
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kriegen, dem Ost-West-Konflikt und seinen Droh- und Riistungswettlaufen haben dies verdeutlicht. Fokussiert man nun die Argumentation unter Beriicksichtigung dieses Vorbehalts auf die Frage nach der Erarbeitung und der Verteilung globalen Wohlstandes, so bedeutet dies zunachst, den oben dargestellten Egoismus des Nationalstaates bzw. seine NullsummenOrientierung in der Hoffnung auf Lem- bzw. Fortschrittsprozesse durch die Suche nach einem Gemeininteresse an Wohlstandserhalt, -mehrung und fairer Verteilung (einschliefilich der dazu notigen Voraussetzungen) zu ersetzen. Bevor man aber hier mit der Entwicklung eines Idealmodells beginnt, muB auf das Realmodell eingegangen werden, bei dem Wohlstand nicht gemeinwohlorientiert, sondem nationalstaatlich organisiert wird. Bevor man hierauf wiederum im einzelnen eingehen kann, muB ein zweiter Vorbehalt gemacht werden: Materieller Wohlstand iibersetzt sich auch in okonomische Macht. Okonomische, militarische und politische Macht in bezug auf das globale Agenda-Setting sind zwar im intemationalen System nicht gleich verteilt, weisen aber Konzentrationsprozesse auf, bei denen die sogenannten westlichen Lander, d.h. vor allem die USA und die EU, die wesentlichen okonomischen und militarischen Machtmittel mono- bzw. duopolisiert haben. Damit besitzen sie sowohl in absoluter wie relativer Hinsicht eine so dominante Herrschaftsposition, daB auf absehbare Zeit jeder Versuch anderer Nationalstaaten, diese okonomischmilitarisch-politische Dominanz auch nur in einer Dimension auBer Kraft zu setzen bzw. okonomische Unterlegenheit durch militarische Starke zu kompensieren, scheitem muB. Angesichts der okonomischen Interdependenzen kann zwar EinfluB auf das Duopol genommen werden bzw. lassen sich dessen innere Widerspruche und Konflikte entsprechend nutzen. Wenn aber die USA und/oder die EU das jeweilige Problem bzw. den Herrschaftsmodus militarisch definieren oder redefinieren, haben die anderen Nationalstaaten so gut wie keine Moglichkeit, sich diesem zu entziehen oder gar Gegenmachtstrategien zu entwickeln. Fragt man nach den Quellen von Wohlstand im intemationalen System, so konnen drei Grundtypen unterschieden werden, die sowohl allein als auch in Verbindung miteinander auftreten konnen: (1) Wohlstand durch direkte oder indirekte Aneignung fremden Reichtums, (2) Wohlstand durch eigene Arbeit, (3) Wohlstand durch Nutzung von gegebenen Ressourcen und (4) Wohlstand aufgrund von benevolenter Solidarhilfe. Die erste Form, wie man sie insbesondere aus dem Kolonialismus kennt, hat historisch zu einem Transfer von Reichtum in die militarisch wie okonomisch entwickelten westlichen Lander gefiihrt. Dabei werden allerdings sowohl dessen absolute wie relative GroBenordnung und auch die qualitative wie quantitative Bedeutung fur den okonomischen WachstumsprozeB unterschiedlich bewertet. Dies gilt auch fur die heutige „Transfer"-Debatte, die von unfairen Terms of Trade iiber manipulierte Wechselkurse bis hin zur selbstverschuldeten Kapitalflucht reicht. Aber unabhangig davon, wie man dies bewertet, ist das generelle historische wie aktuelle Muster eindeutig: Es handelt sich immer um einen Nettotransfer vor allem in die USA bzw. die Lander der EU. Ob und wie sehr die lokalen Eliten
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in den anderen Landem dabei mitgewirkt haben wie auch die Tatsache, dafi ahnlich erzwungene Transfers sich auch innerhalb der Gesellschaflen abspielten, ist zwar ftir die Schuldfrage und die Analyse der Zusammenhange, nicht aber ftir die Argumentation insgesamt relevant. Die zweite Form, die vor allem die Grundlage der soziookonomischen Entwicklung der westlichen Lander darstellt und auch heute noch als handlungsanleitendes Modell gilt, beruht auf dem durch die Arbeit von Generationen geschaffenen Wohlstand, der aufgrund soziookonomischer Rationalitat, politischer Eingriffe oder kollektiven Selbstverstandnisses mehr oder weniger sozial gerecht zwischen alien gesellschaftlichen Gruppen bzw. Staaten der Region (wie im Falle der EU) verteilt wird. DaB aufgrund unterschiedlicher Arbeitsleistung und einer unterschiedlichen Investitions- bzw. Konsumptionsrate Wohlstandsgefalle auftreten, liegt nahe. Doch im Unterschied zum ersten Typ, bei dem Wohlstandsgefalle mit Gewalt oder Zwang entstehen, handelt es sich hier um ein Muster, das nach dem allgemeinen Normenkatalog legitimierbar ist und das ein hohes Mafi an Selbstverantwortung bzw. kollektiver Selbstverwirklichung beinhaltet. Die dritte Form, die heute insbesondere in rohstoffreichen Landem zu finden ist, geht weniger auf Arbeit als vielmehr auf geographischen Zufall zuriick. DaB Rohstoffe - und als Folge deren Exportmoglichkeit - in dem einen Land vorhanden, in dem anderen Land dagegen nicht vorhanden sind, ist nicht Ergebnis einer politischen bzw. gesellschaftlichen Leistung, sondem natiirliche Gegebenheit. DaB Rohstoffreichtum auch der Rohstoffextraktion bedarf, um Wohlstand zu erzeugen, versteht sich von selbst und ftihrt gewissermaBen nachtraglich den Faktor Arbeit ein. Trotzdem handelt es sich dabei um einen Reichtum, der sehr viel weniger „erarbeitet" als vielmehr einfach vorhanden ist. Seine Verteilung ist zufallig und somit von vomherein ungerecht. Die vierte Form, wie sie heute vor allem in der privaten und offentlichen Entwicklungshilfe zu fmden ist, geht auf normative bzw. strategische Uberlegungen zuriick. Ahnlich wie bei innerstaatlicher oder innergesellschaftlicher Solidaritat bzw. Misericordia, wird Reichtum - allerdings in sehr begrenzter Form - „verschenkt". Die Frage, ob hier objektiv geholfen wird oder eher das eigene Gewissen beruhigt werden soil, soil an dieser Stelle offen gelassen werden. Dies gilt auch fiir die politische Doktrin, wonach derartige Entwicklungshilfe Friedenspolitik darstelle, indem sie der praventiven Stabilisierung der Verhaltnisse bzw. einer hoheren Akzeptanz des Wohlstandsgefalles diene und damit wirksame Hilfe zur Selbsthilfe geleistet werden konne. Unabhangig davon, welchen Standpunkt man hier einnimmt, gelten ftir diesen Typ zwei wesentliche Charakteristika: Erstens handelt es sich um eine prinzipielle Uberschreitung des klassischen nationalstaatlichen Egoismus und zweitens werden davon die allgemeinen Wohlstandsstrukturen und -verteilungsmuster nicht wesentlich verandert. Nimmt man nun die These vom prinzipiellen nationalen Wohlstandsegoismus im intemationalen System wieder auf und bezieht sie auf diese differenzierte Betrachtung der Genese des globalen Wohlstandsgefalles, so konnen vier Beobachtungen gemacht werden: (1) Direkt oder indirekt erzwungene Wohlstandstransfers wie auch benevolente Solidartransfers komplementieren nationale Wohlstandsstrategien - sie sind aber absolut wie relativ nachrangig. Der Hinweis auf Kolonialismus, Terms of Trade und eine ungerechte Weltwirtschaftsordnung ist mehr ein Ablenkungsmanover als eine tatsachliche Strategic zur Verringerung von Wohlstandsgefallen.
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(2) Die historische Erfahrung mit rohstoffreichen Landem zeigt, daB deren „naturlicher" oder besser „zufalliger" Reichtum nur selten und lediglich selektiv bzw. supplementar eine langfristig abgesicherte Wohlstandsmehrung zur Folge hat - wenn uberhaupt. In der Kegel geschieht dies dann obendrein durch und durch egoistisch, d.h. auch auf Kosten der armeren Lander. (3) Die bislang erfolgreichste, nachhaltigste und nach dem demokratischen Normenkatalog am ehesten zu legitimierende Wohlstandsstrategie beruht auf einem aus eigener Arbeit entstehenden und unter friedlichen Voraussetzungen geschaffenen Wohlstand. (4) In zunehmendem Mafie sind nationale Wohlstandsstrategien intemationalisiert worden. D.h. nationaler Wohlstand wird interaktiv bzw. durch okonomische Kooperation mit anderen Nationalstaaten erreicht - Kooperation, die entweder auf dem Prinzip des fairen oder des ungleichen Tausches beruht. Auch hier dominieren jedoch Austauschbeziehungen zwischen den westlichen Landem bzw. zu und von westlichen Landem die globale Entwicklung. 3
Auf dem Weg zu einem globalen Wohlfahrtsverstandnis
Geht man nun zu einer Bewertung dieser Beobachtungen uber, fuhren auch vollig unterschiedliche Ansatze zum gleichen Ergebnis: (1) Aus normativer Sicht ist die ungleiche Verteilung bzw. das gravierende Wohlstandsgefalle im intemationalen System, ebenso wie die extrem unterschiedliche Verteilung der Chancen, Wohlstand zu mehren bzw. angemessen an der Wohlstandsmehmng teilzuhaben, nicht akzeptabel. Da das klassische Solidaritatsgebot nicht territorial defmiert werden kann, sondem wie der gesamte demokratische Normenkatalog universal bzw. global gilt, mu6 nach dieser Logik das Konzept des modemen Wohlfahrtsstaates nicht nur intranational bzw. innerhalb der EU definiert werden, sondem erfordert auch eine Anwendung auf das intemationale System. Dies bedeutet sowohl die Schaffung einer entsprechenden Ordnungsstmktur (mit den dazu notigen Mechanismen, Institutionen und politischen Identitaten bzw. einer globalen politischen Solidarkultur) als auch die Entwicklung einer nachhaltig angelegten Strategic mit entsprechend wirksamen Instmmenten, um diesen Anspmch letztlich auch in die Tat umzusetzen. (2) Aus okonomisch-sachrationaler Sicht stellt der Wohlfahrtsegoismus der Nationalstaaten bzw. das ihm zugmndeliegende Nullsummenprinzip eine suboptimale Strategic der Wohlfahrtssteigemng im globalen Wirtschaftssystem dar. Zweifellos hat diese Strategic zu erheblichem Wohlstand einzelner Staaten bzw. Staatengmppen gefiihrt, ein Wohlstand, der sowohl ein hohes MaB an Wohlfahrt nach innen als auch an supplementarer Hilfe nach auBen, d.h. fur armere Staaten erlaubte. Kumuliert man jedoch alle nationalen Reichtumer bzw. betrachtet man das intemationale System als Ganzes, so wiirde ein Wechsel im Verhaltensmuster in Richtung auf eine globale Wohlfahrts- und Wachstumsgemeinschaft - wie im regionalen Fall der EU bereits erfahren - sowohl zu einem Mehr an nationalem Wohlstand als auch zu einer Verringemng des Wohlstandsgefalles flihren. Ob dies im Sinne des komparativen Kostenvorteils, des Wachstumsgemeinschaftsmodells oder anderer Konzepte erfolgt, ist demgegeniiber nachgeordnet. So ist die gegenwartige Wohlstandsverteilung nicht nur aus normativen Griinden, sondem auch in bezug auf mangelnde okono-
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mische Rationalitat zu kxitisieren. Die Einflihrung bzw. konsequente Durchsetzung okonomischer Rationalitat wiirde auf ein globales Wirtschaftssystem hinauslaufen, in dem Nationalstaaten, supranationalisierte Regionen und ein System intemationaler Akteure arbeitsteilig miteinander kooperieren, um gemeinschaftliches und nachhaltiges Wachstum zu sichem. Ein System, in dem ggf. auch eine kompensatorisch orientierte Verteilungsstrategie eingefuhrt und die strukturelle Chancengerechtigkeit zur Teilhabe an der allgemeinen Wachstumsdynamik verbessert wiirde, situativ und strukturell. (3) Neben der okonomischen gibt es aber auch eine allgemeine politische Rationalitat, die sowohl in Richtung auf eine Gemeininteressenorientierung weist als auch auf die Schaffung wirksamer und zugleich demokratisch legitimierter Global Governance. Auf die durch eine bessere globale Steuerung von militarischen Konflikten und Drohwettlaufen eingesparten Ressourcen ist bereits hingewiesen worden. So simplifiziert die populistische Devise „Butter statt Kanonen" auch ist, so ist sie als grundsatzliche Forderung durchaus berechtigt. Sie laBt sich aber nur dann einlosen, wenn ein HochstmaB an „Frieden-in-Sicherheit" mit einem moglichst geringen MaB an militarischen Risiken und wirtschaftlichen Kosten bzw. Human Capital hergestellt wird. Dies erfordert - ganz im Sinne des Staatsvertrages und im Gegensatz zum Konfoderationsmodell, das dem Kantschen ewigen Frieden zugrunde liegt - eben jene wirksame, d.h. politisch willensstarke und militarisch durchsetzungsfahige Globalinstanz, die ggf auch den malevolenten Nationalstaat zu friedlichem Verhalten zwingen kann. Diese politische Rationalitat - d.h. wirksames Management, Losung und Verhinderung von militarischen Konflikten - kann bzw. muB aber auch auf andere Handlungs- bzw. Problemdimensionen ausgeweitet werden. Zu