MARBURGER THEOLOGISCHE STUDIEN
DIE BLEIBENDE GEGENWART DES EVANGELIUMS FESTSCHRIFT für
OTTO MERK
N. G. ELWERT VERLAG MARBURG
MARBURGER THEOLOGISCHE STUDIEN
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begründet von
Hans Graß und Werner Georg I<ümmel
herausgegeben von
Wilfried Härle und Dieter Lührmann
N. G. ELWERT VERLAG MARBURG 2003
DIE BLEIBENDE GEGENWART DES EVANGELIUMS Festschrift für Otto Merk zum 70. Geburtstag
herausgegeben von
Roland Gebauer und Martin Meiser
N. G. ELWERT VERLAG MARBURG 2003
Bibliografische Infonnation Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrutbar. ISBN 3-7708-1232-8
© by N. G. Elwert Verlag Marburg 2003 Printed in Germany Satz/Layout: Roland Gebauer
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort ................................................................................................................ VII
Hans-Christoph Schmitt Redaktion und Tradition in Ex 3,1-6. Die Berufung des Mose und der "Elohist" ...................................................................................................... 1
Eve-Marie Becker "Kamelhaare ... und wilder Honig". Der historische Wert und die theologische Bedeutung der biographischen Täufer-Notiz (Mk 1,6)....................... 13
Wolfgang Kraus Das jüdische Evangelium und seine griechischen Leser. Zum lukanischen Verständnis der Passion J esu ............................................................... 29
Markus Müller Die Hinrichtung des Geistträgers. Zur Deutung des Todes Jesu im lukanischen Doppelwerk ........................................................................................ 45
Michael Labahn Der Weg eines Namenlosen - vom Hilflosen zum Vorbild Goh 9). Ansätze zu einer narrativen Ethik der sozialen Verantwortung im vierten Evangelium ............................................................................................ 63
Hyon Suk Hwang Das Leiden der Schöpfung und der Friede der Neuschöpfung (Röm 8,18-30). Ein biblisch-theologischer Beitrag aus koreanischer Perspektive. .................................................................................. 81
Eduard Lohse Apostolische Ermahnung in Röm 16,17-20.......................................................... 101
Udo Schnelle Die Begründung und die Gestaltung der Ethik bei Paulus......................... :.......... 109
Oda Wischmeyer Paulus als Autor ............................................ ;.................................................... ,.. 133
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Inhaltsverzeichnis
Roland Gebauer Der Kolosserbrief als Antwort auf die Herausforderung des Synkretismus ......... 153
Martin Karrer 2 Thess 2,1-4 und der Widersacher Gottes ........................................................... 171
Theo K. Heckel Die Traditionsverknüpfungen des Zweiten Petrusbriefes und die Anfänge einer neutestamentlichen biblischen Theologie .................................................... 189
Reinhard Feldmeier Das Lamm und die Raubtiere. Tiermetaphorik und Machtkonzeptionen im Neuen Testament ............................................................................................. 205
Martin Meiser Das Christentum und die Herausforderungen der griechisch-römischen Antike .................................................................................................................... 213
Jürgen Roloff Der Biblische Kanon als Orientierungs größe neutestamentlicher Exegese. Neun Thesen ......................................................................................................... 235
Ferdinand Hahn Eine religionswissenschaftliche Alternative zur neutestamentlichen Theologie? Ein Gespräch mit Heikki Räisänen .................................................... 243
Wo/fgang Wischmeyer Ein magisches Kreuz. Bemerkungen zu I Kourion 202 ......................................... 255
Gerhard Müller Die Auferweckung des Lazarus in der Auslegung Martin Luthers und Rudolf Bultmanns .......................................................................................... 263
Manfred Seitz Die Bedeutung des christlichen Glaubens für die Persönlichkeitsbildung............ 281
Erich Gräßer Kennen wir Jesus? Predigt über Mk 8,27-29 ......................................................... 293
Berthold Mengel Heimkehr. Ein interdisziplinäres Gespräch .......................................................... 299 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ............................................................ 321
VORWORT
Sehr verehrter, lieber Herr Professor Merk, in Freude und Dankbarkeit schauen wir gemeinsam mit Ihnen am 10. Oktober 2003 auf den gradlinigen Fortgang eines unermüdlichen Gelehrtenleb~ns im Dienst von Universität und Kirche. Als Lehrer, Kollege und Freund haben Sie uns in stets liebenswürdiger Weise an Ihrem immensen Wissen und theologischen Denken teilhaben lassen. Wir gratulieren Ihnen von Herzen und wünschen Ihnen Gottes Segen und weiterhin eine ungebrochene Schaffenskraft für all das, was Sie sich insbesondere als Exeget und Theologe vorgenommen haben. Eine Festschrift ist immer auch der Spiegel des Wirkens des in ihr Geehrten. So nimmt schon der Titel "Die bleibende Gegenwart des Evangeliums" auf eine Formulierung aus Ihrer Feder Bezug, versucht aber zugleich wesentliche Anliegen Ihrer theologischen Existenz aufzunehmen, denn die bleibende Gegenwart des Evangeliums ist Ihnen Zuspruch und Aufgabe im unauflöslichen Ineinander. Sie ist Zuspruch und Gewißheit: Das Heil, das Gott bereitet, liegt uns als Geschenk voraus. Seit Ihrer Dissertation "Handeln aus Glauben" literarisch greifbar ist Ihre Grundüberzeugung, daß die Tat Gottes in Jesus Christus "als Voraussetzung christlichen Seins und Handeins" zu begreifen ist, daß der Glaube aus der empfangenen Heilstat lebt und daß darin ein unumkehrbares Gefälle zwischen Ursache und Folge besteht. Die Gewißheit der bleibenden Gegenwart des voraussetzungs-, aber nicht folgenlosen Evangeliums entläßt uns freilich nicht aus der Aufgabe seiner Vergegenwärtigung in immer wieder neue kulturelle Horizonte, sondern führt geradewegs in sie hinein. Hierin hat Neutestamentliche Wissenschaft wesentlich ihre theologische Dimension, deren Vernachlässigung der Kirche wie der Theologie nur zum Schaden gereichen kann. Ihre hart am Text bleibenden exegetischen Beiträge erinnern ebenso wie Ihre Veröffentlichungen zur neutestamentlichen Wissenschaftsgeschichte daran, daß "die Auslegung der biblischen Zeugnisse unsere uns vordringlichst angehende Aufgabe bleibt". Diese theologische Dimension der neutestamentlichen Wissenschaft ist der eigentliche Wurzelboden für Ihr nicht nur verbal bekundetes, sondern auch in die Tat umgesetztes Anliegen, das kirchliche Bezugsfeld der Theologie wahrzunehmen. Folgerichtig zielen einige Themen Ihres akademischen Unterrichts unmittelbar auf Begründung und auch Gestaltung kirchlicher wie persönlicher religiöser Praxis.
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Vorwort
Einiges von diesen Aspekten versuchen die Beiträge dieser Festschrift aufzunehmen. Wir danken den Autorinnen und Autoren für ihre vielfältigen Widerspiegelungen dessen, was dem Jubilar stets als Anliegen vor Augen steht, in Aufnahme und - gelegentlich kritischem - weiteren Bedenken. Diese Festschrift hätte nicht ohne namhafte Druckkostenzuschüsse entstehen können. So ist es uns gerade im Zeichen der allerorts spürbaren Finanzknappheit ein aufrichtiges Anliegen, der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Bayern ebenso den verbindlichsten Dank auszusprechen wie der Zantner-Busch-Stiftung, Erlangen. Beide Institutionen haben auf diese Weise den vielfältigen und langjährigen Dienst des Jubilars in Ausbildung, Prüfungswesen und akademischer Selbstverwaltung für Kirche und Universität gewürdigt. Ebenso bedanken wir uns bei Prof. Dr. W. Härle, Heidelberg, und Prof. Dr. D. Lührmann, Marburg, für die Aufnahme dieses Bandes in die Reihe "Marburger Theologische Studien" sowie bei den Mitarbeitern von Prof. Dr. Härle für alle im Zusammenhang mit der Erstellung der Festschrift geleistete Arbeit. Im Oktober 2003 Roland Gebauer
Martin Meiser
Die Texte sind nach den Regeln der "alten" Rechtschreibung verfaßt. Damit tragen wir dem Sprachgefühl besonders der älteren Generation Rechnung, deren Vertreter ihre Beiträge nahezu geschlossen in der genannten Weise vorgelegt haben - in der Hoffnung, damit auch dem Sprachempfinden des Jubilars entgegengekommen zu sein.
Hans-Christoph Schmitt REDAKTION UND TRADITION IN EX 3,1-6 Die Berufung des Mose und der "Elohist"
1 Zum Verhältnis von Redaktion und Tradition in der Redaktionskritik
In seinem Artikel "Redaktionsgeschichte / Redaktionskritik 11. Neues Testament"l stellt Otto Merk die unterschiedlichen Verständnisse von "Redaktionskritik" in der neutestamentlichen Forschung des vergangenen 20. Jahrhunderts dar und plädiert dabei für ein Verständnis von Redaktionsgeschichte, in der synchrone und diachrone Textanalysen sich gegenseitig methodisch kontrollieren2: "Jener Ansatz aber, der vom Primat der ,Synchronie' ausgeht und zur ,Diachronie' weiterführt, erfüllt die Aufgabe der sich durch Interpretation und Rekonstruktion methodisch kontrollierenden historisch-kritischen Exegese." Merk betont, daß hierbei "von der Endgestalt her in die Tiefe gebohrt wird, Traditionen eruiert, vorliterarische Stufen bzw. Schichten abgetragen werden und solcher ,Rückwärtsgang' zugleich den Aufbau, das Werden ermittelt, das schließlich im vorliegenden Zeugnis seinen Niederschlag - gegebenenfalls auch Umprägung und Neuprägung - gefunden hat"3. Angesichts der Überbetonung der mündlichen Überlieferung in der alttestamentlichen Exegese der Mitte des 20. Jahrhunderts ist in der neueren redaktionsTRE 28, 1997, 378-384. Ebd., 382. Demgegenüber fragt die "Traditionsgeschichte" nach "dem Werdegang und der Gestalt eines Textes sowohl in seiner mündlichen Phase als auch in schriftlichen Vorformen auf vorredaktioneller Ebene" (0. MERK, Art. Traditionskritik / Traditionsgeschichte II. Neues Testament, TRE 33, 2002, 744-750, bes. 747 [in Aufnahme von U. SCHNELLE, Einführung in die neutestamentliche Exegese, Göttingen 52000, 125]). 3 Merk, Redaktionsgeschichte (s. Anm. 1), 379; vgl. ähnlich für das Alte Testament O. KAISER, in: G. Adam / O. Kaiser / W. G. Kümmel / O. Merk, Einführung in die exegetischen Methoden, Gütersloh 2000, 51-55. Im gleichen Sinne hat auch R. G. KRATZ, Art. Redaktionsgeschichte / Redaktionskritik 1. Altes Testament, TRE 28, 1997,367-378, bes. 371, gefordert, daß sich "in der Redaktionsgeschichte die Literarkritik mit der Überlieferungsgeschichte zu versöhnen" habe. Auch weist er darauf hin, daß "schon die Abfassung der Quellenschriften lediglich Literaturwerdung der vorausgehenden Überlieferungsgeschichte und also die Tätigkeit von ,Redaktoren' war", wobei es allerdings nicht sinnvoll sei, zwischen "Autor" und "Redaktor" und zwischen "Komposition" und "Redaktion" zu unterscheiden (372; aI).ders G. Fohrer / H. W. Hoffmann / F. Huber / L. Markert / G. Wanke, Exegese des Alten Testaments, Heidelberg 51989,139-147). I
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Hans-Christoph Schmitt
geschichtlichen Forschung am Alten Testament eine meines Erachtens ungerechtfertigte Zurückhaltung in Hinblick auf den Traditionsbezug der "Redaktoren" bzw. der "Autoren" der alttestamentlichen Texte zu beobachten. Dadurch werden zentrale Zusammenhänge der alttestamentlichen Überlieferung oft erst auf exilisch-nachexilische "Redaktoren" zurückgeführt. Die Klärung der Frage, inwiefern diese Zusammenhänge sich bereits vorexilischen Vorlagen und Überlieferungen verdanken, tritt zurück. Das "Werden", das "im vorliegenden Zeugnis seinen Niederschlag... gefunden hat", wird somit nicht mehr hinreichend deutlich.
2 Die Spätdatierung des Berichts über die Moseberufung in Ex 3,lff in der neueren Forschung Dies zeigt sich in besonderer Weise bei der Auslegung der Erzählung von der Moseberufung in Ex 3,lff in der neueren redaktionsgeschichtlichen Forschung4 • Dabei hat vor ~llem Konrad Schmids die These aufgestellt, daß es sich bei der Erzählung von der Berufung des Mose in Ex 3,1-4,18 insgesamt um einen nachpriesterschriftlichen Einschub in die priesterschriftliche Exoduserzählung handelt, der die priesterschriftliche Beschreibung der Unterdrückung der Israeliten durch die Ägypter und die Erhörung des Schreiens der Israeliten durch Gott in 2,23aß-25 voraussetze. Genauso wie die nachpriesterliche Darstellung des "Abrahambundes" in Gen 15 vor den priesterschriftlichen "Abrahambund" von Gen 17 gestellt wurde, so habe auch hier der nachpriesterliche Redaktor seine "Moseberufung" vor die der Priesterschrift von Ex 6 plaziert. Nun kann Konrad Schmid zwar wahrscheinlich machen, daß innerhalb von Ex 3f in Ex 4,1-17 ein nachpriesterschriftlicher Text vorliegt 6• Zum einen hat sich die Ex 4,1ff bestimmende "Glaubens"-Thematik als typisch für eine nachpriesterschriftliche Redaktionsschicht erwiesen, die wahrscheinlich Pentateuch und Deuteronomistisches Geschichtswerk umschließe. Vor allem aber ist die Einführung 4 Vgl. hierzu u. a. auch J. C. GERTZ, Tradition und Redaktion in der Exoduserzählung. Untersuchungen zur Endredaktion des Pentateuch, FRLANT 186, Göttingen 2000, nach dem Ex 3,1-4,18 insgesamt "als Eintrag in den Erzählzusammenhang von 2,11-23ao:; 4,19 zu bewerten" ist (261); ähnlich E. BLUM, Studien zur Komposition des Pentateuch, BZAW 189, Berlin 1990,20-30; C. LEVIN, Der Jahwist, FRLANT 197, Göttingen 1993, 329; zur neueren Moseforschung vgl. bes. E. OTTO (Hg.), Mose, Ägypten und das Alte Testament, SBS 189, Stuttgart 2000. S K. SCHMID, Erzväter und Exodus. Untersuchungen zur doppelten Begründung der Ursprünge Israels innerhalb der Geschichtsbücher des Alten Testaments, WMANT 81, Neukirchen-Vluyn 1999,193f. 6 Vgl. hierzu schon H.-C. SCHMITT, Redaktion des Pentateuch im Geiste der Prophetie, in: DERS., Theologie in Prophetie und Pentateuch. Gesammelte Schriften, hg. v. U. Schom u. M. Büttner, BZAW 310, Berlin 2001, 220-237, bes. 232f. 7 Vgl. hierzu auch H.-C. SCHMITT, Das spätdeuteronomistische Geschichtswerk Genesis 1 - 2 Regum XXV, in: ders., Theologie (s. Anm. 6),277-294, bes. 285-287.
Redaktion und Tradition in Ex 3,1-6
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Aarons als Helfer Moses in Ex 4,13-17 nur auf dem Hintergrund der priesterschriftlichen Vorstellung des Zusammenwirkens von Mose und Aaron bei den ägyptischen Plagen (Ex 7,1-13.19-22::-; 8,1-3.11-15::-; 9,8-12) zu erklären 8 • Nicht überzeugend ist jedoch der Versuch, auch den Kern der Moseberufung von Ex 3, Hf erst auf einen nach priesterlichen Redaktor zurückzuführen. So hat Erhard Blum9 gezeigt, daß die These von Konrad Schmid, Ex 3,lff setze die priesterschriftliche Darstellung von Ex 2,23aß-2S erzählerisch voraus, nicht zutrifft. Vielmehr greift 3,lff auf die vorpriesterschriftliche Darstellung der Unterdrükkung Israels durch Zwangsarbeit in Ex 1,1 Hf:- zurück. Blum seinerseits weist Ex 3 allerdings seiner deuteronomistischen Kompositionsschicht KD zu, wobei er die Möglichkeit der Rekonstruktion einer vordeuteronomistischen Vorlage von KD ablehne o• Gleichzeitig bestreitet er, daß es zwischen der KD-Komposition von Ex 1 bis Dtn 34 und der Genesis eine direkte Beziehung gäbe!!. So schließt sich letztlich auch Blum der von Konrad Schmid und Jan Christian Gertz vertretenen These an, daß erst P einen literarischen Zusammenhang zwischen der Genesis- und der Mose-Überlieferung hergestellt habe. Bemerkenswert ist jedoch der Hinweis von Jan Christian Gertz auf Beziehungen zwischen Ex 3,1-6'~ und Gen 46,1-5::-. Da Gen 46,1-5':- keine Aussagen enthält, die von der Priesterschrift abhängig sind, wirkt es allerdings problematisch, wenn er diese Beziehungen als erst nachpriesterschriftlich verstehen will 12 • Angesichts dieser gegenwärtigen Forschungssituation sind daher folgende Fragen zu klären: 1. Inwieweit ist Ex 3,1-6 als einheitlicher nachpriesterschriftlicher (Schmid) bzw. deuteronomistischer Text (Blum) zu verstehen? 2. Sind Ex 3,1-6::- und Gen 46,1-Sa::- aufeinander bezogen, und liegt diese Beziehung bereits vorpriesterschriftlich vor? 3. Gibt es Hinweise auf einen bereits vorpriesterschriftlichen Zusammenhang zwischen Vätergeschichte Gen 12-50 und Exodusgeschichte Ex Hf?
8 Vgl. auch H. VALENTIN, Aaron, OBO 18, Gättingen u. a. 1978,47-140; Gertz, Tradition (s. Anm. 4),315-327; E. BLUM, Die literarische Verbindung von Erzvätern und Exodus. Ein Gespräch mit neueren Endredaktionshypothesen, in: J. C. Gertz / K. Schmid / M. Witte (Hg.), Abschied vom Jahwisten. Die Komposition des Hexateuch in der jüngsten Diskussion, BZAW 315, Berlin 2002, 119-156, bes. 127-130. 9 Blum, Verbindung (s. Anm. 8), 124f. 10 Ebd., 137-139 (gegen Gertz, Tradition [so Anm. 4], 270~. 11 Blum, Verbindung (s. Anm. 8), 154f. 12 Gertz, Tradition (s. Anm. 4),271-277.
Hans-Christoph Schmitt
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3 Die literarische Schichtung 'von Ex 3,1-6
Im Gegensatz zu Konrad Schmid und Erhard Blum hat J an Christian Gertz zu Recht darauf hingewiesen, daß Ex 3,1-6':- keine literarische Einheit darstellt 13 • So ist schon lange erkannt, daß Vers 2a mit der Angabe, daß der mal'ak Jhwh Mose in einer Feuerflamme aus dem Dornbusch erschienen sei, den Zusammenhang von Vers 1b und Vers 2b (heide Male Subjekt Mose) unterbricht. Vor allem nimmt Vers 2a dabei in störender Weise "die Pointe der ganzen Erzählung vorweg, als durch sie das überraschende Brennen. und Nichtverbrennen des Dornbusches vor dessen Erwähnung bereits geklärt ist"'4. Ein klares Indiz für einen weiteren literarischen Einschub stellt die doppelte Einleitung einer Gottesrede in Ex 3,5 und 3,6 dar. Während nun jedoch J an Christian Gertz die Auffassung vertritt, daß Vers 6a in diesem Zusammenhang störe's, hat Peter Weimar zu Recht auf "die nahezu wörtliche Entsprechung von 3,5b und Jos 5,15" aufmerksam gemacht, die darauf hindeute, "daß Ex 3,5b im Blick auf einen größeren Erzählzusammenhang hin komponiert ist"'6. Zwar weist Christoph Levin Vers 5 seiner vorjahwistischen Quelle zu und sieht in diesem Vers "die Ätiologie eines Kultplatzes, der von Mose entdeckt worden sein soll"'7, doch bleibt problematisch - wie Levin selbst bemerkt -, daß bei dieser Ätiologie die Angabe des heiligen Ortes fehlt'8. Das gleiche Phänomen liegt offensichtlich in Jos 5,13-15 vor, wo in Vers 15 wörtlich die gleiche Aufforderung vorliegt wie in Ex 3,5. Klaus Bieberstein'9 hat nun gezeigt, daß es sich dort um "keine alte Lokaltradition", sondern um "eine junge Schreibtisch kompilation" handelt. Gleiches dürfte wohl auch für Ex 3,5 gelten. Die Heiligkeit des Ortes ist nach dieser schriftgelehrten Auffassung von der Anwesenheit eines himmlischen Boten wie des Engels J ahwes (Ex 3,2a) bzw. des "Fürsten des Heeres Jahwes" Gos 5,14) abhängig - eine AuffasEbd., 254--281. So W. RICHTER, Die sogenannten vorprophetischen Berufungsberichte. Eine literaturwissenschaftliche Studie zu 1 Sam 9,1-10,16; Ex 3f. und Ri 6,11b-17, FRLANT 101, Gättingen 1970; vgl. auch P. Weimar, Die Berufung des Mose. Literaturwissenschaftliche Analyse von Exodus 2,23-5,5, OBO 32, Freiburg/CH u. a. 1980, 33f; W. H. SCHMIDT, Exodus. 1. Teilband: Exodus 1-6, BKAT 2/1, Neukirchen-Vluyn 1988, 112f; Schmitt, Redaktion (s. Anm. 6),235; Levin, Jahwist (s. Anm. 4), 32M; A. GRAUPNER, Der Elohist. Gegenwart und Wirksamkeit des transzendenten Gottes in der Geschichte, WMANT 97, Neukirchen-Vluyn 2002, 26; ähnlich auch C. HauTMAN, Exodus 1, Historical Commentary on the Old Testament, Kampen 1993,339. 15 Gertz, Tradition (s. Anm. 4),270. 16 Weimar, Berufung (s. Anm. 14),39; zum Zusammenhang von Ex 3,5 und Jos 5,13-15 vgl. vor allem J. VAN SETERS, The Life of Moses. The Yahwist as Historian in Exodus-Numbers, Kampen 1994; anders F. ZIMMER, Der Elohist als weisheitlich-prophetische Redaktionsschicht, EHS 23/656, Frankfurt/M. 1999, 189-191, der Ex 3,5 der "elohistischen" Grundschicht zuordnet. 17 Levin, J ahwist (s. Anm. 4), 329 (unter Berufung auf Schmidt, Exodus [so Anm. 14], 26). 18 Vgl. auch Schmidt, Exodus (s. Anm. 14),26; Graupner, Elohist (s. Anm. 14),26. 19 K. BIEBERSTEIN,Josua-Jordan-Jericho, OBO 143, Freiburg/CH u. a. 1995,415. 13
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Redaktion und Tradition in Ex 3,1-6
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sung, die sich auch sonst im Rahmen der nachpriesterschriftlichen spätdeuteronomistischen Schicht des Enneateuch findet (vgl. u. a. 2 Sam 24,16P~. Mit Peter Weimar ist daher nicht Vers 5, sondern Vers 6a::' als Fortsetzung von Vers 4b zu verstehen21 : Das in Vers 4b mit dem doppelten göttlichen Anruf "Mose, Mose!" und der Antwort des Mose "Hier bin ich" begonnene Gespräch findet seine organische Fortsetzung in der Selbstvorstellung Gottes als "Gott deines Vaters" von Vers 6a. Ein in Spannung zum Kontext stehendes Element bildet nur die Erweiterung "Gott Abrahams, Gott Isaaks und Gott Jakobs", die in ihrer pluralischen Form nicht zum Singular "Gott deines Vaters" paßt22 • Auch bei Vers 6b spricht - wie Gertz gezeigt hat - nichts gegen eine Zugehörigkeit zur Grundschicht von Ex 3,1_6::.23 • Als Grundschicht der Erzählung von der Berufung des Mose kann daher Ex 3,1::· 24 .2b-4::·.6::· (eventuell ohne Vers 4a, der möglicherweise die Einleitung zu Vers 5 darstellt) angesehen werden. Ihre Fortsetzung findet diese Grundschicht in dem Text Ex 3,9-14::', der nach dem sogenannten vorprophetischen Berufungsschema gestaltet und insofern traditionsgeschichtlich einer vordeuteronomistisehen Schicht zuzuordnen ist25 • 20 Zur Einordnung von 2 Sam 24,16f vgL Schmitt, Geschichtswerk (s. Anm. 7), 288f. - Beachtenswert ist auch die Auffassung von R. G. KRATZ, Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten Testaments, Gättingen 2000, 289 Anm. 76, für den Ex 3,4b-6 insgesamt sekundär sind, weil sie die Vorstellung von der Heiligkeit des Ortes der Erscheinung eintragen (allerdings trifft diese Feststellung nur für V 5 zu). 21 Weimar, Berufung (s. Anm. 14),39. 22 Ebd.; zur spätdtL Einordnung dieser Erweiterung vgL T. RÖMER, Israels Väter, OBO 99, Freiburg/CH u. a. 1990, 565. 23 Gertz, Tradition (s. Anm. 4), 269; anders Levin, Jahwist (s. Anm. 4), 332, der V 6b als späten Nachtrag ansieht: "Daß es bedrohlich ist, Jahwe zu sehen, ist späte Vorstellung"; vgL dagegen Ex 20,19, wo die Bedrohlichkeit des Redens mit Jahwe in der "elohistischen" Pentateuchschicht vertreten wird. Auch dürfte Ex 3,6b auf die "elohistische" Vorstellung der "Furcht Gottes" anspielen; vgL Schmidt, Exodus (s. Anm. 14), 123. Zu dieser vorexilischen "elohistischen" Schicht gehört auch Gen 32,31 ("ich habe Gott von Angesicht gesehen, und doch wurde mein Leben gerettet") innerhalb der Erzählung von Jakobs Kampf am Jabbok; vgl. hierzu H.-C. SCHMITT, Der Kampf Jakobs mit GOtt in Hos 12,3ff. und in Gen 32,23ff., in: ders., Theologie (s. Anm. 6), 165-188, bes. 176-185. 24 Zum sekundären Charakter von "an den Horeb" in V 1bß vgl. zuletzt Gertz, Tradition (s. Anm. 4), 263-265; Graupner, Elohist (s. Anm. 14), 24. Auch hier liegt eine spätdtr. Erweiterung vor. 2S Vgl. H.-C. SCHMITT, Das sogenannte vorprophetische Berufungsschema, in: ders., Theologie (s. Anm. 6), 59-73, wo ich mit der Herkunft dieses Schemas aus vordeuteronomistischen prophetisch beeinflußten weisheitlichen Kreisen der Zeit nach 722 v. Chr. rechne. Sekundär innerhalb von Ex 3,9-14';- sind wohl in 3,10 "daß ich dich zu Pharao sende" und in 3,11 "daß ich zu Pharao gehe"; vgl. L. SCHMIDT, Beobachtungen zu der Plagenerzählung in Exodus VII 14 - XI 10, StB 4, Leiden 1990, 6; Graupner, Elohist (s. Anm. 14), 24; anders Gertz, Tradition (s. Anm. 4), 29of. Doch rechnet auch Gertz (214~ mit einer alten Schicht der Exodusüberlieferung, die von keinen Verhandlungen mit Pharao weiß und eine Flucht der Israeliten aus Ägypten annimmt (Ex 14,5a.6); vgL hierzu Kratz, Komposition (s. Anm. 20), 290 Anm. 8; Levin, J ahwist (s. Anm. 4), 341.
Hans-Christoph Schmitt
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Nun weist aber diese vordeuteronomistische Grundschicht von Ex 3,1-6':- in den beiden Elementen der doppelten Anrede durch Gott mit der menschlichen Antwort "Hier bin ich" und der Selbstvorstellung Gottes als "Gott des Vaters" eine deutliche Beziehung zu Gen 46,1-5':- auf.
4 Die Beziehungen zwischen Ex 3,1-6'~ und Gen 46,1-5':Das Verständnis von Gen 46,1-5':- (Gotteserscheinung Jakobs vor seiner Übersiedlung nach Ägypten in Beerscheba) ist in der neue ren Pentateuchexegese stark umstritten. Traditionell wurde diese Szene dem Väter- und Mosegeschichte miteinander verbindenden "Elohisten" zugewiesen. Konrad Schmid 26 und Erhard Blum sind demgegenüber der Meinung, daß "die Gottesrede in Gen 46,lff... in ihren literarischen Bezügen nicht über den Horizont der Vätergeschichte (Gen 1250)" hinausgehe 27 • Ihnen haben David M. Carr28 und J an Christian Gertz zu Recht widersprochen und darauf aufmerksam gemacht, daß Gen 46,1aß-5a "zum einen mit der Verheißung der Volkwerdung in Ägypten (... V 3bß) und vor allem mit der Zusage göttlichen Beistands bei der Rückkehr aus Ägypten (... V 4aß) ausdrücklich auf die Exodusereignisse" vorausweist29 • Allerdings ist Jan Christian Gertz der Auffassung, daß Gen 46,1aß-5a mit seinem Exodusbezug erst nachpriesterschriftlich anzusetzen se?o. Da die vorpriesterliche Exodusüberlieferung eine Anwesenheit von "Israel" in Ägypten voraussetzt, muß j'edoch eine vorpriesterschriftliche Vätergeschichte postuliert werden, die von einer Übersiedlung "Israels" nach Ägypten - in welcher Form auch immer - berichtet. Jedenfalls dürfte die Verbindung von Erzvätern und Exodus der Priesterschrift bereits vorgegeben sein 31 • Zwar weisen Konrad Schmid32 , Jan Christian Gertz33 und Erhard Blum34 zu Recht darauf hin, daß die Brückenverse zwischen Genesis und Exodus in Gen 50,24-26':- und Ex 1,6-8 wegen ihres Bezuges auf Ex 1,1-5.7 P erst nachpriesterschriftlich anzusetzen sind35 , doch schließt dies nicht aus, daß es andere vorpriesterliche Verbindungstexte zwischen Väter- und Exodusgeschichte gibt. Schmid, Erzväter (s. Anm. 5), 62f. Blum, Verbindung (s. Anm. 8), 132 Anm. 63. 28 D. M. CARR, Genesis in Relation to the Moses Story. Diachronie and Synchronie Perspectives, in: A. Wen in (Hg.), Studies in the Book of Genesis, BEThL 155, Leuven 2001, 273-295, bes. 281f. 29 Gertz, Tradition (s. Anm. 4), 277; vgl. zuletzt auch Graupner, Elohist (s. Anm. 14), 353-355. 30 Gertz, Tradition (s. Anm. 4),277-279. 31 Vgl. auch Kratz, Komposition (s. Anm. 20), 284. 32 Schmid, Erzväter (s. Anm. 5), 230-233. 33 Gertz, Tradition (s. Anm. 4), 358-370. 34 Blum, Verbindung (s. Anm. 8), 145f. 35 Vgl. auch H.-C. SCHMITT, Die Josephsgeschichte und das deuteronomistische Geschichtswerk, in: ders., Theologie (s. Anm. 6), 295-308, bes. 296-298. 26
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Bei Gen 46,1-5a':- fehlt jedenfalls jeder Hinweis auf einen nachpriesterschriftlichen Charakter. Das einzige' Argument, das J an Christian Gertz zugunsten einer nachpriesterschriftlichen Ansetzung beibringen kann, ist die Ähnlichkeit mit der meist nachpriesterschriftlich eingeordneten J ahweverheißung von Gen 26,2436 . Gertz übersieht dabei jedoch, daß die für die spätdeuteronomistisch nachpriesterliche Theologie von Gen 26,24 typische Feststellung, daß Jahwe Isaaks Nachkommen "um Abrahams willen" segnet (vgl. ähnlich Gen 22,15-18\ 26,3b-5) in Gen 46,1-5a':- noch nicht vorhanden ist, so daß hier noch ein vorpriesterliches Verständnis der Erzväterverheißungen vorliegt. Ist Gen 46,1-5a':- vorpriesterschriftlich einzuordnen, so gilt dies nun auch für die Elemente von Ex 3,1-6\ die nach der obigen Analyse zur vordeuteronomistischen Grundschicht gehören, aber von Gertz nachpriesterschriftlich angesetzt werden. Seiner Meinung nach sind dies vor allem die Formen des Gottesanrufs und der Selbstvorstellung Gottes in Ex 3,4b.6a\ die sich aus folgenden drei Teilen zusammensetzen: a) Anrede mit (doppelter) Namensnennung; b) Antwort mit hnnj; c) Selbstvorstellung Gottes als "Gott des Vaters"37. Da diese Elemente in Gen 46,1-5a':- nicht als nachpriesterlich nachzuweisen sind, spricht nun auch bei Ex 3,4b.6a nichts für eine nachpriesterliche Entstehung, worauf Erhard Blum38 zu Recht hinweist. Sind die Beziehungen zwischen Ex 3,1-6':- und Gen 46,1-5':- nicht auf eine nachpriesterliche Schicht zurückzuführen, so spricht einiges für das Vorliegen eines vorpriesterlichen Zusammenhangs zwischen beiden Texten. Dem hat zwar Erhard Blum widersprochen, doch gelingt es ihm nicht, die von Gertz beobachteten Übereinstimmungen zwischen Ex 3,1-6 und Gen 46,1-5a':- anderweitig hinreichend verständlich zu machen. Seine Erklärung, sie beruhten auf "Koinzidenzen der Idiomatik und (differenter) Sachzusammenhänge"39 kann nur als Verlegenheitsauskunft und daher kaum als überzeugend angesehen werden. Ein sachgemäßes Verständnis für diese Übereinstimmungen setzt vielmehr eine genauere Überprüfung der literarischen Kontexte von Ex 3,1-6 und Gen 46,1-5a':- voraus. Nicht nur die Grundschicht von Ex 3,1-6\ sondern auch Gen 46,1-5':- dürften wohl auf eine vordeuteronomistische Schicht zurückgehen. Erhard Blum hat näm36 Gertz, Tradition (s_ Anm. 4),276; vgl. auch Levin, Jahwist (s. Anm. 4),305. Dagegen nimmt Graupner, Elohist (s. Anm. 14),352 zu Recht die Priorität von Gen 46,3f gegenüber Gen 26,24 an; vgl. schon L. SCHMIDT, Literarische Studien zur Josephsgeschichte, BZAW 167, Berlin 1986, 187f; zur Einordnung der in Gen 26 vorliegenden nachjehowistischen Schicht vgl. R. KILIAN, Die vorpriesterlichen Abrahamsüberlieferungen, BBB 24, Bonn 1966,317-320. Im übrigen rechnet auch K. SCHMID, Die Jo~ephsgeschichte im Pentateuch, in: Gertz / Schmid / Witte, Abschied (s. Anm. 8), 83-118, bes. 116, mit einer vorpriesterschriftlichen Entstehung von Genesis 46,1-5a':-. 37 Gertz, Tradition (s. Anm. 4),270-277. 38 Blum, Verbindung (s. Anm. 8), 127. 39 Ebd., 131f.
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lich gezeigt, daß in Gen 46,1-5':- noch keine deuteronomistischen Vorstellungen vorliegen 40 • Des weiteren beschränken sich die engen Beziehungen, die zwischen Gen 46,1-5':- und Ex 3,lff'=- bestehen, nicht auf die Anrede durch Gott und durch Gottes Selbstvorstellung als "Gott des Vaters". Von Bedeutung ist in beiden Texten zusätzlich die zentrale Stellung der Verheißung des Mitseins Gottes (vgl. 'mk in Gen 46,4 und Ex 3,12). In gleicher Weise enthalten beide Gottesreden auch eine Aufforderung zum Aufbruch vom gegenwärtigen Aufenthaltsort (vgl. Gen 46,3f; Ex 3,10':-. 12). Somit zeigt sich, daß in dieser vordeuteronomistischen Schicht von Ex 3,6a schon ein eindeutiger Rückbezug auf die Vorstellung vom Gott des Vaters der Erzvätergeschichte vorliegt 41 • In entsprechender Weise weist die vordeuteronomistische Schicht von Gen 46,1-5':- mit der an Jakob ergehenden Verheißung der Mehrung zu einem großen Volk und zu der Herausführung aus Ägypten deutlich auf die Exodusgeschichte hin 42 • Damit ergibt sich hier eindeutig eine vordeuteronomistische und vorpriesterschriftliche Brücke zwischen der Väter- und der Exodusgeschichte.
5 Der Zusammenhang von Gen 12ff:- und Ex Iff Dieser Brücke sind nun auch zentrale vorpriesterschriftliche Stücke von Ex 1-2 zuzuordnen. Mit Jan Christian Gertz dürften wohl1,11-12.15-22':-; 2,1-23ao: die ursprüngliche Einleitung von Ex 3,1-6 bilden 43 • Die Auffassung, daß die Exoduserzählung erst mit der Geburt des Mose in Ex 2,1ff beginne4\ raubt der Erzählung von der Aussetzung des Mose ein im Rahmen der Moseüberlieferung überzeugen40 Vgl. E. BLUM, Die Komposition der Vätergeschichte, WMANT 57, Neukirchen-Vluyn 1984, 298-301. 41 Für die engen terminologischen und theologischen Beziehungen zwischen Ex 3,4b.6aex und Gen 31,11-13':-; 46,2f vgl. zuletzt Graupner, Elohist (s. Anm. 14), 28f und schon Schmidt, Josephsgeschichte (s. Anm. 36), 189-192. - Sowohl Ex 3,6a als auch Gen 46,3 sprechen von 'lhj 'bjk ("Gott deines Vaters"). Dieser Rückbezug wird durch die Tatsache, daß in "Ex 3,6 die Gottesbezeichnung h'l fehlt", nicht in Frage gestellt (gegen Blum, Verbindung [so Anm. 8], 132 Anm. 61). Auch in Gen 46,3 und 31,11.13, die nach Blum (ebd.) in enger Beziehung zueinander stehen, liegen keine voll übereinstimmenden Gottesbezeichnungen vor. 42 Vgl. hierzu Gertz, Tradition (s. Anm. 4), 277 Anm. 204 und schon L. RUPPERT, Die Josephserzählung der Genesis, StANT 11, München 1965, 134; C. WESTERMANN, Genesis. 3. Teilband: Genesis 37-50, BKAT 1/3, Neukirchen-Vluyn 1982, 172; H.-C. SCHMITT, Die nichtpriesterlicheJosephsgeschichte, BZAW 154, Bcrlin 1980, 59f; Schmidt, Josephsgeschichte (s. Anm. 36), 191; M. KÖCKERT, Vätergott und Väterverheißungen, FRLANT 142, Gättingen 1988, 82f; anders H. SEEBASS, Genesis III: Josephsgeschichte (37,1-50,26), Neukirchen-Vluyn 2000, 133; Levin, Jahwist (s. Anm. 4), 305. 43 Gertz, Tradition (s. Anm. 4),394. 44 So vor allem E. OTTO, Die Tora des Mose, Berichte aus den Sitzungen der Joachim JungiusGesellschaft der Wissenschaften, Hamburg 2001, 11; Kratz, Komposition (s. Anm. 20), 289; Schmid, Erzväter (s. Anm. 5), 152-157.
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des Motiv für die Aussetzung. Die Interpretation von Ex 2,1 durch Konrad Schmid, daß Mose hier als" uneheliches Kind einer gewaltsamen Vereinigung eines Leviten mit der T ocher Levis cc45 verstanden sei und daher ausgesetzt worden wäre, fügt sich nicht in die alttestamentliche Moseüberlieferung ein, die nirgendwo eine entsprechende uneheliche Abstammung Moses andeutet. Zudem ist sie auch philologisch kaum wahrscheinlich zu machen: Das wjql; von Vers 1b kann im vorliegenden Kontext nicht als Ausdruck für eine Vergewaltigung verstanden werden, sondern steht - wie auch sonst - für "zur Ehefrau nehmen"46. Schließlich erwartet man bei einer Ätiologie für den Namen des Befreiers aus Ägypten - wie Christoph Levin diese Erzählung zu Recht gattungsgeschichtlich einordnet 47 - einen Bezug auf die Unterdrückung Israels durch Ägypten, so daß auch aus diesem Grund sich die Motivation der Aussetzung des Mosekindes durch den Befehl des Pharao "Alle Söhne, die geboren werden, sollt ihr in den Nil werfen" nahelegt. Dieser Befehl des Pharao an alle Israeliten setzt seinerseits die Hebammenerzählung mit dem erfolglosen Befehl der Tötung der neugeborenen israelitischen Knaben an die Hebammen voraus 48 , die ihrerseits den nichtpriesterlichen Bericht über die erfolglose Unterdrückung der Israeliten durch Fronarbeit in Ex 1,11-12':- fortsetzt. Wie Jan Christian Gertz49 gezeigt hat, geht allerdings Ex 1,8-10 auf eine nachpriesterschriftliche Redaktion zurück, die offensichtlich den Zusammenhang von Gen 1 bis 2 Kön 25 im Blick hat 50 . Die ursprüngliche Einleitung der vorpriesterlichen und vordeuteronomistischen Exodusdarstellung ist dadurch offensichtlich ersetzt worden, so daß es nicht mehr eindeutig zu klären ist, wie stark der Beginn der ursprünglichen Exoduserzählung auf die Darstellung der Vätergeschichte Bezug nahm. Beachtenswert ist jedoch, daß in Ex 1,12 und 1,20 von einem "Groß-Werden" (rbh qal) des Volkes ('m 1,20) die Rede ist, was an die Aussage Josefs in Gen 50,20 erinnert, daß der böse Plan der Brüder gegenüber J osef letztlich dazu gedient habe, ein "großes Volk" ('m rb) am Leben zu erhalten. Konrad Schmid51 ist zwar der Meinung, Gen 50,15-21 spiele wieder in Kanaan, nachdem Josef und seine Brüder nach dem Tode Jakobs in das Westjordanland zurückgekehrt seien. Dagegen spreSchmid, Erzväter (s. Anm. 5), 155. Zu diesem elliptischen Gebrauch von lq& vgl. z. B. Gen 38,2; Dtn 20,7; 1er 29,6 u. ö. sowie 1. e. GERTZ, Mose und die Anfänge der jüdischen Religion, ZThK 99, 2002, 3-20, bes. 7 Anm. 1; Blum, Verbindung (s. Anm. 8), 146. 47 Levin,1ahwist (s. Anm. 4),319_ 48 Genz, Tradition (s. Anm. 4), 374f. 49 Ebd., 365-371. 50 Vgl. die Übereinstimmungen zwischen Ex 1,8 und Ri 2,6-10; dazu schon T. e. VRIEZEN, Exodusstudien. Exodus I, VT 17, 1967, 334-353, bes. 336-338; Schmitt, 10sephsgeschichte (s. Anm. 42), 124-127; Blum, Studien (s. Anm. 4), t02f. 51 Schmid,1osephsgeschichte (s. Anm. 36), 104. 45
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chen jedoch nicht nur Gen 50,8b.14, die Schmid aus der ursprünglichen J osefsgeschichte ohne überzeugende literarkritische Begründung ausscheidet, sondern auch 50,5bß, wo Josef dem Pharao seine Rückkehr nach Ägypten avisiert. Auch fehlt in der J osefsgeschichte jede Erwähnung eines Endes der Hungersnot, das eine Rückkehr nach Kanaan möglich gemacht hätte. Insofern setzt meines Erachtens schon die vorpriesterliche "elohistische" Josefsgeschichte in Gen 50,20 ein Großwerden Israels in Ägypten voraus, das dann die Voraussetzung für die Unterdrückung durch die Ägypter und für den Exodus darstellt. Hier zeigt sich, daß die vorpriesterliche Josefsgeschichte (gemeint ist hiermit die die sogenannten "elohistischen" Elemente umfassende Form) durchaus auf die ursprüngliche Fassung der Exodusgeschichte (die ihrerseits wieder zahlreiche Elemente enthält, die traditionell als "elohistisch" angesehen wurden) hin angelegt ist52 • Zu dieser vorpriesterlichen Josefsgeschichte hat neben dem Text Gen 50,1521, der nach Konrad Schmid53 den Abschluß der ursprünglichen Josefsgeschichte darstellt, auch die Gotteserscheinung vor Jakob in Gen 46,1 aß-5a gehört 54 • Auch hier kann das große Volk (hier allerdings nicht 'm rb wie in Gen 50,20, sondern gwj gdw~ sich nur auf die Mehrung in Ägypten vor dem Exodus beziehen. Gleichzeitig kann auch die Verheißung, Gott werde Jakob aus Ägypten wieder ins Gelobte Land heraufführen, nur auf den Exodus (und nicht primär auf die Überführung seiner Leiche) bezogen werden. Schließlich findet sich das in Gen 46,2f und Ex 3,4b.6acx vorliegende Schema der Gottesoffenbarung (1. Anruf Gottes mit Namen, 2. Antwort mit hnnj, 3. Selbstvorstellung Gottes, 4. Aufforderung zum Aufbruch vom gegenwärtigen Aufenthaltsort) auch in Gen 31,11.13 bei dem Traum Jakobs in Haran 55 • Auch hier folgen auf den Anruf Gottes (hier repräsentiert durch den Engel Gottes) die Antwort Jakobs "Hier bin ich" und die Selbstvorstellung Gottes (hier als der Gott, der J akob zu Bethel erschienen ist 56). An allen drei durch diese besondere Form der Selbstvorstellung Gottes hervorgehobenen Stellen ergeht ein göttlicher Befehl, den jeweiligen Ort zu verlassen, um in ein anderes Land zu ziehen. Offensichtlich wird hier die Möglichkeit einer Diasporaexistenz des Gottesvolkes mitreflektiert. Dies fügt sich nun in die zeitgeVgl. schon Schmitt, Josephsgeschichte (s. Anm. 42), 94-100. Schmid, Josephsgeschichte (s. Anm. 36), 95-106. 54 Zur vorpriesterschriftlichen Ansetzung vgl. ebd., 116. Entgegen der Auffassung, die ich in Josephsgeschichte (s. Anm. 42), 59-62 geäußert habe, kann Gen 46,laß-5a durchaus als Teil der "elohis tischen Schicht" von Gen 37-50':- verstanden werden. 55 Zur Zuordnung dieser Verse zur Kompositionsschicht der Jakobserzählung Gen 25,21-33,17':vgl. Blum, Komposition (s. Anm. 40), 117-132; zum Umfang und zur Datierung dieser Kompositionsschicht vgl. Schmitt, Kampf (s. Anm. 23), 165-188, bes. 179-185. 56 Gen 31,13 ist nach LXX (und Targumen) zu emendieren; vgl. zuletzt Köckert, Vätergott (s. Anm. 42),78; H. J. BOECKER, 1. Mose 25,12-37,1: Isaak und Jakob, ZBKAT 1/3, Zürich 1992,81. 52 53
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schichtlichen Bezüge ein, die für die drei Texte in der neueren Forschung vorgeschlagen werden. Bei der "elohistischen" Kompositionsschicht der Jakobgeschichte spricht einiges für eine Datierung im 7. I 6. Jahrhundert nach dem Untergang des Nordreiches, wobei hier an eine den Landbesitz relativierende Theologie zu denken ist 57 • In ähnlicher Weise setzt auch Konrad Schmid die Entstehung der vorpriesterlichen Josefsgeschichte in die Zeit nach dem Untergang des Nordreiches an und zieht dabei auch eine Diasporasituation in Erwägung58 • Auch für die vordeuteronomistische Moseüberlieferung hat Schmid59 an eine nach 722 v. Chr. erfolgende Übernahme aus dem Nordreich 60 gedacht61 • Angesichts der zahlreichen Verbindungen zwischen diesen drei vordeuteronomistischen Textblöcken deutet alles auf eine ursprüngliche Zusammengehörigkeit in einer durchlaufenden "elohistischen" Erzväter-Mose-Komposition hin. Bestätigt wird dies dadurch, daß auch in der nach 722 v. Chr. weitertradierten prophetischen Nordreichüberlieferung Erzväter- und Mosetradition bereits miteinander verbunden waren, wie besonders Hosea 12 (vor allem V 13i) zeigt 62 • Die zentralen Zusammenhänge des alttestamentlichen Glaubens sind nicht erst durch schriftgelehrte Reflexion exilisch-nachexilischer Theologie geschaffen worden. Sie waren vielmehr den schriftgelehrten Redaktoren bereits vorgegeben 63 •
57 Schmitt, Kampf (s. Anm. 23), 184f; zur "dezentralen" Orientierung des "elohistischen" Israelverständnisses vgl. auch U. SCHORN, Ruben und das System der zwölf Stämme Israels, BZAW 248, Berlin 1997,99-103. 58 Schmid, Josephsgeschichte (s. Anm. 36), 106--114. 59 Schmid, Erzväter (s. Anm. 55), 141. 60 Zur Ansetzung des Kerns der Moseerzählung in die Zeit nach dem Untergang des Nordreiches vgl. auch Otto, Tora (s. Anm. 44), 11-20; im Hinblick auf eine "Erzählphase" der vorexilischen Exoduserzählung vgl. H. UTZSCHNEIDER, Gottes langer Atem. Die Exoduserzählung (Ex 1-14) in ästhetischer und historischer Sicht, SBS 166, Stuttgart 1996, 102f. 61 Überarbeitet worden ist diese "elohistische" Moseüberlieferung zunächst durch eine die Plagen überlieferung einfügende "jahwistische" Schicht; vgl. Gertz, Tradition (s. Anm. 4), 281-291. Dazu gehören in Ex 3 u. a. V 7f'~.16P:- und auch die Zusätze im "elohistischen" Text von 3,9-14'~; vgl. o. Anm. 25. 62 Auch Blum, Verbindung (s. Anm. 8), 122f geht davon aus, daß schon in vorexilischer Zeit die Erzväter und die Exodusüberlieferung traditionsgeschichtlich miteinander verbunden sind. Zu Recht weist er darauf hin, daß ein solcher Zusammenhang in Hos 12, in Gen 12,10ff und in der ursprünglichen Josefsgeschichte bereits vorausgesetzt wird. Die oben dargestellten Bezüge zwischen Ex 3,16':- und Gen 46,1-5'~ beweisen nun, daß es in der "elohistischen" Pentateuchschicht auch schon eine literarhistorische Verknüpfung von Vätergeschichte und Mosegeschichte in vorexilischer Zeit gegeben hat. 63 Daran erinnert besonders R. SMEND, Theologie im Alten Testament, in: ders., Die Mitte des Alten Testaments, Tübingen 2002,75-88, bes. 80: Der "Grund und Gegenstand aller Theologie liegt ihr selbst voraus".
Eve-Marie Becker "KAMELHAARE... UND WILDER HONIG" Der historische Wert und die theologische Bedeutung der biographischen Täufer-Notiz (Mk 1,6)
In Mk 1,6 findet sich eine im Blick auf den sonst knappen Erzählstil des Evangelisten ungewöhnliche Notiz über die Lebensweise Johannes des Täufers in der Wüste!: "Und Johannes war bekleidet mit Kamelhaaren und mit einem ledernen Gürtel um seine Lenden, und er aß Heuschrecken und wilden Honig." Diese Notiz über Kleidung und Speise des Täufers hat Mt (vgl. Mt 3,4) aus Mk 1,6 übernommen 2, im lukanischen Bericht über das Auftreten des Täufers vor der Taufe Jesu (Lk 3,l-6f~ jedoch fehlt sie3 • An diese Beobachtung schließen sich mehrere Fragen an, die sich zu zwei Gruppen zusammenfassen lassen: 1. Welche Art von historischer Nachricht über Johannes den Täufer wird in Mk 1,6 mitgeteilt? Handelt es sich dabei um eine "historisch zuverlässige Nachricht"4? Wie verhält sich Mk 1,6 par zu den übrigen synoptischen Aussagen über die asketische Lebensweise des Täufers (vgl. Mk 2,18 parr; Mt l1,7ff par; Mt 11,16-19 par; Lk 1,15)? 2. Was läßt sich über die traditionsgeschichtliche Herkunft der biographischen Notiz sagen? Und welche Funktion hat die Notiz über Speise und Kleidung des Täufers in Mk 1,6 par für die redaktions geschichtliche markinische und matthäische Konzeption der Darstellung des Täufers? 1 Mk 1,6 par als historische Nachricht
Für die Interpretation der Lebensweise des Täufers in Mk 1,6 par werden überwiegend drei verschiedene Deutungen vorgeschlagen: Speise und Kleidung des
1 "Es sind Notizen ausgesprochen biographischer Art, die als solche aus dem Stil des Ganzen herauszufallen scheinen" (H. WINDISCH, Die Notiz über Tracht und Speise des Täufers Johannes und ihre Entsprechungen in der Jesusüberlieferung: ZNW 32, 1933,65-87: 66). 2 V gl. The Critical Edition of Q-Synopsis, ed. by J. M. ROBINSON u. a., Leuven 2000, 4f. 3 Sie findet sich dann erst wieder im Ebionäer-Evangelium (vgl. Epiphanius, haer 30, 13, 4D. 4 P. VIELHAUER, Tracht und Speise Johannes des Täufers, in: ders., Aufsätze zum Neuen Testament, München 1965, TB 31, 47-54: 47.
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Täufers werden als kulturfeindliche Askese\ als prophetische Askese 6 oder als eschatologische Existenzweise 7 gedeutet. Diesen Interpretationen ist die Annahme gemeinsam, daß die vier in Mk 1,6 gegebenen Nachrichten über die Lebensweise des Täufers - Bekleidung mit (einem Mantel aus) Kamelhaaren und einem Ledergürtel und Ernährung mit Heuschrecken und wildem Honig - Ausdruck einer programmatischen asketischen Lebensweise seien 8 • Diese wurde in der Rezeptionsgeschichte des markinischen und matthäischen Textes dann paränetisch aus gelegt9 • Die asketische Bedeutung von Mk 1,6 par wird zumeist unmittelbar in den Zusammenhang mit den synoptischen Aussagen, die über die Fastenpraxis des Täufers berichten (vgl. Mk 2,18ff parr; Mt 11,7ff par; 11,16ff par; Lk 1,15), gebracht lO • Die übrigen synoptischen Aussagen über die asketische Lebensweise des Täufers, die mit Ausnahme von Lk 1,15 im weiteren Verlauf der Evangelien-Erzählung mitgeteilt werden, sind jedoch unterschiedlichen Überlieferungskomplexen zuzurechnen: Mk 2, 18ff gehört möglicherweise einer vormarkinischen Sammlung von Streitgesprächen an ll , Mt 11,7ff par und 11,16ff par stammen aus Q, und Lk 1,15 geht auf lukanisches Sondergut zurück. Wenn die Täufer-Aussagen in Mk 2,18ff p~rr; Lk 1,15; Mt 11,7ff; 11,16ff par und die biographische Notiz in Mk 1,6 par 12 unterschiedlichen Überlieferungskomplexen angehören, verfolgen sie vermutlich auch unterschiedliche Interessen, und ihre Aussagen sind im jeweiligen Evangelienkontext nicht einfach austauschbar. Für Mk 2,18ff parr und Mt 11,16ff ist festzustellen, daß im Zusammenhang der Wirksamkeit J esu die Lebensweise des Täufers und seiner Jünger im Kontrast zur Lebensweise Jesu und seiner Jünger gekennzeichnet wird. Im Verlauf des Auftretens und Wirkens Jesu werden also eine Diskrepanz zum Täufer und seiner Bewegung und ein deutlicher Ablöseprozeß
5 Diese Möglichkeit erwägen zumindest Vielhauer, Tracht (s. Anm. 4), 47.54 und Windisch, Notiz (s. Anm. 1), 76. Darauf weist auch J. BECKER, Jesus von Nazaret, Berlin 1996, 51 hin. 6 Vgl. O. BÖCHER, Art. Johannes der Täufer, TRE 17, 1988, 172-181: 173; M. TILLY, Johannes der Täufer und die Biographie der Propheten. Die synoptische Täuferüberlieferung und das jüdische Prophetenbild zur Zeit des Täufers, BWANT 137, Stuttgart 1994, z. B. 184f; J. ERNST, Johannes der Täufer. Interpretation - Geschichte - Wirkungsgeschichte, BZNW 53, Berlin 1989, 289; Windisch, Notiz (s. Anm. 1),76. 7 Vgl. etwa H. STRATHMANN 1 P. KESELING, Art. Askese 11 (christlich), RAC 1, 1950, 758-795: 758; P. VIELHAUER, Art. J ohannes der Täufer, RGGJ 3, 1959, 804--808: 805. S S. SCHULZ, Neutestamentliche Ethik, Zürich 1987, 30 verbindet diese Deutungen: "Johannes der Täufer als apokalyptischer Bußprediger, Asket und Endzeitprophet war der Lehrer J esu." 9 Vgl. die Hinweise bei U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus. 1. Teilband (Mt 1-7), EKK 1/1, Neukirchen-Vluyn 52002, 204. 10 Vgl. z. B. Tilly, Johannes (s. Anm. 6), 176ff. 11 Vgl. zur Forschungsgeschichte W. WEISS, ,Eine neue Lehre in Vollmacht', BZNW 52, Berlin 1989, 20-31. 12 Diese Notiz kann weder der vormarkinischen Sammlung von Streitgesprächen zugerechnet werden, noch geht sie auf Überlieferungen zurück, die sich auch in Q finden.
"Kamelhaare ... und wilder Honig
CC
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der J esus-Bewegung von der Täufer-Bewegung spürbar. Dagegen werden die biographischen Notizen über den Täufer in Mk 1,6 und Mt 3,4 vor der Taufe Jesu durch Johannes vermeldet. Sie gehören - sofern man Mk 1,1-15 als Prolog des Markusevangeliums verstehen will 13 - zu einem ebensolchen Prolog, in dem das Auftreten des Täufers in einer gewissen Parallelität zum Auftreten J esu erzählt wird (siehe unten). In Mt 3 schließt die biographische Notiz an die von Mt erzählte Vorgeschichte (Mt 1-2) an und leitet die Taufe Jesu (Mt 3,13-17) ein!4. Mk 1,6 ist als eigenständige biographische Notiz mit einer eigenen Überlieferung:igeschichte zu werten, die im Aufriß des Markusevangeliums und dann im Matthäusevangelium ihren Platz vor jeder Konfrontation des Täufers mit J esus gefunden hat - sie ist insofern am ehesten mit Lk 1,15 vergleichbar. Die vier in Mk 1,6 par mitgeteilten Informationen über die Lebensweise des J ohannes können und müssen also zunächst materialiter für sich betrachtet werden. Dann erschließt sich auch ihre traditions- und überlieferungs geschichtliche Herkunft (siehe unten Abschnitt 2). Die ersten beiden Nachrichten betreffen die Bekleidung des Täufers: 1.J'Ev6~6vfLEVOr; rp[xar; KafL1Äov(Mk
1,6) -lv6vfLa...
a1To
rplXwv KafL1Äov(Mt 3,4/
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"Der Mantel aus Kamelhaaren und der lederne Gürtel werden gewöhnlich typologisch auf die Kleidung des Elija (2 Kön 1,8) oder ganz allgemein auf das herkömmliche Prophetengewand (Sach 13,4) bezogen ... Aber der Befund ist nicht so eindeutig, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint. cc!6 Denn die alttestamentlichen Prophetenerzählungen kennen zwar die unterschiedlichsten Prophetengewänder bzw. -mäntel!7. Die Materialbezeichnung ,Kamelhaar' hat in den alttestamentlichen Texten jedoch "keine Entsprechung"!8. Daher läßt sich auf der Basis des Prophetengewandes weder sachlich noch terminologisch eine Elija-J ohannesTypologie herstellen!9. Außerdem sollte der Einwand gegen die vorschnelle Her13 Vgl. zur Klassifizierung von Mk 1,1-15 als Prolog: D. DORMEYER, Evangelium als literarische Gattung und als theologischer Begriff. Tendenzen und Aufgaben der Evangelienforschung im 20. Jahrhundert ... : ANRW 11.25.2, Berlin 1984, 1545-1634: 1582ff. - C. S. MANN, Mark, AncB, New Y ork 1986, 193f weist zu recht auf die Kürze des ,Prologes' hin, so daß jegliche Elemente der Einleitung fehlen. Diese Beobachtung läßt u. a. fraglich werden, ob Mk 1,1-15 die Funktion eines ,Prologs' zukommt (Verfasserin wird dieser Frage in ihrer Habilitationsschrift nachgehen). 14 Insoweit ist es durchaus bedenkenswert, daß Windisch, Notiz (s. Anm. 1), 67 als formgeschichtliche Analogie zu der ",Personalbeschreibung'" nicht auf die Evangelienüberlieferung, son. dern auf die griechische Philosophenbiographie verweist. 15 Zur sprachlichen Glättung des Textes von Mk 1,6 in Mt 3,4 s. u. 16 Ernst, Johannes (s. Anm. 6),284; vg1. zur Diskussion auch J. P. MEIER, A Marginal Jew. Rethinking the Historical J esus, Vol. 1-111, N ew Y ork, 1991-2001, Bd. 11, 42ff. 17 Vgl. 1 Kön 19,13.19; 2 Kön 2,13f; Sach 13,4. 18 Ernst, J ohannes (s. Anm. 6), 285. 19 Damit wird auch die umfassende Deutung des Kamelhaar-Mantels vor dem Hintergrund der atl. Prophetentraditionen bei Tilly, Johannes (s. Anm. 6), 168ff obsolet.
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leitung aus der Propheten tracht, den bereits E. Lohmeyer formuliert hat, bedacht werden: Weshalb "sollte der Täufer [die Standestracht der Propheten] festhalten, wenn er sich von dem Volke und darum auch von seinen einzelnen Ständen losgemacht hat"20? Die Wendung in Mk 1,6 weicht signifikant von der in Mt 3,4 ab 21 : Denn in Mk 1,6 ist keineswegs - wie in Mt 3,4 - die Rede von einem ,Gewand', sondern lediglich davon, daß Johannes mit Kamelhaaren bekleidet war. Die Form und der Zuschnitt des Kamelhaar-,Kleides' bleiben somit unbestimmt. Mit dieser Wendung greift Mk nicht erkennbar auf Septuaginta-Terminologie zurück: Das Partizip Medium EVÖEÖUIlEVOC;22 ist in der Septuaginta nur an elf Stellen belegt (para 5,12; 18,9; Esr 5,40; Sach 3,3; SapSal 1,8; Ez 38,4; Dan 6,4; 10,5 / 10,5 0; 12,6f 8), die Konstruktion ~v EVÖEöuIlEvoC; lediglich zweimal (Sach 3,3; Dan 6,4). Eine interessante Parallele zu Mk 1,6 bieten allerdings die Daniel-Belege: In allen drei Belegen folgt auf das Partizip EVÖEöuIlEVOC; nicht etwa als Akkusativ-Objekt eine bestimmte Kleidungsform - so wie das Partizip in Mt 22,11 konstruiert ist. Vielmehr bildet die Materialbezeichnung das jeweilige Akkusativ-Objekt: ~v EVÖEÖUIlEVOC; rrpocpupav (Dan 6,4), EVÖEÖUIlEVOC; ßuaawa (Dan 10,5) bzw. EVÖEöuIlEvoC; ßaÖÖw (Dan 10,58; vgl. auch Dan 12,6f 8)23. Mk 1,6 könnte - ähnlich dem Sprachgebrauch in Dan 6,4; 10,5 und 12,6 - darauf zielen, nicht das Kleidungsstück oder die Kleidungsform, sondern die Materialart, mit der der Täufer bekleidet war, zu benennen. Diese Vermutung wird dadurch gestützt, daß Mk sonst auf die Verwendung der Verbalformen von EVÖUW (6,9; 15,20) ein bestimmtes Kleidungsstück folgen läßt. In Mk 1,6 kann also eine typologische Wiederaufnahme des alttestamentlichen Prophetengewandes nicht beabsichtigt sein. Wenn hingegen Mt die markinische Wendung, die auf das Material der Täufer-Kleidung wertlegt, so umformuliert, daß nun neben dem Material auch die Kleidungsform, nämlich das ,Gewand' (Evöulla) mitgeteilt wird, so könnte er damit durchaus einen Bezug zur alttestamentlichen Prophetenterminologie hergestellt haben wollen24 .
E. LOHMEYER, Das Urchristentum. 1. Buch. Johannes der Täufer, Göttingen 1932, SO. Darauf weist z. B. Luz, Evangelium (s. Anm. 9), 204 nicht weiter hin. 22 Nicht-substantivierte Verbalformen von EV6Uw / Ev6UollaL finden sich in der LXX nicht. 23 Auf diese Stelle nimmt Suidas, Lexicon, b. 17,2 Bezug. 24 "Evöulla ist entsprechend oft in der LXX belegt (vgl. z. B. Jes 63,2; Zeph 1,8; Klgl 4,14; 2 Sam 1,24; 2 Kön 10,22 u. ö.). Eine Anspielung auf Elia wird außerdem in dem Lendengürtel gesehen (s. u. und vgl. etwa Luz, Evangelium [so Anm. 9],204). 20 21
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Es bleibt festzuhalten, daß die Mk-Version nicht über die Bekleidungsform und somit auch nicht über die Verarbeitungsform des Kamelhaars 25 , sondern nur über das Bekleidungsmaterial des Täufers Auskunft gibt. Diese Beobachtung regt weitere praktische Überlegungen über die Bedeutung des ,Kamelhaares' als Kleidungsmaterial an. Hierbei ist der Blick zu den Lebensbedingungen von Wüstenbewohnern und Beduinen hilfreich: "Das Material, die Haare von Kamelen, bietet sich in der Welt der Nomaden ganz natürlich für die Herstellung des Gewandes an. «26 Die Bekleidung mit Kamelhaaren in der Antike ist über den Hinweis auf den Täufer hinaus belegt und bereits für das 3. Jahrtausend im Alten Orient nachweisbar27 • Während die Perser und Kaspier jedoch die Kamelhaare für "fein« hielten und Kleider aus Kamelhaaren oder aus Kamelfellen ein Kennzeichen vornehmer Leute waren28 , wird Johannes der Täufer die Kamelhaare deswegen getragen haben, weil er bei seiner Existenz EV "CD EP~f..L4> selbstverständlich auf sie zurückgreifen konnte. Der Täufer hat das Kamelhaar entweder in gewebter Form oder als Fell getragen 29 • Die kultisch-rituellen Konsequenzen der jeweiligen Bekleidungsform mit Kamelhaaren können hier nur angedeutet werden. Wurden die Kamelhaare gewebt, so mußte kein Tier geschädigt oder getötet werden - die Haare waren dem Kamel entweder ausgefallen, oder das Kamel wurde geschoren 30 • Hätte Johannes ein Kamelfell getragen, hätte er damit gegen die jüdischen Reinheitsvorschriften verstoßen 31 • Daß er Kleidung aus "nichtpflanzlichem Material" trug, das zudem von Kamelen, den ersten in Lev 11,4 genannten
25 Insofern kann nach Mk 1,6 auch nicht deutlich sein, ob Johannes einen gewebten Kamelhaarstoff als Gewand getragen hat (so etwa G. DALMAN, Arbeit und Sitte in Palästina, Bd. 6, SDPI 9, Gütersloh 1939, 156). 26 So noch einmal Ernst, Johannes (s. Anm. 6),286; vgl. auch E. LUPlERl, Art. Johannes der Täufer I. Neues Testament, RGG 4 4,2001,514-517: 515. 27 Vgl. B. BRENTJES, Das Kamel im Alten Orient, Klio 38, 1960, 23-52: 48; vgl. auch G. DALMAN, Arbeit und Sitte in Palästina, Bd. 5, SDPI 8, Gütersloh 1932, 18f. 28 Vgl. Ktesias von Knidos, FGrHist 688 F 10; vgl. auch WEISSBACH, Art. Kamel, RE 10, 1919, 1824-1832: 1829; O. SCHUEGRAF / P. TERBUYKEN, Art. Kamel, RAC 19,2001, 1224-1241: 1230; E. MENSCHING, Art. Kamel, DkP 3,1979,100. 29 Das bemerkt auch Tilly, Johannes (s. Anm. 6), 173, der mit der Bekleidung allerdings einen prophetischen Anspruch verbunden sieht (175). Diese Frage wird evtl. bereits in der Textüberlieferung durch die Bildung der Variante ÖEPPW in D aufgeworfen. Allerdings entfällt hier gleichzeitig auch die Information über den ledernen Gürtel: Kat (WVllV ... all'WU (vgl. allgemein zur Unterscheidung von Kamelhaar und Kamelfell auch R. ElSLER, The Messiah Jesus and John the Baptist, New York 1931, bes. 235ff und Abb. XX). 30 Vgl. Eisler, Messiah (s. Anm. 29), 238f. 31 Darauf weist J. GNlLKA, Das Evangelium nach Markus, EKK 2/1, Neukirchen-Vluyn 51998,46 hin.
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unreinen Tieren stammte, hat ihn in den Augen der Essener als unrein qualifiziert 32 . Die Bekleidung mit Kamelhaaren in Mk 1,6 par kann demnach als verstärkender Hinweis auf die Wüstenexistenz des Täufers gewertet werden. Ob sie dabei Ausdruck der Mittellosigkeit des Täufers ist (vgl. etwa die Deutung bei Gregor v. Nazianz)33 oder aber seine ,feine' Bekleidung widerspiegele\ ist eine Frage, die über den Text hinausführt. Immerhin läßt der Umstand, daß Lk die biographische Notiz in Mk 1,6 über den Täufer übergeht, die Vermutung zu, daß Lk sie als Zeichen der ,Armut' verstand und sie daher nicht in seine Vorgeschichte des Evangeliums aufnehmen wollte, da er dort gerade die priesterliche Herkunft des Täufers herausstellt (Lk 1,5). Lk hätte dann zugunsten von 1,15 Mk 1,6 bewußt ausgelassen 3S . Mk teilt in 1,6 also lediglich mit, daß der Täufer materialiter mit Kamelhaaren bekleidet, also den Lebensbedingungen der Wüste unterworfen war.
1.2 Kat (WV1JV 6~pf-iadv1Jv TT~pt 'f17V omplJV aumv(Mk 1,6 par) Die Information über die Bekleidung des Täufers mit einem Ledergürtel, die sich übereinstimmend in Mk 1,6 und Mt 3,4 findet, gibt zu unterschiedlichen Deutungsversuchen Anlaß. Sie wird erstens - ähnlich wie schon der Mantel (siehe oben) - als Hinweis auf die prophetische Deutung der Täufer-Gestalt bei Mt und Mk gewertet: 36 "Der Leder-G(ürtel) um die Hüfte kennzeichnet Johannes den Täufer als Propheten. ,,37 Diese Interpretation basiert vor allem darauf, daß die Septuaginta die mit Mk 1,6 par identische Wendung (wvTJv ÖEP~!X'CLVTJV in 2(4) Kön 1,8 32 Lupieri, Johannes (s. Anm. 26), 515. 33 Vgl. auch J. GNILKA, Jesus von Nazaret. Botschaft und Geschichte, Freiburg 31993, 83. - Gregor v. Nazianz (PG 35,861) deutet die Bekleidung mit Kamelhaaren als einfache und sparsame Lebensweise (vgl. auch O. MICHEL, Art. KaIlTJAO!;, ThWNT 3, 1938,597-599: 597). 34 H. STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus. Ein Sachbuch, Freiburg 91999, 298: "Während Kulturlandbewohner für gewöhnlich Kleidung aus Leinen oder Wollstoffen trugen, symbolisierte Johannes die Wüstenwanderungssituation Israels durch seinen nicht minder feinen Kamelhaarmantel... " (Stegemann deutet das Tragen des Kamelhaares als Zeichenhandlung). 35 Vgl. auch Windisch, Notiz (s. Anm. 1), 78f. - F. BOVON, Das Evangelium nach Lukas, EKK 3/1, Neukirchen-Vluyn 1989, 54f sieht in Lk 1,15 die priesterliche Dimension vorherrschend. Die Frage hingegen, warum Lk Mk 1,6 ausläßt, ist in den einschlägigen Arbeiten zum Täufer nicht hinreichend diskutiert (vgl. etwa die wenig hilfreichen Hinweise bei Ernst, J ohannes [so Anm. 6], 8lf.99). - U. B. MÜLLER, Johannes der Täufer. Jüdischer Prophet und Wegbereiter Jesu, Leipzig 2002, erklärt das Fehlen von Mk 1,6 im LkEv so, daß Lk diese Notiz als Elija-Replik verstanden habe und sie deswegen vermeiden wollte (so bereits O. BÖCHER, Lukas und Johannes der Täufer, SNTU 4, 1979, 27-44: 35: "Lk hielt Kamelhaarmantel, Heuschreckenspeise und Honigtrank anscheinend für Attribute des Propheten Elia"). 36 Vgl. umfassend Tilly, Johannes (s. Anm. 6), 167ff. 37 J. WEHRLE, Art. Gürtel, NBL 1, Lfg. 5, 1991,958-960: 960.