den anderen Konfliktfeldem, wo das Modell der aus souveranen Nationalstaaten bestehenden intemationalen Ordnung versagt hat bzw. das Fehlen von Global Governance deutlich geworden ist, gehoren z.B. die Umweltkonflikte. Nun kann dem entgegengehalten werden, daB es bereits Bemiihungen zum Abbau des Wohlstandsgefalles, zum Uberwinden des Nord-Siid-Konfliktes und zur Verbesserung von Global Governance gibt und daB Strukturreformen bzw. ein „globaler Staatsvertrag" mit der Einrichtung einer Art von Weltregierung politisch vielleicht wunschbar, aber aufgrund des Souveranitatsvorbehalts des klassischen Nationalstaates nicht machbar sind. Zu diesen Auffassungen, die sich letztlich an einem pragmatischen Reformbegriff des kleinsten Nenners orientieren, steht die hier vorgetragene Forderung nach einer ggf. gradualistisch ansetzenden, aber auf Strukturveranderungen abzielenden Politik im Gegensatz. Um diesen Gegensatz scharfer herauszuarbeiten, soil zunachst auf die laufenden Bemiihungen zur Problemlosung eingegangen werden: Der Hinweis auf die gegenwartige Entwicklungshilfe, z.B. des Westens oder der ressourcenreichen Landem, ist zwar im Prinzip richtig, setzt aber die oben entwickelten Forderungen nicht angemessen bzw. nicht konsequent um. Die klassische Entwicklungshilfe weist trotz Meinung ihrer Befiirworter mehrere zentrale Defizite beim Abbau des Wohlstandsgefalles auf: Sie ist - trotz aller Bemiihungen - in ihrer absoluten wie relativen GroBenordnung zu gering. Dariiber hinaus ist sie in der Regel weder okonomisch noch politisch wirksam, verhindert haufig die notigen Anstrengungen des Empfangerlandes und fiihrt letztlich nicht zu der notigen Strukturreform des intemationalen Wirtschafts-, Finanzund Wahrungssystems. So gut gemeint die traditionelle offentliche und insbesondere nongovemmentale Hilfe auch ist, sie hat gerade im Vergleich zu den Landem mit erheblichen 379
Entwicklungserfolgen, die keine oder nur geringfiigige Hilfe erhalten haben, nur wenig nachhaltige Dynamik ausgelost. Die inzwischen jahrzehntelangen Bemiihungen zu einer Losung des „Nord-SudKonfliktes" miissen ahnlich beurteilt werden. Sie haben zwar eine Ftille von Vorschlagen vorgebracht, von denen aber praktisch keine politisch oder okonomisch erfolgreich verwirklicht worden sind. Sie sind in der Regel daran gescheitert, dafi sie die politische Gesamtproblematik in ihren Losungsvorschlagen ausgeklammert haben bzw. aus akzeptanztaktischen Grtinden ausklammem muBten. Kann man der Entwicklungshilfe noch zugute halten, daB sie gelegentlich und mehr oder weniger erfolgreich eine weitere Verschlechterung verhindert hat, so sind die Bemiihungen um die Losung des Nord-Stid-Konfliktes doppelt erfolglos: erstens in den konkreten Bemiihungen um einen KompromiB und zweitens angesichts der Tatsache, daB auf der einen Seite Verschuldung, steigende Rohstoffpreise und Globalisierung und auf der anderen Seite Unfahigkeit, Unwillen oder egoistische Bereicherung der jeweiligen gesellschaftlichen EHten die politisch-wirtschaftliche Situation der meisten armen Lander im Vergleich zu friiher wesentlich verschlechtert haben. Die ebenfalls inzwischen jahrzehntelangen Bemiihungen um bessere Global Governance - sei es nun auf pragmatischem Wege, sei es durch eine weitere Verrechtlichung intemationaler Beziehungen oder sei es durch eine Reform der Vereinten Nationen - haben zwar eine Reihe kleinerer Fortschritte, aber nicht den notwendigen Durchbruch gebracht. Die geringe Rolle, die die Vereinten Nationen bei der „Bedrohung des Weltfriedens", flir deren Losung sie eigentlich zustandig sind, spielen, wurde bei der Losung des Ost-WestKonfliktes wie auch bei den groBeren Regionalkonflikten (wie z.B. Indien-Pakistan, IrakIran und Nordkorea) deutlich. AUe Bemuhungen um eine wirksame Durchsetzung intemationalen Rechts stehen noch in den Anfangen. Und alle Versuche, die Vereinten Nationen bzw. die funktional aquivalenten intemationalen Organisationen mit wirksamen Instrumenten auszustatten bzw. die Entscheidungsprozesse effizienter, transparenter und demokratischer zu gestalten, sind bislang immer bereits in den Anfangen stecken geblieben. Nachdem nun im einzelnen die Unzulanglichkeit der bisherigen Bemuhungen um eine Verbesserung von Wohlstand herausgearbeitet wurde, soil in einem weiteren Schritt nun auf die „Nicht-Machbarkeitsthese" eingegangen werden. Die Argumentation, der Egoismus des Nationalstaates sei gewissermaBen naturgegeben und jede Veranderung in Richtung auf einen globalen Staatsvertrag, der die Souveranitat des Nationalstaates begrenzt, sei nicht machbar, weil sie von eben diesem Nationalstaat akzeptiert und umgesetzt werden miiBte, kann sowohl ideal- wie realtypisch widerlegt werden: Zunachst kann in diesem Zusammenhang darauf verwiesen werden, daB die gegenwartige intemationale Ordnung, die primar auf der benevolenten Kooperation souveraner Nationalstaaten beruht, unter bestimmten politischen Interessen- und Willenskonstellationen entstanden sind. Die intemationale Ordnung und ihre Organisationen sind historisch bedingt. Wenn man dieser Sichtweise zustimmt, bedeutet dies, daB bei einer veranderten Konstellation prinzipiell auch Anderungen moglich sein miissen. DaB strukturelle Modemisierung, die die Souveranitat wie auch das Machtmonopol des Nationalstaates aufhebt bzw. ganz oder teilweise an eine supranational Organisation iibertragt, moglich ist, hat der europaische IntegrationsprozeB gezeigt. Damit aber stellt sich die Frage der Machbarkeit ftir eine Reform des intemationalen Systems vollkommen anders: Es geht nicht mehr um gmndsatzliche Machbarkeit, sondem vielmehr um die Frage, wie der notige politische Wille entsteht, das Wiinschbare in das Machbare umzusetzen. Folgt man dem oben ausgeflihr-
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ten, so geht es dann bei der SchaffUng einer intemationalen Wohlfahrtsordnung darum, die normativen Vorgaben mit der okonomischen und politischen Rationalitat so miteinander zu verbinden, daB durch eine Strukturreform trotz all ihrer Kosten ein Nettogewinn sowohl ftir die intemationale Gemeinschaft als auch ihre nationalstaatlichen Akteure entsteht. Eine solche Strategie kann insbesondere vier Elemente miteinander verbinden, um den notigen politischen Willen der Beteiligten zu schaffen und zu erhalten: (1) Sie kann eine offentlichkeitspolitische Dimension entwickeln, die sich sowohl der globalisierten Meinungsbildung bedient als auch Moglichkeiten nutzt, die non- bzw. vorgovemementale Politik bieten und auf diese Weise die notige Akzeptanz bzw. politische Dynamik herstellt. (2) Sie kann die Reform der intemationalen Organisationen mit einem zweifachen Anreiz fur den Nationalstaat verbinden: Zum einen steigen die Friedens- und Wohlfahrtsleistungen von Global Governance, so daC der Nationalstaat dementsprechend entlastet bzw. unterstiitzt wird, zum anderen werden - ganz nach dem Staatsvertragskonzept - auch die Partizipationsmoglichkeiten verbessert und abgesichert. (3) Sie kann sich auf die okonomischen wie politischen Vorteile eines globalen Wohlfahrtsprinzips beziehen, das sowohl die allgemeinen Konfliktkosten verringert als auch im Sinne einer Zugewinngemeinschaft langfristige okonomische Wachstumsimpulse auslost, von denen letztlich alle profitieren und die weniger auf Umverteilung als vielmehr auf eine verstarkte Unterstiitzung der benachteiligten Lander und Regionen abhebt. (4) Sie kann schlieBlich die oben diskutierten gegenwartigen Bemiihungen um mehr Wohlfahrt aufnehmen, in ein Gesamtkonzept einbringen und damit den Einstieg in eine Strukturreform vereinfachen. Dabei diirfen die Schwierigkeiten, Kosten und Risiken einer solchen Strukturreform allerdings nicht ubersehen werden. Neben dem allgemeinen Problem, wie der notige politische Konsens sowohl innerhalb als auch zwischen den nationalstaatlichen Akteuren hergestellt werden kann, miissen folgende Fragen mit in die Debatte einbezogen werden: (1) Wie kann okonomische Globalrationalitat in Sachen Wachstum und Wohlfahrt optimal umgesetzt und aufrechterhalten werden, so daB auf der einen Seite neben einer Politik auf globaler Ebene auch wirksame Anreize ftir nationale und regionale Bemiihungen entstehen? Und wieviel Markt und wieviel globale Steuerung soil wie miteinander optimiert werden? (2) Welche Grundlage soil fiir die Wohlstandskonzeption verwendet werden bzw. wie soil Wohlstand aufgrund von kollektiver Arbeit auf der einen Seite und Wohlstand aufgrund von Ressourcen auf der anderen Seite sinnvoll miteinander in Bezug gesetzt werden? Welche globalen Verantwortlichkeiten ergeben sich aus diesen Wohlstandskonzepten? Darf geographisch-„zufalliger" Ressourcenreichtum allein durch den jeweiligen Nationalstaat in Anspruch genommen werden oder ist - unter Bezug auf die globale Umweltdebatte - dieser Reichtum nicht vielmehr kollektives Gut, das auch kollektiv genutzt und gerecht verteilt werden muB? (3) Welches Modell von Global Governance soil ausgewahlt und umgesetzt werden und wie soil dabei insbesondere demokratische Partizipation und Legitimation im einzelnen organisiert werden? Wie kann dies auf globaler Ebene wirksam operationalisiert werden?
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(4) Wie konnen schlieBlich die machtpolitisch zentralen Akteure, insbesondere die USA und die EU, fiir derartige Modelle und Strukturreformen gewonnen werden? Es kennzeichnet dabei nicht nur die deutsche, sondem auch die intemationale Politikwissenschaft bzw. politische Debatte, daB sie zwar in bezug auf nationalstaatliche Governance im allgemeinen wie nationalstaatlich organisierte Wohlfahrt im besonderen iiber eine Fiille von Theorien, Modelle und Politikentwtirfe verfligt, daB sie aber, wenn es um die globale Dimension - d.h. um die logisch sinnvolle und politisch notwendige Weiterfuhrung - dieser Debatte geht, erst in den Anfangen steht. Dies ist weniger eine Frage der inhaltlichen Thematik als vielmehr eine Frage der Einstellung oder anders ausgedriickt: der unverandert bestehenden Verhaftung in nationalstaatliche Denkweisen. Worauf es deshalb ankommt, ist nicht den Nationalstaat bzw. nationale Orientierungen, Normierungen und Rationalitaten aufzuheben, sondem in der konsequenten Fortfiihrung des klassischen Universalismus Nationalismus, Regionalismus und Globalismus sinnvoll miteinander zu verbinden. Aus dieser Verbindung mussen Impulse fiir einen neuen LemprozeB gewonnen werden, die den fortschrittsorientierten Lem-, Modemisierungs- und Reformansatz der Aufklarung wieder aufnehmen und ihn so in die Tat umsetzen, wie die Architekten des heutigen Nationalstaates mit ihrer Staatsvertragsdiskussion, mit ihren Demokratiemodellen und ihrem neuen Staats- und Politikverstandnis seinerzeit die politische Modeme eingeleitet haben. Literatur Bourantonis, D./Evriviades, M. (eds.) (1996): A United Nations for the Twenty-First Century, Dordrecht/Netherlands, S. 41-63. Seidelmann, Reimund (2000): Weltsystem, Weltgesellschaft, Weltstaat - Zugange zur Theorie internationaler Beziehungen, in: Neumann, Franz (Hg.): Handbuch Pohtische Theorien und Ideologien, Bd. 2, Opladen, S. 445-480; in tiberarbeiteter Form in: Neumann, Franz (Hg.): Handbuch Politische Theorien und Ideologien, Bd. 2 (2. Auflage), Opladen, S. 455-490. Seidelmann, Reimund (1998a): Kants „Ewiger Friede" und die Neuordnung des europaischen Sicherheitssystems, in: Dicke, Klaus/Kodalle, Klaus-Michael (Hg.): Republik und Biirgerrecht. Kantische Anregungen zur Theorie politischer Ordnung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, Weimar/KolnAVien, S. 133-180. Seidelmann, Reimund (1998b): Internationalism, Regionalism and the Nation State, in: Cuperus, Rene/Kandel, Johannes (eds.): Transformation in Progress. European Social Democracy, Amsterdam, S. 229-240. Seidelmann, Reimund (1996): Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit: Normative Postulate der Intemationalen Beziehungen, in: Knapp, Manfred/Krell, Gert (Hg.): Einfuhrung in die Intemationale Politik, 3. Auflage, Munchen, S. 27-52.
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Uta Ruppert
Geschlechtergerechtigkeit in der Globalisierung: von Ungleichheitslagen zu Gerechtigkeitsanspriichen
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Warum die Rede iiber Gerechtigkeit?