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für die Beschreibung der Kleidung des Propheten Elija benutzt. Allerdings besteht im Hinweis auf diesen Ledergürtel die einzige Übereinstimmung zwischen der Elija- und der Täufer-Kleidung in Mk 1,6 par. Denn in Bezug auf den Kamelhaarmantel galt (siehe oben), daß die Notiz über die Täufer-Kleidung in Mk 1,6 weder sachlich noch terminologisch auf die Kleidung Elijas zurückverweist. Nun wertet Ernst die Übereinstimmung zwischen der Kleidung Elijas und des Täufers mit einem Ledergürtel so aus, daß hier die "Anfänge der typologischen Vereinnahmung" zu erkennen seien 38 • Diese Vermutung ließe sich dadurch stützen, daß Mt, der - abweichend zu Mk - eine Typologisierung von Elija und dem Täufer bereits mit dem Kamelhaar-,Gewand' hergestellt haben könnte, diese markinische Wendung über den ,ledernen Gürtel' wörtlich und unbearbeitet übernommen hat. Der lederne Gürtel in Mk 1,6 hätte Mt also für seine Konzeption des Elija redivivus genügt. Zweitens läßt sich die Bemerkung über den Ledergürtel des Täufers - unabhängig von dem Elija-Bezug - rein asketisch deuten: Der Gürtel konnte "zum Zeichen von Fasten, der Bezwingung des Geschlechtstriebs u(nd) religiös-sittlicher Bereitschaft werden "39. Drittens wird im Tragen des Ledergürtels ein Verstoß gegen die Reinheitsbestimmungen der Essener gesehen 40 • Bereits aufgrund dieser Beobachtung läßt sich eine mögliche direkte Verbindung der Täufer-Bewegung zu der Qumran-Gemeinde nahezu ausschließen 41 • Über diese angeführten Deutungsversuche hinaus kann die Bekleidung mit dem Lendengürtel aber auch mit den praktischen Lebensbedingungen des Täufers in Zusammenhang gebracht werden. Der Ledergürtel um die Lenden ist entweder "als Schurz zu betrachten"42 oder kann als lederner Lendengürtel über dem Kamel-
Ernst, Johannes (s. Anm. 6),285. W. SPEYER, Art. Gürtel, RAC 12, 1983, 1232-1266: 1252 (u. a. mit Verweis auf die paränetisehen J esus-Worte Lk 12,35~. 40 Vgl. Lupieri, Johannes (s. Anm. 26), 515. - In Qumran sind offenbar eher Gürtel aus Leinen bekannt (vgl. 4 Q 491 [= 4 Q Ma] Frag. 1-3, 18). 41 Sofern man Mk 1,6 asketisch versteht, findet sich hierfür keine Analogie in den Qumrantexten (vgl. Vielhauer, Johannes [so Anm. 7], 806). Dennoch beschäftigt die Frage nach einer möglichen Verbindung des Täufers mit der essenischen Gemeinschaft die nd. Wissenschaft nachhaltig: vgl. etwa Stegemann, Essener (s. Anm. 34), 306ff, der die Unterschiede des Täufers zu den Essenern herausstellt; vgl. auch J. FREY, Die Bedeutung der Qumranfunde für das Verständnis des Neuen Testaments, in: M. Flieger u. a. (Hg.), Qumran - Die Schriftrollen vom Toten Meer. Vorträge des St. Galler Qumran-Symposiums vom 2./3. Juli 1999, NTOA 47, Freiburg 2001, 129-208: 164ff (vgl. zur Forschungsdebatte bes. auch 164 Anm. 100). Frey selbst beurteilt die Frage nach der Nähe der Kleidung und Nahrung des Täufers zu Qumran wie folgt: Kleidung und Nahrung können zwar "mit der essenischen Halakha im Einklang stehen", allerdings "lässt sich der Habitus des Täufers mindestens ebenso gut aus prophetischer Tradition erklären" (168). 42 Dalman, Arbeit Bd. 5 (s. Anm. 27), 237. - Ein solcher Lendenschurz ginge mit dem Verzicht auf ein Obergewand einher und würde dann auf die grundlegende Nacktheit des Täufers unter dem KamelfeIl hinweisen. Der Verzicht auf ein Oberkleid geschah in Israel aus Gründen der Unterwerfung, als Minderungs- oder Trauerritus oder bei körperlichen Arbeiten (vgl. auch die Soldatenbe38
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fell vorgestellt werden 4J • Die Bekleidung mit einem Lendengürtel ist typisch für "alle Beduinen Arabiens"44. Dies zeigt sich auch daran, daß - sogar in örtlicher Nähe zu dem mutmaßlichen Aufenthaltsort des Täufers zwischen Wüste und Jordan - die Existenz von Ledergürteln archäologisch nachweisbar ist 4s . Zuerst erinnert die Beschreibung der Bekleidung des Täufers mit einem Kamelhaarmantel und mit einem Ledergürtel um die Lenden also an eine für die Wüstenbewohner typische Kleidungsform 46 . Durch diese Charakterisierung der Kleidung wird der Lebensraum des Täufers, nämlich seine Wüstenexistenz, noch einmal- neben der kurzen Ortsangabe EV r'fl EP~~4> [rilc;;'IouöaLac;;] in Mk 1,4 bzw. Mt 3,1 - und nun in Bezug auf seine Lebensweise herausgestellt 47. Die nächsten beiden Nachrichten über die Lebensweise des Täufers, die sich in Mk 1,6 par finden, betreffen seine Ernährung von Heuschrecken und (wildem) Honig: 1.3 Kai Ea8ütJv aKp{t5ar;(Mk 1,6) - ~ t5€ rpor/J~ 7fv aumu aKp{OEr; Kai f-LEAl &YPLOV(Mt 3,4) Auch die Notiz darüber, daß Johannes der Täufer nach Mk 1,6 par Heuschrekken aß, wird - wie schon die Hinweise auf die Kleidung - rituell oder religionssoziologisch ausgewertet und dabei mit den übrigen synoptischen Notizen über die Fastenpraxis des Täufers in einen Zusammenhang gebracht48 : Demzufolge radikalisierte Johannes, "indem er Heuschrecken aß, die von den Pharisäern und den meisten Juden als blutlos betrachtet werden, das bibl(ische) Verbot des Blutgenusses (Lev 17,10fQ"49. Doch auch im Blick auf die Deutung der Heuschrecken als Nahrungsmittel ist eine praktische Erklärung näherliegend: Für "den nicht Ackerbau treibenden Beduinen" gehören Heuschrecken zu typischen und üblichen Nahrungsmitteln so . kleidung; vgl. H. WEIPPERT, Art. Kleidung, NBL 2, Lfg. 9, 1994,495-499, bes. 496). Wehrle, Gürtel (s. Anm. 37), 958 verweist darauf, daß Schurze aus Ziegenhaarstoff um die Lenden auf ansonsten bloßem Leib getragen wurden (vgl. 1 Kön 21,27). 43 Insofern hätte es sich bei dem ledernen Gürtel um einen Riemen, der über dem Obergewand getragen wurde, gehandelt (so etwa Böcher, Johannes [so Anm. 6], 173; Gnilka, Evangelium [so Anm. 31],47). 44 J. J. HESS, Beduinisches zum Alten und Neuen Testament, ZAW 35, 1915, 120-136: 131. 45 Vgl. H. WEIPPERT, Art. Leder und Lederbearbeitung, BRU 1977, 203-204 mit dem Hinweis auf Gräberfunde in Jericho: Jer I 454 (203). 46 Zu dieser Einschätzung kommen auch Meier, Jew II (s. Anm. 16), 48 und Gnilka, Jesus (s. Anm. 33), 83. 47 Insofern stimme ich Vielhauer, Tracht (s. Anm. 4), 53f hier zu. 48 Vgl. Tilly, Johannes (s. Anm. 6), 176ff. 49 So Lupieri, Johannes (s. Anm. 26), 514. 50 Hess, Beduinisches (s. Anm. 44), 124; vgl. auch Dalman, Arbeit Bd. 6 (s. Anm. 25), 68; ders., Orte und Wege Jesu, Gütersloh 1919, 78f; Stegemann, Essener (s. Anm. 34),298.
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Heuschrecken zählen zur Tierwelt der Wüstenlandschaft 51 . Nicht nur Lev 11,2252 , sondern auch die Qumranrexte sprechen selbstverständlich vom Verzehr von Heuschrecken (vgl. CD 12,14f.; 11Q19 48,3-4). Es existieren Berichte über ein äthiopisches Volk der Heuschreckenfresser (UKpLöocpayoL; vgl. Diodorus Siculus, 3,29; Plinius, Nat hist, 6,195; 7,29; Strabo, 16,4,12[772])53; den Parthern und Griechen galten Heuschrecken sogar als "Delikatesse" (vgl. Plinius, Nat hist 11,107; Aristophanes, Achar 116)54. Aber auch arme Leute fingen Heuschrecken und aßen sie (vgl. Theocritus, I, 52). Bis in die Gegenwart "essen Völkerschaften Arabiens noch H(euschrecken), die sie zerstampfen und rösten"55. Daß der Täufer Heuschrecken verzehrte, erscheint nicht nur ,historisch' möglich, sondern verlangt auch keine religiös motivierte Interpretation. Es ist wahrscheinlich, daß sich ein Wüstenbewohner der Heuschrecken, die in der Kulturlandschaft sogar als Delikatesse gelten, als gewöhnlicher Nahrung bediente 56 • 1.4 MiA.l aYPwlI
Auch die Ernährung mit Honig läßt sich aus den beduinischen Lebensbedingungen des Täufers erklären. Während kultivierter Honig als wertvolles Lebensmittel galt 57 , existierten auch wilde Bienen, die "in Felsen und in hohlen Eichen ... ihren Honig erzeugen"58. Auf diesen Honig "wildlebender Bienen" könnte der Täufer, der im Unterschied zu den Essenern keine Bienenzucht betrieben hat, zurückgegriffen haben 59 . In der Wildnis lebende Menschen beraubten immer wieder
51 V gl. J. A. MACMAHON, DesertS. A comprehensive field guide, fuHy illustrated with color photographs ... , New York 1992, bes. 511ff. 52 Vgl. auch Dalman, Arbeit Bd. 6 (s. Anm. 25), 108. 53 "Diese Leute füllten im Frühling eine Schlucht mit Gestrüpp und zündeten es an; die H(euschrecken) , durch den Rauch erstickt, fielen nieder und wurden von ihnen gesammelt; gegen Fäulnis übergossen sie sie mit Salzlake" (H. GOSSEN, Art. Heuschrecke, RE 8, 1913, 1381-1386: 1386; vgl. ebd. auch die Literaturbelege). 54 C. HÜNEMÖRDER, Art. Heuschrecke; DNP 5, 1998, 526--528: 528 (vgl. ebd. auch die Literaturbelege). 55 Gossen, Heuschrecke (s. Anm. 53), 1386. 56 Grundsätzlich gilt für die Ernährung der Wüstenbewohner: " ... the actual diet of indigenous desert peoples, who are mostly poor, is dictated largely by availability, ease of preservation and by strong historical and cultural influences" (G. N. Louw / M. K. SEELY, Ecology of Desert Organisms, London 1982, 162). 57 V g. A. GUTSFELD, Art. Honig, DNP 5, 1998, 710. 58 M. SCHUSTER, Art. Mel, RE 15, 1932, 364-384: 367. - "H(onig) wilder Bienen als Nahrung der Menschen wurde aus hohlen Bäumen ... oder Felshöhlen ... gesammelt, hauptsächlich aber durch gezielte Bienenzucht gewonnen" (A. SALLINGER / O. BÖCHER, Art. Honig, RAC 16, 1994,433-473: 435 [mit weiteren Quellenbelegen]; vgl. auch Dalman, Arbeit Bd. 6 [so Anm. 25], 106). 59 Vgl. Sallinger / Böcher, Honig (s. Anm. 58), 463; vgl. auch G. DALMAN, Arbeit und Sitte in Palästina Bd. 7, SDPI 10, Gütersloh 1942, 294. - Dagegen existieren Hinweise darauf, daß in Qumran Bienenzucht betrieben wurde (Belege bei Sallinger / Böcher, 461). Trotz dieser Differenz stellt
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wilde Bienenstöcke und bereiteten dann - "wenn der Fund reich war" - aus dem Honig Met60 • So legt es sich nahe, die Notizen über die Ernährungsweise des Täufers als Hinweis darauf zu verstehen, daß Johannes in unkultivierten Lebensbedingungen lebte. Eine asketische Deutung dieses Ernährungsverhaltens entweder in Analogie zu den Propheten oder zu den Nasiräern 61 erscheint aus den genannten pragmatischen Erwägungen nicht zwingend erforderlich 62 • Auch das Ebionäerevangelium deutet die Notiz über die Ernährung des Täufers mit wildem Honig als Zeichen des Wüstenaufenthaltes (vgl. Epiphanius, haer, 30,13,4f mit Anspielung auf Ex 16,31). 1.5 Zwischen bilanz: Historische Nachrichten und ihre theologische Bedeutung Bei der Untersuchung von Mk 1,6 par ließen sich für alle vier dort genannten Notizen über die Lebensweise des Täufers Analogien in der altorientalischen und antiken Lebenspraxis von Beduinen finden, die es wahrscheinlich machen, daß die Bekleidung mit Kamelhaar und mit einem ledernen Lendengürtel sowie die Ernährung von Heuschrecken und Honig die realistische Lebenspraxis eines Wüstenbewohners widerspiegeln. Damit erübrigt sich - zumindest auf markinischer Bearbeitungsstufe - eine religiöse Motivierung für die Hinweise auf Kleidung und Nahrung des Täufers. Es finden sich in Mk 1,6 bis auf die Beschreibung des ledernen Gürtels keine topischen Bezüge zu Elija oder überhaupt zu einer prophetischen Gestalt63 • Die Notizen über Kleidung und Nahrung geben, wenn sie eine realistische Beschreibung beduinischer Lebensumstände darstellen 6 4, außerdem keinen Hinweis darauf, daß der Täufer ein asketisches Leben führte 65 • Böcher in seinem Art. dann aber doch Johannes in die Nähe der Essener, indem er die Nahrungsweise des Täufers als asketische versteht: "Der mit den Asketen von Qumran verwandte jüd(ische) Wüstenprophet u(nd) Bußprediger Johannes ... ernährte sich ... von Heuschrecken u(nd) wildem H(onig), d.h. er verzichtete auf den Genuß von Fleisch u(nd) Wein" (ebd., 461; vgl. dazu die kritischen Überlegungen bei Ernst, Johannes [so Anm. 6], 28m. 60 V. HEHN, Kulturpflanzen und Haustiere in ihrem Übergang aus Asien nach Griechenland und Italien sowie in das übrige Europa, Berlin 8 1911, 136. 61 V gl. etwa Böcher, J ohannes (s. Anm. 6), 173 und ausführlich Tilly, J ohannes (s. Anm. 6), 176ff. 62 Ernst, Johannes (s. Anm. 6), 288 schlägt zunächst vor, die Notizen über die Ernährung so zu verstehen: "Johannes lebt wie Jedermann'" (im Original kursiv). Ernst schließt dann aber aus, daß wilder Honig eine dauerhafte Nahrung von Wüstenbewohnern sein könne und bevorzugt das "prophetische Selbstbewußtsein" (im Original kursiv) als dominierenden "Interpretationsschlüssel" (289). 63 Gegen z. B. R. PESCH, Markusevangelium. 1. Teil, HThK 2/1, Freiburg 1976, 81. - Die Einschätzung teilt Meier, Jew II (s. Anm. 16),49: " ... the clothing and the diet of John point first of all simply to his habitation in the desert". 64 Darauf weist Stegemann, Essener (s. Anm. 34),298 nachdrücklich hin. 65 In Umkehrung der üblichen Zuordnung wäre zu überlegen, ob sich die Hinweise auf die Lebenspraxis des Täufers in Q (Mt 11,7ff; 11,18f; Lk 7,24ff; 7,33Q nicht von Mk 1,6 her interpretieren ließen.
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Der Aufenthaltsort des Täufers in der Wüste und sein Wirken am Jordan sind durch mehrere Quellen bezeugt: Daß sich J ohannes in der Wüste aufhielt, ist in Q (Q 7,24), im lukanischen Sondergut (vgl. Lk 1,80), beiJoh (1,23) und schließlich in der Mk vorliegenden Tradition (1,4) belegt; daß Johannes am Jordan taufte, ist durch Q 3,3a, durch Joh 1,28 und wiederum durch die Mk vorliegende Tradition in 1,5 und 1,9 belegt. Wüste und Jordan scheinen daher historisch zuverlässige Ortsangaben für das Auftreten und Wirken des Täufers zu sein. Sollte sich der Täufer tatsächlich in der Wüste, die mehr als ein "theologischer Topos" wäre66 , aufgehalten haben, so verlangt dieser Aufenthaltsort seinem Bewohner per se eine Reduktion an Kleidung und Ernährung ab, ohne daß damit eine spezielle Buß- oder Fastenpraxis verbunden wäre. Die Lebensbedingungen des Täufers 67 sind in Mk 1,6 also durchaus realistisch geschildert; sie dienen umgekehrt dazu, die Wüste als den Aufenthaltsort des Täufers narrativ hervorzuheben. An diese Beobachtung schließen sich zwei Folgerungen an: Erstens darf, wenn die Wüste als historischer Aufenthaltsort des Täufers verstanden werden kann, auch die biographische Notiz in Mk 1,6 par als historisch zuverlässig gelten, beschreibt sie doch durchaus realistisch die Lebensbedingungen eines Wüstenbewohners. Darüber hinaus erweist sich die Wüste als Schlüssel für die Rekonstruktion der Traditionsgeschichte von Mk 1,1-8 und für die theologische Interpretation der Täufer-Gestalt auf der Ebene der markinischen Redaktion 68 • Beides knüpft an das Verhalten des Täufers an: seine selbstgewählte zivilisationsferne beduinische Lebensweise in der Wüste, die zur Folge hatte, daß die Bevölkerung J erusalem-Judäas zu ihm,kommen mußte. 2 Herkunft und Funktion der biographischen Täufer-Notiz in Mk 1,6
Bevor die narrative Funktion und die theologische Bedeutung der biographischen Notiz über den Täufer in Mk 1,6 erhoben wird, muß zunächst nach ihrer traditions geschichtlichen Herkunft gefragt werden. Als Bindeglied in der Traditionsbildung bietet sich die Ortsbestimmung der Wüste an.
So Gnilka, Evangelium (s. Anm. 31), 41. Dies stellt jedoch etwa Luz, Evangelium (s. Anm. 9), 204 (bes. Anm. 20) in Frage. 68 Das führt Vielhauer, Tracht (s. Anm. 4), bes. 53f zu seiner eschatologischen Deutung der Täufer-Gestalt aus. Stegemann, Essener (s. Anm. 34), 296ff versteht die Wahl dieses Aufenthaltsortes als prophetische Zeichenhandlung, die an den Übergang Israels vom Exodus in das Gelobte Land erinnert. 66
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2.1 Die traditionsgeschichtliche Herkunft von Mk 1,2ff
Die Ortsbestimmung in Mk 1,4 parr ist - wie oben gesehen - historisch 69 und geographisch: J ohannes der Täufer hält sich zwischen Jordan und Araba auf und tauft vermutlich östlich des Jordans, im Herrschaftsgebiet des Herodes Antipas 70 • Am Beginn der Täufer-Tradition steht die historische Notiz über den Aufenthalt in der Wüste. Diese Tradition nahm das Zitat aus Jes 40,3 LXX (vgl. Mk 1,3 parr)71, das in den Evangelien als Zitat nur hier angeführt wird 72 , auf, und zwar mit der Absicht, die Wirksamkeit des Täufers dem Auftreten J esu sinnvoll zuordnen zu können 73 • Die Tradition vom Aufenthaltsort des Täufers (1,4a) und ihre Deutung mit J es 40,3 wurden wahrscheinlich bereits vormarkinisch verknüpft und ausgebaut (V 4-6). Es ist wahrscheinlich, daß der Evangelist 1,2a.3-6 vorgefunden 74 und diesen Komplex um das Mischzitat (Ex 23,20; Mal 3,1) in 1,2a, das schon in Q 7,27 mit der Täufer-Tradition verbunden war, erweitert hat. Die redaktionelle Arbeit des Mk wird außerdem an der U mformulierung des Zitates aus J es 40,3, die christologisch akzentuiert ist, erkennbar 75 • Jes 40,3 wird auch sonst von den synoptischen Evangelien und dem Johannesevangelium redaktionell in die jeweilige Evangelienkonzeption eingepaßt: Mt und
69 Vgl. auch Pesch, Markusevangelium (s. Anm. 63), 79; anders R. BULTMANN, Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 10 1995, 261, der die topographische Angabe zum Zuwachs der Tradition unter christlichem Einfluß rechnet. 70 Vgl. dazu Stegemann, Essener (s. Anm. 34), 294ff. 71 Dabei bereitet die LXX-Version, wie Gnilka, Evangelium (s. Anm. 31),44 bemerkt, diese mögliche Bezugnahme auf den Täufer vor, da hier - im Unterschied zu anderen frühjüdischen Rezeptionen von Jes 40,3 (vgl. etwa auch 1 QS 8,13f; 9,19D - EV L11 EP~Il4l auf die <jJwv~ ßowvm~ bezogen werden kann. n Lk 1,76 darf als lukanisches Sondergut (so Böcher, J ohannes [so Anm. 6], 174) oder als redaktionelle Wiederaufnahme von J es 40,3 parallel zu Lk 3,4 gelten. 7J Es wird auch die Meinung vertreten, daß der Bezug des Täufers zu J es 40,3, das bereits innerhalb des AT rezipiert wird (vgl. Mal 3,1), bereits auf den Täufer selbst oder die Täuferkreise zurückgeht (vgl. Frey, Bedeutung [so Anm. 41], 172). 74 Gnilka, Evangelium (s. Anm. 31), 41 wertet V 3-6 als "geschlossenen Bericht". - R. PESCH, Anfang des Evangeliums Jesu Christi. Eine Studie zum Prolog des Markusevangeliums (Mk 1,1-5), in: Die Zeit Jesu. FS H. Schlier, hg. v. G. Bornkamm u. a., Freiburg 1970, 108-144, 113f versteht V 2-8 als traditionell (vgl. auch D. LÜHRMANN, Das Markusevangelium, HNT 3, Tübingen 1987, 32D· 75 Während die LXX liest: EU8El.a~ lTOLElLE LO:~ LPI.ßOU~ LOU eEOU ~Ilwv, gibt Mk in 1,3 den Text so wieder: EU8El.a~ lTOLElLE LO:~ LPI.ßOU~ aumu (vgl. auch Gnilka, Evangelium (s. Anm. 31), 41: Gnilka rechnet Mk 1,2b.7f, die in der Nähe zu Q stehen, ebenfalls zur mk Redaktion [ebd.]). ~ Diese Form von Schrift-Zitat ist überdies für Mk singulär: Mk "bevorzugt sonst die Reflexion eines Geschehens mit einem Zitat im Munde Jesu oder wie in 1,11 im Munde Gottes" (D. DORMEYER, Mk 1,1-5 als Prolog des ersten idealbiographischen Evangeliums von Jesus Christus, BI 5,1997, 181-211: 197).
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Lk haben das J esaja-Zitat aus der markinischen Vorlage übernommen 76 ; bei Mt gewinnt es im Anschluß an die Kapitel 1-2 den Charakter eines Erfüllungszitates 77 ; Lk fügt dem Zitat aus Jes 40,3 die Verse 4.sb bei. Im Johannesevangelium (vgl. Joh 1,23) deklariert sich der Täufer selbst (EYW) mit dem Zitat aus Jes 40,3 als ,Zeuge' für den in die Welt gekommenen AOY0C; (vgl. Joh 1,19 sowie 1,6fD und weist eine Elija-Typologisierung von sich (1,21). Die redaktionelle Leistung des Mk wird schließlich auch an der parallelen Anordnung von Täufer-Überlieferung (1,2-6) und Jesus-Überlieferung (1,9fD, die auf unterschiedliche Überliefe'rungskomplexe zurückgehen, deutlich (v gl. [Kat] EYEVE'rO in Mk 1,4.9/8. Auch hierbei ist der Topos der Wüste ein verbindendes Element (vgl. 1,4 und 1,12). Die Wüste als historisch-geographischer Lebensbereich des Täufers bildet also bereits in der vormarkinischen Überlieferung das Scharnier erstens zur Deutung der Täufer-Gestalt mit Hilfe von J es 40,3 und zweitens zur Notiz über Kleidung und Nahrung des Täufers (Mk 1,6 par). Drittens stellt die Wüste in Mk 1,4 - spätestens auf der redaktionellen Stufe des Markusevangeliums - auch das Bindeglied zur Notiz über Ort und Umstand der Versuchung Jesu (Mk 1,12 parr) im Anschluß an die Taufe im Jordan (1,9-11) dar. 2.2 Die narrative Funktion von Mk 1,6 im Kontext von Mk 1,1-15 Wie gesehen wird Mk 1,6 durch das Motiv des Wüsten-Aufenthaltes des Täufers in die Täufer-Tradition (Mk 1,2a.3fD integriert. Die narrative Funktion und die theologische Bedeutung der biographischen Notiz erschließt sich nur dann weiter, wenn der Topos der Wüste nicht nur historisch als Integrationsfaktor für Mk 1,6 reklamiert, sondern auch narrativ und theologisch gedeutet wird. Aus geologischer Sicht wird ,Wüste' wie folgt definiert: Eine Wüste ist "a hot, dry area of the earth's surface where the vegetation is usually stunted, often bizarre in form and either absent or patchily distributed"79, oder: "a region where the moisture that could evaporate, if it were available, is at least double the amount of actual precipitation"8o. Die Semantik der Lexeme vom griechischen Stamm EPllll- ist grundlegend mit der Vorstellung von Verlassenheit und Vereinsamung verbunden. In den synoptischen Evangelien ist mit ~ EPllll0C; ein Ort ohne 76 Dies läßt sich lediglich vermuten (vgl. Robinson, Q-Synopsis [so Anm. 2), 4ft), ist allerdings auch dadurch wahrscheinlich, daß Mt und Lk die schon bei Mk vorliegende Veränderung des LXXTextes in Jes 40,3b übernommen haben. 77 Darauf weist Luz, Evangelium (s. Anm. 9), 203 hin. 78 Vgl. z. B. Lührmann, Markusevangelium (s. Anm. 74),32.36. 79 Louw / Seely, Ecology (s. Anm. 56), 1. 80 B. A. PORTNOV, Introduction, in: ders. / A. P. Hare (Hg.), Desert Regions. Population, Migration and Environment, Hcidelberg 1999, 3 gibt eine solche Definition wieder.
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Bewohner bezeichnet. 50 geht J esus, wenn er den Menschenmengen zu entkommen sucht, in menschenleere, einsame Gegenden (EPTlIJ.OL tGirOL, vgl. Mk 1,45; Mt 14,13 u. ö.). Diese semantische Linie bleibt dominierend, wenn man die Wüste in neutestamentlichen Texten heils geschichtlich in Anknüpfung an die Geschichte Israels im Alten Testament interpretiert81 • Denn daß Gott in der Wüstenzeit Israels an seinem Volk in besonderer Weise gehandelt hat und daß die Erinnerung an die Wüstenzeit zu einer Erinnerung an das Heilshandeln Gottes wii-d82 , setzt einen menschenleeren, einsamen Topos, dem die Kennzeichen der Zivilisation - zum Beispiel Nahrungsvorkommen - fehlen, voraus. Wenn im Judentum einerseits die Erinnerung an die Wüstenzeit Israels gepflegt wird und andererseits an die Wüste messianische Erwartungen geknüpft sind83 , so sind beide Perspektiven durch das Angewiesensein auf das Handeln Gottes angesichts der Ferne menschlicher Hilfe verbunden. Vor diesem Hintergrund wird nun evident, mit welcher narrativen Funktion der Evangelist den Topos der Wüste in Mk 1,1-15 nutzt. Er setzt die TäuferÜberlieferung (1,2ft) und die Jesus-Überlieferung (1,9ft) nicht nur dadurch parallel8 \ daß er die Taufszene in 1,9ff sprachlich analog zu 1,4 gestaltet, sondern auch dadurch, daß er den Aufenthaltsort des Täufers in 1,12 wieder aufnimmt und zum Ort der Bewährung des getauften J esus macht. Um diese 5trukturanalogie auszubauen, hat Mk - parallel zur biographischen Notiz über den Täufer in 1,6 ~ mit der Wendung I..I.EtIX tWV e1lpLWV (1,13b), die redaktionell sein dürfte 8S, die Lebens-
So etwa G. KITTEL, Art. EPT]~O~ KtÄ, ThWNT 2,1935,654--657: 655f. Innerhalb des AT kommt der Wüstentradition eine heilsgeschichtliche Bedeutung zu (vgl. T. L. BURDEN, The Kerygma of the Wilderness Traditions in the Hebrew Bible, AmUSt.TR 163, New Y ork 1994, 227: "The wilderness traditions are utilized in biblical texts in two basic ways. First, biblical writers recite the historical accounts of Yahweh's actions in the past, within which Yahweh interacts with the Israelite community (Heilsgeschichte) ... Second, the wilderness period afforded biblical writers a wealth of language and imagery that reflect the events and experiences of Yahweh and the community... The use of the material from Israel's history ... is not necessarily intended to recite history as such, but to express certain aspects of Yahweh's relations hip with the community"). 83 Vgl. dazu E. W. STEGEMANN / W. STEGEMANN, Urchristliche Sozialgeschichte. Die Anfänge im Judentum und die Christusgemeinden in der mediterranen Welt, Stuttgart 1995, 150ff. Sie rechnen die Täufer-Bewegung allerdings zu den prophetisch-charismatischen Protestbewegungen (vgl. auch O. BÖCHER, Johannes der Täufer in der neutestamen1;lichen Überlieferung, in: Rechtfertigung - Realismus - Universalismus in biblischer Sicht. FS A. Köberle, hg. v. G. Müller, Darmstadt 1978, 45-68: 49). 84 Auf die parallele Erzählstruktur weist grundsätzlich u. a. H.-J. KLAUCK, Vorspiel im Himmel? Erzähltechnik und Theologie im Markusprolog, BThSt 32, Neukirchen-Vluyn 1997, 21ff hin. Böeher, J ohannes (s. Anm. 6), 178 sieht die Parallelität zwischen Täufer und J esus in dem asketischen Kampf. 85 Daß es sich bei Mk 1,13b um eine redaktionelle Einfügung handelt, macht eine Kompositionskritik von Mk 1,9-13 deutlich. 81
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bedingungen Jesu in der Wüste benannt. Denn auch diese Notiz weist auf die Menschen- und Zivilisations ferne zu Beginn des Auftretens J esu hin (vgl. in ähnlicher Bedeutung Dan 4,15; 4,17a; 4,33; Dan 4,15 und 5,21 8). Die Notiz über Kleidung und Nahrung des Täufers in Mk 1,6 hat also dieselbe Funktion wie die Wendung IlEtU 'tWV 81lPLWV in Mk 1,13b86 : Es werden die Lebensumstände und der Lebensbereich beschrieben, in dem der Täufer lebte und in dem die Wirksamkeit Jesu begann. Die Notiz über den Täufer in Mk 1,6 stellt also die Wüstentypologie hera~s87. 2.3 Die theologische Bedeutung von Mk 1,6 im Kontext von Mk 1,1-15
Nach diesen Überlegungen scheint es fraglich, ob Mk den Täufer in 1,2ff primär theologisch als ,prophetische' Gestalt zu deuten sucht 88 : Wie oben festgestellt wurde, liegt in 1,6 keine prophetische Replik vor. Jes 40,3, also die bereits vormarkinisch formulierte Deutung der Täufer-Gestalt, hat Mk redaktionell zwar bearbeitet, dabei aber pointiert christologisch und in Bezug auf den Täufer nicht prophetisch akzentuiert. Auch der Umstand, daß der Evangelist in Mk 1,2b das Mischzitat, das bereits in Q 7,26 auf den Täufer gedeutet wird, redaktionell integriert, verleiht der Täufer-Gestalt in Mk 1,2-6 gerade keine prophetischen Züge. Denn in Q 7,24-28 wird der Täufer über die Propheten gestellt 89 . Wenn Mk also dem JesajaZitat bewußt in 1,2b das Mischzitat voranstellt, stellt er den ,Rufer in der Wüste' über eine prophetische Gestalt 90 . Daß Mk im Verlauf seines Evangeliums die Täufer-Gestalt dann doch als Elija redivivus interpretiert (Mk 9,11-13; Mk 11,13), stellt insofern keinen Widerspruch zu Mk 1,2-6 dar, als es - sogar noch auf der redaktionellen Ebene des Markusevangeliums - den vielfältigen und durchaus unabgeschlossenen Prozeß der Zuordnung vom Täufer zur Person Jesu im frühen Christentum widerspiegelt91 . 3 Zusammenfassung: Mk 1,6 in historiographischer Hinsicht
Johannes der Täufer trat in der Wüste auf und taufte im Jordan. Beide Angaben sind historisch wahrscheinlich. Sie sind durch die vormarkinische Überlieferung, 86 Insofern besteht die Lücke nicht, die Windisch, Notiz (s. Anm. 1), 85f hinsichtlich einer Mitteilung über die Bekleidung J esu in Analogie zu der des Täufers konstatiert. 87 Vielhauer, Tracht (s. Anm. 4), 54 mißt der Wüstentypologie dann eine eschatologische Bedeutung bei: "Seine Kleidung und Nahrung haben ihren Sinn als eschatologische Demonstration." 88 Vgl. z. B. Lührmann, Markusevangelium (s. Anm. 74),35. 89 Darauf weist auch Müller, Johannes (s. Anm. 35), 48f. hin. Um das Q-Logion auf Elija beziehen zu können, fügt Mt - im Unterschied zu Lk -11,14 in diesen Zusammenhang ein. 90 Joh weist im Umfeld des Jes-Zitates eine Täufer-Elija-Typologie explizit ab (vgl. Joh 1,21). 91 Die Problematik typologischer Identifikationen führt Mk sogar in Bezug auf die Person Jesu an (vgl. Mk 6,14-16).
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durch Q, durch lukanisches Sondergut und durch vorjohanneische Traditionen belegt. Die biographische Notiz in Mk 1,6 stellt zwar ein singuläres vormarkinisches Überlieferungsgut dar; sie scheint aber deswegen historisch wahrscheinlich, weil die darin geschilderte Lebensweise des Täufers den beduinischen Lebensbedingungen entspricht. Mk hat diese historische Notiz in sein Evangelium übernommen, ohne sie -)m Unterschied zu Mt - redaktionell zu bearbeiten: Während Mk den Täufer in 9,11-13 und in 11,32 in die Nähe eines Proph~ten oder einer Elija-Typologie rückt, repliziert er weder durch die Septuaginta-Zitate in Mk 1,2f noch durch die biographische Notiz in Mk 1,6 deutlich auf das Prophetenamt oder speziell auf die Elija-Gestalt. Diesen Bezug stellt erst Mt in seiner Bearbeitung der biographischen Notiz (3,4) her, so wie er auch andernorts die Ansätze zu einer prophetischen Deutung der Täufer-Gestalt im Markusevangelium ausarbeitet (vgl. Mt 17,13 im Unterschied zu Mk 9,13). Lk hingegen verzichtet vermutlich deswegen auf die historische Notiz in Mk 1,6, weil sie seinem Konzept der TäuferDeutung in Lk 1-2, das vornehmlich aus lukanischem Sondergut stammt, nicht entspricht. Ähnlich wie Mk verzichtet Lk sonst auf eine explizit prophetische oder elija-typologische Deutung des Täufers. Die Interpretation von Mk 1,6 führt abschließend zu einer wesentlichen Beobachtung: Mk benutzt die biographische Notiz in 1,6 nicht zu einer prophetischen Deutung des Täufers, sondern überliefert sie um ihrer selbst willen bzw. dazu, den Aufenthaltsort des Täufers in der Wüste hervorzuheben. Mk arbeitet hier also nicht theologisch, sondern historisch. Daher hat 1,6 einen historiographischen Aspekt. Im Kontext von Mk 1,1-15 charakterisiert Mk 1,6 folglich einerseits den Lebensbereich des Täufers und ermöglicht es andererseits, parallel dazu, im Anschluß an die Taufe auch das Wirken Jesu mit der Notiz über die Versuchung (1,12f) in der Wüste beginnen zu lassen. Über die Taufe hinaus sind das Auftreten des Täufers und das Auftreten J esu durch die parallele Erzählstruktur und den Topos der Wüste miteinander verbunden. Indem Mk also durch 1,6 die Wüstenexistenz des Täufers und in 1,13b den Wüstenaufenthalt Jesu hervorhebt, läßt er die apx~ 'tOU EuaYYEÄlou in doppelter Weise in der Wüste beginnen.
Wolfgang Kraus DAS JÜDISGHE EVANGELIUM UND SEINE GRIECHISCHEN LESER Zum lukanischen Verständnis der Passion Jesu
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Die Frage nach der Inkulturation des Evangeliums kann nie endgültig ·beantwortet werden. Sie stellt sich jeder Generation in jedem Kontext neu, dabei ist sie so alt wie die urchristliche Mission selbst. Der Jubilar ist den meisten Fachkollegen aufgrund seines ausgeprägten wissenschaftsgeschichtlichen Interesses, das sich in vielen seiner Publikationen niederschlägt, wohlbekannt. Hier wird mit Detailkenntnis und Überblickswissen zugleich der Gang der Forschung ausgebreitet und analysiert. Weniger bekannt dürfte sein, daß Otto Merk in seinen Lehrveranstaltungen durchaus unmittelbar praxisrelevante Themen angeboten hat: unter anderem Gebet, Seelsorge, Mission im N euen Testament. Im folgenden soll ein Aspekt solch praxisrelevanter Exegese Thema sein. Die Beschäftigung mit der Passion Jesu bei Lukas könnte dabei deutlich machen, wie die Korrelation von Botschaft und Adressaten das kreative Potential des Theologen herausfordert und wie Lukas seiner Aufgabe gerecht geworden ist. Zugleich könnte etwas von der Bandbreite der Interpretation des Todes Jesu im Neuen Testament deutlich werden und von der Notwendigkeit, die Frage nach der Inkulturation des Evangeliums offen zu halten. 1 Aspekte der Verkündigung des Todes Jesu bei Lukas
Es ist allgemeiner Konsens in der Exegese, daß Lukas die soteriologische Interpretation des Todes Jesu im Sinn eines Sühne geschehens oder Sterbens "für uns" gegenüber Markus zurückgedrängt und im Vergleich zu Paulus nahezu marginalisiert hat: - Das Jesuswort aus der synoptischen Tradition Mk 10,45, wonach der Menschensohn gekommen sei, sein Leben als Lösegeld für viele zu geben, fehlt bei Lukas. Statt dessen spricht er in Lk 19,10 davon, daß der Menschensohn gekommen sei, zu suchen und zu retten, was verloren ist. I Im folgenden wird nur direkt zitierte, nicht eingesehene Literatur genannt. Eine ausführliche Bibliographie zur Passionsgeschichte des Lukas bietet R. BROWN, The Death of the Messiah. From Gethsemane to the Grave, Bd. 1, AncB RL, New York u. a. 1994, 102-104 und jeweils zu Beginn der einzelnen Paragraphen.
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- Lukas hat den Rangstreit unter den Jüngern, auf den Jesus bei Markus mit dem Lösegeldwort antwortet (Mk 10,35-45), in die Situation des letzten Mahles umgestellt und anders ausgerichtet (Lk 22,24-27). In Lk 22,27, dem Wort, das überlieferungsgeschichtlich vermutlich eine frühere Stufe als Mk 10,45 repräsentiert, bezeichnet sich Jesus als den "u~ter euch Dienenden,,2. - In der Abendmahlsüberlieferung wird zwar das Kelchwort "mein Blut, für euch vergossen" bei Lukas weitertradiert (Lk 22,20), und in Apg 20,28 findet sich ein Hinweis auf "sein eigenes Blut", durch das die Ekklesia Gottes "erkauft" wurde, aber diese Aussagen tragen nirgends wirklich den Ton - zumal sich "durch sein eigenes Blut" (Apg 20,28) syntaktisch auf Gott bezieht. Lukas hat hier "eine geläufige Redewendung mehr oder weniger mechanisch wiederholt'cJ. Auch wenn Lukas das sühnetheologische Verständnis des Todes J esu also kennt und nicht ablehnt, so hat er es für seine Leser offensichtlich für weniger wichtig oder erhellend erachtet 4. Dies dürfte mit der Herkunft der Adressaten seines Evangeliums zu tun haben. So wie bei Lukas nicht die Auferstehung, sondern die Erhöhung J esu den entscheidenden Akzent trägts - und ich meine, dies ist aufgrund der griechischen Leser so -, so trägt beim Tod J esu nicht die Vorstellung vom Sühnetod den Akzent, sondern andere Aussagen treten in den Vordergrund und dies wohl ebenso aufgrund der Leser. Welche anderen Akzente hat Lukas nun gesetzt? Im Anschluß an E. Schweizer möchte ich drei Aspekte zum Verständnis des Todes J esu bei Lukas besonders herausstellen6: 1. Lukas betont gegenüber Markus das Leiden Jesu noch stärker, indem er zeigt: Dieses Leiden steht über dem ganzen Weg Jesu. 2. Lukas betont die Heilsbedeutung des gesamten Dienstes Jesu und nicht nur seines Todes. 3. Lukas stellt das Paradigmatische des dienenden Leidens heraus. Zu 1: Nach Lukas ist es "geradezu die Funktion des Christus, daß er ,leiden muß"', eine weder im Judentum noch durchgängig im Christentum zu findende 7 Vorstellung • - Über die drei Leidensankündigungen hinaus weisen nach Lukas 2 Zur überlieferungsgeschichtlichen Einordnung von Mk 10,45 und Lk 22,27 siehe J. ROLOFF, Anfänge der soteriologischen Deutung des Todes Jesu (Mk X,45 und Lk XXII.27), in: ders., Exegetische Verantwortung in der Kirche. Aufsätze, hg. von M. Karrer, Göttingen 1990, 117-143. 3 E. SCHWEIZER, Theologische Einleitung in das Neue Testament, GNT 2, Göttingen 1989, 132. 4 Warum das so ist, können wir nach Meinung von J. J ervell nur hinnehmen und nicht einmal erraten ]ERVELL, Die Apostelgeschichte, KEK 3, Göttingen 1998, 104 Anm. 345). Ich bin hier zuversich tlicher. 5 Vgl. dazu Jervell, Apg (s. Anm. 4), 105 mit Anm. 347. 6 Weitere Aspekte ließen sich nennen, etwa jener, den M. MÜLLER, Die Hinrichtung des Geistträgers. Zur Deutung des Todes Jesu im lukanischen Doppelwerk, in diesem Band S. 45-61 herausgestellt hat. 7 E. SCHWEIZER, Das Evangelium nach Lukas, NTD 3, Göttingen 1982, 225 (kursiv im Original).
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auch Elija und Mose in der Verklärungsszene auf die Notwendigkeit des Leidens hin (Lk 9,31). - Der ganze Weg J esu nach J erusalem ist als Weg zum Leiden gestaltet (Lk 9,51)8. - Jesus selbst spricht von seinem Tod als einer "Taufe", die ihn erwartet (Lk 12,50) und versteht seine" Vollendung" als Prophetenmartyrium. Er ist der leidende Gerechte 9 bzw. der leidende Prophet (Lk 13,31-33)10. Im Gleichnis von den bösen Winzern (Lk 20,9-19) wird nach Lukas (im Unterschied zu Mk 12,1-12; Mt 21,33-46) auch nur der Sohn getötet (20,15). Die Übersetzung von auvEXw / auvExojlIXL in Lk 12,50 stellt ein Problem dar. Das Verbum ist bei Lukas beliebt (vgl. 4,38; 8,37.45; 19,43; 22,63; Apg 7,57; 18,5; 28,8). Das deutsche "bange sein" bzw. "geängstigt sein", wie es sich in den gängi1 gen Übersetzungen findet \ bezieht sich zu sehr auf innerseelische Bereiche. Mit Recht weist H. Koester darauf hin, daß es sich erstens um einen Septuagintismus handelt und daß zweitens an das ganze Lebenswerk J esu zu denken ist, das er noch vor seinem Tod zu erfüllen hat. Er übersetzt deshalb positiv: "wie bin ich ganz davon beherrscht" 12. Vor Beginn des letzten Mahles betont Jesus, wie sehr es ihn verlangt habe, das Mahl mit seinen Jüngern zu halten, bevor er "leide" (Lk 22,15)13. - Im Anschluß an das letzte Mahl und vor dem Gang nach Getsemane deutet J esus selbst den Jüngern das, was ihm bevorsteht, mit einem Zitat aus J es 53,12: "Denn ich sage euch, was geschrieben steht: ,Er wurde unter die Gottlosen / Verbrecher (äVOjlOL) gerechnet', muß an mir erfüllt werden; denn was mir bestimmt ist, kommt jetzt zu Ende" (22,37)14. Dabei ist dieses Leiden nicht undurchschaubares Verhängnis, son-
8 Lk 9,51a blickt nicht auf die Verklärung zurück, sondern auf Jerusalem voraus. Dies gilt unabhängig von der Frage, ob man mit der bisherigen Forschung von einem lukanischen "Reisebericht" ausgeht, oder mit R. V. BENDEMANN, Zwischen DOXA und STAUROS. Eine exegetische Untersuchung der Texte des sogenannten Reiseberichts im Lukasevangelium, BZNW 101, Berlin 2001, einen solchen ablehnt. 9 In der Verspottungsszene (Lk 23,35) ist der bereits in der Vorlage (Mk 15,27m vorhandene Anklang zu Ps 22(21),8 verstärkt und damit das Motiv des leidenden Gerechten betont; vgl. M. DIBELIUS, Die Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 51966, 188 (Anm. 1), wobei Dibelius diese Veränderung nicht "der Sonderart des Lukas", sondern bereits "dem Traditions-Wachstum in der Gemeinde" zuordnen möchte (ebd., 200), was mir fraglich erscheint. 10 Es handelt sich bei Lk 13,31-33 um Sondergut. 11 Vgl. etwa Lutherbibel (1984): "wie ist es mir so bange"; Jerusalemer Bibel (1972): "wie ängstigt es mich"; etwas anders Bruns (1964): "wie drängt es mich innerlich"; New English Bible (1970): "what constraint I am under". 12 H. KOESTER, Art. OUVEXW KtI..., ThWNT 7, 1969, 875-885: 883; vgl. F. BOVON, Das Evangelium nach Lukas. 2. Teilband: Lk 9,51-14,35, EKK 3/2, Zürich / Neukirchen-Vluyn 1996,344.353: "wie drängt es mich". 13 Es handelt sich bei Lk 22,15 um Sondergut. 14 Vgl. dazu Schweizer, Einleitung (s. Anm. 3), 131. Mk 15,28, wo die gleiche Formulierung auftaucht, ist als textkritisch sekundär zu beurteilen; vgl. z. B. J GNILKA, Das Evangelium nach Markus. 2. Teilband: Mk 8,27-16,20, EKK 2/2, Zürich / Neukirchen-Vluyn 1979,309 Anm. 1.
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dern es entspricht Gottes Ratschluß und Bestimmung (Lk 22,22). Das göttliche ÖEL steht hinter diesem Leiden (Lk 24,26; Apg 2,33). Sein Leiden ist eine Notwendigkeit vor dem Endgeschehen (Lk 17,25). Die genannten Belege zeigen das Leiden J esu als ein durchgängiges Motiv in der Darstellung des Lukas. Was den traditionsgeschichtlichen Hintergrund angeht, so kommen darin unterschiedliche Aspekte zusammen: Der leidende Gerechte ist eine aus dem alttestamentlich-jüdischen Kontext bekannte Gestalt 15 . Es ist mehrfach gezeigt worden und muß hier nicht wiederholt werden, daß dieser Hintergrund ohne Frage zum Verständnis der lukanischen Passionsgeschichte heranzuziehen ist 16 . Daneben scheint es mir aufgrund der Betonung des "muß" (zumal ihm kein hebräisches Äquivalent entspricht)17 aber ebenso wichtig, die Berührungspunkte zu griechischem Denken nicht zu übersehen, speziell zur Vorstellung der unentrinnbaren "Verstrickung einer tragischen Gestalt"18 (Sophokles, Oed Tyr 825ff.830-833) und zum griechischen Schicksalsglauben: Ganz Attika "mußte" nach Gottes Weisung den Persern unterworfen werden (Herodot, 8,53; vgl. Herodot 2,161)19. - Zwar gibt es in der Apokalyptik auch ein endzeitliches "muß" (Dan 2,28 LXX). Damit könnte eine Beziehung vom 20 Tod Jesu zum Äonenumbruch angedeutet sein, doch das bleibt unsicher • Durch den Verweis auf die Schrift (Lk 22,37; 24,44.46) wird bei Lukas verhindert, den 2 Tod Jesu der gemeinantiken Tragik schlicht einzuordnen \ dennoch bleiben die Bezüge zu griechischen Vorstellungen bestehen. Schon an dieser Stelle zeigt sich, wie Lukas jüdische und griechische Motive verschmolzen hat. Zu 2: Nicht die Heilsbedeutung des Todes Jesu, sondern die seines gesamten 22 Dienstes, der letztlich in den Tod führt, wird bei Lukas thematisiert • So wird in Lk 19,10 der Dienst Jesu zusammenfassend als "Suchen und Retten des Verlorenen" bezeichnet. Konsequenterweise zieht sich Jesus nicht von den "Verlorenen" zurück, sondern ist unter ihnen zu finden (Lk 19,7; 22,37; 23,33f.42f). "Retten" bzw. "heilen" und "helfen", was sich mehr als 30 mal bei Lukas findet, steht dabei
15 Belege mit neutestamentlichen Bezugsstellen bei M. KARRER, Jesus Christus im Neuen Testament, GNT 11, Gättingen 1998, 89f. 16 Hier ist bereits Dibelius, Formgeschichte (s. Anm. 9), 202-204 zu nennen; zu den Fragen der jüdischen Märtyrertheologie und der Benutzung eines Modells aus diesem Bereich bei Lukas s. u. Abschnitt 2. 17 Vgl. Karrer, Jesus Christus (s. Anm. 15),88. 18 Ebd. 19 Schweizer, Lk (s. Anm. 7),225; Karrer, Jesus Christus (s. Anm. 15),88. ZD Karrer, Jesus Christus (s. Anm. 15), 88. ZI Ebd. 22 Schweizer, Lk (s. Anm. 7), 226; vgl. P. POKORNY, Theologie der lukanischen Schriften, FRLANT 174, Gättingen 1998, 147.
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nirgends in direktem Zusammenhang mit Jesu Tüd • "Während der Gekreuzigte nach Mk 15,34 nur die schreckliche Einsamkeit dieses Sterbens betont und nach J üh 19,26-28.30 königlich für Mutter und geliebten Jünger sürgt, die Schrift bewußt erfüllt und mit dem Siegesruf stirbt, zeigen alle drei Kreuzeswürte bei Lukas die Zuwendung J esu zu den Menschen und zu seinem Vater im Himmel. ,,24 Zu 3: Durch diese Schilderung der Passiün J esu als eines Prüzesses, der den ganzen Dienst Jesu umfaßt, wird nach Lukas für die Glaubendenden "eine neue Möglichkeit menschlichen Lebens und Sterbens geschaffen,,25. Es geht hierbei um die U r- und Vürbildlichkeit des Geschickes J esu, die Lukas herausstellt. Die Gemeinde ist aufgefürdert, die Erfahrung Jesu ,nachzuerfahren,26. Wie sehr das Geschick J esu ur- und vürbildhaften Charakter hat, wird vün Lukas in seiner Darstellung des Stephanusmartyriums und der Geschichte des Paulus deutlich zum Ausdruck 27 gebracht : Wie der Gekreuzigte bittet Stephanus, der erste "christliche" Märtyrer, für seine Mörder (Apg 7,60). Und wie bei Jesus geht es beim Sterben des Stephanus um die Aufnahme des Geistes in die himmlische Welt (Apg 7,59)28. Die Reise des Paulus nach J erusalem unter der Leitung des Geistes (Apg 19,21; 20,22; 21,4.11-15) erinnert an Jesu Weg in die heilige Stadt. Selbst hinsichtlich verschiedener Etappen des Geschickes gibt es Parallelen: Leidensankündigung durch Gütt (Lk 9,31 / Apg 9,16), Abschiedsrede (Lk 22,24-38 / Apg 20,18-25), vür dem Synhedrium (Lk 22,66-71 / Apg 22,30), vür dem römischen Präfekten (Lk 23,1-7 / Apg 23,33), vür Herüdes (Lk 23,8-12 / Apg 25,23)29. Die Vorbildlichkeit Jesu zeigt sich auch in der Kreuzigungsszene (Lk 23,39-46). Die drei Persünen am Kreuz scheinen drei Möglichkeiten zu repräsentieren, mit dem Sterben umzugehen: ühne Gütt (so' der eine Schächer), vür Gütt (so' der andere Schächer) und in Gütt (so' Jesus)30. Anders als bei Markus, wo. Jesus mit einem vürwurfsvüllen "mein Gütt, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" auf den Lippen stirbt, befiehlt Jesus in äußerer und innerer Gefaßtheit seinen Geist in Güttes Hände. Das erinnert wieder an die jüdische V ürstellung vüm leidenden Gerechten, speziell an die Märtyrer, die gefaßt dem Tüd entgegenblickten: Eleazar (2 Makk 6,18-31) und die sieben Brüder und ihre Mutter (2 Makk 7,1-42; vgl. die Wiederaufnahme in 4 Makk). 23 So mit Recht Schweizer, Lk (s. Anm. 7), 225. Ebd. 25 Ebd., 226. 26 Ebd. 27 Nach Brown, Death (s. Anm. 1), 74f sollte bei der Darstellung der Passion Jesu der Wille, Jesus und Paulus in Parallele zu setzen, als Gestaltungsprinzip nicht unterschätzt werden. 28Vgl. Brown, Death (s. Anm. 1),70: Stephanus stirbt "for (and in imitation o~ Jesus". 29 Dazu Schweizer, Lk (s. Anm. 7), 226. 30 A. STROBEL, Der Tod Jesu und das Sterben des Menschen nach Lukas 23,39-49, in : ders. (Hg.), Der Tod - ungelöstes Rätsel oder überwundener Feind?, Stuttgart 1974, 81-102: 82. 24
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Bei näherem Hinsehen läßt die Haltung J esu meines Erachtens jedoch nicht nur Anklänge an die jüdischen Märtyrer, sondern durchaus noch andere Beziehungen erkennen, und zwar zu Topoi aus dem genuin griechischen Bereich. Es ist dies vor allem eine Affinität zum Tod des Sokrates31 . Beziehungen zwischen der Darstellung des Todes Jesu und dem des Sokrates wurden mehrfach festgestellt. Insbesondere das J ohannesevangelium und seine Christusdarstellung schien für einen Vergleich geeignet32 • Die Frage stellt sich, ob man dies bereits für Lukas nachweisen 33 kann • Bevor wir hierauf näher eingehen, soll in einem kurzen Übe~blick zunächst gefragt werden, wie man im zeitgenössischen Umfeld den Tod des Sokrates verstan34 den hat • 2 Der Tod des Sokrates im Verständnis spätantiker Schriftsteller
Das Sterben' und der Tod bedeutender Persönlichkeiten faszinierte die Men35 schen der Spätantike nicht minder als dies heutzutage der Fall ist • Dies führte zur Entstehung einer literarischen Form: der tEAEUtat bzw. zu der Untergattung des exitus illustrium virorum 36 • In diesem Kontext wurde auch das Sterben und der Tod des Sokrates literarisch verarbeitet. Die wichtigsten Quellen dafür waren die platonischen Dialoge (Apologie, Kriton, Phaidon und Eutyphron) sowie Xenophons Apologie und seine Memorabilia. Die antiken Schriftsteller, die die sokratische Tradition verarbeiten, kommen aus allen Bereichen. Vor allem Plutarch, Lucian und Tacitus sind hier zu nennen, aber auch Cicero und Seneca, Dio, Epic37 tet, Maximus von Tyrus,. Philostratos und andere • Tacitus hat die sokratische 31 Strobel, Tod (s. Anm. 30), 87 im Anschluß an E. LINDENBAUR, Der Tod des Sokrates und das Sterben Jesu, CH 113, Stuttgart 1971; Karrer, Jesus Christus (s. Anm. 15), 91. 32 J. HERZER, Freund und Feind. Beobachtungen zum alttestamentlich-frühjüdischen Hintergrund und zum impliziten Handlungsmodell der Gethsemane-Perikope Mk 14,32-42, leqach 1, 2001, 107-136: 113, mit Bezug auf E. FASCHER, Christus und Sokrates. Eine Studie zur aktuellen Aufgabe des Religionsphänomenologie, ZNW 45, 1954, 1-40. 33 Daß die Beziehung zwischen dem Tod Jesu und dem Tod des Sokrates in der Kirchengeschichte eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt hat, steht außer Frage. 34 Die folgenden Überlegungen wurden erstmals im Rahmen eines Gastvortrags im April 2001 in Bern vorgetragen. Inzwischen ist die schöne Studie von G. STERLING, Mors philosophi: The Death of Jesus in Luke, HThR 94, 2001, 383-402, erschienen. Ich freue mich über vielfache Übereinstimmung. 35 Ebd., 384f. 36 Ebd., 384ff. 37 Näheres bei K. DÖRlNG, Exemplum Socratis. Studien zur Sokratesnachwirkung in der kynisch-stoischen Popularphilosophie, der frühen Kaiserzeit und im frühen Christentum, Hermes Einzelschriften 42, Wiesbaden 1979; eine Auswahl antiker Belege auch bei Sterling, Mors (s. Anm. 34), 387-390; vgl. daneben, v. a. für die Rezeption in der Alten Kirche: A. V. HARNACK, Sokrates und die alte Kirche, in: ders., Reden und Aufsätze I, Gießen 1908, 29-48; Fascher, Christus; E. BENZ, Christus und Sokrates in der Alten Kirche. Ein Beitrag zum altkirchlichen Verständnis des
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Tradition mit der vom exitus illustrium virorum kombiniert (etwa beim Tod des Seneca [Tacitus, Ann 15.62fj)38. Neben dieser Wirkungs geschichte im griechischen Bereich finden wir aber auch Aufnahme sokratischer Tradition in der jüdischen Märtyrertheologie. Prototypen jüdischer Märtyrertheologie sind Eleazar (2 Makk 6,18-31) und die sieben Brüder samt ihrer Mutter (2 Makk 7,1-42). Bedeutsam ist nun, daß gerade in diesen Märtyrerberichten eine Aufnahme von Motiven aus sokratischer Tradition festzustellen ist - auch wenn dies nicht explizit geschieht und deshalb auf den ersten Blick nicht sogleich ins Auge fällt 39 • In 4 Makk wird diese Tradition noch ausgeweitet, indem die Märtyrer zugleich als Philosophen dargestellt werden (vgl. 4 Makk 7,21_23)40. Wir dürfen festhalten: Der Tod des Sokrates wurde bei spätantiken Schriftstellern in seiner Vorbildhaftigkeit weithin als Modell benutzt. Eine Kenntnis aufgrund der Dialoge Platons und der Wirkungsgeschichte in den Schriften anderer Schriftstellern darf bei vielen Zeitgenossen vorausgesetzt werden. Solche Kenntnis gehört zum Bildungsstandard. Aber auch im jüdischen Bereich ist die Vorbildhaftigkeit des Todes des Sokrates bekannt. Dabei spielt besonders die Tatsache, daß Sokrates sich treu geblieben ist und nicht die Flucht wählte, eine Rolle. 3 Der TodJesu und der Tod des Sokrates nach Lukas
Lukas hat nun nicht einfach die gängigen Vorstellungen über den Tod des Sokrates mit dem Tod Jesu verbunden. Seine Darstellung weist sowohl Analogie als auch Differenz auf. Von Interesse ist, an welchen Stellen Lukas Analogie und an welchen er Differenzen erkennen läßt 41 • Ich will auf drei Aspekte eingehen: Märtyrers und des Martyriums, ZNW 43,1950/51, 195-224; TH. BAUMEISTER, ,Anytos und Meletos können mich zwar töten, schaden können sie mir nicht', in: H. D. Blume / F. Mann (Hg.), Platonismus und Christentum. FS H. Dörrie, JAC Erg.bd. 10, Münster/W. 1983,58-63. 38 Sterling, Mors (s. Anm. 34), 390 resümiert zutreffend: "They (sc. Tacitus, Plutarch, Lucian) demonstrate how different writers could appropriate the tradition in multiple ways. They also represent different literary genres: Tacitus was ahistorian, Plutarch was a philosoph er, and Lucian was a literary figure who was influenced by philosophy." 39 Ebd., 392f, unter Bezug u. a. auf: U. KELLERMANN, Auferstanden in den Himmel. 2. Makkabäer 7 und die Auferstehung der Märtyrer, SBS 95, Stuttgart 1979, 46--50.51-52; J. A. GOLDSTEIN, II Maccabees, AncB 41A, Garden City 1983,285; J. W. VAN HENTEN, The Maccabean Martyrs as Saviours of the Jewish People. A Study of 2 and 4 Maccabees, JSJ.S 57, Leiden 1997,270-294. 40 Sterling, Mors (s. Anm. 34), 392f. 41 Ich gehe mit Brown u. a. davon aus, daß Lukas das Mk-Ev vorliegen hatte und zur Erklärung der Differenzen zu Mk die Annahme einer weiteren Quelle für die Passionsgeschichte des Lk zwar denkbar erscheint, daß hier aber keinerlei Sicherheit zu gewinnen ist (vgl. Brown, Death [so Anm. 1], 67). Browri selbst entscheidet sich im Anschluß an Soards und Matera bezüglich der Lk-Passion gegen eine weitere Quelle des Lukas und erklärt Differenzen entweder redaktionsgeschichtlich oder durch Annahme von mündlicher Tradition (ebd., 75).
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3.1 Die Ergebung in den Willen Gottes
Das in der Antike schlechthin gültige Sterbeideal war der noble, vornehmheroische Tod. "Dieses Ideal lebte davon, dass der dem Tod Ausgesetzte, zum Sterben Genötigte, den Tod nicht von außen an sich geschehen ließ, sondern ihn sich zu eigen machte und aktiv vollzog. ,,42 So versammelt Sokrates die Freunde und Schüler, erklärt, warum er dem Tod nicht ausweicht, nimmt den Becher ohne Zittern in die Hand43 und trennt sich, den Göttern im Gebet verbunden, von den Freunden (platon, Phaed 117Bff). - Nach Lk 9,51 geht Jesus zielstrebig nach Jerusalem in dem Wissen, daß sich jetzt die Tage seiner Hinwegnahme erfüllen werden. Er weiß, daß sein Leiden "notwendig" ist (Lk 17,25), daß dies Jerusalem zu geschehen hat (Lk 13,33) und daß seinem Weg eine göttliche Bestimmung zugrunde liegt (Lk 22,37). - Auch Sokrates wußte, daß seine Zeit zu sterben gekommen war (Ap 40a-c.41d)44. Platon betont, es sei der Wille der Götter, daß Sokrates sterben solle (C~ito 43b.54e). Und Sokrates sagt explizit zu Kriton: "Wenn es der Wille der Götter ist, dann laß es jetzt geschehen" (Crito 43d). - In Getsemane steht die Ergebung Jesu in den Willen des Vaters von vornherein fest. Zwar betet er, daß, wenn der Vater es wolle, der Kelch vorübergehen möge, aber Gottes Wille möge geschehen (Lk 22,42). Die Bezüge sind frappierend. Und dennoch besteht keine völlige Übereinstimmung zwischen J esus und Sokrates. Die lukanische Passionsdarstellung setzt auch noch andere Akzente: So hat Lukas - wie bereits erwähnt - in Lk 22,15 die Aussage Jesu eingefügt: "Sehnlich hat es mich verlangt, das Paschamahl mit euch zu essen, bevor ich leide." Er hat damit die Geschichte von Jesu Sterben und Tod erstmals zusammenfassend als "Passion" qualifiziert. Es scheint mir deshalb nicht gerechtfertigt zu sein, die Ruhe J esu einseitig als positive Analogie zum Sterben des Sokrates 45 zu interpretieren . Lukas hat den Verlassenheitsruf Jesu am Kreuz, den Markus überliefert (Mk 15,34), weggelassen 46. Dennoch stirbt Jesus nach seinem Passionsbericht nicht in solcher Ruhe und Gelassenheit wie Sokrates 47. Wir gehen hierzu etwas näher auf die Getsemane-Perikope (Mk 14,32-42; Lk 22,39-46) ein. Wie Jens Herzer festgestellt hat, spielt sie bei einem Vergleich von
42 Karrer, Jesus Christus (s. Anm. 15),87. Man fühlt sich unwillkürlich an D. Bonhoeffers Gedicht "Von guten Mächten wunderbar geborgen" erinnert: "Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand, so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern aus deiner guten und geliebten Hand." 44 Weitere Belege bei Sterling, Mors (s. Anm. 34), 397. 45 So aber ebd., 395ff. 46Vgl. dazu Herzer, Freund (s. Anm. 32), 112f. 47 So auch Strobel, Tod (s. Anm. 30), 87. 43
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J esus und Sokrates interessanterweise häufig keine Rolle 48. In der alten Kirche entstanden aus dieser Szene, vor allem aus der markinischen Fassung, Probleme größeren Ausmaßes, wie dies etwa aus Justins Auseinandersetzung mit Celsos deutlich wird 49 . Lukas hat die Getsemane-Szene keineswegs unterdrückt. Er hat sie jedoch in einer Weise gestrafft und gegenüber Markus entdramatisiert, daß sich der 50 Charakter damit entscheidend verändert hat . Lukas hat weggelassen, Jesus habe 51 angefangen zu zittern und zu zagen . Die drei Begleiter, die Jesus nach Mk 14,33f / Mt 26,37f mitnimmt, hat Lukas gestrichen. Gegenüber Markus fehlt auch die Notiz vom schwachen Fleisch und der dreifache Gang zum Gebet (Mk 14,38-42). Bei der Gebetsanrede ist das aramäische "Abba" ersetzt durch "Vater". Das mag mit der Tendenz des Lukas zusammenhängen, aramäische Ausdrücke zu vermeiden 52 , es nimmt dem Gebet aber auch ein Stück Vertrautheit. Jesus beginnt sein Gebet nicht mit der Formulierung, daß für Gott alles möglich sei, deshalb solle er den Kelch an ihm vorübergehen lassen (Mk 14,36; ganz ähnlich Mt 26,39b), sondern mit der positiven Einschränkung "wenn du willst ... " (Lk 22,42). Lukas no5 tiert aber auch, daß ein Engel kommt \ um Jesus auf seinem letzten Gang zu stärken (Lk 22,43)54. Danach berichtet er gegenüber Markus, daß Jesus unter äußerster Anspannung (aywv(o:) noch inständiger betet und sein Schweiß wie Blutstropfen auf die Erde fällt (Lk 22,44). Die Blutstropfen sind kein Hinweis auf Jesu Todes55 angst, sondern unterstreichen die äußerste Anspannung . Es geht hier um das 56 Einstimmen in das göttliche "muß". Im Gebet ringt sich Jesus dazu durch • Insgesamt läßt sich feststellen: Lukas hat gegenüber Markus die Niedrigkeitsaussagen zurückgedrängt. Wenn die Getsemane-Perikope den Schlüssel für die Mar57 kus-Passion darstellt , in der es darum geht, die Gottessohnschaft Jesu aus seiner Niedrigkeit zu begreifen, dann hat Lukas diesen Aspekt nicht übernommen, sondern bewußt modifiziert. J esus erscheint bei ihm erhabener und souveräner. Es ist Herzer, Freund (s. Anm. 32), 108 Anm. 6. Ebd., l1f; Sterling, Mors (s. Anm. 34), 383f. 50 Brown, Death (s. Anm. 1),68: Menschliche Schwäche paßt nicht zur lukanischen Christologie. 51 Siehe hierzu im Detail Sterling, Mors (s. Anm. 34), 395f. 52 Brown, Death (s. Anm. 1),68. 53 Lukas hat die dienenden Engel aus der Versuchungsgeschichte gestrichen, aber hier spielen die himmlischen Helfer eine Rolle; vgl. Brown, Death (s. Anm. 1),69. 54 Dieser Vers wird zusammen mit V 44 von wichtigen Textzeugen ausgelassen, ist aber wohl doch ursprünglich; vgl. dazu die ausführliche Diskussion bei Brown, Death (s. Anm. 1), 179-185. Die Streichung der beiden Verse kann ein Hinweis darauf sein, daß die Niedrigkeitsaussagen zunehmend in den Hintergrund traten. 55' AywvLa heißt nicht Todesangst o. ä.; vgl. Pokorny, Theologie (s. Anm. 22), 150. 56 Andererseits ist Schweiß Zeichen der Entrüstung und Reue GosAs 4,9; 9,1); vgl. Schweizer, Lk (s. Anm. 7), 228. 57 So R. FELDMEIER, Die Krisis des Gottessohnes. Die Gethsemaneerzählung als Schlüssel der Markuspassion, WUNT 2/21, 1987. 48
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noch nicht die Souveränität wie bei J ohannes , die eine Kohorte zurückweichen läßt Goh 18,3-11). Aber Jesus ist nach Lukas auch nicht mehr derjenige, dessen Gottessohnschaft sich im Leiden offenbart, wie das bei Markus der Fall ist (Mk 15,28); sondern ein Wandel ist feststellbar 59 • Gleichwohl: Die Getsemane-Perikope verhindert, eine völlige Analogie zwischen der Darstellung des Todes J esu bei Lukas und dem Tod des Sokrates zu pos60 tulieren . Von einem noblen, vornehm heroischen Tod läßt sich hier nicht sprechen. J esus nimmt den Tod auf sich, aber er muß sich dazu durchringen. Mit Gottes Hilfe - aber nur so - schafft er das 61 . 3.2Jesus, der Gerechte
Blicken wir nun auf eindeutig positive Bezüge. Wir gehen dabei aus vom Wort des Hauptmanns unter dem Kreuz (Lk 23,47): "Als der Hauptmann aber das Geschehene sah, lobte er Gott und sprach: ,Wahrhaftig, dieser Mensch war ein Gerechter'''. Nun läßt sich öLKtlWC; bekanntermaßen als Adjektiv oder auch als Substantiv verstehen: " Wahrhaftig, dieser Mensch war gerecht", oder: "Dieser Mensch war ein Gerechter!" Für beide Möglichkeiten finden sich Vertreter in der Forschung. Nach G. Schrenk geht es in dem Ausspruch des Hauptmanns um Jesu "gerecht sein" im Sinn seiner intakten Beziehung zu Gott. Und Schrenk fügt hinzu: Auch Zacharias, Elisabeth, J oseph von Arimathia und Kornelius heißen bei Lukas "gerecht,,62. Jüngst hat auch F. Wilk für das adjektivische Verständnis plädiert: Die Pointe liege darin, daß mit der Aussage über J esu Gerechtsein Gott ge63 lobt werde . Es gehe nicht um die Bestätigung der Unschuld Jesu im Sinn der Anklage, denn in Lk 23,4.14f.22 - das sind jene Stellen, an denen Pilatus die Unschuld Jesu feststellt - werde der Begriff öLKtlWC; nicht gebraucht. Die nächste Parallele liege vielmehr in Lk 2,25a, der Charakterisierung Symeons. Ein christologisches Verständnis sei wegen des Imperfekts ~v ausgeschlossen, und auch deshalb, weil cSLKtllOC; in Apg 3,14; 7,52; 22,14 jeweils mit Artikel stehe. Brown, Death (s. Anm. 1), 192. Die Einschätzung von Herzer, Freund (s. Anm. 32), 113, aufgrund von Apg 2,25ff (mit Zitat aus Ps 16,8-11), wonach Jesu Herz angesichts des Todes sich gefreut und seine Zunge gejubelt habe "im Vertrauen auf Gott und die Gewissheit der Auferstehung", geht aber doch einen Schritt zu weit. Der Schwerpunkt liegt, wie der nachfolgende Text zu erkennen gibt, auf der Auferstehung und nicht auf dem bevorstehenden Tod. 60 Sterling, Mors (s. Anm. 34), 396 kommt zu einem anderen Ergebnis, weil er Lk 22,43f als sekundäre Interpolation eines Schreibers aus dem 2. Jh. ansieht, mit der jener die Menschlichkeit Jesu akzentuieren wollte (unter Bezug auf B. D. EHRMAN IM. A. PLUNKETT, The Angel and the Agony: The 'fextual Problem of Luke 22:43-44, CBQ 45, 1983,401-416). 61 Aufgrund der Getsemane-Perikope allein legt sich eine Analogie zur sokratischen Tradition nicht zwingend nahe; anders Sterling, Mors (s. Anm. 34), 395-398. 62 G. SCHRENK, Art. OLKIUOC;, ThWNT 2,1935, 189-193: 193. 63 F. WILK, Jesus und die Völker in der Sicht der Synoptiker, BZNW 109, Berlin 2002, 208. 58
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Die Argumente sind gewichtig, ich halte sie dennoch nicht für durchschlagend. Denn es fehlt nicht an deutli'chen Hinweisen für einen substantivischen Gebrauch von öl.KaLOe;; bei Lukas im Sinn einer singulären positiven Qualifikation. Werfen wir einen Blick auf die Belege: - In Lk 2,25 heißt es von Symeon: 6 livepwlToe;; Oll"Cüe;; öl.KaLOe;; KaI. EUAaß~e;; ... - In Lk 1,6 heißt es von Zacharias und Elisabeth: ~oav ÖE ÖI.KaWL cXllct>61:EPOL EVaV1:LOV
1:0U eEOU.
- In Lk 23,47 lobt der Hauptmann Gott und sagt über J esus:
ÖV1:We;;
6 &.vepWlTOe;;
OU1:0e;; öl.Kawe;; ~v.
- In Lk 23,50 wird J oseph von Arimathia beschrieben als cXv~p cXyaeoe;; KaI. öl.KaLOe;;.
- In Apg 3,14 wird den Hörern vorgeworfen: ullE'ie;; ÖE
1:0V
äywv KaI. ÖI.KaLOV
~pv~oaOeE.
- In Apg 7,52 wird den Hörern vorgeworfen: KaI. IllTEK1:ELVaV 1:0Ue;; lTpOKa1:ayYELAaV1:ae;; lTEPI. 1:ile;; EAElJOEWe;; 1:0U ÖLKaI.OU. - In Apg 10,22 wird Kornelius cXv~p öl.Kawe;; KaI. ct>OßOUIlEVOe;;
- In Apg 22,14 sagt Paulus: 6 eEOe;; 1:0 eEA~f.La aU1:0U KaI. tÖELV
1:0V
1:WV
1:0V
eEOV genannt.
lTa1:EpWV ~f.LWV lTPOEXELpl.oa1:6 OE yvwvaL
ÖI.KaLOV KaI. cXKouoaL ct>WV~V EK 1:0U 01:6f.La1:0e;;
av
1:OU. Überblickt man die Belege, so fällt auf: LlLKaLOe;; (Singular), absolut gebraucht, ohne Beifügung von livepwlToC; bzw. cXv~p oder in Parallele zu anderen Adjektiven, steht als positive Qualifikation im lukanischen Doppelwerk überhaupt nur in Lk 23,47; Apg 3,14; 7,52; 22,14 - und das heißt: stets als Bezeichnung für Jesus! Die Frage der Artikelsetzung hat demgegenüber untergeordnete Bedeutung. Ich plädiere also dafür,' Lk 23,47 substantivisch zu übersetzen: "Wahrhaftig, dieser Mensch war ein Gerechterl" Der Begriff ist eine Zusammenfassung alles dessen, was vorher auf der erzählerischen Ebene im Verlauf des Passionsberichts geschildert wurde. So betonten die Aussagen des Pilatus dreimal J esu Unschuld (Lk 23,4. 14f.22). Auch Herodes kam zu keinem Schuldspruch (23,15). Das Synhedrium hat anders als bei Matthäus und Markus keine "Schuld" festgestellt (Lk 22,70f diff. Mk 14,63f; Mt 26,65f). Und der eine Schächer am Kreuz bestätigt, daß Jesus nichts Schlechtes (li-rolToc;) getan habe. Dies alles gipfelt in der zusammenfassenden Qualifikation: ÖV1:WC; 6 livepwlToC; OU1:0C; öl.KaLoc; ~v. Wenn jedoch das einmalige, nur auf J esus bezogene, substantivische Verständnis von öl.Kawc; in Lk 23,47 als gesichert gelten kann, dann lassen sich auf der Erzählebene noch weitere - positive - Anklänge an den Tod des Sokrates finden: Eine Ursache für den Tod J esu ist darin zu suchen, daß die Mehrzahl Israels nicht verstanden hat, was Jesus wollte. "Er ist gesetzt zu einem Zeichen, dem widersprochen wird", sagt bereits Symeon zu den Eltern Jesu (Lk 2,34). "Wenn doch auch du erkannt hättest an diesem Tage, was zu deinem Frieden dient. Nun aber
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ist es verborgen vor deinen Augen", klagt Jesus über Jerusalem (Lk 19,42 [Sondergut]). Jesus wird angeklagt, weil man ihn nicht verstanden hat. - Auch Sokrates wurde mit seiner Botschaft nicht verstanden. Die Neuheit seines Denkens blieb seinen Anklägern und Richtern verborgen. Sokrates scheitert letztendlich an dem Neuen, das nicht verstanden wird. Beim Tod Jesu handelt es sich nach Lukas um eine widerrechtliche Hinrichtung. Im Verhör vor Pilatus wird die Anklage für römische Ohren formuliert: "Wir haben festgestellt, daß dieser unser Volk aufwiegelt und es abhält, dem Kaiser Steuern zu zahlen, und er sagt, er sei der Messiaskönig" (Lk 23,2). Hiernach handelt es sich zweifelsohne um ein politisches Delikt, dessen Jesus angeklagt wird. Und obwohl er auf die Frage, ob er der Messias sei, nicht verneinend antwortet (Lk 23,3)6\ stellt Pi latus dreimal Jesu Unschuld fest (Lk 22,4. 14f.22). Dann aber - völlig unerwartet - gibt Pilatus der Forderung der Ankläger statt und gibt Jesus preis (V 24). Anders als bei Markus und Matthäus, wo die Schuld Jesu durch Gotteslästerung ausdrücklich festgestellt wird, gibt es bei Lukas keine eigentliche 65 Schuldfeststellung. Jesus ist und bleibt unschuldig . Die Hinrichtung erfolgt ausschließlich deshalb, weil Pilatus der Forderung der Ankläger nachgibt und ihnen einen Gefallen tut. Sokrates nennt seine Verurteilung ebenfalls widerrechtlich. Das ist für ihn das größte Übel, einen anderen widerrechtlich hinzurichten (Ap 30d). In seiner Verteidigung führt er aus: "Der. Richter ist nicht dazu gesetzt, das Recht zu verschenken, sondern es zu beurteilen, und er hat geschworen, nicht sich gefällig zu erweisen, sondern Recht zu sprechen nach den Gesetzen" (Ap 34c)66. Von Richtern, die der Ungerechtigkeit (aölKlu) überführt sind (Ap 38b), wird Sokrates ums Leben 67 gebracht . Am Schluß des Phaidon (118; vgl. Ap 17c) lesen wir: "So war das Ende. Oh Enchekrates ... von all jenen, mit denen wir Umgang hatten, war er der beste und der weiseste und der gerechteste (ÖlKUlO'tU'tOC;).,,68 "Das Leiden des Gerechten", so schreibt M. Karrer mit Recht, "entlarvt die Verstrickung der gesamten Civitas, des menschlichen Gemeinwesens von Israel bis Rom, in Ungerechtigkeit.,,69 Jesus, der Gerechte, kann sich nicht auf ein allgemei64 Die Antwort GU AEYEL<; ist doppeldeutig. Jedenfalls verteidigt sich Jesus nicht. Nach römischer Rechtspraxis konnte ihm das als Eingeständnis ausgelegt werden. Der rechtliche Grundsatz lautete: confessus pro iudicato habetur (Sallust, Cat 52,36; Quintilian, Inst Orat 3,6,14). Lag dieser Fall vor, so mußte kein Schuldspruch mehr erfolgen; vgl. W. KUNKEL, Prinzipien des römischen Strafverfahrens, in: ders., Kleine Schriften, Weimar 1974,19-21. 65 Die Unschuld Jesu wird insgesamt fünfmal festgestellt: dreimal durch Pilatus, einmal durch den Mitgekreuzigten und einmal durch den Hauptmann der Hundertschaft. 66 Dazu Lindenbaur, Sokrates, 21. 67 Ebd., 22. 68 Vgl. dazu Sterling, Mors (s. Anm. 34), 398. 69 Karrer, Jesus Christus (s. Anm. 15),91.
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nes Rechtsbewußtsein verlassen . Weder die jerusalemische, noch die römische, noch auch die galiläische Führung zögert, ihn durch Rechtsbeugung beiseite zu schaffen. Die Verstrickung der gesamten Civitas in dieses Unrecht aufzuzeigen, ist meines Erachtens auch der Sinn des abgründigen Satzes nach dem Verhör vor Herodes in Lk 23,12: "Von diesem Tage an wurden Herodes und Pilatus Freunde, vorher hatten sie nämlich in Feindschaft zueinander gestanden. ,,71 3.3 Die Gewißheit der Geborgenheit in Gott
Das erste der Worte J esu am Kreuz bei Lukas lautet: "Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun" (Lk 23,34). Es steht an der Stelle, an der sonst entweder ein Schuldbekenntnis oder die "Verwünschung der Feinde durch den Ver72 urteilten" zu erwarten wäre • - Sokrates bekennt im Blick auf seine Ankläger und Richter: "Ich hege keinen Groll (au XUAETTUf.VW) gegen meine Ankläger und Verurteiler" (Ap 41d). Jesus stirbt nach Lukas mit Worten aus Ps 31,6 in Gott hinein (Lk 23,46)73: "Vater in deine Hände befehle ich meinen Geist." Er ist sich gewiß, nicht in die Leere, 74 nicht in die Gottferne hinein zu sterben, sondern in Gott geborgen zu sein . Gewißheit und nicht Ratlosigkeit kennzeichnet auch das Sterben des Sokrates. Platon läßt Sokrates in der Apologie sagen: "Entweder ist der Tod ein Nichts ... oder er ist die Auswanderung der Seele an einen anderen Ort ... dorthin, wo alle Verstorbenen sind ... wo gerechte Richter die Wahrheit sprechen ... wo alle ungerecht Gerichteten angetroffen werden" (Ap 40e.41 a.41 b) 75. - Zweifellos trägt in Lk 23,46 der alttestamentlich-jüdische Hintergrund den Hauptakzent. Dies ist allein aufgrund der Zitation von Ps 31,6 nicht zu leugnen. Dennoch sollten die griechischen Anklänge nicht bestritten werden. - Noch ein weiterer Anklang an den genuin griechischen Kontext läßt sich hier nennen. Nach Seneca stirbt Herakles mit den Worten: "Nimm meinen Geist, ich bitte dich, zu den Sternen auf" (Seneca, Herc Oet 1707f), und: "Siehe mein Vater ruft mich und öffnet den Himmel. Ich komme, Vater, ich komme" (ebd., 1729f). Ich will mit diesen Beispielen nicht behaupten, daß Lukas den Tod J esu bewußt einfach in Analogie zum Tod des Sokrates stilisiert hätte. Dagegen stehen schon
"Allein seinem Gott darf er trauen und ihm seinen Geist anvertrauen" (Karrer, ebd.). Auch Herodes verachtet den Gerechten, läßt ihn in ein Spottgewand hüllen und schickt ihn zu Pilatus zurück. 72 Vgl. 2 Makk 7,19; 4 Makk 9,15; vgl. Schweizer, Lk (s. Anm. 7),239. 73 Anders als bei Markus und Matthäus wird damit wird die Erniedrigung, die in der Gottverlassenheit gipfelt, reduziert. 74 In der jüdischen Tradition wird Ps 31,6 beim Abendgebet zitiert (bBer 5a); vgl. Bill II, 269. Jesu Tod "steht schon im Licht des Sieges" (Pokorny, Theologie [so Anm. 22], 149). 75 Lindenbaur, Sokrates, 25. 70
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die verwendeten alttestamentlich-jüdischen Motive, die nicht zu überhören sind. Ein unmittelbarer Einfluß der Tradition vom Tod des Sokrates auf die Formulie76 rung der Passionsüberlieferung Jesu läßt sich meines Erachtens nicht nachweisen . Für den griechischen Leser ist die Sachkorrespondenz aber unüberhörbar. Auf der Erzählebene überwiegen die positiven Analogien zwischen Jesu Tod und dem Tod des Sokrates 77 • Lukas arbeitet hier, wie auch schon bei den Hirten in Lk 2, mit dem, was M. W olter im Anschluß an U. Eco die "Enzyklopädie des Lesers" genannt hat. So wie Lukas dort "aus der kulturellen Kompetenz der Leser eine bestimmte Assoziation aufruft"78, so ruft er hier aus der kulturellen Kompetenz der Leser das auf, was inzwischen über den Tod des Sokrates längst Eingang in die 79 Handbücher der Antike gefunden hatte . Wir halten fest: Lukas basiert in seinem Verständnis des Todes J esu auf der alttestamentlich-jüdischen Tradition des leidenden Gerechten / leidenden Propheten und damit verbundenen Motiven 80 • Um die Botschaft von Jesus seinen Lesern nahezubringen, nimmt er aber auch Motive aus dem hellenistischen Bereich auf und integriert sie. Was Lukas damit leistet, ist die "Übersetzung" des jüdischen Evangeliums für griechische Leser81 . Daß es dabei zu einer teilweise anderen Akzentsetzung kommen kann, ist unvermeidlich: Nicht der Tod J esu als stellvertretender
Ich wäre hier etwas vorsichtiger als Sterling, Mors (s. Anm. 34), passim. Wie J. C. THOM, Cleanthes' Hymn to Zeus and Early Christian Literature, in: A. Y. Collins I M. M. Mitchell (Hg.), Antiquity and Humanity. Essays on Ancient Religion and Philosophy. FS H. D. Betz, Tübingen 2001, 477-499: 499 herausgestellt hat, geht es bei der traditions geschichtlichen Frage nicht nur um die Suche von Zitaten aus der hellenistischen Literatur, sondern darum, die neutestamentlichen Texte im Kontext des kulturellen Milieus zu lesen, in dem sie entstanden sind. 78 M. WOLTER, Die Hirten in der Weihnachtsgeschichte, in: A. v. Dobbeler I K. Erlemann I R. Heiligenthal (Hg.), Religionsgeschichte des Neuen Testaments. FS K. Berger, Tübingen I Basel 2000,501-517: 505 (vgl. das Fazit 516~: Lukas ruft "mit Hilfe des Appelativum ,Hirten' aus der kulturellen Kompetenz der Leser eine bestimmte Assoziation auf, die mit dieser Gruppe synsemantisch verbunden ist". Woher kann belegen, daß Lukas in der Hirtenerzählung hellenistische Motive aufgenommen hat: die ,aurea-aetas-Utopie' aus der römischen Bukolik (508m, speziell die 1. Ekloge des Calpurnius (510f~. 79 Sterling, Mors (s. Anm. 34), 400. 80 Die jüdische Fundamentierung der Theologie des Lukas wird in der gegenwärtigen Forschungslage zunehmend erkannt; vgl. etwa Jervell, Apg (s. Anm. 4), 50f u. ö. Lukas ist auch in seiner Christologie jüdischer als etwa Markus: vgl. z. B. seine Aufnahme davids-messianologischer Motive in Lk 9,20 diff. Mk 8,29; Lk 2,26; 19,38a. Auch in Lk 2,11 trägt die Aussage "welcher ist Christus, der Herr in der Stadt Davids" gegenüber dem "Soter" den Ton. 81 Nach Strobel, Tod (s. Anm. 30), 83 gelang es Lukas damit "den Menschen seiner Gemeinde und seiner Zeit genau dort abzuholen, wo er sich seiner Lebensproblematik nach befand"; zum Lebensgefühl in der Zeit des Hellenismus noch immer erhellend: E. SCHWEIZER, Das hellenistische Weltbild als Produkt der Weltangst, in: ders., Neotestamentica, Zürich I Stuttgart 1963, 15-27; G. BORNKAMM, Mensch und Gott in der griechischen Antike, in: ders., Studien zu Antike und Urchristentum. Gesammelte Aufsätze Bd. 2, BEvTh 28, München 31970, 9-46. 76
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Das jüdische Evangelium und seine griechischen Leser
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Sühnetod spielt bei Lukas die herausragende Rolle, sondern J esu gesamtes Wirken, das seinen Tod einschließt, hat "rettenden" Charakter. 4 Zur Inkulturation des Evangeliums
Rudolf Schnackenburg, Otto Knoch und Wilhelm Breuning haben die Frage gestellt: Ist der Gedanke des Sühnetodes Jesu der einzige Zugang zum Verständnis 82 unserer Erlösung durch Jesus Christus ? Sie haben diese Frage mit Recht verneint. Ihre Gründe sind exegetischer und dogmatischer Natur. Zum einen läßt sich bereits innerhalb des Corpus Paulinum zeigen, daß verschiedene Symbolik und verschiedene Ausdrucksweisen die Verkündigung des Todes Jesu prägen. Zum andern hat kein Interpretament von sich aus höhere Dignität als ein anderes. Hier sind theologisch-sachkritische Entscheidungen gefragt83. - Gerhard Schneider hat im Blick auf die urchristliche Gottesverkündigung resümiert, daß beim Überschritt des Evangeliums in den griechischen Bereich vor allem terminologisch Brücken der Anknüpfung geschlagen werden konnten. "Darin liegt kein Abfall von der evangelischen Botschaft, sondern es handelt sich um eine geschichtliche Notwendigkeit. ,,84 - Rudolf Bultmann hat schließlich deutlich gemacht, daß die urchristliche Botschaft in Anknüpfung und Widerspruch zu hellenistischen Vorstellungen 85 verkündigt wurde . Auch wenn man exegetischen Details nicht immer zustimmen kann, so ist die Grundthese unbestreitbar. Die Aufgabe heutiger Verkündigung ist es, in Anknüpfung und Widerspruch zu heutigen Vorstellungen die Botschaft des Evangeliums weiterzutragen. Der historisch-kritisch arbeitende Exeget kann in der Analyse der neutestamentlichen Texte zeigen, wie die neutestamentlichen Autoren ihrer Aufgabe gerecht zu werden suchten. Wenn die Theologie um der Sache des Evangeliums willen als eine Einheit zu begreifen ist und nicht als ein unverbundenes Nebeneinander unterschiedlicher Disziplinen, dann werden sich aus solchen Einsichten auch praktischtheologische Folgerungen ergeben. Wenn ich Otto Merk richtig verstanden habe, dann hat er wohl dies beabsichtigt, wenn er in seinen Lehrveranstaltungen Themen wie Mission, Gebet und Ähnliches im Neuen Testament angeboten hat. 82 So der gleichnamige Aufsatz in: K. KERTELGE (Hg.), Der Tod Jesu, QD 74, Freiburg 1976, 205-230. 83 Zur Vielfalt der neutestamentlichen Verständnismäglichkeiten des Todes vgl. auch M. KARRER, Wie spricht das Neue Testament vom Tode Jesu? Lücken, Vielfalt, Schwerpunkte, in: G. Häfner, H. Schmid (Hg.), Wie heute vom Tod Jesu sprechen? Neutestamentliche, systematischtheologische und liturgiewissenschaftliche Perspektiven, Freiburg 2002,53-80. 84 G. SCHNEIDER, Urchristliche Gottesverkündigung in hellenistischer Umwelt, BZ NF 13, 1969, 59-75: 74. 85 R. BULTMANN, Anknüpfung und Widerspruch, in: ders., Glauben und Verstehen 11. Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1965, 117-132.
Mar kus Müller DIE HINRICHTUNG DES GEISTTRÄGERS Zur Deutung des Todes Jesu im lukanischen Doppelwerk l
Die herausragende Rolle, die dem Geist Gottes bzw. dem heiligen Geist im Lukasevangelium und in der Apostelgeschichte, also dem lukanischen Doppelwerk, zukommt, bedarf keiner eigenen Begründung. Ich erinnere nur daran, daß kaum eine entscheidende Wende auf dem Weg des Evangeliums von Jerusalem nach Rom, den die Apostelgeschichte nachzeichnet, geschildert wird ohne Lenkung bzw. Einflußnahme des Geistes. Die berühmte Pfingstpredigt des Petrus ergeht wie andere große Reden in der Apostelgeschichte - infolge des Wirkens des Geistes (Apg 2,1-4). Petrus und die Judenchristen aus Jerusalem müssen durch eben jenen Geist davon überzeugt werden, daß auch auf Nicht juden, "Heiden", wie die Bibel sagt, die Gabe des heiligen Geistes ausgegossen ist (Apg 10,44f). Der heilige Geist hilft ebenso gleichsam bei der Abfassung des sogenannten Aposteldekrets (Apg 15,28); er bewirkt und legitimiert den entscheidenden Überschritt der Evangeliumsbotschaft vom Morgen- zum Abendland (Apg 19,6). Eingedenk der komplexen Geschichte, die das Wort lTVEU/lIX seit der klassischen Antike im Hellenismus wie im vielfältigen Judentum im Bereich des Religiösen wie Nichtreligiösen durch diverse Anleihen und Abgrenzungen unterschiedlichster philosophischer und anderer Vorstellungen erlebt hatZ, wird deutlich, daß Lukas eine stark dynamistische Sicht vom Geist vertritt: Der Geist ist eine Kraft, welche Dinge, Ereignisse und Menschen entscheidend bewirkt, bewegt und korrigiert - wobei es kaum einen Unterschied bedeutet, ob Lukas das Wort "Geist" absolut oder in den bekannten Wendungen "Geist Gottes" oder "heiliger Geist" gebraucht. Des weiteren ist deutlich: So die besondere Funktion des Geistes zur Darstellung zu bringen, wie es Lukas sowohl in der Apostelgeschichte wie auch in seiner Evangelienschrift getan hat, ist bewußter Ausweis der lukanischen Vorstellung von Kirche. Für Lukas steht die Kirche auf besondere Weise unter der FühI Dieser Beitrag beruht auf meinem Vorstellungsvortrag als Privatdozent der Universität Erlangen-Nürnberg vor der Theologischen Fakultät, gehalten am S. Februar 2003. 2 Siehe hierzu F. W. HORN, Art. Holy Spirit, ABD 3,1992,260-280; E. KAMLAH / W. KLAIBER, Art. TTVEÜ~a:, TBLNT 1, 1997, 698-708; T. TIELEMANN, An. Pneuma. A.B., Der Neue Pauly 9, 2000, 118lf.
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rung des Geistes. Er bestimmt den Weg der Kirche auf ihrem Weg durch die Geschichte, wie das J ürgen Roloff in seinem Lehrbuch über die "Kirche im N euen Testament" entfaltet hat: Der Geist weist die dem Plan Gottes gemäße Richtung für die gesamte Kirche 3 • Er ermöglicht dabei das Zeugnis von Jesus, durch das die Kirche wächst und voranschreitet. Eine solche Beobachtung mag für diejenigen, die mit der christlichen Denktradition insbesondere im Anschluß an die trinitätstheologischen Entscheidungen und Klärungen der Alten Kirche vertraut sind, nahezu selbstverständlich klingen. Für Lukas, die Leserinen und Leser seiner Werke sowie für seine Zeitgenossen nichtchristlicher Prägung war es keinesfalls selbstverständlich - jedenfalls noch nicht. Vielmehr gilt umgekehrt: Ohne die Reflexion des frühchristlichen Schriftstellers und Theologen Lukas würden entscheidende Momente für die spätere theologische Reflexion fehlen. Für Lukas, den dialektischen Grenzgänger zwischen seinen jüdischen und nicht jüdischen Zeitgenossen, bestand darin insbesondere schon deswegen keine Selbstverständlichkeit, weil für ihn -:- um an dieser Stelle sein erstes Werk in Betracht zu ziehen - bislang nur einer ausnahmslos Geistträger g~wesen ist: Jesus von Nazaret\ dessen Geschichte und Bedeutung er in seiner Evangelienschrift nachzeichnet und auf großartige Weise nacherzählt. Lukas mußte von daher begründen, in welchem Zusammenhang der Geist, der jenem Jesus von Nazaret verliehen worden war, mit eben jenem Geist steht, der in und an der Kirche handelt, die einzelnen Christen darin eingeschlossen. Aus exegetischer Sicht ist bislang im Blick auf die Apostelgeschichte so viel deutlich 5 , daß dieser Zusammenhang durch eine gewisse Nähe zwischen dem erhöhten Christus und dem Geist gegeben ist 6 • Lukas hat diesen Zusammenhang J. ROLOFF, Die Kirche im Neuen Testament, GNT 10, Gättingen 1993,209. So H. CONZELMANN, Die Mitte der Zeit, BHTh 17, Tübingen 61977, 168 sowie E. SCHWEIZER, Art. lTVEUll1X K-cA., Th WNT 4, 1959, 401-413: "Daß J ordantaufe und Pfingstgeschichte in keiner Weise einander angeglichen wurden, kann ein Hinweis sein darauf, daß die Geistbegabung J esu für Lukas auf ganz anderer Ebene liegt als die der Gemeinde" (403). 5 Siehe hierzu die entscheidenden Beiträge von H. V. BAER, Der Heilige Geist in den Lukasschriften, BWANT 39, Stuttgart 1926, 205-210 (zusammenfassend); G. W. H. LAMPE, The Holy Spirit in the Writings of St. Luke, in: D. E. Nineham (ed.), Studies in the Gospels. FS R. H. Lightfoot, Oxford 1955, 159-200; Schweizer, ThWNT 4; J. H. E. HULL, The Holy Spirit in the Acts of the Apostles, London 1967; K. BERGER, Art. Geist / Heiliger Geist / Geistesgaben. ur. Neues Testament, TRE 12, 1984, 178-196; Horn, Spirit (s. Anm. 2), 277f; W. H. SHEPARD, The Narrative Function of the Holy Spirit as a Character in Luke-Acts, SBL.DS 147, Atlanta 1994; J. A. FITZMYER, The Role of the Spirit in Luke-Acts, in: The Unity of Luke--Acts, hg. v. J. Verheyden, BETL 142, Leuven 1999, 165-183 (dort auch die Zusammenstellung der wichtigsten Literatur [165f Anm.3]). 6 So Horn, Spirit (s. Anm. 2), 277; vgl. auch J. JERVELL, Die Apostelgeschichte, KEK 3, Gättingen 1998, 113f.149: "Lukas will nicht betonen, daß Jesus zur Rechten Gottes sitzt, sondern daß, weil er sich dort befindet, die Geistausgießung genuin ist, d. h. es handelt sich um Gottes Geist, vgl. V 33" (149). 3
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durch die berühmte Pfingstgeschichte in Apg 2 erzählerisch als Erfüllung der endzeitlichen Verheißung des Propheten Joel (3,1-5) hergestellt. Anstelle der von den Jüngern erhofften weiteren leiblichen Gegenwart Jesu verspricht der "zur Rechten Gottes erhöhte" Jesus das Kommen des Geistes als Befähigung zum Zeugnis von Jesus Christus. Diese Befähigung, die sich für Lukas am jüdischen Wochenfest 50 Tage nach dem Pessachfest in Jerusalem ereignet hat, deutet er durch die prophetische Verheißung des J oeI als Anbruch der Endzeit in den Worten des Petrus: "In den letzten Tagen", fügt Lukas dem alttestamentlichen Gotteswort aus der Septuaginta hinzu (Apg 2, 17/, "werde ich meinen Geist ausgießen über alles Fleisch ... ". Jene "letzten Tage" sind demnach für Lukas jetzt schon Gegenwart der Kirche, die Endzeit ist bereits angebrochen. So deutlich aber das Wirken des Geistes in der Kirche durch J esus ein für allemal inhaltlich bestimmt ist - abgekürzt gesprochen: also christologisch qualifiziert ist -, desto wichtiger erscheint allerdings die Frage, worauf dieser Zusammenhang zwischen dem Erhöhten und dem Geist eigentlich gründet. Denn das Bekenntnis über den zur Rechten Gottes erhöhten Christus revoziert ja keineswegs den schändlichen Tod, auch wenn nach Ausweis des Lukas "der Christus dieses alles erleiden mußte" (Lk 24,26). Anders formuliert: Durchkreuzt das Faktum der schändlichen Hinrichtung J esu nicht die Vorstellung von der einzigartigen Geistträgerschaft J esu grundsätzlich? Und stellt somit das Wirken des Geistes in der Kirche, der aufgrund der Verheißung Jesu von Gott ausgehen soll, nicht ein bloßes apologetisches Postulat dar? Bei der Beantwortung dieses Fragenkomplexes bin ich auf einen Sachzusammenhang bei Lukas gestoßen, den ich mit der Überschrift des Vortrags als These zum Ausdruck gebracht habe und jetzt folgendermaßen formuliere: Der Evangelist Lukas stellt den Tod Jesu bewußt als Hinrichtung des Geistträgers Jesus dar. Diese Darstellung des Sterbens Jesu ist eine Deutung des Todes Jesu durch Lukas. Das Sterben Jesu ermöglicht und begründet die Freisetzung des aus der Sicht des Lukas bislang ausschließlich an Jesus verliehenen Gottesgeistes zur Ausgießung über die Jüngerinnen und Jünger. Im Blickpunkt steht damit Jesu letztes von drei Worten am Kreuz (Lk 23,46). Es ist der Ruf: "Vater! In deine Hände übergebe ich meinen Geist", woraufhin J esus seinen Odem aushaucht und damit stirbt. Seine Besonderheit erhält dieses letzte Wort J esu dadurch, daß dieser Ruf inhaltlich fast wörtlich aus Ps 31 übernommen wurde. Lukas hat diese Psalmworte dem sterbenden J esus in den Mund gelegt. Die Todesszene, wie sie Lukas hier schildert, unterscheidet sich damit auffäl7 KO:I. fatO:l EV to:l<; EaxatO:lC;; ~f.1EPO:l<;, AEYEL 6 eEOC;;, EKXE<J alTO toD lTVEUf.1o:tOC;; f.1ou Enl. miao:v mipKO:, gegenüber Joel 3,1: KO:I. EatO:l f.1Eta to:Uto: KO:I. EKXEW (Xno toD lTVEUf.1IXtOC;; f.1ou ElT\. miao:v a&pKO:; siehe hierzu J. ROLOFF, Die Apostelgeschichte, NTD 5, Gättingen 21988, 52f.
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ligerweise von dem großen Vorbild des Markusevangeliums, das Lukas zur Abfassung seiner Evangelienschrift neben der Spruchquelle und anderen Traditionen herangezogen hatte. Denn nach dem Markusevangelium stirbt J esus mit Worten aus Ps 22 auf den Lippen (Mk 15,33). Es dürfte somit keine Frage sein, daß der Evangelist Lukas mit dieser Abänderung einen besonderen Akzent setzen wollte. Es bleibt allerdings zu fragen, welchen Akzent er damit setzen wollte. Wie also hat der Evangelist Lukas den Todesruf Jesu aus Ps 31: "Vater! In deine Hände übergebe ich meinen Geist", verstanden? Ehe wir uns an die Beantwortung dieser Frage machen können, gilt es zu bedenken, daß Lukas aus einem geschätzten geschichtlichen Abstand von etwa 60 Jahren zu den Ereignissen in J erusalem die frühchristliche theologische Reflexion über den Tod Jesu ebenso vor Augen hatte wie aus einem Abstand von etwa 20 Jahren die Eroberung und Zerstörung J erusalems als des religiösen Zentrums des antiken J udentums 8 • Lukas als frühchristlicher Theologe und Schriftsteller fing also nicht bei Null an, über den Tod Jesu nachzudenken, und er suchte dabei auch, Fragen seiner Zeit der beiden letzten Jahrzehnte des ersten Jahrhunderts n. Chr~ einzubeziehen. Es war eine Zeit, die für seine Zeitgenossen und seine Leserinnen und Leser unter dem Eindruck einer sich intensivierenden violenten römischen N ahostpolitik9 nach wie vor eine Zeit der Erschütterung und Verunsicherung war: "Wir hofften, J esus von N azaret, ein Prophet mächtig in Taten und Worten vor Gott und allem Volk, werde Israel erlösen", läßt Lukas daher einen Jünger auf dem Weg nach Emmaus klagen (vgl. Lk 24,19-21)10. Es war eine Zeit, in der man nach prophetischer Weisung bzw. geistgegebener Orientierung fragte, und zwar in unterschiedlichen Kreisen, nicht nur frühchristlichen, sondern auch unterschiedli-
8 Zur zeitlichen Einordnung des Evangeliums einerseits und der Apostelgeschichte andererseits siehe 1. BROER, Einleitung in das Neue Testament. Bd. 1. Die synoptischen Evangelien, die Apostelgeschichte und die johanneische Literatur, NEB, Würzburg 1998, 136f. 9 Siehe hierzu F. MILLAR, The Roman Near East 31 BC - AD 337, Cambridge / London 1993, 80-99; zur "Ursache" der katastrophalen Beziehung zwischen den Juden und dem Römischen Reich mit allein vier großen Konflikten bzw. kriegerischen Auseinandersetzungen im 1. Jh. n. Chr. jetzt E. BALTRUSCH, Die Juden und das Römische Reich, Darmstadt 2002, mit der Grundthese, daß die römische Herrschaftspolitik den "politischen Charakter der jüdischen Religion in Frage stellte" und es deshalb zum prinzipiellen Konflikt kommen mußte (157). 10 A. M. SCHWEMER, Der Auferstandene und die Emmausjünger, in: Auferstehung - Resurrection, hg. v. F. Avemarie / H. Lichtenberger, WUNT 135, Tübingen 2001, 10M, hebt die "doppelte Verschlossenheit der Emmausjünger" m. E. unnötigerweise von der Auslegung J. W ANKEs, Die Emmauserzählung, Leipzig 1973, 23-126 ab, der in dem von Lukas formulierten Bekenntnis der Jünger Erwartungen zu Wort gekommen und berichtigt sieht, "die für judenchristliche Palästinenser seiner Zeit charakteristisch waren" (67).
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chen jüdischen Kreisen 1\ die die Katastrophe der Tempelzerstörung durch die Römer überlebt hatten und gleichwohl in eine tiefe religiöse Krise geraten waren. Drei Orientierungsmöglichkeiten sind im großen und ganzen erkennbar: Zum einen begann sich von den Tagen des Lukas an ein Konzept vom heiligen Geist als nationales Charisma auszubilden '2 . Diesem Konzept zufolge zeichnet der Geist als die gnadenhafte Gabe den einzelnen in seinem Volk und Israel vor den anderen Völkern aus. -Es steht sachlich mit der zeitlich weit zurückliegenden Zerstörung des ersten Tempels insofern in einem Zusammenhang13 , als dem "Goldenen Zeitalter" des ersten Tempels ein endzeitliches Gegenbild gegenübergestellt wurde: Der Geist komme nach der Zerstörung des ersten Tempels nach einer Periode des Ausbleibens erst wieder am Ende der Tage. Eine zweite Orientierungsmöglichkeit ist aus dem vierten Buch der Sibyllinen ersichtlich. Dieses Buch ist eine Orakelschrift, die gegen das Ende des ersten J ahrhunderts n. ehr. datiert werden kann und im übrigen - rückblickend auf die Zerstörung des zweiten Jerusalemer Tempels - eine tempel kritische Sicht vertritt 14 • Diese Schrift erwartet - nach der Totenauferweckung - die Gabe des Geistes für die Endzeit nach dem Gericht. Freilich ist das Geschenk dort nur den "Frommen" verheißen, und das heißt: nicht denen, "welche in Gottlosigkeit sündigten" (Sib. IV,185-192)15. Schließlich ist, drittens, in diesem geistes geschichtlichen Zusammenhang auf die damals neu entstehenden apokalyptischen Texte wie zum Beispiel das vierte Buch Esra zu verweisen. Sie greifen Fragen nach dem weiteren Schicksal Israels auf, die in den Tagen des Lukas virulent waren, auch wenn sie zwei oder mehr Jahrzehnte nach Lukas schriftlich fixiert wurden. So geht aus 4 Esr 14,22 hervor1\ daß die Eingabe des heiligen Geistes Gottes geradezu die Voraussetzung ist für die seherische Fähigkeit des Visionärs Esra, den Weg des gottbestimmten Lebens neu für das Gottesvolk aufzuzeichnen, um - so man will- "in der Endzeit das Leben" zu erlangen '7. Nehmen wir auf einem solchen geistesgeschichtlichen Hintergrund den T odesruf in den Blick, den Lukas in Übernahme aus Ps 31 dem Hingerichteten J esus in 11 Siehe hierzu des weiteren G. OEGEMA, Zwischen Hoffnung und Gericht. Untersuchungen zur Rezeption der Apokalyptik im frühen Christentum und Judentum, WMANT 82, NeukirchenVluyn 1999. 12 Siehe hierzu P. SCHÄFER, Art. Geist / Heiliger Geist / Geistesgaben. H. Judentum, TRE 12, 1984,175f. 13 Schäfer, Geist (s. Anm. 12), 175. 14 Siehe dazu J. J. COLLINS, J ewish Identity in the Hellenistic Diaspora, Grand Rapids / Cambridge 22000, 16M. 15 Zitiert nach H. MERKEL, Apokalypsen. Sibyllinen, JSHRZ 5/8, Gütersloh 1998. 16 Vgl. Ps 50,13 LXX; lQS 3,7. 17 Zitiert nach J. SCHREINER, Das 4. Buch Esra, JSHRZ 5/4, Gütersloh 1981.
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den Mund legte. Welchen Sinn verlieh er diesem letzen Worte Jesu? Die Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten. Denn sehe ich richtig, hat dieses Wort in der älteren Forschung kaum Beachtung gefunden. Und zwar gerade deswegen, weil die ältere Forschung von dem Postulat ausging, daß dem Tode Jesu im Lukasevangelium keine besondere Bedeutung zukomme. Im Sterben Jesu könne keine explizite Heilsdeutung gesehen werden, wie das aus anderen Schriften des Neuen Testaments entgegentritt 1s • Die Vergebung 'der Sünden - Inbegriff der christlichen Heilslehre - werde im Lukasevangelium nirgendwo mit dem Tod J esu begründet. Dieser älteren Forschungsmeinung 'gegenüber hat sich inzwischen ein relativer Konsens ergeben, nach dem Lukas offenbar zwar kaum an einer expliziten soteriologischen Bedeutung des Kreuzestodes J esu interessiert gewesen ist, dennoch wenigstens der Tod Jesu mehr oder weniger als "Durchgangsstadium" gesehen werden müsse zu der für Lukas als wichtiger angenommenen Gegenwartsbedeutung der Auferweckung. J esu und seines in die Herrlichkeit erhobenen Standes durch die Himmelfahrt (Lk 24,26) und die gegenwärtige Wirkung des Ganzen für die Gläubigen l9 • Daneben hört man in der neueren Forschung noch Stimmen, nach den~n das Todesleiden J esu immerhin eine relative ethische Bedeutung habe: Der sterbende Jesus werde als Vorbild für die Gläubigen hinsichtlich ihres eigenen Sterbens dargestellt 20 . J esus sterbe in einem gewissen Sinne mehr noch als nach der Darstellung des Markus als leidender Gottesgerechter, dem das Schicksal der Propheten Gottes widerfährt. Hier "leidet und stirbt der eine erwartete Prophet, der König Israels"21, heißt es, und dies könne wenigstens eine Vorbildfunktion für die Gläubigen selbst haben 22 • Und in der Tat scheint dieses Todesverständnis einen gewissen Anhalt am Lukasevangelium zu haben: Mehrfach ist in der Darstellung des Lukas zu beobach18 Siehe hierzu G. BARTH, Der Tod Jesu Christi im Verständnis des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 1992. 19 So E. RICHARDS, J esus' Passion and Death in Acts, in: Reimaging the Death of the Lukan J esus, hg. v. D. D. Sylva, Frankfurt/M. 1990, 150; positiv aufgenommen von Barth, Tod (s. Anm. 18), 135. 20 Unzweifelbar ist dabei, daß der hebräische Text '1:1" "i?~tt '9'"1::.1 eine "völlige Enteignung der Existenz" mit sich bringt, wenn 0" im Sinne von "Leben" verstanden werden kann (so H.-J. KRAus, Psalmen, BK.AT 15/1, Neukirchen-Vluyn 51978, 397). - In diesem oder ähnlichem Sinne hat dann der Psalmvers Eingang in die Komplet der christlichen Kirchen gefunden (so z. B. im Responsorium EG 730); vgl. hierzu H. GaLTZEN, Der tägliche Gottesdienst, Leiturgia 3, 1956, 226 mit Anm. 40, wobei das Moment der Vorbildhaftigkeit des sterbenden Herrn stets über den Märtyrer Stephanus gestellt wurde (vgl. 233.266). 21 Barth, Tod (s. Anm. 18), 137. 22 Zuletzt P. POKORNY, Theologie der lukanischen Schriften, FRLANT 174, Göttingen 1998, 149: "er bleibt Vorbild für die sterbenden Menschen"; in Aufnahme von M. BOUTTIER, L'humanite de J esus selon Saint Luc, in: La Parole de grace. Etudes lucaniennes a la memoire d' A. George, hg. v. J. Delorme / J. Duplacy, Paris 1981,33-44; auch M. L. SOARDS, The Passion according to Luke. The special Material of Luke 22, JSNT.SS 14, Sheffield 1987, 124.
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ten, daß sie im Passionsverlauf die Unschuld J csu hervorhebt; dreimal betont Pilatus ausdrücklich, daß er keine Schuld an J esus finden konnte; auch Herodes Antipas, der Landesherr Jesu, muß schließlich die Unschuld Jesu eingestehen (Lk 23,15). Besondere argumentative Bedeutung hat in dieser Auslegungsrichtung auch die U mformulierung des bei Markus durch den Centurio ausgesprochenen Bekenntnisses zum Gottessohn. Bekennt der Centurio J esus als Gottessohn (Mk 15,39), so preist in der Lukaspassion der Centurio, der für dessen Exekution verantwortlich zeichnet, unter dem Eindruck der Sonnenfinsternis Gott und sagt: "Das war wirklich ein gerechter Mann" (Lk 23,47). Hinzu kommt, daß der Gekreuzigte selbst für seine Henker bittet (Lk 23,34) und sich darüber hinaus noch für den mitgekreuzigten Schächer einsetzt (Lk 23,43): "Heute wirst du mit mir im Paradiese sein." Zudem wird der Todesschrei Jesu bei Lukas dadurch abgemildert, daß der Evangelist den "lauten Schrei" im Gegensatz zu Markus (Mk 15,37) in einen eher nur "rufenden Schrei" umformuliert hat23 • Von daher deute Lukas, so die Ausleger, J esu letztes Wort nicht mehr als Verlassenheitsschrei - wie noch bei Markus (Mk 15,34)24 -, sondern als das vertrauensvolle Sich-Ausliefern des Frommen in die Hände Gottes (Lk 23,46). Und deswegen habe Lukas Jesus mit den Worten aus Ps 31 sterben lassen: "Vater, in deine Hände übergebe ich meinen Geist. ,,25 Bedenkt man zuletzt noch die Parallelisierung des Martyriums des Stephanus mit dem Leiden J esu in Apg 7,54-8,Y6, dann scheint das Bild Jesu im Lukasevangelium als vorbildlicher Märtyrer von der Apostelgeschichte her eine Bestätigung zu finden 27 • Doch so unzweifelbar Jesus als unschuldig Leidender und Hingerichteter in der Lukaspassion gezeichnet sein mag28 - und darin gewiß eine Vorbildfunktion für die angesprochenen Leserinnen und Leser haben dürfte. - bedarf es doch einer Nachfrage, ob damit die Bedeutung des Todes bzw. der Passion Jesu schon erfaßt
23 So R. E. BROWN, The Death of the Messiah. From Gethsemane to the Grave, Bd. 2, New Y ork u. a. 21994, 106M. 24 So auch Pokorny, Theologie (s. Anm. 22), 149. 25 Vgl. schon K. H. RENGSTORF, Das Evangelium nach Lukas, NTD 3, Gättingen 1949, 264: "Ausdruck seiner kindlichen Gewißheit voller Geborgenheit"; so auch z. B. J. B. GREEN, The Theology of the Gospel of Luke, Cambridge 1995, 25. 26 Siehe z. B. Jervell, Apostelgeschichte (s. Anm. 6), 253f. 27 So mit ausdrücklichem Verweis auf Apg 7,52 auch Pokorny, Theologie (s. Anm. 22), 148, der sich hier F. SCHÜTZ, Der leidende Christus, BWANT 89, Stuttgart 1969, 83f, anschließt; sowie A. BÜCHELE, Der Tod J esu im Lukasevangelium, FTS 26, Frankfurt/M. 1978, 138f.195f; H. KESSLER, Die theologische Bedeutung des Todes Jesu. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung, Düsseldorf 1970, 239f. 28 So auch die Kommentare von C. F. EVANS, Saint Luke, TPI New Testament Commentaries, London / Philadelphia 1990, 877; J. B. GREEN, The Gospel of Luke, NICNT, Grand Rapids / Cambridge 1997, 826.
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ist 29 • Sicherlich: Die Darstellung der Passion Jesu erreicht ihren paradoxen Höhepunkt in Lk 23,46: J esus befiehlt seinen Geist in die Hände seines Vaters, und dies wird formuliert mit Worten aus Ps 31: "In deine Hände befehle ich meinen Geist." Doch gerade diese darstellerische Zuspitzung macht eine erneute genaue Analyse des Psalmgebrauchs im Zusammenhang des Passionsgeschehens bei Lukas wie im größeren Zusammenhang des Lukasevangeliums insgesamt erforderlich, und diese Analyse führt zu einem ganz anders skizzierten Bild von der Bedeutung des Leidens und Sterbens J esu. Die F rage, die sich hier stellt, lautet: Wenn in der Lukaspassion Jesus mit einigen wenigen Worten aus Ps 31 auf den Lippen stirbt, gebraucht Lukas Ps 31,6 als Wort eines Märtyrers oder als ein "Deutewort" in einem anderen Sinn? Sollte also eine Deutung in einem martyrologischen Sinne nicht möglich sein, dann ist in unserem Argumentationsgefälle in einem methodischen Zwischenschritt jetzt zu fragen, wie Lukas in seinem Evangelium an anderen Stellen das .Alte Testament bzw. einzelne TextsteIlen oder Psalmen zitiert und gebraucht. Ich will an dieser Stelle schon einmal das Ergebnis meiner Analyse benennen: i Der Blick in die "Schreibstube" des Evangelisten Lukas ergibt methodisch betrachtet unter Analyse von Lk 4,18f über Jes 61,1f; 58,6, von Lk 20,17 über Ps 118,22, von Lk 20,42f über Ps 110,1 und unter Analyse von Lk 23,34 über Ps 22,19 Folgendes: 1. Wenn Lukas insbesondere Psalmen aus der Markusvorlage, in diesem Sinne aus der Tradition, übernimmt, ist ein bewußter Textumgang mit den alttestamentlichen Stellen zu beobachten30 • 2. Man kann diesen Umgang rein formal als eklektischen Umgang bezeichnen. Denn Lukas wählt bewußt aus oder er verändert sehr bewußt. 3. Keinesfalls aber dient ein kurzes Zitat zur impliziten Anspielung auf die jeweils ganze alttestamentliche Stelle bzw. auf den jeweils ganzen Psalm. Im einzelnen sieht die Analyse der angegebenen Stellen wie folgt aus: 1. Nach Lk 4 wird Jesus während eines Synagogengottesdienstes zur Schriftlesung aus dem Jesajabuch aufgerufen und fügt dieser seiner Verlesung eine kleine
29 Green, Theology (s. Anm. 25), 68 formuliert: "On the one hand, then, Jesus' death emphasizes the hostility to be encountered by those who proclaim God's coming as areversal of status .... On the other hand, in a profoundly ironie way, the passion of Jesus is joined by his exaltation, and these together embody in an ultimate way the salvation as reversal theme that threads its way throughout the gospel of Luke. The passion of Jesus is thus a caH to vigilance and fidelity as weH a promise of salvation". Dem gegenüber sieht Pokorny, Theologie, 149 keine Verbindung zwischen dem Kreuzesgeschehen und der christlichen Hoffnung gegeben: "sein (sc. Jesu) Tod ist nicht der Grund ihrer Hoffnung". 30 Zur Frage nach der tatsächlichen Textgestalt der Septuaginta, welche Lukas vor Augen gelegen haben dürfte, siehe M. MEISER, Das Alte Testament im lukanischen Doppelwerk, in: Im Brennpunkt: Die Septuaginta. Studien zur Entstehung und Bedeutung der Griechischen Bibel, hg. v. H.-J. Fabry / U. Offerhaus, BWANT 135, Stuttgart 2001,167-195.
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Auslegung hinzu. Diese Auslegung kulminiert darin, daß J esus das Schriftwort des Prophetenbuches in seiner Person erfüllt sieht. Mit seinem Auftreten sei das Gnadenjahr angebrochen und ruhe der durch den Propheten verheißene endzeitliche Geist auf ihm selbst. Lk 4,18f stellt dabei eine Zitaten kombination aus Jes 61,1f; 58,6 dar. Anhalt hat diese Zitatenkombination durch Lukas an der Verwendung gerade beider Prophetenstellen in der Gemeinschaft von Qumran. Jes 61 wurde mit dem Anfang des Jobeljahres am Jom-Kippur-Fest verbunden. Auch Jes 58 wurde im Zusammenhang von Jes 57f bei der Schriftverlesung am Jom-KippurFest gelesen 31 • Auffällig ist jedoch: Lukas legt Jesus nicht das gesamte Prophetenwort von Jes 61,lf in den Mund, sondern bricht bewußt in der ersten Hälfte von Vers 2 ab. Denn dieser zweite Teil hätte dem lukanischen Anliegen völlig widersprochen, in Jesu Auftreten die Verheißung von Jes 61,lf erfüllt zu sehen. Die Vorstellung vom "TagJHWHs" bzw. vom "Tag der Rache", den der TagJHWHs mit sich bringt, wie sie in Jes 61,2 zur Sprache kommt, paßt nicht in die lukanisehe Vorstellung der messianischen Heilszeit, die mit J esus jetzt gekommen ise z. Redaktionsgeschichtlich betrachtet ist es daher für das Lukasevangelium nicht von ungefähr, daß Lukas bewußt eklektisch zitiert. Man darf also nicht voraussetzen, daß Lukas mit dem Zitat eines Psalmenteils oder einer Psalmenwendung sogleich auf den gesamten Psalm insgesamt anspielt. Das Zitat aus dem Psalm ist ihm vielmehr Textmaterial für seine eigene schriftstellerische Tätigkeit. 2. Als zweites Beispiel für den Schriftumgang kann auf Lk 20,17 verwiesen werden. In der lukanischen Fassung des Gleichnisses von den bösen Winzern, das Lukas von Markus übernahm (Mk 12,1-12), wird bekanntlich Ps 117,22 LXX zitiert. Aber das Zitat endet bei Lukas anders als bei Markus und dem Seitenreferenten Matthäus mit der Wendung: "der ist zum Eckstein geworden" (OÜTOC; EYEv~811 Elc; KE<paA~v ywvLac;); der weitere Text, Ps 117,23 LXX: "Vom Herrn ist dies geschehen und ist Erstaunliches in unseren Augen" (TIapa KUPLOU EYEVETO aÜTll KaI. Eonv 8aUllaoT~ EV o
31 F. BOVON, Das Evangelium nach Lukas. 1. Teilband: Lk 1,1-9,50, EKK 3/1, Zürich / Neukirchen-Vluyn 1989, 211f; zum eschatologischen Hintergrund der Jesaja-Deutung in Qumran siehe C. A. EVANS / J. A. SANDERS, Luke and Scripture, Minneapolis 1993,54-61. 32 Vgl. J. ERNST, Das Evangelium nach Lukas, RNT,Regensburg 61993, 131; einen anderen Grund vermutet Meiser, Testament (s. Anm. 30), 175.
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sen, was Gott bauen will, und zugleich zum Verderben für die, die ihn verwerfen. So sind Karfreitag und Ostern als Abschluß und Neuanfang hervorgehoben.")3 3. Des weiteren erhellt der Umgang mit Psalmen-Zitaten aus Lk 20,42f, der so genannten Davidsfrage (par Mk 12,35-37a). Hier fällt auf, wie Lukas das von Markus übernommene Zitat aus Ps 110,1 wieder an den Septuagintatext angleicht bzw. es mit dem ursprünglichen Septuagintazitat korrigiert. Eduard Schweizer erklärt diese' Vorgehensweise des Lukas folgendermaßen: "Statt auf den heiligen Geist (Mk 12,36) wird auf die Psalmen verwiesen; wohl gegen ein Mißverständnis, als ob der Geist nur in der Schrift und nicht auch in der Gegenwart rede (vgl. Apg 1,16; 4,25; 28,25)."34 Das heißt also: Lukas ist ein sehr genauer Schriftsteller, der im Umgang mit seinen alttestamentlichen Texten sehr exakt und bewußt umgeht. 4. Bewußt, und das heißt eklektisch geht Lukas auch hinsichtlich Ps 22,19 in Lk 23,34 vor, und zwar gerade aufgrund der Abwandlung des traditionellen Textes von Markus (Mk 15,24). Einerseits übernimmt er Ps 22,19 in Lk 23,34, aber eben nicht vollständig wie noch Markus, sondern er schließt das Zitat mit der Notiz der Kleiderverlosung. Anders als im ursprünglichen Psalmenkontext erscheint das Zitierte auch nicht als direkte Rede, sondern gleichsam als Kommentarwort, das in der Sprache des Psalms das Tun der Exekutoren und ihrer Helfer schildert. Übertragen wir die eben dargelegte Einsicht in die Schreibtechnik des Lukas auf die Worte aus Ps 31 im Munde J esu, so ergibt sich: Lukas übernimmt ganz bewußt nicht Ps 22, der in der Markusvorlage das Sterbewort J esu ist und im dortigen Zusammenhang den sterbenden J esus als Märtyrer gezeichnet sein läßt. Lukas hingegen blendet das Märtyrerbild, das dem Evangelisten Markus noch vor Augen stand, aus. Ps 22, der jüdische Sterbepsalm, der die äußerste Gottesferne zum Ausdruck bringt, tritt in den Hintergrund. Ps 22 wird bei Lukas aus dem unmittelbaren Zusammenhang des Todeszeitpunktes gehoben und dient ihm ausdrücklich noch vor dem geschilderten Tod Jesu lediglich als Sprachmaterial für die Darstellung des peinigenden Verhaltens der Exekutoren und ihrer Helfershelfer. So aber erreicht Lukas eine Konzentration auf das Wesentliche, das für ihn äußerlich in einem lauten Ruf Jesu besteht und inhaltlich eben durch Ps 31,6 zum Ausdruck gebracht wird. Dieser Vers wird unmittelbar vor der eigentlichen Sterbensnotiz eingeschoben, die Lukas getreulich von Markus übernahm (E~ElTVEUaEV [Mk 15,37]): Dies sagend, hauchte er seinen Odem aus und verschied. Man hat in diesem Zusammenhang zwar darauf verwiesen, daß Ps 31,6 in der späteren rabbinischen Tradition als Teil des Abendgebets gebraucht wurde, das man vor dem Zubettgehen sprechen sollte (Ber 5a; vgl. Bill II, 269). Ps 31,6 würde also aufgrund eines liturgischen Gebrauches gleichsam den fehlenden Ps 22 ersetz33 34
E. SCHWEIZER, Das Evangelium nach Lukas, NTD 3, Gättingen / Zürich 1993,203. Ebd., 205.
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ten 35 • Aber ein vorlukanischer liturgischer Gebrauch dieses Psalmverses, den Lukas möglicherweise wiederum aus einer frühchristlichen Liturgie übernommen haben könnte, konnte nicht nachgewiesen werden. Blicken wir daher genauer auf den Wortlaut von Ps 31,6, den ich in Übersetzung aus der Septuaginta zitiere: "In deine Hände werde ich meinen Geist übergeben, erlöse mich, Herr, Gott der Wahrheit" (EL<; XElpch; Gau iTcxpcx€l~aaJlcxL tO 1TVEUJla. Jlau EAUtpWaw JlE KUPLE 6 €lEo<; t11<; eXA1l€lELcx<;). 'Im Vergleich mit dem Lukaswortlaut fällt zweierlei auf: Erstens zitiert Lukas offenbar wie auch an anderen Stellen nicht den ganzen Psalm, sondern läßt in Vers 6 den umittelbar folgenden Erlösungsruf "Erlöse mich, Herr, Gott der Wahrheit" (~AUtpWaw JlE KUPLE 6 €lEo<; t11<; eXA1l€lELcx<;) aus. Zweitens formuliert er das Futur "in deine Hände werde ich meinen Geist übergeben" in ein Präsens um: "In deine Hände übergebe ich meinen Geist." Wie ist nun diese Adaption zu verstehen, die besonders dadurch auffällt, daß Lukas den Erlösungsruf nicht in das letzte J esuswort mit übernahm? Es ist hinreichend auffällig, daß Lukas wie kein anderer Evangelist im Neuen Testament die Passionserzählung von der Anklage J esu bis zu seinem letzten Lebenshauch deutlich umgestaltet hat - und zwar indem er einerseits gegenüber Markus Kürzungen und Umstellungen vorgenommen hat, andererseits Ergänzungen einbringt, die gar auf eine Sonderquelle über die Passion J esu haben schließen lassen 3\ worauf ich im einzelnen jetzt nicht eingehen kann. Hier sei nur beobachtet, daß und wie Lukas den Tod J esu gekonnt dramatisch erzählt. Von Beginn der Passionsdarstellung in Kap. 23 an steht Jesus unter der Anklage, das Volk aufgehetzt und zum Steuerboykott aufgerufen zu haben, wobei er das ganze unter dem Messianitätsanspruch getan habe (V 1-3). So kommt es zu einem beispiellosen unvergleichlichen Hin und Her zwischen den jüdischen Oberen und dem Präfekten Pontius Pilatus als Vertreter Roms und schließlich auch dem Landesfürsten J esu, Herodes Antipas 37 - ein Hin und Her, das von Lukas derart er35 Siehe hierzu kritisch J. A. FITZMYER, The Gospel according to Luke X-XXIV, AncB 28A, New York 1983,1519. 36 V gl. hierzu die umfangreiche (1003 Seiten) Bibliographie von J. M. HARRINGTON, The Lukan Passion Narrative. The Markan Material in Luke 22,54-23,25. A Historical Survey: 1891-1997, NTTS 30, Leiden u. a. 2000. 37 Siehe hierzu zuletzt die bibliographische Arbeit von Harrington, Passion Narrative (s.Anm. 36),691-804, der zu dem Ergebnis kommt: "Luke composed the Herod pericope using Markan materials he omitted in parallel places namely Mk 3,6; 6,14-29; 15,16--20." Und zwar ergebe sich das aus dem gebrauchten Vokabular, den Satzkonstruktionen und Themen. Er griff dabei auch auf Herodes-Material zurück (Lk 3,1; 9,7-9; 13,31-33), das als Grundlage für verwandtes Material in Apg diente (Apg 25f); "emphasizes the parallels between Jesus and his disciples". "Our study reaffirms the widely held interpretation that the purpose of this brief pericope is to witness the innocence of Jesus. Luke's description of the Eae~ta AlllllTpav, without reference to a color, seems to have been intended to highlight Jesus' divinity" (802); vgl. auch E. HEUSLER, Kapitalprozesse im lukanischen Doppelwerk. Die Verfahren gegen Jesus und Paulus in exegetischer und rechtshistorischer Analyse,
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zählt wird, daß Pilatus schließlich dem Drängen der jüdischen Autoritäten nachIndem Lukas dann aber die Begleitumstände des Sterbens Jesu, Sonnenfingib sternis und Zerreißen des Tempelvorhangs, im Vergleich zu Markus zeitlich zusammenordnet und unmittelbar vor J esu letztes Wort stellt (V 44f), erhält das Sterben J esu eine apokalyptisch-epochale Bedeutung: Es ist kein nur frommes Geschehen in dem Sinne, als es nur die Glaubenden betreffen würde. Sondern vom Sterben Jesu ist das ganze jüdische Land, die Stadt Jerusalem mit ihrem Tempel im Zentrum betroffen. Waren J esu Ursprünge nach Lukas mit besonderen Ereignissen im Tempel verbunden, kann auch sein Tod in diesem hervorgehobenen Sinne nur in J erusalem stattfinden. J esus wird als Unschuldiger, gleichsam als Spielball der lokalen und reichsweiten Mächte am Kreuz hingerichtet. Das Allerheiligste des Tempels, das durch einen Vorhang nicht einsichtig gewesen war, öffnet sich, ehe J esus den Todesschrei ausstößt. Insofern wäre der zerrissene Vorhang möglicherweise ein Zeichen für Gottesgegenwart - aber nun nicht mehr im Tempel, sondern ansichtig außerhalb des Tempels an diesem am Kreuz Hingerichteten. r Erst jetzt läßt sich erahnen, welche Bedeutung Ps 31,6 auf den Lippen Jesu hae 9• Bei Lukas tritt grundlegend und überhaupt die Vorstellung des Sterbens J esu als Hinrichtung des Geistträgers J esus in den Vordergrund40 • Jesus wird als Träger des
es.
NTA 38, Münster/W. 2000,93-99, die den ,Einschub' der Herodes-Szene als Moment ansieht, mithilfe dessen Lukas einen "regelrechten Instanzenweg"aufbaut (99), so daß sich das Kapitalverfahren gegen Jesus im Evangelium des Lukas "aus einem Vorverhör und einer in drei Sitzungen durchgeführten Hauptverhandlung" zusammensetzt (99); F. MILLAR, Reflections on the Trial of Jesus, in: A Tribute to Geza Vermes. Essays on Jewish and Christian Literature and History, hg. v. P. R. Davies / R. T. White, JSOT.SS 100, Sheffield 1990, 355-381. 38 Zu den rechtshistorischen Fragen siehe zuletzt Heusler, Kapitalprozesse (s.Anm. 37), 46, die insbesondere den Blick im Rahmen der synoptischen Analyse auf das Prozeßgeschehen lenkt und zu dem Schluß kommt: Die Sitzung des Rates stellt "in den Augen des Lukas zu keinem Zeitpunkt ein eigenständiges Unternehmen der jüdischen Führer dar - damit hebt sich seine Version entschieden von der des Markus ab -, sondern ist von vornherein eingebunden in das Vorgehen der römischen Obrigkeit gegen den Delinquenten, ist ein erster Teil des großen römischen Prozesses gegen Jesus" (45); zur nicht unproblematischen antijüdischen Tendenz in der Passionsdarstellung der Evangelienschriften s. C. KURTH, "Die Stimmen der Propheten erfüllt". J esu Geschick und "die" Juden nach der Darstellung des Lukas, BWANT 148, Stuttgart 2000, 74-94, die sich für ein apologetisches Bestreben des Lukas ausspricht, allerdings nicht zur Verteidigung gegenüber Rom im Sinne einer staatsbürgerlichen Loyalität (so z. B. Conzelmann, Mitte, 128~; vielmehr beteuere z. B. die Erzählfigur des Pilatus "den HörerInnen des Lukas, daß der Christusglaube ebenso wenig wie Jesu Auftreten selber gegen die römische Herrschermacht gerichtet und also politisch ungefährlich ist" (83); zur Frage, ob Lukas antijüdisch sei, vgl. insgesamt G. WASSERBERG, Aus Israels Mitte - Heil für die Welt, BZNW 92, Berlin 1998 mit der Bilanz (361-366); J. B. TYSON, Luke, Judaism, and the Scholars. Critical Approaches to Luke-Acts, Columbia 1999, 134-146. 39 Meiser, Testament (s. Anm. 30),175 vermutet, "das Zitat von Ps 31,6 (statt Ps 22,1) in Jesu Todesstunde (wolle) verhindern, dass man Jesu Sterben als Scheitern interpretiert". 40 Schon L. FELDKÄMPER, Der betende Jesus als Heilsmittler nach Lukas, VMStA 29, St. Augustin 1978,278, fragte, ob der Terminus ,0 lTVEUI_Ul !l0U hier rein anthropologisch zu verstehen sei.
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Gottesgeistes hingerichtet und gibt im Tode Gott, dem Vater, gleichsam den Geist Gottes zurück, den er vom Vater verliehen bekommen hatte. Für die Leserinnen und Leser des Lukasevangeliums kommt die Vorstellung von J esus als Geistträger keineswegs überraschend, sondern ist narrativtheologisch bereits vorbereitet und dürfte somit im letzten Wort J esu am Kreuz verdichtet worden sein41 • Immer wieder zeichnet Lukas Jesus als Geistträger. So hat dieses letzte Wort Jesu am Kreuz in Lk 23,46 seine christologische Grundvoraussetzung im Lukasevangelium darin, daß sich J esu Herkunft, und damit sein U rsprung, dem Handeln des heiligen Geistes an Maria verdankt, und er ist die einzige Person in der gesamten Evangelienschrift, die als Geistträger geschildert wird. Zur Geistträgerschaft Jesu gehört auch, daß der Zwölfjährige auf Anregen des Geistes in den Tempel kam (Lk 2,27). Und selbstverständlich ist auch die Taufszene in Lk 3 beredtes Zeugnis für diese Vorstellung. Es war zudem der Geist, der J esus in die Wüste führte, wo er sich der Versuchung ausgesetzt sah und sich darin bewährte (Lk 4,1). In der Kraft des Geistes kam Jesus nach Nazaret (4,14). Außerdem wird J esus im Anschluß an seine so genannte Antrittspredigt ja bewußt und gleichsam öffentlich als Geistträger dargestellt. Nach Lk 4 ruht der durch den Propheten Jesaja verheißene Gottesgeist eben auf diesem Jesus von Nazaret, der in seiner Heimatstadt als Prophet nichts galt und schon dort einer ersten, wenn auch erfolglosen Verfolgung gewahr werden mußte. Auch Lk 10,21, der so genannte Jubelruf Jesu, spricht von einer besonderen Geistträgerschaft Jesu. Von daher gehört aber Lk 23,46, der Todesruf J esu, in die Reihe von lukanischen Aussagen über die Christologie von Jesus als Geistträger. Dies aber gewinnt wiederum ein besonderes Profil, wenn man bedenkt, daß im Lukasevangelium allein Jesus Geistträger ist bzw. nur wenige besonders ausgezeichnete Gottesmenschen unter dem Einfluß des Geistes stehen (Lk 1,35: Maria; 2,25: Simeont2 • Diese exklusive Geistträgerschaft Jesu, das sei in diesem Zusammenhang abschließend erwähnt, fällt gerade auch im Vergleich Jesu mit den Jüngern auf: Diese werden zwar ohne Geld, Tasche und Sandalen ausgesandt, um die in den Städten vorfindlichen Kranken zu heilen. Eine besondere Auszeichnung aber, welche die Jünger vergleichsweise aus der Sicht des Matthäusevangeliums durch die Gabe der "Vollmacht" (E~oua(a) erfahren haben (Mt 10,1), wird ihnen im Lukasevangelium dazu nicht zuteil. Dieses spezifische Moment der Geisrträgerschaft J esu der lukanischen Christologie hat nun aber eine retrospektive Bedeutung für die Todesdeutung. Denn wenn gerade Ps 31,6 unter Umformulierung des Futurs in ein Präsens zitiert wird, 41 L. BORMANN, Recht, Gerechtigkeit und Religion im Lukasevangelium, StUNT 24, Gättingen 2001,346--348 übersieht diesen Aspekt. 42 Vgl. Lk 3,22; 4,18; 11,13; 12,10.
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dann liegt ein besonderes Gewicht auf dem letzten Wort des Hingerichteten, und impliziert damit eine Gegenwartsbedeutung des Sterbens J esu für die angeschriebenen Leserinnen und Leser. Wie aber wäre diese nun zu fassen, gerade dann, wenn - wie gesehen - auf spezielle soteriologische Deutungskategorien verzichtet und ethische Kategorien ebenso ausgeschlossen werden müssen? Das L.ukasevangelium selbst enthält hierzu zwei entscheidende Belege. Zum einen darf die bekannte Frage aus der Emmaus-Perikope: "Mußte nicht der Christus dies erleiden?" (Lk 24,26), nicht bloß als rhetorische Frage aufgefaßt werden. Die Frage so zu verstehen, hieße in der Tat, daß Lukas das Leiden und Sterben J esu hinsichtlich einer gewissen so te rio logischen Dimension zugunsten der Auferweckungs- und Erhöhungsvorstellung und derer aktuellen gegenwärtigen Bedeutung für die Christen mehr oder, weniger als eine Art "Durchgangsstation" gesehen hätte. Begreift man hingegen die Frage aus der Emmausgeschichte als eine Art hermeneutische Schlüsselfrage, dann ist sie als Frage ernst zu nehmen. Und genau das geht aus dem Erscheinungsbericht im Schluß des Evangeliums hervor. Der Auferstandene deutet dort selbst die Schrift. Er beantwortet die Frage, die er noch auf dem Weg nach Emmaus offen gelassen· hatte, folgendermaßen und stellt einen Spannungsbogen zu der Emmausgeschichte her: "So steht's geschrieben, daß Christus leiden wird und auferstehen von den Toten am dritten Tage; und daß gepredigt wird in seinem Namen Buße zur Vergebung der Sünden unter allen' Völkern. Fangt an in Jerusalem und seit dafür Zeugen" (Lk 24,45-49). Der Tod Jesu ist von daher weniger Durchgangsstation als Wendepunkt, und zwar in einem ganz bestimmten Sinn. Das Sterben J esu als Rückgabe des Geistes an Gott ist Wendepunkt in dem Sinne, daß es grundlegendes, grundbefähigendes Ereignis für die Zeugenschaft der Jünger für die Zukunft ist. Damit haben wir aber schon den zweiten Beleg berührt. Es ist das letzte Wort des auferweckten J esus unmittelbar vor seiner Aufnahme in den Himmel und somit ein Vermächtnis, das Lukas unmittelbar im Anschluß an den eben zitierten Text folgen läßt: "Und siehe, ich will auf euch herabsenden, was mein Vater verheißen hat. Ihr aber sollt in der Stadt bleiben, bis ihr ausgerüstet werdet mit Kraft aus der Höhe" (Lk 24,49). Im Licht dieser beiden Belege erscheint demnach das letzte Wort J esu am Kreuz abschließend als ausdrückliche Qualifizierung J esu als Geistträger. Seine Hinrichtung dokumentiert dabei aber nicht ein Versagen, sondern bildet aus Sicht des Evangelisten paradoxerweise die Voraussetzung für das lukanische Geistverständnis und somit das weitere Wirken des Geistes. Folglich stellt die Hinrichtung J esu als des Geistträgers einen entscheidenden Wendepunkt dar: Er ist der Moment der Rückgabe des Geistes an den Vater, und abstrakt formuliert die christologische Begründung dafür ist, daß mit dem auch als apokalyptisch qualifizierten Todesge-
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schehen die Geistverleihung an die Jünger ermöglicht wird. Der Tod J esu ermöglicht also eine gewisse Universalisierung der Geistverheißung - vom exklusiven Geistträger hin zu der Jüngergemeinschaft als seiner durch den Geist befähigten Zeugin. Ein dritter, abschließender Beleg, sei genannt. Ich greife damit über die Evangelienschrift des Lukas hinaus auf das gesamte lukanische Doppelwerk, indem ich auf die programmatische Eingangsszene der Apostelgeschichte (Apg 1,1-9) verweise, wo der Auferweckte erneut "die Kraft des heiligen Geistes" verheißt zur Zeugenschaft bis an das Ende der Erde (Apg 1,8). Über die sachliche Zusammengehörigkeit beider einzelner Werke, Evangelienschrift und Apostelgeschichte, ist viel nachgedacht worden43 • Von Apg 1 her gesehen ergibt sich nun Folgendes: Wenn in Apg 1,7f, in der Szene unmittelbar vor der Aufhebung Jesu in den Himmel, Lukas offenbar bewußt auf den Schluß seiner Evangelienschrift anspielt - etwa in dem Maße, wie er vergleichsweise beide Werke dem hochgeschätzten Theophilus widmet und in der Widmung der Apostelgeschichte bewußt auf den Anfang seiner Evangelienschrift Bezug nimmt -, wenn also Lukas in Apg 1,7f dann erneut die Verheißung der Kraft des heiligen Geistes durch den Auferstandenen ausgesprochen sein läßt, dann ist dieser Querverweis nicht nur formal ein Hinweis auf die mit der Apostelgeschichte fortgesetzte Evangelienschrift. Vielmehr wird rückblickend das Leiden und Sterben J esu in seiner unmittelbaren Bedeutung für die Gegenwart und Zukunft der Christen deutlich. Der Tod J esu ist nicht nur Durchgangsstadium, sondern eschatologisch qualifizierter Wendepunkt, der den Grund dafür legt, daß das mit dem Pfingstwunder verbundene Geschehen der Geistausgießung als Erfüllung der alttestamentlichen Prophetie ermöglicht. Dieses sozusagen pneumatische Moment der Christologie des Lukas, das in der Hinrichtung Jesu als des Geistträgers zum Ausdruck kommt, läßt Lukas denn auch ausdrücklich Petrus in seiner Pfingstpredigt (Apg 2,22-36) im Blick auf J esus formulieren: "Da er nun durch die rechte Hand Gottes erhöht ist und empfangen hat den verheißenen heiligen Geist vom Vater, hat er diesen ausgegossen, wie ihr hier seht und hört" (V 22). An dieser Stelle soll nun aber abschließend auch die Außen perspektive der bisher dargelegten Deutung des Todes Jesu in den Blick genommen werden. Stand zu Beginn meiner Ausführungen die Frage im Raum, ob nicht das Faktum der Hinrichtung Jesu gleichsam dessen Geistträgerschaft infrage stellen mußte, so kann hier Folgendes festgehalten werden: In einer nach Orientierung suchenden Zeit, in der die Frage nach der prophetisch-geistgeleiteten Weisung virulent war, leistet Lukas einen eigenen Beitrag zur Geist-Debatte seiner Zeit. Er bindet die Gabe des Geistes weder an ein nationales
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Siehe hierzu: The Unity of Luke-Acts, hg. v.]. Verheyden, BETL 142, Leuven 1999.
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Charisma noch macht er sie zum Verdienst eines gottgefälligen Lebens nach dem Gericht. Die Hinrichtung des Geistträgers J esus am Kreuz ist für Lukas vielmehr die Voraussetzung für ein an Gott orientiertes Leben, das Nationalismen oder religiöse, ethnische und andere Bedingungen unterschiedlichster Art überwindet. Die Hinrichtung J esu am Kreuz als die brutalste römische Todesstrafe mag dabei zwar aus Sicht der ji!dischen Oberen und aus der Sicht Roms dem Geistträger aus Nazaret einEnde gesetzt haben. Aber diesem menschlichen unheilvollen Tun setzte Gott - aus Sicht des Lukas, wie dieser es in der Pfingstpredigt des Petrus zum Ausdruck kommen läßt (Apg 2,22-36) - sein Handeln am Gekreuzigten gegenüber., indem er den Gekreuzigten auferweckte und, metaphorisch gesprochen, in den Himmel erhob: "Diesen Mann, der durch Gottes Ratschluß und Vorsehung dahingegeben war, habt ihr durch die Hand der Heiden ans Kreuz geschlagen und umgebracht. Den hat Gott auferweckt und hat aufgelöst die Schmerzen des T 0des ... Diesen Jesus hat Gott auferweckt, dessen sind wir Zeugen", heißt es in der Petruspredigt (V 23). Die Vorstellung von der Hinrichtung J esu als Geistträger dürfte demnach ebenso bewußtes Kontrastmotiv gewesen sein, auch in einem gewissen politisch-ideologischen Sinn: ein Kontrast, welcher im übrigen strukturell bereits in der Geburtsgeschichte über J esus als den Retter im Gegenüber zu dem als Retter gefeierten und in der Welt erschienenen Kaiser Augustus angelegt sein dürfte. Dieser Kontrast wird deutlich angesichts eines Wortes, das nach Sueton der Flavier Vespasian im Angesicht einer tödlichen Krankheit gesprochen haben soll: ,,0 weh! Ich glaube, ich werde ein Gottl"44 Die Deutung dieses schwierigen Wortes geht in der Geschichtsforschung dahin, daß Vespasian damit offenbar ein "ironisches Vermächtnis" hinterlassen habe, nämlich das Vermächtnis "eines hartgesottenen Administrators, dem klar wurde, daß sein ewiger Lohn darin bestand, posthum in der eigenen Falle" seiner maßgeblichen Fortschreibung des Kaiserkultes auch in den westlichen Provinzen des römischen Reiches gefangen zu sein 45. Eingedenk also eines solchen letzten kaiserlichen Wortes, das symptomatisch für die Ambivalenz dessen stehen könnte, was gemeinhin als Kaiserkult bezeichnet wird, wird durch den Todesruf J esu mit Worten aus Ps 31 deutlich: Das meritum des Sterbens Jesu kann an dessen öffentlicher schändlicher Hinrichtung am Kreuz nicht vorbei gedacht werden. Lukas will vielmehr festhalten, wie teuer erSueton, Vesp 23,4: "vae", inquit, "puto deus fio." So die Deutung des schwierigen Wortes von D. FISHWICK, The Imperial Cult in the Latin West, Bd. 1/1-2 u. 2/1-2, EPRO 108, Leiden 1987-1992, 300 (bei H.-J. KLAUCK, Die Religiöse Umwelt des Urchristentums H. Herrscher- und Kaiserkult, Philosophie, Gnosis, KStTh 9/2, Stuttgart 1996, 59 aufgenommen). "Gott zu sein bedeutet für den Sterblichen, dem Sterblichen zu helfen, und dies ist der Weg zum ewigen Ruhm", schrieb Plinius der Ältere über Vespasian (Plinius, Nat Hist 2,18f). 44 45
Die Hinrichtung des Geistträgers
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kauft dieses gewesen war. Es war kein meritum 46 für Jesus selbst, weswegen man ihn per Apotheose oder Konsekration in einen wie auch immer gearteten göttlichen Stand hätte heben können - trotz der beiden Himmelfahrtsdarstellungen bei Lukas 47 • Vielmehr geschieht das Sterben des hingerichteten Geistträgers für die Seinen, die eben dadurch befähigt werden konnten, bis an das Ende der Erde Zeugnis davon zu geben. Die Apostelgeschichte zeichnet darum nicht ohne Grund die Geschichte des Gottesvolkes auf seinem Weg durch die Geschichte als Geschichte unter der Leitung des Geistes Gottes.
46 Ich gebrauche diesen Ausdruck hier nicht im späteren dogmatischen Sinne des Verdienstgedankens, sondern eher - augenzwinkernd - etwas ironisch mit Blick auf den antik-römischen Wortgebrauch. 47 Siehe hierzu P. PILHOFER, Drei Himmelfahrten, in: ders., Die frühen Christen und ihre Welt, WUNT 145, Tübingen 2002,172 mit Anm. 24.