Aus einer empirischen Perspektive iiber Gerechtigkeit in der Globalisierung zu schreiben, ohne dabei der wissenschaftlichen Produktion von Euphemismen Vorschub zu leisten, scheint auf den ersten Blick ein nicht ganz einfaches Vorhaben zu sein. Okonomische Globalisierung verscharft in vielerlei Hinsicht bestehende Ungleichheitslagen (EiBel 2003) und bringt zum Teil auch neue Polarisierungen zwischen Weltregionen, Wirtschaftszonen, Landem, Metropolen und Peripherien und nicht zuletzt zwischen gesellschaftlichen Gruppen hervor (exemplarisch: Deutscher Bundestag 2002). Warum iiberschreibe ich dann also ausgerechnet einen entwicklungspolitisch informierten Beitrag zu Geschlechterverhaltnissen in der Globalisierung mit Gerechtigkeit? SchlieBlich sollte nach mehr als zehn Jahren ausgiebiger feministischer Globalisierungsforschung hinlanglich bekannt sein, dafi auch und gerade Geschlechterdifferenzen zu den gesellschaftlichen Unterschieden zahlen, die sich im Zuge der Globalisierungsprozesse vervielfaltigen und sich in bestimmten Krisenlandem des sogenannten globalen Stidens zum Teil auf dramatische Weise vertiefen (exemplarisch: Wichterich 1998a; UNIFEM 2000). Zwar wird heute niemand mehr emsthaft versuchen wollen, Frauen rund um die Welt, ungeachtet aller Unterschiede zwischen ihnen, als einheitliche Gruppe zu betrachten und Frauen durchgangig zu den Verliererinnen von Globalisierung zu zahlen. DaB einige tendenziell gut ausgebildete Frauen in bestimmten Wirtschaftszweigen der Schwellen- und Industrielander auf der Seite der okonomischen Gewinnerinnen von Globalisierungsprozessen angekommen sind, ist bekannt. Gleichwohl kann von „mehr Gerechtigkeit" - und sei es nur in dem sehr rudimentaren Sinne einer zunehmenden Gleichheit der Chancen oder gar der Lebenslagen - keine Rede sein. Im Gegenteil: Bestimmte Grundbestande globaler Geschlechterungerechtigkeit bilden einen bestandigen Untergrund far Globalisierung und Weltentwicklung. Diese durchaus nicht nur von mir vertretene These feministischer Globalisierungsforschung werde ich im ersten Teil meines Beitrages exemplarisch an den Feldem geschlechtlicher Gewalt und vergeschlechtlichter Arbeitsverhaltnisse skizzieren. Wenn daran anschlieBend Geschlechtergerechtigkeit als Perspektive aw/bzw. in der Globalisierung diskutiert wird, so geht es dabei nicht mehr um empirische Gegebenheiten, sondem vor allem um die Anspriiche an Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtem, wie sie im Kontext der Globalisierung insbesondere von transnationalen Frauenbewegungen formuliert werden. Ohne die tatsachlichen Belastungen, die von okonomischer Globalisierung auf die Idee von Gleichheit und Gerechtigkeit ausgehen, zu verkennen, werde ich hier die These vertreten, daB, gleichsam als ungewollte Kehrseite dieser Prozesse, vor allem im Zusammenhang der transnationalen Politik der FrauenMenschenrechte fiindamentale Heraus-
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forderungen an die Normen intemationaler (und nationaler) Politik entwickelt wurden, die eine besondere Starke transnationaler Frauenbewegungspolitik reprasentieren. 2
Die Bestandigkeit der Ungleichheit
Ungleichheit zwischen den Geschlechtem gehort ganz zweifellos zu den ungelosten Strukturproblemen von Weltentwicklung und die beschleunigten Prozesse okonomischer Globalisierung sind tendenziell dazu geeignet, diese zu vertiefen bzw. zu verscharfen. Globalisierung wirkt nicht nur verschieden auf die Lebens- und Arbeitsverhaltnisse von Mannem und Frauen, sondem sie baut zum Teil ganz explizit auf geschlechtlichen Ungleichheitslagen auf, wenn etwa Strategien der Exportindustrialisierung in Landem wie Bangladesh oder Sri Lanka ganz dezidiert (und erfolgreich!) auf ungleiche geschlechtliche Arbeitsteilung und Bezahlung setzen (Seguino 2000). Alle international vergleichenden Daten von Organisationen wie UNDP, ILO oder auch der Weltbank zeigen, dafi bis heute in keiner Gesellschaft der Welt Frauen die gleichen Chancen auf ein gutes Leben haben wie Manner (exemplarisch: UNDP 2005; ILO 2002; Worldbank 2001). In alien Landem der Erde liegt der sogenannte geschlechtsbezogene Entwicklungsindex (Gender Development Index/GDI) unter dem allgemeinen Index menschlicher Entwicklung (UNDP 2005). Dies bedeutet, daB Frauen nirgendwo die gleichen Gesundheits-, Bildungs- und Einkommenschancen haben wie Manner, wobei die Unterschiede der Lebenschancen zwischen den Geschlechtem in armen Landem oft besonders gravierend ausfallen. Seit Jahren bilden arme afrikanische Staaten wie Niger oder Burkina Faso die SchluBlichter der intemationalen „GleichberechtigungsRankings". Wird der MaBstab der Geschlechtergleichheit iiber die elementaren Lebenschancen hinaus ein wenig anspmchsvoller definiert, indem auch die Partizipationsmoglichkeiten von Frauen in der Politik und den Fiihmngsebenen der Wirtschaft far die Messung der Geschlechtergleichheit herangezogen werden, sind die Ergebnisse noch negativer. In den allermeisten Landem der Welt liegt dieser geschlechtsdifferenzierte Partizipationsindex (Gender Empowerment Measure/GEM) deutlich unter dem geschlechtsbezogenen Entwicklungsindex (UNDP 2005). Insgesamt zeigt die Entwicklung der Geschlechterindizes in den vergangenen Jahren kaum noch Fortschritte. Wahrend fiir die Jahre vor den jiingeren Offensiven der Dereguliemng, in der Zeit vor der IV. Weltfrauenkonferenz der Vereinten Nationen 1995 in Peking, weltweit nicht nur merkliche Entwicklungserfolge in den Bereichen Gesundheit und Bildung insgesamt, sondem auch deutliche Gleichheitseffekte durch ein verstarktes „Aufholen" der Frauen zu verzeichnen waren, ist seitdem nur noch Stagnation oder bestenfalls Verbessemng im Schneckentempo zu verbuchen (Ruppert 2001; 2003). Vor allem bei Frauen in den weltwirtschaftlich abgehangten Landem des afrikanischen Kontinents, bei Frauen in landlichen Gebieten der sich industrialisierenden Lander des Siidens (und mittlerweile auch Osteuropas) und bei armen Frauen in Landem okonomischer Krisen kommt von den vielbeschworenen positiven Entwicklungseffekten der Globalisiemng so gut wie tiberhaupt nichts an. Entsprechend ungleich sind die (minimalen) Fortschritte der Gleichstellung bzw. die Zuwachse an Chancengleichheit zwischen Frauen aus unterschiedlichen Weltregionen und gesellschaftlichen Gmppen verteilt. Wahrend sich in einigen (wenigen) Wirtschaftszweigen wie der IT-Branche fast iiberall auf der Welt die Einkommens- und Aufstiegschancen fur gut ausgebildete Frauen in den letzten Jahren deut-
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lich verbesserten, stieg fiir Frauen in weniger guten Beschaftigungssituationen und wirtschaftlichen Krisenregionen mit dem Armutsrisiko auch der Druck zur Arbeit um beinahe jeden Preis. Mit ihrer unbezahlten Fiirsorgearbeit tragen arme Frauen in den siidlichen Kontinenten einen groBen Teil der sozialen Kosten okonomischer Globalisierung. Von UNIFEM, dem mittlerweile selbst unter (Finanzierungs-)Druck geratenen Frauenfonds der Vereinten Nationen, wurden sie bereits im Kontext der „Peking + 5 Review" als „Heldinnen der Lebenssicherung" bezeichnet, weil sie mit ihrer zusatzlichen Arbeit die hartesten Auswirkungen okonomischer Krisen und Anpassungen kompensieren (UNIFEM 2000). Frauen arbeiten in Zeiten der Krise noch mehr und noch langer, sie nehmen drei oder vier verschiedene Jobs an, erfinden und erschlieBen immer neue Verdienstquellen und kompensieren unentgeltlich die verschiedensten Sozialleistungen, die Staaten nicht mehr erbringen wollen, aus Budgetgrunden tatsachlich nicht mehr erbringen konnen oder aufgrund bestimmter Konditionalitaten der Kreditvergabe nicht mehr erbringen diirfen. Einer VerwirkHchung von Geschlechtergleichheit stehen diese Entwicklungen indes diametral entgegen, weil sie althergebrachte Asymmetrien zwischen Frauen und Mannem vertiefen. Frauen tragen auch unter schwierigsten Bedingungen die Sorge fiir das Leben von Familien und Gemeinschaften, ohne dadurch einen entsprechenden Zuwachs an eigenen Handlungsmoglichkeiten und politischem EinfluB zu gewinnen. Eine der groBten Herausforderungen von Geschlechterpolitiken weltweit besteht somit darin, die Frage der Geschlechtergleichheit ins Verhaltnis zu setzen zu den makrookonomischen Entwicklungen von Deregulierung und Liberalisierung, die trotz gegenteiliger Rhetorik immer noch dazu beitragen, daB gesellschaftliche Fortschritte in Bereichen der Grundversorgung (insbesondere im Gesundheitsbereich) und ein verbesserter Zugang zu offentlichen Giitem (wie etwa sauberes Wasser) durch Haushaltskiirzungen oder Sparpolitiken konterkariert werden.
2.1 Geschlechtliche Gewalt Der Schutz von Frauen vor jeder Form von Gewalt gehort seit den vor knapp funfzehn Jahren begonnen Vorbereitungen zum Menschenrechtsgipfel 1993 in Wien zu den wichtigsten Themen inter- und transnationaler Frauen- und Geschlechterpolitik. Fur nationale Frauenpolitiken war Anti-Gewaltpolitik in den allermeisten Landem der Erde seit jeher ein zentraler Bestandteil bzw. einer der wesentlichen Ausgangspunkte von Frauenbewegungskampfen. Gleichwohl nimmt das tatsachliche AusmaB von Gewalt gegen Frauen weltweit eher zu als ab, wobei es sachgemaB hochst problematisch ist, die Quantitat bestinmiter Verbrechen an Frauen und das AusmaB sexistischer Gewalt statistisch genau bestimmen zu wollen. Wahrend einige Formen der Gewalt gegen Frauen, etwa sexualisierte Gewalt in der Familie oder im Krieg, alles andere als neue Phanomene sind, nehmen andere Formen der geschlechtsspezifischen Gewalt in den letzten Jahren vor allem deshalb zu, weil sich bestimmte Kontexte der Gewalt oder bestimmte Situationen der erhohten Verletzbarkeit durch Gewalt im Zuge der Globalisierung ausweiten. Dazu gehoren etwa Formen struktureller Gewalt, die im Zusanmienhang von neueren Ausbeutungsverhaltnissen, wie etwa der ungeschiitzten Arbeit von nicht-legalisierten Migrantinnen in europaischen, US-amerikanischen oder saudiarabischen Haushalten, voUig unkontrolliert entstehen konnen. Nicht selten gehen sie einher mit Formen sexualisierter Gewalt und stehen darin den Gewaltformen, denen
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beispielsweise Arbeiteriimen in asiatischen Hinterhof-Sweatshops oder lateinamerikanischen Maquilas bereits seit Jahrzehnten ausgesetzt sind, in nichts nach (exemplarisch: Lutz 2003). Dazu gehoren aber auch die verschiedenen Formen des Menschen- bzw. Frauenhandels. Sofem zu diesen Entwicklungen iiberhaupt verlaBliche Daten vorliegen, ist davon auszugehen, daB der Frauenhandel seit Mitte der 1990er Jahre deutlich zugenommen hat. Die Griinde dafur liegen in dem Zusammenwirken von zunehmenden Unsicherheiten und Risiken der Lebenslagen, die Individuen dazu bewegen, ihre Herkunftsorte und Herkunftslander zu verlassen, der Expansion von intemationalen, auf Menschenhandel spezialisierten Netzen organisierter Kriminalitat, den Vereinfachungen des intemationalen Grenzverkehrs und - in einem etwas geringeren AusmaB - der Entstehung regionaler Markte fur Menschenhandel (exemplarisch: U9arer 1999). Dabei ist der Handel von Frauen und Madchen in die (Zwangs-)Prostitution nur eine von mehreren gelaufigen Formen des Menschenhandels. Haufig enden die betroffenen Personen auch in (Zwangs-)Arbeitsverhaltnissen, die mit sexueller Ausbeutung einhergehen. Neuere Untersuchungen in den sudosteuropaischen Transformationslandem zeigen, daB insbesondere der Handel in Privathaushalte zunimmt, wobei zu den Empfangerlandem langst nicht nur die westeuropaischen Lander gehoren. Frauen aus Albanien, Bulgarien oder dem Kosovo landen zunehmend auch in RuBland oder Polen (lOM 2005). Schatzungen gehen davon aus, daB die Zahl der Opfer von Frauenhandel weltweit mehr als 30 Millionen betragt. Als eine stark zu Lasten von Frauen wirkende Gegenreaktion auf die Folgen von Globalisierung ist im Zusammenhang mit der Re-Traditionalisierung gesellschaftlicher Verhaltnisse in einigen Landem auBerdem eine Zunahme von familialer Gewalt und staatlicher Repression gegen Frauen zu verzeichnen. Eines der erschreckenden europaischen Beispiele fiir diese Tendenz, das sich mit bislang kaum abzusehendem Ausgang, aber ohne besondere offentliche Reaktionen inmitten der Europaischen Union des Gender Mainstreaming entwickelt, ist die Re-Tradionalisierung des Geschlechterdiskurses in Polen nach dem Wahlsieg der Rechten im Jahr 2005. Mit dem massiven Versuch, durch offentliche und vor allem auch parlamentarische Debatten Frauen emeut auf die Mutterrolle festzulegen, geht dort z.B. auch die offentliche Diskreditierung nicht-traditoneller Familien- bzw. Beziehungsformen und eine hochst aggressive offentliche Hatz auf Homosexuelle einher (Dabrowska 2006). 2.2 Arbeitsverhdltnisse Wirtschaftspolitik ist bekanntlich in aller Regel eine geschlechtsblinde Angelegenheit. Bereits Jahrzehnte vor der Diskussion um die Auswirkungen von Globalisierung wurde diese Kritik von Frauenbewegungen und Frauenforscherinnen der westlichen Welt deutlich formuliert (Wichterich 1998b). Im Zentrum stand dabei stets die Ignoranz gegeniiber der unbezahlten Fiirsorgearbeit, die weltweit zu mehr als zwei Drittel von Frauen geleistet wird, in herkommlichen wirtschaftspolitischen Debatten aber nie ein Thema war. Welche enorme Bedeutung die unbezahlte Arbeit von Frauen hat, wird an den Zahlen deutlich, die 1995 zur Weltfrauenkonferenz von den UN veroffentlicht wurden. Sie schatzten den monetaren Wert der unbezahlten Frauenarbeit damals auf elf Billionen US-Dollar jahrlich, was mehr als 50% des Weltsozialproduktes gleichkommt (UNDP 1995).