Michael Labahn DER WEG EINES NAMENLOSEN - VOM HILFLOSEN ZUM VORBILD OH9 )
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Ansätze zu einer narrativen Ethik der sozialen Verantwortung im vierten Evangelium
1 Methodische Hinführung
Fragt man nach dem Verhältnis des religiösen Individuums zu seiner Mitwelt und zum Staat, so wird man in neutestamentlicher Perspektive vor allem eine Auswertung der paulinischen und deuteropaulinischen Briefe, des Ersten Petrusbriefs und möglicherweise auch des lukanischen Doppelwerks sowie der Johannesapokalypse 1, nicht aber des J ohannesevangeliums erwarten. Das vierte Evangelium wurde unter dem Einfluß Rudolf Bultmanns vor allem als ein Buch gelesen, das durch einen grundsätzlichen Dualismus zwischen der johanneischen Christengemeinde und der Welt geprägt ist 2• Folglich urteilte man oft, daß Johannes keine materialen Aussagen zur Ethik und zum Verhalten der Christen in der Welt enthalte>. Das vierte Evangelium sei vielmehr esoterisch nach innen auf die Gemeinde bzw. auf den einzelnen gerichtet und ziele lediglich auf eine Entscheidung zwischen Glaube und Unglauben 4• Demgegenüber sind den Charakterisierungen der johanneischen Akteure und der Präsentation der narrativen Welt im vierten Evangelium Aussagen zu ent-
I Vgl. z. B. die Beiträge von M. Meiser (lk. Doppelwerk), L. Thun!n (1 Petr), D. Pezzoli-Olgiati und B. J. Lietaert Peerbolte (Apk), in: M. LABAHN / J. ZANGENBERG (Hg.), Zwischen den Reichen. Neues Testament und Römische Herrschaft, TANZ 36, Tübingen 2002; vgl. allgemein die ältere Studie W. SCHRAGE, Die Christen und der Staat nach dem Neuen Testament, Gütersloh 1971. 2 Zur Johannesexegese Bultmanns vgl. z. B. J. FREY, Die johanneische Eschatologie. Band 1. Ihre Probleme im Spiegel der Forschung seit Reimarus, WUNT 96, Tübingen 1997, 85-157. - W. SCHRAGE, Ethik des Neuen Testaments, GNT 4, Göttingen 21989, 312ff bildet diese Tendenz adäquat ab, wenn er "Weltdistanz und Sündenfreiheit" als ethische Appelle des johanneischen Schrifttums bestimmt. 3 Exemplarisch der Hinweis auf eine wichtige Ausnahme: G. THEISSEN, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000, 268ff: Hier wird der "ethische Gehalt der Liebe" ernst genommen. Für Theißen bleibt diese Liebe aber binnenorientiert. 4 Zur Kritik vgl. K. SCHOLTISSEK, Johannes auslegen 1. Forschungsgeschichtliche und methodische Reflexionen, in: SNTU 24,1999,35-84: 42-51.
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nehmen, wie der Evangelist das Verhalten der Gemeinde zur Welt und zu ihren religiösen und politischen Repräsentanten versteht. Das vierte Evangelium enthält eine Anzahl geprägter Charaktere\ die sich in der Begegnung mit J esus selbst auf einen Weg begeben, an dessen Ende eine auf J esus bezogene Reaktion steht. Sie bieten damit Identifikationsmodelle für die nachösterlichen Leser der johanneischen J esusgeschichte, denen der Leser / die Leserin folgen mag, damit das abschließende Programmwort Goh 20,30~ zum Ziel kommt6 • Einzelne frühchristliche Gestalten wie Malchus Goh 18,10) bekommen erst im vierten Evangelium einen Namen, andere sind aus der synoptischen Tradition unbekannt (Nathanael, Nikodemus, Hannas, der Lieblingsjünger). Manche bleiben anonym, wie die Frau am Brunnen Goh 4), der Gelähmte am Teich Goh 5) und der Blindgeborene, der Jesus in Jerusalem am Laubhüttenfest begegnet Goh 9t Auch wenn diese Akteure unbenannt bleiben, sind sie keine Randfiguren8 • Sie erhalten eine individuelle Zeichnung und werden damit zu unverwechselbaren Einzelgestalten, deren Wirkung sich die Leser und Leserinnen des Evangeliums nicht entziehen können 9 • Neuere Ansätze der johanneischen Forschung öffnen methodisch und theologisch den Horizont, der Darstellung und Charakteristik der Er-
5 Vgl. hierzu z. B. P. DSCHULNIGG, Jesus begegnen. Personen und ihre Bedeutung im Johannesevangelium, Theologie 30, Münster 2000. 6 Vgl. R. A. CULPEPPER, Anatomy of the Fourth Gospel. A Study in Literary Design, Philadelphia 1987, 104: "The characters represent a continuum of responses to Jesus which exemplify misunderstandings the reader may share and responses one might make to the depiction of J esus in the gospel"; vgl. auch R. F. COLLINS, Representative Figures, in: ders., These Things Have Been Written. Studies on the Fourth Gospel, LThPM 2, Louvain 1990, 1-45: 7f; Scholtissek, Johannes (s. Anm. 4), 66f. 7 Weitere namentlich unbekannte Charaktere sind der Königliche (4,46-54), der Lieblingsjünger sowie die texthistorisch wohl sekundäre Ehebrecherin in Joh 7,53-8,11; unbenannt bleibt auch die Mutter Jesu. - Die Geschichte vom Blindgeborenen hat in der neueren Forschung ein erstaunlich breites Interesse gefunden; vgl. z. B. M. LABAHN, Jesus als Lebensspender. Untersuchungen zu einer Geschichte der johanneischen Tradition anhand ihrer Wundergeschichten, BZNW 98, Berlin 1999, 305-377; R. METZNER, Das Verständnis der Sünde im Johannesevangelium, WUNT 122, Tübingen 2000, 62-114; M. J. J. MENKEN, Scriptural Dispute between Jews and Christians in John. Literary Fiction or Historical Reality John 9:13-17,24-34 as a Test Case, in: R. BIERINGER / D. POLLEFEYT / F. VANDECASTEELE VANNEUVILLE (Hg.), Anti-Judaism and the Fourth Gospel: Papers of the Leuven Colloquium, 2000, Jewish and Christian Heritage Series 1, Assen 2001, 445-460; T. NICKLAS, Ablösung und Verstrickung. "Juden" und Jüngergestalten als Charaktere der erzählten Welt des Johannesevangeliums und ihre Wirkung auf den impliziten Leser, RSTh 60, Frankfurt/M. 2001, 307-389; M. REIN, Die Heilung des Blindgeborenen Goh 9). Tradition und Redaktion, WUNT 2/73, Tübingen 1995; C. WELCK, Erzählte Zeichen. Die Wundergeschichten des Johannesevangeliums literarisch untersucht. Mit einem Ausblick auf Joh 21, WUNT 2/69, Tübingen 1994, 175-207. 8 Zur Bedeutung namentlicher Identifizierung eines Erzählcharakters vgl. T. DOCHERTY, Reading (Absent) Character. Towards a Theory of Characterization in Fiction, Oxford 1983. 9 Zu den anonymen Aktanden des Johannesevangeliums vgl. D. R. BECK, The Narrative Function of Anonymity in Fourth Gospel Characterization, Semeia 63, 1993, 143-158.
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zählfiguren Theologie, Christologie und Ethik des Verfassers zu entnehmen 10. Namentlich nenne ich vor allem die narrative Analyse, zu der auch das reader response criticism zu rechnen ise I • Vorausgesetzt wird in dieser Studie, daß die Darstellung der Erzählwelt und der sie bevölkernden Charaktere einer Lesersteuerung dient l2 , mit der der Evangelist seine Leser und Leserinnen zu einer Veränderung oder Stabilisierung ihrer Einstellung anleiten will. Dies entspricht der sinnbildenden Funktion von Erzählungen. Treffend stellt Jürgen Straub fest: "Geschichtserzählungen vermitteln Erfahrungen und Erwartungen, Werte, Regeln, Normen und Orientierungen und bringen sie möglicherweise in erzieherischer Absicht zur Geltung. Als komplexe Sprechakte aufgefaßt, können sie unter Umständen geradezu als pädagogische Handlungsaufforderungen gelten."13 Als Identifikationsmodelle haben die narrativen Charaktere eine Vorbildfunktion für die Gestaltung des sozialen Miteinanders in der Gemeinde wie auch in der die Gemeinde umgebenden Gesellschaft. Sie können daher als erzählte Modelle betrachtet werden, in denen sich Muster ethischen Verhaltens spiegeln 14. Sie zu aktualisieren ist Aufgabe der Gemeinde im Wechsel der Zeiten.
10 Eine Einführung, wie die Figuren in der narrativen Welt der Erzählung zur Sinnstiftung dienen, bietet H.-W. LUDWIG, Figur und Handlung, in: ders. (Hg.), Arbeitsbuch Romananalyse, Tübingen 107-144; zu den Charakteren im vierten Evangelium vgl. grundlegend Culpepper, Anatomy (s. Anm. 6),99-149; jetzt auch Nicklas, Ablösung (s. Anm. 7). II Zur Hinwendung der johanneischen Forschung zu synchronen Analysemethoden vgl. die Hinweise in den Forschungsberichten von U. SCHNELLE, Ein neuer Blick. Tendenzen gegenwärtiger Johannesforschung, BThZ 16, 1999, 21-40: 21ff; K. SCHOLTISSEK, Neue Wege in der Johannesauslegung. Ein Forschungsbericht I/II, ThGI 89, 1999, 263-295: 294f; 91, 2001, 109-133: 133; ders., Johannes (s. Anm. 4), passim. 12 Vgl. hierzu J. FREY, Der implizite Leser und die biblischen Texte, ThBeitr 23, 1992,266-290. Zu den Charakteren der Erzählung vgl. J. A. DARR, On Character Building. The Reader and the Rhetoric of Characterization in Luke-Acts, Literary Currents in Biblical Interpretation, Louisville 1992. Wie Darr zu Recht bemerkt, konstruieren die Leser im Lektüreprozeß die Erzählcharaktere, "being positioned and manouevered - indeed shaped - by the rhetoric of the text" (59). 13 J. STRAUß, Geschichten erzählen, Geschichte bilden. Grundzüge einer narrativen Psychologie historischer Sinnbildung, in: ders. (Hg.), Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte, stw 1402, Frankfurt/M. 1998,81-169: 132. 14 Der hier zugrundegelegte Begriff von Ethik ist nicht an einer modernen Definition orientiert, die vor allem der systematischen und methodischen Reflexion des Handelns und seiner leitenden Kriterien dient (vgl. z. B. T. RENDTORFF, Ethik. Grundelemente, Methodologie und Konkretionen einer ethischen Theologie, Bd. 1, ThW 13/1, Stuttgart 21990). Abgehoben wird vielmehr auf die sittlich-öffentliche Grundhaltung der johanneischen Christen im Spiegel der johanneischen Erzählung; vgl. zu dieser Differenzierung K. SCHOLTISSEK, "Mitteilhaber an der Bedrängnis, der Königsherrschaft und der Ausdauer in Jesus" (Offb 1,9). Partizipatorische Ethik in der Offenbarung des Johannes, in: K. Backhaus (Hg.), Theologie als Vision. Studien zur J ohannes-Offenbarung, SBS 191, Stuttgart 2001, 172-207: 173. Ein derartiges kollektives Verhalten wird durch Erzählungen koordiniert; sie schaffen "eine gemeinsame Welt, sie legen die Basis für übereinstimmende Urteile und koordinierte, kooperative Handlungen" (Straub, Geschichten [so Anm. 13], 132).
Michael Labahn
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2 Bedrohung und Abgrenzung
Der Abschnitt über den Blindgeborenen ist eingebettet in die umfangreiche Kontroverse Jesu mit der jüdischen Obrigkeit und Bevölkerung von Jerusalem, an deren Ende sein Rückzug aus der Stadt steht Goh 7_10)15; Jesus kehrt nur noch einmal nach J erusalem zurück, um dort, in johanneischer Diktion, seiner Verherrlichung am Kreuz entgegenzugehen. Die gesamte Passage ist durch Abgrenzung und Bedrohung strukturiert. J esus meidet in diesem Abschnitt zunächst J erusalem, um der Gefahr, die seiner Person droht, zu entgehen Goh 7,1); nichts desto trotz verkündigt er sich selbst dann in aller Tm:PP1l0LU (7,26). Er führt den Auftrag seines Vaters aus und repräsentiert ihn in aller Freimütigkeit l6 • Dies bleibt nicht ohne Wirkung (7,25ff), wenngleich auch Angst vor Bedrohung die J erusalemer davon zurückhält, zu christologischen Aussagen vorzudringen (7,13). Jesu offene Verkündigung führt zu Repressionen gegen ihn, die in zweimaligen Steinigungsversuchen kulminicren, denen er jeweils ungefährdet entgeht (8,59; 10,31-39). Diese Tötungsversuche setzen den Plan von Joh 5,16.18 fort und nehmen den juristischen Tötungsbeschluß aus 11,47ff vorweg. Sie verfestigen die Ablehnung Jesu durch die jüdische Führung, der wiederum Jesu eigene Abgrenzung durch die Behaftung der Opponenten mit Satan als ihrem Ausgangspunkt (8,44) entspricht. In dieser komplexen Struktur aus Abgrenzung und Bedrohung spielt der Abschnitt 9,1-10,21 eine eigene Rolle 17 • Nicht allein, daß hier Jesus zwischenzeitlich in den Hintergrund gerät, sondern auch eine andersartige Bedrohung wird notiert. Erstmals wird explizit berichtet, daß sich die Bedrohung nicht allein gegen Jesus, sondern auch gegen die richtet, die sich zu J esus bekennen (Eav ne;; utrrov 6f.J.OAOY~OlJ XPLO-rOV [9,22]). Diese Aussage liegt nicht auf derselben Ebene wie 7,13, da die Angst der J erusalemer in Kapitel 7 nicht an das Bekenntnis zu J esus gebunden wird. Die Mitwelt Jesu und des Christusbekenners sowie ihre Obrigkeit werden zu einem Thema der narrativen Welt. Das Thema politisch-religiöser Macht spiegelt sich nicht allein in der Ausschlußdrohung. Es wird auch eine Hierarchie deutlich, in der eine Gruppe, zu der die Pharisäer gehören, durch Befragungen Macht über andere Akteure ausüben kann; eine Macht, die der ,Herauswurf' des Verhörten Zur Abgrenzung des Textes vgl. Labahn, Jesus (s. Anm. 7), 305f (mit Lit.). Vgl. hierzu M. LABAHN, Die lTIXPP1l0LIX des Gottessohnes im Johannesevangelium. Theologische Hermeneutik und philosophisches Selbstverständnis, in: J. Frey / U. Schnelle (Hg.), Kontexte des Johannesevangeliums. Das vierte Evangelium in religions- und traditions geschichtlicher Perspektive, WUNT, Tübingen 2003; zur Immanenz des Vaters im Sohn vgl. auch K. SCHOLTISSEK, In ihm sein und bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften, HBS 21, Freiburg 2000. 17 Zur Abgrenzung und insbesondere zum Zusammenhang von Blindenheilung und Hirtenrede vgl. Dschulnigg, Jesus (s. Anm. 5), 186; L. SCHENKE, Johannes. Kommentar, Kommentare zu den Evangelien, Düsseldorf 1998, 179f. 15
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spiegelt (9,34). Zuletzt gehört auch die Hirten-Metapher im Kontext des zeitgenössischen Motiv-Inventars zum religiösen und politischen Bereich (dazu unten). Das Bekenntnis zu J esus wird durch eine konkrete Strafe sanktioniert: aiToauvaywyoc; YEvrrra::L 01 34). Der Begriff Aposynagogos ist im bisherigen Evangelium unvorbereitet. Die Synagoge ist der Ort der keineswegs unwidersprochenen Lehre Jesu (6,59; vgl. 18,20)18, nicht aber der Lebenszusammenhang seiner Nachfolger. Kein Wunder also, daß die johanneische Forschung dies als Hinweis auf Daten und Ereignisse jenseits des Textes gedeutet hat. Die Erklärungsmodelle variieren erheblich: Als wichtiger Vorschlag ist das Modell zu nennen, das vierte Evangelium als Drama auf zwei Ebenen zu verstehen; einerseits erzählt es das Leben Jesu, andererseits berichtet es die Widerfahrnisse der johanneischen Gemeinde L. Martyn)19. Die Gemeinde und ihre Glieder sind durch ihr Bekenntnis aus der Synagoge ausgeschlossen worden, und das vierte Evangelium ist Aufarbeitung dieses Traumas. - Profiliert ist die These mit dem Ketzersegen und konkreter geographischer Lokalisierung ausgearbeitet worden durch Klaus Wengseo. Widerspruch gab es in zwei Richtungen. Martin Asiedu-Peprah versteht J oh 5 und 9 als "J uridical Controversy"; daher sei das vierte Evangelium auf eine argumentative Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Judentum ausgerichtet und befinde sich in einem bedrohten, aber noch nicht entschiedenen Dialog21 • Der Aposynagogos ist eine Gefahr und keine Wirklichkeit. Meines Erachtens übersieht dieses Modell die Abgrenzungen, die insbesondere in Joh 7-10, aber auch im gesamten Evangelium zu finden. sind, die einen wirklichen Dialog unwahrscheinlich erscheinen lassen 22 • Trotz dieser Abgrenzung ist das Evangelium als ganzes nicht vom Konflikt mit der Synagoge her zu interpretieren. Die zweite, meines Erachtens wahrscheinlichere Option lautet daher: Die Trennung von der jüdischen Synagoge ist für den vierten Evangelisten und seinen Kreis ein Ereignis der Vergangenheit, das im kol-
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18 M. LABAHN, Controversial Revelation in Deed and Word. The Feeding of the Five Thousand and J esus' Crossing of the Sea as a 'Prelude' to the J ohannine Bread of Life Discourse, IBS 22, 2000, 146-181: 173f. 19 J. L. MARTYN, History and Theology in the Fourth Gospel, New York 1968; zum Problem vgl. auch die Bemerkungen von R. BIERINGER / D. POLLEFEYT / F. VANDECASTEELE VANNEUVILLE, Wrestling with Johannine Anti-Judaism. A Hermeneutical Framework for the Analysis 01 the Current Debate, in: dies. (Hg.), Anti-Judaism (s. Anm. 7),3-44: 23-30. 20 K. WENGST, Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus. Ein Versuch über das Johannesevangelium, München 41992; vgl. auch R. A. CULPEPPER, Anti-Judaism in the Fourth Gospel as a Theological Problem for Christian Interpreters, in: Bieringer u. a., Anti-Judaism (s. Anm. 7), 6891: 69f; Metzner, Verständnis (s. Anm. 7), 80ff; D. M. SMITH, John, ANTC, Abingdon, 1999, 19Sf. 21 Das Schema dient dem Erzähler "to communicate his message to the reader" und "to construct a narrative christology" (M. ASIEDU-PEPRAH, Johannine Sabbath Conflicts As Juridical Controversy, WUNT 2/132, Tübingen 2001, 183). 22 Vgl. meine Rez. in ThLZ 127,2002, 90sf.
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lektiven Gedächtnis der Gruppe präsent ist und hier eine aktualisierte und grundsätzliche Rolle spielt sowie eine weitere Öffentlichkeit im Blick hat 23 • Daß die narrative Welt oft mit Bezug auf die wirkliche Welt außerhalb des Textes erzählt wird, ist nicht zu bestreiten. Dennoch muß sehr genau wahrgenommen werden, daß dieser Schritt vom Text zur Außenwelt mit entschiedenen Brechungen zu rechnen hae 4 • Der Synagogenausschluß wird in die Gesamtinterpretation des Weges des in die Welt gekömmenen Logos integriert; der Logos stößt in seiner Sendung auf Ablehnung, wie der Zentraltext johanneischer Lesersteuerung, der Prolog, verrät Goh 1,S.10D: Der Logos kommt in sein Eigenes und trifft auf beständige Ablehnung, was im Erzählverlauf des vierten Evangeliums bis zur Verherrlichung am Kreuz hin verfolgt werden kann 25 • Dasselbe Schicksal stellt der scheidende Offenbarer seinen Jüngern und damit der nachösterlichen Gemeinde als ihr Schicksal vor Augen, nicht aber ohne sie des wichtigen Beistandes des Parakleten zu versichern (lS,18ff; 16,lfD. Im Lichte der Abschiedsreden wird eine Gesamtsituation anvisiert, die die Existenzweise von Gemeinde in der Welt betrachtet und nicht ausschließlich auf das Ereignis der Ausgrenzung aus der oder der Ablösung von der Synagoge beschränkt werden kann. Diese äußere Situation ist in Joh 9 in die Zeit Jesu zurück gespiegelt, und im Handeln der Akteure können Verhaltensmuster der nachösterlichen Gemeinde gesehen werden, die Auskunft geben, wie der sozialen Mitwelt zu begegnen ist. Akteure der Handlung, wenn sie sich als Identifikationsfiguren für die Leserschaft anbieten, geben Signale auf ein mögliches, vom Verfasser sanktioniertes Verhalten - ihr Verhalten kann folglich ethisches Exempel sein. Ich kehre damit zu J oh 9 zurück. Ein Text wie J oh 9 kann zwar auf seine im Prisma der Erzählung gebrochenen Erfahrungen26 oder im Blick auf die Spiegelung der Gegenwart befragt werden, ist aber zuerst eine narrative Konstruktion, mit der er auf seine Leser und Leserinnen und ihr religiöses wie sozial-ethisches 23 Vgl. Labahn, Jesus (s. Anm. 7), 34ff; U. SCHNELLE, Einleitung in das Neue Testament, UTB 1830, Gättingen 42002, 523. - Nach Menken, Scriptural Dispute (s. Anm. 7), 459, reflektiert Joh 9 Themen des Dialogs mit der Synagoge "after the split between the johannine community and the synagogue, but in a situation in which the conflict between the two parties went on. ce In eine völlig andere Richtung deutet der Versuch von H. J. DEJONGE, The 'lews' in the Gospel of John, in: Bieringer u. a., Anti-J udaism (s. Anm. 7), 239-259: 257f, den Aposynagogos in das Reich schriftstellerischer Invention zu verbannen. 24 V gl. J. ZUMSTEfN, Zur Geschichte des johanneischen Christentums, in: ders., Kreative Erinnerung. Relecture und Auslegung im Johannesevangelium, Zürich 1999, 1-14: 2f (mit Verweis auf P. Ricoeur). 25 Dies ist eine typische Verarbeitungstechnik der Wundertradition durch den Evangelisten, daß die Wunder ab Kap. 5 zu steigenden Kontroversen führen (vgl. M. LABAHN, Between Tradition and Literary Art. The Miracle Tradition in the Fourth Gospel, Bib 80, 1999, 178-203: 179-181). 26 Dies habe ich mit Hilfe formgeschichtlicher Methodik in meiner Dissertation untersucht (vgl. Labahn, Jesus [so Anm. 7],305-374).
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Verhalten einzuwirken sucht. Diesem Problemkreis, wie sich eine Identifikationsfigur gegenüber der als bedrohlich dargestellten Umwelt zu verhalten hat, gilt das folgende Interesse, ohne daß hier die gesamte christologische und theologische Tiefe des besprochenen Textkomplexes abgeschritten werden kann. Wir werden im folgenden den Fokus auf das Verhalten des Geheilten in der Gefahrensituation richten, der als ein positives Identifikationsangebot des Erzählers an seine Leser für eine religiös wie auch ethisch-sozial angemessene Verhaltensweise zu verstehen ist. Seinem Verhalten kann vor der Negativfolie seiner Eltern paradigmatische Qualität zugemessen werden, zu welcher Handlungsweise der vierte Evangelist gegenüber einer bedrohlich empfundenen Umwelt anleiten will. Das Verhalten des einzelnen wiederum findet sich eingebettet in einem weiteren Kontrastmodell: Der Gefahr des Verlustes der sozialen Verankerung steht der soteriologische Gegenentwurf J esu gegenüber; er bewahrt die Seinen und schließt sie nicht aus. 3 Der Blindgeborene - Beispiel und Vorbild 3.1 Aufbau und Struktur des Textes
Die Erzählung vom Blindgeborenen zeichnet sich durch eine klare Gliederung aus: Zwei wichtige Einschnitte sind mit der Person Jesu verbunden. Jesus ist in der Erzählung während des Wunders und schließlich nach dem Ausschluß des Blindgeborenen präsent. Der Einschnitt zwischen den Versen 34 und 35 wird deutlich durch das in beiden Versen verwendete Verb EXßUAAW markiert und durch die Wiederbegegnung des Blindgeborenen mit J esus gekennzeichnet. So kann man die einzelnen Szenen hinsichtlich der Hierarchie der Erzählung in drei bzw. vier Abschnitte unterteilen: das Wunder (9,1-7), das Urteil des Blindgeborenen über Jesus und seine Standhaftigkeit angesichts der Bedrohung (9,8-34), sein Bekenntnis zum Menschensohn (9,35-38) und schließlich das vorläufig abschließende Streitgespräch zwischen ,den Juden' und Jesus (9,39-41)27. Daran fügt sich die Hirtenrede (10,1-18) eng an 28 • Für die Frage des Verhalte~s des einzelnen zur Mitwelt sind
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Der umfassende Mittelabschnitt 9,8-34 läßt sich noch einmal in vier Einzelszenen unterteilen
(V 8-12.13-17.18-23.24-34). Marginale Abweichungen in der Gliederung ergeben sich für V 38f;
vgl. das Literaturreferat bei Labahn, Jesus (s. Anm. 7), 310 Anm. 28f, sowie z. B. S. J. VAN TILBORG, Imaginative Love in J ohn, BIS 2, Leiden 1993, 220. 28 Vgl. z. B. B. KOWALSKI, Die Hirtenrede Goh 10,1-18) im Kontext des Johannesevangeliums, SBB 31, Stuttgart 1996; van Tilborg, Love (s. Anm. 27), 222; Metzner, Verständnis (s. Anm. 7),68. Daher nimmt F. J. MOLONEY, Signs and Shadows. Reading John 5-12, Minneapolis 1996, 118 den Dialog Jesu mit den Pharisäern als achte Szene mit der Hirtenrede zusammen. Eine Trennung zwischen beiden läßt wohl deutlicher erkennen, daß die Hirtenrede einerseits die gesamte Heilungsgeschichte bündelt, aber andererseits eine noch weiter reichende, grundsätzliche Bedeutung für die ;0hanneische Christologie hat und damit über den in 9,39-41 aufgezogenen Gegensatz zu den ,blinden' religiösen Führern hinausgeht.
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vor allem der umfangreiche Abschnitt 9,8-34 und darin wiederum die Verse 2434 von besonderem Interesse. Der Blindgeborene wird in 9,34 aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, das heißt, er wird wie einer behandelt, der Jesus als Christus bekennt29 . Zwar kann man das Problem dadurch entschärfen, daß man auf den Unterschied zwischen EKßaAAw und (x-rTOauvaywyoc;; yl.VOllaL in 9,22 hinweist. Der Unterschied ist aber weniger scharf, wenn man die Bedeutung von EKßaAAw als "aus der Gemeinschaft ausschließen" zugrundelegt30; dann liegt lediglich eine semantische Variation des (x-rTOauvaywyoc;; yl.VOllaL vor. Diese läßt einerseits dafür Raum, ein explizites johannei~ sches Bekenntnis, das in der Erzählung noch nicht erfolgt ist, nachzutragen, und führt andererseits eine weitere semantische Linie ein, die auf Joh 6,37 zurückgreift. Wir wenden uns im ersten Schritt dem Bekenntnis des Blindgeboren zu (3.2), um im zweiten Schritt sein Verhalten in der Auseinandersetzung um seine Heilung zu betrachten (3.3). In einern. weiteren Schritt nehmen wir die semantische Linie auf, die mit dem Verbum EKßaAAw verbunden ist (4). 3.2 Der Blindgeborene und sein Glaube
Der Blindgeborene ist ein dynamisch gezeichneter Charakter3!. Von seiner Passivität 32 , die der Charakteristik als ein von Geburt an Blinder entspricht, bis hin zu seinem Bekenntnis zu J esus gewinnt er an Aktivität und vertieft seine Einsicht. In der Terminologie narrativer Analyse wird er vom Objekt / Empfänger33 selbst zu einem Subjekt / Handlungsträger34 . Die Entwicklung erfolgt folgerichtig. Ob dabei, wie gelegentlich vermutet, eine Hermeneutik stufenweiser Erkenntnis 3S, eine Psychologie des Glaubens oder eine johanneische Missionsstrategie dargestellt werden soll, ist eher zweifelhaft. Besonders der dem Bekenntnis vorausgehende Ausschluß des Geheilten weist in eine andere Richtung. Der Blindgeborene wird bereits als der dargestellt, der er in der Begegnung mit J esus werden wird - ein Mensch, der Glauben an J esus gewinnt. Dies zeigt sich bereits in seinem ersten
29 Vgl. z. B. U. SCHNELLE, Das Evangelium nach Johannes, ThHK 4, Leipzig 22000, 173 Anm. 107; Smith, John (s. Anm. 20), 198. 30 W. BAUER / K. u. B. ALAND, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, Berlin 61988,478. 31 Zum Begriff vgl. z. B. Ludwig, Figur (s. Anm. 10), 143. 32 Vgl. Nicklas, Ablösung (s. Anm. 7),342. 33 Z. B. deutlich entfaltet bei van Tilborg, Love (s. Anm. 27), 222. 34 Vgl. J. L. RESSEGUIE, John 9: A Literary-Critical Analysis, in: M. W. G. Stibbe (Hg.), The Gospel of John as Literature. An Anthology of Twentieth-Century Perspectives, NTTS 17, Leiden 1993,115-122: 121. 3S Culpepper, Anatomy (s. Anm. 6), 140.
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Urteil über J esus: Der Blindgeborene bezeichnet J esus als Prophet 0117)36; dies ist meines Erachtens im vierten 'Evangelium eine positive christologische Kategorie37 • Im Verhör durch die Pharisäer dringt der Geheilte weiter dahin vor, daß das geschehene Wunder Folgendes über Jesus aussagt: Jesus ist kein Sünder 0131) und er ist ,von Gott' 01 33) - eine entscheidende johanneisch-christologische Grundkategorie. Dies reicht aus, daß die, die ihn verhören, das crimen von 9,22 (alYl;ov 6f.LOAoy~a1J xPWtov) erfüllt finden. Dieses Urteil ist kein Willkürakt der verhörenden Gruppe, sondern entspricht dem, was die folgende Begegnung zwischen Jesus und dem Geheilten narrativ einholt: J esus fragt den Ausgestoßenen, ob er an den Menschensohn glaubt - die Gegenfrage, wer dies sei, wird in der Auslegung gelegentlich als Hinweis auf fehlende christologische Erkenntnis gedeutet. Doch der Blindgeborene sieht hier nach der Textlogik erstmals Jesus, den er als Heiler noch nicht sehen konnte, und zudem ist nach johanneischem Verständnis Glaube immer ein gewährter Glaube (vgl. 6,443~, wie es hier durch die Anrede Jesu erzählerisch umgesetzt wird. So bereitet die Frage nach der Person Jesu den Bekenntnisakt vor39 • Jesus gibt sich zu erkennen und der Blindgeborene anerkennt ihn und vollzieht anbetende Proskynese 01 38). Er spricht sein Glaubensbekenntnis 40 und gehört als Geheilter wie später der Auferstehungszeuge Thomas zu denen, die sehen und glauben (20,29t. Die Aktivität für dieses Glaubensbekenntnis geht von Jesus aus: Er findet den Blindgeborenen (EUpWV autov). Der Ausgestoßene wird zum wahrhaftig Sehenden, wie es in den Versen 39ff im Gegenüber zur weltlich-religiösen Macht - repräsentiert durch die Pharisäer (dazu siehe oben) - ausdrücklich festgehalten wird. Darin bewährt sich die Zusage aus Joh 6,37: mxv ö öLöwaLv f.LOL 6 TTat~p TTPO<;; Ef.LE ~~EL. KaI. tOV EPXOf.LEVOV TTPO<;; Ef.LE ou f.L~ EKßeXAW E~W. Das Verhalten des Blindgeborenen im zweiten Hauptabschnitt ist ein "Kommen zu J esus", und J esus bewährt seine Zusage. Der Blindgeborene wird so zum Beispiel dafür, wie Jesus seine Zusage ein36 Nach Dschulnigg, Jesus (s. Anm. 5), 188 legt der Geheilte bereits in V 8-12 ein erstes Zeugnis für Jesus ab. 37 VgL M. LABAHN, Offenbarung in Zeichen und Wort. Untersuchungen zur Vorgeschichte von Joh 6,1-25a und seiner Rezeption in der Brotrede, WUNT 2/117, Tübingen 2000, 101ff; anders eine Anzahl von Exegeten, denen ,Prophet' als defizitäre christologische Kategorie gilt, die sich noch nicht auf der Höhe joh. Christologie befindet (vgl. Nicklas, Ablösung [so Anm. 7], 359). 38 Joh 6,44: OUeSEt<; Mvatlu USELV lTpo<; f.LE Eav f.L~ 0 lTat~p 0 lTEf.Ll\Ia<; f.LE EAKUOlJ autov; vgl. hierzu M. THEOBALD, Gezogen von Gottes Liebe (Joh 6,440. Beobachtungen zur Überlieferung eines johanneischen "Herrenworts", in: K. Backhaus / F. Untergassmair (Hg.), Schrift und Tradition. FS J. Ernst, Paderborn 1996, 315-341. 39 Vgl. Schnelle, Evangelium (s. Anm. 29), 173. 40 Vgl. z. B. Asiedu-Peprah, Sabbath Conflicts (s. Anm. 21), 32. 41 Vgl. die ähnlich strukturierte Thomasszene (Joh 20,26fO; zur Thomasszene vgl. M. LANG, Johannes und die Synoptiker. Eine redaktionskritische Analyse von Joh 18-20 vor dem markinischen und lukanischen Hintergrund, FRLANT 182, Göttingen 1999, 287ff.
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löst, und zwar im Kontrast zur und im Konflikt mit der Umwelt der johanneischen Christen. 3.3 Der Blindgeborene und seine öffentliche Bewahrung
Der Weg des Blindgeborenen zur öffentlichen Bewährung beginnt als Objekt beiläufiger religiöser Erwägungen über sein Schicksal in der Frage, wessen Sünde für seine Blindheit verantwortlich sei (V 2). Es bleibt nicht bei einem Gespräch über eine Figur, die als Stichwortgeber oder als Art Komparse fungiert. Der Blindgeborene wird - ohne daß seine Anonymität je aufgehoben wird - zu einem Handlungsträger. Dies verdankt er der Aktivität Jesu, der an ihm tätig wird und sich geradezu wie ein Arzt verhält, indem er eine Augensalbe der zeitgenössischen V olksapotheke anrührt und, wie es bei Augenleiden geschieht, zu Waschunge'n rät 42 • Die Heilung verdankt der Blindgeborene dem Gehorsam, mit dem er dem Auftrag Jesu, sich im Teich Siloah zu waschen, gehorcht (V 7)43. Sein nachgetragener sozialer Status als Bettler am Tempel (V 8) unterstreicht seine Passivität. Er ist abhängig von fremder Freigebigkeit und genießt auf der antiken Werteskala einen zweifelhaften Rang44 . Der Erzähler weist ihm Profil zu, indem der Blindgeborene zunächst als Geheilter seine Identität belegt (V 8f) und dann über das Wunder berichtet (V 10f). Lediglich über die Person seines Wundertäters kann er keine Auskunft geben: Dies entspricht seiner Blindheit und Passivität und läßt Raum für das nachfolgende Bekenntnis aufgrund des Gefundenwerdens durch J esus - es macht den Blindgeborenen aber nicht zu einem Negativcharakter oder zu einer Person, die kein Identifikationspotential für die Rezipienten des Evangeliums bietet. Der Erzähler fügt nun weitere Informationen über die narrative Welt ein, die ein vielfältiges Bedrohungspotential enthalten, und zwar für den Blindgeborenen wie für seinen Retter. Es ist Sabbat und die Heilung mittels eines Breis eine Übertretung der religiösen und sozialen Normen der Sabbathalacha (9,15ff)45. Daher 42 Vgl. Labahn, Jesus (s. Anm. 7), 328ff; vgl. auch die Sammlung in NEUER WETTSTEIN. Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus. Band 1/2. Texte zum Johannesevangelium, hg. v. U. Schnelle u. Mitarb. v. M. Labahn u. M. Lang, Berlin 2001, 480f.488ff. 43 Vgl. van Tilborg, Love (s. Anm. 27),223. 44 Vgl. beispielsweise die Charakteristik von Bettlern in den griechischen Tempeln bei Lukian, Merc Cond 1 sowie die Beschreibung einer Bettlerehe in dem Kallikter von Manesion zugeschriebenen Epigramm Anth Graec 6,6. 45 Die Einhaltung des Sabbats durch die Juden ist ein wichtiger "identity marker" des jüdischen Volkes sowohl nach innen als auch in der Außenwahrnehmung (vgl. L. DOERING, Schabbat. Sab~.athalacha und -praxis im antiken Judentum und Urchristentum, TSAj 78, Tübingen 1999). Die Uberschreitung des Sabbats mag einem heidnischen Leser / Leserin als Abkehr von einem unvernünftigen Aberglauben gelten (Tacitus, Hist 5, 8,2f; vgl. Juvenal 14,96--106), aber daß zugleich die religiöse Identität verletzt und damit das Sozialgefüge betroffen ist, dürfte auch aus der Außenperspektive erkannt werden.
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bedarf das Wunder einer hermeneutischen Bewertung 01 16: von Gott oder aus der Sünde), in der der Blindgeborene in Überschreitung der Aussage von Vers 12 Stellung bezieht: Sein Wundertäter ist ein Prophet (V 17) und damit von Gott. Soweit der Erzählhorizont bisher geöffnet ist, ist der Blindgeborene von der Kontroverse noch nicht betroffen; es geht um J esus und sein Schicksal, wie die Leser und Leserinnen, die sich an Joh 5 erinnern, wissen (5,1fr18). Doch nunmehr konzentriert der Erzähler die Bedrohung auf die Nachfolger Jesu 46 • Der Blindgeborene geht dem sich entwickelnden Konflikt nicht aus dem Weg, wie es im folgenden seine Eltern tun werden, die ähnlich wie der Blindgeborene zu einem U rteil herausgefordert sind. Sie wissen über die Identität ihres Sohnes Bescheid und können ermessen, daß ihm ein Wunder widerfahren ist. Dies können sie beurteilen, aber genau diese öffentliche Aussage verweigern sie. Die Motivation hierfür reicht der Erzähler wieder nach. Mit 9,22 ist die narrative Welt geordnet. Wer auch immer nach der Situationsangabe von 9,22 positiv Auskunft über Jesus abgibt, handelt angesichts der drohenden Auflösung seiner sozialen Bindungen. Die Situationsbeschreibung drückt 9,24-34 den Stempel auf. Das Agieren des Blindgeborenen ist vor der Bedrohung seiner sozialen Identität und der Folie des Verhaltens seiner Eltern zu lesen 47 • Joh 9,22 teilt den Text in die Darstellung alternativer Verhaltensmuster der Handlungsträger angesichts der Drohung öffentlicher Repressalien ein: auf der einen Seite Furcht / Auskunftsverweigerung (9,19f) und auf der anderen ein argumentativer Diskurs, verbunden mit einem qualifizierten U rteil über Jesus (9,24-34). Der Blindgeborene hebt sich von seinen Eltern ab, indem er weder die Auskunft über Jesus verweigert noch sich eines eigenen Urteils enthält. Dabei entfaltet sich ein sich inhaltlich steigernder und argumentativer Dialog, der kunstvoll aufgebaut ist, auch wenn die Gesprächspartner nicht zu einander kommen können, da sie unterschiedlichen Diskurs- und Denkuniversen zuzuordnen sind 48 und "die Juden" im Blick des Evangelisten ihr Urteil schon längst gefaßt haben. Der Gesprächsfaden spielt mit dieser Situation und den unterschied-
V gL Menken, Scriptural Dispute (s. Anm. 7), 448. Im Blick auf V 22 und das unterschiedliche Verhalten der Eltern und ihres Sohnes stellt Resseguie, John 9 (s. Anm. 34), 118 fest: "The parents are a foil for the action of the healed man in the subsequent scene. While the parents are fearful of the authorities and are fearful to confess Jesus as Messiah, the man born blind is fearless and bold in his confrontation with the authorities." - Sehr gut arbeitet auch Nicklas, Ablösung (s. Anm. 7), 362f, den Kontrast zwischen dem Blindgeborenen und seinen Eltern heraus. Sein Urteil lautet: "Dieser wird damit durch sein Auftreten im Gegensatz zu seinen Eltern als furchtloser Bekenner gegenüber der Bedrohung der 'IOUÖIlLOl dargestellt" (363). 48 Zur Adaption des Stichwortes ,Diskursuniversum' auf das vierte Evangelium vgl. Labahn, lTllPPTlOlll (s. Anm. 16). - Indem der Blindgeborene zu positiven Aussagen über Jesu Herkunft und Funktion kommt, gehört er einem anderen Diskursuniversum an als seine Gegner im Dialog - dies widerspricht m. E. ebenfalls einer zu scharfen Trennung zwischen dem Blindgeborenen vor und nach seinem Bekenntnis ausJoh 9,38 und für ein Zusammenlesen der narrativen Horizonte. 46
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lichen Voraussetzungen der Dialogparteien 49 , was jedoch jeweils mehr implizit als explizit ausgesagt wird. Zugleich sind die Antworten des Blindgeborenen wirkliche Antworten, die auf die vorausgehenden Aussagen zurückgreifen; sie verbergen nichts in einem Binnencode50 , sondern greifen bis zu einem gewissen Grad Gedanken des Dialogpartners auf. Daher paraphrasiere ich den Dialog folgendermaßen: "Die Juden" behaupten, daß Jesus ein Sünder sei (9,24). - Der Blindgeborene bestreitet die gegnerische Ausgangshypothese mit Hinweis auf die Heilung: Träfe ihre Hypothese zu, dann wäre er jetzt nicht gesund (9,25). - "Die Juden" fragen nach dem Vollzug der Heilung zur Unterstützung der eigenen These. Die Art der Heilung ist ihnen allerdings bereits bekannt, und sie haben sie als einen Sabbatbruch und damit als Sünde bewertet. Ihre Frage zielt auf das Einverständnis des Gegenübers (9,26). - Der Blindgeborene kontert die Frage durch die These, daß der Bericht vom Wunder zum Jüngersein führt - der erneute Bericht würde also bei unvoreingenommener Betrachtung davon überzeugen, daß J esus kein Sünder ist, und ist damit ein Ruf zum Jüngersein (9,27)51. Der Konter ist also auch Öffnung hin zum Gegenüber mit der Einladung zum Jüngersein. - "Die Juden" grenzen sich jedoch ab, indem sie die soziale Dimension der Einladung erkennen. Sie setzen nicht auf eine neue Identität, sondern stellen ihre eigene entgegen: Entweder ist Mose oder Jesus die identitätsstiftende Figur (9,28). Dieser rückwärtsgewandten Äußerung folgt ein weiterer kritischer Impuls durch die Behauptung, die Herkun.ft J esu sei unbekannt (9,29). - Mit dieser deutlich die johanneische Grunderkenntnis vermissen lassenden Aussage (vgl. die Bewertung in 9,30) ist der Gesprächsgang noch immer nicht beendet, sondern der Blindgeborene hält entgegen: Das Wunder belegt eindeutig, 49 Daß unterschiedliche Voraussetzungen zum Scheitern des Dialoges führen, sieht sehr klar Nicklas, Ablösung (s. Anm. 7), 372-375: Sie liegen in der Erfahrung der Heilung einerseits und in der Bindung des Gotteswillens an die T ora (Sabbathalacha) andererseits. so So aber sei die johanneische Sprache nach Auskunft von B. J. MALINA / R. L. ROHRBAUGH, Social-Science Commentary on the Gospel of J ohn, Minneapolis 1998, charakterisiert. SI Das Verständnis der Rückfrage als Beispiel johanneischer Ironie (vgl. z. B. P. D. DUKE, Irony in the Fourth Gospel, Atlanta 1985, 81f.121f) oder Sarkasmus (vgl. M. W. G. STIBBE, John, Readings, Sheffield 1993, 106; Nicklas, Ablösung [so Anm. 7], 357) erfaßt nur einen Teil ihres Potentials; unterschiedliche Positionen angesichts des Sachverhaltes sind möglich, wie noch 9,16 belegt. Zweifelsohne zielt die Frage "der Juden" auf der textinternen Ebene, die durch eine Verhärtung der Fronten gekennzeichnet ist, vor allem auf die Einsicht des. Geheilten in ihre Sicht und die Wiederholung des Geschehens durch den Geheilten würde nichts Neues beisteuern (vgl. Duke, Irony [so 0.], 81). Dennoch wohnt dem Bericht von der Heilung ein Überzeugungpotential inne, an das der Geheilte mit seiner Frage anknüpft und das eine über die textinterne Situation hinausgehende Bedeutung hat. Es ist der Evangelist selbst, der solchem Erzählen Überzeugungspotential zurechnet und in dieser Gewißheit sein Evangelium schreibt (vgl. 20,30f). So bemerkt Schenke, Johannes (s. Anm. 17), 186: "Ironisch fragt er (sc. der Geheilte) sogar, ob sie vielleicht Jesu Jünger werden wollen. Das wäre in der Tat die einzig richtige Antwort auf sein Zeugnis, denn das bezeugte Zeichen soll zum Glauben führen (vgl. 2,11; 4,53; 20,30f)."
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daß J esus kein Sünder ist, sondern von Gott her stammt und damit sein legitimer Gesandter ist (9,31). Das würde nach der jüdischen Logik im vierten Evangelium aber bedeuten, daß er der Messias ist, da dessen Ursprung unbekannt ist. Es liegt ein ironisches Spiel vor, in dem gezeigt wird, wer eigentlich die bessere Gesprächsstrategie verfolgt. - Nun verweigern "die Juden" den Gesprächsfortgang durch den Sündervorwurf an den Blindgeborenen und lösen zugleich die soziale Gemeinschaft auf. Mit massiver Verweigerung durch seine Gegner endet das Gespräch mit dem Geheilten. Der Blindgeborene schreitet in den Versen 24-34 vordergründig in der Erkenntnis fort und artikuliert zuletzt deutlich johanneische Grundeinsichten. Meines Erachtens positioniert er sich von Anfang an gegen die Voraussetzungen seiner Gegner und sucht eine argumentative Auseinandersetzung, wie daran gezeigt werden kann, daß er auf die Einwürfe seiner Gegner eingeht und reagiert. Der Geheilte verweigert nicht den ihn gefährdenden Dialog, wie es seine Eltern tun. Er verweigert auch nicht die Auskunft, sondern bezieht bei klarer Einsicht in die Gefahren Position. Indem der Diskurs aufgenommen wird, wird die johanneische Christuserkenntnis öffentlich gemacht. Damit agiert der Geheilte exemplarisch, und der Erzähler gibt narrative Impulse, wie der Umgang mit der Mitwelt sich gestalten kann: "The author manipulates his readers in a different way too. He presupposes that the fear of the parents is realistic. They are prepared to say what is necessary ... , but, fearful of the consequences, they stop right there. That means that whoever goes beyond that point, will be given the approval of the author as a hero and a witness"s2. Unabhängig von der Einschätzung der juristischen Relevanz der GesprächsszenenS3 gleitet der Blindgeborene in die Rolle eines Modells für die sittlichöffentliche Grundhaltung johanneischer Christen auch im Horizont äußerer Bedrohung. Die offensive Auseinandersetzung und damit Bewährung des johanneischen Glaubens widerspricht somit einem Bild des johanneischen Christentums als sektiererischem Zirkel. Nicht Verweigerung des Diskurses, sondern konstruktive Auseinandersetzung mit der Einladung zur Gewinnung neuer Identität sind dem narrativen Modell zu entnehmen, das folglich nicht auf Entweltlichung, sondern gesellschaftliche Verantwortung zielt. Vom Gehorsam bis zur ungebeugten, aber sich dem Dialog stellenden Bewährung hält der Blindgeborene an seinem Heiland fest. So ist er auch Exempel dafür, wie es gilt, den johanneischen Glauben
Van Tilborg, Love (s. Anm. 27), 226. Gegen die verbreitete Beurteilung als gerichtliches " Verhör" betont mit dem atl. rib-Schema Asiedu-Peprah, Sabbath Conflicts (s. Anm. 21), pass. den außergerichtlichen Charakter als juristische Auseinandersetzung zwischen zwei Parteien ohne Beteiligung eines Richters. 52 53
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konstruktiv zu bewähren 54 . Er ist damit ein Repräsentant narrativer Ethik, die nicht in Weltflucht, sondern in diskursiver Auseinandersetzung mit der Mitwelt den eigenen Standort zu wahren sucht. Somit ist der ehemals Blinde einerseits Beispiel, wie J esus seine Anhänger bewahrt, und andererseits Vorbild, wie die Anhängerschaft zu bewähren ist. Beide Ebenen sind Teil der Erzählung.
4 }esus, der gute Hirte, als Gegenbild der zeitgenössischen religiösen und politischen Macht 55 Damit ist auch die Rolle J esu in der johanneischen Konzeption zu beleuchten. Die Fortsetzung der Blindenheilung erfolgt durch die Hirtenrede 56 , in der Jesus sein Hirte-Sein den religiösen und politischen Autoritäten entgegensetzt. In der Textwelt kritisiert er vor allem die jüdischen Führer, vornehmlich die Pharisäer (9,40). Die Hirtenrede selbst formuliert durch Verwendung metaphorischer Sprache ein grundsätzliches Gegenmodell, dessen soteriologische Spitze in den Kapiteln 7 und 8 insbesondere durch das Ego-Eimi-Wort von 8,12 (vgl. 9,5) vorbereitet wird. J esus ist das Licht der Welt, weil er der Welt Licht spendet, körperlich (Blindenheilung) und geistig (Lebenshingabe für die Seinen). Der alttestamentliche Hintergrund der Hirtenrede weist auf die Führer Israels als Hirten des Volkes hin, die ihrem Auftrag nicht gerecht geworden sind5~. Im Gegensatz zu den politischen Herrschern tritt J ahwe selbst als Hirte seines Volkes ein; erhofft wird auch, daß Jahwe einen zuverlässigen Hirten senden wird, der der ,gute Hirte' ist. Auch in der hellenistisch-griechischen Welt ist die Metapher vom Hirten, auf Herrscher oder militärische Führer angewendet, geläufig58 . Bedenkt
54 Zutreffend Rein, Heilung (s. Anm. 7), 258: "Deutlich ist. .. , daß die Sympathie des Erzählers bei dem Geheilten liegt, er ist den Verdächtigungen, Bedrohungen und Tätlichkeiten der Juden / Pharisäer ausgesetzt und bekennt dennoch mutig, daß J esus ein Mensch von Gott ist". Mit Blick auf Joh 9,24-34 entscheidet sich Rein daher für die Annahme einer innergemeindlichen Funktion. Gerichtet sei Joh 9 an Gemeindeglieder, "die ihren Glauben gegen die Angriffe jüdischer Autoritäten verteidigen müssen". Daher gehört dieses Stück in die "apologetische Auseinandersetzung der Gemeinde mit den jüdischen Autoritäten" (ebd.). Dies trifft für die Vorgeschichte von Joh 9 zu (vgl. Labahn, J esus [so Anm. 7], 258ff); auf der redaktionellen Ebene ist der Fokus weiter geöffnet. 55 Vgl. auch M. LABAHN, ,Heiland der Welt'. Der gesandte Gottessohn und der römische Kaiserein Thema johanneischer Christologie?, in: Labahn / Zangenberg, Zwischen den Reichen (s. Anm. 1), 147-173: 165ff. 56 Vgl. zur johanneischen Hirtenrede die grundlegende Aufsatzsammlung J. BEUTLER / R. T. FORTNA (Hg.), The Shepherd Discourse of John 10 and its Context, SNTSMS 67, Cambridge 1991; vgl. auch Kowalski, Hirtenrede (s. Anm. 28). 57 Zur atl. Hirten-Metapher vgl. jetzt R. HUNZIKER-RODEWALD, Hirt und Herde. Ein Beitrag zum alttestamentlichen Gottesverständnis, BWANT 155, Stuttgart 200l. 58 Vgl. kurz J. D. TlJRNER, The History of Religions Background of John 10, in: Beutler / Fortna, Shepherd Discourse (s. Anm. 57), 33-52.147-150: 35f. - Bei Homer begegnet der Hirte als Begriff für den König (1TOLIJ.~V AIXWV) und ist seit Platon (Polit 274e; 275b-c; Resp I 345b-e; vgl. Polit
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man weiterhin die Erwartungen von Heil und Frieden, wie sie an hellenistische und römische Herrscher gerichtet werden, so ergibt sich ein Hintergrund für J oh 10,lff, der Jesu Gekommen-Sein und Handeln gegen innerweltliche Macht- und Führungsansprüche abgrenzt. Erinnert man sich zudem daran, daß Blindenheilungen auch im Zusammenhang der Kaiserviten überliefert werden und damit wohl in der Herrscherpropaganda eine Rolle spielten59 , dann ist das kritische Potential der Hirtenrede in der Tat weitaus umfassender. Der sich in parabolischer Redeweise als der wahre Hirte vorstellende johanneische J esus distanziert sich von den irdischen religiösen wie auch den politischen Führern. Für die religiösen Führer können die Pharisäer eingesetzt werden, von denen unmittelbar zuvor die Rede war (9,39-41). Dieses kritische Potential wird jedoch nicht in sozialer, sondern in soteriologischer Hinsicht entfaltet, ohne daß beide Aspekte völlig auseinander treten. Ist J esus der durch den Einsatz des eigenen Lebens Leben gewährende Hir-
267de) als Bild für den Staatsmann in der griechischen Staatsphilosophie belegt (vgl. J. ENGEMANN, Art. Hirt, RAC 15, 1991,577-607: 579Q. Auch einer Gottheit selbst kann die Metapher in der zweiten Rede" Über die Herrschaft" von Dion Chrysostomus zugeschrieben werden. Er verwendet die Metapher ,Hirte' für den König der Könige, den obersten Gott des griechischen Pantheons, Zeus (Or 2,75; vgl. die Königstitulatur Jesu in Joh 1,49; 18,33ff; 19,19; vgl. auch 6,15; 12,13.15 u. ö.), der mit einem klugen Hirten verglichen wird. Wie dieser das Leittier der Herde auswechselt, wenn es der Herde Schaden zufügt, so macht es auch Zeus - umgekehrt bekräftigt er die Herrschaft des wohltätigen Königs (Or 2,73-78). Ähnlich verwendet Philo die Metapher vom Königtum Gottes in distributiver Interpretation; vgl. die Darstellung von N. UMEMOTO, Die Königsherrschaft Gottes bei Philo, in: M. Hengel / A. M. Schwemer (Hg.), Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult im Judentum, Urchristentum und in der hellenistischen Welt, WUNT 55, Tübingen 1991, 207-255; er faßt zusammen (255): "Die Königsherrschaft Gottes steht bei Phiion der Herrschaft der irdischen Könige, d. h. der römischen Kaiser, ihrer Statthalter und ihrer Klientelkönige gegenüber. Die Königsherrschaft Gottes ist für sie ein Vorbild, das sie nachahmen sollen. Gott mahnt und bestraft darum die irdischen Könige, die sich eine gottgleiche Herrschaft anmaßen, und zeigt ferner durch den Sturz irdischer Könige von ihren Thronen, wer der wahre König ist." - Die Metapher hat bei Dion Chrys Or 2 keine primär herrschaftskritische Konnotation, aber macht uneingeschränkt deutlich, daß Herrschaft an Regeln gebunden ist, die auf den Erhalt der Herde zielen. Die bei den Herrschaftsmetaphern "König" und "Hirte" haben gegenüber der Verwendung durch Dion im vierten Evangelium keine die weltliche Herrschaft regelnde Funktion, sondern die einer (exkludierenden) Alternative. Jesu Königtum stellt nach Joh 18,26 die irdisch-immanente Herrschaft des Kaisers nicht in Frage, aber es wird auch keine positive Rolle des Staates entfaltet. Die Frauen und Männer in der Nachfolge Jesu gehören mit Jesus in einen anderen Herrschaftsbereich, in dem sie trotz der physischen Bedrohung als Gerettete das Leben haben. Entscheidend ist das Bleiben an Jesus Goh 15,4), das sich in liebender Zuwendung zueinander (13,34f; 15,12Q und in der Sendung an die Welt vollzieht (15,16Q. Der Verfasser des vierten Evangeliums zielt auf das rechte Verhalten seiner Leserschaft angesichts des verkündigten Jesus Goh 20,30Q. Jede konkurrierende Größe wird zur "Welt" als der sich Gottes Wahrheit verweigernden "Finsternis" gerechnet. Daran werden aber nicht nur der Kaiser und seine Herrschaft gemessen, sondern auch die religiösen Führer der "Juden", so daß sie aus der Sicht des vierten Evangelisten die Rolle von "Räubern" übernehmen (vgl. Joh 10,8.10). 59 Grundlegende Texte sind Sueton, Vesp 7,2; Dio Cassius 66, 8,1 und Tacitus, Hist 4, 81,1-3 (vgl. Labahn, Heiland [so Anm. 55], 161fQ.
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te und kann das Wunder als antizipierendes Sichtbarwerden seiner Leben gewährenden Macht verstanden werden, so erscheint dies vor dem alttestamentlichen, aber auch vor dem hellenistisch-römischen Hintergrund als Überbietung jeglicher irdischen Herrschermacht60 •
5 Abschließende Bemerkungen zur narrativen Ethik von Joh 9 Zu beachten war in J oh 9 die Ineinander-Schachtelung der narrativen Ebenen durch das Ineinander bildet die Erzählung Sinn und gewährt Orientierung. In der Haltung zur Welt verhält sich der Blindgeborene als Vorbild für das Handeln der nachösterlichen Gemeinde in ihrer sozialen Umwelt. In der Hinführung zum Glauben erweist sich Jesus als der wahre gute Hirte, der Glaube und damit Leben schenkt; ein Beispiel für einen Menschen, dem diese Zuwendung widerfährt, ist wiederum der Geheilte. Fügen sich die Ebenen zusammen, so ergibt sich, daß und wie Glaube iIl der - durchaus als feindlich verstandenen - Welt progressiv, offen und unvoreingenommen vertreten werden muß. Die Erzählung vermittelt damit Regeln' und Normen für den Umgang mit dem gesellschaftlichen Umfeld der Adressaten. Dies kann als ein Beispiel ethisch-sozialer Verantwortung gelesen werden. Gerade als anonyme Figur gewinnt der Blindgeborene seine pragmatische Stärke 61 - er ist nicht determiniert als eine bestimmte Person der Vergangenheit, die zwar Vorbild sein kann, aber dabei immer eine andere Persönlichkeit bleibt. Auch der Weg vom Nicht-Sehenden zum Sehenden verschafft Identifikationspotential. Die Metaphorik wird vom Erzähler ausdrücklich markiert und als hermeneutischer Hintergrund der Heilungsgeschichte thematisiert, ohne daß diese als reine Metapher aus der Körperlichkeit auf eine allein vergeistigte Ebene gezogen werden 62 kann • Die Leserschaft ist eingeladen, das Identifikationspotential der offenen Figur des Blindgeborenen für sich fruchtbar zu machen 63 • Joh 9 entfaltet vor allem,
60 Auch U. BUSSE, Metaphorik in neutestamentlichen Wundergeschichten? Mk 1,21-28; Joh 9,141, in: K. Kertelge (Hg.), Metaphorik und Mythos im Neuen Testament, QD 126, Freiburg 1990, 110-134: 128, setzt den Zusammenhang von 9,1-10,21 voraus und interpretiert vor diesem Hintergrund das Hirtenthema: "Die dramatische Zuspitzung... bis hin zum Synagogenbann ist erzählerisch geboten, um die Fragen nach dem für Gott allein legitimen Hirten und nach den Eigenschaften der Mitglieder des eschatologischen Gottesvolkes für die Leser beantworten zu können." 61 Vgl. zum Folgenden auch Beck, Function (s. Anm. 9), 145.155. 62 Eine solche Gefahr sehe ich jedoch im Verständnis der Blindenheilung allein als "a symbol of the spiritual illumination which a man receives when he believes and is baptized" (Collins, Figures [so Anm. 6],21). 63 Vgl. zum Folgenden auch Beck, Function (s. Anm. 9), 154 mit etwas anderer Pointe: "This identity formation on the part of the anonymous, formerly sightless man encourages the reader's own identity reformation through identification with this anonymous character. The reader's identification with this man's condition and progression is enabled by the man's anonymity, particu-
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wie das Individuum in einer bisweilen bedrohlichen und ignoranten Gesellschaft verantwortlich agieren kann. Ich betrachte damit den Blindgeborenen als einen Charakter, der zu den interessantesten Akteuren des Johannesevangeliums gehört und nicht allein Vorbild für den Weg zum Glauben, sondern auch Richtschnur für die johanneischen Christen ist, im offenen und kritischen Diskurs sich mit dem Leitgedanken der Welt auseinanderzusetzen. Der Aspekt sozial-ethischer Verantwortung besteht in der Hinwendung zu und dem Einlassen auf die Argumente und Sprache der Welt. Die Verantwortung für die Gesellschaft verbleibt auf einer prinzipiellen Ebene ohne Konkretion auf einzelnes Handeln und ist vor allem durch die religiöse Komponente beschrieben. Gerade im Widerspruch gegen die als bedrohlich gezeichnete Umwelt entwickelt und bewährt sich die christologische Einsicht des geheilten Blindgeborenen, um schließlich zu einem vollwertigen johanneischen Bekenntnis zu werden. Pragmatisch appelliert diese Geschichte damit an die Leser und Leserinnen, ihren Glauben ebenso in der Gesellschaft zu vertreten, auch angesichts möglicher oder tatsächlicher Repressionen. Nimmt man zudem die christologische Grundlinie der Einheit Joh 9-10 mit in den Blick, so werden gesellschaftliche Eliten am Maßstab des "guten Hirten" und mit dem Verhalten des Geheilten in Frage gestellt und einer kritischen Reflexion unterzogen. Zugleich aber ist der "gute Hirte", der die Seinen "festhält" , der Ausgangspunkt für das V erhalten zur Welt64 • In der Analyse der Charaktere und der narrativen Pragmatik zeigt sich, daß das vierte Evangelium durchaus materiale Forderungen zur Bewährung des Glaubens nach außen enthält. Dazu ermächtigt der Paraklet, der die Welt ihrer Sünde überführt (16,8). Der Blindgeborene findet im Dialog mit seinen Widersachern zu christologischer Einsicht und zugleich überführt er seine Gegner ihres U nverständnisses, so daß J esus sie als die wahrhaft Blinden beurteilen kann (9,39). So vollzieht sich in der Blindenheilung, was der nachästerlichen Gemeinde durch den Parakleten verheißen wird: die Überführung der Welt in ihrem Angewiesen-Sein auf Gottes in die Welt gesandten Sohn 65 • So fremd das vierte Evangelium dem modernen lady for readers who themselves have been beggars of one sort or another, alienated from society, parents, or even their religious community." 64 Mit K. SCHOLTISSEK, "Rabbi, wo wohnst du?" Zur Theologie der Immanenz-Aussagen im Johannesevangelium, Bi Li 74, 2001, 240-253: 252 läßt sich festhalten: "Diese an der Vater-SohnBeziehung geschulte Beziehung der Glaubenden zu Jesus Christus und durch ihn zum Vater im Heiligen Geist ist weder quietistisch, noch narzisstisch, sie begründet auch keine magische Verfügbarkeit, sondern sie stellt die christlich Glaubenden in eine von ,innen' und von ,außen' getragene Christus- und Gottesbeziehung, die sie aus ihrer je eigenen Gottummittelbarkeit heraus sendet und ihnen so in der Gemeinschaft der Kinder Gottes und Freunde Jesu teilgibt an der Sendung Jesu zur Rettung der Welt (3 16--17)." 65 Daß der Paraklet nur abgrenzende Funktionen hat und sich damit in ein sektiererisches Binneninteresse einordnet, wie J. A. DRAPER, The Sociological Function of the Spirit Paraclete in the Farewell Discourses in the Fourth Gospel, Neot 26, 1992, 13-29, meint, betont zu Recht den iden-
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Leser bisweilen anmutet, es proklamiert mit seiner kritischen Weltsicht keine Weltabwendung, sondern fordert zu einem kritischen, sich seines" Woher" gewissen Dialog mit gesellschaftlichen Strömungen und staatlichen Vorgaben heraus.
titätsstiftenden Charakter des Parakleten, verkennt aber, daß die durch den Parakleten gesicherte Identität Außenwirkung erzielen kann und will.
Hyon Suk Hwang DAS LEIDEN DER SCHÖPFUNG UND DER FRIEDE DER NEUSCHÖPFUNG (RÖM 8,18-30) Ein biblisch-theologischer Beitrag aus koreanischer Perspektive!
1 "Ktisis" als Gegenstand des Heils Gottes (Röm 8,19-22) Der Apostel Paulus schreibt in Röm 8,19-22, daß nicht nur die Kinder Gottes, sondern auch die Schöpfung leidet, seufzt und sich nach dem Heil der Endzeit sehnt. Daß die Schöpfung auf die Erlösung wartet, steht im Neuen Testament allein an dieser Stelle. Allerdings kann der Kontext dieser Aussage, die Verse 18-30, nicht eindeutig interpretiert werden 2 • Denn der Begriff KTLOLC;, das Zentrum dieses Abschnitts, ist in seiner Bedeutung mehrdeutig. Im folgenden soll untersucht werden, wie der Begriff im Kontext zu verstehen ist und in welcher Beziehung er zum Heil des Menschen steht. Schließlich soll die Wirklichkeit der Christen, die Frieden mit Gott erlangt haben (Röm 5,1), als die konkrete Realisierung des Heils Gegenstand der Erörterung sein.
1.1 Das universale Heil als Thema des Römerbriefs Im Römerbrief schreibt Paulus über die Heilsgeschichte und das Heilshandeln Gottes, wobei er sich unentwegt mit dem jüdischen Heilsverständnis auseinandersetzt. Gleich zu Beginn nimmt er die kosmische Dimension seiner Mission in den Blick und unterstreicht dies den ganzen Brief hindurch als die Dimension des Evangeliums. Als erstes stellt er die Tradition des christlichen Glaubens fest (1,14); sodann entwickelt er sein Verständnis von Gerechtigkeit (1,16f; 3,21f) und erweitert den Wirkungsbereich des Evangeliums ins Kosmische und das Gebiet sei-
1 Aufgrund der räumlichen Entfernung und eingeschränkter Möglichkeiten war die Autorin nicht in der Lage, die neue re deutsche Literatur zur Thematik zu berücksichtigen. 2 U. WrLCKENS gab in seinem Kommentar Röm 6,1-8,39 die Überschrift "Die Wirklichkeit der Rechtfertigung im christlichen Leben" (Der Brief an die Römer. 2. Teilband: Röm 6--11, EKK 6/2, Zürich / Neukirchen-Vluyn 31993, 3); zum Verständnis von KtlOL<; bei Paulus vgl. die zusammenfassende Darstellung bei O. WrSCHMEYER,
':PEU:: und KTIEIE bei Paulus. Die paulinische Rede von Schöpfung und Natur, ZThK 93, 1996,352-375 (zur neueren Forschung bes. 352 Anm. 2).
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ner Mission auf die gesamte Welt. In 1,16f wird das Evangelium als weltweit wirkende Kraft Gottes bestimmt für ,alle, die daran glauben'3. Konsequent geht es dann von 1,18 bis 3,20 um den allgemeinen Charakter der Sünde und den Zorn Gottes darüber sowie seine Gerechtigkeit. Paulus schreibt, daß alle Menschen gesündigt haben. Er weist dabei auf die Sünde der Heiden hin (1,19-21), über die Gott richten wird (1,22-32), und klagt auch die Juden der Sünde an (2,1-3,8). Da sowohl die Juden als auch die Griechen gottlos sind, steht somit die gesamte Welt unter dem Zorn Gottes (3,9-20). Nach diesen negativen Aussagen wird ab 3,21 (zunächst bis 4,25) Positives verkündet: 'Durch Jesus Christus hat eine neue Zeit angefangen, und die Gerechtigkeit Gottes gilt für alle Gläubigen und somit für die gesamte Welt. Damit hat die Menschheit mit der Welt das gleiche "Schicksal": Beiden ist gemeinsam, daß sie unausweichlich vor dem Angesicht Gottes stehen. Die Gerechtigkeit Gottes dringt damit in die Welt hinein, in der jeder Mensch sein eigenes Leben führt. Daher muß die Gerechtigkeit Gottes weltweit erfüllt werden. Das wiederum bedeutet, daß der Schöpfer und Erhalter der Welt gänzlich anerkannt werden muß. In Kapitel 4 sieht Paulus die Gerechtigkeit des Glaubens in Abraham vorab gebildet 0/1-12) und betont die Gültigkeit des göttlichen Versprechens, das Abraham gegeben wurde, für alle Gläubigen. Diese Auslegung beleuchtet das traditionelle Verständnis der Gerechtigkeit Gottes aus einem neuen Winkel und beschreibt, was der rechtfertigende Glaube ist 0/1525). In Kapitel 5 geht es um die Gegenwart des Lebens 4• Die Gläubigen, die in der Hoffnung leben, führen ein Leben, das der menschlichen Vernunft zu widersprechen scheint 0/1-11). Dies sucht Paulus durch die Gegenüberstellung von Adam und Christus zu erklären 0/12-21). Dadurch soll nicht der Ursprung der Sünde aufgezeigt werden, sondern der Umstand, daß das von Christus bestimmte Leben mit der Welt Adams konfrontiert ist. Daher ist das Heil Gottes nicht lediglich eine zukünftige Größe, sondern bereits eine gegenwärtige Realität. Die Gerechtfer-
J Für Paulus ist die ganze Menschheit das Objekt des Heils. IIavtL tQ lTLOtElJOVtL ist ein Schlagwort, das die gesamte Theologie des Apostels in sich birgt. Das Wort mic; kommt im Römerbrief 71 mal vor und ist von großer theologischer Bedeutung; vgl. H. S. Hwang, Die Verwendung des Wortes "pas" in den paulinischen Briefen, Diss. Erlangen 1985. 4 O. MERK, Handeln aus Glauben. Die Motivierungen der paulinischen Ethik, MThSt 5, Marburg 1968, 10f sieht Röm 5,1 als Folgerung aus dem Abschmitt Röm 3,21-4,25 : "Diese Wirklichkeit ist also bestimmt durch das Gerechtfertigsein aus Glauben, wobei das Geschehen der Rechtfertigung genau genommen und seiner grammatischen Form nach (öLKIXLweEVtEC;, vgl. Rm 5,1.9) bereits in der Vergangenheit liegt, eben weil es in Jesu Tod und Auferweckung begründet ist (vgl. Rm 3,25; 4,24f; 10,9), aber sachlich ist es für den Glaubenden Gegenwart (Rm 3,24; 5,17; vgl. auch Rm 5,11; 8,15)".
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tigten haben jetzt schon Frieden mit Gott (V 1)5. Die Aussage der Verse 12-21 bietet die Grundlage für die folgenden Kapitel 6 bis 8. In Kapitel 6 wird das neue Leben des Gerechtfertigten als Heiligung auf der Grundlage der Taufe erläutert. In Kapitel 7 geht es um die Freiheit dieses neuen Lebens vom Gesetz. Kapitel 8 kann in zwei Hälften geteilt werden (V 1-17 und V 18-39). Beginnend mit der Erläuterung der neuen Situation derjenigen, die das Heil Gottes erfahren haben, geht es im ersten Teil um das geistliche Leben der Christen und ihren Status als Kinder Gottes (V 12-17), während der zweite Teil vom Leben der Christen und der Schöpfung, die trotz Leiden in der Hoffnung auf das endgültige Heil leben (V 18-30), sowie von der Gewißheit, gerettet worden zu sein (V 31-39), handelt 6• Bevor Paulus in den Kapiteln 9 bis 11 auf das besondere Heil des Volkes Israel zu sprechen kommt, spinnt er den Faden fort, der die Kapitel 1 bis 8 ununterbrochen durchzieht: die Rede von der Universalität der Sünde und des Heils. Auch das Heil des Gottesvolkes Israel ist als ein Teil dieses allgemeingültigen Heils zu verstehen. Daß dieses Heil für die gesamte Schöpfung gilt, ist das Fundament der paulinischen Ausführungen über das Heil. Der Höhepunkt dieser universalen Heilsaussagen liegt in 11,36: "Denn aus ihm und durch ihn und auf ihn hin sind alle Dinge" (vgl. 1 Kor 15,28).
1.2 Röm 8,18-30 als Ausdruck eschatologischer Hoffnung In seinem Kommentar zum Römerbrief gibt U. Wilckens Röm 8,18-30 die Überschrift: "Leiden in Hoffnung". Laut Wilckens kann dieser Abschnitt in den beiden Schlagwörtern "Leiden" und "Schöpfung" zusammengefaßt werden 7• In den Versen 18-25 steht das gegenwärtige Leiden der Christen der zukünftigen Herrlichkeit gegenüber. Bevor Gott die Herrschaft endgültig übernimmt und solange die Ungerechtigkeit in der Welt noch wirkt, müssen auch gerechte Menschen leiden. Das Ende dieser Leidenszeit ist jedoch nahe. Das Gericht der Endzeit steht vor der Tür, und das Seufzen vor der "Geburt" einer großen Veränderung ist bereits weit verbreitet. Obwohl Paulus hier apokalyptische Wendungen gebraucht, steht er nicht in der apokalyptischen Vorstellungswelt. Vielmehr betrachtet er die Situation aus der Warte eines eschatologischen Heilsverständnisses, und das heißt: Es geht ihm um die Vollendung des Heils. Die Zukunftsperspektive 5 Vgl. Merk, Handeln (s. Anm. 4), 11: "Jetzt in der Gegenwart ist der Tag des Heils (2.Kor 6,2; vgl. auch Rm 3,21; 5,1) und doch bringt jeder Tag das endgültige Heil näher (Rm 13,11); jetzt lebt der Gerechtfertigte im Glauben, nicht im Schauen (2.Kor 5,17), und so gewiß er gerettet ist (vgl. Rm 3,21.24-26; 5,1; 8,15), soll er mit Furcht und Zittern sein Heil wirken (phil2,12f; vgl. 2,16)". 6 G. BORNKAMM sieht in Kap. 7 das "Selbstverständnis der Sünder" und in Kap. 8 das "Selbstverständnis der Geretteten"; vgl. ders., Sünde, Gesetz und Tod (Röm 7), in: ders., Das Ende des Gesetzes. Paulusstudien, BeTh 16, München 1952, 69. 7 Wilckens, Brief (s. Anm. 2), 145ff.