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In den vergangenen Jahren haben feministische Okonominnen neue Ansatze einer geschlechtskritischen Erweiterung des wirtschaftspolitischen Denkens entwickelt. Sie zielen auf die Integration der Fiirsorgearbeit in die Okonomie, um so auf langere Sicht die geschlechtsspezifische Trennung von Arbeitsspharen aufzuheben und die Entwicklung eines zeitgemaBen gesellschaftlichen Arbeitsbegriffs zu fbrdem (exemplarisch: femina politica 2002). In ihre Entwurfe offentlichen Wirtschaftens integrieren feministische Okonominnen daher einen Bereich der Fiirsorgewirtschaft, in dem die Produktion familien- und gemeinschaftsorientierter Giiter (wie Essen oder Kleidung) und Dienstleistungen (wie Versorgung von Kranken) stattfmdet. Die Gewinnlogik des Marktsektors gilt somit nur noch als eines von mehren Prinzipien des Wirtschaftens. Mindestens ebenso bedeutsam ftir eine gute Versorgung der Menschen sind in dieser Perspektive das Prinzip der sozialstaatlichen Umverteilung im offentlichen Sektor und die Ftirsorge- bzw. Vorsorgelogik in den Bereichen unbezahlter Arbeit (BEIGEWUM 2002: 41). Die herrschenden Realitaten weltwirtschaftlicher Entwicklungen stehen allerdings in einem Kontrast zu diesen feministischen Einspriichen, der scharfer kaum sein konnte: Auch die jiingsten umfassenden Untersuchungen zu Welthandel und Geschlecht (UNCTAD 2004) bzw. Handel, Finanzen und Geschlecht (Young 2006) bestatigen, daB in der Globalisierung samtliche sozialen Beziehungen unter dem Primat des Handels und der Finanzmarkte stehen. So erhoht die Privatisierung offentlicher Dienste rund um die Welt die Fiirsorgelasten von Frauen und die Deregulierung fuhrt gerade auch im Bereich der Frauenarbeit zu Lohndumping, Prekarisierung und Informalisierung. Einerseits hat in fast alien Regionen der Welt der Anteil der Frauen an der Erwerbsbevolkerung in den vergangenen beiden Jahrzehnten deutlich zugenommen und die Frauenbeschaftigung ist - mit Ausnahme von Afrika - iiberall schneller angestiegen als die der Manner. Die Muster der Erwerbsintegration von Frauen sind jedoch regional sehr verschieden und verschiedene Gruppen von Frauen profitieren in sehr unterschiedlichem MaB von diesen Prozessen. Im Vergleich der Weltregionen verzeichnen Lateinamerika und die Karibik in den vergangenen 20 Jahren den groBten Zuwachs der weiblichen Erwerbsbevolkerung, gefolgt von den USA und Westeuropa. Hier liegt der Frauenanteil an der Erwerbsbevolkerung bei mindestens 40% und der Anstieg der Frauenbeschaftigung ist vor allem auf die Ausweitung des Dienstleistungssektors zuriickzuflihren. In Westeuropa und Lateinamerika sind ca. 80% aller erwerbstatigen Frauen in diesem Sektor beschafligt (Ruppert 2003: 106ff.). Jobmoglichkeiten ftir Frauen entstehen vor allem in den handelsbezogenen Bereichen Tourismus, Finanzdienstleistung und Datenverarbeitung. Die Nachfrage nach hoch qualifizierten Dienstleistungen konzentrierte sich lange Zeit ausschlieBlich auf die Industrielander, die gleichzeitig niedriger qualifizierte Dienstleistungen, etwa in der Datenverarbeitung, teilweise auslagem. Mittlerweile umfaBt die Auslagerung aber auch immer mehr Bereiche qualifizierter Dienstleistungen. In der Karibik und in einigen asiatischen Landem etwa wurden sogenannte Digiports errichtet, wo die Dateneingabe ftir Intemet-Bestelldienste oder Kreditkartenanbieter erledigt wird. Der Anteil von Frauen an den Beschaftigten in diesen Zentren liegt oft zwischen 70% und 80%. Dienstleistungen in der Computerbranche, wie Software- oder Designentwicklung, gehoren zu den wenigen Bereichen, in denen Frauen vergleichsweise gute Chancen auf Beschaftigung in hoheren Positionen haben. Insbesondere in Landem mit auffallig groBen Zuwachsen der Frauenbeschaftigung im Dienstlei-
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stungssektor gehen diese oft einher mit schlechten, well flexibilisierten und ungeschutzten Arbeitsbedingungen und schlechter Entlohnung (UNCTAD 2004: 200). In den Industrielandem ist die Ausweitung des Dienstleistungssektors in den vergangenen zehn Jahren ebenfails mit einem deutlichen Anstieg von Teilzeitbeschaftigung, insbesondere auch von kurzzeitigen und geringfiigigen Beschaftigungsverhaltnissen, verbunden gewesen. In Arbeitsstunden betrachtet, relativiert sich der Anstieg der Frauenbeschaftigung damit erheblich. Fiir Deutschland war die Zunahme der Frauenerwerbstatigkeit in den 1990er Jahren bekanntlich nahezu ganzlich auf eine Umverteilung des Arbeitsvolumens innerhalb der Gruppe der Frauen zuruckzuftihren und Frauen stellten im Jahr 2000 knapp 90% aller Teilzeitbeschaftigten (Klammer et al. 2000). Im industriellen Sektor nehmen im Zuge der Globalisierung die Moglichkeiten der Untemehmen zu, arbeitsintensive Teile der Produktion in Billiglohnregionen auszulagem. Je arbeitsintensiver verschiedene Zweige der Exportindustrie produzieren, desto hoher ist der Anteil der Frauen an den Beschaftigten. In den „Freien Produktionszonen" der Textilindustrie in China, Siidostasien und Lateinamerika sind bis zu 80% der Beschaftigten Frauen im Alter von 15 bis 25 Jahren. Ihre Lohne betragen nur einen Bruchteil dessen, was in den Industrielandem fiir die gleichen Tatigkeiten gezahlt wird und noch immer widersprechen die Arbeitsbedingungen in „Freien Produktionszonen" vielfach den Sozialstandards der ILO. Unbezahlte Uberstunden, mangelnde Sicherheit am Arbeitsplatz, fehlender sozialer Schutz und repressives Arbeitsklima bis hin zu korperlichen und sexuellen tJbergriffen, sind weiterhin an der Tagesordnung. Ahnliches gilt fiir die Bekleidungsindustrie in Osteuropa (Musiolek et al. 2002). Zwar begriiBen viele Arbeiterinnen in Billiglohnlandem die Moglichkeit, Einkommen zu erzielen und sich damit teilweise auch patriarchaler KontroUe und Unterordnung in ihren Familien zu entziehen. Ob es ihnen in Anbetracht der auBerordentlich hohen Ausbeutung ihrer Arbeitskraft und der menschenrechtswidrigen Beschrankungen ihrer Selbstbestimmungsmoglichkeiten gelingt, ihren wirtschaftlichen und sozialen Status dauerhaft zu verbessem, bleibtjedoch fi-aglich (Ruppert 2003: 111). Weitgehend unberuhrt von Globalisierungstendenzen bleibt hingegen die Einkommensschere zwischen Mannem und Frauen, die im Weltmittel noch immer rund 20% betragt. In Deutschland hat sich der Einkommensabstand zwischen den Geschlechtem in den vergangenen 20 Jahren um nicht mehr als 2,8%) verringert (BFSFJ 2002: 40ff.). In den meisten Industrielandem fallen die geschlechtlichen Lohndisparitaten bei hochqualifizierter Arbeit deutlich kleiner aus als bei gering qualifizierter Arbeit. Dadurch nehmen die Unterschiede zwischen Frauen entlang der sozialen Spaltungslinien von Nationalitat, ethnischer Herkunft und Schichtzugehorigkeit zu. Sozial privilegierte Frauen in alien Erdteilen ermoglichen sich ihre bemflichen Karrieren, indem sie die Fiirsorgearbeit gegen meist sehr geringe Bezahlung ohne Arbeitsschutz an Frauen mit schlechten Arbeitsmarktschancen wie Migrantinnen und Angehorige ethnischer Minderheiten oder die oben erwahnten, nichtlegalisierten Einwanderinnen delegieren. Globalisiemng erleichtert aber Untemehmen wie Privathaushalten nicht nur die Suche nach billigen, sondem auch nach flexiblen Formen der Arbeit. Dabei sind die Grenzen zwischen Flexibilisiemng und Informalisiemng flieBend, wie die Entwicklung der sogenannten atypischen Beschaftigungsverhaltnisse in Industrielandem zeigt, die weder sozialen noch arbeitsrechtlichen Schutz umfassen. In noch viel starkerem AusmaB als in den OECDLandem vollzieht sich die Etabliemng vollig ungeschiitzter Arbeitsverhaltnisse allerdings in den Landem des Siidens und auch in weiten Teilen Osteuropas gehen Privatisiemng und
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Informalisierung Hand in Hand. Informelle Arbeit umfaBt im Suden wie im Osten vor allem ungeschiitzte Tatigkeiten in der nicht-landwirtschaftlichen Produktion, wie Heim- und Kontraktarbeit, Lohnarbeit in Kleinstuntemehmen, aber auch Dienstleistungstatigkeiten, insbesondere im Haushalt. Alle diese Tatigkeiten stellen in der Regel weder eine stabile noch existenzsichemde Beschaftigung dar und finden oft unter hochst prekaren Bedingungen statt, die samtliche Arbeits- und Sozialstandards unterlaufen (Lenz 2002: 49ff.). Schatzungen um die Jahrtausendwende gingen davon aus, daB zu diesem Zeitpunkt weltweit bis zu einem Viertel der Erwerbsbevolkerung (mehr als 500 Mio. Menschen) in informellen Arbeitsverhaltnissen tatig waren (Wick 2000). Fast iiberall stellt der informelle Sektor fur Frauen eine wichtigere Beschaftigungsquelle dar als fiir Manner. In Afrika siidlich der Sahara, Asien und Lateinamerika sind 60-80% der erwerbstatigen Frauen, die einer nichtlandwirtschaftlichen Tatigkeit nachgehen, im informellen Sektor beschaftigt. Wichtigste Ursachen dafur sind die fehlenden Zugange von Frauen zum formellen Arbeitsmarkt und der Mangel an Ressourcen, um mehr als informelle Selbstandigkeiten aufzubauen. Zur tjberlebenssicherung kombinieren Frauen unterschiedlichste Formen informeller Arbeit und nehmen dafur eine deutlich hohere Arbeitszeit in Kauf als Manner (ILO 2002). 3
Die Politik der FrauenMenschenrechte
Auswirkungen okonomischer Globalisierung auf die Wirklichkeit der Geschlechterverhaltnisse und die Lebensrealitaten von Frauen sind in zweifacher Hinsicht prekar: Erstens bilden zunehmende soziale Polarisierungen, nicht nur zwischen den Geschlechtem, sondem auch zwischen Frauen, die Kehrseite gewisser Zugewinne von Gleichheit am Arbeitsmarkt. Zweitens ist die absolute Zahl der eindeutigen Globalisierungsgewinnerinnen sehr gering im Verhaltnis zur Quantitat derjenigen, die vor allem die Kosten von Globalisierung zu tragen haben. Vergleichsweise positiv lassen sich im Unterschied dazu die gleichsam als „Nebenwirkung" von Globalisierung auftretenden Auswirkungen globaler Politik auf die intemationale Frauenpolitik beschreiben. Frauenbewegungen weltweit und ihnen nahestehenden NGOs ist es im ProzeB globaler Politik entlang der Weltkonferenzen der Vereinten Nationen der 1990er Jahre gelungen, EinfluB auf die Themen und normativen Grundlagen globaler Politikverhandlungen zu nehmen (exemplarisch: Holland-Cunz/Ruppert 2000). Zugleich haben die Bewegungen selbst im Laufe dieser Prozesses an Starke gewonnen und eine dialogische Praxis globaler Verstandigung entwickelt. Dabei liegt der nachhaltigste Erfolg transnationaler Frauenbewegungspolitiken der letzten Jahrzehnte - darin ist sich die intemationale Forschung uber Frauen- und Geschlechterpolitik weitgehend einig - in den Entwicklungen des Paradigmas der FrauenMenschenrechte im AnschluB an die Menschenrechtskonferenz der Vereinten Nationen 1993 in Wien. Mit Hilfe einer weltweiten Kampagne zu Menschenrechtsverletzungen an Frauen, die wahrend des Wiener Regierungsgipfels in ein offentlichkeitswirksames Tribunal miindete, wurde damals die langst iiberfallige intemationale Bestatigung von Gewalt gegen Frauen als Menschenrechtsverletzung erreicht. Damit war ein Meilenstein gesetzt ftir die aus feministischer Sicht unverzichtbare Erweiterung des herkommlichen Begriffs der Universalitat von Menschenrechten. Frauenbewegungspolitik hat mit dem Einschreiben von Gewalt gegen Frauen in den Kanon der engeren Menschenrechtsverletzungen die konstitu-