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klingt apokalyptisch. Aber es geht im Eschaton nicht um Aufhebung oder Vernichtung, sondern um die Vollendung der Schöpfung, die Vollendung des Heils. Der andere Kerngedanke dieses Abschnitts ist das Leiden der Schöpfung. Es heißt, daß nicht nur die Christen, sondern auch die Welt, in der sie leben, also die gesamte Schöpfung, unter Gottes Gericht stehen. Und in der endzeitlichen Verherrlichung der Gerechten wird mit ihnen zusammen auch die Schöpfung erneuert werdens. Daß dem gegenwärtigen Leiden eschatologisch-soteriologische Bedeutung beigemessen wird, daß die Kinder Gottes im Angesicht der Offenbarung der baldigen Herrlichkeit seufzen und daß die gesamte Schöpfung von Gott "in die Leere geworfen" ist - all dies sollte im Rahmen jüdischer Vorstellungen gesehen werden. Die Hoffnung auf Beseitigung der Leere in der Endzeit zeigt sich in der jüdischen Eschatologie oft9 • Aber der Gedanke der Nichtigkeit des Kosmos und einer Erlösung von dieser Leere ist freilich auch in der umliegenden hellenistischen Welt weit verbreitet lO • Auch im hellenischen Judentum schlägt sich daher diese Vorstellung auf vielfältige Art sprachlich nieder. In der hellenistischen Gedankenwelt heißt es, daß diese Leere die Folge der Gefangenschaft der Seele im Körper sei. Sie kann nur dann überwunden werden, wenn die Seele vom Körper befreit ise 1 • Freilich werden auch nach Vers 18 viele Begriffe der apokalyptischen Eschatologie gebraucht. Auch scheinen viele hellenistische Motive eine Rolle zu spielen 12 • Trotz der sprachlichen Ähnlichkeiten ist aber davon auszugeben, daß das Denken des Paulus noch tiefer in der Tradition verwurzelt ist. P. von der Osten-Sacken glaubt, aus Vers 18ff Traditionen herauslesen zu können, die damals im hellenistischen Urchristentum bekannt waren. So habe Paulus einen überlieferten Text als Basis genommen und an manchen Stellen ergänzt. Nach seiner Hypothese sind die Verse 19-23 und 2M aus überlieferten Quellen entnommen, während die Verse 18,24 und 25 von Paulus stammen. Die Situation der Kinder Gottes sei durch die Erwartung des Heils, an der die Schöpfung teilhat, bestimmt, und das Hauptinteresse des Apostels liege darin, diese Erwartung als Hoffnung hervorzuheben 13 • Um seine These zu stützen, weist von der OstenSacken auf die Verwendung von Begriffen hin, die für Paulus untypisch sind, so8 Laut Wischmeyer, 'PEIE (s. Anm. 2), 353 steht Paulus auf der Basis eines apokalyptisch gefärbten hellenistischen Judentums. 9 Vgl. 4 Esr 7,31. 10 Wilckens, Brief (s. Anm. 2), 149ff. 11 In den Schriften Platos sind solche Gedanken stark ausgeprägt; vgl. TH. BOMAN, Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen, Göttingen 51968 (koreanische Übersetzung von Hyuk Heu). 12 Vgl. O. MICHEL, Der Brief an die Römer, KEK 4, Göttingen 14/51974, z. St.; P. ALTHAUS, Der Brief an die Römer, NTD 6, Göttingen 13 1978, z. St. 13 Vgl. P. VON DER OSTEN-SACKEN, Römer 8 als Beispiel paulinischer Soteriologie, FRLANT 112, Göttingen 1975, 78-104.
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wie auf Lücken in der Entwicklung der Gedanken 14 • Aber es ist nicht leicht, aufgrund der von ihm als Belege angefügten Begriffe und Stellen die angeblichen übernommenen Traditionen zu erkennen. Es scheint daher richtiger, den Abschnitt als eine Einheit zu betrachten.
1.3 Der hebrä'ische Bedeutungshintergrund von Kdau; Der Begriff K"CLOLC;, der in den Versen 19-22 mehrmals auftaucht und als Zentrum des Abschnitts 8,18-25 dient, wird seit dem Urchristentum bis heute unterschiedlich verstanden 15 • Dabei zeichnen sich vier Hauptlinien ab. Demnach meint K"ClOLC; erstens die gesamte Schöpfung einschließlich der Menschheit, zweitens die gesamte Schöpfung mit Ausnahme der Christen, drittens die gesamte nichtmenschliche Schöpfung oder viertens die Welt der Menschen und der EngeP6. Es ist sicher, daß die Bedeutung von K"CLOLC; in den Versen 19-21 Christen ausschließt. Gott warf in die sinnlose Leere K"CLOLC;. Ein derartiges Schicksal der Schöpfung scheint nicht aus ihrem eigenen Sinn oder ihrer eigenen Pflicht zu kommen. Es hat offenbar eine geschichtliche Bedeutung!7. Es kann auch nicht als Folge der Sünde Adams verstanden werden 18 • Hier wird die Schöpfung zum Raum der menschlichen Geschichte. In diesem Sinne bedeutet K"CLOLC; die gesamte Schöpfung, die außer den Menschen alle lebendigen Wesen und nicht-belebten Dinge umfaßt. Das heißt, die Schöpfung ist mit der Welt gleichzusetzen als dem Raum, in dem der Mensch existiert. Daher versteht A. Vögtle ~ K"CLOLC; (V 19-21) im Sinne der gesamten Schöpfung außer den Menschen und naoa ~ K"CLOLC; (V 22) als die Schöpfung, in die auch die Menschen einbezogen sind!9. Eine derartige Differenzierung ist keine objektiv sprachliche, sondern eine, die sich aus dem inhaltlichen 14 Ebd., 96. 15 Die Bedeutung von K1LoLt; in Röm 8,19-22 ist sehr unscharf und Gegenstand vieler Auseinandersetzungen; vgl. W. BAUER, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der übrigen urchristlichen Literatur, Berlin 51978, 901f. 16 Zur Geschichte der Diskussion vgl. Wilckens, Brief (s. Anm. 2), 152f und Wischmeyer, 1J'I:II: (s. Anm. 2), 354 (bes. Anm. 8) 17 VgL G. VON RAD, Theologie des Alten Testaments. Band II: Die Theologie der prophetischen Überlieferungen Israels, München 1960, 357-379; Band I: Die Theologie der geschichtlichen Überlieferungen Israels, München 1960, 165.439f. Von Rad betont: "Spricht das Alte Testament von Schöpfung, so sieht es die Welt als ein Gegenüber Gottes; als einen Bereich, der seine eigene Herrlichkeit hat, von der Hymnus und Weisheit nicht genug reden können, aber doch als geschaffen, d.h. vollkommen mühelos vom Schöpferwort ins Dasein gerufen" (11, 360); vgl. auch R. BULTMANN, Das Urchristentum, Zürich / München 41976, 11ff; DERS., Das Befremdliche des christlichen Glaubens, ZThK 55, 1958, 185-200: 197f. 18 V gl. Röm 1,20-25. 19 A. VÖGTLE, Das neue Testament und die Zukunft des Kosmos, Düsseldorf 1970, 185; vgl. DERS., Röm 8,19-22: Eine schöpfungstheologische oder anthropologisch-soteriologische Aussage?, in: Melanges Bibliques. FS B. Rigaux, hg. v. A. Descamps u. A. de Halleux, Gembloux 1970,351366.
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Kontext ergibt. Wird KTLOlC; als Gegenbegriff zu "Mensch" gebraucht, so bedeutet der Begriff die außermenschliche Schöpfung, während er die Menschheit einschließt, wenn er als Gegenbegriff zum Schöpfer verwendet wird. Nach Paulus muß die Schöpfung stets in der Abhängigkeit von der menschlichen Geschichte verstanden werden, wobei der Mensch Teil der Schöpfung ist. Zugleich repräsentiert er aber auch die gesamte Schöpfung und vertritt sie vor Gott. In diesem Sinne hat KTLOlC; dieselbe Bedeutung wie der Kosmos. In der hebräischen Gedankenwelt ist der Kosmos einzig im Verhältnis zum Menschen verstehbar20 • So gesehen steht KTI.OlC; weniger dem Menschen gegenüber. Der Begriff wird hauptsächlich gebraucht, um die gesamte Schöpfung zu bezeichnen, die durch Gott in eine ganz besondere geschichtliche Situation gerät, sowie um die Beziehung der Schöpfung zu Gott zu erklären. Daher existiert der Mensch nicht von der KTI.OlC; getrennt, sondern nur mit ihr. Für Hebräer ist der Mensch kein unabhängiges Wesen als solches, sondern er steht immer im Verhältnis zur KTLOlC;, ist ein Teil von ihr. In der alten hebräischen Gedankenwelt ist die Welt nicht genormt wie die der Griechen, die eine eigene Ordnung hat und von Gesetzen oder der Vernunft regiert wird. Daher gibt es im Hebräischen keinen Begriff, der dem griechischen Kosmos ähnlich ist, sondern nur den der "Gesamtheit" (ko~. Hebräisches Denken erachtete die Welt als etwas, das von Gott bewegt wird, aber nicht als ein eigenständiges Sein, als ein Gegenüber zum Menschen. Weil die Welt sich dem Menschen immer wieder neu und in vielfältiger Form zeigt, konnte sie weder verobjektiviert noch begrifflich geprägt werden. Auch war sie kein natürlicher Organismus, der von selbst sich bewegt wird21 • Daher haben Hebräer die Welt immer personifiziert. Sie unternahmen den Versuch, die Natur - zum Beispiel Bäume, Gräser, Tiere, Berge usw. - mit der geistigen Welt der Menschen zu vergleichen, um eine innere Beziehung der beiden Bereiche zu beschreiben 22 • So wie Gott und die göttliche Welt allein durch Bilder und Analogien aus dem Erfahrungsbereich des Menschen verstanden werden können, kann der Mensch zur Natur erst dann eine Beziehung herstellen, wenn er sie auf die geistige Ebene hebt23 • Daher freute sich die Natur mit, als Israel aus der babylonischen Gefangenschaft zurückkam Ges 55,12f), und aus Freude verwandelte sich die Wüste in einen Garten Ges 44,23; 52,9; 43,20; 42,10f; vgl. Hiob 38,7). Auch Steine konnten aufschreien (Lk 19,40). Das All wurde in dieser Weise verstanden: Es ist als Schöpfung Gottes "innerlich 20 Das griechische Verständnis des Kosmos ist ein anderes als das hebräische. Eine detaillierte Untersuchung hierzu bietet Boman, Denken (s. Anm. 11), 213ff. •. 21 Vgl. Boman, Denken (s. Anm.11), 213ff.237; von Rad, Theologie I (s. Anm. 17; korean. Ubers. v. Hyuk Heu), 159; Theologie II, 360ff. 22 Boman, Denken (s. Anm. 11), 119f. 23 Ebd.
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einheitlich" und in eine bestimmte Richtung gelenkt. Diese Einheitlichkeit der Schöpfung Gottes ist von Gott bewirkt. Die Welt als Natur ist der Herrschaftsbereich Gottes und zugleich der Raum, in dem der Mensch sich bewegt und wo sich sein Schicksal abspielt24 • In diesem Sinne führen die Welt und der Mensch Gottes Pläne aus und sind darin miteinander verbunden. Daher gehört die Natur für Hebräer mit Gottes Geschichte zusammen, und weil die Welt der Bereich ist, in dem der Mensch lebt Ges 45,18), wird dieser mit der Schöpfung geschaffen. Gott hat das ursprüngliche Chaos in einen Ort verwandelt, in dem der Mensch leben kann. Aber die Schöpfungstat Gottes ist nicht punktuell. Sie muß als Geschichte Gottes verstanden werden, der alle Zeiten hindurch wirksam ist und sich in das Geschehen der Welt aktiv einmischt und rettet Ges 45,7). Das Heil des Menschen besteht deshalb darin, der Ordnung der Schöpfung gemäß zu leben. Heißt es bei Plato, der Mensch könne der idealen Welt am nächsten gelangen, wenn er möglichst viel von der ewigen Welt annimmt und es in seiner Welt verwirklicht, so ist es nach der Bibel wohl so, daß der Mensch die ideale Welt dann erreicht, wenn er seinen ursprünglichen Zustand im Raum der Schöpfung wiedergewinnt. Für Paulus bilden die Welt und der Mensch eine Schicksalsgemeinschaft wie in der jüdischen Apokalyptik. Seine Theologie betrifft nicht nur das Schicksal des Menschen, sondern auch das der gesamten Schöpfung. Wie der Mensch hat sich auch die Schöpfung von ihrem ursprünglichen Zustand entfremdet. In der Zeit des Heils wird sie mit dem Menschen zusammen erlöst. Mit anderen W OJ:ten: Der Mensch wird dabei weder von der Weh getrennt noch früher als diese gerettet. Das Heil des Menschen ist keine Isolierung, die ihn von der Weh löst (vgl. 1 Kor 5,10). Heil bedeutet Neuschöpfung des Menschen wie auch der Welt. Wenn Paulus schreibt: "Ist jemand in Christus, so ist er ein neues Geschöpf. Das Alte ist vergangen, siehe es ist neu geworden" (2 Kor 5,17), so verkündet er damit die Neuschöpfung in Christus. Demnach liegt die Bedeutung der Schöpfung nicht einzig in der materiellen Produktion und der physikalischen Erneuerung, sondern sie hat auch soteriologische Relevanz. Denn Paulus bestimmt das Heil als Wiedergewinnung der Ordnung der Schöpfung, und das heißt als Erhaltung der Schöpfung, als Neuschöpfung. So wie die Schöpfung der Frau dem Menschen die Aufgabe auferlegt, eine Gemeinschaft zu bilden, so ist auch die Natur für ein gemeinsames Leben geschaffen. "Neuschöpfung" bedeutet daher, die Beziehung mit Gott zu erneuern und in dieser Beziehung vollkommen zu werden. Erneuert wurde sie durch Jesus Christus; durch ihn hat Gott die Welt erneuert. Schöpfung und Erhaltung im Sinne von Neuschöpfung geschieht nicht in der menschlichen Dimension. Schöpfung zu erhalten, bedeutet Neuschöpfung durch 24
Buhmann, Urchristentum (s. Anm. 17), 11f.
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Gott, der alles stets neu macht. Daher muß Neuschöpfung in der göttlichen Dimension verkündet werden. J ahwe ist der Gott, der das Heil in der Endzeit bringt, und dieses Heil bedeutet Neuschöpfung. Der Mensch, den Gottes Heil in sich schließt, und die Welt stehen nicht einander gegenüber, sondern bilden zusammen eine Gemeinschaft, die das gleiche Schicksal teilt. Die gegenwärtige Situation der Christen im Leiden und die der Schöpfung sind identisch. Beide beklagen die Widersprüche zwischen dem gegenwärtigen Dasein und dessen Ziel und hoffen, daß Gott bald diese Widersprüche beseitigen wird. Aus dem Gesagten folgt: Der Gedanke, daß die gesamte Schöpfung zusammen mit dem Menschen in der Gegenwart des zukünftigen Heils - mit anderen Worten: in der Geschichte Gottes - inbegriffen ist, ist weniger griechischen als vielmehr hebräischen Ursprungs. Das bedeutet, daß KtI.OLC; noch vor der jüdischen Apokalyptik in der althebräischen Gedankenwelt eine zentrale Rolle gespielt hat.
1.4 Die Aktualitclt von Röm 8,18-30 Wie bereits oben dargestellt, verkündet Paulus vom Beginn des Römerbriefes bis Kapitel 7 durchgängig, daß alle Menschen gesündigt haben und nur durch die Gnade Gottes in Christus gerettet werden können. Sowohl Juden als auch Griechen stehen ohne Ausnahme unter dem Zorn Gottes sowie unter seiner Gnade. In 8,18-30 geht Paulus noch einen Schritt weiter und sagt, daß auch die Schöpfung seufzt und gerettet werden kann. Damit erweitert er den Gegenstand des Heils auf die gesamte Schöpfung, die vom Menschen repräsentiert wird, und verkündet damit die Universalität des Heils Gottes. In den anschließenden Versen 30-36 wird der Sieg der Christen verkündet, der daraus folgt. Diese Verkündigung spricht von der Ganzheit, Gründlichkeit und Vollkommenheit des Evangeliums. Die Schöpfung zu retten, bedeutet letztlich, die Ordnung der Schöpfung wiederherzustellen - mit anderen Worten: die Schöpfung zu erhalten. Die Erhaltung der Schöpfung sollte daher nicht als etwas erachtet werden, was der Mensch planen und verwirklichen kann, sondern als Anwort des Menschen auf das Wirken des lebendigen Gottes, der stets alles neu macht. Darum darf an der Verwirklichung des Reiches Gottes nicht nur der Mensch, sondern auch die Schöpfung beteiligt sein. So wird es von Paulus in den Versen 19-22 verkündet: Das Heil Gottes gilt für die ganze Schöpfung, der Mensch wird nicht ohne die Schöpfung gerettet. Dieses Wort des Apostels, der Mensch erfülle zusammen mit der Natur Gottes Plan und werde nicht allein gerettet, sondern mit ihm auch die Schöpfung, gilt bis heute. Für Paulus bedeutet KtI.OLC; sowohl die Menschenwelt als auch die gesamte Schöpfung. Beide haben das gleiche Schicksal und sind ihrem Wesen nach gleich. Damit überschreitet er die Dimension der bloßen Erhaltung der Schöpfung, deren
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Teil der Mensch ist. Der Begriff "Umweltschutz" stammt von der Ideologie des Herrschens, der die Überlegenheit des Menschen zugrunde liegt. Wie kann der Mensch die Natur schützen? Schützen ist eine Tat des Stärkeren dem Schwächeren gegenüber. Wenn die Natur sprechen könnte, würde sie davon reden, daß sie die Menschheit schützen muß. Der Mensch kann nicht von der Natur getrennt werden, und die Rettung des Menschen bedeutet keinen Schnitt und kein Aufgeben der Welt, sondern den Beginn des Heils, das die ganze Welt umfaßt25 • Heil bedeutet darum Wiederherstellung der ursprünglichen Ordnung der Schöpfung. Auch heute seufzt mxau ~ KT(aL~ zusammen mit den Christen und sehnt sich nach umfassender Wiederherstellung26 • 2 Der Friede als die Wirklichkeit des Heils
Paulus spricht in Röm 5,1: "Da wir nun aus Glauben gerecht gesprochen worden sind, haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus." Für den Apostel sind Christen Menschen, mit denen Gott Frieden geschlossen hat. Daher stehen die Glaubenden im Frieden Gottes, und dieser Friede ist die Wirklichkeit des Heils. Wie bereits gesagt, ist die Dimension des Heils ins Kosmische zu erweitern, denn nach den Ausführungen der Kapitel 1 bis 3 befindet sich das gesamte Universum ohne Ausnahme unter der Sünde. Diese kosmische Dimension des Heils wird auch im Begriff des "Friedens" manifest. Im folgenden soll der Begriff des Friedens aus der Perspektive der "Gabe des Heils" untersucht werden. Das Leiden der Schöpfung sollte nicht apokalyptisch betrachtet, sondern im Licht der eschatologischen Vollendung des Heils verstanden werden. Die konkrete Wirklichkeit des Heils ist der Friede. Darum ist Paulus der Meinung, daß das Heil zwar erst in der Zukunft vollendet werden wird, aber bereits eine gegenwärtige Wirklichkeit darstellt. 2.1 Schalom als Wirklichkeit des Friedens im Alten Testament
Woher der Begriff "Friede" (Elp~vTJ) etymologisch stammt, kann nicht genau bestimmt· werden. Im weltlichen Sinne bedeutet er das Gegenteil von Zerstörung durch Krieg und bezeichnet den Zustand der Ordnung und des Gesetzes, der Wohlergehen und Segen bringt. Plato hat den Begriff des Friedens mit anderen BeDas paulinische Verständnis des Begriffes aWlla macht dies noch deutlicher. Auch die Heilungstaten Jesu sollten nicht als menschliches Handeln verstanden werden, das Qualen und Leiden des einzelnen beseitigen will. Heilen selbst bedeutet die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands der Schöpfung. Jesus hat Kranke geheilt, weil Krankheiten nicht mit der endzeitlichen Heilszeit vereinbar sind. Die Heilung der Kranken durch Jesus hat mit der Ankunft des Himmelreiches, d.h. mit der Zurückgewinnung der gesamten Schöpfung zu tun. Daß Jesus sich um kranke Menschen gekümmert hat, war daher keine nur persönliche, menschliche Tat, sondern eine konkrete Vorgabe der Richtung, wie die Ordnung der Schöpfung wieder herzustellen sei. 25
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griffen wie Liebe (q>LAla), Freundschaft, Harmonie, Einheit, Übereinstimmung oder "windstiller Zustand" verbunden. Die Stoiker haben später den Begriff unter anderem als "Wohlergehen der Seele" verstanden27 • Im Alten Testament bedeutet "Schalorn" Friede. Schalom unterstreicht häufig den materiellen Aspekt und wird darum oft verwendet, um Wohlergehen, innere Ruhe, das Wohl und, körperlich gesehen, Unversehrtheit, Gesundheit und Ähnliches auszudrücken. Darum wird der Begriff vor allem herangezogen, um Zufriedenheit ohne Mängel sowie Freude zu bezeichnen. Dabei ist es für das Alte T estament charakteristisch, daß Schalom nicht irgendeinen Zustand beschreibt, sondern vielmehr den Zustand der heilvollen Beziehung zwischen Gott und seinem Volk, zwischen den Völkern oder auch zwischen Menschen. In Ri 6,24 heißt es: "Da baute Gideon dort dem Herrn einen Altar und nannte ihn ,der Herr ist Scha10m"'. Wie man hier sehen kann, ist Schalom Gott selbst und bedeutet Ruhe und Frieden als Gaben Gottes für sein Volk, mit dem er einen Bund geschlossen hat. Friede umfaßt im gesamten Bereich des Lebens alle Gaben Gottes. In diesem Sinne kann Schalom mit Gottes Heil gleichgesetzt werden. Und in Lev 26,5f heißt es: "Dann wird bei euch die Dreschzeit bis zur Weinlese und die Weinlese bis zur Saatzeit reichen, und ihr werdet euch an eurem Brot satt essen und sicher wohnen in eurem Lande. Ich will Frieden schaffen im Lande, und ihr werdet ruhig schlafen, ohne daß euch jemand aufschreckt. Die wilden Tiere im Lande will ich ausrotten, und kein Schwert soll durch euer Land gehen." In dieser Bedeutung bezeichnet Schalom Ruhe und Zufriedenheit im gelobten Land. Der Begriff kann also unterschiedliche Bedeutungen haben wie Wohlergehen (Ri 19,20), Glück (Ps 73,3), körperliche Gesundheit Ges 57,18; Ps 38,4), Zufriedenheit (Gen 26,29; 15,15; Ps 4,9), Versöhnung zwischen Völkern und Menschen (1 Kö 5,26; Ri 4,17; 1 ehr 12,17f), Erlösung Ges 45,7; Jer 29,11). Religiös betrachtet ist Schalom letztlich eng mit der Gabe des Heils verbunden - und von daher auch mit der sozialen und politischen Erwartung Israels sowie mit dem Begriff der Gerechtigkeit: ,,0, daß du auf meine Gebote gemerkt hättest, so würde dein Friede sein wie ein Wasserstrom und deine Gerechtigkeit wie Meereswellen" Ges 48,18); "Güte und Treue sind einander begegnet, Gerechtigkeit und Friede haben sich geküßt" (ps 85,11). Die enge Verknüpfung von Friede und Gerechtigkeit zeigt deutlich, daß Scha10m persönliche Grenzen überschreitet und öffentliche, das heißt soziale und politische Dimensionen hat. Daher hat Schalom nicht bloß eine negierende Bedeutung: das Fehlen von Auseinandersetzung, sondern auch einen positiven Sinn: das Wohl und Heil des Menschen. Demnach ist Schalom das Ziel der Heilsgeschichte. 3 27 Vgl. H.-H. SCHREY, Art. Frieden, RGG 2, 1958, 1133-1135; H. BECK, Art. Frieden, TBLNT 1, 31972, 388-394.
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Aber seit dem Exodus verläuft die Geschichte Israels wie die anderer Völker, nämlich als Kriegsgeschichte. Die Kriege des von Gott erwählten Volkes wurden als "heilige Kriege" verstanden, weil sie im Namen Gottes geführt wurden. Darum erschien Gott in den Ereignissen in der Frühzeit des Alten Testaments wie ein Gott des Krieges, der durch sein Volk Kriege führt. Wie dem auch im einzelnen sei, diese Kriege wurden alle als ein Handeln Gottes verstanden, und die Feinde Israels waren das Objekt des sich darin ereignenden Gerichts Gottes28 • G. von Rad meint, daß dieses Verständnis des heiligen Krieges aus prophetischer Tradition hervorging. In' Deuteronomium wird der heilige Krieg meistens als Konfrontation mit den Göttern der Stämme in Kanaan und deren Ritualen verstanden, und nach der Gefangenschaft Israels wird der Begriff des heiligen Krieges im religiös-ritualen Sinn geprägt. Während der Zeit der Propheten wird ein heiliger Krieg nicht mehr nur zum Schutz der Existenz des Volkes Israel geführt; er ist gleichbedeutend mit Gottes Gericht, das die Völker (zu ihnen gehört auch Israel selbst), die Gottes Recht und Gerechtigkeit nicht anerkennen wollen,' und weltliche Herrscher, die die Herrschaft Gottes ablehnen und die Welt selbst regieren wollen, richten wird. Wir sehen, daß sich das Verständnis Gottes, der einseitig Israel zu bevorzugen schien, während der Zeit der Propheten wandelt und bei J esaja und Micha zu einem Gott der Gerechtigkeit und des Friedens wird. Damit ist das Verständnis des Heils kosmisch erweitert. Der heilige Krieg erhält so die endzeitliche Funktion, die Gerechtigkeit und den Frieden Gottes, des Herrschers der Menschheit, zu schaffen. In Mi 5,4 heißt es: "Dann tritt er auf und weidet sie in der Kraft des Herren, in dem erhabenen Namen des Herrn, seines Gottes, und sie wohnen ruhig; denn nun wird er groß sein bis an die Enden der Erde. Und das wird das Heil sein." Der heilige Krieg war zu der Zeit, als Israel sich in Kanaan niederließ, auf die kriegerischen Auseinandersetzungen mit anderen Stämmen beschränkt. Aber während der Zeit der Propheten wird Gott als ein Gott des Friedens und der Gerechtigkeit verstanden, der seinen Frieden und seine Gerechtigkeit endzeitlich erfüllen wird. Daher ist Gott, der Israel durch Babylonien schlägt, der Gott des Rechts und der Gerechtigkeit, und sein Heil und sein Friede sind, wie Jeremia verkündet, endzeitlich und zukünftig. Dementsprechend ist Gott die Quelle des Friedens. Wenn das Verhältnis zu ihm zerbricht, verschwindet der Friede. So heißt es in Jer 30,5: "Ja, so spricht der Herr: Schreckensgeschrei haben wir vernommen, friedeloses Entsetzen." Und in J er 6,13f steht: "Denn sie alle, vom Kleinsten bis zum Größten, sind auf Gewinn aus, und Betrug üben alle, Priester wie Prophet. Und sie heilen den Schaden mei28 Vgl. G. VON RAD, Der heilige Krieg im alten Israel, Zürich 1951, 14ff.33ff; ders, Theologie II (s. Anm. 17), 164ff.
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nes Volkes leichthin, in dem sie sagen: ,Friede! Friede!' - Doch wo ist Friede?" Mit den Leiden Israels ist die Zeit der falschen Propheten vorbei Ger 6,14), und der Friedensbund mit Gott wird von den Propheten endzeitlich ausgelegt. So sagt Jer 54,10: "Denn die Berge mögen weichen und die Hügel wanken, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen und mein Friedensbund nicht wanken, spricht der Herr, dein Erbarmer." Gottes Gerechtigkeit und Heil sowie seine Herrlichkeit Ges 62, 1f) zeige~ sich in der Endzeit als Zeichen der großen Erwartung. Die sündige Welt und die sündige Schöpfung müssen erneut gerettet und der Himmel und die Erde neu erschaffen werden. Dann ist die Zeit des Heils nah, der Friedefürst, das heißt der Messias, kommt. Daher sind in Ps 85,8-13 Friede und Gerechtigkeit als ein Paar bezeichnet: "Gnade und Treue begegnen einander. Gerechtigkeit und Friede küssen sich" (V 11). Demnach sind das Heil und der F riede Israels nicht allein auf Israel beschränkt. Das Heil Gottes richtet sich auf die gesamte Menschheit, wodurch es eine kosmische Bedeutung erhält. Die Zukunft eines Volkes ist so mit der der gesamten Menschheit verbunden. Daher heißt es in Jes 9,5: "Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst." Der Name "Friede-Fürst" bedeutet demnach: der von Gott Gesalbte Ges 61,1f), Errichter des Friedensreiches oder Beginner. Durch J esus Christus will Gott seine Zukunft bereits in der Gegenwart verwirklichen. Daher ist Christus das Ende und die Vollendung des Gesetzes. Durch den Friede-Fürst wird die Mauer eingerissen, und nicht im Himmel, sondern auf Erden wird Friede geschaffen. 2.2 Der in Jesus Christus eröffnete eschatologische Friede nach dem Neuen Testament
Das Neue T~stament betrachtet das Christusgeschehen als die Erfüllung der Prophezeiung im Alten Testament (Lk 2,14; Mt 5,9; 21,1f). Durch den Tod Christi am Kreuz wurden wir mit Gott versöhnt und hat er Frieden mit uns geschlossen (Röm 5,1; Eph 2,4f; 4,3). Auch sprachwissenschaftlich gesehen steht der Begriff des Friedens im Neuen Testament in Verbindung mit dem im Alten Testament. Im Neuen Testament kommt Friede (EtP~Vll) insgesamt 91 mal vor, wobei es keine Anzeichen für eine Weiterentwicklung innerhalb der neutestamentlichen Verwendung gibt. Der Begriff gehört nicht zu den im Neuen Testament häufig gebrauchten, er begegnet aber in zentralen Kontexten, wie etwa im Zusammenhang mit Liebe, Heil und Ähnlichem - das heißt in bezug auf den göttlichen Heilsplan bzw. auf das Ziel des Evangeliums. Dabei wird Friede, wie schon im Alten Testament, auch als Gegenbegriff zu Krieg (Lk 14,32; Apg 12,20) sowie zur Unordnung innerhalb der Kirche (1 Kor
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14,33: "Denn Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern des Friedens") gebraucht. Auch kann Friede Harmonie oder Eintracht zwischen den Menschen (Apg 7,26; Gal 5,22; Eph 4,3; Jak 3,18) und äußerliche Sicherheit bedeuten. In Mt 10,34 spricht Jesus: "Ihr sollt nicht meinen, daß ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert." Friede bedeutet das Heil durch den Messias (Lk 1,79; 2,14; 19,42), er ist der Inhalt und das Ziel der Verkündigung Christi (Apg 10,36; Eph 2,17). Darum heißt es in Eph 6,14f: "So steht nun fest, umgürtet an euren Lenden mit Wahrheit und angetan mit dem Panzer der Gerechtigkeit, und an den Beinen gestiefelt, bereit, einzutreten für das Evangelium des Friedens." Dieser Friede läßt uns, die wir durch den Tod Christi Frieden mit Gott erlangt haben, das Böse überwinden. Dieser Friede ist heilsgeschichtlich und endzeitlich geprägt und stellt die Beziehung zwischen Menschen und Gott wie auch zwischen den Menschen untereinander wieder her. Diese wiederhergestellte Beziehung verändert die Welt (Lk 10,18; Röm 16,20) und ermöglicht Heil und ewiges Leben (Röm 8,6). Friede ist das Zeichen der Gegenwart Gottes auf der Erde, aber auch das Zeichen des Wartens auf die Vollendung des Heils. Er markiert den Beginn der Heilsgeschichte Gottes. Als Gegenbegriff zur Unordnung bringt Friede Ordnung, und als Begründer dieser Ordnung ist Gott der Gott des Friedens (1 Kor 14,33; Röm 15,33). Christus ist der Friedensstifter, durch sein Kommen beginnt die Zeit des Friedens (Röm 5,1; Lk 2,14; 1,79). Daher ist Christus wie Jahwe im Alten Testament der Friede selbst (Eph 2,14-18). Er gibt seinen Nachfolgern Frieden. So spricht er: "Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht" Goh 14,27). Hier zeigt sich Jesus als der Herr des endzeitlichen und vollkommenen Friedens, der sich vom weltlichen Frieden unterscheidet. Der Friede Gottes bzw. Christi ist damit ein anderer als der weltliche, nämlich ein fremder Friede (pax aliena). Noch einen Schritt weiter geht Jesus in Johannes 16,33: "Das habe ich mit euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden." Der Friede Christi (Kol 3,15) ist ein Geschenk des Vaters und des Sohnes (Röm 1,7; 1 Kor 1,3) und kann nur in der Beziehung mit Christus gegeben und erhalten werden Goh 16,33; Phil 4,7). Die Gaben des Heils und dessen Vollendung sind letztlich Teil des göttlichen Friedens, und Gott wird die Macht Satans, der dem entgegenzuwirken versucht, zerstören (Röm 16,20). Frieden herrscht im Zustand der Gerechtigkeit und des Heils als Gaben Gottes an die Menschen. Frieden als Erlösung des Menschen und der Welt (2 Kor 5,7; GaI6,15) bestimmt die Ordnung der zwischenmenschlichen Beziehung neu. Darum schreibt Paulus in Röm 14,17-19: "Denn das Reich Gottes ist nicht
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Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Frieden und Freude in dem heiligen Geist. Wer darin Christus dient, der ist Gott wohlgefällig und bei den Menschen geachtet. Darum laßt uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander." Von daher sind Nachfolger Christi gerufen, miteinander in Frieden zu leben (Röm 12,18: "Ist es möglich, soviel an euch liegt, so haltet mit allen Menschen Frieden!" [vgl. Mk 9,50]). Die Aufgabe der Christen ist es, im Frieden, und das heißt im Sinne zwische,nmenschlicher Harmonie bzw. einer neuen zwischenmenschlichen Ordnung, eine Gemeinschaft zu bilden. Christen sind gerufen, in dieser Gemeinschaft Frieden zu wahren, und dieser Friede ist gänzlich ein Geschenk Gottes. Dementsprechend bedeutet der Friede Gottes die Ordnung der neuen Welt, die zusammen mit Christus geschaffen wird. Er gehört zum Himmelreich, wird aber hier auf Erden in vorweggenommener Weise erreicht (Lk 2,14: "Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens"). Frieden muß demnach nicht im Himmel, sondern auf Erden aufgerichtet werden. Die Gemeinschaft der Christen ist wie die Quelle, aus der der himmlische Frieden in die Welt strömt. Jesus spricht in seiner Bergpredigt: "Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen. Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihrer ist das Himmelreich" (Mt 5,9f). Die Nachfolger Jesu sind Kinder des Friedens. Als Jesus seine Nachfolger aussandte, sagte er: "Wenn ihr in ein Haus kommt, sprecht zuerst: Friede sei diesem Hause! Und wenn dort ein Kind des Friedens ist, so wird euer Friede auf ihm ruhen; wenn aber nicht, so wird sich euer Friede wieder zu euch wenden" (Luk 10,5f). Alle, die für den Frieden arbeiten, arbeiten für Gott. Jesus selbst ist der Friede, zugleich gibt er seinen Nachfolgern Frieden, und seine Nachfolger verbreiten Frieden in der Welt. Als die Nachfolger ausgesandt wurden, waren sie gänzlich unbewaffnet (Mt 10,9f). Sie hatten weder Schuhe noch Stock, auch durften sie kein Geld haben. Keine Schuhe und keinen Stock zu haben, bedeutete damals die Verweigerung der Selbstverteidigung und die Ablehnung von Gewalt. Es ist Zeichen einer absolut friedlichen Haltung und besagt, daß im Zustand der vollkommenen Widerstandslosigkeit der Friede Gottes endzeitlich verbreitet wird. Der Friede Gottes existiert bereits in dieser Welt. Aber er ist nicht von dieser Weh und widerspricht der Ordnung dieser Welt. Daher ist es mir nicht gestattet zurückzuschlagen, wenn jemand mich schlägt; und daher muß ich bereit sein, dem Bedürftigen nicht bloß meine Oberkleidung, sondern auch meine Unterkleidung zu geben. Die Ethik des Christentums ist kein einfaches Mitleid, das lediglich aus der inneren Anteilnahme kommt, sondern sie folgt einem Befehl, der in dieser Welt konkret ausgeführt werden muß.
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Friedliche Gefühle im psychologischen Sinne zeigen sich in jüdischen Grußformeln und auch am Schluß der Briefe des Paulus, der diese Formeln übernommen hat. Aber Frieden im rein innerlich-seelischen Sinne kann leicht in Selbstzufriedenheit und Selbstgenügsamkeit führen. Nach dem Willen Gottes für den Frieden zu arbeiten, darf nicht in der Erreichung der seelischen Ruhe enden, sondern bedeutet, sich für das Ende aller Ungerechtigkeit und Gewalt in dieser Welt einzusetzen. Für den Frieden zu arbeiten, bedeutet konkret, nach dem Willen Gottes zu handeln. Vom Frieden darf nicht bloß gesprochen werden, er muß auch in die Tat umgesetzt werden. So wie Christus der Friedensstifter zwischen Gott und Mensch ist, ist es die Pflicht der Christen, Frieden zwischen den Menschen zu stiften. Für Christen, die Frieden stiften sollen, kann es daher keine Gewalt "geben, die Frieden zerstört. Frieden kann nicht durch Blut oder Gewalt, sondern nur durch Liebe erreicht werden. J esus wollte nicht auf der Basis einer Idee eine ideale Gesellschaft gründen. Er wollte auf dieser Erde eine Gemeinschaft der Liebe aufbauen und setzte der Gewalt und der weltlichen Macht Versöhnung und Vergebung entgegen. Dies sollte nicht als Widerstandslosigkeit mißverstanden werden. Jesus erwiderte Gewalt nicht mit Gewalt. Keinen Widerstand zu leisten, ist auch eine Möglichkeit des Widerstands, aber er wählte sie nicht. Sein Weg war die Aufopferung. Wenn jemand bittet, zehn Meilen mitzugehen, ist es leicht, dieser Bitte nachzukommen geschweige denn, sie abzulehnen. Wir aber sollen 20 Meilen mitgehen. Jesus sagt nicht, daß wir zurückschlagen sollen, wenn jemand uns auf die rechte Backe schlägt, oder daß wir die Schläge geduldig ertragen sollen. Er sagt, daß wir auch noch unsere linke Backe hinhalten sollen und daß wir sogar unsere Unterkleidung geben sollen, wenn jemand nach unserer Oberkleidung verlangt. Er selbst zeigte uns, was aktive Liebe ist, indem er sich hingab, um die Welt zu versöhnen. Und diese aktive Liebe ist die treibende Kraft, die Frieden schafft. Die Welt, die gesündigt und Gott verlassen hat, gibt Gott nicht auf. Er bestraft sie nicht, sondern begegnet ihr im Gegenteil mit aktiver Liebe, indem er J esus Christus in die Weh schickt. Das Kreuz ist die Verwirklichung dieser aktiven Liebe, der Selbstaufgabe für den anderen und des Friedens. 3 Das biblische Friedenszeugnis als Herausforderung der Kirche
im buddhistischen und koreanischen Kontext "Bevor ich ihren Namen rief, war sie nicht mehr als eine Bewegung. Als ich ihren Namen rief, kam sie zu mir und wurde eine Blume. So wie ich ihren Namen rief, möchte ich, daß jemand, der zu meiner Farbe und meinem Duft paßt, meinen Namen ruft. Ich möchte zu ihm gehen und seine Blume sein. Wir alle möchten
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etwas sein. Ich möchte dir und du möchtest mir eine Bedeutung sein, die unvergeßlich ist." ("Blume" von Tschun-Tschu Kim) So wie ein Bildhauer die Lebenskraft eines Steins befreit, verwandeln uns die Worte eines Dichters, wenn sie uns berühren, in ein anderes Wesen. Anorganische Stoffe werden zum Leben erweckt und bekommen Flügel. Die Unterscheidung zwischen lebenden und toten Dingen verschwindet. Das Wichtige ist hier nicht, wie die Welt ist, sondern wie wir die Welt sehen. Durch alltägliche Dinge des L(,!bens lehrt uns Gott etwas Höheres. Daher ist ein Theologe jemand, der versteckte Bedeutungen des Universums findet, jemand, der in dem riesigen Buch des Schöpfers zwischen den Zeilen lesen kann. Daß Paulus das Leiden der Schöpfung gesehen hat, bedeutet, daß er über den rein menschlichen Bereich hinaus gesehen und sich dem Universum gegenüber geöffnet hat. N ach der Lehre Buddhas liegt die Ursache der Torheit des Menschen in dem Glauben, der Mensch könne ewig sein. Und der Glaube, daß die Erhaltung der eigenen Existenz nur dadurch möglich sei, daß andere besiegt werden, galt in der Industriegesellschaft als Wahrheit. Im Buddhismus bedeutet es eine Verwerfung nicht des weltlichen Lebens und der familiären Behaglichkeit, sondern des persönlichen Besitzrechts auf die Familie, wenn man sie verläßt und sich auf den Weg macht, um Erleuchtung zu erlangen. So verändert sich das persönliche Besitzrecht in ein kosmisches. Das ist die Lehre von der Nichtigkeit. Im buddhistischen Sinne bedeutet Frieden den Zustand der vollkommenen Ruhe (santt) und der absoluten Leidfreiheit (nirvana). Im Zustand der Nichtigkeit ist man frei von allen Begierden; hier gibt es daher keinerlei Konfrontationen. Stattdessen gibt es Mitarbeit und Harmonie, das heißt Frieden. Der Zustand der Nichtigkeit bahnt den Weg zum Frieden. Dies findet man in der Lehre des "mittleren Wegs" (madhyamapratipad). Sie lehrt, frei von Konfrontationen und Streitigkeiten zu sein, indem man diese in Harmonie aufhebt. Sie beruht auf dem Gedanken, daß alle Erscheinungen untereinander in Abhängigkeit stehen und sie darum kein eigenes, unvergängliches Selbst haben. In einem früheren Sutra heißt es, daß dieses nur existiert, weil es jenes gibt - daß dieses nur lebt, weil jenes lebendig ist - daß es jenes nicht gibt, weil dieses nicht mehr existiert - und daß jenes nicht mehr vorhanden ist, weil dieses untergeht. Mit anderen Worten: Zwischen diesem und jenem, zwischen mir und dir gibt es eine Beziehung; alle Erscheinungen existieren in Abhängigkeit voneinander. Es ist eine Solidarität, die in der Selbstidentität begründet ist. In der Welt der Erscheinungen jedoch wird auf das Selbst bestanden, auf das Wir, wodurch Vorurteile und Konfrontationen provoziert werden. Aber alle Erscheinungen gehören zusammen. Daher sind sie als leer zu erachten. Leer bedeutet hier nicht den Zustand der Sinn- oder Inhaltslosigkeit. Die Leerheit, von der hier die Rede ist, zielt auf Umwandlung des persönlichen Besitzrechts in das kosmi-
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sehe. Da alles Sein in Abhängigkeit von bestimmten Bedingungen entsteht, kann man von Leerheit sprechen. Dieses Prinzip kann selbstbezogene Entscheidungen und Vorurteile zerstören, die die Folgen der Torheit des Menschen sind. Die Leere kann nur durch entschiedene Selbstentäußerung verwirklicht werden. Wenn nicht, dann herrschen Vorurteile und Widersprüche. Diejenigen, die diese Leere nicht verwirklicht haben, verstehen den Untergang eines anderen als ihren Sieg29 • Nach der Urgeschichte im Alten Testament war die erste Aufgabe, die Gott dem Menschen gab, die Umwelt zu benennen. So wie Adam eine Beziehung zu seiner Umwelt herstellte, indem er ihr Namen gab, geht es darum, die Existenz zu normieren und so eine Friedens- und Bedeutungsbeziehung herzustellen. Die erste Frage, die Gott an den Menschen richtete, lautet: "Wo bist du?" (Gen 3,9). Der Mensch antwortet diese Frage stets zögerlich und nach Ausreden suchend. Diese Ausrede verrät aber nur die gegenwärtige Lage des Menschen. Die zweite Frage der Urgeschichte lautet: "Wo ist dein Bruder Abel?" (Gen 4,9). Der Mensch entgegnete darauf: "Ich weiß nicht. Bin ich denn meines Bruders Hüter?" (Gen 4,9). Diese zwei Ereignisse stehen am Anfang der Bibel und deuten an, daß der Ruf Gottes den Menschen in die Verpflichtung stellt, zu wissen, wo er gerade steht und daß er für seine Mitmenschen verantwortlich iseo. Diese zwei Fragen des Alten Testaments sind auch uns heute gestellt. Die Kirche steht nun vor dem Auftrag Gottes und vor diesen beiden Fragen. Haben wir für unsere Umwelt Namen gefunden? Haben wir sie nicht bloß als Objekt verstanden? Haben wir sie nicht bloß als Nutzgegenstand erachtet? "Kirche, wo bist du?", und: "Wo sind deine Brüder?" - diesen Fragen wird die Kirche in Korea noch immer nur mit Ausreden entgegnen und sagen, daß es nicht ihre Pflicht sei, sich um ihre Brüder zu kümmern. Als Antwort auf diese Fragen sagt Paulus, "daß ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlaß in meinem Herzen habe. Ich selber wünschte, verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch" (Röm 9,2~. Die Kirche in Korea darf die Trennung des Landes, die nicht nur die Quelle des Leidens des Volkes ist, sondern in der die Sünde der Welt und des Landes konzentriert ist, nicht mehr unbeteiligt betrachten. Der verzweifelte Schrei der Propheten in der Geschichte Israels repräsentierte im Angesicht der Zeichen der jeweili29 Vgl. D. J. KALUPAHANA, Buddist Philosophy. An East-West Center Book, Honolulu 1971; korean. Übers.: Yujin Choi, Introduction to Buddhist Studies, Dongguk University Press, Seoul 1997, 87ff. Es ist wichtig, sich selbst zu finden, aber noch wichtiger ist es, zu erkennen, daß es mich selbst nicht gibt. Denn in der von allen Gedanken freien, sich stets ändernden Zeit ändere ich mich auch unendlich. Ich bin kein unveränderliches Wesen. Wenn ich versuche, mich selbst zu finden und es festzuhalten, beginnen Begierde und Qualen. Erst in der Erkenntnis, daß es ich leer bin, kann die Unterscheidung zwischen mir und dir überwunden werden, und ich kann allen Lebewesen gegenüber barmherzig sein. 30 V gl. E. WÜRTHWEIN / O. MERK, Verantwortung, BiKon, Stuttgart 1982, 18f.
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gen Zeit den Befehl Gottes und sein Handeln. Vor diesem Hintergrund ist das Problem des gesamten Volkes das Problem der Kirche selbst, und das bedeutet wiederum, daß die koreanische Kirche für die Geschichte des koreanischen Volkes verantwortlich ist. Daher muß die Kirche den Prozeß der Wiedervereinigung leiten. Die politisch-wirtschaftlichen Verhandlungen zwischen Nord- und Südkorea sind mit Machtinteressen der beiden Teilstaaten verbunden. Der Kulturaustausch kann zwar helfen, eine wiedervereinte, neue Gesellschaft zu bilden; er kann aber die Ursachen der Trennung nicht beseitigen. Die Kirche, die auf dem Evangelium und im Glauben fußt, ist nicht direkt von politisch-wirtschaftlichen Machinteressen betroffen; sie ist auch von kulturellen Medien unabhängig und kann von daher nur die Position des neutralen Dritten einnehmen und aus dieser Position heraus die Rolle des Versöhners ausüben. Nur die Kirche hat die geistige Grundlage für diese dritte, neutrale Haltung. Es muß gefragt werden, ob heute die koreanische Kirche mit dem Evangelium des Friedens und der Gerechtigkeit die Herrschaft Gottes auf dieser Erde zu verwirklichen trachtet. Die Christen müssen sich im Angesicht der Schmerzen des Volkes von der primitiven Religiosität befreien lassen und als Neuschöpfungen unmenschliche Egoismen von sich stoßen. Nur so kann sie der Zukunft Gottes gegenüber offen sein und andere annehmen.
4 Der Friedensauftrag der Kirche in Korea Als "Friede-Fürst" hat Jesus die Mauer zwischen den Menschen - wie etwa zwischen vorbildlich Religiösen ünd Zöllnern und Prostituierten - niedergerissen. Auch hat er die Mauer zwischen Kranken und Gesunden, Mann und Frau und letztlich auch zwischen Gott und Mensch niedergerissen. Christus hat durch seinen Tod am Kreuz in die friedlose Welt den Frieden Gottes gebracht. Da dieser Friede von Gott kommt, ist er grenzenlos. Jemand, der keinen Frieden hat, kann auch keinen Frieden verwirklichen. Daher heißt es in Gal 3,27f: "Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus." Und in Röm 12,18 betont Paulus: "Ist es möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden." Wie aber können wir Christen den Frieden, der durch Christus möglich wurde, auf dieser Erde und - gehen wir noch einen Schritt weiter - auf der geteilten koreanischen Halbinsel und in der jetzigen Lage, die voller Kriegsgefahren sind, verwirklichen? Die Antwort ist das Kreuz Christi. Das Kreuz Christi bedeutet Aufopferung und das Modell der bedingungslosen Liebe (Agape). So wie es ohne das Kreuz Christi das Heil Gottes nicht gibt, ist Friede ohne Aufopferung und ohne Dienst am Nächsten nicht möglich. Die Selbstverneinung des Kreuzes ist nicht
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bloß Doktrin, sondern die Kraft der Befreiung und der ewig gültige Ruf J esu von Nazareth, der durch Selbstpreisgabe und Selbstaufopferung die Welt befreit. Daher heißt es in Eph 2,14: "Denn er ist unser Friede, der aus beiden eines gemacht hat und den Zaun abgebrochen hat, der dazwischen war, nämlich die Feindschaft." Die Urkirche, in der durch Christus die Mauer zwischen Juden und Heiden zerstört wurde und die als eine neue Gemeinschaft, als die Gemeinschaft Christi ins Leben gerufen wurde, war ein Raum des Friedens, in dem die Endzeit bereits realisiert wurde. Was die Trennung des koreanischen Volkes betrifft, kann die Gemeinschaft Christi, die aus Juden und Heiden besteht, als ein Modell des Friedens dienen; und aus diesem Grund muß die Aufgabe, die aus dieser Trennung folgt, von der Kirche übernommen werden. Es kann nicht sein, nur im Interesse des eigenen Landes zu handeln und nach den Großmächten und deren Gewinnkalkulationen zu schielen. Wie lange will die Kirche nur ihre eigenen Interessen wahren und Leiden und Schmerzen anderer und des Volkes unbeteiligt aus der Ferne betrachten? So lange die koreanische Kirche sich nur auf die Seelsorge und den Glaubenskampf gegen Häresien konzentriert, kann nicht gesagt werden, daß sie am Geschehen Gottes wahrhaftig teilnimmt. Wie soll die koreanische Kirche die Äußerung von J osephus, er habe gehört, wie das Opfergeld in den Tresor im Keller des Tempels in Jerusalem hineingebracht wurde, aber nicht, daß es ihn wieder verließ, in der gegenwärtigen Situation verstehen? Jesus sagte, wir sollen alles verkaufen und den Erlös den Armen geben. Wenn die Kirche sich selbst lediglich als eine Art kulturelle gesellschaftliche Vereinigung betrachtet, wenn sie allein daran interessiert ist, ihre eigene Existenz zu sichern oder Kirchen zu bauen oder zu erweitern, dann hat sie nicht das Recht, von "Aufopferung für den Nächsten" oder dem "Weg des Kreuzes" zu sprechen. Was hat die Kirche ohne Selbstaufopferung Nicht-Gläubigen oder der Gesellschaft gegenüber zu sagen? Ohne die Agape des Kreuzes ist eine Wiedervereinigung nicht möglich. Und selbst wenn eine Wiedervereinigung glücken sollte, sind Friede und harmonisches Zusammenleben nicht möglich. Eph 4,3 mahnt: "Seid darauf bedacht, zu wahren die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens." Wenn Südund Nordkorea durch das wahre Evangelium neugeboren werden, wird das koreanische Volk seine Identität nicht vom Süden oder vom Norden her übernehmen, sondern einen dritten Weg finden. In der Antike glaubte man, daß die Natur, Bäume und Gräser, Tiere, Steine und Berge eine innere Beziehung zu Menschen und Göttern haben. So wie man Gott und die göttliche Welt allein durch Bilder und Analogien aus dem Erfahrungsbereich der Menschen verstehen kann, so kann der Mensch die Natur erst dann berühren und zu ihr eine lebendige Beziehung haben, wenn die Natur auf eine geistige Ebene gehoben wird. Daher heißt es auch im Alten Testament im Blick auf die
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Rückkehr des Volkes aus dem Exil: ,,Ihr sollt in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden. Berge und Hügel sollen vor euch her frohlocken mit Jauch-zen und alle Bäume auf dem Felde in die Hände klatschen" Ges 55,12). Alle Lebewesen spiegeln die Ewigkeit wider. Das heißt, das Universum ist Schöpfung Gottes; es hat eine innere Einheit, eine Solidarität, und diese Solidarität als Schöpfung Gottes ist wiederum ein Spiegelbild des göttlichen Wesens. Entscheidende Ereignisse - auch unglückliche - betreffen die kosmische Einheit und haben kosmische Korrelationen. So gesehen sind der Sündenfall Adams und das Heilsgeschehen in Christus als kosmisch bedeutend zu v~rstehen (Röm 5,12f). Und in dieser Perspektive ist die Trennung eines Volkes eine Trennung der ganzen Welt. Die Trennung eines Volkes symbolisiert die Trennung der Welt, Dissonanzen, Disharmonie und Ungerechtigkeit. Diese Schmerzen eines Volkes sollten wir nicht mit der Logik nach dem Prinzip "Der Stärkere ~iegt über den Schwächeren" abtun. Auch sollten wir nicht einseitig die südliche oder die nördliche Seite verteidigen, sondern versuchen, die Trennung des Volkes als kosmische Trennung der gesamten Schöpfung Gottes zu verstehen. Denn alle Kreaturen sehnen sich danach, daß die Kinder Gottes offenbar werden, und sie leiden mit ihnen. Wir sollten die Tragödie der Trennung, diese Fesseln der Geschichte als Gelegenheit zu einer neuen Geschichte nutzen und danach trachten, als Neuschöpfungen wiedergeboren zu werden. Die Kirche sollte führend sein, die Wunden unseres Volkes zu heilen. Sie sollte für die Neuschöpfung Gottes arbeiten, indem sie durch das Evangelium die Geschichte verändert. Entsprechend dem Bekenntnis des Paulus, daß wir Kinder des Gottes sind, der alles erschaffen hat, und daß darum alle Schöpfung unser ist ("Alles ist euer, ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes" [1 Kor 3,22fj), sollte es unser vorrangiges Ziel sein, als Existenzen wiedergeboren zu werden, die die Grenzen zwischen mir und dir, uns und euch, Mensch und Natur niederreißen und fähig sind, das ganze Universum zu umarmen.
Eduard Lohse APOSTOLISCHE ERMAHNUNG IN RÖM 16,17-20
Der Apostel beendet seinen gedanken reichen Brief an die Christen in Rom mit einem ungewöhnlich umfangreichen SchlußteiP. Darin spricht er zunächst von seinen Plänen und Vorhaben für die nächste Zeit und läßt dann eine lange Grußliste folgen, durch die persönliche Kontakte verstärkt bzw. hergestellt werden sollen 2• Diese Liste endet mit der Versicherung, daß alle Gemeinden Christi - das heißt offensichtlich die Hauskirchen im paulinischen Missionsgebiet - die Christen in Rom grüßen lassen. Dann aber wird von Vers 17 an eine letzte apostolische Ermahnung erteilt. Sie warnt davor, falscher Lehre anheimzufallen und sich auf einschmeichelnde Reden "sogenannter Leute" einzulassen, die doch in Wahrheit betrügerische Verführer sind. Dieser kurze Abschnitt wird mit einem Gnadenwunsch beendet, wie Paulus ihn auch sonst an das Ende seiner Briefe setzt. In den Versen 21-23 werden schließlich in einem kurzen Nachwort noch einige Grüße angefügt, die Mitarbeiter des Paulus nach Rom auf den Weg geben möchten3 • Der unerwartete und abrupte Einsatz in Vers 17, der die Folge der Grüße jäh abreißen läßt und sich einem ganz anderen Thema zuwendet, hat seit langem den Auslegern Schwierigkeiten bereitet. Wie soll dieser erratische Block, der den Fluß der Rede so hart unterbricht, eingeordnet und verstanden werden? Ein letztes Mal spricht der Apostel seine Leser mit ermahnenden Worten an (V 17-20): "Ich ermahne euch aber, Brüder, achtzugeben auf die, die Spaltungen und Ärgernisse anrichten entgegen der Lehre, die ihr gelernt habt, und wendet euch von ihnen ab. I Zur Bewertung der Schlußabschnitte in den paulinischen Briefen vgl. M. MÜLLER, Vom Schluß zum Ganzen. Zur Bedeutung des paulinischen Briefkorpusabschlusses, FRLANT 172, Göttingen 1997. 2 In der älteren Exegese hat vielfach die Hypothese Zustimmung gefunden, Kap. 16 habe ursprünglich nicht zum Römerbrief gehört, sondern sei ein Schreiben, das nach Ephesus gerichtet war und erst sekundär mit Kap. 1-15 zum überkommenen Text von Röm 1-16 verbunden wurde. Mit überzeugenden Argumenten wird jedoch gegenwärtig überwiegend die Annahme vertreten, daß Kap. 16 von Anfang an integraler Teil des Römerbriefs gewesen ist. Aus der Fülle neuerer Untersuchungen seien hervorgehoben: W.-H. OLLROG, Die Abfassungsverhältnisse von Röm 16, in: Kirche. FS G. Bornkamm, Tübingen 1980,221-244; P. LAMPE, Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten, WUNT 2/18, Tübingen 21989; E. LOHSE, Der Römerbrief des Apostels Paulus und die Anfänge der römischen Christenheit, Münster/W. 2003. 3 Dabei lautet das Prädikat der Sätze nicht wie in V 3-16a: "Richtet Grüße aus an ... " (aomioct08E), sondern es heißt wie in V 16b ("Es lassen euch grüßen"): "Es grüßt euch ... " (aomi(EtIXL).
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Denn solche Leute dienen nicht unserem Herrn Christus, sondern ihrem eigenen Bauch, und durch Schönrednerei· und wohlklingende Rede täuschen sie die Herzen der Arglosen. Denn die Kunde von eurem Gehorsam gelangte zu allen. Über euch freue ich mich. Ich will aber, daß ihr weise seid zum Guten, unverdorben dem Bösen gegenüber. Der Gott des Friedens aber wird in Kürze den Satan unter eure Füße zermalmen. Die Gnade unseres Herrn J esus sei mit euch." 1 Spannungen im Text Ohne verknüpfenden Übergang setzt der Apostel in Vers 17 neu ein und hält die Adressaten seines Briefes dazu an, sich von Irrlehrern fernzuhalten, die nur Spaltungen und Ärgernisse hervorrufen. Mit einigen abschätzigen Worten werden diese Leute kurz beschrieben; den Christen in Rom aber wird das gute Zeugnis ausgestellt, daß man allerorten von ihrem zuverlässigen Glaubensgehorsam weiß. Ein Wort verheißender Zusage4 versichert sodann, der Gott des Friedens werde den Satan in Kürze unter die Füße der Glaubenden treten. Der abschließende Gruß nimmt Bezug auf den im Eingang des Briefes ausgesprochenen Gnadenwunsch (vgl. Röm 1,7) und versichert den Lesern, die Gnade des Herrn Jesus werde bei ihnen bleiben ry 20). Späteren Abschreibern ist es verwunderlich erschienen, daß ein so gehaltvolles Schreiben mit einem so knapp gehaltenen Schluß gruß zu Ende geführt sein könnte. Daher setzten manche Handschriften den Gnadenwunsch von Vers 20b als Vers 24 ein, oder aber es wurde die vollklingende Doxologie, die aus liturgischer Tradition genommen wurde, als Verse 25-27 angefügt, um dem Römerbrief einen vermeintlich angemesseneren Abschluß zu verleihen. Die Verse 17-20, denen unsere besondere Aufmerksamkeit gilt, stellen - wie sich bei genauerem Hinsehen alsbald zeigt - keine geschlossene Einheit dar, sondern bieten in kurz gehaltenen Sätzen zuerst eine Warnung vor falschen Lehrern in Vers 17, für die in Vers 18 eine ungemein kurze Begründung gegeben wird. Dann folgt in Vers 19 eine positive Feststellung, die den Lesern bescheinigt, daß ihrem bisherigen Verhalten ein uneingeschränkt gutes Zeugnis gegeben werden kann. In Vers 20 werden schließlich eine verheißungsvolle Zusage sowie der knappe Gnadenwunsch ausgesprochen. So unerwartet, wie diese kurze Satzfolge eingesetzt hat, endet sie dann auch mit dem apostolischen Gruß, dem nicht einmal ein bekräftigendes "Amen" folgt, mit dem alle miteinander sich diese Worte des Apostels hätten zu eigen machen können. Ist in diesen vier Versen wirklich die Stimme des Apostels zu erkennen? Oder könnte es sich ganz oder teilweise um sekundäre Ergänzungen handeln, die schon 4
Als ursprüngliche Lesart hat das Futurum (auvtpL\(IEL), nicht der Optativ (aUVtpL\(Ia.L) zu gelten.
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in früher Zeit im Stil der Pastoralbriefe formuliert und sekundär hinzugetan wurden s? Wird in neuerer Zeit 'von den meisten Interpreten mit Recht an der Annahme festgehalten, das letzte Kapitel des Römerbriefes werde "völlig verständlich als regulärer Schluß des Briefes an die Römer"6, so bleibt das Urteil über die Verse 17-20 unsicher - könnte es doch eine Reihe von Indizien nahelegen, "in diesem Abschnitt eine nachpaulinische Interpolation zu erkennen"7. Abgesehen vom abrupten Einsatz, der keinerlei Überleitung von der vorangehenden Gruß liste bietet (siehe oben), fällt auf, daß sich in diesen wenigen Versen etliche Wörter finden, die sonst in den paulinischen Briefen überhaupt nicht oder aber in anderer Bedeutung gebraucht werden. Hapexlegomena sind: XPTJO't"oAoYLa und üKaKoc;; in Vers 18, &cpLKvE'io8aL in Vers 19 sowie OUVtPLßELV und EV taXEL in Vers 20. Das Wort EUAoyLa (V 18) wird nur hier im Corpus Paulinum in der abschätzigen Bedeutung "Schönrednerei" verwendet; öLxoo't"aoLa (V 17) kehrt nur noch im traditionsbestimmten Lasterkatalog in Gal 5,20 wieder. Und schließlich findet sich das Verbum EKKALVELV bei Paulus nur noch in Röm 3,12 in einem alttestamentlichen Zitat. Nicht nur dieser Wortgebrauch, sondern auch die inhaltliche Argumentation weckt Fragen. Wenn Paulus sich sonst mit Gegnern oder Irrlehrern auseinandersetzt - im Galater- und Philipperbrief sowie in beiden Korintherbriefen -, tut er deren Position nicht mit wenigen Worten ab, sondern führt er Gründe an, die er mithilfe des Rückgriffs auf die heiligen Schriften sowie auf die gemeinchristliche Botschaft des Evangeliums gewinnt. Anders wird in den Pastoralbriefen mit Häretikern umgesprungen, indem man sich nicht mehr die Mühe macht, sie eingehend zu widerlegen, sondern sie mit scharfer Polemik abweist und ihnen unmoralischen Lebenswandel vorwirft, der sie ohnehin als unglaubwürdig erscheinen läßt. Der Hinweis auf die rechte Lehre könnte eher - so scheint es - der Theologie der Pastoralbriefe nahestehen als den authentischen Paulusbriefen. Der plötzliche Wechsel der Tonart, in der die Verse 17-20 reden, läßt sich schwerlich mit der Erwägung hinreichend erklären, Paulus möge dem Schreiber 5 Vgl. J. FrrZMYER, Romans, New York 1993, 745: "The similarity of this paragraph to Phil 3:17-19 makes one think that these verses could have come fram another fragment of Pauline epistolary correspondence"; vgl. auch B. BYRNE, Romans, Collegeville 1996,456: "The case for regarding this warning as deutero-Pauline ... remains strong." Hingewiesen sei auch auf K. P. DONFRIED, The Romans Debate, Peabody 21991, 51, der auf die von J. Knox geäußerten Bedenken Bezug nimmt: "This paragraph (sc. V 17-20), in view of the newness of the subject matter and the abrupt change of tone, raises as serious a question as to the original connection of this chapter with the letter to the Romans as does the preceding paragraph of greetings." Donfried selbst entscheidet sich jedoch mit vollem Recht dahin, "that chapter 16 was an integral part of Paul's original edition of Romans" (52). 6 V gl. Ollrag, Abfassungsverhältnisse (s. Anm. 2), 244. 7 So ebd., 230.
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Tertius "plötzlich die Feder aus der Hand genommen haben, um ein paar eindringliche Worte hinzuzufügen - dann gibt er sie ihm zurück, und fährt (mit V 21) ruhig wie vorher fort, Nachträge zu diktieren"s. So einfach läßt sich die Frage, die den Ort der Verse 17-20 am Ende des Römerbriefes angeht, nicht beantworten. Doch wollen die Beobachtungen, die gegen paulinische Autorschaft geltend gemacht werden, kritischer Prüfung unterzogen werden. 2 Vorgaben der Tradition
Was läßt sich über die Position jener Leute ausmachen, vor deren Lehre und Treiben so nachhaltig gewarnt wird? Begreiflicherweise empfinden die meisten Exegeten eine gewisse Ratlosigkeit gegenüber jenen kurzen Angaben, die in Vers 17f gemacht werden. Man urteilt daher vielfach mit vorsichtiger Zurückhaltung: Die "alte Ansicht, Paulus spiele auf die Beobachtung der Speisegesetze an und verhöhne dort die Judenchristen mit ihrem Gotte Bauch", behalte "die größere Wahrscheinlichkeit"9. "Die Leute, die Streit und oKav6a.Aov (Anstoß) in Rom anstiften", seien "wohl Judaisten, die sich in Rom aufhalten"lo. Es sei "anzunehmen, daß es eben die J udaisten sind, gegen deren Kritik seines Evangeliums Paulus die Gedankenführung des Briefkorpus mit konzipiert hat, um die römische Gemeinde von vornherein gegen mögliche Störversuche von jener Seite zu immunisieren"ll. Der Vermutung, es sei an judaistische Irrlehrer zu denken, wird von anderen Gelehrten die Annahme entgegengestellt, es könnte sich um gnostisierende Lehrer handeln. Die polemische Wendung, der Bauch sei ihr Gott (vgl. PhiI3,18), könne darauf hinweisen, daß an "libertinistische Enthusiasten" zu denken sei 12 • Daß die Versuche, jene Lehrer genauer zu bestimmen, so weit auseinandergehen, ist nicht verwunderlich. Denn offensichtlich hat Paulus sich bewußt mit jenen knappen Andeutungen begnügt, die er in Vers 17f macht. Die wenigen Hinweise lassen sich kaum mit der Überlegung erklären, in Rom hätten zumindest die ehemaligen Mitarbeiter darüber Bescheid gewußt, "was für Leute es sind, die da auf dem Wege nach Rom sind, bevor Paulus selbst dort eintreffen kann" 13. Der Apostel kann sich offensichtlich mit so kurz gehaltener Polemik begnügen, weil er auch sonst gegen Ende seiner Briefe nur mit wenigen Worten noch einmal ab8
Vgl. H. LIETZMANN, An die Römer, HNT 8, Tübingen 41933,127.
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J. BEHM, Art. KOLAlO:, ThWNT 3, 1938, 786-789: 788.
Vgl. E. PETERSON, Der Brief an die Römer, Würzburg 1997, 379. Vgl. U. WILCKENS, Der Brief an die Römer. 3. Teilband: Röm 12-16, EKK 6/3, NeukirchenVluyn u. a. 1982, 144. 12 Vgl. W. SCHMITHALS, Der Römerbrief, Gütersloh 1988, 560f, sowie die ausführliche Darlegung in: DERS., Die Irrlehrer von Röm 16, StTh 13, 1959, 51-69 (= Paulus und die Gnostiker, Hamburg 1965, 159-173). l3 Vgl. Wilckens, Brief (s. Anm. 11), 144. 10
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schließend hervorhebt, auf welche Unterscheidung seine Gemeinden genau zu achten haben. So wird 1 Kor 16,22 eine scharfe Trennung mit den Worten markiert, wer den Herrn nicht lieb habe, der sei "Anathema" - das heißt von der Feier der Eucharistie ausgeschlossen, die nach Verlesung der apostolischen Belehrung gehalten werden solP 4• Und am Ende des Galaterbriefs faßt - wohl mit eigener Hand schreibend - der Apostel noch einmal knapp zusammen, wie sich die Gemeinden gegenüber jenen Lehrern des Gesetzes verhalten sollen, die sich anschikken, sie von der Wahrheit des Evangeliums fortzulocken (Gal 6,11-18). Diesen abschließenden Warnungen folgt stets der Gnadenwunsch, der das letzte Wort des Apostels an seine Adressaten darstellt (vgl. 1 Kor 16,23; Gal 6,18; Röm 16,20 u. ö.). Da die Einladung, untereinander den heiligen Kuß auszutauschen, des öfteren in den letzten Sätzen der Apostelbriefe ausgesprochen wird (Röm 16,16; 1 Kor 16,20; 2 Kor 13,12; 1 Thess 5,26; 1 Petr 5,14), kann aus diesen Hinweisen auf eine vorgegebene Zusammengehörigkeit geschlossen werden, die Apostelbriefe und Feier des Herrenmahls miteinander verbindet. Hat also "die Warnung vor den Irrlehrern und ihren Spaltungen schon in ältester Zeit ihre Beziehung zur Abendmahlsliturgie, so wird man auch dieselbe abrupt auftauchende Warnung Röm 16,17ff in diesen Zusammenhang rücken dürfen"15. Offensichtlich ist die Abfolge der am Ende des Römerbriefs ausgesprochenen Argumentation in stärkerem Maß, als zumeist gesehen, von traditionellen Vorgaben bestimmt. Das gilt zunächst für den Rahmen, in den der Gedankengang eingefügt ist. Die apostolische Ermahnung unterbricht keineswegs die noch nicht zu Ende geführte Grußliste, sondern schließt sich an die Aufforderung an, zum Zeichen der gegenseitigen Vergebung den heiligen Kuß einander zu gewähren 16 . Zugleich leitet sie über zum Gnadenwunsch, mit dem der Apostel seine Briefe stets abzuschließen pflegt. Nicht nur der Rahmen, wie er für den Briefschluß vorgegeben war 17, sondern auch die Terminologie, deren Paulus sich in diesen Sätzen bedient, war zum nicht geringen Teil durch Tradition vorgegeben. Hierdurch erklärt sich sowohl die mehrfache Verwendung von Hapaxlegomena wie auch der deutlich zu erkennende 14 Vgl. G. BORNKAMM, Das Anathema in der urchristlichen Abendmahlsliturgie, in: ders., Das Ende des Gesetzes. Paulus-Studien, BEvTh 16, München 51966, 123-132: 123. 15 Vgl. Bornkamm, Anathema (s. Anm. 14), 129. - Beachtenswert ist zudem die Beobachtung, daß es antiker Rhetorik entsprach, gegen Ende einer Rede bzw. eines Briefes eine "indignatio" zu bringen, die "arouses anger and hostility against the opponent" (vgl. H.-D. BETZ, The Literary Composition and Function of Paul's Letter to the Galatians, NTS 21, 1974/75, 353-379: 357 [= Paulinische Studien. Gesammelte Aufsätze, Bd. 3, Tübingen 1994, 63-97: 68]). 16 Die in V 21-23 angefügten Grüße stellen somit eindeutig einen Nachtrag dar, der als Postscripturn an den abschließenden Gnadenwunsch (V 20b) angehängt wurde. 17 Vgl. Müller, Schluß (s. Anm. 1),217-219.
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Rückgriff auf ausgesprochen juden christliche Überlieferung. Ihr sind sowohl die nachdrückliche Betonung rechter Lehre (V 17)18, wie auch die Gegenüberstellung von "Gut und Böse" (V 19)19 und die Begriffsverbindung "der Gott des Friedens" (V 20)20 zuzuordnen. 3 Paulinische Reduktion in apostolischer Paränese
In welcher Weise hat sich der Apostel vorgegebener Überlieferungen bedient, um die eindringliche kurze Ermahnung, die er an den Schluß seines Briefes setzt, zu formulieren? Er zitiert nicht ein geschlossenes Stück traditioneller Aussage, sondern nimmt einzelne Begriffe und Ausdrücke auf, um die ihm erforderlich erscheinende Abgrenzung zu markieren. Mit der kraftvollen Wendung 7TapaKaAw <SE u~iit;, die er des öfteren an den Anfang besonders wichtiger Aufforderungen setzt (vgl. Röm 12,1; 15,30 u. ö.), leitet er den Abschnitt ein 21 und spricht mit der ausdrücklichen Anrede "Brüder" (vgl. 1,13; 7,1.4; 8,12; 10,1; 11,25; 12,1; 15,14 u. ö.) noch einmal seine Adressaten mit betonter Hinwendung an. Gewichtige Gründe machen eine Trennung von falschen Lehrern, die von außen eindringen und sich einschmeicheln könnten, zwingend erforderlich. Zuerst wird auf Form und Inhalt ihrer Rede hingewiesen, die sich bei erstem Anschein freundlich und annehmbar zeigen mag. Doch wenden sie unredliche Mittel an, indem sie sich wohlkling~nder Rede bedienen22 . Damit aber machen sie nur schöne Worte, denen dann keine entsprechenden Taten folgen 23 • Denn die Folge ihrer Wirksamkeit sind Spaltungen und Ärgernisse, die rechter Auslegung der christlichen Botschaft zuwiderlaufen und die Herzen der Arglosen täuschen. Mit diesen Worten betont der Apostel das entscheidende Kriterium, nach dem zu urteilen ist. Die Lehre, auf die sich Paulus hier bezieht, ist die "fides quae creditur, welche in Gestalt fester Tradition mitgeteilt und empfangen wird"24. Diese 18 Jüdisches Erbe wird daran erkennbar, daß die rechte Lehre ,,,gelernt werden muß" (vgl. auch Phi14,8). 19 Vgl. O. WISCHMEYER, Gut und Böse. Antithetisches Denken im Neuen Testament und bei Jesus Sirach, in: N. Calduch-Benages / J. Vermeylen (Hg.), Treasures of Wisdom. Studies in Ben Sira and the Book of Wisdom, BEThL 143, 1999, 129-136. Mit Recht wird festgestellt: "In den weisheitlichen Schriften finden sich die meisten Belege für den Gut-Böse-Merismus in den Sprüchen, bei Kohälät und in Jesus Sirach" (133). 20 Dieser Ausdruck findet sich bei Paulus wiederholt im Schlußteil seiner Briefe (vgl. Röm 15,33; 2 Kor 13,11; Phil 4,19; 1 Thess 5,23; weitere Belege bei Ollrog, Abfassungsverhältnisse [so Anmo 2], 230). 2\ Vgl. H. SCHLIER, Vom Wesen der apostolischen Ermahnung nach Röm 12,1-2, in: derso, Die Zeit der Kirche, Freiburg 1956,74-89: 75-82. 22 Zu den Begriffen XPTJOt'OAOYLU und EUAOYLU vgl. J. L. NORTH, ,Good Wordes and Faire Speaches' (Rom 16.18 AV): More Materials and a Pauline Pun, NTS 42,1996,600-614, passim. 23 V gl. K. HAACKER, Der Brief des Paulus an die Römer, ThHK 6, Leipzig 1999, 325. 24 V gl. E. KÄSEMANN, An die Römer, HNT 8a, Tübingen 31974, 401.