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tiven Normen intemationaler Politik verandert und den Schutz vor vermeintlich privaten Verbrechen zum Gegenstand zwischenstaatlicher Verhandlungen und PolitikmaBnahmen gemacht. Dadurch wurde nicht zuletzt eine der zentralen Grundlagen frauenpolitischen Handelns, die iiber die Frage der FrauenMenschenrechte hinaus fflr alle Bereiche transnationaler Frauenbewegungspolitik mafigelblich ist, UN-6ffentlich anerkannt: Das Private ist nicht nur auf lokaler und nationaler, sondem auch auf intemationaler Ebene politisch. Umgekehrt betrachtet heiBt dies auch, daB seit Wien kein Zweifel mehr daran bestehen kann, dafi intemationale PoHtik und Volkerrecht in die Sphare des Privaten hineinwirken und die ganz konkreten Bedingungen des Lebens und Arbeitens von Frauen bzw. die sogenannten privaten Seiten der Geschlechterverhaltnisse pragen (Ruppert 2004: 706). Im Konzept der FrauenMenschenrechte wird somit erstens die traditionelle Sichtweise von familialer und kultureller Gewalt gegen Frauen als vermeintlich private Angelegenheit iiberwunden. Es gehort zu den Menschenrechten von Frauen, vor alien Formen der Gewalt, von sexualisierter Folter iiber sexualisierte Gewalt in der Ehe oder Zwangsverheiratung bis hin zum AusschluB von Erbschafts- oder Landnutzungsrechten, geschiitzt zu sein. Zweitens miBt dieser Ansatz den sozialen Menschenrechten auf Arbeit, Gesundheit, Bildung sowie kulturelle Selbstbestimmung prinzipiell die gleiche Bedeutung bei wie den Rechten auf politische Freiheit und dem Schutz vor staatlicher Willkiir. Die Gewahrleistung dieser Menschenrechte gilt in feministischer Perspektive nicht zuletzt als wesentliche Voraussetzung fur einen dauerhaften Schutz von Frauen vor direkten Formen physischer und psychischer Gewalt (Ruppert 2001: 126). Der Ansatz der FrauenMenschenrechte schafft somit Verbindungen zwischen den verschiedenen Ebenen (lokal bis international) und Spharen (offentlich und privat, innen und auBen) von Politik und den verschiedenen Generationen von Menschenrechten. Damit haben transnational Frauenbewegungen also nicht nur ein nach innen, in ihre intemen Zusammenhange hinein wirkendes, globales Bezugssystem politischer Praxis entwickelt, das fur alle Anliegen von Frauenbewegungen, von Weltentwicklung bis zu ziviler Konfliktbearbeitung, ein gemeinsames normatives Dach stiftet (Ruppert 2002). Zugleich konnen auch die Entwicklungen der Weltpolitik allgemein an diesem ganz neu fur die Zukunft der Menschheit in Anspruch genommenen Versprechen auf Gerechtigkeit gemessen werden. Mit der Verwirklichung der Menschenrechte von Frauen lieBen sich zwar nicht alle systematischen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtem auf einen Streich beseitigen. Aber allein die Gewahrleistung so einfacher und grundlegender Rechte wie der wirksame Schutz vor Gewalt, die Einhaltung von Arbeitsmindeststandards oder die Wahrung von Lohn- und Chancengleichheit am Arbeitsmarkt wiirden einen elementaren Schritt auf dem Weg zur globalen Geschlechtergerechtigkeit darstellen. Und zwar nicht zuletzt deshalb, weil sie der Globalisierung einen Teil ihrer asymmetrischen (geschlechtlichen) Fundamente entziehen und damit zwangslaufig einige der produzierten sozialen Schieflagen begradigen wiirde. 4
Gerechtigkeitsanspriiche im Kontext globalisierter Ungerechtigkeiten
Tatsachlich wurden seit Wien in vielen Landem der Welt konkrete Schritte untemommen, um Gewalt gegen Frauen einzudammen. Zunachst verabschiedete im Dezember 1993 die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Resolution tiber die Beseitigung der Ge-
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wait gegen Frauen, die zwar keine rechtsbindende Wirkung hat, aber flir die Staatengemeinschaft dennoch verbindlich und ausfiihrlich definiert, was unter Gewalt gegen Frauen zu fassen ist. AuBerdem benennt sie eine Reihe von MaBnahmen, wie die Staaten sowie die Organe der Vereinten Nationen dagegen vorzugehen haben. Weltweit wurden seitdem vor allem zur Bekampfung von sexualisierter Gewalt in der Ehe, von Frauenhandel und von Genitalverstummelung neue Gesetze erlassen und Programme aufgelegt sowie die Rechtsstellung von weiblichen Fluchtlingen, die in ihren Herkunftslandem keinen ausreichenden Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt fmden, gestarkt (UNICEF 2000). Dies bedeutet aber zugleich, daB die meisten konkreten Verbesserungen durch FrauenMenschenrechtspolitik im Bereich der Bekampfung direkter Gewalt gegen Frauen erzielt wurden, wobei unter dem Strich selbst in diesem Bereich bis heute kaum von durchschlagenden Erfolgen die Rede sein kann. Bestimmte Formen der Gewalt nehmen, wie oben ausgefiihrt, tendenziell eher zu als ab. Zu einem Teil mag dies an der Halbherzigkeit von Gesetzesinitiativen und deren mangelhafter Umsetzung liegen, zu einem anderen Teil sind die Ursachen dafiir aber - wie oben ebenfalls angedeutet - in den konterkarierenden Wirkungen okonomischer Globalisierung zu suchen. Gewalt und Ungleichheit, Gewalt und strukturelle Benachteiligung, Gewalt und Diskriminierung werden hingegen auch unter den Vorzeichen von FrauenMenschenrechten nur selten zusammengedacht. Entsprechend gering bleiben die Auswirkungen der im UN-System erreichten Normverandemngen auf die faktischen Realitaten der Geschlechterverhaltnisse. Nach wie vor besteht eine der groBen Aufgaben transnationaler Frauen- und Geschlechterpolitik deshalb darin, die Sicherung der Menschenrechte von Frauen mit der Kritik okonomischer Globalisierung zu koppeln oder anders formuliert: am Modell der Geschlechterverhaltnisse die globalen Zusammenhange von Gleichheit und Gerechtigkeit zu politisieren. Bot die Norm universeller Menschenrechte seit 1993 dafur einen relativ guten Rahmen, so haben sich diese Voraussetzungen seit der Jahrtausendwende wieder deutlich verschlechtert. Der zunehmende Druck zur Handelsliberalisierung auf die Lander des „okonomischen Siidens" und die intemationalen Kriege im Gefolge des 11.09.2001 haben den Ansatzen einer globalen Politik, deren Ziel es sein sollte, Losungen fiir die gravierendsten Probleme der Menschheit zu suchen (Commission on Global Governance 1995), insgesamt sehr viel Boden entzogen. Mit der Aushohlung des Volkerrechts, der Degradierung der UN und der Herabwiirdigung der Menschenrechtsnorm im Zusammenhang der „neuen Kriege" erfiihr nicht zuletzt auch der schwer erkampfte Referenzrahmen der FrauenMenschenrechte eine deutliche Abwertung, deren Folgen ftir die transnationale Frauenpolitik noch gar nicht abzuschatzen sind. Allerdings spricht die Tatsache, daB die politischen Spielraume fur eine geschlechtergerechte Transformation von Weltpolitik in den letzten Jahren noch kleiner geworden sind, nicht gegen feministische Politikziele in der intemationalen Politik, sondem verleiht ihren Anspriichen auf Gerechtigkeit im Gegenteil eher eine noch groBere Bedeutung. Denn eine der unverzichtbaren Voraussetzungen fiir die Verwirklichung menschlicher Lebensbedingungen und menschlicher Gesellschaften besteht auch im 21. Jahrhundert in der Anerkennung der Tatsache „(...) daB Menschenrechte gewissermaBen vorgelagert sind vor dem VerwertungsprozeB von Waren, die wir konsumieren" (Young 2006: 25). Die Aufgabe einer kritischen Frauen- und Geschlechterforschung wird es daher auch in Zukunft sein, den analytischen Blick auf Frauenbewegungen als Akteurinnen von gesellschaftlichem Wandel und systemisch-institutioneller Veranderung zu lenken. Ihre vielseiti-
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gen, dialogisch und inklusiv angelegten Ansatze der FrauenMenschenrechtspolitik geben immer wieder AnlaB, Internationale Machtordnungen in Kategorien der (Geschlechter-) Gerechtigkeit neu zu denken.
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5 Anhang
Verzeichnis der Schriften von Dieter EiOel (bis Mai 2006)
Buchpublikationen 1.
Arbeitsmarkt und Bildungspolitik. Theorien und Praxis der Bildungsplanung, Frankfurt am Main/New York (Campus) 1977 (259 S.).
2.
Schtilerproblem: Ausbildung und Berufswahl. Analysen, Materialien und didaktische Hinweise, MunchenAVien/Baltimore (Urban & Schwarzenberg) 1977 (216 S.).
3.
Eigentum (in der Reihe Grundwerte, hrsg. von Franz Neumann), Baden-Baden (Signal Verlag) 1978(160 8.).
4.
Das Bildungssystem als Wirtschaftsfaktor. Analysen zu Finanzierungsspielraumen ftir eine Bildungsoffensive, Schriftenreihe des Bildungs- und Forderungswerkes der GEW, Frankfurt am Main 1986 (98 S.).
5.
Wirtschaftsstandort Ostdeutschland. Bestandsaufnahme und Bedingungen fur den Wiederaufbau (Hg.), Marburg (Schuren-Verlag) 1993 (176 S.).
6.
Deutschland-Ost vor Ort. Anfange der lokalen Politik in den neuen Bundeslandem (Hg., zusammen mit Udo Bullmann und Susanne Benzler), Opladen (Leske + Budrich) 1995(312 8.).
7.
Towards 8ustainability. Challenges to the Social Sciences and Local Democracy (Hg., zusammen mit Jeremy Leaman und Ewa Rokicka), Lodz (Absolwent) 1996 (148 S.).
8.
Handbuch der kommunalen Sozialpolitik (Hg., zusammen mit Berthold Dietz und Dirk Naumann), Opladen (Leske + Budrich) 1999 (572 S.).
9.
Interregionale Zusammenarbeit in der EU. Analysen zur Partnerschaft zwischen Hessen, der Emilia-Romagna und der Aquitaine (zusammen mit Alexander Grasse, Bjom Paeschke und Ralf Sanger), Opladen (Leske + Budrich) 1999 (389 S.).
10. Offentliche Finanzen: gerecht gestalten! (zusammen mit Jorg Huffschmid, Hannes Koch und Margit Walter), Hamburg (VSA Verlag) 2004 (110 S.). 11. Biirgerversicherung jetzt. Gegen den marktradikalen Kahlschlag in der Sozialpolitik (zusammen mit Jiirgen Borchert), Frankfort am Main 2004 (Schriftenreihe „Hintergriinde und Meinungen zur Gesellschaft", hrsg. vom Bildungswerk DGB Hessen) (145 S.). 397
12. Herausgeber der Publikationsreihe „Regionalisierung in Europa" beim VS Verlag fiir Sozialwissenschaften (Wiesbaden); zusammen mit Udo Bullmann und Alexander Grasse. Beitrage in Zeitschriften 1.
Lehrlinge und Jungarbeiter im kapitalistischen System, in: Frankfurter Hefte, Sonderheft Jugend, April 1975, S. 16-22.
2.
Massenarbeitslosigkeit auf Dauer? (zusammen mit Harald Bammel), in: Frankfurter Hefte, Sonderheft Arbeitswelt, April 1977, S. 91-96.
3.
Hochschulreform ftir den Arbeitsmarkt?, in: Frankfurter Hefte, Juli 1977, S. 24-35.
4.
Jugend ohne Arbeit - Perspektiven und MaBnahmen, in: Frankfurter Hefte, Sonderheft Zukunft konkret, April 1978, S. 72-76.
5.
Subventionspolitik ohne demokratische KontroUe und rationale Lenkung, in: Frankfurter Hefte, Februar 1980, S. 3-8.
6.
Staatliche Haushaltspolitik gegen kommunale Handlungsfahigkeit, in: Blatter fiir deutsche und Internationale Politik, Heft 7/1981 (zusammen mit Heinz Zielinski), S. 849861.
7.
Strategieprobleme altemativer Wirtschaftspolitik (zusammen mit Rudolf Hickel und Michael Emst-Porksen), in: Materialien zur ZIF-Tagung Bielefeld 02.-04.07.1981.
8.
Krise im Wohnungsbau (zusammen mit Heinz Zielinski), in: Materialien zur ZIFTagung 02.-04.07.1981, Bielefeld.
9.
Towards more influence at the local level, in: KongreBmaterialien, Universitat Amsterdam, Mai 1983.
10. Umweltinvestitionen als notwendige und beschaftigungssichemde MaBnahmen, in: Memo-Forum, Nr. 3, Mai 1984, S. 55-68. 11. Sozialpolitik in der Krise. Bine Bilanz sozialliberaler Politik, in: Perspektiven des Demokratischen Sozialismus, Heft 1/1984, S. 5-23. 12. Zur Sozialpolitik der sozialliberalen Koalition. Replik zu den Bemerkungen von Herbert Ehrenberg, in: Perspektiven des Demokratischen Sozialismus, Heft 2/1984, S. 4952. 13. Le politiche di giustizia sociale nella RFT, in: Problemi della Transizione, Heft 15/1984, S. 33-52.
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14. Kommunale Haushaltspolitik in den achtziger Jahren: Uberkonsolidierung statt Beschaftigungsimpulse, in: WSI-Mitteilungen, Heft 12/1984, S. 702-709. 15. Welfare backlash. Conservative Strategies in the Federal Republic of Germany, in: Istituto Gramsci, Bologna, Mai 1984. 16. Rtistung und Sozialstaatsdemontage, in: Perspektiven des Demokratischen Sozialismus, Heft 2/1986,8.90-100. 17. Wirtschafts- und sozialpolitische Rahmenbedingungen, in: LAG Soziale Brennpunkte, Tagungsreader zu „Gemeinwesenorientierte Ausbildungs- und Beschaftigungsinitiativen in Hessen", Frankftirt 1986, S. 10-24. 18. Sozialabbau. Strukturelle Bedingungen, offizielle Legitimierungen und Altemativen, in: Landesarbeitsgemeinschaft fur Erziehungsberatung in Hessen (Hg.): E.B. Kurier, Informationsblatt H. 16-18, Marz 1987, S. 15-33. 19. Herausforderungen und Moglichkeiten einer kommunalen Arbeitsmarktpolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, No. B 38/88 vom 16.09.1988, S. 29-42 (auch erschienen in: Das Rathaus. Zeitschrift fiir Kommunalpolitik, S. 762-771). 20. Economic growth and the environment: job killer or new opportunities?, in: Economic and social policy in Europe, Occasional Papers No. 2 ,"The Environment. Challenges and opportunities for trade unions", ed. by Peter W. Schulze and J. Willman, London 1991,8.51-60. 21. The theory and practice of environmental politics with particular reference to Germany, in: European Research Centre (ed.): Studies in European History and Political Economy, Paper 3, Loughborough 1992, 8. 1-16. 22. Disparity or Convergence? Prospects for the Regions in the European Community, in: Journal of Area Studies, August 1992. 23. „Europa der Regionen". Entwicklung und Perspektiven (zusammen mit Udo Bullmann), in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 20-21/93 vom 14.05.1993, 8. 3-15. 24. Dezentralisierung als neuer Regulationstyp? Theoretische Anspriiche und empirische Praxis am Beispiel der Europaischen Union, in: Memo Forum, Nr. 21, Mai 1994, 8. 46-54. 25. Vom Elend des kapitalistischen „8ozialstaates" (zusammen mit Gottfried Erb), in: Die Neue Gesellschaft/Frankftirter Hefte, Heft 4/1996, 8. 348-355. 26. Steuergeschenke fiir die Reichen - der Marsch in den Lohnsteuerstaat als konjunkturpolitisch unwirksame und sozial brisante Entwicklung, in: Forum des Hessischen DGB: Privater Reichtum und offentliche Armut in der BRD, 24.01.1996, Wiesbaden.
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27. Okonomische Aspekte und Finanzierungsmoglichkeiten des Bildungsbereichs, in: GEW (Hg.): Zukunftsinvestition Bildung - Eine Dokumentation der GEW, Frankfurt am Main, Oktober 1996. 28. Der private Reichtum und der Staat, in: Arbeit und Sozialpolitik, Heft 5-6/1997, S. 2130 (auch erschienen in: SPD-Vorstand (Hg.): Reichtum in Deutschland, Dokumentation einer Fachkonferenz am 10.07.1996, Bonn 1996). 29. Standortdebatte und Umverteilung, in: Soziale Sicherheit, Heft 12/1996, S. 459-471. 30. L'Assia - una collaborazione regionale (zusammen mit Udo Bullmann, Alexander Grasse, Bjom Paeschke, Ralf Sanger und Olga Dobrev), in: Federalismo & Societa, Rivista trimestrale di politica e cultura, Jg. 3, No. 2/1996, S. 111-152. 31. Privater Reichtum - offentliche Armut, in: Erziehung und Wissenschaft (Hg. GEWBund) Hefte 3, 4 und 5/1997. 32. Grandiose Umverteilung am Standort, in: Die Mitbestimmung, Heft 10/1997, S. 12-17. 33. Ungleichheit in Deutschland, in: DVPB aktuell. Report zur politischen Bildung, Heft 2/1999,8.8-12. 34. Zur Integration muslimischer Madchen in Deutschland, in: Forum: Frau und Gesellschaft. Heft 2/1999, S. 3-9 (unter Mitarbeit von Fatma Dulger). 35. Distribution Policy in the Kohl Era. The Impact of Neo-Liberalism on Wealth and Poverty in Germany, in: Debatte. Review of Contemporary German Affairs, May 1999, S. 39-55. 36. Diskriminiert und doch selbstbewuBt. Eine empirische Untersuchung zur Situation muslimischer Frauen (in Zusammenarbeit mit Fatma Dulger und Sandra Hammamy), in: Forum: Frau und Gesellschaft, Heft 3/1999. 37. Spatio-Temporal Dimensions of Economic and Social Change in Germany (zusammen mit Jeremy Leaman), in: Linda Hantrais (ed.): Cross-National Research Papers, Sixth Series, Improving Policy Responses and Outcomes to Socio-Economic Challenges: Changing Family Structures, Policy and Practice, Loughborough, December 2000, S. 35-42. 38. German Higher Education on the way to the Anglo-Saxon System (zusammen mit Alexander Grasse), in: Debatte, Review of Contemporary German Affairs, Vol. 9, No. 1/2001 (May), S. 9-38. 39. Is Market Dogmatism Driving the Red-Green Government's Budgetary Policy?, in: Debatte. Review of Contemporary German Affairs, Vol. 10, No. 2/2002 (November), S. 141-155.
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40. Argumente ftir die nachhaltige Besteuerung von groBen Vermogen und Erbschaften, in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, Heft Dezember 2003, S. 8-13. 41. Globalisation and Local Governance, in: Foedus: Culture, Economic e Territori, No. 7/2003, S. 38-45. 42. Einkommens- und Vermogensentwicklung in Deutschland, in: Intervention, Zeitschrift fur Okonomie (Hg. Ludwig-Erhard-Stiftung), No. 1/2004, S. 22-29. 43. Steuergerechtigkeit oder der Marsch in den Lohnsteuerstaat, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Heft 2 /2004, S. 70-79. 44. Eine groBe rot-griine Gerechtigkeitslucke. Die Steuerpolitik der Bundesregierung ist sozial- und konjunkturpolitisch verfehlt, in: rls standpunkte. No. 1/2005. 45. MaBstabe fur angemessene Steuem in der wirtschaftspolitischen Theorie, in: Alexander Grasse (Hg.): Steuer- und Finanzpolitik, Wochenschau-Themenheft (Sek. II), Jg. 56, No. 6/2005,8.251-253. 46. Ziele staatlicher Finanzpolitik (zusammen mit Alexander Grasse), in: Alexander Grasse (Hg.): Steuer- und Finanzpolitik, Wochenschau-Themenheft (Sek. II), Jg. 56, No. 6/2005, S. 226. 47. Zahlreiche Rezensionen zu Fragen der Arbeitsmarktpolitik und Partizipationsforschung, Parteien, Regionalkultur, globaler Okonomie und Umweltpolitik. 48. Zahlreiche Zeitungsbeitrage zu Fragen aktueller Wirtschafts- und Finanzpolitik. Beitrage in Sammelbanden 1.
Zielsetzungen und Probleme der Formulierung und Durchsetzung einer altemativen Wirtschaftspolitik, in: Alternative Wirtschaftspolitik, 2. Probleme der politischen und okonomischen Durchsetzung, Berlin (W) 1980 (Argument-Verlag), S. 22-43.
2.
Subventionen als staatliches Mittel zur Korrektur des Marktgeschehens. Kritik einer verfehlten Politik, in: Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik: Memorandum. Gegen konservative Formierung - Altemativen der Wirtschaftspolitik, Koln (BundVerlag) 1980, S. 215-242.
3.
Umverteilung im Sozialstaat, in: Redaktion Frankfiirter Hefte (Hg.): Die Aussichten der Republik, Frankfiirt am Main 1980, S. 171-182.
4.
Theorien sozialer Konflikte, in: Heinz Dedering (Hg.); Konflikt als paedagogicum, Aarau/Frankfurt am Main/Wien (Diesterweg u.a.) 1981, S. 25-62.
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5.
Till vem riktar sig de altemativa socialistika forslagen? in: Peter Dencik (Hg.): Vanstem och den ekonomiska politiken. En studie i restriktioner och mojligheter for en altemativ ekonomisk politik i Nordvasteuropa, Stockholm 1981, S. 62-82.
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Krise und Altemativen im Wohnungsbau, in: Memorandum '81. Demokratische Wirtschaftspolitik gegen Marktmacht und SparmaBnahmen (hrsg. von der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik), Koln (Pahl-Rugenstein) 1981 (zusammen mit der AG Wohnungsbau), S. 87-204.
7.
Altemativen der Kommunalpolitik. Sichemng von Finanzstarke gegen autoritare Konsolidiemngspolitik und Sozialabbau (zusammen mit Emst-Ulrich Huster), in: Arbeitsgmppe Altemative Wirtschaftspolitik: Memorandum '83. Qualitatives Wachstum, Arbeitszeitverkiirzung, Vergesellschaftung - Altemativen zu Untemehmerstaat und Krisenpolitik, Koln (Pahl-Rugenstein) 1983, S. 339-397.
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Altemativen zur Sichemng kommunaler Finanzstarke, in: Norbert Kostede (Hg.): Die Zukunft der Stadt (rororo aktuell 5025, Reihe Technologic und Politik 21), Reinbek 1983, S. 222-235.
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Kommunale Finanzstarke als Garant dezentraler Selbstverwaltung, in: Regine Roemheld/Heinz Zielinski (Hg.): Kommune im AuflDmch, Frankfiirt am Main/Bem/New York (Verlag P. Lang) 1983, S. 199-214.
10. Ethik und Erwerbsarbeit oder die Abschaffiing des Inhumanen in der Welt der Arbeit, in: Franz Neumann (Hg.): Politische Ethik, Baden-Baden (Signal-Verlag) 1985, S. 189-225. 11. Arbeitsorientierte Umweltokonomie, in: Memorandum '85. Gegen die Unterwerfiing der Arbeit und Zerstomng der Umwelt - Mehr Arbeitsplatze, soziale Sicherheit und Umweltschutz, (hrsg. von der Arbeitsgmppe Altemative Wirtschaftspolitik) Koln (Pahl-Rugenstein) 1985, S. 170-196. 12. Altemative Kommunalpolitik zur Sichemng von qualitativer Beschaftigung und Umwelt, in: Udo Bullmann/Peter Gitschmann (Hg.): Kommune als Gegenmacht, Hamburg (VSA-Verlag) 1985, S. 34-70. 13. Regionale Technologic- und Innovationspolitik, in: Amo BrandtAVolfgang Juttner/Uwe Kremer (Hg.): Wende gegen Bonn. Antikrisenpolitik in Niedersachsen, Hamburg (VSA-Verlag) 1986, S. 129-144. 14. Stichwortbeitrage: Austeritatspolitik, Herrschaft, KlassenbewuBtsein, in: Thomas Meyer u.a. (Hg.): Lexikon des Sozialismus, Koln (Bund-Verlag) 1986. 15. Antithesen zum biirokratischen Kapitalismus, in: Udo BuUmann/Mike Cooley/Edgar Einemann (Hg.): Lokale Beschaftigungsinitiativen. Konzepte, Praxis, Probleme, Marburg (SP-Verlag) 1986, S. 224-242.
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16. Mobilisierung der Innovationspotentiale der Beschaftigten, in: Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik: Memorandum '86. Fiir eine beschaftigungspolitische Offensive, Koln (PRV), 1986, S. 290-295. 17. Altemativen zur Umweltbelastung konventioneller Landwirtschaft, in: Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik: Memorandum '87. Am Beginn des Abschwungs, Koln (PRV) 1987, S. 191-198. 18. Kommunen als Opfer der Steuerreform, in: Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik: Memorandum '88. Im Abschwung: Gegensteuem statt Steuerreform, Koln (PRV) 1988,8.153-160. 19. Kommune, Stichwort in: H. J. Sandkiihler (Hg.): Enzyklopadisches Worterbuch zu Philosophic und Wissenschaften, Hamburg (Felix Meiner) 1990, S. 824-829. 20. Ansatze und Instrumente eines okologisch-sozialen Umbaus, in: Arbeitsgruppe alternative Wirtschaftspolitik: Memorandum '90. Im deutsch-deutschen Umbruch: Vorrang fiir sozialen und okologischen Umbau, Koln (PRV) 1990, S. 177-199 sowie S. 222244 (Herausforderungen, Reaktionen der Politik, betriebliche und kommunale Umweltpolitik). 21. Arbeits- und Umweltprogramme als Strategic kommunalcr Beschaftigungspolitik, in: Memo-Forum, Sonderband 1: Steuerungsprobleme der Wirtschaftspolitik, Tagungsband eines Symposiums an der Wirtschaftsuniversitat Wien, BremenAVien 1990, S. 275-283. 22. Okologischer Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft: Notwendigkeit, Konzepte und Realisierungschancen, in: Bemhard ClauBen u.a. (Hg.): Herausforderungen, Anworten: politische Bildung in den neunziger Jahren (Wolfgang Hilligen zum 75. Geburtstag), Opladen (Leskc + Budrich) 1991, S. 107-124. 23. Regionale Strukturpolitik und Binnenmarkt '93 (zusammen mit Udo Bullmann), in: Umlandverband Frankfiirt (Hg.): Ansichten zur Region, Band 1: Rhein Main auf dem Weg zum Europa der Regionen, Dezember 1991, S. 11-41 (Kurzfassung erschienen in: Frankftirter Rundschau, Dokumentation, 03.05.1991). 24. Reichtum unter der Steuerschraube, in: Emst-Ulrich Huster (Hg.): Reichtum in Deutschland, Frankfiirt am Main/New York (Campus) 1993, S. 85-104 (2. Auflage, erweitert und uberarbeitet 1997, S. 127-157). 25. Rekonstruktion der Wirtschaft Ostdeutschlands? Eine Skizze der Strukturen und Problemlagen, in: Dieter Eifiel (Hg.): Wirtschaftsstandort Ostdeutschland. Bestandsaufnahme und Bedingungen flir den Wiederaufbau, Marburg (Schiiren-Verlag) 1993, S. 14-27.