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Lehre ist im "dJ1To<;; ÖLÖa.Xf)<;; (Röm 6,17) überkommen und weitergegeben worden 2S, so daß die Glaubenden wissen, woran sie sich zu halten und wie sie zu entscheiden haben. Indem Paulus dieses Kriterium so nachdrücklich geltend macht, hebt er noch einmal hervor, wie wichtig es ihm ist, nichts anderes zu verkündigen als die gemeinchristlichen Aussagen des Evangeliums, das er in seiner Theologie und Lehre auslegt. Insofern hat Paulus "in der Tat den Ansatz dazu geliefert, daß die Pastoralen von der ,gesunden Lehre' sprechen können und sich auf sie berufen"26. Wort und Tat stimmen bei den Vertretern falscher Lehre in keiner Weise überein. Der Apostel nennt keine Namen, sondern spricht nur geringschätzig von "jenen Leuten", die zwar vorgeben, wie der Apostel (vgl. Röm 1,1; 12,11; 2 Kor 4,5; Phil 1,1; 2,22 u. ö.) dem Herrn Christus dienen zu wollen. In Wahrheit aber dienen sie nur ihrem eigenen Bauch 27 • Mit jener scharfen negativen Qualifikation nimmt Paulus einen Ausdruck auf, wie man ihn auch sonst in polemischen Auseinandersetzungen dem Gegner entgegenschleuderte, um ihn als moralisch verwerflich zu schmähen 28 . Die Wendung läßt sich gewiß nicht auf die sogenannten Schwachen beziehen, von denen man sich nicht abwenden, sondern denen man sich behutsam zuwenden soll (Röm 14,1-15,13). Die Ausdrucksweise bleibt jedoch in einer gewissen Unbestimmtheit in der Schwebe und läßt sich - im Bedarfsfall - sowohl gegen Judaisten, die ihr Vertrauen auf die Beschneidung setzen, wie auch gegen Libertinisten richten, die sich ausschweifendem Genuß hingeben. Paulus läßt keine weitere Charakterisierung jener Leute folgen, die sich umtriebig unter den Christen in Rom zeigen könnten. Er gibt nur seinen Adressaten in aller Kürze zu bedenken, auf welche Weise sie prüfen und entscheiden sollten, um notwendige Abgrenzungen vorzunehmen und an der rechten Lehre festzuhalten, wie sie sie gelernt haben.
25 Der Hinweis auf den LlJ1TOC; Ölörxxiic; in Röm 6,17 ist nicht als sekundäre Glosse auszuscheiden (so R. BULTMANN, Glossen im Römerbrief, in: ders., Exegetica, Tübingen 1967, 278-284: 283f), zumal sich in der handschriftlichen Überlieferung des Römerbriefs keinerlei Hinweise finden, die auf einen sekundären Eintrag deuten könnten. 26 Vgl. Käsemann, Römer (s. Anm. 24), 401. - G. BORNKAMM, Zur Vorgeschichte des Zweiten Korintherbriefes, in: ders., Glaube und Geschichte H. Gesammelte Aufsätze IV, BEvTh 53, München 1971, 162-194 macht darauf aufmerksam, eine theologisch bedenkliche Richtung werde eingeschlagen, wenn sog. Irrlehrer mit Berufung auf die rechte Lehre kurz abqualifiziert werden: "Der summarischen apokalyptischen Etikettierung der Gegner entspricht ja zugleich eine Verfestigung der Glaubensbotschaft zur reinen Lehre, die zu keiner Auseinandersetzung mit dem Gegner mehr bereit ist" (184). 27 Vgl. K. BERGER, Die impliziten Gegner. Zur Methode des Erschließens von "Gegnern" in neutestamentlichen Texten, in: Kirche. FS G. Bornkamm, Tübingen 1980, 373-400: "moralische Diffamierung" (379). 28 Hellenistische Belege zur Verwendung ähnlicher Ausdrücke in polemischen Auseinandersetzungen in: Neuer Wettstein. Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus, Bd. 2/1, hg. v. G. Strecker u. U. Schnelle, Berlin 1996, 230f.
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Diese Mahnung kann der Apostel mit der zuversichtlichen Feststellung verstärken, daß man allerorten 29 vom guten Zustand der römischen Christenheit zu reden weiß. Wie durch die einleitende Wendung 1TapaKaA.W OE ull&C; 01 17) die Stimme des Apostels zu Gehör gelangt, so nun auch in der betont hervorgehobenen Aussage, Glaube und Gehorsam, Gehorsam und Glaube der Adressaten (vgl. Röm 1,5) seien überall bekannt (vgl. 1,8). Läßt Paulus zu Beginn seines Briefes durch Aufnahme j~denchristlicher Tradition (1,3f) erkennen, daß er um die judenchristlichen Anfänge der römischen Christenheit weiß, so bedient er sich auch am Ende judenchristlicher Überlieferungen, die er mit Wendungen eigener Formulierung versieht. Fügt er den ausdrücklichen Wunsch hinzu, die Christen in Rom möchten "weise sein zum Guten und unverdorben gegenüber dem Bösen", so nimmt er auch mit diesen Worten judenchristliche Tradition auPo. Auf apokalyptische Vorstellungen deutet schließlich die auf die Zukunft gerichtete Verheißung, der Gott des Friedens werde den Satan niederwerfen unter die Füße der Glaubenden)l. Dies ist die einzige Stelle im gesamten Römerbrief, an der der Satan bzw. Teufel überhaupt Erwähnung findee 2• Ist die in Vers 20a ausgesprochene Zusage so gehalten, daß ihr Inhalt Juden und Christen gleicherweise angeht, so gibt der abschließende Gnadenwunsch der genuin christlichen Hoffnung Ausdruck, die die Adressaten und den Apostel zu fester Verbundenheit zusammenschließt. Bedrohung, die von außen kommen könnte welcher Art sie auch sein mag -, und entschiedene Abwehr der von ihr ausgehenden Gefahren lassen Empfänger und Schreiber des Briefes nur um so fester zusammenrücken, indem sie bei der rechten Lehre bleiben und sich nicht auf nutzlose Debatten und Streitereien einlassen)). Die nachdrückliche apostolische Ermahnung zielt darauf, diese Festigkeit zu stärken und mit der zuversichtlichen Versicherung zu versehen: "Die Gnade unseres Herrn J esus möge mit euch sein. ,,)4
Mit ELc; mlV'taC; 0119) sind "alle" gemeint, "die von euch gehört haben". S. o. S. 106 sowie Mt 10,16: "Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben." 31 Vgl. TestLev 18,12: Beliar werde in der kommenden Paradieseszeit gebunden und den Gerechten Gewalt gegeben werden, "auf die bösen Geister zu treten" (vgl. weiter Offb 20,1-10). 32 Zu beachten ist, daß auch Röm 5,12ff, wo vom Eingang die Rede ist, den die Sünde durch Adams Ungehorsam in die Welt fand, die Gestalt des Satans nicht genannt wird. 33 Vgl. Lampe, Christen (s. Anm. 2), 131. 34 Als Prädikat ist EO'tu) bzw. EO'tIXL zu ergänzen. 29
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Die paulinische Theologie ist durch eine eigentümliche Verschränkung von Aussagen über das göttliche Handeln am Menschen und dem damit verbundenen Handeln des Menschen gekennzeichnet. Ist der Christ nach Paulus der Sünde realiter gestorben (Röm 6,1f~, so wird dennoch mit allem Nachdruck die Forderung erhoben, sich der Sünde nicht zu unterstellen (Röm 6,12f~. Gilt nach Ga15,25 für die Christen, das neue Sein im Geist nun auch zu realisieren, ermahnt Paulus in Phil 2,12 die Gemeinde, mit Furcht und Zittern um ihr Heil bemüht zu sein, so stellt Phil 2,13 mit aller Deutlichkeit heraus, daß Gott sowohl das Wollen als auch das Vollbringen bewirkt. Die Korinther kann Paulus auffordern, den alten Sauerteig hinwegzuschaffen, mit der Begründung Ka,8wc; EO'tE &(UIlOL (1 Kor 5,7: "Wie ihr ja auch ungesäuert seid"). Schließlich ist es nach 1 Kor 15,10 und 2 Kor 1,12 die göttliche Xap LC;, die das Leben des Christen gänzlich bestimmt. Schon diese wenigen Belege zeigen die bei Paulus bestehende Spannung zwischen dem heilschaffenden Wirken Gottes am Menschen und einem dem Heilshandeln korrespondierenden menschlichen Tun. Ist diese Spannung als Widerspruch aufzufassen? Ist sie Ausdruck eines Entwicklungsgedankens? Erklärt sie sich aus dem un-· verbundenen Nebeneinander verschiedener Traditionslinien? Liegt ihr eine reflektierte Dialektik zugrunde oder muß ein anderes Erklärungsmodell herangezogen werden, um diese Eigenart des paulinischen Denkens zu erfassen? Der Versuch einer Beantwortung dieser Fragen erfolgt in vier Schritten: Erstens soll das bis heute dominierende Indikativ-Imperativ-Modell forschungsgeschichtlich erfaßt werden, um es dann zweitens auf seine Leistungsfähigkeit zu überprüfen und drittens in ein neues Erklärungsmodell zu überführen, das viertens seinerseits in den Gestaltungsfeldern paulinischer Ethik erprobt werden soll.
1 Das Indikativ-Imperativ-Modell in der Forschung Noch im 19. Jahrhundert wurde die Indikativ-Imperativ-Thematik vornehmlich im Rahmen des orthodoxen ordo-salutis-Schemas behandelt': Der Indikativ gilt als I Die Forschungsgeschichte wurde bisher nicht umfassend aufgearbeitet; für ältere Entwürfe vgl. H.-M. SCHENKE, Das Verhältnis von Indikativ und Imperativ bei Paulus, Diss. Berlin 1956. Über
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durch die Taufe begründete prinzipielle Erneuerung des ethischen Lebens, der Imperativ als Verpflichtung, sich in den Dienst Gottes zu stellen und die Befreiung von der Sünde im ethischen Leben zu bewähren. Zugrunde liegt dieser unter anderen von Hermann Jacoby 2 vertretenen Konzeption ein Entwicklungsgedanke, dessen Ziel Heiligkeit und ewiges Leben ist. Wirklich überwunden wurde dieses Modell erst im Gefolge der 1872 vom Kieler Privatdozenten Hermann Lüdemann (1842-1933) veröffentlichten Studie "Die Anthropologie des Apostels Paulus und ihre Stellung innerhalb seiner Heilslehre". Lüdemann geht von der exegetischen Beobachtung aus, daß bei Paulus der zentrale Begriff der o&p~ in zweifacher Weise verwendet wird. Einmal bezeichnet o&p~ die Materie des Leibes als Sitz der Sünde, in einem umfassenderen Sinn aber auch den ganzen Menschen in seiner Leiblichkeit. Während die eine Auffassung von o&p~ dem hellenistischen Bereich zuzurechnen ist, verdankt sich die andere jüdischem Denken. Die paulinische Anthropologie ist deshalb weder rein hellenistisch noch umfassend jüdisch, sondern das "Resultat hellenistischer Einwirkung auf ein ursprünglich jüdisches Bewußtsein. ,,3 Dieses Nebeneinander von jüdischen und hellenistischen Anschauungen versucht Lüdemann im Hinblick auf die Gesamtheit der paulinischen Anthropologie und Theologie zu erklären, wobei ihm der Aufbau des Römerbriefes die exegetische Begründung liefert. In den ersten vier Kapiteln des Römerbriefes dominieren die mit der Rechtfertigungslehre verbundenen Anschauungen, wonach der Glaubende durch die Gerechtigkeit Gottes gerecht gesprochen wird. Die ÖI.KCXLWOI.<; ist ein reiner actus forensis, "ohne irgendwelche objektiv-reale Veränderung im Menschenwesen zu bewirken"4. Diese jüdischen Vorstellungen verlieren immer mehr an Bedeutung, je weiter wir in den Römerbrief vordringen. Eine andere Darstellungsweise drängt in den Vordergrund, wobei Röm 5 den Übergang von der einen zur anderen Anschauung markiert. "Hier, mit dem TIVEll\lCX haben wir eine objective Potenz der ÖI.KCXI.OO\JVll und des ayw.o\lOC;; im Menschen, und das Gebiet der bloß ideellen Imputation ist verlassen. ,,5 Offenkundig dominiert nun in Röm 6 der Gedanke einer realen Erlösung. Die jüdische Vorstellung einer ideellen ÖI.KCXI.OOUVll EK TIL01'EWC;; wurde abgestreift. Paulus spricht von der realen Gerechtigkeit des Menschen durch Taufe und Geistverleihung. Wir finden somit bei Paulus eine doppel-
die neuere Entwicklung informiert eine bei O. Merk angefertigte Dissertation: H.-K. CHANG, Neuere Entwürfe zur Ethik des Neuen Testaments im deutschsprachigen Raum, Diss. Erlangen 1995; vgl. ferner DERS., The Ethics of the New Testament, Seoul2002 (auf Koreanisch); zur neueren Diskussion vgl. F. W. HORN, Ethik des Neuen Testaments, ThR 60, 1995,32-86. 2 Vgl. H. ]ACOBY, Neutestamentliche Ethik, Känigsberg 1899, 300ff. 3 H. LÜDEMANN, Die Anthropologie des Apostels Paulus und ihre Stellung innerhalb seiner Heilslehre, Kiel 1872, 49. 4 Ebd., 161. 5 Ebd., 162.
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te Erlösungslehre: einerseits die jüdischen Gedankenkreisen entlehnte Vorstellung einer forensischen Gerechtsprechung, andererseits die in der Taufe vollzogene reale ,Rechtbeschaffenheit' des Erlösten. "Diese beiden Gedankenreihen müssen wir bezeichnen als eine religiöse oder subjectiv-ideelle, und als eine ethische oder objectiv-reale. Und so finden wir dann auf der einen Seite Freiheit, Verantwortlichkeit' Zurechnung, Straffälligkeit, Entstehung der Sünde im freien Subject selbst, objective Schuld und subjectives Schuldbewußtsein als Keimpunkt der ganzen Entwickelung - auf der andern Seite strenggeschlossenen Causalzusammenhang, Naturnotwendigkeit der Sünde, Entstehung der letzteren nicht sowohl im als am Subject, ohne sein Wissen und Wollen. «6 Die durch H. Lüdemann aufgeworfenen Probleme beeinflußten maßgeblich die Verhältnis bestimmung von Indikativ und Imperativ in der Paulusforschung, denn er rückte die Vorstellung von zwei in Spannung zueinander stehenden Anschauungskreisen bei Paulus in den Vordergrund. Von diesem Denkmodell sind die bis heute einflußreichen Beiträge von Paul Wernie (1872-1939) und Hans Windisch (1881-1935) wesentlich bestimmt, die einen Widerspruch zwischen Indikativ und Imperativ bei Paulus konstatieren. Wernie formuliert den Widerspruch folgendermaßen: "Es kommt schließlich darauf an, daß der Christ der Sünde nicht die Herrschaft geben soll, denn er soll ihren Begierden den Gehorsam verweigern. Allein das ist eine nachträgliche Ergänzung der Theorie, welche durch den Blick in die Gemeinden gefordert wurde. Die Theorie selbst ist aufgestellt wie ein Naturgesetz vor aller Befragung der Erfahrung. üb der Christ auch thatsächlich nicht mehr sündigt - in Thessalonich, Corinth, Galatien, Rom - das kümmert den Paulus gar nicht. «7 In ähnlicher Weise konstatiert Windisch: "Paulus stellt, verschiedenen Einflüssen der Erfahrung und der Praxis folgend, eigentlich Unvereinbares zusammen. Von der mysteriös gewirkten Entsündigung, von dem mystischen Leben mit Christus, das den Menschen für die Reize der Sünde unempfänglich und stumpf gemacht hat, zu der Verpflichtung, den sündigen Begierden den Gehorsam aufzusagen, ist für das logische und psychologische Denken ein gangbarer Weg nicht vorhanden. «8 Danach findet sich beim Apostel als Folge des Damaskuserlebnisses9 vor allem in Röm 6,1-7,6 eine radikale Entsündigungslehre, bei der der Indikativ als reale Entsündigung zu verstehen ist und der Imperativ dazu nur in einem historisch oder psychologisch zu erklärenden Widerspruch steht. Als Getaufte sind die Christen der Sünde entho-
Ebd., 171. P. WERNLE, Der Christ und die Sünde bei Paulus, Freiburg u. a. 1897,104. 8 H. WINDISCH, Taufe und Sünde im ältesten Christentum bis auf Origenes, Tübingen 1908, 124. 9 Wernle, Christ, 21 interpretiert das Damaskuserlebnis Pauli als totalen Bruch des Apostels mit der Sünde. 6
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ben, leben sie schon im alwv I-LEAAWV, sind sie bereits der alten Welt entrückt. Unter diesen Voraussetzungen kann sich das Problem des Sündigens eigentlich gar nicht mehr stellen, und so kommt es in Röm 6 nur auf, um mit I-L~ YEVOL 't'O niedergeschlagen zu werden. Der Imperativ stellt lediglich eine nachträgliche Ergänzung der Sündlosigkeitstheorie dar, die Paulus im Blick auf die Gemeindesituation vornahm lO • Der durch Rudolf Bultmann repräsentierte Lösungsversuch knüpft unmittelbar an die Argumentation von Wernle und Windisch an, will aber die von jenen herausgestellte Antinomie als eine echte Antinomie verstehen, "d. h. um sich widersprechende und gleichwohl zusammengehörige Aussagen, die aus einem einheitlichen Sachverhalt herauswachsen, die also sachlich zusammengehören" 11. Buhmann versteht den Indikativ als das Sündlos-Sein de~ vor Gott gerechtfertigten Menschen. "Für Paulus ist die Rechtfertigung die Befreiung von der Sünde, das jenseitige Heilsgut. Diese Jenseitigkeit ist weder die der Idee wie in der Stoa, ilOch die der Übernatur wie in der hellenistischen Mystik, sondern sie hat den Charakter des Geschehens, des Sich-Ereignens, sie ist begründet durch Gottes Tat, sie besteht in Gottes Urteil. Das entspricht der Tatsache, daß Gott für Paulus nicht eine metaphysische Wesenheit ist, die durch ihre Eigenschaften beschrieben werden kann, wie etwa als w<;, (w~, a8apol.a u. dgl. in der hellenistischen Sphäre; vielmehr ist Gott der tätige Wille. Wenn Paulus Gottes XaPL<; verkündet, so verkündet er nicht eine bisher nicht erkannte oder nicht gewürdigte Eigenschaft Gottes, also nicht einen neuen, gereinigten Gottesbegriff, sondern er redet von einer neuen Heilstat Gottes. Damit ist gesagt, daß für Paulus der Gedanke des Jenseits be-
10 Als weitere Vertreter dieses Lösungsversuches sind zu nennen: H. J. HOLTZMANN, Lehrbuch der Neutestamentlichen Theologie II, Tübingen 21911, 164 ("himmelstürmender Idealismus").169 ("Hiatus zwischen Theorie und Wirklichkeit"); A. JÜLICHER, Der Brief an die Römer, SNT 2, Göttingen 31917, 263f; W. BOUSSET, Kyrios Christos, Göttingen 61967, 118ff; H. LIETZMANN, An die Römer, HNT 8, Tübingen 51971, 66f; H. WEINEL, Biblische Theologie des Neuen Testaments, GThW 3/2, Tübingen 41928, 257. In der neue ren Exegese wird der Ansatz von Wernle und Windisch wieder aufgenommen von H. UMBACH, In Christus getauft - von der Sünde befreit. Die Gemeinde als sündenfreier Raum bei Paulus, FRLANT 181, Göttingen 1999, wonach Paulus zwischen der Sünde als Macht und sittlichem Fehlverhalten unterscheidet. Nach paulinischem Verständnis sind Christen nach der Taufe ein für allemal der Macht der Sünde abgestorben. Durch die Taufe wurden sie dem Christusbereich zugeordnet, so daß die christliche Gemeinde grundsätzlich als sündenfreier Raum zu verstehen ist. Freiheit von der Sünde ist weit mehr als Abwesenheit von Fehlverhalten, denn der getaufte Christ gehört nun dem Machtbereich der O:IJ.IlP'd.1l nicht mehr an. Die Sünde bezeichnet eine Macht, die für die Christen EV XPLOtQ nur noch eine Größe der Vergangenheit darstel~t. Die paulinischen Imperative stellen den von Gott gewährten Heilsstand nicht infrage, sondern sie beziehen sich auf mögliche Verfehlungen von Christen. Paulus bezeichnet dieses Fehlverhalten aber an keiner Stelle mit dem Singular O:lJ.llptLIl im Sinne eines Machtbereiches. 11 R. BULTMANN, Das Problem der Ethik bei Paulus, in: ders., Exegetica, hg. v. E. Dinkler, Tübingen 1967 (= 1924),36-54: 36.
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stimmt ist durch die Beziehung auf den einzelnen konkreten Menschen. ,,12 Der Indikativ wird also nicht als naturhafte, sondern als geschichtliche Größe verstanden, und es gilt, die im Christusgeschehen begründete Befreiung von der Sünde in der Welt zu bewähren. Eben davon spricht der Imperativ. Indikativ und Imperativ stehen in einem sinnvollen Verhältnis, insofern die Befreiung von der Sündenrnacht die Freiheit zur Heiligung begründet, beinhaltet und fordert. Für den Glaubenden gilt nun: "Wie also die im Imperativ sich aussprechende sittliche Forderung für ihn Gottes Gebot ist, so ist die der Forderung entsprechende Haltung des Gehorsams zugleich Gabe Gottes, gewirkt durch das lTVEU~.UX, ohne daß die Forderung ihren imperativischen Charakter verliert. Die Paradoxie ist also für den Glauben voll verständlich: EL (WIlEV lTvEUllan, lTVEUllan KaI. OTOLXWIlEV.,,13 Gegen den Versuch von Bultmann, die sachliche Einheit von Indikativ und Imperativ in einem jenseitigen Akt Gottes begründet zu sehen, wonach Gott sowohl die neue Seinsweise als auch deren Erhaltung ermöglicht und schenkt, erhob H. Windisch postwendend Einspruch. Er macht geltend, daß sich für Paulus das neue Sein "auch im Wahrnehmbaren vollzieht"14. Die von Paulus postulierte Veränderung kann nicht nur in einem jenseitigen Urteil Gottes bestehen, zumal unsittliches Handeln das Heil gefährden kann 15 . Paulus bemüht sich zwar, den Imperativ an die grundlegende Gottestat anzuschließen, "zu vollem organischen Anschluß kommt es bei ihm nicht"16. Windisch ist darin zuzustimmen, daß bei Buhmann das Problem der nicht nur postulierten, sondern auch wahrnehmbaren Kontinuität zwisc~en dem alten und neuen Menschen nicht befriedigend gelöst ist l7 • Radikal in den Horizont der paulinischen Eschatologie stellt Ernst Käsemann das Verhältnis von Indikativ und Imperativ l8 • Gegen eine anthropologische Engführung R. Bultmanns will er "Anthropologie als konkretisierte Kosmologie"19 verstehen und macht geltend, daß in der paulinischen Theologie Gabe und Geber 12 Ebd., 48. Ebd., 53f. 14 H. WINDISCH, Das Problem des neutestamentlichen Imperativs, ZNW 23, 1924,265-281: 272. 15 VgL ebd., 273. 16 Ebd., 281; vgl. ferner ebd., 271: "Hier liegt die Problematik des paulinischen Imperativs deutlich zutage. Er ist an einen Indikativ angehängt und hat doch denselben Inhalt wie dieser: ihr seid neu geworden - also erneuert euch nun; ihr seid von der Sünde losgemacht, also macht euch nun von ihr los; euer sündiger Leib ist getötet - also kündigt der Sünde den Dienst ... ". 17 Wenn ich recht sehe, entwickelte R. BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, hg. v. O. Merk, Tübingen 71977, 332ff unter dem Eindruck der Anfragen Windischs seine Position insofern weiter, als er nun nicht mehr von einer echten .Antinomie' spricht, sondern die Einheit von Indikativ und Imperativ betont und als Fazit feststellt: "Der Indikativ begründet den Imperativ" (335). 18 Vgl. E. KÄSEMANN, An die Römer, HNT 8a, Tübingen 31974, 164ff. 19 E. KÄSEMANN, Zur paulinischen Anthropologie, in: ders., Paulinische Perspektiven, Tübingen 21972, 9-60: 56; vgl. ebd., 52: "Anthropologie ist auch im Bereich des Glaubens Kosmologie in concreto." I)
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nicht zu trennen sind, vielmehr "die Gabe der Geber selbst ist"20 und somit der Imperativ voll in den Indikativ integriert ist, sofern der Herr nur für den Dienenden Herr ist. Der Mensch ist kein Wesen, das sich aus sich selbst heraus bestimmen kann, sondern "sein Heil oder Unheil liegt in seinem jeweiligen Herrn "21. Weil Paulus die Sünde als ,Macht' auffaßt, die auch nach der Taufe den Christen bedroht, kann sie nur dadurch überwunden werden, daß Jesus Christus der Kyrios bleibt, als der er sich im Herrschaftswechsel der Taufe erwiesen hat. Somit ist paulinische Ethik zuallererst die Bekundung der Herrschaft des Erhöhten und insofern ein Teil der paulinischen Eschatologie22 • Für das neue Sein und Handeln des Getauften gilt: "Sein Leben wird wie das seines Herrn Dienst in der Stellvertretung für alle gefallene, pervertierte, unterjochte Kreatur. ,,23 Dieser Lösungsversuch ist gekennzeichnet durch eine dynamische Gehorsamsethik, die aus der kqnsequenten Übertragung apokalyptischer Denkstrukturen auf das Gebiet der Ethik resultiert. Daf\lit setzt Käsemann gegenüber Bultmann eigene Akzente, verbleibt aber im Indikativ-Imperativ-Schema. In der neueren Exegese orientiert man sich weiterhin am Indikativ-ImperativModelF\ zugleich mehren sich aber auch die Zweifel. Obwohl Wolfgang Schrage grundsätzlich an diesem Modell festhält, setzt er die Begriffe ,Indikativ' und ,Imperativ' in Anführungszeichen und formuliert zur Grundlegung der paulinischen Ethik: "Es hat sich eingebürgert, das Verhältnis von Soteriologie und Ethik unter den Stichworten Indikativ und Imperativ abzuhandeln. Das ist trotz der nicht unproblematischen Formalisierung so lange möglich, als das nicht als Indiz einer auswechselbaren Begründung und einer inhaltslosen Formalethik gewertet wird, sondern als Kurzformel für gefüllte Heilszusagen und substantiierte Handlungs20 Käsemann, Römer (s. Anm. 18), 167. 21 Käsemann, Anthropologie (s. Anm.19), 55. 22 Die eschatologische Dimension paulinischer Ethik betonen auch sehr stark V. P. FURNISH, Theology and Ethics in Paul, Nashville 1968, 214ff; G. EICHHOLZ, Die Theologie des Paulus im Umriß, Neukirchen-Vluyn 21977,276. Erwähnt sei auch die von Schenke, Verhältnis, 109ff durchgeführte Verhältnisbestimmung. Als Ausgangspunkt für seine Lösung dient Schenke die Feststellung, daß die Imperative die Möglichkeit des Sündigens und die Wirklichkeit der Sünde voraussetzen. Für den Christen gilt nun, daß er noch in der Sarx lebt, freilich nicht mehr als Sklave der Sarx. Als Mensch in Christus ist er sündlos, als Mensch im Fleisch ist er der Sünde ausgesetzt. Beide Aussagen gelten zugleich: Der Christ ist sowohl in Christus als auch im Fleisch. Entscheidend ist nun aber, daß für den Christen das Sein im Fleisch vom Sein in Christus her bestimmt wird. Somit ist der Indikativ nicht nur Grund, sondern auch Norm des Imperativs. 23 Käsemann, Anthropologie (s. Anm.19), 58. 24 Mit dem Modell lndikativ - Imperativ' arbeiten in der neueren Exegese u. a. R. SCHNACKENBURG, Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments, Bd. 2, HThK.S 2/2, Freiburg 1988, 26--35; O. MERK, Handeln aus Glauben, MThSt 5, Marburg 1968, 91u. ö.; P. STUHLMACHER, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1, Göttingen 1992, 374f; G. STRECKER, Theologie des Neuen Testaments, hg. v. F. W. Horn, Berlin 1996,206--208; J. D. G. DUNN, Theology of Paul the Apostle, Grand Rapids 1998,625-631; F. W. HORN, Art. Ethik, RGG 42, Tübingen 1999, 1608f.
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anweisungen."25 Auch Hans Weder stellt fundamentale Fragen an das IndikativImperativ-Modell: "Kann man wirklich von jeder Gabe sagen, sie sei als Aufgabe wahrzunehmen? Vor welche Aufgabe stellt mich das gnädig Gegebene, das doch wesentlich bedingungslos ist? Kann man vom Indikativ, welcher das Handeln Gottes bezeichnet, wirklich sagen, er sei nicht existent, wenn dem in ihm begegnenden Imperativ nicht entsprochen wird? Wird das gegebene Leben dadurch inexistent, daß ein Mensch gegen den Anspruch verstößt, der mit dem Leben gegeben ist? ... Wenn es richtig ist, daß der Indikativ das Handeln Gottes, sein Schaffen und Geben, bezeichnet, dann spricht dieser Indikativ doch das unverfügbare Sein des Menschen aus, im Unterschied zur Ethik, welche zu einem entsprechenden Tun oder Verhalten des Menschen auffordert. Ist es richtig, den Imperativ auf das Handeln des Menschen zu konzentrieren, obwohl sehr viele Imperative bei Paulus gar nicht das Handeln, sondern vielmehr das Sein des Menschen im Blick haben? So sehr der Imperativ auch mit der Ethik zu tun hat, so sehr umfaßt er mehr als das, indem er zu einem bestimmten Sein auffordert. Was ist der Zusammenhang von Indikativ und Imperativ, von Soteriologie und Ethik?"26 H. Weder versucht diese Fragen zu beantworten, indem er die klassische Asymmetrie zwischen Indikativ und Imperativ auflöst, wonach der Indikativ seine Wirklichkeit schon immer vor dem Menschen hat, während der Imperativ seine eigene Wirklichkeit erst durch das Handeln des Menschen erhält. Stattdessen werden Indikativ und Imperativ aufs engste miteinander verbunden und gleichermaßen der Wirklichkeit der Gnade zugewiesen. "Die Gnade hat, als Indikativ, ihre eigene Wirklichkeit. Sie wirkt darin, daß sie das Leben des Menschen wahr macht. Das Gesetz betrifft, als Imperativ, das Tun des Menschen; und das Gebotene gewinnt gen au dadurch Wirklichkeit, daß es getan wird. Und das Tun kann keine andere Gestalt haben als das, wovon es selbst lebt: Es kann, weil es auf dem Boden der kreativen Zuwendung lebt, nichts anderes als Zuwendung sein. Und dieses Tun existiert nicht, es sei denn aufgrund der Lebens-Erfahrung des gnädig Gewährten. ,,27 Am nachhaltigsten löst sich Knut Backhaus in der neuesten exegetischen Diskussion vom Indikativ-Imperativ-Schema. Er macht zunächst geltend, daß Paulus das häufig unterstellte Modell einer Ableitung des Imperativs aus dem Indikativ an keiner Stelle erörtert28 und eine starre Zuordnung von Indikativ und Imperativ in
W. SCHRAGE, Ethik des Neuen Testaments, GNT 4, Gättingen 21989, 170. H. WEDER, Gesetz und Gnade. Zur Lebensgrundlage des ethischen Handelns nach dem Neuen Testament, in: K. Wengst / G. Sass (Hg.), Ja und Nein. Christliche Theologie im Angesicht Israels. FS W. Schrage, Neukirchen-Vluyn 1998, 171-182: 172f. 27 Ebd., 182. 28 Vgl. K. BACKHAUS, Evangelium als Lebensraum. Christologie und Ethik bei Paulus, in: U. Schnelle I Th. Sä ding I M. Labahn (Hg.), Paulinische Christologie. FS H. Hübner, Gättingen 2000, 25
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keiner Weise der umstürzenden neuen Lebenswirklichkeit des Apostels entspricht. "Tatsächlich aber hat der Apostel Christus entdeckt, der ihm mehr wurde als theologische Grammatik. Das Verhältnis von Christologie und Ethik läßt sich daher nicht primär im Indikativ und Imperativ konjugieren; das Haupt-Wort steht im ,Lokativ' und lautet Christus. Paulus setzt das Ineinanderfallen von Indikativ und Imperativerklärungslos voraus... Die Begnadung des Sünders ist nicht zuerst Gabe, um dann Aufgabe zu werden; sie ist im Lebensvollzug, in dem Prozeß von gegenseitiger Zuwendung und Austausch zwischen Kyrios und Glaubendem beides zugleich und nicht einmal logisch aufZulösen: wer aus der Gnade lebt, lebt aus der Gnade."29 Nicht die Frage nach dem Können und Sollen steht im Mittelpunkt paulinischer Ethik, sondern die Gewißheit der Gegenwart der Proexistenz Jesu Christi. "Das Beziehungsfeld von Christologie und Ethik erweist sich vielmehr'von Paulus unter den Anspruch eschatologischer Neuheit gestellt - als Funktion einer dreifachen Handlungsweise Christi am Gerechtfertigten: 1. Er stiftet die neue, pneumatische Existenzweise des ,inneren Menschen'. 2. Er setzt sich zum neuen Bezugspunkt des sittlichen Handelns, das sich ,in ihm' bestimmt und vollzieht. 3. Er disponiert auf solche Weise nicht Normen und Pflichten, wohl aber erneuert er ,Sinnen und Trachten', so daß die innere ,Stimmigkeit' des Glaubenden in dessen ,Wandel' wahrnehmbar wird. Ethik, christologisch betrachtet, wird zur Umgangsform des Glaubens."3o
2 Die Defizite des indikativ-imperativ-Modells Die Forschungsgeschichte läßt erkennen, daß die Plausibilität des IndikativImperativ-Modells nachläßt und andere Erklärungsmodelle für das Verhältnis von Christologie und Ethik bei Paulus immer mehr in den Vordergrund treten. Zweifellos hat das Indikativ-Imperativ-Modell seine Stärken, die vor allem auf zwei Ebe-nen liegen: 1. Das Handeln Gottes am Menschen und das Handeln des Menschen werden unterschieden und dennoch zugleich in Verbindung gesetzt. 2. Der Verpflichtungscharakter des neuen Seins kommt unmißverständlich zum Ausdruck. Dennoch ist das Indikativ-Imperativ-Schema nicht geeignet, umfassend die dynamischen Strukturen der paulinischen Ethik zu erfassen: 1. Das IndikativImperativ-Schema ist statischer Natur, es zergliedert künstlich, was bei Paulus einen umfassenderen Seins- und Lebenszusammenhang darstellt. 2. Was ist die Brükke zwischen Indikativ und Imperativ3!? Der in diesem Zusammenhang übliche
Ebd., 13. Ebd., 14. 31 Vgl. A. SCHWEITZER, Die Mystik des Apostels Paulus, Tübingen 21954, 287: "In der Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben verhalten sich die Erlösung und die Ethik zueinander wie zwei 29
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Hinweis auf den Geist löst das Problem nicht, denn der Geist kann nicht Gabe und Aufgabe zugleich sein. 3. Wie vermag aus der Heilsgabe eine Aufgabe zu werden? Muß die Neuheit des neuen Seins erst realisiert werden? 4. Wurden die Glaubenden und Getauften nur "auf Bewährung" in die Freiheit entlassen? 5. Worin liegt die jeweilige soteriologische Qualität des Indikativs und des Imperativs? Wenn der Indikativ das Heil beinhaltet, stellt sich die Frage nach dem soteriologischen Status des Imperativs. Er kann das Heil nicht erwirken, wohl aber verwirken, so daß ihm eine (negative) soteriologische Qualität zukommt! 6. Die Frage nach dem Können und Sollen ist in der ethischen Argumentation bei Paulus nur ein Randphänomen. 7. Ist das Modell ,Gehorsam aus Dankbarkeit' ein überzeugendes und tragfähiges ethisches Argumentationsmuster? Kann auf Dauer der Gehorsam die Einsicht ersetzen? Die massiven Anfragen lassen es sinnvoll erscheinen, vom Indikativ-ImperativSchema als dem Strukturmodell paulinischer Ethik Abstand zu nehmen. Stattdessen sollen die Wahrheitselemente dieses Schemas in das Grundmodell ,Transformation und Partizipation' integriert werden. 3 Entsprechung als ethische Grundkategorie Die Grun.dkonzeption des paulinischen Denkens ist nicht an einen negativen Gesetzesbegriff oder eine bestimmte Gerechtigkeitskonzeption gebunden, sondern ergibt sich positiv aus der Logik von Transformation und Partizipation32 : Durch den Statuswechsel des Sohnes befinden sich auch die Glaubenden und Getauften in einem neuen Status: der Gnade. Das paulinische Denken ist seit Damaskus zutiefst von der Einsicht geprägt, daß mit und seit der AuferstehungJesu Christi von den Toten der Geist Gottes wieder wirkt33 • Als Kraft der Selbsterschließung Gottes in Jesus Chri-stus ist der Geist das bestimmende Element des sich vollziehenden universalen Transformationsprozesses. Grundlegend für das paulinische Denken ist die Vorstellung, daß die Glaubenden durch die Geistgabe in der Taufe bereits in der Gegenwart umfassend am durch Jesu Christi Tod und Auferstehung erwirkten Heil teilhaben. Sie sind von der Sünde getrennt und leben im Bereich der Gnade. Nicht nur ein neues Seinsverständnis, sondern das neue Sein selbst hat in einem umfassenden Sinn bereits begonnen! Das paulinische Christentum war keineswegs Straßen, von denen die eine bis zu einer Schlucht und die andere von dieser Schlucht an weiter führt." 32 Vgl. hierzu U. SCHNELLE, Transformation und Partizipation als Grundgedanken paulinischer Theologie, NTS. 47, 2001, 58-75; DERS., Paulus. Leben und Denken, Berlin 2003, 463ff; D. G. POWERS, Salvation through Participation, Leiden 2001. 33 Vgl. P. KrM, Heilsgegenwart bei Paulus, Diss. Gättingen 1996, 180: "Die Wirkung des Geistes Gottes in der Welt setzt für Paulus nach dem Ende der Prophetie in Israel wieder ein mit dem Tod und der Auferweckung Jesu Christi."
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eine Jenseitsreligion, sondern zutiefst geprägt von rituellen Erfahrungen gegenwärtigen Heils J4 • Die noch ausstehende Vollendung des Heils schmälert in keiner Weise die Überzeugung, daß der Transfer in das neue Sein bereits wirkm~chtig erfolgte, denn das bereits Geschehene und nicht das Ausstehende ist der entscheidende Inhalt des paulinischen Evangeliums. Paulus geht es um das Jetzt des Heils, denn: "Siehe, jetzt (vuv) ist die angenehme Zeit; siehe, jetzt (vuv) ist der Tag der Rettung" (2 Kor 6,2b). Die Auferstehung Jesu Christi von den Toten ist für Paulus ein einmaliger Akt, dessen Wirkungen jedoch anhalten und die Welt grundlegend verändert haben. Gott identifiziert sich so sehr mit dem gekreuzigten Jesus von Nazareth, daß seine in der Auferstehung sich offenbarende Lebensmacht weiterhin wirkt: "Denn dazu ist Christus gestorben und wieder zum Leben gekommen, damit er Herr werde über die Toten wie über die Lebenden" (Röm 14,9). Die Kräfte der Auferstehung J esu Christi wirken in der Gegenwart und rufen ihre eigene Gewißheit hervor: "Wir glauben aber, daß wir, wenn wir mit Christus gestorben sind, auch mit ihm leben werden" (Röm 6,8). Die in der Taufe vollzogene Christusteilhabe hat direkte inhaltliche Auswirkungen auf die Ethik, denn die Einbeziehung in Tod und Auferstehung Jesu Christi ist nicht auf den Taufakt beschränkt, sondern bestimmt durch die Geistgabe das gegenwärtige und zukünftige Leben der Getauften (vgl. Gal 3,2.3; 5,18; Röm 6,4). Wer sich im Raum des Christus befindet, ist eine neue Existenz (vgl. 2 Kor 5,17); wo Paulus von der Neuheit des Seins spricht, erfolgt eine christologische und nicht eine ethische Begründung (vgl. 2 Kor 4,16; 5,17; GaI6,15; Röm 6,4; 7,6). Die Getauften haben Christus angezogen (Gal 3,27), sind gänzlich von ihm bestimmt, denn Christus lebt in ihnen (Gal 2,20a) und er will in ihnen Gestalt gewinnen (vgl. Gal 4,19). Jesus Christus ist Urbild und Vorbild zugleich, wie die ethische Interpretation des Christus-Hymnus in Phil 2,6--11 deutlich zeigt. Für Paulus erscheint somit Christus selbst als Inhalt und Kontinuum der EthikJ5 • Die Ethik thematisiert die Handlungsaspekte des neuen Seins, das ein Leben im Raum des Christus ist. Was sich an ihm vollzogen hat, prägt gänzlich das Leben der Getauften. So wie Christus der Sünde ein für allemal gestorben ist, sind auch die Getauften der Sünde nicht mehr untertan (Röm 6,9-11). Ging Jesus im Gehorsam den Weg ans Kreuz und überwand die Sünde und den Tod (Röm 5,19; PhiI2,8), so fordert Paulus die römischen Christen auf, im Gehorsam Diener der Gerechtigkeit zu sein (Röm 6,16; vgl. 1 Kor 9,19). Um unserer Sünden willen hat sich
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Vgl. CHR. STRECKER, Die liminale Theologie des Paulus, FRLANT 185, Göttingen 1999,
245ff. 35 Vgl. dazu H. SCHÜRMANN, "Das Gesetz des Christus" Gal 6,2. Jesu Verhalten und Wort als letztgültige sittliche Norm nach Paulus, in: ders., Studien zur neutestamentlichen Ethik, hg. v. Th. Söding, SBAB 7, Stuttgart 1990, 53-77.
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Christus dahingegeben, er achtete nicht auf seinen Vorteil (Gal 1,4; Röm 3,25; 8,32), so daß auch die Glaubenden nicht das Ihre suchen sollen, sondern das, was der Rettung der vielen Verlorenen dient (1 Kor 10,24.33). Weil Christus aus Liebe zu den Menschen gestorben ist und diese Liebe die Gemeinde trägt (2 Kor 5,14; Röm 8,35.37), bestimmt sie umfassend die christliche Existenz (1 Kor 8,1; 13; Gal 5,6.22; Röm 12,9f; 13,9f; 14,15). So wie Christus durch seinen Weg ans Kreuz zum Diener der Menschen wurde (Röm 15,8; Phil 2,6ff), so sollen auch die Christen einander zu Dienern werden (Gal 6,2). Was in der Taufe begann, setzt sich im Leben des Getauften fort: Er ist hineingenommen in den Weg Jesu, ahmt Christus nach, so daß der Apostel sogar sagen kann: "Werdet meine Nachahmer, so wie ich Christi (Nachahmer bin)" (1 Kor 11,1: flLllTrraL flOU YLvmSE KUSWC; KUYW Xpw'tou; vgl. 1 Thess 1,6; 1 Kor 4,16)36. Der Weg Jesu zum Kreuz begründet die christliche Existenz und ist zugleich wesentliches Kriterium dieser Existenz37 • Das ethische proprium christianum ist somit Christus selbse s, und die Ethik umfaßt bei Paulus die Handlungsdimensionen der Christusteilhabe39 • So ergibt sich: Das leitende The-
36 Vgl. zur paulinischen Mimesis-Vorstellung vor allem H. D. BETZ, Nachfolge und Nachahmung Jesu Christi im Neuen Testament, BHTh 37, Tübingen 1967, 137-189; K. M. FISCHER, Tendenz und Absicht des Epheserbriefes, Berlin 1973, 125ff; O. MERK, Nachahmung Christi. Zu ethischen Perspektiven in der paulinischen Theologie, in: DERS., Wissenschaftsgeschichte und Exegese, BZNW 95, Berlin 1998, 302-336; zum im Hintergrund stehenden maßgeblichen religionsgeschichtlichen Konzept vgl. K. DÖRING, Exemplum Socratis, Hermes. E 42, Wiesbaden 1979. 37 Gegen W. SCHRAGE, Die konkreten Einzelgebote in der paulinischen Paränese, Gütersloh 1961,241, der behauptet: "Paulus hat also das geschichtliche Leben und Wirken Jesu zur konkreten Normierung des Christenlebens nicht herangezogen." 38 Zum Problem des ,Propriums' paulinischer und neutestamentlicher Ethik vgl. G. STRECKER, Strukturen einer neutestamentlichen Ethik, ZThK 75, 1978, 117-146: 136ff; H. HALTER, Taufe und Ethos, FThSt 106, Freiburg 1977, 13-32.455-492. 39 Vgl. auch CHR. LANDMESSER, Der paulinische Imperativ als christologisches Performativ, in: Chr. Landmesser / H.]. Eckstein / H. Lichtenberger (Hg.), Jesus Christus als Mitte der Schrift. FS O. Hofius, BZNW 86, Berlin 1997, 543-577, der am Indikativ-Imperativ-Schema festhält, beide aber entschieden als Einheit verstehen will. Der Glaube und das vom Glauben bestimmte Leben sind gleicherniaßen Gaben Gottes, so daß sich für den Imperativ ergibt: "Der in der Evangeliumsverkündigung laut werdende Imperativ KIHaUayrrrE .c\> SEc\> erweist sich damit als ein eminentes Performativ; es ist die Sprachform, mit welcher dem Hörer wirksam zugänglich gemacht wird, wovon die Rede ist" (575). M. WOLTER, Die ethische Identität christlicher Gemeinden in neutestamentlicher Zeit, in: Marburger Jahrbuch Theologie 13, MThSt 67, Marburg 2001, 61-90: 68 nimmt das Verhältnis von Ethos und Identität zum Ausgangspunkt seiner Neubestimmung von Indikativ und Imperativ: "Der Imperativ formuliert ein normatives Ethos, dem es nicht darum geht, so etwas wie eine ,Bewährung' des Indikativs einzufordern. Ihm kommt vielmehr die Funktion zu, den Getauften eine Objektivation ihrer neugewonnenen Identität zu ermöglichen. Anders gesagt: Die unablösbare Bezogenheit des Imperativs auf den Indikativ verdankt sich dem jeder Bestimmung und jedem Anspruch von Identität notwendig inhärenten Interesse, daß diese Identität zur Anschauung gebracht werden muß (und zwar nach außen wie nach innen), wenn anders sie nicht bloßes Postulat bleiben will."
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ma der paulinischen Ethik ist die Entsprechung der Existenz zum neuen Sein in Christus 40 . So erschließen sich die Texte, in denen der Apostel ausdrücklich auf das Verhältnis von Christologie bzw. Soteriologie und Ethik zu sprechen kommt. Im bereits erwähnten Text 1 Kor 5,7a formuliert Paulus zunächst imperativisch ("Beseitigt den alten Sauerteig, damit ihr ein neuer Teig seid"), um dann eine erste Begründung anzufügen: "wie (Ku9wc;) ihr ungesäuert seid". Der Inhalt der Mahnung und der Zusage ist identisch, das heißt, es handelt sich um zwei Aspekte einer einzigen Sache, die Paulus in der zweiten Begründung benennt: "Denn (KUI. yap) unser Passalamm wurde geschlachtet, Christus" (1 Kor 5,7b). Das durch Christus erworbene neue Sein läßt es nicht zu, daß die Reinheit und Heiligkeit der Gemeinde gefährdet wird; die Glaubenden und Getauften sollen leben, was sie sind. Dies ermöglicht der Geist, dessen Wirkkräfte das gesamte Leben der Glaubenden und Getauften bestimmen. In diese· Richtung weist auch Gal 5,25 als vielfach zitierter locus classicus für das Indikativ-Imperativ-Schema: "Wenn wir im Geist leben, laßt uns auch im Einklang mit dem Geist sein"41 (EL (W~EV 1TvEu~un, 1TvEu~un KUI. O'WlXW~EV). Das Verb O'tOLXEW ist keineswegs bedeutungsgleich mit 1TEPlTTa'tEW (wandeln), sondern meint ,mit etwas übereinstimmen / im Einklang sein'42. Der Akzent liegt damit nicht auf der Forderung, sondern es geht um eine Relation, die mit dem Dativ 1TvEu~un ausgedrückt wird: im Einklang leben mit dem Geist. Wenn Paulus die Galater auffordert, nicht in das sarkische Sein zurückzufallen (Gal 3,3) und in der geschenkten Freiheit zu verbleiben (Gal 5,1), dann hat der Geist die Kraft in sich, dies zu ermöglichen. Es ist der Geist Gottes, der sowohl das Wollen als auch das Vollbringen bewirkt (vgl. Phil 1,6; 2,13). Was bereits erreicht wurde, soll gelebt werden (phi! 3,16). Es geht also nicht um die Realisierung einer Gabe, sondern um ein Verbleiben und Leben im Bereich der Gnade. "Christsein ist Christus-Mimesis"43, und die christusgemäße Gestalt des neuen Seins ist die Liebe. "Denn die Liebe Christi beherrscht uns, wobei wir zu diesem Urteil kamen: Einer starb für alle, folglich starben alle: und für alle starb er, damit diejenigen, die (durch ihn) leben, nicht mehr sich selbst leben, sondern dem, der für sie starb und auferstand" (2 Kor 5,14f; vgl. 4,10f; Röm 15,7). Die Christuskonformität des neu-
40 Vorn neuen Sein als Einklang mit dem Geist spricht M. PFEIFFER, Einweisung in das neue Sein. Neutestamentliche Erwägungen zur Grundlegung der Ethik, BEvTh 119, Gütersloh 2001, 322: "Im Einklang mit dem Geist Gottes aber ist der Mensch, wenn er sich der Leben schaffenden Geistkraft Gottes, die die verletzliche Gestalt der Liebe hat, anvertraut und in seinem Dasein Raum gewährt." 41 Die Übersetzung orientiert sich an G. DELLING, Art. OWLXEW KtA., ThWNT 7, 1964,666--687: 669. 42 Vgl. die Belege ebd., 666--668. Delling folgen z. B. F. MUSSNER, Der Galaterbrief, HThK 9, Freiburg 41981,391; Weder, Gesetz (s. Anm. 26), 179f. 43 Backhaus, Evangelium (s. Anm. 28),24.
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en Seins und Handeins besteht in der Liebe (vgl. Gal 5,13). Innerhalb der paulinischen Ethik ist die Liebe das kritische Auslegungsprinzip, an dem alles Handeln orientiert sein soll und auf das alles Handeln hinausläuft 44 • Wer nicht aus der Liebe handelt, entspricht nicht dem neuen Sein. Auf diesen fundamentalen Sachverhalt weist Paulus in seinen Mahnungen und Unterweisungen wiederholt hin. Wenn die Glaubenden und Getauften den Handlungsaspekt ihrer geschenkten Existenz nicht beachten, leben sie nicht im Einklang mit dem neuen Sein (vgl. 1 Kor 3,17; 6,9f; 8,9-13; 10,lff; 2 Kor 6,1; 11,13-15; Gal 5,2-4.21; Röm 6, 12ff; 11,20-22; 14,13ff). Die Liebe ist nicht eine Beschränkung menschlicher Freiheit, sondern ihr konsequenter Vollzug; christliche Freiheit heißt somit, für andere und nicht für sich selbst produktiv zu sein. Der andere ist immer der, für den Christus starb (vgl. 1 Kor 8,1lf; Röm 14,15). Die Liebe ist nicht am Herrschafts- oder Verbrauchsprinzip orientiert, denn sie begreift die Weh und die Menschen als Gottes gute Schöpfung, die nicht verändert werden muß, um perfekter zu werden. Die neue Ausrichtung der Existenz benennt Paulus mit dem Verb
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gebung, Gerechtmachung, Verleihung des Geistes und ElvUL EV XPLOt4) real begonnen, aber die Christen leben noch nicht im Stand der endgültigen Vollendung, sie sind weiterhin den Versuchungen der Welt ausgesetzt. Die Glaubenden und Getauften sind hineingestellt in die Zeit zwischen Kreuz und Parusie und sollen in einer scheinbar unveränderten Welt im Einklang mit der neuen Wirklichkeit leben. Ausgangspunkt und Begründung der Ethik ist bei Paulus die Lebens- und Handlungseinheit des neuen Seins als Teilhabe am Christusgeschehen. Jesus Christus begründet und prägt zugleich das Leben der Christen, die ihrerseits in der Kraft des Geistes im Raum des Christus leben und dem neuen Sein in ihren Handlungen entsprechen. 4'J)iePrdxis d~s neuen :Sei~s I
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Vgl. hier Merk, Handeln (s. Anm. 24), 45-58; DERS., 1 Thessalonicher 2,1-12 im Lichte des gein: ders., Wissensshaftsgeschichte, 383-403;, U. SCHNELLE, Die Ethik, dest.' T~eSsalonicherbriefes, , in:" R.F .Collins '(Hg.);' ,'th~ ',the~sal~~i~n Correspondence, BETL'8'7, Leuven 1990, '295~305.Da-sMötiv äer HeiligÜng urid die' da.mit vhbundene Gericht~.vor: stellung findet sich auch in 1 Kor 1,8; 7,34;2 Kor7,1; PhiI1,9-11; 2,15-18., , : ' . ' 1 / ; ,,',' ", 47 Vgl. zur umfassenden Analyse E. RElNMUTH, Geist/und 'Ges~tz; fhA44, Be~lin"19S5:;1'2-47. 46
genwärtigenForschungsstandes~
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sche Sonderstellung der Gemeinden anstrebt. Er begründet seine Weisungen nicht aus dem Alten Testa-ment und geht von einem bei Heiden und Christen gleichermaßen vorhandenen Ethos aus. Ein differenziertes Bild bieten die beiden Korintherbriefe 48 • Nach seinem Aufruf zur Einheit der Gemeinde bittet Paulus in 1 Kor 4,16 die Gemeinde: " Werdet meine Nachahmer!" Deshalb kommt Timotheus nach Korinth: "Der wird euch erinnern an meine Wege 49 in Christus Jesus, wie ich überall in jeder Gemeinde lehre" (1 Kor 4,17). Wie alle anderen Gemeinden werden die Korinther dazu aufgefordert, sich am Leben und der Lehre des Paulus auszurichten. Die Wiederaufnahme von oöoe;; (Weg) in 1 Kor 12,31 zeigt, daß Paulus den Weg bzw. die Wege der Liebe meint 50 • Er lebt und lehrt die von Christus empfangene Liebe, deshalb sollen sich die Gemeinden an ihm ausrichten. Die sich anschließenden Konfliktunterweisungen .in 1· Kor 5-7 lassen .die, sehr veFschiedenartigenBegrünäungenerkenneo"derer .Paulus. sich bedient;· Der Gemeindeausschl'ußdes Unzuchtstäters wird zwa.~ iriJ Kor 5, 13bmiteineni Zitat aus Dtn 17,7h LXX begründet~\ das ei+ g~ntli~h Anstößige; ist a:berdie Ta.tsadhe;daß ein 'solcher 'Fall nicht 'einmal bei den Beiden:yorköfumt: (vgL;lKor 5,lb).Der :geforderte Verzicht a:ufRechtsstreitig~ keiten;zwischen Christen vor'heidriischen'Rlchtern,in '1Kbr 6,l~l1hat:in der'jü:. discherii ÜberlieferungkeineParallele,S?-;DieWarriung vot-Unztlcht in! Kot 6,1220,begründet:PaulUs nicht mit ,sachlich';v~rwa:ndten,rrex'ten wie PtovS,3; 6,20;Z,27;;Sir!9~6;,19,2,sondernerzitiertGen2,24
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, .. 48 ,Zur· Analyse, vgLiA. LINDEMANN,'Die biblischen .Totagebote und die 'pauliriischeEthik, in: ders., Paulus, Apostel und Lehrer der Kirche,: Tübingen 1999,95-':'110: . , ,.4~ .Göttes Gebo,te:können mir. GöoL:!bezeichnet werden (\TgL·Ps 24;4; 26,11;-1 fS,3.26; JesSS;3)? allerdings .ist dieWendunga~. GöOl. I-Lousingulär: Paulus fordert'nichtzut Orienliet'ilrigan den Geboten" sonde,rn, an seiner,Person auf! ' .; 50 Sonst findet sich MOl;; nurih i AT-Zitaten. (Röm.3; 16f) bzw. in einem Gebetstext'(l Thess J,l1) und einem hymnischen Abschnitt (Röm 11,33). -. ' ",~l Auffällig;bleibt,daß Paulus,die saChlich entsprechenden Toratexte wieDtn-23,1; 27,20 'U:nd Lev 1S,Snicht; heranzieht. I . , . ', ':7,Vgl.ial~,P~~all~lerl::tto, Gorg.SQ9c. '(=00 ,Neuer Wettstein. Texte'zurtiN~ileh Testamdntaus Grie~ ehen turn und Hellenismus;Bcl 211,.;hg. V:.G. Streckeru.U. Sch'nelle;Berlin 1996, 27S):' .
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Kor 7,17: "Wie es einem jeden der Herr zugeteilt hat, wie einen jeden Gott berufen hat, so soll er sein Leben führen. Und so ordne ich es in allen Gemeinden an"), die ebenfalls auf kynisch-stoischem Hintergrund zu verstehen ist53 • Das Handeln muß sich immer an den Umständen orientieren, denn Leiden entsteht durch eine falsche Auffassung von den Dingen. "Daher muß man nicht versuchen, die Verhältnisse zu ändern, sondern sich selbst den jeweiligen Umständen anzupassen, wie es auch die Seel~ute tun. Sie versuchen nämlich nicht, die Winde und das Meer zu ändern, sondern sie bereiten sich darauf vor ... So mußt du dich gegenüber den Umständen verhalten. Du bist alt geworden: Laß die Spiele der Jugend. Du bist schwach: Laß die Hände von einer Arbeit, die Kraft verlangt..." (Teles, Fr 2). Auch 1 Kor 7,19 läßt hellenistischen Einfluß erkennen, denn das "Halten der Gebote Gottes" (T~p"OL<;; EVTWAWV eEOu)54 kann sich nicht auf die Tora beziehen, weil die Tora die Beschneidung fordert und nicht, wie 1 Kor 7,19a, für indifferent erklärt. Paulus geht wiederum von einer allgemeinen Evidenz des Ethischen aus; es gibt unmittelbar zugängliche Gebote Gottes, die den Menschen einsichtig sind. Da Paulus nicht ausführt, wie sich das Halten der Gebote vollzieht, muß es sich um allgemein einsehbare ethische Grundsätze handeln, das heißt für Christen unmittelbar zugängliche Gebote Gottes. Vergleichbare Vorstellungen finden sich bei Epiktet, wonach der wahre Philosoph nicht auf menschliche, sondern allein auf Gottes Gebote hört: "Welche W eis~ngen soll ich dir geben? Hat dir Zeus keine Weisungen erteilt? Hat er dir nicht das, was dir wirklich gehört, als unantastbares Eigentum zur Verfügung gestellt, während das, was dir nicht gehört, erheblichen Beeinträchtigungen ausgesetzt ist?" (Diss I 25,3). Wie der Philosoph unmittelbaren Zugang zur Erkenntnis besitzt, weiß der Christ um den Willen Gottes 55 • Die Varianten Gal 5,6; 6,15 (vgl. ferner 1 Kor 12,13; Gal 3,28) weisen darauf hin, daß Paulus auf die ethische Grundausrichtung der neuen Existenz in der Liebe zielt. Kaum zufällig zitiert Paulus im Kontext des Konfliktes um Götzenopferfleisch nicht das Alte Testament (vgl. z. B. Dtn 14,3: "Du sollst nichts essen, was dem Herrn ein Greuel ist"; ferner Ex 20,S; 34,13ff; Dtn 13,7ff; 32,17), sondern verweist auf einen allgemeinen ethischen Grundsatz 56 • Er kann sogar Weisungen geben, die 53 Umfassender Nachweis bei W. DEMING, Paul on Marriage and Celibacy. The Hellenistic Background of 1 Corimhians 7, MSSNTS 83, Cambridge 1995, 159-165. 54 Vgl. Sir 32,23 LXX: "In all deinem Tun achte auf dich_selbst; denn wer so handelt, beachtet die Gebote" (EV mwtl. EPY~ 1TI.OtEUE tfl tjroxfl oOU' KUI. yap tOUtO EOtLV t~PllOll; EVtOAWV); Weish 6,18, wo es über die Weisheit heißt: "Liebe aber ist das Halten ihrer Gesetze" (&.ya1Tll OE t~PllOl<; VOlJ.wv uutiic;), "Befolgung der Gesetze aber ist Befestigung der Unsterblichkeit." 55 Vgl. Deming, Paul (s. Anm. 53), 170-173. 56 Vgl. 1 Kor 10,24 ("Niemand suche das Seine, sondern das des anderen!") mit Menander, Sem 775 ("Das bedeutet Leben, nicht nur für sich selbst zu leben") und Seneca, Ep 48,2 ("Und nicht kann irgend jemand glücklich leben, der sich nur im Sinne hat, der alles zu seinem eigenen Nutzen wendet: für einen anderen mußt du leben, wenn du für dich willst leben").
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im Gegensatz zu Torageboten stehen 57 • Gewicht bekommen Schriftzitate (vgl. 1 Kor 10,7.26) und Anspielungen (vgl. 1 Kor 11,3.8.9) in der Argumentation von 1 Kor 10,1-22.23-11,1; 11,2-16. Allerdings leitet Paulus auch hier seine Weisungen nicht direkt aus der Schrift ab. Dem als Torazitat eingeführten Jesajatext Ges 28,11f) in 1 Kor 14,21 kommt ebenfalls keine normierende Funktion zu. "Die konkreten Weisungen des Paulus im Ersten Korintherbrief zeigen, daß Paulus sich nicht an den Inhalten der Tora orientiert, wenn er ethische Normen aufstellt oder in Konfliktfällen Entscheidungen trifft. ,,58 Der Zweite Korintherbrief bestätigt dieses Urteil, denn die bei den einzig relevanten Schriftzitate in 2 Kor 8,15 und 9,9 begründen lediglich die Verheißung, daß den Kollektengebern von Gott überreiche Gnade gewährt wird. In Ga15,14 zitiert Paulus Lev 19,18b, wobei es deutlich um die in Jesus Christus erschienene Liebe geht (vgl. Gal 5,6). Die Norm des neuen Seins ist allein der Geist, der in Gal 5,18 ausdrücklich als der Gegensatz zur Tora erscheint. Die christlichen Tugenden der Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Gütigkeit, Treue, Sanftmut und Enthaltsamkeit (Gal 5,22.23a) werden exklusiv auf den Geist zurückgeführt. Paulus fügt an: "Gegen solche Dinge ist das Gesetz nicht" (Gal 5,23b). Die paulinische Argumentation ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert: 1. Inhaltlich kennzeichnet Paulus das christliche Verhalten mit allgemein-ethischen Begriffen des Hellenismus 59 • 2. Sie stehen in Geltung, weil sie Frucht des Geistes sind und nicht, weil sie von der Tora geboten werden. Lediglich im nachhinein stellt Paulus fest, daß die das neue Sein kennzeichnenden Verhaltensweisen und Eigenschaften nicht im Widerspruch zur Tora stehen. Speziell die Tugend- und Lasterkataloge (vgl. 1 Kor 5,10f; 6,9f; 2 Kor 12,20f; Gal 5,19-23; Röm 1,29-31) entfalten ein ethisches Modell, das an der Übereinstimmung mit den Konventionen der Zeit interessiert ist. Sie haben ihren Ursprung in der hellenistischen Philosophie, fanden Aufnahme in der jüdisch-hellenistischen Literatur und waren speziell in neutestamentlicher Zeit sehr populär60 • Von einer Gemeinsamkeit sittlicher Maßstäbe zwischen Juden, Heiden und Christen geht Paulus in Röm 2,14f aus (vgl. 13,13). Er nimmt den hellenistischen 57 Vgl. 1 Kor 10,27 ("Wenn euch einer von den Ungläubigen einlädt und ihr hingehen wollt, eßt alles, was euch vorgesetzt wird, und stellt keine Untersuchung wegen des Gewissens an!") mit Ex 34,15 ("Daß du mir ja nicht mit den Bewohnern des Landes ein Abkommen triffst! Denn wenn sie ihren Göttern sich hingeben und ihren Göttern opfern und dich dazu einladen, so könntest du von ihren Opfern essen"). 58 Lindemann, Toragebote (s. Anm. 48), 110. 59 Zur Analyse vgl. H. D. BETZ, Der Galaterbrief, München 1988, 480-491. 60 Vgl. dazu die Bearbeitung des Materials bei S. WIBBING, Die Tugend- und Lasterkataloge im Neuen Testament und ihre Traditionsgeschichte, BZNW 25, Berlin 1959; E. KAMLAH, Die Form der katalogischen Paränese im Neuen Testament, WUNT 7, Tübingen 1964; Textbeispiele in Neuer Wettstein 2/1, 54--66. 575f.
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Gedanken auf, die ethische Belehrung erfolge durch die Natur bzw. die Vernunft oder den Logos, ohne äußere, das heißt geschriebene Anweisungen. Die Vorstellung des V0I-L0<; ä.ypucpo<; (ungeschriebenes Gesetz)61 besagt, daß es natürliche, der Vernunft zugängliche und von Gott gesetzte Ordnungen gibt. Mit Hilfe der Vernunft können die Menschen durch die Beobachtung des VO!lo<; cpuaEw<; den Willen Gottes befolgen, ohne im Besitz der T ora zu sein. Das Gesetz erscheint hier als ein Bestandteil der Weltordnung, so daß es den Juden keinen Vorsprung gegenüber den Heiden gewährt. Auch in Röm 12,1f leitet Paulus den Gotteswillen nicht aus der Tora ab 62 . Als Überschrift des ethischen Hauptabschnittes kommt den beiden Versen eine leserlenkende Funktion zu: Sie definieren den Bezugsrahmen, in dem die folgenden Aussagen zu verstehen sind63 . Ausgangspunkt ist die antike Vorstellung eines Dankgottesdienstes für den Empfang göttlicher Heilserweise. Paulus faßt das gesamte Leben der Christen als ein solches Dankopfer auf, das als ,vernünftige Religion' definiert wird. In der Tradition philosophischer Kultkritik64 werden die Chri-sten aufgefordert, ihre Leiber als Gott wohlgefälliges Opfer darzubringen; dies ist ihr "vernunftgemäßer Gottesdienst" (ÄOYLK~ ÄU-ePELU 65). Dem neuen Gottesverhältnis entspricht ein geistiger Kult, der sich an der von Gott gegebenen Vernunft orientiert. Philo konstatiert: "Gott legt nicht Wert auf die Fülle der Opfer, sondern auf den völlig reinen, vernünftigen Geist (lTVEll!lU ÄOYLKOV) des Opfernden" (Spec Leg I 277). Für den gerechten Herrscher gilt nach Dio Chrysostomus: Auch "glaubt er nicht, die Götter mit Gaben und Opfern von ungerechten Menschen erfreuen zu können, da er weiß, daß sie nur die Gaben von Guten 61 Vgl. zu dem gesamten Vorstellungskomplex die Texte in: Neuer Wettstein (s. Anm. 52) 2/1, 71-85; zu Ea.u'Wl~ EtoLV v6llo~ vgl. Aristoteles, Eth Nic 1128a: "Der feine und großzügige Mensch wird sich also, wie wir es beschrieben haben, benehmen: Er ist sich gleichsam selbst Gesetz"; vgl. ders., Pol 1284a, wonach sich das Gesetz mit außergewöhnlichen Menschen nicht befaßt, "denn sie sind sich selber Gesetz" (O'.ll'WI. yap EtOl v6Ilo~). Wie stark die Vorstellung des v6llo~ äypa.<\lo~ in das Bewußtsein der Menschen eingedrungen war, zeigt ein pseudepigraphischer Brief der Pythagoreerin Melissa an Kleareta: "Denn die Wünsche des Mannes sollen ungeschriebenes Gesetz (v6Ilo~ äypO'.<\lo~) für die Frau sein, nach dem sie leben muß" (Ep Pyth III,2). 62 Zur Analyse von Röm 12,lf vgl. neben den Kommentaren bes. E. KÄSEMANN, Gottesdienst im Alltag der Welt, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. 2, Göttingen 31970, 198-204; Schrage, Einzelgebote (s. Anm. 37), 49ff; H.-D. BETZ, Das Problem der Grundlagen der paulinischen Ethik, in: ders., Paulinische Studien, Tübingen 1994, 184--205: 193-203; A. RErCHERT, Der Römerbrief als Gratwanderung, FRLANT 194, Göttingen 2001,228-248. 63 Auch in Röm 12,3 argumentiert Paulus mit Begrifflichkeit hellenistischer Popularphilosophie; vgl. D. ZELLER, Konkrete Ethik im hellenistischen Kontext, in: J. Beutler (Hg.), Der neue Mensch in Christus, QD 190, Freiburg 2001, 89. 64 Weitere Belege bei H. WENSCHKEWITZ, Die Spiritualisierung der Kultusbegriffe, AGGELOS 4, 1932, 74--15l. 6S ZU AOYlK~ AO'.'LpElO'. vgl. Lietzmann, Römer (s. Anm. 10), 108f. Relevante Texte zu diesem Komplex finden sich in: Neuer Wettstein (s. Anm. 52) 1/2,220-234; 2/1, 177-180.
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freundlich annehmen. Infolgedessen wird er bestrebt sein, sie auch mit solchen Geschenken reichlich zu verehren. Nie aber wird er aufhören, ihnen mit jenen anderen Geschenken Ehrfurcht zu erweisen, mit guten Werken und gerechten Taten. Tugend hält er für ·Frömmigkeit, das Laster für lauter Gottlosigkeit" (Or 3,52.53; vgl. ferner 13,35; 31,15; 43,11). Wie in der antiken Welt insgesamt bilden auch bei Paulus Religion und Intellekt keinen Gegensatz; vielmehr durchdringen sie einander und sind gegenseitig interpretations fähig. Deshalb kann der in Jesus Christus erschienene Wille Gottes keineswegs nur im begrenzten Raum der Gemeinde erkannt werden, sondern er erscheint inhaltlich gefüllt selbstverständlich auch im Weltethos: TO aya80v Ka\. EuapLOTov Ka\. TEAELOV (das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene)66. Die Römer sollen selbst prüfen, was der Wille Gottes ist, und sie übernehmen damit eine Aufgabe, die auch dem Philosophen zukommt, wenn er nach dem fragt, was gut, böse oder gleichgültig ist. "Es wird demnach das wichtigste und vornehmste Geschäft eines Philosophen sein, daß er die Vorstellungen prüfe (öoKl.lla(ELv Tae; cpavTaOl.ae;) und unterscheide (Öl.aKpl.VELv) und keine ungeprüft annehme" (Epiktet, Diss I 20,6.7). Schon für Plato gilt, daß unter den Menschen allein der Besonnene Gott wohlgefällig ist, "denn er ist ihm ähnlich, der Unbesonnene dagegen ist ihm unähnlich, ist mit ihm im Zwiespalt und ungerecht" (Leg IV 716c). Nach Aristoteles gehorcht die Leidenschaft nicht der Vernunft, sondern die Vernunft der Leidenschaft. "Es muß also vorher erst der zur Tugend geeignete Seelenzustand da sein, worin man das Gute liebt und das Böse verabscheut" (Eth Nic X 1179b). Wahre Gottesfreunde sind nach Plutarch die Menschen dann, "wenn ihr geläuterter Sinn in Gott den Urquell alles Guten, den Vater alles Schönen erkennt, ihn, der Böses weder tun noch leiden kann. Er ist gut, und er weiß nichts von Mißgunst, Furcht, Zorn und Haß. ,,67 Paulus nimmt damit die hellenistische Tradition einer der Vernunft verpflichteten Frömmigkeit und eines an der Vernunft orientierten Handeins auf. Gerade durch die Erneuerung des Geistes ist für Paulus die christliche Ethik eine vernunftgemäße Ethik, denn der Geist hebt den durch die Sünde bewirkten Defekt der Vernunft auf und führt sie so zu sich selbst. Weil der Wille Gottes mit dem ethisch Guten identisch ist, vermag der Apostel das allgemein menschliche Wissen um Gut und Böse in die christliche Ethik zu integrieren und öffnet sie damit zugleich für allgemein gelten66 Vgl. Cicero, Nat Deor II 71: "Die beste und zugleich lauterste, heiligste und frömmste Verehrung der Götter aber besteht darin, daß wir sie immer mit reinen, unverdorbenen und unverfälschten Gedanken und Worten anbeten" (= Neuer Wettstein [so Anm. 52J 1/2,224); Seneca, Ep 95,50: "Willst du die Götter gnädig stimmen? Gut sollst du sein. Genug verehrt sie, wer ihnen nacheifert" (= Neuer Wettstein 2/2, 1181); vgl. ferner Seneca, Ben I 6,3 (= Neuer Wettstein 1/2,225). Nach Plato, Resp VII 520c vermögen die Philosophen den Staat zu regieren, "weil ihr das Schöne, Gute und Gerechte in der Wahrheit gesehen habt"; vgl. ferner Plato, Leg IV 716c.d. 67 Plutarch, Von der Ruhe des Gemüts, übers. v. B. Snell, Zürich 1948,69.