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26. Einleitung, in: Dieter EiBel (Hg.): Wirtschaftsstandort Ostdeutschland. Bestandsaufnahme und Bedingungen fiir den Wiederaufbau, Marburg (Schiiren-Verlag) 1993, S. 8-13. 27. Disparitat oder Konvergenz im „Europa der Regionen", in: Udo Bullmann (Hg.): Die Politik der dritten Ebene. Regionen im Europa der Union, Baden-Baden (Nomos) 1994,8.45-60. 28. EG-Integration, Politikverflechtung und die demokratische Willensbildung und Mitentscheidung auf dezentraler und regionaler Ebene (zusammen mit Udo Bullmann), in: Hans-Wolfgang Platzer (Hg.): Die Region im europaischen IntegrationsprozeB, Frankfurt am Main (VAS) 1994, S. 25-42. 29. Zwischen Marktdynamik und Solidaritat. Zum Europaweg der deutschen Sozialdemokratie (zusammen mit Udo Bullmann), in: Klaus-Jiirgen Scherer/Heinrich Tiemann (Hg.): Wechsel '94 - Das Regierungsprogramm der SPD in der Diskussion. Wissenschaftlerinnen nehmen Stellung, Marburg (Schiiren) 1994, S. 184-190. 30. Regionalization in Europe. Development, Perspectives and Backgrounds, in: Kaisa Lahteenmaki (ed.): Dimensions of Conflict and Cooperation in the Baltic Sea Rim, Tampere 1994 (TAPRI-Research-Report No. 58), S. 15-36. 31. Problemfelder und Losungskapazitaten in den Kommunen Ostdeutschlands, in: Susanne Benzler/Udo BuUmann/Dieter EiBel (Hg.): Deutschland-Ost vor Ort. Anfange der lokalen Politik in den neuen Bundeslandem, Opladen (Leske + Budrich) 1995, S. 123140. 32. Umwelt und Demokratie, in: Klaus Fritzsche/Gerhard Freiling (Hg.): Konflikte um Ordnung und Freiheit, Pfimgstadt/Bensheim (Edition Ergon) 1995, S. 305-315. 33. Vom Umgang mit der Natur. Philosophische, okonomische und politische Aspekte der politischen Okologie, in: Franz Neumann (Hg.): Handbuch Politische Theorien und Ideologien, Bd. 1, Opladen (UTB) 1995, S. 373-408 (uberarbeitete 2. Auflage, Opladen 1997). 34. Einmischen. Vorschlage zur Wiederbelebung politischer Beteiligung (zusammen mit Thomas Barbian und Werner Nothdurft), in: Hans Eichel (Hg.): Einmischen. Vorschlage zur Wiederbelebung politischer Beteiligung, Frankfurt am Main (VAS) 1996, insb.S. 18-37. 35. Okonomie und lokale Demokratie, in: Johannes Klotz/Heinz Zielinski (Hg.): Chancen und Gefahrdungen foderaler Demokratie. Ein Vergleich zwischen Deutschland und RuBland, Heilbronn (Distel Verlag) 1996, S. 80-90.
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36. Institutional performance as precondition for sustainable development, in: Dieter EiBel/Jeremy Leaman/Ewa Rokicka (eds.): Towards Sustainability. Challenges to the Social Sciences and Local Democracy, Lodz (Absolwent) 1996, S. 9-24. 37. Sustainable development and democracy (zusammen mit Ewa Rokicka) in: Dieter EiBel/Jeremy Leaman/Ewa Rokicka (eds.): Towards Sustainability. Challenges to the Social Sciences and Local Democracy, Lodz (Absolwent) 1996, S. 53-68. 38. La deuxieme vague de cooperation inter-regionale en AUemagne - Les partenariats de la Hesse (zusammen mit Udo Bullmann, Alexander Grasse, Bjom Paeschke, Ralf Sanger und Olga Dobrev), in: Richard Balme (Hg.): Les politiques du neo-regionalisme. Action collective regionale et globalisation, Paris (Economica) 1996, S. 133-167. 39. Public participation and regional modernization, in: Institut ftir Gesellschafts- und Sozialpolitik (Hg.): Democratisation Processes in Europe, Arbeitsberichte zu Politik und Gesellschaft Nr. 3, Linz 1997, S. 74-81. 40. Burgerbeteiligung und strategische Politiknetzwerke in der kommunalen Umweltpolitik, in: Klaus Lange (Hg.): Gesamtverantwortung statt Verantwortungsparzellierung im Umweltrecht, Baden-Baden (Nomos) 1997, S. 169-190. 41. Private Wealth and Public Poverty, in: Institut fur Gesellschafts- und Sozialpolitik, (Hg): Democratisation Processes in Europe, Arbeitsberichte zu Politik und Gesellschaft Nr. 3, Linz 1997, S. 41-46. 42. Kommunale Netzwerke als neue Formen konzertierter Aktion, in: Johannes Klotz/Heinz Zielinski (Hg.): Europa 2000. Lokale Demokratie im Europa der Regionen, Heilbronn (Distel Verlag) 1999, S. 171-190. 43. Foderalismus und Regionalismus in Deutschland (in chinesischer Ubersetzung), in: Reimund Seidelmann (Hg.): Deguo Zheng Zhi Gai Kuang (Die Bundesrepublik Deutschland. Ein politisches Portrat), Shanghai (Academia Press) 1999, S. 69-84. 44. Lohn- und Sozialabbau zur Sicherung des Standorts Deutschland?, in: Adalbert Evers (Hg.): Sozialstaat, GieBen (Ferber) 1998 (Reihe GieBener Diskurse, hrsg. vom Universitatsprasidenten, Bd. 16), S. 158-190. 45. Theorie und Praxis der Biirgerlnnenbeteiligung und Vemetzung lokaler Akteure, in: Berthold Dietz/Dieter EiBel/Dirk Naumann (Hg.): Handbuch Kommunale Sozialpolitik, Opladen (Leske + Budrich) 1999, S. 127-138. 46. Kommunale Haushalts- und Finanzpolitik, in: Berthold Dietz/Dieter EiBel/Dirk Naumann (Hg.): Handbuch Kommunale Sozialpolitik, Opladen (Leske + Budrich), S. 8598.
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47. Okonomische Aspekte und Finanzierungsmoglichkeiten des Bildungsbereichs, in: GEW (Hg.): Bildung sichem, Frankfurt am Main 1998, S. 141-153. 48. Offentliche Armut, privater Reichtum und der Stellenwert der Bildung in Deutschland, in: Marek Neumann-Schonwetter/Alexander Renner/Ralph C. Wildner (Hg.): Anpassen und Untergehen. Beitrage zur Hochschulpolitik, Marburg (BdWi-Verlag) 1999, S. 57-68. 49. Globalisierung und neoliberale Politik - Anmerkungen zur einseitigen Debatte iiber den Standort Deutschland, in: Freie AG Hochschulpolitik Marburg (Hg.): Globalisierung und Bildung. Hochschulfinanzierung im Kreuzfeuer, Marburg (BdWi-Verlag) 1998, S. 9-56. 50. Politik im Zeichen des Turbokapitalismus, in: Georgia Rakelmann (Hg): Bewegung, GieBen (focus) 1999, S. 45-71. 51. Strategische Netzwerke in der Kommunalpolitik, in: Heinz Zielinski (Hg): Die Modemisierung der Stadte, Wiesbaden (DUV) 2000, S. 175-194. 52. Verteilungsgerechtigkeit, in: Wolfgang Belitz/Ursula Riekenbach/Erich Schriever (Hg.): Spurensuche Reichtum, Beitrage und Arbeitsmaterialien zur Situation in Deutschland, Witten 2000, S. 71-79. 53. EU Membership Criteria and the Applicant Countries, in: Peter G. Xuereb (ed.): Challenges and Change, Malta (EDRC) 2000, S. 29-45. 54. Distribution-policy in the Kohl Era. The Impact of Neo-Liberalism on Wealth and Poverty in Germany, in: Instytut Socjologii Uniwerytet Lodzki (Hg.): Ryzyka transformacji systemowej Lodz (Asolwent) 2000, S. 285-300. 55. Regional'naja politika v Evropejskom Sojuze (ES). Celi, Itogi, Perspektivy (zusammen mit Alexander Grasse), in: Hans-Heinrich Nolte/Alexander Sadokhin (Hg.): Evropejskie Vnutrennie Periferii v XX stoletii. Sbomik nauchnykh rabot, Kaluga (Kaluzhskij gosudarstevennyj pedagogicheskij universitet imeni K.E. Ciolkovskogo) 2001, S. 125-149. 56. Reformy niemieckiego szkolnictwa wyzszego w latach 90-tych. W kierunku intemacjonalizacji i konkurencyjnosci (zusammen mit Alexander Grasse), in: Wielislawa Warzywoda-Kruszynska/Ewa Rokicka (Hg.): Uniwersytety w procesie zmian, Lodz (Absolwent) 2001,8.31-59. 57. Regionalpolitik in der Europaischen Union. Ziele, Ergebnisse und Perspektiven (zusammen mit Alexander Grasse), in: Hans-Heinrich Nolte (Hg.): Innere Peripherien in Ost und West, Stuttgart (Franz Steiner Verlag) 2001, S. 33-50.
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58. Ziele und Widerstande einer Besteuerung der Reichen, in: Jorg Stadlinger (Hg.): Reichtum heute, Munster (Verlag Westfalisches Dampfboot) 2001, S. 107-123. 59. Reichtum in okonomischen Theorien, in: Emst-Ulrich Huster/Fritz Riidiger Volz (Hg.): Theorien des Reichtums, Miinster/Hamburg/London (Lit) 2002, S. 179-212. 60. Einkommens- und Vermogensverteilung. Argumente gegen eine wachsende Schieflage, in: Kai Eicker-Wolf u.a. (Hg.): Deutschland auf den Weg gebracht. Rot-gnine Wirtschafts- und Sozialpolitik zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Marburg (Metropolis-Verlag) 2002, S. 87-124. 61. Blauer Brief fiir falsche Wirtschaftspolitik - Kurswechsel fur Arbeit und Gerechtigkeit, in: Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (Hg.): Memorandum 2002, Koln (Papyrossa Verlag) 2002 (Mitarbeit, insbes. Kap. 2: Ungleichheit als Programm - Empiric und Theorie), S. 62-80. 62. Stichwortbeitrage in: Hanno DrechslerAVolfgang Hilligen/Franz Neumann (Hg.): Gesellschaft und Staat, Lexikon der Politik [www.lexikon-der-politik.de], Mitarbeit seit der 3. Auflage; Beitrage zur 10. iiberarbeiteten Fassung 2003 zu den Stichworten: Abfallwirtschaft, Berufsausbildung, Berufswahl, Bildungsokonomie, DDR, deutschdeutsche Beziehungen, Eigentum, Erasmus-Programm, Globalisierung, Jugendarbeitslosigkeit, Klimaschutzpolitik, Lohnstuckkosten, Naturschutz, Okosozialprodukt, Rationalisierung, Reaganomics, Thatcherismus, Umweltschutzpolitik, Verkehrspolitik, Wohnungsbau. 63. Sicherung des Sozialstaats statt neoliberaler Demontage, in: Dieter EiBel/Jurgen Borchert (Hg.): Biirgerversicherung jetzt. Gegen den marktradikalen Kahlschlag in der Sozialpolitik, Frankfiart am Main 2004, S. 11-68. 64. Wider den neoliberalen Zeitgeist, in: Antonia Grunenberg (Hg., unter Mitarbeit von Sabine Falke und Daniel Schubbe): Einspriiche: Politik und Sozialstaat im 20. Jahrhundert. Festschrift fiir Gerhard Kraiker, Hamburg 2005, S. 207-230. 65. Wiederherstellung einer angemessenen Besteuerung der Wohlhabenden. Eine soziale und konjunkturpolitische Notwendigkeit, in: Kirchlicher Herausgeberkreis, Jahrbuch Gerechtigkeit (Hg): Armes reiches Deutschland, Frankfiirt am Main/Oberursel 2005 (Publik-Verlag, Frankfiirter Rundschau), S. 157-165. 66. Steigende Armut - kein Handlungsbedarf? Zweiter Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (zusammen mit Carmen Ludwig) in: Forum Wissenschaft (Hg. BdWi), Sept. 2005, S. 51-55. 67. Research on the intergenerational transmission of inequalities and policy responses in Germany, in: Wielislawa Warzywoda-Kruszynska (Hg.): European Studies on Inequalities and Cohesion, No. 2/2005 (Lodz University Press), S. 49-89.
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68. Verteilungspolitik im Zeichen des Neoliberalismus, in: Kathrin Ruhl/Jan Schneider/Jutta Trager/Claudia Wiesner (Hg.): Demokratisches Regieren und politische Kultur, Miinster/Hamburg/London (Lit-Verlag) 2006, i.E. 69. The Vertical Dimension of Democracy and Development: Federalism, Regionalisation and Local Autonomy - Lessons learned from Europe (zusammen mit Alexander Grasse), in: Bob Hadiwinata/Christoph Schuck (Hg.): Democracy in Indonesia: Challenges of Consolidation, Baden-Baden (Nomos) 2006, i.E. Themenhefte/Lehrmaterialien 1.
Steuerreform, Wochenschau-Themenheft, Sek. II, Heft 6/1988, Schwalbach im Taunus (Wochenschau Verlag), S. 210-250.
2.
Armut - Reichtum (zusammen mit Ernst Ulrich Huster), Wochenschau-Themenheft, Sek. II, Heft Marz/April 1997, Schwalbach im Taunus (Wochenschau Verlag), S. 55102.
3.
Arbeitsmarktpolitik, Wochenschau-Themenheft, Sek. II, Heft Marz/April 1995, Schwalbach im Taunus (Wochenschau Verlag), S. 53-100.
4.
Armut - Reichtum, Wochenschau-Themenheft, Sek. II, vollig uberarbeitete und erweiterte Neuausgabe, Doppelheft Juli-Oktober 2002, Schwalbach im Taunus (Wochenschau Verlag); plus Wochenschau Methodik.
5.
Arbeitsmarktpolitik, Wochenschau-Themenheft, Sek. II, Heft 6, Nov./Dez. 2003, Schwalbach im Taunus (Wochenschau Verlag), S. 227-266; plus Wochenschau Methodik, Heft 6/2003, S. 7-12.
6.
National- und Wohlfahrtsstaat. Herausforderungen und Perspektiven, hrsg. vom Fachhochschul-Femstudienverbund der Lander, Berlin 1999 (Studienbrief 2-020-0301) (58 S.), 2. iiberarbeitete Fassung, Berlin 2003.
Publizierte Gutachten/wissenschaftliche Berichte 1.
Anforderungen und Moglichkeiten der Wirtschafts- und Beschaftigungspolitik im Kreis GieBen (Gutachten im Auftrag des Landrats), GieBen 1988 (78 S.).
2.
Altenplan der Stadt GieBen, Gutachten im Auftrag der Stadt GieBen, GieBen 1989 (350 S.).
3.
Wirtschaftsfbrderung und Beschaftigungspolitik im Lahn-Dill-Kreis. Gutachten im Auftrag der Gesellschaft flir Wirtschaftsforderung, Ausbildungs- und Beschaftigungsinitiativen, Wetzlar/GieBen 1990 (82 S.).
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4.
Hausliche Pflege in GieBen. Analysen des Angebots der sozialen Dienste und der Lebenslagen pflegender Angehoriger (hrsg. zusammen mit Peter Gitschmann, unter Mitarbeit der Projektgruppe Altenplan) GieBen 1991 (75 S.).
5.
Armutsbericht der Stadt GieBen (unter Mitarbeit von Josef Bardelmann und Berthold Dietz), GieBen 1993 (90S.).
6.
Das Bildungswesen in Hessen und seine offentliche Finanzierung in den neunziger Jahren. Gutachten fiir den Landesverband Hessen der GEW, Frankfort 1996 (52 S.).
7.
Reichtumsgrenzen for empirische Analysen der Vermogensverteilung, Instrumente for den staatlichen Umgang mit groBen Vermogen, okonomische, soziologische und ethische Beurteilung groBer Vermogen (zusammen mit Emst-Ulrich Huster, unter Mitarbeit von JUrgen Boeckh), Erganzungsbericht zum Armuts- und Reichtumsbericht, hrsg. vom Bundesministerium for Arbeit und Sozialordnung (BMAS), Berlin, August 2001 (108 S.).
8.
Armut als Bedrohung. Der soziale Zusammenhalt zerbricht. Ein Memorandum, hrsg. von der Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (Mitarbeit), Hannover (Offizin-Verlag) 2002 (120 S.).
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Bacher, Johann Dr., geb. 1959, Soziologe, Univ.-Professor an der Johannes Kepler Universitat Linz, Arbeitsschwerpunkte: Methoden der empirischen Sozialforschung, Sozialstrukturanalyse und Ungleichheitsforschung, Soziologie der Familie, Kindheit und Jugend. Backer, Gerhard Dr., geb. 1947, Sozialwissenschaftler, Professor an der Universitat Duisburg-Essen, seit 2005 Dekan des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften, Arbeitsschwerpunkte: Soziologie des Sozialstaates (soziale Probleme, Lebenslagen und Lebensverlaufe), Sozialstaat und Sozialpolitik in Deutschland und Europa, Theorie, Empirie und Geschichte des Wohlfahrtsstaates, okonomische Grundlagen und Finanzierung. Benz, Benjamin Dr., geb. 1973, Politikwissenschaftler und Dipl.-Sozialarbeiter (FH), Referent des familienpolitischen Fachverbandes Zukunftsforum Familie e.V. (Bonn/Berlin) und Lehrbeauftragter an der Ev. Fachhochschule RWL (Bochum), Arbeitsgebiete: Sozial-, Familien- und Europapolitik. Birckenbach, Hanne-Margret Dr., geb. 1948, Politikwissenschaftlerin, Jean Monnet-Professorin an der Justus-LiebigUniversitat GieBen, Arbeitsgebiete: Europastudien, Transformationsforschung, Osteuropa, Friedens- und Konfliktforschung. Boeckh, Jiirgen Dr., geb. 1966, Politikwissenschaftler und Sozialarbeiter, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut fiir Sozialarbeit und Sozialpolitik Frankftirt, Arbeitsgebiete: Europaische und deutsche Sozialpolitik (Soziale Sicherung, Verteilungspolitik, Soziale Ausgrenzung), Entwicklung sozialer Dienste (Netzwerk- und Sozialraumorientierung). BuUmann, Udo Dr., geb. 1956, Politikwissenschaftler, Mitglied des Europaischen Parlaments, Arbeitsgebiete: Wirtschaft und Wahrung, Beschaftigung und soziale Angelegenheiten. Butterwegge, Christoph Dr., geb. 1951, Professor an der Universitat zu Koln, Leiter der Abteilung fur Politikwissenschaft, Arbeitsgebiete: Globalisierung, Sozialstaatsentwicklung, Generationengerechtigkeit und demographischer Wandel, (Kinder-)Armut, Rechtsextremismus, Rassismus und (Jugend-)Gewalt, Massenmedien, Migration und Integration.
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Dietz, Berthold Dr., M.A., geb. 1967, Sozialwissenschaftler, Professor an der Evangelischen Fachhochschule Freiburg, Arbeitsgebiete: Allgemeine Soziologie und Sozialpolitik, Armut, Sozialstaatstheorien und -entwicklung, demographischer Wandel, kommunale und interkommunale Familien- und Sozialplanung. Erb, Gottfried Dr., geb. 1931, Politikwissenschaftler, Professor i.R., Institut fur Politikwissenschaft der Justus-Liebig-Universitat GieBen, mehrere Jahre Mitherausgeber und Redakteur der Frankfurter Hefte, Arbeitsgebiete: Internationale Beziehungen, Wirtschafts-, Sozial- und Steuerpolitik der BRD. Evers, Adalbert Dr., geb. 1948, Politikwissenschaftler, Professor an der Justus-Liebig-Universitat GieBen, Arbeitsgebiete: Sozialpolitik, soziale Dienste, Dritter Sektor, Zivilgesellschaft, Demokratie und Governance. Fritzsche, Klaus Dr., geb. 1940, Politikwissenschaftler, Professor an der Justus-Liebig-Universitat GieBen, Arbeitsschwerpunkte: Politische Philosophien, politische Theorien der Neuzeit, Geschichte und Theorien der Arbeiterbewegung, Konservatismus, Rechtsradikalismus, Faschismus, Politische Ideologien und Vorurteile. Grasse, Alexander Dr. habil., geb. 1968, Politikwissenschaftler, Professore a contratto im Rahmen eines DAAD-Fachlektorats an der Fakultat fur Politikwissenschaften der Universitat Mailand, Arbeitsgebiete: Multi-level Governance, regionale Modemisierungspolitik, Foderalismus, Wirtschaft, Steuem und Finanzen, europaische Integration, vergleichende Analyse politischer Systeme, Institutionen- und Steuerungspolitik. Hengsbach, Friedhelm SJ. Dr. oek., geb. 1937, emeritierter Professor flir Christliche Gesellschaftsethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main, Leiter des Oswald von Nell-Breuning Instituts fiir Wirtschafts- und Gesellschaftsethik, Arbeitsgebiete: Zukunft der Arbeitsgesellschaft, Solidarische Absicherung gesellschaftlicher Risiken, Politische Wirtschaftsethik, Demokratiefahiger Kapitalismus. Henkenborg, Peter Dr., geb. 1955, Professor ftir Didaktik der Politischen Bildung/Gemeinschaftskunde an der Technischen Universitat Dresden, Arbeitsgebiete: Theorie der Politischen Bildung, empirische Fachunterrichtsforschung, Demokratie-Lemen, Anerkennungskulturen in der Politischen Bildung.
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Hickel, Rudolf Dr., geb. 1942, Wirtschaftswissenschaftler, Professor an der Universitat Bremen, Direktor des Instituts Arbeit und Wirtschaft (IAW), Arbeitsgebiete: Makrookonomische Theorie, Finanzwissenschaft (insbesondere Staatsfiinktionen, Steuersystem, Staatsverschuldung), Finanzbeziehungen im foderalen Bundesstaat mit dem Schwerpunkt Stadtstaaten. Huffschmid, Jorg Dr., geb. 1940, Wirtschaftswissenschaftler, Professor i.R., Universitat Bremen, Mitglied der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik und der Euromemorandum-Gruppe, Arbeitsgebiete: Wirtschaftspolitik, europaische Integration, Finanzmarkte. Huster, Ernst-Ulrich Dr., geb. 1945, Politikwissenschaftler, Professor an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Dozent an der Justus-Liebig-Universitat GieBen, Arbeitgebiete: Sozial- und Verteilungspolitik im nationalen und europaischen Kontext, Sozialethik und Politische Soziologie. Kafiebaum, Bernd Dr., geb. 1955, Gewerkschaftssekretar, IG Metall, Vorstand, Funktionsbereich Gewerkschaftliche Bildungsarbeit/Bildungspolitik, Arbeitgebiete u.a.: Bologna-ProzeB, Arbeitskreis Schule und Arbeitswelt. Leaman, Jeremy Dr., geb. 1947, Politokonom, Senior Lecturer an der Universitat Loughborough, Arbeitsgebiete: Politische Okonomie Europas, Deutschlands, GroCbritanniens, Geldpolitik, Steuerpolitik, Arbeitsmarktpolitik, Sozialpolitik (Armut). Loheide, Johannes Diplom-Sozialwissenschaftler, geb. 1971, Wissenschaftlicher Referent eines Europaabgeordneten, Arbeitsgebiete: Wirtschafts- und Regionalentwicklung, Europaische Wirtschaftsund Sozialpolitik. Ludwig, Carmen M.A., geb. 1975, Sozialwissenschaftlerin, Justus-Liebig-Universitat GieBen, Arbeitsgebiete: Armut, Sozialstrukturanalyse und Ungleichheitsforschung, generationsubergreifende Aspekte sozialer Benachteiligung, Biographieforschung. Papastratis, Procopis Dr., Historiker, geb. 1945, Associate Professor an der Panteion Universitat Athen, Arbeitsgebiete: Politische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (Schwerpunkt Balkan und Europa) sowie Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte. Rokicka, Ewa Dr., geb. 1950, Soziologin, Professorin an der Universitat Lodz, Arbeitsgebiete: Soziale Ungleichheitsforschung, Sozialstrukturanalyse und Soziale Mobilitat.
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Ruppert, Uta Dr., geb. 1961, Professorin fur Politikwissenschaft und Politische Soziologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universitat Frankfurt/M., Direktoriumsmitglied des ZIAF, Direktorin im Comelia-Goethe-Centrum, Mitglied im DFG-GraduiertenkoUeg „Offentlichkeiten und Geschlechterverhaltnisse", Arbeitsschwerpunkte: Entwicklungslander- und Geschlechterforschung, Lokalisierungen von Demokratie in Afrika, Feministische Theorie Intemationaler Beziehungen. Schliiter, Elmar Diplom-Soziologe, geb. 1976, Doktorand im DFG-Graduiertenkolleg „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit: Ursachen, Phanomenologie, Konsequenzen" der Universitaten Marburg und Bielefeld. Schmidt, Peter Dr., geb. 1942, Politikwissenschaftler und Soziologe, Professor an der Justus-LiebigUniversitat Giefien, Arbeitsgebiete: Methoden der empirischen Sozialforschung, Statistik, Modellierung und Erklarung von Verhalten in sozialen Kontexten, Anwendung von Strukturgleichungsmodellen, Wandel und Stabilitat nationaler Identitat. Schratzenstaller, Margit Dr., geb. 1968, Okonomin, Referentin fur Budget- und Steuerpolitik am Osterreichischen Institut fiir Wirtschaftsforschung (WIFO), Arbeitsgebiete: Budget- und Steuerpolitik, Internationaler Steuerwettbewerb, Fiskalischer Foderalismus, Gender Budgeting. Seidelmann, Reimund Dr., geb. 1944, Professor flir Internationale Beziehungen und AuBenpolitik an der Universitat GieBen sowie fiir Politikwissenschaft am Institut d'Etudes Europeennes der Universite Libre de Bruxelles, Honorarprofessor der Renmin Universitat Beijing (China) sowie der Universitas Katolik Parahyangan Bandung (Indonesien), Arbeitsgebiete: Theorie der Internationalen Beziehungen, Friedens-, Sicherheits- und Konfliktforschung, Transformation, Internationale Parteienkooperation. Stelzer-Orthofer, Christine Dr., geb. 1959, Studium der Sozialwirtschaft, Ass.-Professorin am Institut fur Gesellschafts- und Sozialpolitik der Johannes Kepler Universitat Linz, Arbeitsgebiete: Wohlfahrtsstaatsforschung, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Trager, Jutta Diplom-Sozialwissenschafllerin, geb. 1968, Justus-Liebig-Universitat GieBen, Arbeitsgebiete: Arbeits- und Sozialpolitik, Europapolitik, Empirische Sozialforschung, Evidence Based Policy. Warzywoda-Kruszynska, Wielislawa Dr., geb. 1944, Soziologin, Professorin an der Universitat Lodz, Direktorin des Instituts flir Soziologie, Arbeitsgebiete: Soziale Ungleichheitsforschung, Soziologie der Armut, Sozialpolitik und Familiensoziologie.
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Wiesner, Claudia M.A., geb. 1971, Politik- und Wirtschaftswissenschaftlerin, Justus-Liebig-Universitat GieBen, Arbeitsgebiete: Europaische Integration, Politische Theorie, Wirtschafts- und Sozialpolitik. Winkelnkemper, Phillip Student der Sozialwissenschaften, geb. 1976, studentische Hilfskraft im Projekt „Citizenship" der German-Israeli Foundation (GIF) am Institut fur Politikwissenschaft der Universitat GieBen bei Professor Peter Schmidt. Wolf, Carina Diplom-Psychologin, geb. 1977, Doktorandin im DFG-Graduiertenkolleg „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit: Ursachen, Phanomenologie, Konsequenzen" der Universitaten Marburg und Bielefeld. Zinn, Karl Georg Dr., geb. 1939, emeritierter Universitatsprofessor der Volkswirtschaftslehre der RheinischWestfalischen Technischen Hochschule Aachen, Arbeitsgebiete: Makrookonomie, Geschichte der politischen Okonomie, soziokulturelle Dimensionen der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik.
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