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de ethische Normen, ohne sie damit auf die Vernunft oder eine bestimmte ethische Tradition zu gründen. Vielmehr werden die Christen aufgefordert zu entscheiden, welche ethischen Verhaltensweisen sich aus dem Willen Gottes ergeben 68 • Am deutlichsten nimmt Paulus in Phil 4,8 Begriffe der Popularphilosophie auf69 : "Im übrigen, Brüder, was rechtschaffen, was ehrbar, was recht, was gut, was beliebt, was anerkannt ist, was immer Tugend (O:PH~) ist und was Lob verdient, dem denket nach." Politisch-gesellschaftliche Begriffe sind innerhalb der paulinischen Aufzählung vor allem EÜct>Tl~OC; (anerkannt) und E'!T(HVOC; (Lob); sie zielen auf die gesellschaftliche Anerkennung, die Paulus von der Gemeinde in Philippi erwartet. Mit O:PH~ greift Paulus den Schlüsselbegriff der griechischen Bildungsgeschichte auea und integriert den Wandel der Philipper vollständig in das zeitgenössische Ethos. Ist es doch die Aufgabe des politisch-gesellschaftlich agierenden Philosophen zu klären, "was Gerechtigkeit ist, was Pflichtbewußtsein, was Leidensfähigkeit, was Tapferkeit, was Todesverachtung, was Gotteserkenntnis, ein wie kostenloses Gut ein gutes Gewissen ist. ,,71 Weil ein sittliches Leben gleichbedeutend mit Philosophie ist und die Philosophie handeln lehrel, kann sie mit der Paraklese 73 des Apostels durchaus verglichen werden. Als Lebensform und Technik des Glücklichseins, als Wissenschaft vom Leben 74 kommt es der Philosophie
68 Reichert, Römerbrief (s. Anm. 62), 247 betont die öffnende Funktion von Röm 12,1f: "Der Text hat eine die Adressatenschaft als Gemeinde prägende und sie auf ihre Außenwirkung hin orientierende Funktion." 69 Vgl. dazu Zeller, Ethik, 84; zur stoischen Ethik vgl. M. FORSCHNER, Die stoische Ethik, Darmstadt 21995; DERS., Über das Handeln im Einklang mit der Natur, Darmstadt 1998. 70 Vgl. nur Cicero, Tusc 5,67: "Denn in dem Teil, der der beste im Menschen ist, liegt notwendigerweise auch das Beste, nach dem du suchst. Was aber gibt es in einem Menschen Besseres als einen scharfen und guten Geist? Dessen Gut also müssen wir genießen, wenn wir glücklich sein wollen; das Gut des Geistes ist aber die Tugend (virtus); also muß in ihr das glückliche Leben enthalten sein; von dorther ist alles, was schön, ehrenvoll, großartig ist, wie ich oben sagte - aber eben dies muß, wie es scheint, noch ein wenig umfangreicher ausgeführt werden -, voll von Freuden. Da es aber klar ist, daß das glückliche Leben aus beständigen und vollen Freuden besteht, so folgt daraus, daß es aus Tugend besteht." 71 Seneca, Tranq An III 4. 72 Vgl. Seneca, Ep 20,2 ("handeln lehrt die Philosophie, nicht reden"); vgl. ferner Musonius, Diss 3, wonach nicht nur die Männer danach suchen sollen, "wie sie ein sittliches Leben führen, was gleichbedeutend mit Philosophie ist". 73 Der Begriff Parakiese erfaßt den paulinischen Grundansatz besser als Paränese: 1. Parakiese ist terminologisch bei Paulus belegt (napaKaÄEl.V findet sich 39 mal, napuKÄlloL<; 18 mal bei Paulus), Paränese hingegen nicht (napawEl.v nur in Apg 27,9.22). 2. Als Ausfaltung des Evangeliums vereint Paraklese Zuspruch und Anspruch; vgl. dazu A. GRABNER-HAlDER, Parakiese und Eschatologie bei Paulus, NT A 4, Münster 1968, 4f.1 53f. 74 Cicero, Fin III 4: "Philosophie ist ja die Wissenschaft vom Leben." Cicero bietet in Fin III eine eindrucksvolle Gesamtdarstellung stoischer Ethik, deren Grundgedanke lautet: "Das höchste Gut besteht darin, im Leben das Wissen um die natürlichen Gegebenheiten anzuwenden, indem man
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darauf an, die im Menschen vorhandenen Tugenden zu wecken bzw. die Einsicht des Menschen zu fördern, sich an diesen Tugenden zu orientieren. "Überhaupt ist der Mensch als das einzige aller irdischen Wesen ein Abbild Gottes und hat ihm ähnliche Tugenden. Denn auch an den Göttern können wir nichts ,Besseres denken als Einsicht, Gerechtigkeit, Tapferkeit und weise Mäßigung (tVPOV~aEws Kat. ÖlKaLOOl)VTjs, EH ÖE avöpELas Kat. awtVpoauvTjs). ,,75 Musonius gelangt vom Gedanken der Wesens ähnlichkeit zwischen Gott und den Menschen zu einer emanzipatorischen Ethik. Er geht davon aus, daß der Mensch von Natur aus frei und ohne Verfehlungen (avallapt~1ws) ist, so daß er tugendhaft leben kann. Der "Keim der Tugend" (OlTEPlla apHTls) ist einem jeden Menschen eingepflanzt (Diss 2). Deshalb haben auch die Frauen Anteil an der Tugend und können Philosophie studieren (Diss 3). Töchter und Söhne sollen gleich erzogen werden, denn beide Geschlechter müssen gerecht sein im Leben (Diss 4). Alle Laster finden sich bei Männern und Frauen, so daß beide auch in der Lage sind, sie zu überwinden. Dies geschieht durch Belehrung, vor allem aber durch Gewöhnung (Diss 5), denn dem Lernen der Tugendsätze müssen unter allen Umständen die Übungen folgen (Diss 6/6 • Hierbei dient der Philosoph als Ex-emplum, denn an seiner Existenz können die Schüler die Einheit von Lehre und Leben modellhaft lernen (Diss 11). Philosophie ist für Musonius befreiende Lebensunterweisung: die Kunst, durch Einsicht und Übung die im Menschen schlummernde Tugend zu aktivieren 77 • Die Parakiese in den paulinischen Briefen unterscheidet sich in ihrem Materialgehalt nicht grundlegend von den ethischen Standards der Umwelt. Nur sehr begrenzt greift Paulus auf das Alte Testament als normgebender Instanz zurücF8 ; die Tora wird auf das Liebesgebot konzentriert (vgl. Röm 13,8-10) und damit in das sich für das entscheidet, was naturgemäß ist, und das verwirft, was ihr zuwiderläuft, das heißt in Harmonie und Übereinstimmung mit der Natur zu leben" (Fin III 31). 75 Musonius, Diss 17. 76 Vgl. auch Seneca, Ep 94,47: "Ein Teil der sittlichen Vollkommenheit besteht in Schulung, ein Teil in Übung: du mußt lernen und, was du gelernt hast, durch Handeln festigen." 77 V gl. auch Iamblichus, Prot III H: "Wenn einer das Ziel, das er anstrebt, erreicht hat und vollkommen beherrscht, sei es die Beredsamkeit oder Wissenschaft oder Körperkraft, so muß er das im Sinne des Guten und der Gesetze ausüben. '" So wie ein Mensch, der eine dieser Fähigkeiten beherrscht, vollkommen gut wird, wenn er sie zum Guten verwendet, so wird einer, der sie zum Schlechten verwendet, völlig schlecht" (Übersetzung: G. LUCK, Weisheit der Hunde. Texte der antiken Kyniker, Stuttgart 1997, 50). 78 Anders K.-W. NIEBUHR, Tora ohne Tempel. Paulus und der Jakobusbrief im Zusammenhang frühjüdischer Torarezeption für die Diaspora, in: B. Ego / A. Lange / P. Pilhofer (Hg.), Gemeinde ohne Tempel, WUNT 118, Tübingen 1999,427-460, der die paulinische Torarezeption in Analogie zur Torarezeption in der jüdischen Diaspora sieht: "Wenn bestimmte Einzelgebote oder ganze Teile der Tora dabei nicht zur Sprache kommen, impliziert dies nicht ihre prinzipielle Ablehnung oder auch nur eingeschränkte Geltung. Vielmehr ist jeweils zu fragen, inwieweit solche Teile der Tora für die Adressatensituation relevant oder für die spezifische Aussageabsicht der Autoren von Bedeutung waren."
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zeitgenössische Ethos integriert79 • Selbst dort, wo Paulus vom ,Gesetz Christi' 80 spricht (Gal 6,2), verbleibt er im Kontext hellenistischer Freundschaftsethik • Auch die Funktion der paulinischen Mahnungen ist mit der philosophischen U nterweisung vergleichbar: Das Ziel besteht jeweils darin, bereits Bekanntes in Erinnerung zu rufen und neue Problemstellung zu bearbeiten. "Ich räume ein, für sich sind Vorschriften (praecepta) nicht wirksam, eine verkehrte Überzeugung der Seele zu beseitigen; doch sind sie dann durchaus nicht unnütz, wenn anderem hinzugefügt. Zunächst erneuern sie die Erinnerung, ferner können Probleme, die in allgemeiner Form zu unübersichtlich scheinen, in Einzelpunkte gegliedert sorgfältig bedacht werden" (Seneca, Ep 94,21t. Wenn Paulus auf die Handlungsaspekte des neuen Seins zu sprechen kommt, aktiviert er die Erinnerung seiner Hörer und Leser und strebt Problemlösungen an. Nicht im Materialgehalt seiner Weisungen setzt Paulus neue Akzente, sondern in der Begründung82 • Er beurteilt die menschlichen Handlupgsmöglichkeiten und ihre Erweiterungen im Licht des Christusgeschehens und gelangt von dort zu einer neuen Existenz- und Zeitdeutung: Allein die Teilhabe am Christusgeschehen befreit von der Macht der Sünde und befähigt durch die Kraft des Heiligen Geistes zu einer christuskonformen Existenz in der Liebe, die über den Tod und das Gericht hinaus Bestand haben wird. Das Indikativ-Imperativ-Schema vermag die Praxis des neuen Seins weder in seiner Grundstruktur noch in seiner Vielschichtigkeit angemessen zu erfassen. Es ist statischer Natur und reduziert die Ganzheit des paulinischen Lebensvollzuges auf eine Formel. 5 Folgerungen
Sinnbildungen sind immer mit Orientierungsleistungen verbunden; sie vermitteln Werte und Normen und ermöglichen das Angebot oder die Revision von
79 Woiter, Identität (s. Anm. 39), 82-84 weist zu Recht darauf hin, daß die Liebesforderung bei Paulus nicht aus der Tora abgeleitet wird: "Eher ist das Umgekehrte der Fall, insofern es allererst das Liebesgebot von Lev 19,18 ist, das eine Integration der Tora auch in die christliche Ethik ermöglicht." 80 Vgl. Xenophon, Mem II 7,1: Sokrates sagt zu seinem mißmutigen Freund Aristarch: "Du solltest aber von deiner Last etwas deinen Freunden abgeben. Denn vielleicht könnten auch wir dir irgendwie Erleichterung verschaffen"; vgl. auch Menander, Sent 534: "Sieh die Lasten der Freunde alle als gemeinsam (zu tragende) an"; vgl. ferner Epiktet, Diss IV 153f.159. 81 V gl. auch Seneca, Ep 94,33.34: "Denn obwohl durch Beweismittel festgestellt ist, was gut und böse ist, haben Vorschriften nichtsdestoweniger ihre Aufgabe: Klugheit und Gerechtigkeit besteht in Pflichten, die Pflichten werden durch Vorschriften festgelegt. Außerdem wird das Urteil über Gut und Böse gefestigt durch die Erfüllung von Pflichten, auf die die Vorschriften hinführen." 82 Vgl. Betz, Problem (s. Anm. 62), 201, der betont, daß Paulus die Ethik nicht direkt aus der Vernunft und der Einheit mit der Natur begründet.
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Standpunkten83 • Für die Glaubenden und Getauften hat sich das Leben verändert, deshalb eröffnet das neue Sein Handlungsmöglichkeiten und Handlungsaufforderungen. Gott nimmt die Menschen im Glauben an Jesus Christus bedingungs-, aber nicht folgenlos an. Paulus entwirft seine Ethik nicht vom autonom handelnden Subjekt her, sondern wählt entsprechend der Gesamtkonzeption seiner Theologie als Ausgangspunkt die Vorstellung der Teilhabe am neuen Sein. Sie gewinnt Gestalt in einem neuen Handeln, dessen Grundlagen und Vollzüge Paulus den Gemeinden immer wieder neu in Erinnerung ruft. Paulus und die frühen Christen sehen sich von Gott in die Welt gesandt und beschreiten in ihrem Dienst neue Wege84 • Diesen Grundansatz vollzieht Paulus auf vielschichtige Art und Weise; es finden sich deskriptive, narrative, definitorische und normative Sätze, Seins- und Sollensaussagen. Der Sprachmodus des Indikativs und des Imperativs durchzieht alle paulinischen Briefe, was aber nicht gleichgesetzt werden darf mit dem IndikativImperativ-Schema als theologischem Modell und Universalschlüssel zur Erfassung der paulinischen Ethik. Schon deshalb nicht, weil der Sprachmodus des Imperativs keine wirklich neuen ethischen Inhalte setzt. Dies ist auch nicht zu erwarten, denn das frühe Christentum partizipiert an den Ethiktraditionen seiner Umwelt; das Humanum mußte nicht neu erschaffen und bedacht werden! Zudem läßt die Zusammensetzung der paulinischen Gemeind.en aus ehemaligen Juden, Proselyten, Gottesfürchtigen und Menschen griechisch-römischer Religiosität nichts anderes erwarten,. denn sie läßt bei der Herausbildung einer neuen Identität ein Zusammenspiel von alttestamentlichen, jüdisch-hellenistischen, frühchristlichen und griechisch-römischen Normen nur natürlich erscheinen. Diese Normen werden allerdings in die paulinische Christushermeneutik eingebunden, so daß nun der Liebe auch in der Ethik ein grundlegendes Prae zukommt und alle herkömmlichen Statusunterschiede ihre Bedeutung verlieren 85 • Die Liebe ist die Norm der paulinischen Sinngestaltung. Die paulinische Parakiese zielt auf ein Leben im Einklang mit dem Christllsgeschehen, und sie verweist auf die innere Stimmigkeit zwischen dem geglaubten und gelebten Evangelium. Es geht nicht um die Ableitung' eines Imperativs aus dem Indikativ, vielmehr um die selbstverständliche Einheit von Glauben und Handeln in der Kraft des Geistes. Deshalb ist die paulinische Ethik nicht zuallererst eine Gebots-, sondern eine Einsichtsethik.
83 Vgl. dazu J. STRAUB, Geschichten erzählen, Geschichte bilden, in: ders. (Hg.), Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein, Frankfurt 1998, 81-169: 13off. 84 In vergleichbarer Weise weiß sich der Philosoph nur an den gebunden, "der ihn gesendet hat und dem er dient, Zeus" (Epiktet, Diss III 22,56: 6 KIHUTTETTOIl<j!WC;; utrrov KU!. 4l AUtPEUEL,6 ZEUC;;). 85 Woher, Identität (s. Anm. 39), 86 sieht in der Statusunabhängigkeit und der Reziprozität die entscheidend neuen Kennzeichen der paulinischen Ethik.
Oda Wischmeyer PAULUS ALS AUTOR
1 Der Autor
Mit dem Leitbegriff des Autors bewegen wir uns in der Literaturwissenschaft. Zunächst ist der Autor "geistiger Urheber von (vorzugsweise literarischen) Texten"!. Der antike Begriff auctor enthält das Moment der Urheberschaft "mit normsetzender Nebenfunktion"2. Die abendländische Begriffsgeschichte verwendet den Begriff Autor im spannungsreichen Gefüge von Dichter / 1TOLTl't~C; und Schriftsteller / Literae. Autor ist traditionell die verursachende und sinngebende 1 E. KLEINSCHMIDT, Art. Autor, Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (RDLW) 1, 1997, 176--180; vgl. allgemein A. NÜNNING, Art. Autor, his~orischer, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (MLLK), 22001, 35f; DERS., Art. Autor, impliziter, ebd., 3M. 2 Kleinschmidt, Autor (s. Anm. 1), 177; vgl. dazu auch T. SENG, Art. Autor, Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1, 1992, 1276--1280. ) Zu den Begriffen: Dichter, Schriftsteller und Autor werden teils synonym, teils unterschiedlich gebraucht. "Dichter bezeichnet eine emphatische Autorschaft, die sich nicht auf Alltags- und Gebrauchstexte erstreckt, sondern auf eine gedanklich wie sprachlich herausgehobene, in der Regel fiktionale Textproduktion. Diese umfaßt vorzugsweise die drei Naturformen der Poesie' (Goethe), Epos, Drama und Lyrik, zu deren Hervorbringung eine besondere Begabung, aber auch Inspiration als nötig angenommen werden. Der Dichter wird traditionell der poetologischen Sphäre des Erhabenen zugerechnet, was Selbstschätzung, künstlerischen Anspruch und Rezeption bestimmt" (E. KLEINSCHMIDT, Art. Dichter, RDLW 1, 1997,357-360: 357f). Der Begriff Autor ist demgegenüber viel weiter. Er "bezeichnet heute den geistigen Erzeuger vor allem von Texten jeglicher Art ohne Beschränkung auf die Literatur" (Kleinschmidt, Autor Es. Anm. 1], 176). Der Begriff Literat bezeichnet "allgemein einen Verfasser von Texten" (R. KOLK, Art. Literat, RDLW 2, 2000, 441-443: 441). Allgemein weist der Begriff auf die Literarizität eines Textes und führt damit in die aufwendige Diskussion über die Definition von Literatur; vgl. A. BARSCH, Art. Literarizität, MLLK, 22001, 27M. Der Begriff Literat eignet sich nicht für Überlegungen zu den Verfassern der neutestamentlichen Schriften, da er ein dezidiert moderner Begriff ist. Er "erhält im terminologischen Feld als Bezeichnung für einen bestimmten Typ des Autors seine Position im Literatursystem vor der Mitte des 19. Jh.s" (Kolk, Literat [s.o.], 442). Ähnlich steht es mit dem Begriff Schriftsteller. Es "bürgerte sich im 18. Jh. als Verdeutschung von >Autor< (Verfasser) und >Skribent< (Schreiber) ein im Sinne von > Verfasser von Prosaschriften ohne poet(ischen) Anspruch< im G(e)g(en)s(atz) zum meist höher geschätzten Dichter (Poet)" (G. SCHWEIKLE, Metzler Lexikon Literatur, 21990, 418). Diese Übersicht macht zweierlei deutlich: 1. Der Begriff Autor in seiner literaturbezogenen Variante eignet sich am besten, wenn man nach Paulus als dem Verfasser seiner Briefe fragt. Der Begriff weist, wie dargestellt, auf die geistigen und gestalterischen sowie auf die auktorialen und normsetzenden Aspekte der Verfasserschaft hin. 2. Der Begriff Dichter wirft deutlicher als der Begriff Autor die Frage auf, ob, wieweit und in welcher Weise die Briefe des Paulus Literatur im Sinne der Dichtung sein könnten; vgl. dazu weiter unten.
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Größe in der literaturwissenschaftlichen Dreierbeziehung von Autor _. Text - Leser. Der Text ist das Werk des Autors. Die Autorenintention 4 ist als "Sinn" des Textes dem Text inhärent. Die Interpretation des Lesers bemüht sich um das adäquate Verstehen dieses vorgegebenen und distinkten Sinnes. Die autorenbezogene Interpretation arbeitet rekonstruierend 5 und käme im Idealfall mit der Autorenintention zur Deckung. Die neutestamentliche Wissenschaft arbeitet im großen und ganzen mit diesem Autorenverständnis. Sie kann das herkömmliche literaturgeschichtliche Autorenmodell als Frage nach dem Verfasser in ihre historische Fragestellung und Methodik im Zusammenhang der Einleitungswissenschaften integrieren, ohne weiter über die hermeneutische Bedeutung des Autorenbegriffs für die neutestamentlichen Texte nachdenken zu müssen. Nu!}, h,aben p~stmod~rne, ~~teratut;tgepri~,n .(b~sonders :von R,Barthes, und -M. Fpucault)6.~i~~~,figurfl-t~ogelJ;:g~~n,dsi:irzli~4 überho~~~rq;'rerändert.Q~An,sie;stel-: lell ,,,di,e i;M~cht Ide~~~tqrs iIl,fr~ge'~7 .. ,Der, Autor I ~ritt, ,h,inter, dell' T~x~ ~~.lJ;üc:k:. :Oi~s~rw,ird,a1s i~itatenge~ebe y:erstan,4eJ,l, 4~~ifT\weFt;l;
auch d~~ Autorenintention als hermeneutischer Schlüssel für die Texte zurück, dann. :wird die interpretierende: Funktionr:des "ßes:rs,voh, 01oßepiRek?nstruktion zu 'sdbsdndlgerKbnst'rukr,1b Il befreie N eb~n~ deI{ ~;Sihn"q~ 4a p,~~ßt,Sd11, Je;eil~d~,r~h die Leser und Interpret~n aktuell zu formulierendes BedeutungspotentiaI8,. ;Die ,Texte
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Paulus als Autor
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neutik" von 1994 aufgenommen 9 • Körtner macht die RezeptionsästhetiklO für die biblische Hermeneutik fruchtbar. Wichtig ist weiterhin die Unterscheidung zwischen implizitem Autor und dem Autor selbst, dem sogenannten historischen Autor (W. C. Booth)11. Der implizite Autor "bezeichnet die Vorstellung, die sich der Leser vom Autor macht ... auf Grund jenes Bildes, das der Autor selbst im Werk angelegt hat"12. Die hermeneutische Relevanz dieser Differenzierung für neutestamentliche Texte ist deutlich. So ist zum Beispiel grundsätzlich zwischen der Selbstdarstellung des Briefschreibers Paulus und dem Eindruck, den die Leser von ihm durch seine Briefe empfangen, einerseits und der Person des Paulus andererseits zu unterscheiden. Wie stellen sich nun die neutestamentlichen Schriften im Zusammenhang des literaturgeschichtlichen und des aktuellen literaturtheoretischen Autorbegriffs dar? Ich beginne mit der Frage nach dem V e~f~sser' im' f~rmale'n 'Sinn 'de~ Einleit~ngs wissenschaft. Wir beobachten ein Spektrum unterschiedli~her Verfa'~ser~chaften. Die neute~tamentlicheI?- Sc;hrifte~ sind, teils an~~y~~ teils' ps~udmlym" teii~',~rthp~ ny~,. das heißt"u~t~r .'de~ ,originäre'n" Namen ihrer! Verf~sser'überliefert. Minde:ste~s'Pa~lus pndJohanrH!s" d~rVerfass~rper Johanne~'9ffenb~rHng,: t;et~n :al~ ~r thonyme Autore~ 'hervoL .B~ide und de~,uns"n~'~en~iichIli~htJ siche; ge;kannte Verfas,serde,s s~gedarint~~ luk~rij'sch~~:]j~ppel~e~k~s s·~wi.~ d~r unbekan'nte-l~~z~e ";,,
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9 Zur allgemeinen Leseforschung vg1. G. MÜLLER-OBERHÄUSER, Art. Lesen / Lektüre, MLLK, 22001, 364--366; K. SEIBEL, Art. Leser, fiktiver, ebd., 366; M. WINKGENS, Art. Leser, impliziter, ebd., 366f. 10 Vgl. H. ANTOR, Art; Rezeptionsästhetik, MLLK, '200fZ,:S49"':"SS1; zum artgld-amedkarHschen reader-responsecriticism ,vgl. 'den; Ar't .. 'Leser und Lektüre' in: Hawthdrn; Grun:dbegtiff~ (s.Anm. 4),179-182. '-, ' , ; i 11 W. C. BOOTH, The Rhetoric of Fiction, Chicago u. a. 1991 (1961; deutsch: Die Rhet6rik der Erzählkunst, 197.4); ',vgl. H. ANtOR;' Art. 'Booth, Wayne, C.,in:·MLLK, 22001;67.Di~' eiris~hlägi gen Passagen zum impliziten Autor finden sich in Übersetzung in: Texte zur Thedrie der:A~tdt' schaft(s,Anm. 5),142.c..152; ,Weiteres zur Therhat;ikh!iNünning, Au'tot, 3'6f;vgL auch den Art. ~Auto.rf in; Hawthorn,' Grundbegriffe(s. Anrn. 4), 24--26: 26,. . "" -" '" 12 Hawthorn, Grundbegriffe (s. Anm~ 4)" 26: . , 11' , " .,; , , !'
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Teil direkt als ihr geistiges Eigentum kennzeichnen (Gal 6,11). Nur der Verfasser der J ohannesoffenbarung führt die komplizierte Briefapokalypse, die er schreibt, auf Auditionen und Visionen zurück, die ihm auf Patmos zuteil geworden seien, ohne allerdings sein literarisches Werk selbst als vom Geist verfaßt zu verstehen. Auch er kennzeichnet sein "Buch" als eigenes Werk (Offb 1,9; 22,18~. 2 Die Fragestellung
Im folgenden frage ich nach dem Autor Paulus. Diese Fragestellung gehärt nicht zu den geläufigen Themen wie den folgenden: - Paulus als Missionar und Theologe, - Der vorchristliche Paulus, - Judentum und Christentum bei Paulus, - Paulus und das Gesetz, - Wort Gottes und Glaube bei Paulus, die dem gewichtigen Sammelband "Paulus und das antike Judentum", den Martin Hengel 1991 herausgegeben hat 13 , entstammen. Mit dem Titel dieses Bandes ist auch die Schlüsselfrage der Paulusforschung seit W. D. Davies und E. P. Sanders formuliert l4 • Die maßgeblichen deutschsprachigen Monographien dieses Jahrzehnts zu Paulus von Jürgen Becker und Eduard Lohse sind chronologisch, biographisch, religions geschichtlich und theologisch orientieres. Dasselbe gilt für die englischsprachigen Monographien l6 • Von diesen Fragestellungen her wird nach einem angemessenen Paulusverständnis gesucht. Paulus als Autor spielt in den gegenwärtig führenden Bereichen der Paulusforschung dagegen keine Rolle. Trotzdem finden sich Anknüpfungspunkte in der jüngsten wissenschaftlichen Paulusdiskussion, und zwar in der Rhetorikforschung. Ich werde hier ansetzen und dann zwei weitere wissenschaftliche Diskurse zu Hilfe nehmen, die Literaturwissenschaft und die Textwissenschaft. 1. Paulus als Autor? Diese Frage führt zuerst in eine bekannte Richtung, wenn sie nämlich an die antike Brieftheorie und Rhetorik anknüpft, die Hans-J osef Klauck gerade im Hinblick auf die neutestamentliche Briefliteratur zusammenfas-
M. HENGEL / U. HECKEL (Hg.), Paulus und das antike Judentum, WUNT 58, Tübingen 1991. W. D. DAVIES, Paul and Rabbinic Judaism. Some Rabbinic Elements in Pauline Theology, London 31973; E. P. SANDERS, Paul and Rabbinic Judaism. A Comparison of Patters of Religion, London 1977. 15 Dasselbe gilt für das große Werk von M. HENGEL u. A. M. SCHWEMER, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien, WUNT 108, Tübingen 1998. 16 A. F. SEGAL, Paul the Convert, New Haven, London, 1990; J. MURPHY-O'CONNOR, Pau!. A Critical Life, Oxford u. a. 1996; B. J. MALINA / J. H. NEYREY, Portraits of Paul, Louisville 1996; J. D. G. DUNN, The Theology of Paul the Apostle, Grand Rapids u. a. 1998. 13
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send dargestellt hat l7 • Die anhaltende breite Diskussion um die Erschließung der Paulusbriefe von der antiken Rhetorik her versucht, zwei Bereiche zu verbinden: einerseits die Brieftheorie mit den Elementen der Briefstilistik und Briefhermeneutik und andererseits die inventio und dispositio der Rhetorikhandbücher l8 • Kann sich aus dieser Fragenkonstellation ein neuer Zugang zu dem Werk und zu der Person des Paulus ergeben? Diese Frage ist bisher nicht wirklich in Angriff genommen worden. Vielmehr blieb die Anwendung der rhetorischen Analyse auf die Paulusbriefe. eine Spezialfrage im Rahmen der neutestamentlichen Literaturgeschichte ohne Auswirkungen auf das eigentliche Paulusverständnis. Fragt man nach Paulus als Autor, so könnte man aber auf die eingangs erwähnte Bedeutung des Terminus "Autor" im rhetorischen Kontext verweisen. Der "auctor" wird hier nämlich von seiner auktorialen Rolle in kanonischen Konzeptionen her in den Blick genommen, nicht aber als Schriftsteller oder Literae 9 • Kommt man Paulus als Autor von der Kategorie des auktorialen Schriftstellers und damit von seiner Autorität her nahe? 2. Paulus als Autor? Diese Frage muß weiterhin im schon erläuterten Zusammenhang gegenwärtiger Literaturwissenschaft und Literaturtheorie verstanden werden. Hier geht es um das Verständnis des Autors im Zusammenhang mit der Literatur. Seit die "Grenze zwischen literarischen und nicht-literarischen Textsorten "20 fließend geworden ist, ist "die Verständigung über den Literaturbegriff... der grundlegende Aspekt der literarischen Kommunikation "21. Die Literaturwissenschaft muß sich mit einer "Pluralität von Literaturbegriffen"22 auseinandersetzen, die wiederum von "Literaturtheorie als metatheoretischer Reflexion über Entstehung und Beschaffenheit dieses Repertoires"23 begleitet werden. Für die Frage nach dem Autor ergibt sich daraus Folgendes: "Insofern der literarische Text ... als Artefakt aus der produktiven Tätigkeit des Menschen hervorgeht, ist der Literaturbegriff seines Autors ein entscheidender Faktor seiner Formation selbst, ein Konstituens, das ihm bleibend eingeschrieben ist: Als was ein Autor sich Literatur
17 H.-J. KLAUCK, Die antike Briefliteratur und das Neue Testament, UTB 2022, Paderborn / München 1998. 18 Vgl. dazu zuletzt ST. E. PORTER / D. L. STAMPS (Hg.), Rhetorical Criticism and the Bible, JSNTSS 195, Sheffield 2002. 19 V gl. Seng, Autor (s. Anm. 2), 1276-1280: ,,< Auctor > ist typisch römisch und besitzt keine griechische Entsprechung. Ein auctor ist zunächst der eigentliche Inhaber eines Rechts (Imperiumsträger), dessen auctoritas auf der Eignung, ,maßgeblichen Einfluß auf die Entschließung der anderen kraft überlegener Einsicht auszuüben', gründet" (1276; Zitat von R. Heinze, Auctoritas, in: Hermes 60, 1925, 354). 20 G. WILLEMS, Art. Literatur, in: Das Fischer Lexikon. Literatur 2,1996,1006-1039: 1006. 21 Ebd., 1007. 22 Ebd. 23 P. V. ZIMA, Art. Literaturtheorie, in: Das Fischer Lexikon. Literatur 2,1996,1118-1155: 1118.
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vorstellt, als das geht sein Text in die literarische Kommunikation ein. Und nur in dem Maße, in dem der für den Autor konstitutive Literaturbegriff bei seiner Rezeption zur Geltung kommt, gelangt er überhaupt als literarischer Text zur Gegebenheit; wo dieser Begriff bei Lektüre, Interpretation ... und Kritik unwirksam bleibt oder gar bewußt ausgeschaltet wird, da handelt es sich nicht etwa um eine besonders kreative Form der Rezeption des Textes, sondern um die Vernichtung seines literarischen Charakters"24. Hier wird auch die Grenze der dekonstruktivistischen Kritik am Begriff des Autors deutlich. Produktion und Reproduktion eines literarischen Textes durch einen Autor bleiben an den Literaturbegriff des Autors gebunden. Daß von hierher die Frage nach Paulus als Autor neu und dringend ist, liegt zutage. Sie stellt sich folgendermaßen: - Verstand Paulus der Autor seine Briefe als Literatur? Und in welchem Sinne? - Vernachlässigt die neutestamentliche Wissenschaft den literarischen Charakter der paulinischen Texte, wenn sie von dem Fragenkomplex nach Autor, Text, Literatur und sachgemäßer Rezeption weitgehend zugunsten historischer und theologischer Fragen absieht? - Vollzieht die neutestamentliche Wissenschaft unter Umständen unbewußt den Kanonisierungsprozeß der Paulusbriefe insoweit noch einmal nach, als sie die Briefe nicht als literarische Texte eines Autors, sondern als religions geschichtliche Dokumente oder als Glaubens- und Theologietexte des Urchristentums liest? . Die Antwort auf diesen Fragenzusammenhang hat durchaus nicht nur Bedeutung für die innerneutestamentliche und innertheologische Wahrnehmung des Paulus, sondern auch für seine Wahrnehmung als eines individuellen Schriftstellers im Bereich der Literaturwissenschaften. Weitere Fragen ergeben sich von der Literaturtheorie her 25 , die die "philosophisch-ästhetischen Grundlagen" der Literaturwissenschaft reflektiert26 • Ich kann in diesem Zusammenhang nur auf die eine Frage verweisen, wie nämlich die Texte des Paulus in die literarische Kommunikation des Urchristentums eingehen, wenn es denn eine solche gegeben hat 27 • 3. Paulus als Autor? Diese Frage kann man auch aus der Perspektive der Textwissenschaft bzw. der Textlinguistik stellen. Sie würde eine Antwort auf die Frage allerdings eher verweigern, denn die Textwissenschaft fragt nicht nach dem Autor,
Willems, Literatur (s. Anm. 20), 100M. Weitere einführende Literatur zur Literaturtheorie: P. V. ZIMA / F. HARZER, Art. Literaturtheorie, RDLW 2,2000,482-485; J. HAWTHORN, Grundbegriffe (s. Anm. 4); T. EAGLETON, Einführung in die Literaturtheorie, Sammlung Metzler 246, Stuttgart 19974 • 26 Zima, Literaturtheorie (s. Anm. 23), 1119. 27 Dies berührt das Gebiet der Intertextualität, die für die orthonymen und pseudonymen Paulusbriefe des Neuen Testaments eine wichtige Rolle spielt. Einführende Literatur: R. ACZEL, Art. Intertextualität und Intertextualitätstheorien, MLLK, 22001, 287-289. 24
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sondern nach dem Text, der anderen großen Konstituenten im texttheoretischen Viereck von Textproduzent, Kommunikationssituation, Text und Rezipient 28 • Wenn an die Stelle des Autors ein Textproduzent tritt, stellt sich das gesamte Verständnis des oben dargestellten Zusammenhanges von Autor, Text und Leser noch einmal anders dar. Die Bedeutung für Paulus ist offensichtlich, wenn er nun nicht als Autor verstanden wird, sondern wenn seine Briefe als Texte, und das heißt als Schnitt- und Kristallisationspunkte unterschiedlicher semantischer, argumentativer, literarischer und religiöser Muster, Traditionen und Strömungen gelesen werden. Käme also gerade im' Rahmen der Textwissenschaft unerwarteter Weise die historische Frage in neuer Form wieder zur Geltung, zwar noch differenzierter als bei den alten Fragen nach Einflüssen, Übernahmen, Traditionsstücken, Formeln, Zitaten und geprägten Ausdrücken - aber überraschenderweise eben doch als historische Frage? Wichtig bleibt der Umstand, daß gerade die Textwissenschaft neu auf den Begriff des Autors verweist, wenn sie ihn entbehren oder aber durch den sogenannten "Textproduzenten" ersetzen zu können glaubt. 4. Nachdem ich die drei relevanten Problemzusammenhänge dargestellt habe, in denen die Frage "Paulus als Autor" eine Rolle spielt, fasse ich zusammen. Paulus als Autor? Zwischen antiker Brieftheorie und antiker Rhetorik als Teilbereichen klassischer Philologie einerseits und Literatur- sowie Textwissenschaft andererseits ist diese Frage neu und notwendig zu stellen. Die bisherigen Zugänge neutestamentlicher Wissenschaft zu dieser Frage waren literarkritisch, gattungs kritisch, historisch-biographisch und theologisch. Der Autor Paulus begegnete als Verfasser im Zusammenhang der Kommentierung der einzelnen Briefe und der Einleitungswissenschaft. Er trat auch als Verfasser bestimmter Textformen im Zusammenhang der Gattungsbestimmung der Briefe im Rahmen antiker Literaturgattungen auf. Schließlich ist er eine historische Größe im Rahmen der Paulusbiographie und eine theologische Größe im Rahmen einer Theologie des N euen Testaments. Hier müssen nun neue Aspekte integriert werden. Die Literaturwissenschaft läßt uns die Frage nach dem Autor als Frage nach dem Schriftsteller, das heißt dem literarischen Autor verstehen, und sie unterscheidet zwischen dem historischen und dem impliziten Autor. Die gegenwärtige Rhetorikforschung ermöglicht uns, den Autor Paulus als auctor zu sehen. Die Textwissenschaft fragt am radikalsten, nämlich nach einem sinnvollen Autorenbegriff überhaupt. Von daher ist die 28 Vgl. dazu O. WISCHMEYER, Was ist ein Text? Zusammenfassung des Kolloquiums und Perspektiven für die Interpretation neutestamentlicher Texte, in: DIES. / E.-M. BECKER (Hg.), Was ist ein Text?, Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie (NET) 1, Tübingen / Basel 2001, 211-225: 222f; einführend: TH. LEWANDOWSKI, Linguistisches Wörterbuch 3, Heidelberg 61994, 1171 (Textproduktion); ausführlich: W. HEINEMANN / D. VIEHWEGER, Textlinguistik. Eine Einführung, Reihe Germanistische Linguistik 115, Tübingen 1991,88-93.
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neutestamentliche Wissenschaft gezwungen, das Verhältnis zwischen Autor und Text für die Paulustexte neu und selbständig zu bedenken. Die Fragen, die sich hieraus an die Paulusbriefe stellen, sind deutlich. Antworten werden wir nicht nur in theoretischen Überlegungen, sondern vor allem in den paulinischen Texten selbst suchen müssen. Hier müssen sich die Fragestellungen aus der Literaturwissenschaft, Literaturtheorie und Textwissenschaft als hilfreich erweisen.
3 Paulus als Autor Im Kanon der 27 Schriften des Neuen Testaments begegnet uns, wie schon erwähnt, nur ein Verfasser, dessen authentischer Name und dessen Person historisch sicher faßbar sind: Paulus, der sich den Gemeinden als Apostel J esu Chris~i vorstellt. Weitere Angaben zu seinem Namen und seiner Herkunft macht er nicht29 • Die Briefe des Paulus bilden zeitlich den Beginn der kanonischen Schriftensammlung des Neuen Testaments und darüber hinaus der christlichen Literatur überhaupt. Alle anderen missionierenden Apostel der ersten christlichen Generation haben unseres Wissens nicht "geschrieben", das heißt sie waren nicht Verfasser von Schriften oder gar Autoren. Das ist in besonderer Weise für Petrus zu bedenken, der ebensoviel Anlaß zur Abfassung von Gemeindebriefen und ähnliche Voraussetzungen zur Rezeption seiner Schreiben wie Paulus gehabt hätte. D.araus ergibt sich erstens, daß es in keiner Weise notwendig oder selbstverständlich für die urchristlichen Missionare der ersten Generation war, sich ausführlich schriftlich an die Gemeinden zu wenden. Zweitens werden wir darauf hingewiesen, daß Paulus eben dies getan hat. Damit sind wir zunächst historisch an Paulus als Verfasser verwiesen. 13 neutestamentliche Briefe haben den Präskripten nach Paulus zum Verfasser. Die historisch-kritische Analyse hat mit großer Wahrscheinlichkeit sechs der 13 Briefe als deuteropaulinische Schreiben dem Verfasser Paulus selbst abgesprochen. Sieben der Briefe, die Paulus als Verfasser angeben, betrachten wir also als orthonym, sechs dagegen als deutero- oder pseudonym. Die entsprechenden Briefanfänge und -schlüsse lauten: Röm 1,1: Paulus, Knecht J esu Christi ... Paulus, berufener Apostel Jesu Christi... und Sosthenes der 1 Kor 1,1: Bruder ... 1 Kor 16,21: Der Gruß [ist] von meiner Hand, des Paulus. 2 Kor 1,1: Paulus, Apostel Christi J esu ... und Timotheus der Bruder ... Gal1,1: Paulus, Apostel... durch Jesus Christus ... , und alle Brüder, die bei mir sind ... Phil1,1: Paulus und Timotheus, Knechte Christi Jesu ... 29
Das ist bemerkenswert, da die Paulusbriefe häufig autobiographische Reminiszenzen enthalten.
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Paulus und Silvanus und Timotheus ... Paulus, Gefangener Christi Jesu, und Timotheus der Bruder ... Phlm 19: Ich, Paulus, schreibe mit meiner eigenen Hand. Weitere Stellen, in denen Paulus sich selbst nennt, sind: 2 Kor 1.0,1; Gal 5,2; 1 Thess 2,18 Geweils "ich, Paulus ... ")3o. Aus den deuteropaulinischen Briefen ergibt sich nun auch für die Frage nach Paulus dem Autor eine positive Antwort. Die Briefe des Paulus werden rezipiert und regen zusätzlich eine eigene sekundäre Literatur an. Paulus muß also als Autor verstanden werden. Er war als der erste Verfasser von Briefen in der entstehenden christlichen Kirche zugleich ein erfolgreicher, das heißt rezipierter, und ein maßgeblicher Autor. Daß Paulus mit seinen Briefen Beachtung fand und Maßstäbe setzte, geht nicht nur aus den Paulusbriefen selbst (2 Kor 10,10) und aus der deutero- und tritopaulinischen Literatur hervor. Eines der deutlichsten expliziten neutestamentlichen Beispiele für Intertextualität gilt den Paulusbriefen: 2 Petr 3,15. Und beides, die Rezeption und die auktoriale Bedeutung, sind die konstitutiven Elemente des Autorenbegriffs. Wertet man diese Analyse für die Autorenfrage aus, dann wird Folgendes deutlich: - Am Anfang der christlichen Literatur steht Paulus, der nicht nur Verfasser von Gemeindebriefen, sondern historischer Autor ist. - Paulus hat literaturbildend gewirkt, und Paulusschüler haben pseudepigraphe Briefe unter dem fingierten Verfassernamen des Paulus geschrieben. - Die Sammlungen von Paulusbriefen bilden den Kern des entstehenden neutestamentlichen Kanons. Ich beleuchte noch einige weitere Aspekte. Paulus ist nach "Lukas" - Lukasevangelium und Apostelgeschichte umfassen 186 Nestle-Seiten - der produktivste kanonische Autor mit 100 Nestle-Seiten. Da mit weiteren verlorenen Gemeindeund Privatbriefen zu rechnen ist, darf man vermuten, daß er ursprünglich nicht nur der produktivste Autor der ersten christlichen Generation, sondern des gesamten Urchristentums war, gerade wenn man den ungewöhnlichen Umfang seiner großen Briefe bedenkt (Römerbrief: 32 Seiten; Erster Korintherbrief: 31 Seiten; Zweiter Korintherbrief: 20 Seiten)31. Angesichts der Lebens-, Arbeits- und Missionsumstände des Paulus wird diese schriftstellerische Leistung umso deutlicher. 1 Thess 1,1: Phlm 1:
30 V gl. dazu die Tabelle bei E.-M. BECKER, Schreiben und Verstehen. Paulinische Briefhermeneutik im Zweiten Korintherbrief, NET 4, Tübingen / Basel 2002, 149-155, bes. 151. 31 Hier ist allerdings Vorsicht angesichts möglicher Teilungen geboten. Zu den Teilungshypothesen zum 2 Kor vgl. zuletzt Becker, Schreiben (s. Anm. 30), 43-102, bes. 96.
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Paulus verbindet überall seine Argumentation mit seiner Person und mit seiner Biographie. Weite Passagen seiner Briefe sind in einem persönlichen Ich-Stil gehalten 32 • Hinzu treten narrativ gestaltete autobiographische Passagen, die uns erlauben, das Leben des Paulus aus seinen Briefen teilweise zu rekonstruieren. Paulus als sogenannter historischer Autor hat sich in seinen sieben Briefen ausführlich dargestellt. Das gilt sowohl für seine vorchristliche Zeit als auch für seine Zeit als Apostel Jesu Christi, das heißt als Missionar. Dies ist umso wichtiger, wenn man berücksichtigt, daß nicht nur die urchristliche, sondern auch die frühjüdische Literatur ganz überwiegend anonym oder pseudepigraph, in jedem Fall aber ohne deutlichen Bezug auf den Autor und seine Geschichte verfaßt wurde33 • Am Anfang der christlichen Literatur steht also ein namentlich bekannter und sich selbst ungewöhnlich deutlich darstellender Autor. Nun bezieht sich aber diese deutliche Selbstdarstellung des Paulus nicht mir auf seine äußere Vita, sondern auch auf seine innere Biographie34 • Er stellt sein Inneres geradezu rücksichtslos dar, offenbart seine Schwäche und Furcht (1 Kor 2,3) und stellt sich bloß, indem er sein rätselhaftes Leiden beschreibt, das ihm ja gerade als Schwäche vorgeworfen wird (2 Kor 12,6-10; GaI6,17; vgl. 2 Kor 4,10)35. Er offenbart seine Trauer (Röm 9,1-3; PhiI3,17ff) und seine Freude (PhiI4,10) ebenso wie seinen radikalen Eifer (Gal 1,8f) und seine Liebe zu Christus (phil 1,21f) und zu den Gemeinden (2 Kor 6,11-13), seine Gebete (2 Kor 12,8) wie seine Offenbarungen (2 Kor 12,1-10). Über Paulus als Autor läßt sich bisher Folgendes sagen: Am Anfang der christlichen Literatur steht ein produktiver Autor, der sein Inneres, seine ganze Person in ungewöhnlicher" Weise offenlegt und seine Adressaten an seiner Person anteilhaben läßt. Paulus ist ein individueller Autor, der seine Individualität mit seiner Autorenschaft verbindet.
4 Paulus als Schriftsteller Ein literarischer Autor läßt sich von den Gattungen her erfassen, in denen er schreibt. Paulus als Autor schreibt nur in einer einzigen Gattung, dem Brief36 . Wie Vgl. dazu ebd., 232-234. Ausnahmen: Jesus Sirach und sein Enkel, Philo, Josephus. 34 V gl. dazu O. WISCHMEYER, Paul' s Religion: A Review of the Problem, in: Paul, Luke and the Greco-Roman World. FS A. J. M. Wedderburn, hg. v. A. Christophersen u. a., JSNTSS 217, Sheffield 2002, 74-93. 35 Vgl. dazu O. WISCHMEYER, 2 Kor 12,1-10. Ein autobiographischer Text des Paulus, in: Wischmeyer / Becker, Text (s. Anm. 28),29-42. 36 Vgl. dazu allgemein: Art. Der Brief und andere Textsorten im Grenzbereich der Literatur, in: H. L. ARNOLD / H. DETERING, Grundzüge der Literaturwissenschaft, München 1996,357-364; J. GOLTZ, Art. Brief, RDLW 1, 1997,251-255; P. L. SCHMIDT u. a., Art. Brief, Der Neue Pauly 2, 32 33
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kam es zur Wahl dieser Gattung? Der Brief läßt sich als "ein (1) nicht-fiktionaler, (2) an eine explizit genannte bzw. angeredete Person (oder Mehrzahl von Personen) gerichteter, (3) nicht zur weiteren Veröffentlichung bestimmter Text beschreiben ... Für den offiziellen Brief gelten nur die Kriterien (1) und (2)."37 Die Gattung ist situations bezogen, adressaten bezogen , kommunikativ und in der Handhabung flexibel. Allerdings führen diese gattungsspezifischen Merkmale nicht einfach zu den umfangreichen Gemeindeschreiben des Paulus, sondern vielmehr zu den kurzen Gemeindeanschreiben wie dem Zweiten Johannesbrief. Alle authentischen Paulusbriefe sind erheblich länger als antike Privatbriefe und als offizielle Schreiben38 • Sie lassen sich äußerlich höchstens mit den philosophischen Lehrbriefen Epikurs, Ciceros und Senecas vergleichen, die allerdings rein literarischen Charakter haben 39 • Der berühmte Text 4 Q MMT (4 Q 394-399), wenn er denn eine Epistel gewesen sein mag, wäre ein formales Lehrschreiben, das an eine Einzelperson, nicht an eine Gemeinde gerichtet war40 • Wirkliche Vorbilder für die großen paulinischen Gemeindebriefe lassen sich nicht nachweisen. Der Autor Paulus nimmt also die geläufige Gattung Brief in einer innovativen und individuellen Weise in Anspruch und schafft damit eine neue literarische Textsorte, den christlichen Gemeindebrief, der von vornherein zum lauten Vorlesen in der jeweiligen Gemeindeversammlung und möglichst auch in Nachbargemeinden bestimmt war 41 • Diese neue Textsorte wird erfolgreiche Trägerin altchristlicher Gemeindeliteratur42 • Die Situation der Mission erforderte diese christlichen Gemeindebriefe nicht. Paulus hätte - wie schon gesagt - kurze Gemeindebriefe schreiben können, die der Nachrichtenübermittlung und der gegenseitigen Verbindung dienten. Daß er mit Sicherheit auch solche Briefe geschrieben hat, zeigt der Hinweis auf mögliche Empfehlungbriefe des Paulus für die Kollekte nach Jerusalem (1 Kor 16,3). Interessanterweise sind derartige Briefe nicht rezipiert worden 43 • Darüber hinaus hätte er 1997, 771-775; Klauck, Briefliteratur (s. Anm. 17); zuletzt Becker, Schreiben (s. Anm. 30), 46ff.123133. 37 Goltz, Brief (s. Anm. 36), 251. 38 Zu den Privatbriefen vgl. Klauck, Briefliteratur (s. Anm. 17), 71ff; zu den offiziellen Schreiben ebd.,80ff. 39 Ebd., 95ff. 40 Ebd., 192f. 41 Vgl. dazu Becker, Schreiben (s. Anm. 30), 54f. 42 Vgl. dazu W. A. LÖHR, Art. Brief, Lexikon der Antiken Christlichen Literatur, 32002, 131f. 43 Jedenfalls ist uns ein solcher Brief nicht erhalten. Denn auch der Philemonbrief trägt durchaus offizielle Züge und ist auch vom Umfang her nicht ganz kurz. Unter Umständen sind allerdings aktuelle Kurzbriefe in den uns überlieferten längeren Schreiben enthalten; vgl. dazu Becker, Schreiben (s. Anm. 30), 43-102, bes. 96 (tabelle): Der Brief B (7,5-16) wäre ein solcher Brief. Meine Ausführungen zu diesem Punkt gelten daher nur vorbehaltlich einer weiteren Prüfung der Beckerschen literarhistorischen Hypothese (vgl. ebd., 94).
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lehrhafte Traktate in unterschiedlichen Gattungen oder zusammenhängende Schriftauslegungen zu wichtigen Themen wie Eschatologie, Fragen gemeindlichen Lebens, Gesetz, Judentum usw. verfassen können, wie er sie aus der reichen frühjüdischen Literatur kannte und wie sie urchristliche Schriftsteller später schreiben sollten. Paulus dagegen war als Aut()r innovativ und schuf sich eine eigene Textsorte, die seinen schriftstellerischen Absichten entsprach. Nach Paulus als Autor zu fragen, heißt daher des näheren, nach Paulus als Schriftsteller zu fragen. Denn als Autor langer und formal wie inhaltlich anspruchsvoller Briefe ist Paulus Schriftsteller. Er konstituiert nicht-fiktionale Texte, das heißt er findet Schreibsituationen und nimmt sie wahr. Er entdeckt Themen. Er findet Begriffe. Er schafft grammatische, stilistische, semantische und argumentative Sprachzusammenhänge. Er ordnet diese zu Teiltexten, die den Umfang kleinerer Traktate erreichen können (1 Kor 15). Die Teiltexte verbindet er zu einem Gesamttext, eben dem Brief, der in eine kommunikative Situation hinein geschrieben wird. Daher muß gefragt werden: Wie konstituiert der Autor Paulus seine Texte 44 ? Diese Frage führt zunächst zu einer differenzierten Beschreibung der Einzelelemente, die den Gesamttext konstituieren. Diese Elemente lassen sich anhand der klassischen exegetischen Stil-, Formen- und Gattungstermini benennen45 • Ich füge einige weitere Beobachtungen hinzu. Paulus beantwortet in kleinen thematischen Abhandlungen Fragen der Gemeinden wie in 1 Kor 5f, die Themen für seine Ausführungen werden. Dabei muß er sich nicht dauernd auf die jeweilige Gemeinde beziehen, sondern kann Gemeindeanfragen zu grundsätzlichen theologischen Überlegungen ausweiten und andere Themen wie in 1 Kor 6,1-11 einbeziehen. Persönliche und auktoriale Zuwendung zur Gemeinde kennzeichnet besonders die paränetischen Passagen seiner Briefe (zum Beispiel Röm 12,1f), die er wieder von der Situationsgebundenheit lösen und thematisch verallgemeinern kann wie in Röm 13 und 14f. Oder er führt eigene Fragen einer Klärung zu wie in Röm 9-11. Er führt innere Halbdialoge wie mit Petrus (GaI2,14f), er rechtet mit konkurrierenden Missionaren (2 Kor 11,22f; 44 Vgl. dazu K. BRINKER, Linguistische Textanalyse, Grundlagen der Germanistik 29, Berlin 52001, pass.; Art. Textualität, in: Lewandowski, Wörterbuch 3, 1177f; Vertiefung bei R.-A. DE BEAUGRANDE / W. U. DRESSLER, Einführung in die Textlinguistik, Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 28, Tübingen 1981, 50-215. Beaugrande beschreibt die Textkonstitution mit den sieben bekannten Begriffen: Kohäsion - Kohärenz - Intentionalität und Akzeptabilität - Informativität - Situationalität - Intertextualität. Die Paulusbriefe anhand dieser zunächst textlinguistisch gemeinten Kriterien als Texte darzustellen, wäre eine lohnende Aufgabe, die ich hier nicht erfüllen kann. Ich beschränke mich auf einige literaturgeschichtliche Überlegungen. Dabei beziehe ich mich auf Becker, Schreiben (s. Anm. 30), 123-133 ("Das Briefeschreiben"), bes. 127ff ("Zur Produktion eines schriftlichen Textes"). 45 Vgl. dazu besonders K. BERGER, Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984.
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Phil 3,18ft), wendet sich an Gott (Röm 11,33ft) und denkt, spricht und schreibt stets vor Christus (Röm 9,1-3). In die Argumentationsgänge, die auf die Gemeinden bezogen sind, fügt er autobiographische Passagen und Planungen ein46 • In 1 Kor 10; Gal 3 und 4; Röm 4; Röm 10 und 11 legt er die Schrift aus. Immer wieder verwendet er kleinere Traditionsstücke unterschiedlicher Art sowie Schriftzitate, die seinen Texten eine diachrone Tiefenstruktur geben (zum Beispiel 1 Kor 15,1t). Diese verschiedenen Elemente, die zum Teil distinkte Einzeltexte darstellen (etwa 1 Kor 13), ordnet der Autor Paulus nach einem internen Bauplan. Er konstituiert Brieftexte. Wie dies im einzelnen geschieht, ist für die Paulusbriefe noch nicht hinreichend untersucht worden. Hier können nur einige allgemeine Hinweise zum Thema gegeben werden. Bisher fragt die neutestamentliche Wissenschaft in zwei Richtungen: literarkritisch und historisch. Bei der Frage nach der Textkonstitution werden im Bereich der Exegese traditionell literarkritische Überlegungen angestellt: Sind die sieben orthonymen Paulusbriefe in ihrer uns vorliegenden Form ursprünglich einheitliche Textgebilde oder aber Kompilationen? Die Frage läßt sich zuspitzen: Haben wir überhaupt einen einheitlichen Text des Autors Paulus? Für diese Frage lassen sich jetzt die textwissenschaftlichen Überlegungen zu Kohärenz und Kohäsion von Texten, die auf der strukturell beschreibenden Ebene angestellt werden, hinzuziehen 47 • Die Frage nach kohärenten Paulustexten läßt sich am ehesten vom Römerbrief aus stellen, da allein der Römerbrief "allgemein als durchaus integrer Paulusbrief" gilt, "abgesehen einzig von Kapitel 16"48. Seit H. D. Betz' Aufsatz zum Galaterbrief von 1975 49 und G. A. Kennedys Buch von 198450 wird in diesem Zusammenhang bewußt die rhetorische Analyse herangezogen 51 • Die inventio und dispositio der Rede sind dem modernen Terminus der Textkonstitution durchaus zu vergleichen. Und in dieser Perspektive sind die rhetorischen Begriffe hilfreich für die Frage nach dem Aufbau der paulinischen Briefe im Sinne der Textproduktion und ihrer Beschreibung. Die kritische Frage diesem Neuansatz gegenüber lautet dann aber: Läßt sich Paulus als ein Autor verstehen, Röm 1,8ff; 15,19ff; 1 Kor 1,14-17; 16,1ff; 2 Kor pass.; Ga11,13ff; Phi13,5ff u. ö. V gl. dazu E.-M. BECKER, Was ist Kohärenz? Ein Beitrag zur Präzisierung eines exegetischen Leitkriteriums, ZNW 94, 2003,97-121. 48 U. WILCKENS, Der Brief an die Römer. 1. Teilband: Röm 1-5, EKK 6/1, Zürich / Neukirchen-Vluyn 1978, 27. 49 H. D. BETZ, The Literary Composition and Function of Paul' s Letter to the Galatians, NTS 21, 1975,353-379. 50 G. A. KENNEDY, New Testament Interpretation Through Rhetorical Criticism, Chapel Hill 1984. 51 Vgl. dazu D. F. WATSON, Rhetorical Criticism of the Pauline Episdes since 1975, Currents in Research. Biblical Studies 3,1995,219-248; vgl. auch Klauck, Briefliteratur (5. Anm. 17), 176ff. 46
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der bewußt die rhetorische dispositio verwendet, oder folgt der Autor Paulus lediglich einigen allgemeinen Grundstrukturen von Textkonstitution, die die antiken Rhetorikhandbücher ihrerseits erhoben, ausgearbeitet und gelehrt haben? Ich neige mit H.-J. Klauck zur zweiten Annahme. Denn so deutlich Paulus als literarischer Autor in Erscheinung tritt, so wenig tritt er als geschulter Rhetor auf, besonders wenn man das Urteil der korinthischen Gemeinde ernstnimmt:. Ai. ETTLOtOAal. flEV ... ßapE'iaL KaI. loxupaL .. 6 AOYOC; E~ou8EVT]flEVOC; (2 Kor 10,10). Die Rhetorik aber bezieht sich eben auf die mündliche Rede in der ÖffentlichkeitS2 . Sie läßt sich nur bedingt auf Texte übertragen. Diese Differenz zwischen mündlicher und brieflicher Rede, die Cicero beschworen hat S3 , wird von diesem korinthischen Votum ja gerade gestützt und von Paulus selbst bestätigt: ~A8ov ou Ka8' iJ1TEPOX~V AOYOU (1 Kor 2,1). Der Rekurs auf Paulus als Autor führt also von e-iner überzogenen rhetorischen Analyse der paulinischen Briefe sowie von einer unkritischen Anwendung "persuasiver Kommunikation"S4 in der sogenannten Neuen Rhetorik fort und öffnet statt dessen die Frage nach der Textkonstitution durch den Autor neu. Genauer formuliert: Die Frage nach Paulus als Autor ist zugleich die Frage nach dem inneren Bauplan und der inneren Dynamik seiner Briefe. Dabei können geläufige Muster der antiken Rhetoriklehre durchaus vorausgesetzt bzw. im Text aufgewiesen werden. Der Autor als Textkonstituent muß von seiner produktiven Seite her in den Blick genommen werden. Paulus als Autor größerer literarischer Textzusammenhänge erschließt sich damit neu von seiner Produktivität nicht nur äußerer, sondern vor allem innerer Art. Er ist also nicht nur im formalen Sinne Autor als Textproduzent, sondern Autor im literarischen Sinn. 5 Paulus als auctor
Die Rhetorik ist, wie schon gesehen, noch in einem anderen Aspekt für Paulus als Autor von Bedeutung, und zwar in der Vorstellung des Verfassers als des auctors, das heißt von seiner Autorität her. Wie verhält es sich mit Paulus als auctor? Zur Frage der Autorisierung hat sich Paulus in der superscriptio der Briefpräskripte unterschiedlich geäußert, wenn auch alle echten Paulusbriefe mit dem Verfassernamen ITauAoc; beginnen. Den Ersten Thessalonicherbrief eröffnet er mit der bloßen Nennung seines Namens. Im Philipperbrief führt er sich selbst als "Knecht Christi Jesu" ein, im Philemonbrief als "Gefangener Christi Jesu". Der beiden Korintherbriefe dagegen enthalten die Selbstbezeichnung IXiTOO'WAOC; Xpw'Wu' ITJoou.
V gl. Klauck, Briefliteratur (s. Anrn. 17), 167. Cicero, Farn IX 21,1. 54 Klauck, a.a.O. (s. Anrn. 17), 169.
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Zu "Apostel" tritt beide Male die primäre Autorisierung: "durch Gottes Willen", im Ersten Korintherbrief zusätzlich das Adjektiv KArreO<;. Im Galaterbrief und im Römerbrief äußert sich Paulus im Präskript detailliert zur Autorisierungsfrage. In Gal 1,1 nennt er sich "Paulus, Apostel nicht von Menschen und nicht durch einen Menschen, sondern durch J esus Christus und Gott den Vater". Das RömerbriefPräskript schließlich verbindet a1TooTOAo<; Xpw'tou 'Ill00U mit KAll'tO<; und ÖOUAO<; sowie der autobiographischen Ergänzung acpwpw~EVO<; d<; EuexYYEALOV SEOU (vgl. GaI1,15) und dem Satz: "Durch ihn haben wir empfangen Gnade und Apostelamt (a1Too'toA~) zur Aufrichtung des Glaubensgehorsams unter allen Heiden" (Röm 1,5). Paulus äußert sich also in den einzelnen Briefen sehr differenziert über seine eigene Autorisierung und die sich von daher ableitende auctoritas, die er im Römerbrief begrifflich als a1TooTOA~ faßt 55 • Sie hat ihren Grund einzig in der Offenbarung des Sohnes, in der Paulus zur Evangeliumsverkündigung unter den Heiden berufen wurde (vgl. Röm 1,1-5 mit Gal 1,15f). Paulus als Missionar ist durch seinen Apostolat autorisiert. Dieser Aspekt von Autorisierung bezieht sich auf sein Verhältnis zu Gott als der eigentlich autorisierenden Größe. Die Autorisierung bezieht sich auf sein EuexYYEALOV, nicht auf den Text seiner Briefe. Diese verantwortet er selbst. Gott läßt sich also aus paulinischer Sicht nicht als Autor der Paulusbriefe bezeichnen, wohl aber als auctor der paulinischen Verkündigung. Als Verfasser literarisch anspruchsvoller Briefe steht Paulus aber nicht allein wie die großen griechischen und römischen Briefschriftsteller von Plato bis zu Seneca. Sechs der sieben Paulusbriefe haben in der superscriptio Co-Autoren 56 : Silvanus und Timotheus im Ersten Thessalonicherbrief, Timotheus im Philipperbrief und Philemonbrief sowie im Zweiten Korintherbrief, Sosthenes im Ersten Korintherbrief. Die Mitverfasser werden als "Brüder" bezeichnet (phil 1,1: Timotheus als "Knecht Jesu Christi" wie Paulus). In Ga11,2 nennt Paulus sogar "alle Brüder, die bei mir sind". Diese Wendung zeigt, daß hier nicht an konkrete schriftstellerische Mittätigkeit gedacht sein kann, wohl aber an Mitverantwortung und an den U mstand, daß Paulus auch als Apostel Jesu Christi nicht gegenüber, sondern mit seiner jeweiligen Gastgemeinde oder seinen Mitarbeitern gedacht sein will 57 • Einzig der Römerbrief hat nur einen Autor: Paulus, der sich zudem in diesem Brief am ausführlichsten hinsichtlich seiner Autorisierung durch Gott vorstellt.
55 Ein seltenes Substantiv im Neuen Testament (bei Paulus: Röm 1,5; 1 Kor 9,2; Gal2,8 - weiter: Apg 1,25). 56 Vgl. oben Anm. 29. 57 Becker, Schreiben (s. Anm. 30), 151 zeigt richtig auf, daß die Mitabsenderschaft nicht im Sinne literarischer Mitverfasserschaft oder Autorisierung, sondern in kommunikativem Sinn zu verstehen ist.
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Wenn Paulus also stets selbständiger Autor ist, so tritt er doch nur gegenüber der ihm fremden Gemeinde in Rom, der er sich vorstellt, ganz selbständig und ohne Mitverantwortung seiner Gastgemeinde und seiner Mitarbeiter in Erscheinung. Im Römerbrief ist Paulus in höherem und bewußterem Maße literarischer Autor als in seinen anderen Briefen58 . 6 Paulus in seinem literarischen Selbstverstilndnis
Bisher haben wir mit Hilfe literaturwissenschafdicher und literaturtheoretischer Fragestellungen nach Aspekten der Autorenschaft des Paulus gesucht. Hat Paulus - so möchte ich nun weiterfragen - auch ein eigenes Verständnis von sich als Autor? Paulus verweist häufig auf sein eigenes Schreiben. Er schreibt über Themen, nach denen die Gemeinden fragen (1 Kor 7,1: "wovon ihr geschrieben habt")59. Er selbst erläutert seine Briefe (1 Kor 5,9: "ich habe euch in dem Brief geschrieben")60. Er gibt seine Intentionen an ~nd gewährt uns damit Einblick in die Textpragmatik seiner Schreiben. Ich zitiere einige seiner metakommunikativen Sätze 61 : - "Ich schreibe nicht zu meinem Nutzen" (1 Kor 9,15) . . - "lch habe geschrieben, um eure Bewährung kennenzulernen, ob ihr gehorsam seid" (2 Kor 2,9). - "Wenn ich euch geschrieben habe, dann deshalb, damit euer Eifer für uns sichtbar werde vor euch und vor Gott" (2 Kor 7,12). - "Deshalb schreibe ich euch dies aus der Ferne, damit ich nicht, wenn ich anwesend bin, Strenge gebrauchen muß" (2 Kor 13,10). - "lch schreibe dir im Vertrauen auf deinen Gehorsam" (phlm 21). Er weiß und nimmt bewußt in kauf, daß seine Briefe die Korinther traurig machen können (2 Kor 7,8), so wie er selbst auch unter Tränen schreiben kann (2 Kor 4,1). Er ist sich dieser Wirkung seiner Briefe selbst bewußt und weiß, daß sie in den Gemeinden erfahren und diskutiert wird: " ... damit es nicht scheint, als hätte ich euch mit den Briefen schrecken wollen. Denn die Briefe, sagen sie, sind
58 Dieser Aspekt tritt in den Kommentaren zugunsten einer theologischen Deutung ganz in den Hintergrund; vgl. z. B. Wilckens, Brief (s. Anm. 48), 15, der den Römerbrief nach Melanchthons dictum als "doctrinae Christianae compendium" einführt. Auch A. RErCHERT, Der Römerbrief als Gratwanderung. Eine Untersuchung zur Abfassungsproblematik, FRLANT 194, Göttingen 2001, die das Autorenproblem durchaus neu in den Blick nimmt (z. B. 71-75), kommt nicht zu einer deutlichen Wahrnehmung des literarischen Charakters des Römerbriefes, sondern reduziert den Autor Paulus auf seine situative und kommunikative Rolle (z. B. 343-346). 59 Röm 15,15; 1 Kor 4,14; 5,9.11; 7,1; 9,15; 14,37; 2 Kor 1,13; 2,3.4.9; 7,12; 9,1; 13,10; GaI1,20; 6,11; PhiI3,1; 1 Thess 4,9; Phlm 19.21. 60 Röm 16,22; 1 Kor 5,9; 16,3; 2 Kor 3,1.2.3; 7,8; 10,9.10.11; 1 Thess 5,27. 61 V gl. dazu Becker, Schreiben (s. Anm. 30), 133ff.
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wuchtig und voller Kraft [ßapE1{n KaI. toxupaL]" (2 Kor 10,10). Entscheidend ist 2 Kor 10,11: otOL EOIlEV n~ /...Oy0t ÖL' ElTLOtO/...Wv {X7roVtEC; (wie wir tätig, kräftig, präsent in der Rede durch die Briefe während oder trotz unserer Abwesenheit sind)62. Paulus benutzt seine Briefe bewußt als Mittel, sich den Gemeinden während seiner Abwesenheit anwesend zu machen63 . Dafür setzt er weniger rhetorische Mittel ein, sondern vielmehr seine ganze Person mit allen Formen der Anteilnahme (2 Kor 6,11-13; 7,3)64. Hier ist eine neue, allerdings kritische Beschäftigung mit der literaturtheoretischen Autorenpsychologie unerläßlich65 . Paulus versteht sich also ebenso sehr selbst als Briefschreiber, wie er von den Gemeinden und von seinen Schülern her als solcher wahrgenommen wird. 2 Kor 10 zeigt mit der binären Opposition von Brief und Rede 66 , das heißt von schriftlicher Korrespondenz und mündlicher Missions- bzw. Gemeinderede, also Brief oder Predigt und Lehre, noch mehr. Paulus versteht sich selbst zu gleichen Teilen als predigender und als schreibender Apostel: als Missionar und als Autor. Und ebenso wird er jedenfalls nach seinem eigenem Urteil von den Gemeinden wahrgenommen.
7 Paulus als theologischer Schriftsteller Zum letzten Mal: Paulus als Autor? Inwieweit sind die Beobachtungen und Folgerungen, die ich hier dargelegt habe, für ein angemessenes Verstehen des Paulus relevant? Ist die Frage nach Paulus als Autor nur eine Spielart der Versuche neutestamentlicher Exegese, neue Zugänge und Methoden zu erschließen, oder eröffnet sie neue sachliche Einsichten zu Paulus? Die Beschäftigung mit der Autorenfrage erschließt wesentliche Aspekte bei Paulus, die im Rahmen neutestamentlichtheologischer, religionsgeschichtlicher, historischer und klassisch-philologischer Textexegese nicht deutlich hervortreten. Zunächst tritt Paulus als Autor als eine individuell beteiligte, individuell formulierende und argumentierende und individuell haftende Person in den Blick. Die paulinischen Briefe lassen sich weder dekonstruktivistisch als bloße Textgewebe noch theologisch als propositionale Aussagenkomplexe oder Argumentationsreihen verstehen. Es reicht aber auch nicht, sie wie herkömmlich exegetisch in ihrem historischen "setting" zu interpretieren. Sie haben einen historischen Autor, mit
62 Ebd., 262ff. 63 Ebd. 64 Ebd., 217-224. 65 Vgl. dazu einführend L. RÜHLING, Psychologische Zugänge, in: H. L. Amold / H. Detering (Hg.), Grundzüge der Literaturwissenschaft, München 1996,479-497. 66 Vgl. dazu einführend H. KRAH, Art. Binarismus / Binare Opposition, MLLK, 22001, 96; vgl. weiter die Exkurse zu Schreiben und Sprechen bei Becker, Schreiben (s. Anm. 30), 179ff.215ff.
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dessen Person und Schicksal sie formal und inhaltlich unlösbar verbunden sind. Paulus als Autor verfaßt selbst verantwortete theologische Texte, die als solche verstanden werden wollen. Nun ist Paulus offensichtlich nicht Autor wie der Verfasser des Hebräerbriefes, das heißt theologischer Schriftsteller, der seine eigenen Überlegungen in lehrhafter Form einem allgemeinen christlichen Adressatenkreis in schriftlicher Gestalt mitteilt. Sondern die Autorschaft des Paulus ist eine BriefAutorschaft. Sie ist von seiner persönlichen Liebe und aktuellen Verantwortung gegenüber bestimmten Gemeinden getragen. Nur soweit ist er Schriftsteller. Paulus sieht seine Briefe in dem Koordinatensystem: er, Paulus, als Autor - Christus die Gemeinden. Dieses Selbstverständnis hat einen objektiven Aspekt: Paulus wäre unter anderen Bedingungen nicht zum urchristlichen Brief-Schriftsteller geworden. Nur in diesem Koordinatensystem gibt es den Autor Paulus. Und weiter: Paulu~ ist ein entfaltender theologischer Schriftsteller. Er ist bei aller Traditionsverflochtenheit hoch innovativ und imaginativ und kann nur aus dieser Perspektive angemessen verstanden werden. Wie explosiv seine Texte wirkten, zeigt die literarische Polemik, in die wir im Zweiten Korintherbrief hineinsehen. Wie generativ seine Texte waren, zeigt die deuteropaulinische Literatur, die kein Mißverständnis ist, sondern die starken Impulse aufnahm, die von Paulus als Autor ausgingen. Im weiteren Sinne ist ja die gesamte nachpaulinische kanonische Briefliteratur als Paulusrezeption zu verstehen. Hier wurde - anders als im Bereich der Evangelienliteratur - originär theologisch geschrieben: nicht im Sinne von Traditionssammlung und -redaktion, sondern in eigener theologischer schriftstellerischer Arbeit, wie besonders der Epheserbrief zeigt. Daraus folgt weiter: Die Brieftheologie des Paulus vertritt eine persönlich verantwortete67 und gegründete, nicht eine allgemeine Theologie. Sie enthält durchaus - besonders im Römerbrief - allgemeintheologische Analysen. Röm 1,18-8,39 enthält keinen Bezug des Paulus auf seine Person, dieser beginnt erst ab 9,1. Ihr Rahmen aber ist ein personaler: Die theologischen Ausführungen des Paulus, die Briefe des Autors Paulus, sind eine Gabe der Liebe an seine Gemeinden, sie sind nicht allgemeine Lehre oder Parakiese. Das macht 2 Kor 1,12-14 deutlich: 'EmYLVWOKElV ist eine Vokabel der Liebe. Deshalb sind die Briefe des Paulus nicht neue Gesetze für die Gemeinden, sondern sie sind Zeugnis der Freiheit, die der Geist gibt. Deshalb tritt Paulus ITOAA1J mXPPllo(~ (mit großem Freimut) auf. Insoweit ist Paulus, der Apostel Jesu Christi, durchaus als auktorialer Autor im Sinne der apostolischen Autorität zu verstehen, nicht aber als kanonischer Autor im Sinne des Normativen. Letzteres Verständnis spiegelt die kanonische Stufe seiner Rezeptionsgeschichte. 67 Vgl. E. BISER, Paulus - Der Entdecker der christlichen Subjektivität, in: R. L. Fetz u. a. (Hg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität 1, Berlin / New Y ork 1998,285-297.
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Die Frage nach Paulus als Autor läßt sich nun zusammenfassend folgendermaßen einer Klärung zuführen: Paulus ist insoweit Autor, als er das Evangelium von Jesus Christus nicht nur wie die anderen Missionare mündlich verkündigt, wie es auch seinem Auftrag als Apostel entspricht, sondern indem er es in Selbständigkeit und Freiheit schriftlich, und zwar in individueller, selbst verantworteter und innovativer schriftstellerischer Form entfaltet. Er ist der erste maßgebliche theologische Autor der christlichen Literatur und begleitet als solcher in eigener theologischer Arbeit die Gemeinden in ihrer sich entfaltenden christlichen Existenz. 8 Theologische Perspektiven
Abschließend stellt sich die Frage: Welche theologische Bedeutung hat es, wenn wir Paulus als Autor verstehen? Die Frage läßt sich auch so stellen: Welche Bedeutung hat die Rede von Paulus als Autor für die Autorität seiner Schreiben? Woher nimmt er seine Aussagen, seine Ratschläge und seine Hoffnungsbilder? Welche Bedeutung und welche Verbindlichkeit haben seine Briefe? Zunächst muß Folgendes gelten: Die Briefe des Paulus haben nicht nur einen historischen Verfasser, sondern einen literarischen Autor im engeren Sinne. Die systematische Redefigur "Gott als Autor" ist daher eine Metapher, die nicht in dem Sinne hermeneutisch denkt, daß sie die Kanongeschichte als Rezeptionsgeschichte versteht, sondern die hermeneutische Metapher als Auslegung des Glaubens an Gottes Offenbarung formuliert. Die systematische Rede von Gott als dem Autor des Neuen Testaments verändert daher die facettenreiche biblische Vorstellung vom Reden Gottes 68 grundlegend. Letzten Endes dürfte sie eine moderne geistreiche Neuformulierung des klassischen Anliegens jeder Spielart von Verbalinspiration von Origines bis in die lutherische Orthodoxie hinein sein: nämlich die kanonisierte Schrift so eng wie möglich an Gott selbst heranzurücken und in den Bereich der Offenbarung und der Erlösungslehre zu ziehen. Diese systematische metaphorische Rede ist dann sinnvoll und sachlich legitim, wenn sie folgende Aspekte nicht" verunklärt", die ich jetzt auf Paulus bezogen formuliere: - Paulus ist der Autor seiner Briefe. - Seine sachliche Autorisierung bezieht er aus dem Umstand, daß er den Herrn gesehen hat (1 Kor 9,1), was ihn zum Apostel macht (ebenfalls 1 Kor 9,1). - Seine Briefe gestaltet er selbständig im Kontext seiner Zeit, seiner Herkunft und seiner Missionserfahrungen.
68 Vgl. dazu O. WISCHMEYER, Das Wort Gottes im Neuen Testament, in: U. H. J. Körtner (Hg.), Wort Gottes - Kerygma - Religion. Zur Frage nach dem Ort der Theologie, Neukirchen 2003, 27-40.
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Oda Wischmryer
- Sie sind literarische Werke mit starker theologischer und pragmatischer Intention und müssen daher auch als literarische Texte gelesen werden.
Roland Gebauer DER KOLOSSERBRIEF ALS ANTWORT AUF DIE HERAUSFORDERUNG DES SYNKRETISMUS}
In seinen "Erwägungen zu Kol 2,6f"2 spricht Otto Merk unter anderem von der "Glaubensfestigung" der kolossischen Christen "durch Verkündigung, Mahnung... und Lehre". Dabei greifen - in christologisch-soteriologischer Zuspitzung "Glaube/Bekenntnis und Handeln gemeindeaufbauend und so auch gerüstet gegen Irrlehre ... ineinander"). Mit diesen - in äußerster Knappheit wiedergegebenen Äußerungen sind die Stichworte der folgenden Überlegungen genannt. Sie wollen aufzeigen, wie der Verfasser des Kolosserbriefs 4 christologisch-soteriologische Lehre in ihrem Bezug auf Glaube und Bekenntnis sowie Mahnung in ihrem Bezug auf das Handeln einsetzt, um der Gemeinde in ihrer Bedrohung durch die Irrlehre hilfreich-weiterführend beizustehen. Dabei gilt es zunächst, einen Blick auf die Situation der Gemeinde zu werfen, um sodann die Vorgehensweise des Verfassers in ihrer differenzierten Gestalt und Intention wahrzunehmen. 1 Die Situation der Gemeinde
Daß die Lage in Kolossä ernst, aber nicht hoffnungslos ist (wie sollte sie das auch sein, ist doch die Gemeinde in Christus und seinem Heil mehrheitlich fest verwurzelt [2,6fj)S, ergibt sich aus differenzierenden Äußerungen des Verfassers. So spricht er zunächst vom segensreichen Wirken des Evangeliums unter den I Überarbeitete Fassung eines Vortrags, gehalten am 8.4.2003 auf der Pastorenkonferenz des Bundes Freier evangelischer Gemeinden in Dietzhölztal (Hessen). 2 In: O. MERK, Wissenschafts geschichte und Exegese. Gesammelte Aufsätze zum 65. Geburtstag, hg. v. R. Gebauer / M. Karrer / M. Meiser, BZNW 95, Berlin 1998, 292-301. 3 Merk, Erwägungen (s. Anm. 2), 299f. 4 Die Verfasserfrage soll und kann hier nicht diskutiert werden. Ich halte die vom Jubilar im Anschluß an E. Schweizer und U. Luz in Erwägung gezogene Möglichkeit, daß der Brief "noch zu Lebzeiten ... des Paulus von einem Mitarbeiter - also etwa um das Jahr 60 n. ehr. - abgefaßt sei", für eine naheliegende Option (0. MERK, Gemeinde - Fürbitte - Mission. Aspekte ihrer Zuordnung in den Deuteropaulinen, in: Kirche und Volk Gottes. Festschrift für Jürgen Roloff zum 70. Geburtstag, hg. v. M. Karrer / W. Kraus / O. Merk, Neukirchen-Vluyn 2000, 163-175: 170; vgl. auch K.-W. NIEBUHR, Die Paulusbriefsammlung, in: ders. [Hg.], Grundinformation Neues Testament. Eine bibelkundlich~theologische Einführung, Göttingen 2000, 196-293: 266). 5 Vgl. Merk, Erwägungen (s. Anm. 2), 297.299f.
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Roland Gebauer
Adressaten. Sie 'haben ,die Gnade Gottes in Wahrheit erkannt' (1,6); sie leben im Geist und in der Liebe (1,8) und nicht mehr in den bösen Werken der Vergangenheit (1,21). Kurzum: Sie stehen fest im Glauben (2,5.6f). Doch ist bereits der letztgenannte Aussagenkomplex, der den Heilsstand der Adressaten als geistliches Faktum assertorisch festhält, gerahmt von mahnend-warnenden Tönen, die auf die Gefährdung dieser Tatsache hinweisen - und zwar durch Positionen, die ,nicht Christus gemäß' sind und die Gemeinde zu vereinnahmen drohen (2,4.8). Dabei handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um ein synkretistisches 6 Phänomen 7 • Auf den religionsgeschichtlichen Charakter der kolossischen Irrlehre kann hier nicht im einzelnen eingegangen werden. Zu zahlreich und hypothetisch sind die verschiedenen Interpretationen des schwierigen Textbefundes 8 • Es soll im folgenden lediglich darum gehen, einige Merkmale der Irrlehre in ihren synkretistischen Bezügen in den Blick zu nehmen. Da ist zunächst das Stichwort ,Philosophie' (q>LAOaO~La; 2,8). Die Bedeutung dieses hapax legomenon ist im vorliegenden Kontext schwer zu ergründen. Wenn man die weiteren Angaben des Briefes über die Gesamtproblematik zu Rate zieht, die hier am Anfang der Auseinandersetzung mit ihr begrifflich auf den Punkt gebracht wird, dann handelt es sich allem Anschein nach nicht um Philosophie im klassischen Sinn, sondern vielmehr um ein religiöses Phänomen. 'Doch wird man hier keinen allzu großen Gegensatz konstruieren dürfen, denn religiöses Denken und Erkennen konnte in der hellenistischen Zeit durchaus als Ausdruck des Philosophischen gelten, insbesondere in der hermetischen Literatur sowie bei Philo und Josephus 9 • Vermutlich handelt es sich um ein Schlagwort der Gegner in Kolossä. 6 Unter Synkretismus verstehe ich mit R. L. GORDON die gegenseitige Durchdringung von Elementen aus zwei oder mehr religiösen Traditionen; vgl. ders., Art. Synkretismus I. Religionswissenschaftlich, DNP 11,2001, 1151-1155: 1151. 7 Das ist in letzter Zeit u. a. von C. STETTLER bestritten worden. Nach ihm wird die Gemeinde von außen durch "jüdische Mystiker und das gesetzes treue Judentum ... oder" durch "ein mystisches und gesetzestreues Judentum einerseits und ... heidnische Philosophie andererseits" bedroht (Der Kolosserhymnus. Untersuchungen zu Form, traditionsgeschichtlichem Hintergrund und Aussage von KoI1,15-20, WUNT 2/131, Tübingen 2000,72). Nun ist es zwar möglich, die im Kolosserbrief angeführten Charakteristika der gegnerischen Lehre in verschiedenen Bereichen des Judentums zu verorten, aber es besteht m. E. kein zwingender Grund für diese Engführung, weil die Merkmale auch Bezüge zu verschiedensten Formen hellenistischer Religiosität aufweisen, die Argumentation des Verfassers keine Zuspitzung auf jüdische Gegner erkennen läßt und in einer kleinasiatischen Stadt wie Kolossä synkretisierende Religiosität durchaus w<,lhrscheinlich ist; vgl. z. B. F. GRAF, Art. Kleinasien IV. Religion E. Griechisch-römische Epoche, DNP 6, 1999, 553-55: 553f; J. LÄHNEMANN, Der Kolosserbrief. Komposition, Situation und Argumentation, Gütersloh 1971, 82ff. 8 Vgl. z. B. U. SCHNELLE, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 31999, der allein 13 meist von Synkretismus ausgehende - Interpretationsmodelle nennt (310); vgl. auch die Kommentare, die diese Vielfalt widerspiegeln. 9 Vgl. u. a. Corp Herrn 1,3; Herrn Trismeg fr 2b, 1-3; Ascl 12-14; Philo, Vit Cont 25-28; Mut Nom 223; Leg Gai 156.245; Vit Mos 2,211-216; Jos, Bell 2,119; Ant 18,11; vgl. dazu O. MICHEL,
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Deren weitere Charakterisierung läßt den Schluß zu, daß zumindest der Verfasser unter cpLAoaocpl{x ein sich auf heidnische und jüdische Traditionen berufendes religiöses Denken versteht, das mit dem Anspruch von Weisheit und Überlegenheit daherkommt (2,8.18.22f) und von daher in seiner ganzen Art ,nicht Christus gemäß' ist. Das synkretistische Element der kolossischen Philosophie besteht nun zum einen darin, daß sie Elemente des Christusglaubens so zu integrieren suchte, daß dieser seinem Wesen nach verändert wurde, und zum anderen darin, daß weitere Inhalte aus verschiedenen 'religiösen Strömungen Kleinasiens in dieses Mischgebilde aufgenommen wurden lO • Diese Sicht ergibt sich, wenn man die weitere Auseinandersetzung des Verfassers mit den Gegnern und ihren Auffassungen verfolgt. Zunächst wird zu bedenken sein, daß die Irrlehrer nicht außerhalb der Gemeinde gestanden und von dort aus agiert haben dürftenlI; sie scheinen vielmehr bereits innerhalb der Gemeinde zu stehen und sie von dort her zu beeinflussen 12. Darauf deuten meines Erachtens die Warnungen des Verfassers hin, die von einer unmittelbaren Bedrohung der Gemeinde sprechen. Der Grad der Gefährdung, der hier anklingt, ist eher von innen als von außen her denkbar: ,Seht zu, daß niemand euch einfange' (2,8) - ,So richte euch nun niemand' (2,16) - ,Um den Kampfpreis soll euch niemand bringen' (2,18) - ,Was unterwerft ihr euch Satzungen?' (2,20). Hier geht es zwar nicht darum, den Glauben an Jesus Christus grundsätzlich zu verlassen (davon ist im ganzen Brief nichts zu vernehmen), wohl aber offenbar darum, ihn mit Elementen aus anderen religiösen Traditionen und Bewegungen zu verbinden - und ihn so in gewisser Weise doch aufzugeben. Einen ähnlichen Vorgang bezeugt der Galaterbrief, nach dem das "Christus allein" aufgehoben zu werden drohte zugunsten eines "Christus und ... ", das im Begriff war, das Gesetz
Art.
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zu einer weiteren heils relevanten Größe neben Christus werden zu lassen (vgl. nur GaI5,1-6). In dieser Hinsicht sind im Kolosserbrief zunächst die OTOLXE1a TOU KOO~OU zu bedenken. Sie werden einerseits als zentrales Kennzeichen der Philosophie (2,8) und andererseits als Größen vorgestellt, die für die Christen nicht mehr existent sind (2,20). Es kann hier nicht auf die Klärung der vielen strittigen Punkte eingegangen werden, die ~ich in diesem Zusammenhang ergebenD. Es soll lediglich die Offenheit der damit verbundenen Vorstellungen für synkretistische Prozesse angedeutet werden. Im allgemeinen bezeichnen die OTOLXEla (TOU Koollou) in der griechisch geprägten Welt die bekannten physikalischen Elemente Feuer, Wasser, Luft, und Erde (vgL u. a. Plat, Tim 48b; Plut, Mor 878a; Philo, Cher 127; Gal, Hippocr Nat Horn 1, 18; Diog L 8,25-27)14. In diesen Bereich gehören der Sache nach auch die Gestirne (vgl. Pseud-Callisth 1, 12,1; Pseud-Plut, PI ac Phil 2,13; Philo, Spec Leg 2,255; Weish 13,2)15. Diese Elemente, aus denen der Kosmos zusammengesetzt ist und die seine Stabilität gewährleisten, konnten von Anfang an auch als göttliche Wesen verehrt werden bzw. umgekehrt die Götter als Personifikation der Elemente gelten (vgl. Emped, Fr 6; Diod S 1, 12,1ff; Philo, Vit Cont 3; Diog L 7,147; Hdt 1,131), so daß sich in den verschiedenen Religionen des alten Orients die kultische Verehrung der Weltelemente findee 6• Der darin angelegte synkretistische Zug wird vollends dadurch bestätigt, daß auch das antike Judentum die Gestirne nicht völlig aus seiner Religiosität heraushalten konnte, sondern sie im Rahmen seiner "Kalenderfrömmigkeit" zu integrieren wußte (vgl. äthHen 79,1-3; Jub 2,9; 1 QS 9,2(r-10,8)17. Die im Zusammenhang jüdischer bzw. judenchristlicher Agitation zu sehenden Äußerungen in Gal 4,8f sind jedenfalls ein Zeugnis für diesen synkretistischen Hang auch des Judentums in der Begegnung mit Formen heidnischer Religiositätl 8 • Von daher spricht alles dafür, auch in Kolossä einen synkretistischen Hintergrund der stoicheia-Frömmigkeit anzunehmen. Wie diese sich im einzelnen gestalIJ Einen Einblick liefern schon allein die Kommentare zur Stelle, die der Problematik nicht selten einen Exkurs widmen. 14 Vgl. auch die weiteren Texte in: Neuer Wettstein. Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus. Band II: Texte zur Briefliteratur und zur Johannesapokalypse. Teilband 1, hg. v. G. Strecker u. U. Schnelle, Berlin 1996, 721ff. 15 Wenngleich es strittig ist, ob sie zu neutestmentlicher Zeit bereits o't'olxEi.a genannt wurden; vgl. dazu G. DELLING, Art. O't'OlXEW K't'A., ThWNT 7, 1964, 666--687: 679ff; M. WOLTER, Der Brief an die Kolosser. Der Brief an Philemon, ÖTK 12, Gütersloh 1 Würzburg 1993, 123f; E. LOHSE, Die Briefe an die Kolosser und an Philemon, KEK 9/2, Gättingen 14(=1)1968, 147f. 16 Vgl. Woher, Brief (s. Anm. 15), 124; Gnilka, Kolosserbrief (s. Anm. 9), 126. 17 Vgl. Gnilka, Kolosserbrief (s. Anm. 9), 126. 18 Vgl. F. MUSSNER, Der Galaterbrief, HThK 9, Freibur/Br. 1974, 298ff.
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tete, ist allerdings kaum eindeutig zu ermitteln. Die auffallend häufige und betonte Rede von kosmischen Mächten und Gewalten und der Überlegenheit Christi über sie (1,13.16; 2,10.15) läßt vermuten, daß die stoicheia in der Religion der Irrlehrer in die Reihe der zu verehrenden Mächte und Gewalten, die Christus ebenbürtig waren, eingegliedert wurden. Dafür spricht auch die Verehrung der Engel (2,18), die als anbetungswürdige Größen offenbar neben Christus traten und durchaus im Rahmen der stoicheia-Frömmigkeit zu sehen sind l9 • Offenbar versprach man sich in Kolossä von dieser "Anreicherung" des Glaubens an J esus Christus die ganze Fülle des göttlichen Heils. Jedenfalls fällt auf, daß der Verfasser in 2,9 diese Fülle im Kontrast zur kolossischen Philosophie mit ihren Eigenarten exklusiv in J esus Christus verortet. Diese christologisch-soteriologische Exklusivität (vgl. 2,10) dürfte von den Gegnern bestritten und das Erlangen des Heils in seinem vollen Umfang von zusätzlichen religiösen Verrichtungen abhängig gemacht worden sein20 . Das geht aus 2,16.18.20f.23 hervor, wo einige Elemente dieser zum Christusglauben hinzutretenden und sich mit ihm verbindenden Frömmigkeit angesprochen werden. Sie stehen miteinander und mit der stoicheia-Verehrung im Zusammenhang: Speise- und Kalendervorschriften, Engelverehrung, visionäres Erleben, Tabuvorschriften, Askese. Auch hier kann nicht auf die Dinge im einzelnen eingegangen werden, sondern es soll lediglich ihre synkretistische Disposition angedeutet werden. Klar ist der jüdische Kontext, der bei einigen Elementen offenkundig ist. So stehen bei den Speise- und Kalendervorschriften unter anderem die Reinheitsgebote und der jüdische Festzyklus im Hintergrund21 ; Engelkult war in der jüdischen Frömmigkeit wohl verschiedentlich anzutreffen (vgl. Test Dan 6,2; Test Lev 5,36/2 ; visionäres Erleben prägte vor allem die jüdische Apokalyptik (vgl. nur Dan 2.7-12; äthHen; 4 Esr)23; die Praxis des Fastens war weit verbreiteter Bestandteil 19 So bereits Bultmann, Theologie (s. Anm. 10), 502, der die Weltelemente, Engel, Mächte und Gewalten unter den Oberbegriff der "kosmischen Mächte" subsumiert, deren zugeschriebene "Göttlichkeit" sie in unmittelbare Konkurrenz zu Christus treten läßt; vgl. auch Roloff, Kirche (s. Anm. 10),227; vgl. zum Ganzen E. SCHWEIZER, Die "Elemente der Welt". GaI4,3.9; KoI2,8.10, in: ders., Beiträge zur Theologie des Neuen Testaments. Neutestamentliche Aufsätze (1955-1970), Zürich 1970, 147-163: 153-160. 20 Von daher scheint es mir um mehr als die Überwindung von Weltangst zu gehen (so Roloff, Kirche [so Anm. 10], 227). 21 Vgl. allein das Stichwort OIXßßIX-rIX (2,16). Die Trias Fest, Neumond, Sabbat dient häufig zur Umschreibung des jüdischen Festzyklus (vgl. u. a. Jes 1,13; Ez 45,17; Hos 2,13; 2 Chr 31,3; 3 Esr 5,51; 1 Makk 10,34; 1 QM 2,4). 22 Wenn auch im "offiziellen Judentum" nicht belegt, so doch wahrscheinlich in der Volksfrömmigkeit; vgl. J. MICHL, Art. Engel I-III, RAC 5, 1962, 53-109: 75 (Zitat ebd.); vgl. auch K. E. GRÖZINGER, Art. Engel III. Judentum, TRE 9, 1982,586-596: 594. 23 Wobei auch im Falle literarischer Stilisierung der Eindruck realen Erlebens erweckt werden soll.
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jüdischer Frömmigkeit (vgl. z. B. Lev 16,29f; Dan 10,3; Test Jos 10,1; Philo, Spec Leg 2,202; Ps Sal 3,8), teilweise auch der dauernde Verzicht auf bestimmte Speisen (vgl. Jer 35,6f; Philo, Vit Cont 73f; Mk 1,6; 2,18). Aber man wird mit einem jüdischen Hintergrund allein wohl kaum auskommen. Denn dazu ist zum einen die Argumentation des Verfassers zu wenig auf jüdische Positionen ausgerichtet, und zum anderen muß bedacht werden, daß die meisten der genannten Punkte auch in der heidnischen Religiosität begegnen. So waren Askeseforderungen in nahezu allen Religionen der Antike bekannt2\ ebenso Festtage der unterschiedlichsten Art (vgl. u. a. Tib 1, 3,9-18; Plinius, Ep 2, 17,24), die nicht selten in einem Festzyklus angeordnet waren 25 . Engelverehrung begegnet vor allem in der Gnosis, aber auch darüber hinaus 26 . Visionäres Erleben konnte unter anderem in den Mysterienkulten eine Rolle spielen (vgl. bes. Apul, Metam 11,23)27. Tabuvorschriften prägten das Leben in weiten Bereichen (vgl. Eur, Hipp 1044; Plut, Mor 442e; Diog L 8,13.34; Philostr, Vit Ap 8, 7,12 u. ö.). Es sind gerade die Allgemeinheit und Undifferenziertheit, mit der diese Dinge im Kolosserbrief angesprochen werden, die es geboten erscheinen lassen, einen weiteren, synkretistischen Hintergrund zu vermuten28 . Dabei läßt sich nicht genau bestimmen, was die vom Verfasser angesprochenen Punkte im einzelnen besagen und wie die Dinge miteinander und mit dem Christusglauben in Verbindung stehen. Es werden Wege sein, die miteinander zum umfassenden Heil führen 29 . In ihnen spielen· jedenfalls kosmische Mächte eine entscheidende Rolle. Im Zusammenhang ihrer Verehrung kommen die einzelnen Elemente der gegnerischen Frömmigkeit zum Tragen. Das aber heißt: Der Glaube an Jesus Christus gilt als eine, vielleicht sogar die beste Möglichkeit, das Heil zu erlangen. Aber - und hier muß bereits die Neigung zum Synkretismus der Wurzelboden gewesen sein - Christus ist eben nur eine Größe, mit der noch andere religiöse Größen und die Formen ihrer Verehrung verbunden werden konnten. Es steht zu vermuten, daß Christus 24 Vgl. H. Strathmann, Art. Askese I, RAC 1, 1950, 749-758: 753ff; E. SCHWEIZER, Der Brief an die Kolosser, EKK 12, Zürich / Neukirchen-Vluyn, 21980, 119f; Wolter, Brief (s. Anm. 15), 14lf; Gnilka, Kolosserbrief (s. Anm. 9), 145. 25 Vgl. H.-J. KLAUCK, Die religiöse Umwelt des Urchristentums 1. Stadt- und Hausreligion, Mysterienkulte, Volksglaube, Stuttgart 1995, 43f. 26 Vgl. Michl, Engel (s. Anm. 22), 55f.103.10M, zum Teil in deutlicher synkretistischer Ausprägung (ebd., 56). 27 Vgl. Lohse, Briefe (s. Anm. 15), 177f; Gnilka, Kolosserbrief (s. Anm, 9), 151. 28 Vgl. Gnilka, Kolosserbrief (s. Anm. 9), 127; Lohse, Briefe (s. Anm. 15), 171; Schnelle, Einleitung (s. Anm. 8), 310ff. 29 Vgl. N. WALTER, "Hellenistische Eschatologie" im Neuen Testament, in: Glaube und Eschatologie. Festschrift für Werner Georg Kümmel zum 80. Geburtstag, hg. v. E. Gräßer u. O. Merk, Tübingen 1985, 335-356, der ein Nebeneinander von "Mysterienpraktiken, Beobachtung kultischer Rituale und Kalendertage(n) und andere(n) Handlungen" sieht, das nach Auffassung der kolossischen Philosophie den Weg zum Heil ermöglichen soll (344f).
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in die Reihe der Weltelernente, der kosmischen Mächte und Gewalten eingegliedert worden ist bzw. diese ihm gleichgestellt wurden 30 . Zumindest hat er Engelmächte als anbetungswürdige Heilsmittler neben sich 31 , und der christliche Glaube droht zu einem "Gefüge von seligmachenden Vorschriften und Verboten" zu werden 32 . Daß hier die Notwendigkeit eines korrigierenden Eingreifens gesehen wurde, wundert nicht. Wie der Verfasser dabei vorging, soll in einem zweiten Teil Gegenstand der Überlegungen sein. 2 Die Antwo'rt des Verfassers
Auf das Ganze gesehen kann man sagen: Der Autor versucht, mit seinem Brief den wohl noch im rechten Glauben stehenden, aber durch die Agitation der Irrlehrer ernsthaft bedrohten Teil der Gemeinde - und das ist wohl die überwiegende Mehrheie 3 - widerstandsfähig(er) zu machen und so die Identität des christlichen Glaubens zu wahren. Dabei geht es ihm grundsätzlich um religiöse und ethische Eindeutigkeit. Das ergibt sich insbesondere aus 2,M, der das Voranstehende zusammenfassenden Überleitung zur Auseinandersetzung mit der Irrlehre. Diese beginnt mit einem "Nebeneinander von Indikativ und Imperativ" in Bezug auf das gänzliche Verwurzelt-Sein der Adressaten in Christus, das sowohl den Glauben als auch den Lebensvollzug umfaßt und bestimme 4 • Der Verfasser sucht die Eindeutigkeit solcher Existenz ,in Christus,35 bei den Adressaten in einer dreifachen Weise zu erreichen: durch christologische und soteriologische Lehre sowie durch Paränese. Diese drei Vorgehensweisen hängen sachlich eng miteinander zusammen; insofern kann man sie nicht isolieren. Aber es läßt sich eine innere Logik erkennen, in der sie aufeinander aufbauen. 2.1 Die christologische Entgegnung
Das grundlegende und damit entscheidende Argument gegen die Irrlehre ist das christologische. In aller Deutlichkeit wird dies in 2,8-10 sichtbar, wo der Verfasser die ,Philosophie' der Gegner in ihren Hauptmerkmalen als ,nicht Christus gemäß' bezeichnet, um dann sofort Christus als Verkörperung der göttlichen Fülle So schon Buhmann, Theologie (s. Anm, 10),502. Vgl. Gnilka, Kolosserbrief (s. Anm. 9), 150. 32 Ebd., 146. 33 Sonst könnte er kaum so positiv reden, wie er es in 1,1-2,7 tut (vgl. oben S. 153~. 34 V gl. dazu Merk, Erwägungen (s. Anm. 2), 295.297ff (Zitat 298). 3S V gl. das zweimalige EV o:\rrQ in 2,6f sowie das überaus häufige Vorkommen der Präpositionen EV und ouv im Bezug auf Christus; vgl. auch H. MERKLEII'I, Paulinische Theologie in der Rezeption des Kolosser- und Epheserbriefes, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus, WUNT 43, Tübingen 1987, 409-447, nach dem es im Kolosserbrief um die Beibehaltung des paulinischen ,,,Christus und nichts anderes'" angesichts der Gefahr von "Usurpation und Verfälschung" des "verkündigten Christus" durch "Menschentradition" (vgl. Kol2,8) geht (415). 30 31
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zu qualifizieren und ihn als Haupt jeder Gewalt und Macht herauszustellen. Ebenso entgegnet er den Speise- und Kalendervorschriften in 2,17 mit einem christologischen Argument, indem" er sinngemäß sagt: Diese Vorschriften sind zwar in ihrem alttestamentlich-jüdischen Ursprung Abschattungen des eschatologischen Heils, aber dieses Heil selbst ist in seiner vollen Wirklichkeit leibhaftig in Christus zu finden und an ihn gebunden36 • Auch die unmittelbar folgenden Charakteristika der Irrlehre - Engelverehrung und Berufung auf visionäre Erfahrungen werden christologisch abqualifiziert: Sie sind Ausdruck eigenmächtiger Frömmigkeit und widersprechen der Verankerung der Gemeinde in Christus als ihrem Haupt (2,18f). Und schließlich wird das Beachten der religiösen Vorschriften der Gegner mit dem Hinweis darauf zurückgewiesen, daß die Christen mit Christus den Weltelementen, und damit jeglicher Form von kosmischer Religiosität, gestorben sind (2,20[fm. In der soeben skizzierten unmittelbaren Auseinandersetzung mit der Irrlehre ist die christologische Argumentation relativ knapp gefaßt. Der Verfasser begnügt sich mit kurzen Aussagen und stichwortartigen Andeutungen. Er kann dies tun, weil er bereits im Vorfeld eine umfassende Argumentationsbasis geschaffen hat: in 1,15-20 mit der Übernahme des Christushymnus 37 • Auch hier müssen die vielen, zum Teil sehr kontrovers diskutierten Fragen im Umkreis des Hymnus offen bleiben38 • Es soll lediglich in Grundlinien aufgezeigt werden, wie der Christushymnus als die entscheidende Argumentationsgrundlage im Blick auf einen eindeutigen Christusglauben der Adressaten fungiert. Zunächst einmal ist zu beachten, daß der Verfasser einen Hymnus aufgreift. Er legt das Fundament seiner Entgegnung also bewußt mit einem Text, in dem es nicht in erster Linie um rationale Argumentation und logische Entfaltung eines Sachzusammenhangs gehe 9, sondern um das lobpreisende Bekenntnis zu Jesus Christus als der einen, umfassenden Offenbarung Gottes und seines Heils. Damit macht er deutlich: Man kann die Wahrheit und Wirklichkeit Jesu Christi, um die es hier im Kern geht, letztlich nicht mit Argumenten beweisen, sondern nur glaubend bekennen und preisend rühmen. Die Gewißheit des Glaubens an J esus Christus, so wird durch dieses Vorgehen indirekt aufgezeigt, erwächst letztlich nicht aus der Logik des menschlichen Denkens, sondern aus der lobenden und bekennenden Hinwendung zu Christus. Aber dieses Lob bringt natürlich gewisse, christologisch-soteriologische Sachverhalte zur Sprache. Und diese dienen, zumal in ihrer neuen Funktion als Teil des Briefes, dann auch als Argumente in der hilf36 Vgl. J. ERNST, Die Briefe an die Philipper, an Philemon, an die Kolosser, an die Epheser, RNT, Regensburg 1974, 209. 37 Vgl. Merk, Gemeinde (s. Anm. 4), 168. 38 Vgl. dazu u. a. Stettler, Kolosserhymnus (s. Anm. 7), 1-35. 39 V gl. Schweizer, Brief (s. Anm. 24), 79f.
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reich wegweisenden Entgegnung auf die Bedrohung durch die Irrlehre. Es kann nur kurz angedeutet werden, worum es sich handelt. In einen Satz gekleidet, kann man die Grundaussage des Hymnus wie folgt zusammenfassen: Jesus Christus ist der eine göttliche Mittler von Schöpfung und Erlösung. Schon hier wird deutlich, worum es im Gegenüber zur Irrlehre geht: um die Göttlichkeit Christi, um seine Vor- und Überordnung über die gesamte Schöpfung bzw. den Kosmos sowie um das Heil des Kosmos, das allein in ihm gegeben ist40 . Wenn es im Eingang des Hymnus heißt: "Er (sc. Christus) ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes" (1,15), dann ist damit gesagt: Der eine, lebendige Gott begegnet und handelt umfassend in keinem anderen als Christus. Er ist der "wirkmächtige(...) Wesens repräsentant" Gottes gegenüber dem Kosmos 41 . Deshalb ist alles ,in ihm', ,durch ihn und auf ihn hin' geschaffen (1,16), so daß Christus die leitende und tragende Dimension des Kosmos, dessen Ursprung und Ziel ist. Wenn der Verfasser des Briefes in einer wohl von ihm stammenden Hinzufügung hervorhebt, daß darin auch alle erdenklichen kosmischen Mächte und Gewalten eingeschlossen sind, dann ist dies ein "auf die konkrete Situation der Kolosser bezogene(r) Kommentar, der betont herausstellt, daß Christus der Herr auch über alle ,Mächte' ist und daß also nicht jenen, sondern ihm allein der Gehorsam und die Anbetung der Glaubenden gebühren"42. Dieser polemische Einschub erfährt in 2,15 eine Zuspitzung mit dem Bekenntnis zur triumphalen Entmachtung der ,Mächte' durch Christus, so daß vollends klar wird: Die Welt hat ihren Bes~and nicht in kosmischen Mächten und Größen, sondern allein in Christus. Von daher haben diese auch keinen Anspruch auf den Menschen, und schon gar nicht auf kultische Verehrung43 • Die Fortführung des Hymnus stellt dann, sehr wahrscheinlich wieder in Gestalt einer Hinzufügung des Autors 4\ heraus, 40 Vgl. N. WALTER, Geschichte und Mythos in der urchristlichen Präexistenzchristologie, in: ders., Praeparatio Evangelica. Studien zur Umwelt, Exegese und Hermeneutik des Neuen Testaments, hg. v. W. Kraus u. F. Wilk, WUNT 98, Tübingen 1997,281-292, der die Möglichkeit und Wirklichkeit des Heils in der "Identität von Schöpfungs- und Erlösungsmittler" in seiner "funktionale(n) Gottgleichheit" gegeben sieht (288). 41 P.STUHLMACHER, Biblische Theologie des Neuen Testaments. Band 2: Von der Paulusschule bis zur Johannesoffenbarung. Der Kanon und seine Auslegung, Göttingen 1999,9. 42 O. HOFIUS, "Erstgeborener vor aller Schöpfung" - "Erstgeborener aus den Toten". Erwägungen zu Struktur und Aussagen des Christushymnus Kol1,15-20, in: ders., Paulusstudien Ir, WUNT 143, Tübingen 2002, 215-233: 219f. Auch Hofius spricht sich für den redaktionellen Charakter der Rede von ,Thronen', ,Herrschaften', ,Gewalten' und ,Mächten' aus; vgl. u. a. Schweizer, Brief (s. Anm. 24), 54, der hier allerdings zurückhaltender urteilt. 43 W. WINK, The Hymn of the Cosmic Christ, in: The Conversation Continues. Studies in Paul & John. FS J. L. Martyn, hg. v. R. T. Fortna u B. R. Gaventa, Nashville 1990, 235-245 bringt diesen Sachverhalt sehr schön auf den Punkt, wenn er formuliert: "The person is not subjected to the universe; rather the universe is subjected to aPerson" (241). 44 Vgl. die gegensätzlichen Standpunkte etwa bei Schweizer, Brief (s. Anm. 24), 52f und Hofius, Erstgeborener (s. Anm. 42), 217f.
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wem die Gemeinde einzig zugeordnet ist und bleibt: Christus als ihrem Haupt (1,18a). Die Begründung dafür liefert der zweite Teil des Hymnus, der die Zuordnung der Gemeinde zu Christus im Versöhnungs geschehen in Kreuz und Auferstehung verankert. Dabei kommt Christus als Überwinder des Todes und Träger der göttlichen Lebensfülle wiederum eine weltbeherrschende Stellung zu (1,18b.19)45. Diese geht so weit, daß durch seinen Tod der gesamte Kosmos mit allen seinen Wesenheiten in dasVersöhnungsgeschehen einbezogen ist (1,20), so daß auch in soteriologischer Hinsicht jeder Anspruch und vermeintliche Eigenwert der kosmischen Mächte erledigt ist 46 . Für die menschliche Sehnsucht nach Teilhabe am ewigen, göttlichen Leben kommt von daher nur die Hinwendung zu Christus in Frage, in den Gott seine ganze Macht der Schöpfung und Neuschöpfung hineingelegt hat, so daß die ganze Fülle seiner lebenschaffenden Gnadenkräfte in Christus Wohnung genommen hat (1,18b.19t 7 • Wenn man das vor dem Hintergrund von 2,9f bedenkt, wo der Verfasser der Gemeinde die volle Teilhabe an dieser Fülle in Christus zusichert, und zwar unter Herausstellung der Überlegenheit Christi über die Mächte, dann wird seine Intention deutlich: Die Glaubenden sollen (und brauchen) ihr Heil nicht auf dem Weg der verschiedensten religiösen und kultischen Praktiken in der Hinwendung zu kosmischen Mächten und Elementen zu suchen. In Christus ist ihnen bereits alles zuteil geworden, was Gott an Heil und Lebensfülle zu bieten hat. Das führt uns zur soteriologischen Entgegnung. 2.2 Die soteriologische Entgegnung
Es ist beim Hymnus schon immer aufgefallen, daß er von explizitem soteriologischem Zuspruch gerahmt ist (1,12-14.21f). Darin spiegelt sich "das soteriologi-
45 Vgl. G. STRECKER, Theologie des Neuen Testaments, bearbeitet, ergänzt u. hg. v. F. W. Horn, Berlin 1996, 581. 46 Die verbreitete Deutung von 1,20 "im Sinne der Herstellung kosmischer Harmonie und kosmischen Friedens" und das Verständnis des Hymnus vor diesem Hintergrund vermag ich mit Hofius, Erstgeborener (s. Anm. 42), 229f (Zitat 229) nicht zu teilen. Der Sinn der Heilstat Christi scheint mir gerade in der Relativierung des Kosmos und seiner Mächte zu liegen, nicht aber in einer Aufwertung als religiös bedeutsamer Lebensraum des Menschen (vgl. bes. 2,8f; 3,1~. Wird nicht zu viel in die Aussagen des Briefes hineingelesen, wenn etwa Walter, Eschatologie (s. Anm. 29), 261 behauptet: Das "Wohl des Kosmos" und das "Heil des Menschen" hängt daran, daß die kosmische "Mauer durchbrochen" wird und "der obere und untere Kosmos ihre kosmische Harmonie wiedergewinnen"? Nach 3,1-4 sind ,Oben' und ,Unten' ganz anders heilvoll zugeordnet. 47 Vgl. Schweizer, Brief (s. Anm. 24), 67. - Th. KNÖPPLER, Sühne im Neuen Testament. Studien zum urchristlichen Verständnis der Heilsbedeutung des Todes Jesu, WMANT 88, NeukirchenVluyn 2001, 174 spricht von "Einwohnung der vollen Gottesgegenwart" in Christus; vgl. auch Hofius, Erstgeborener (s. Anm. 42), 228, der diesen Aspekt allerdings auf den "Menschen Jesus Christus" bezieht, was m. E. eine problematische Engführung ist.
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sche Interesse des Verfassers an dem Hymnus"48. Dieses Interesse besteht offenkundig darin, die Adressaten der Realität ihres Heilsstands zu vergewissern, und zwar auf der Basis der Bedeutung Christi in kosmischer Perspektive. Denn wenn der Gemeinde unmittelbar vor und nach dem Hymnus in direkter Anrede die Teilhabe am Erbe des Heils (1,12) und das Versöhnt-Sein mit Christus (1,21~ zugesichert wird, dann schwingt hier die kosmische Dimension allenthalben mit ist doch das Evangelium im ganzen Kosmos Heil schaffend und mehrend am Werk (1,6) und sind die Glaubenden aus·dem Machtbereich der Finsternis 49 errettet und in das Reich versetzt, in dem Christus "als Herrscher für Himmel und Erde" seine heilvolle Macht ausübt (1,13)50. Mag der Hymnus auf irgendeiner Vorstufe vielleicht von der Herstellung kosmischer Harmonie und Friedens als Heilsgeschehen gesprochen haben, für den Verfasser des Kolosserbriefes ist jedenfalls klar, daß das in Christus gewirkte Heil in der Befreiung von den ihm entgegenstehenden und darum finsteren Mächten des Kosmos und in der Vergebung der als Folge dieser dämonischen Verhaftung begangenen Sünden besteht 51 • Das ist für ihn die Erlösung (1,14)52. Wenn die Gemeinde das im Glauben ernstnimmt, dann besteht für sie weder Anlaß, diese Mächte zu fürchten, noch ein Grund, sie in irgendeiner Weise religiös bzw. kultisch zu verehren und einen zusätzlichen Heilsgewinn oder größere Heilssicherheit von ihnen zu erwarten. So verwundert es nicht, daß der Verfasser bereits zu Anfang des Briefes die soteriologische Dimension des Glaubens in umfassendem Sinn herausstellt. Denn einzig durch ihn haben die Adressaten Anteil am Christusheil, wie ihr Christwerden und die Frühgeschichte der Gemeinde es erwiesen haben. Der Glaube an Jesus Christus (1,4), das Hören des Evangeliums (1,5~, das Erkennen der darin verkündeten Gnade und Wahrheit Gottes (1,6), das Erfahren der heilvollen Wirksamkeit des Evangeliums auf dem weiteren Weg der Gemeinde (1,6), das Leben in der geistgewirkten Liebe (1,4.8) und das Festhalten an der himmlischen Hoffnung (1,5) - all dies gehört zur Lernerfahrung des Glaubens (vgl. 1,7; vgl. auch 2,7), die für die Gewißheit der Teilhabe am Erbe des in Christus erschlossenen und durch ihn als göttlichen Mittler von Schöpfung und Erlösung verbürgten Heils steht. Knöppler, Sühne (s. Anm. 47), 175. Vgl. dazu W. HAUBECK, Loskauf durch Christus. Herkunft, Gestalt und Bedeutung des paulinischen Loskaufmotivs, Gießen 1985, 192. 50 Vgl. M. KARRER, Jesus Christus im Neuen Testament, GNT 11, Göttingen 1998, 194 (Zitat ebd.). 51 Im Anschluß an Buhmann, Theologie (s. Anm. 10), 141, der m. E. für 1,13f zu Recht den Zusammenhang von "Einwirkungen der Dämonen" und Sünde herstellt. 52 Vgl. G. DAUTZENBERG, Reich Gottes und Erlösung, in: ders., Studien zur paulinischen Theologie und zur frühchristlichen Rezeption des Alten Testaments, hg. v. D. Sänger, GSTR 13, Gießen 1999,113-131: 126; vgl. auch Haubeck, Loskauf (s. Anm. 49), 193f. 48
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Weil diese "existentielle" Soteriologie für die widerstehende Begegnung mit der Irrlehre so wichtig ist, steht dieser Aspekt auch am Anfang der unmittelbaren Auseinandersetzung des Verfassers mit der gegnerischen Position. So ist die Warnung vor der ,Philosophie' (2,8) gerahmt von der Zusicherung der Festigkeit des Glaubens der Gemeinde (2,5), des ,Christus-empfangen-Habens' (2,6) und des Stehens in der von ihm verkörperten göttlichen Heils- und Lebensfülle (2,9~. Die Gemeinde hat, so schärft der Verfasser an dieser entscheidenden Stelle ein, v
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dung zu den Mächten (vgl. 1,13; 2,20), so daß sich schon allein von diesem Befreiungsakt her deren (weitere oder erneute) religiöse Verehrung erübrigt57; und zum anderen die in der Taufe vermittelte Teilhabe am Tod Christi, durch den nicht nur die Schuld beseitigt ist (2,14), sondern auch die Mächte und Gewalten entmachtet worden sind (2,15), so daß die Glaubenden in der "Freiheit von kultischen und rituellen Satzungen" und deren Bezug zu den Mächten leben 58 . Diese "Siegestat Gottes über die Mächte" bedeutet die Außerkraftsetzung sämtlicher Ansprüche vermeintlicher numinoser bzw. kosmischer Größen, die vom Verfasser in 2,16-23 denn auch mit Nachdruck aufgewiesen wird59 • Dabei geht es um einen Prozeß des aktiven Gegensteuerns, der in der Gemeinde in Gang kommen bzw. verstärkt werden soll- womit wir zur paränetischen Entgegnung kommen. 2.3 Die pariinetische Entgegnung
Die Paränese des Kolosserbriefes ergeht auf der Grundlage der christologischsoteriologischen Lehre. Sie ist für den Verfasser eine im wahrsten Sinne des Wortes not-wendige Konsequenz aus dem Zuspruch des in Christus begründeten Heils. Das erweist sich immer wieder an einzelnen Passagen im Brief, wo die (im engeren Sinne) theologischen Ausführungen in Paränese übergehen (1,3-11.21-23; 2,6-8.14-16.19f; 3,lf.9-12)60. Das von Paulus her strukturierte Verhältnis von Imperativ und Indikativ ist also auch für den Verfasser des Kolosserbriefes maßgebend61 . Eine unmittelbare Konsequenz, die der Autor aus der Herrschaft Christi über die Mächte und der Teilhabe der Adressaten an der durch Christus vermittelten göttlichen Heilsfülle zieht, ist natürlich die Absage an die Irrlehre. Die Aufforderungen dazu ergehen direkt und indirekt in verschiedener inhaltlicher Füllung im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit der gegnerischen Position (2,4.8.16. 18.20). Bezeichnend dafür ist, daß jede dieser Mahnungen mit einer eigenen christologischen (und zum Teil auch soteriologischen) Begründung versehen ist (2,3. 8f.17.19.20). Wenn der Verfasser also die Gemeinde zum Widerstand gegen die Irrlehre in ihren verschiedenen Ausprägungen auffordert, dann tut er dies nicht nur 57
Diesen Aspekt betont G. BARTH, Die Taufe in frühchristlicher Zeit, Neukirchen-Vluyn 22002,
112. 58 Vgl. Buhmann, Theologie (s. Anm. 10), 144 (Zitat ebd.). Bultmann sieht dies der Sache nach bereits in 1,13f ausgesagt, so daß er dort von einem "Bezug auf die Taufe" spricht (ebd., 141; vgl. auch 179); vgl. auch W. SCHRAGE, Ethik des Neuen Testaments, GNT 4, Gättingen 5/21989, 254, der hervorhebt: Der "Triumph über die Mächte und Gewalten ... ist die eigentliche Begründung für die Absage an die Satzungen der Irrlehrer". 59 Vgl. O. MERK, Handeln aus Glauben. Die Motivierungen der paulinischen Ethik, MThSt 5, Marburg 1968, 202 (Zitat ebd.). 60 Die Angaben beziehen sich teilweise nur auf die Übergänge. 61 Vgl. dazu Schrage, Ethik (s. Anm. 58), 249f; Merk, Erwägungen (s. Anm. 2), 294ff.
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auf einer breit angelegten christologisch-soteriologischen Basis, sondern auch mit spezifischen Implikationen dieser Basis im Blick auf die jeweils angesprochene religiöse Praxis. Doch soll dies jetzt nicht im einzelnen verfolgt werden, denn das Charakteristische an der Paränese des Kolosserbriefes im Blick auf die Bedrohung durch die Irrlehre ist etwas anderes. Es geht dem Verfasser nicht allein um die Abwehr oder Verhinderung des Negativen. Es geht ihm ebenso darum, einen positiven Prozeß in Gang zu setzen bzw. ihn zu intensivieren, um so eine Grundlage zu schaffen, auf der die Absage an die Irrlehre auch praktisch gelebt werden kann. Man könnte dies in die Frage kleiden: Womit soll die Gemeinde ihr Leben füllen (lassen), wenn die Irrlehre dafür nicht in Frage kommt? Hier eine positive Antwort zu geben und zwar grundlegend sowie ins einzelne gehend -, das ist das eigentliche Anliegen seiner Paränese, das denn auch den ganzen Brief durchzieht. Das ist wohl auch die letzte Zielsetzung, die er mit dem Schreiben verbindet. Man kann es mit einem Satz so formulieren: Die Glaubenden sollen der Irrlehre widerstehen, indem sie sich mit dem Leben Gottes bzw. Christi, das sie in der Taufe empfangen· haben, (immer) wieder neu füllen lassen - damit es zur gelebten Wirklichkeit ihres Lebens wird62 . Auch hier geht es um Eindeutigkeit - der Lebensführung, die aus der Eindeutigkeit des Glaubens und seiner Grundlage im Christusgeschehen erwächst. Daß dieses Anliegen dem Verfasser äußerst wichtig ist, ergibt sich schon allein daraus, daß er es in der Hinführung zur christologisch-soteriologischen Argumentationsgrundlage in Gestalt des Hymnus und seiner Rahmung (1,12-23,) ausdrücklich zur Sprache bringt (1,9-11). Hier blickt er, im Anschluß an die einführende Rückschau auf die bisher so erfreuliche Geschichte der Gemeinde und ihres geistlichen Lebens (1,3-8) zum ersten Mal in die Zukunft und formuliert, in Gestalt eines brieflich geäußerten Fürbittegebets, das Ziel, auf das hin die Gemeinde sich dem Wirken Gottes öffnen so1l63. Dabei werden die Strukturen und das Wesensmerkmal des intendierten Geschehens deutlich: Es handelt sich um einen geistlichen (weil von Gott gewirkten) Prozeß, der die Erkenntnis Gottes und seines Willens sowie die Umsetzung dieser Erkenntnis im täglichen Leben zum Gegenstand 62 Das ergibt sich von 3,9f her, wo von der Erneuerung des (in der Taufe) angezogenen ,neuen Menschen' die Rede ist. "Das christliche Leben erscheint hier als ein in der Taufe initiierter Prozeß, in dem der Christ wächst und sich immer mehr Christus angleicht, der das Urbild Gottes ist" WHITLOCK, Schrift und Inspiration. Studien zur Vorstellung von inspirierter Schrift und inspirierter Schriftauslegung im antiken Judentum und in den paulinischen Briefen, WMANT 98, Neukirchen-Vluyn 2002, 418 [Hervorhebung von WhitlockJ). So gesehen trifft es auch zu, wenn SchmelIer, Schulen (s. Anm. 12), 207 die Intention des Verfassers darin sieht, "den Adressaten bei der Vollendung ihrer Bekehrung zu Christus zu helfen". 63 O. Merk bringt dies mit den Worten auf den Punkt: "Die widerfahrenes Heil und paränetische Ausrichtung verbindende Fürbitte... nimmt die Gemeinde in die Bewegung des Heilsgeschehens hinein" (Gemeinde [so Anm. 4], 169).
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hat. Die "ethische Ausrichtung dieser Erkenntnis"64 ist immer wieder erkannt und betont worden 65 • Es geht dem Verfasser darum, daß "der Weg in unumkehrbarer Richtung vom Erkennen durch die vom Geist erneuerte Vernunft... zum Handeln" führt 66 . Das wird vor allem in der Gesamtanlage des Briefes deutlich. Hier folgt ein großer paränetischer Abschnitt, der bis in Einzelheiten hinein auf die christliche Lebensführung aus einer geistlichen Grundhaltung heraus eingeht (3,5-4,6), auf theologische Ausführungen, die letztlich der geistlichen Erkenntnis dienen (vgl. 1,26f; 2,2f; vgl. auch 3,10). Hier wird das Leben beschrieben und zu ihm angeleitet, das einzig in der Ausrichtung auf den ,oben' über die Welt und die Gemeinde herrschenden Christus Grund, Inhalt und Ziel hat - und in dem von daher weder Platz noch Bedarf für andere religiöse, kultische und ethische Praktiken vorhanden ist, so sehr sich dieses Leben auch in der ,unteren' Welt abspielt67 . Dabei kommt es entscheidend darauf an, die existentielle Finalität des Heils im Blick zu behalten. Es geht um die Umsetzung des ,heilig und tadellos und unsträflich' vor Christus Stehens (1,22), um das Suchen und Ausgerichtet-Sein auf das, ,was droben ist', also der Herrschaft Christi entspricht (3,1f), im alltäglichen Leben. Letzteres ist nicht nur im Sinne einer generellen Norm für die Lebensführung derer zu verstehen, die durch Christus zu neuem Leben erweckt worden sind, sondern "dieses Obere" ist auch "das Kraftzentrum, von dem her das Leben und Verhalten der Christen in dieser Welt seine Gestalt empfängt"68. Ausgeschlossen ist damit eine Lebensführung, die sich von dem leiten läßt, ,was auf der Erde ist' (3,2.5), die der zurückgelassenen, im Irdischen verhafteten Existenz Raum gibt 69 . Und dazu gehören für den Verfasser alle Inhalte und Praktiken der kolossischen Philosophie (2,8). Er stellt damit eine klare Alternative auf, die freilich nicht zuerst das Handeln betrifft, sondern die innere Einstellung, aus der das Handeln folgt: Entweder richtet sich die Gemeinde auf Christus aus, oder sie läßt sich vom Irdischen bestimmen. Entweder sie dient und verehrt Christus als Herrn der Welt und der Gemeinde, oder sie dient und verehrt die Mächte und läßt sich von religiösen und kultischen Praktiken ,nach der Überlieferung der Menschen' (2,8) leiten. Dabei kommt es auf Eindeutigkeit an. Diese Eindeutigkeit ist vor allem im Blick auf den Willen Gottes für die Lebensführung gefragt (vgl. 3,17). Dieser ist Whidock, Schrift (s. Anm. 62), 417; vgl. ebd., 418. Vgl. u. a. Bultmann, Theologie (s. Anm. 10),529; Schmeller, Schulen (s. Anm. 12),207. 66 Schrage, Ethik (s. Anm. 57), 252. 67 Den Gedanken der Abgrenzung "von dieser Weh" bei der Lebensführung betont Schnackenburg, Botschaft (s. Anm. 56), 78. 68 Zitat: RoloH, Kirche (s. Anm. 10),229. 69 Vgl. H. MERKLEIN, Eph 4,1-5,20 als Rezeption von Kol 3,1-17, in: Kontinuität und Einheit. FS F. Mußner, hg. v. P.-G. Müller u. W. Stenger, Freiburg/Br. 1981, 194-210: 201. 64 65
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dem menschlichen Erkenntnisvermögen freilich nicht ohne weiteres zugänglich. Die Gemeinde ist damit vor die bleibende Aufgabe gestellt, immer wieder um ,Weisheit und geistliches Verständnis' zu bitten, ,um des Herrn würdig zu wandeln' (1,9D. Wohl deshalb handeln die erste und die letzte paränetische Aussage des Kolosserbriefes von der an Gott gerichteten Bitte um Erkenntnis seines Willens (1,9; 4,12). So ist der Brief gleichsam gerahmt von der Bitte um eine eindeutige, dem ,unsichtbaren' Gott und seinem ,Bild' (1,15), dem Schöpfungs- und Erlösungsmittler und Weltenherrn' Jesus Christus, gemäßen Lebenseinstellung und Lebensführung. Verankert ist diese Eindeutigkeit in der Festigkeit des Glaubens und dem Verwurzelt-Sein in Christus und seinem Heil (1,23; 2,5.6D. Von daher wundert es nicht, wenn der Verfasser die Irrlehrer unter anderem als solche kennzeichnet, die nicht Christus, das Haupt der Kirche, festhalten (2,19). 3 Konsequenzen für heute
Zum Abschluß noch einige Erwägungen hinsichtlich gegenwärtiger Herausforderungen durch Synkretismus - um der Kürze willen in Form von Thesen, die keineswegs erschöpfend sein, sondern nur Denkanstöße bieten wollen. Im Blick sind Gemeinden im mitteleuropäischen Kulturkreis. 1. Bei der (nicht zu vermeidenden) Übernahme von Elementen fremdreligiöser Herkunft ist generell zu prüfen, ob es sich dabei um Synkretismus handelt - denn nicht alle derartigen Elemente müssen zu einer Verfremdung des Glaubens an Jesus Christus führen (zum Beispiel Weihnachtsbaum, Techniken fernöstlicher Meditation, Formen alternativer Medizin). Synkretismus liegt erst dort vor, wo diese Elemente so mit dem christlichen Glauben vermischt werden, daß dieser seinem Wesen nach verfälscht wird. 2. Es ist zu unterscheiden zwischen individuellem und gemeindlichem Synkretismus. Dabei ist die Grenze fließend, insofern individuelle Formen des Synkretismus in die Gemeinde übergehen und sie beeinflussen können 7o • 3. "Widerstand" gegen Formen des Synkretismus ist spätestens dann geboten, wenn Glaube und Leben der Gemeinde in der Gefahr stehen, nicht mehr "Christus gemäß" zu sein (vgl. KoI2,8). 4. Nicht mehr "Christus gemäß" sind Auffassungen und Praktiken, die die Einzigartigkeit Christi als umfassende Offenbarung Gottes und Realisierung seines Heils relativieren (vgl. Kol 1,12-22; 2,3f.9-13) und Heilsgewinn oder -sicherheit auch aus anderen Quellen erwarten (vgl. Kol2,8.l6-18.20-23).
70 Im Hintergrund steht die Feststellung A. GRÖZINGERS: "Religiöser Synkretismus gehört zum Alltag der Menschen bis weit in die kirchlichen Milieus hinein" (Art. Synkretismus VII. Praktischtheologisch, TRE 32, 2001, 556-559: 557).
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5. Weil das "Christus Gemäße" das entscheidende Kriterium zur Beurteilung von Synkretismus ist, muß die Antwort auf die damit gegebene Herausforderung theologischer Natur sein. Denn wer J esus Christus für die Gemeinde ist, hängt nicht in erster Linie von der Erfahrung des Glaubens oder allgemeinen religiösen Überzeugungen ab, sondern von der Zustimmung des Glaubens zu christologischen und soteriologischen Lehrinhalten (vgl. oben Abschnitte 2.1 und 2.2). 6. Weil der Glaube an Jesus Christus aber mehr ist als die Zustimmung zu theologischen Lehrinhalten - nämlich das existentielle Verankert-Sein in Christus und seinem Heil-, wird dem Synkretismus nur dann wirksam begegnet werden können, wenn theologische Lehre zugleich auf die Umsetzung der Glaubensinhalte in die praktische Lebensgestaltung zielt - und damit auf die Erfahrbarkeit des geglaubten Jesus Christus und seines Heils (vgl. oben Abschnitt 2.3). 7. Gottesdienstlicher Lobpreis kann eine "wirkungsvolle" Weise darstellen, dem Synkretismus zu begegnen, insofern hier die Einzigartigkeit Christi und die exklusive Bindung der Gemeinde an ihn in der doxologisch-bekennenden Hinwendung der Gemeinschaft der Glaubenden zu ihrem Herrn zum Ausdruck kommt (vgl. KoI1,15-20).
Martin Karrer 2 THESS 2,1-4 UND DER WIDERSACHER GOTTES
1 Einführung: Der Zweite Thessalonicherbrief und seine Probleme Besondere Aufmerksamkeit Otto Merks gilt den Thessalonicherbriefen. Dem von Paulus verfaßten Ersten Thessalonicherbrief folgt - kristallisierte sich in seinen Untersuchungen heraus - der Zweite Thessalonicherbrief als wohl frühester, vielleicht noch zu Lebzeiten des Paulus entstandener Deuteropauline 1 • Er setzt den Ersten Thessalonicherbrief interpretierend voraus, ohne ihn direkt zu zitieren2 • Angefangen bei seiner Form schlagen Eigenheiten durch, die ihn trotz der Verpflichtung an Paulus von diesem entfernen. Der Autor schreibt so schon die -Danksagung, die sich wie in den unumstrittenen Paulinen an den Briefgruß (2 Thess 1,1~ anschließt, markant fort. Sie gilt in einer wichtigen Neuerung gegenüber auch der ansonsten nächsten Eröffnung in 1 Kor 1,4 als verpflichtend geschuldet (EuXaPLOtE1V OCPElAOIlEV [2 Thess 1,3])3. 1 Die frühe Datierung schlägt O. MERK an verschiedenen Stellen vor. In ders., Handeln aus Glauben. Die Motivierungen der paulinischen Ethik, MThSt 5, Marburg 1968, 59 schloß er eine paulinische Verfasserschaft nicht aus (wie sie anderweitig bis heute erwogen wird; so von K.-W. NIEBUHR, Die Paulusbriefsammlung, in: DERS. [Hg.], Grundinformation Neues Testament. Eine bibelkundlich-theologische Einführung, Göttingen 2000, 196-293: 275f). Seit O. MERK / E. WÜRTHWEIN, Verantwortung, BiKon, Stuttgart 1982, 153 pt'ädiert er begründet gegen die paulinisc he Verfasserschaft (wie die Mehrheit der Forschung; vgl. z. B. F. W. HORN, Vielfalt und Einheit der neutestamentlichen Botschaft, in: Niebuhr, Grundinformation, 371-387: 376f), aber für eine Abfassung "schon zu des Apostels Paulus Lebzeiten (oder sehr bald nach seinem Tod)". In O. MERK, Nachahmung Christi. Zu ethischen Perspektiven in der paulinischen Theologie (zuletzt in: DERS., Wissenschaftsgeschichte und Exegese. Gesammelte Aufsätze zum 65. Geburtstag, hg. v. R. Gebauer / M. Karrer / M. Meiser, BZNW 95, Berlin 1998, 302-336: 326 [= Neues Testament und Ethik. FS R. Schnackenburg, hg. v. H. Merklein, Freiburg 1989, 172-206: 196]) rückte er den 2 Thess besonders nahe an den 1 Thess heran (er sei "wohl kurz nach 1 Thess verfaßt"). 2 Exemplarisch behandelte der Jubilar das an 2 Thess 2,13-17: O. MERK, Überlegungen zu 2 Thess 2,13~17, in: ders., Wissenschafts geschichte (s. Anm. 1), 422-431 (= Nach den Anfängen fragen. FS G. Dautzenberg, hg. v. C. Mayer u. a., Gießen 1994, 405-414) ; vgl. aber auch 1,1 mit 1 Thess 1,1 usw. - Am literarischen Verhältnis des 2 Thess zum 1 Thess verankerte vor 100 Jahren W. WREDE, Die Echtheit des zweiten Thessalonicherbriefs, TU 9,2, Leipzig 1903 die Echtheitskritik. 3 'O<jlElAELV unterscheidet 2 Thess 1,3 von allen unumstrittenen Paulinen. Der Autor könnte an eine kultische Gebetsverpflichtung denken; vgl. Merk, Überlegungen (s. Anm. 2), 424 (= 407) mit Anm.19.
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Mit der Gesamtkonzeption des Textes knüpft der Autor des Zweiten Thessalonicherbriefs neben dem schriftlichen an mündliches Wort an (2,15). Deshalb nähert sich das Schreiben im brieflichen Gewande einer Homilie4 • RhetorikS beeinflußt den Aufbau, ohne daß wir die Gedankengänge in ein striktes rhetorisches Schema pressen dürften 6 • Das exordium mit der Danksagung reicht nach dem gegenwärtigen Diskussionstand 7 bis 1,12 (nach manchen mit einem Einschnitt bei 1,4). Die- probatio konzentriert sich auf Kapitel 2 (in V 1f durch eine partitio eröffnet, die eigene und Gegenposition anreißt 8). Die exhortatio sowie peroratio finden ihren Schwerpunkt in der eigenen Gestalt frühchristlicher Paränese in Kapitel 3. Eschatologie und Ethik, die die Hauptinhalte ausmachen, werden auf diese Weise trotz einzelner Verknüpfungen (namentlich ethischer Einblendungen in Kap. 1 und 2) in der Darstellung getrennt (Eschatologie schwerpunktmäßig in 1,5-10; 2,1-12, Ethik in 3,1-5.6-15t Laut 2,2 veranlaßt die falsche und trügerisch Paulus zugeschriebene These, daß der Tag des Herrn EVE01'l1KEV, den Zweiten Thessalonicherbrief. Sie besitzt einen gewissen Interpretationsspielraum. Denn EVEa1'l1KEV läßt sich auf eine Gegenwart des Endes (der Tag sei eingetreten) wie auf dessen Erwartung in nächster Zeit hin lesen (der Tag stehe an). Der unabgeschlossene Streit der Forschung lO muß nicht
4 Merk, Verantwortung (s. Anm. 1), 153. - Da uns urchristliche Homilien nicht unm.ittelbar überkamen, enthält die Bestimmung einen nicht unbeträchtlichen Spielraum. S Nach F. W. HUGHES, The Social World of 2 Thessalonians, Listening 31, 1996, 105-116 und G. S. HOLLAND, The Tradition that You Received from Us: 2 Thessalonians in the Pauline Tradition, HUTh 24, Tübingen 1988, 6--58 genauerhin deliberative Rhetorik (bei Unterschieden der Literatur im einzelnen). 6 Merk, Überlegungen (s. Anm. 2), 423f (= 406f). 7 V gl. H.-J. KLAUCK, Die antike Briefliteratur und das Neue Testament, Paderborn 1998, 297f (mit Übersicht über wichtige Positionen der Literatur). 8 Vgl. F. W. HUGHES, Early Christian Rhetoric and 2 Thessalonians, JSNT.S 30, Sheffield 1989, 56 (vgl. auch Quintilian, Inst Orat IV 5 zur partitio, der Aufzählung der Beweisziele). - Bei 2,1-12 begann im übrigen die Kritik an der Authentizität des 2 Thess, wie im Gedenken an ein gerade vergangenes Jubiläum notiert sei: Vor gut 200 Jahren (1801) verfaßte J. E. Chr. Schmidt seine "Vermuthungen" über die beiden Briefe an die Thessalonicher (abgedruckt bei W. TRILLING, Untersuchungen zum 2. Thessalonicherbrief, EThSt 27, Leipzig 1972, 159-161), in denen er Pseudonymität des ganzen 2 Thess ins Gespräch brachte, sich dann aber weniger kühn nur für eine nachträgliche Einfügung von 2,1-12 durch den Montanisten nahe Kreise entschied (161). 9 Zur Ethik vgl. Merk, Handeln (s. Anm. 1), 60-65. 10 Einführungen in die Diskussion z. B. bei Holland, Tradition (s. Anm. 5), 96ff; Hughes, Rhetoric (s. Anm. 8), 75-95; K. ERLEMANN, Naherwartung und Parusieverzögerung im Neuen Testament. Ein Beitrag zur Frage religiöser Zeiterfahrung, TANZ 17, Tübingen 1997 (zum 2 Thess: 207f); L. J. LIETAERT PEERBOLTE, The Antecedents of Antichrist. A Traditio-Historical Study of the Earliest Christian Views on Eschatological Opponents, JSJ.S 49, Leiden 1996, 72-74 u. ö.; 1. BROER, Einleitung in das Neue Testament, NEB.E 2/2, Würzburg 2001, 48lf; R. BÖRSCHEL, Die Konstruktion einer christlichen Identität. Paulus und die Gemeinde von Thessalonich in ihrer hellenistisch-römische~ Umwelt, BBB 128, Berlin 2001, 392f. - Ältere Linien zur Gnosis (vgl. W.
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allein eine mangelnde Auflösbarkeit der Formulierung aus unserer Distanz spiegeln. Der Autor selbst könnte eine Spannung zulassen, die bald nach dem gemeindegründenden Wirken des Paulus von der N ah- zu Nächst- und Gegenwartserwartung hin aufbrach 11 und durch eschatologische Intensivierungen in der Umwelt der SOer bis frühen 60er Jahre gefördert wurde 12 • Insofern ist Otto Merks Datierung in diese Zeit von Reiz (gegen die nach wie vor beliebte Spätdatierung des Schreibens gegen Ende des ersten Jahrhunderts) 13. Alles in allem nimmt der Autor mit seinen eigenen sprachlichen und sachlichen, von Paulus zu unterscheidenden Möglichkeiten die Aufgabe wahr, "Verantwortung im Hinblick auf das hinausgezögerte Ende zu aktualisieren", zu der er "von Paulus her das Recht" sieht 14 • Die von ihm kritisierte Position wie sein Anliegen, Raum für ein sich hinauszögerndes Ende zu wahren und in diesem Raum ethische Verantwortung einzuschärfen, sind neben dem späten Wirken des Paulus denkbar. Daher ist die Datierung in diese Zeit zu erproben. Einzelheiten der Abfassungssituation des Zweiten Thessalonicherbriefs sind aber offen zu halten 15. Das Selbst-
SCHMITHALS, Paulus und die Gnostiker. Untersuchungen zu den kleinen Paulusbriefen, ThF 35, Hamburg 1965, 138-153) bedürfen aufgrund der neueren Gnosisforschung der Korrektur und treten im letzten Jahrzehnt weithin zurück. 11 In seiner Deutung mit Übergewicht bei der Gegenwartseschatologie; denn das Perfekt EVEOtTJKEV ist grammatikalisch am besten mit "ist gekommen, ist da" zu übersetzen (mit P. MÜLLER, Anfänge der Paulusschule. Dargestellt am zweiten Thessalonischerbrief, AThANT 74, Zürich 1988, 42). 12 M. J. J. MENKEN, 2 Thessalonians, New Testament Readings, London 1994, 97-101 (vgl. ders., Paradise Regained or Still Lost? Eschatology and Disorderly Behaviour in 2 Thessalonians, NTS 38, 1992, 271-289, bes. 280-285) stellt auch die Gegenwartsdeutung in einen Kontext drängender, apokalyptischer Eschatologie und verweist dazu bes. auf die von Josephus für die 50er bis frühen 60er Jahre berichteten Strömungen (bes. Ant XX 169f.187) sowie Überlieferungen in der synoptischen Apokalypse (Mk 13 par). 13 Spätdatierung zuletzt bei Broer, Einleitung (s. Anm. 10), 482-484 und - trotz beobachteter Querlinien des 2 Thess zu Strömungen der 50er / 60er Jahre - Menken, 2 Thessalonians (s. Anm. 12), 65f; vgl. auch Klauck, Briefliteratur (s. Anm. 7), 301. - Eine frühe deuteropaulinische Abfassung vertritt - mit anderen Gesichtspunkten als O. Merk - G. DAUTZENBERG, Theologie und Seelsorge aus paulinischer Tradition. Einführung in 2 Thess, Kol, Eph, in: J. Schreiner (Hg.), Gestalt und Anspruch des Neuen Testaments, Würzburg 1969, 96--119: 96ff.104f. - G. THEISSEN, Das Neue Testament, München 2002, 8M hält die Datierung offen (zu seiner These vgl. u. Anm. 15). 14 Merk, Verantwortung (s. Anm. 1), 153 (beide Zitate); vgl. auch die bei O. Merk entstandene Dissertation H. S. HWANG, Die Verwendung des Wortes mxc; in den paulinischen Briefen, Diss. Erlangen 1985, 304f. 15 Merk, Überlegungen (s. Anm. 2), 430 (= 413) äußert Sympathie für die These von K. P. DONFRIED in DERS. / 1. H. MARS HALL, The Theology of the Shorter Pauline Letters, Cambridge 1993, 83-87, der 2 Thess könne der Gemeinde zu Thessalonich gelten und auf Timotheus als (Mit-) Autor zurückgehen. Zu Recht legt er sich aber nicht auf sie fest. Denn sie wird dadurch erschwert, daß die Gemeinde in Thessalonich die problematische Behauptung in 2,5, der Autor (pseudoPaulus) habe seine eschatologische Position, die von dem der Gemeinde vorliegenden 1 Thess abweicht, bereits bei einem Aufenthalt mitgeteilt, am besten nachprüfen kann.
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bewußtsein des Autors, er müsse mit Pauli eigener Hand (vgl. 3,17, angelehnt an 1 Kor 16,21) gegen eine Prophetie 16 , eine Predigt und gar einen Brief unter dem Namen des Paulus (2,2) eingreifen, bleibt ebenso irritierend wie bemerkenswert 17, auch wenn er vielleicht den Ersten Thessalonicherbrief stützen (und nicht, wie in der Forschung gleichfalls vertreten, ersetzen) wollte 18 • Greifen wir also den Vorschlag Otto Merks auf, der Zweite Thessalonicherbrief sei noch zu Lebzeiten des Paulus durch eine dritte Hand entstanden, und erschließen vor solchem Hintergrund paradigmatisch eine seiner Pointen: die Skizze des Widersachers in 2,3f und die zu ihr führenden Linien des Textes. 2 Eschatologische Akzente in 1,3-2,2 Um diese Linien zu erfassen, haben wir zunächst auf die Fortschreibung der Eschatologie gegenüber dem Ersten Thessalonicherbrief in 2 Thess 1,3-2,2 zu blikken: Der Erste Thessalonicherbrief verfolgte das Anliegen, die Gemeinde solle in ihrer Erwählung (1,4) unbeschadet mancherlei Bedrängnis (1,6; 2,14; 3,3) und Ver-
Grundsätzlich ließe sich dieses Problem durch die These lösen, Paulus habe seinen 1 Thess bei einem späteren Besuch in Thessalonich selbst korrigiert (was Theißen, Das Neue Testament [so Anm. 13], 86 vorschlägt; den späteren Besuch folgert er aus 2 Kor 2,13; Apg 20,1-3). Indes spricht gegen die These der Umstand, daß wir in den paulinischen Briefen keine Spuren einer vergleichbaren Fortschreibung der Eschatologie antreffen (auch 1 Kor 15,20-28 differiert markant). Die Konstruktion wurde also aller Wahrscheinlichkeit nach pseudepigraph gebildet. Die meisten Vertreter der Spätdatierung neigen im übrigen von vornherein zur Entstehung an drittem Ort (z. B. W. TRiLLING, Der zweite Brief an die Thessalonicher, EKK 14, NeukirchenVluyn u. a. 1980,28; E. REINMUTH, in: N. Walter I E. Reinmuth I P. Lampe, Die Briefe an die Philipper, Thessalonicher und an Philemon, NTD 8/2, Göttingen 1[= 181 1998,161.164). 16 Vgl. G. D. FEE, Pneuma and Eschatology in 2 Thessalonians 2.1-12. A Proposal About "Testing the Prophets" and the Purpose of 2 Thessalonians, in: To Tell the Mysteries. FS R. H. Gundry, hg. v. Th. E. Schmidt u. a., Sheffield 1994,196-215 u. ö. ~ 17 Die theologisch schwierige Frage nach der Bewertung einer Pseudepigraphie zu Lebzeiten des beanspruchten Autors bricht auf. Wir können und müssen sie hier zurückstellen. Zum Rahmen der Pseudepigraphie-Diskussion vgl. derzeit bes. Börschel, Konstruktion (s. Anm. 10),366-386; Klauck, Briefliteratur (s. Anm. 7), 301-306 u. ö.; A. D. BAUM, Pseudepigraphie und literarische Fälschung im frühen Christentum, WUNT 2/138, Tübingen 2001 (kritische Rezension durch A. STANDHARTINGER in RBL 1/2003); Theißen, Das Neue Testament (s. Anm. 13),82-85. 18 Die Übersetzung von ElTlO'tOAl'lC; WC; ÖL' ~IlWV in 2,2 ist schwierig. Ein Teil der Forschung liest den Verweis auf einen falschen, abzuweisenden Brief (ein Dokument, "als sei es von uns"; so Horn, Vielfalt [so Anm. 1], 377), andere die Bejahung, es gehe um einen "Brief, wie er von uns geschrieben wurde", so daß allein die Interpretation richtigzustellen wäre (Reinmuth, Briefe [so Anm. 15], 174.176). - A. LINDEMANN, Zum Abfassungszweck des zweiten Thessalonicherbriefs, ZNW 68, 1977, 35-47 schlug in diesem Spannungsfeld vor, 2 Thess 2,2 degradiere den 1 Thess zu einem gefälschten Paulusbrief, der nun durch ein "echtes" Schreiben zu ersetzen wäre. Merk, Verantwortung (s. Anm. 1), 153 favorisiert dagegen, der 2 Thess wolle den 1 Thess unterstützen (vgl. 2,15); vgl. Theißen, Das Neue Testament (s. Anm. 13), 8M.
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unsicherung (4,13 u. ö.) allenthalben mit dem Herrn sein l9 , von der Gegenwart aus bis zu einem Ausblick auf das uneingeschränkte Dasein J esu, seine 'ITapOUaLa 20 (4,15ff; 5,23 nach 2,19; 3,13), und entwickelte dadurch ein charakteristisches theologisch-eschatologisches Profil. Der Autor des Zweiten Thessalonicherbriefs beginnt in der Danksagung seines Schreibens (1,3-12), dieses Profil zu modifizieren. Er verzichtet darauf, die Erwählung zu thematisieren21, intensiviert die Bedrängnis der Gemeinde (1,4; ÖLWYf.L0L kommen zur 8A.ü!n.c;; des Ersten Thessalonicherbriefs hinzu)22 und kontrastiert dem eine Enthüllung (a'ITOKuAUl!nc;;/3 Jesu. Diese zieht, angelehnt an Israels heilige Schriften, Motive des göttlichen Gerichts an sich (1,5a.8-10; weit über das Gerichtsmotiv in 1 Thess 1,10 hinaus)24. Die Leserinnen und Leser erfahren so bereits im eröffnenden Dank für ihr Leben in Glaube und Liebe (1,3) den überragenden Rang der Eschatologie und den Ernst der Parusie, des uneingeschränkten Beisammenseins Jesu mit den Seinen, das 2,1 zum Ziel der Argumentation macht25 • 1,510 erweisen sich rhetorisch als eine in das Exordium eingebettete transitio, die die ethischen Schlußfolgerungen 26 und die Argumentation des Kapitels 2 vorbereitet. Paulinische Vorgaben mischen sich dabei mit anderen Traditionen. Eine der Linien reicht zur synoptischen Apokalypse. Denn die Enthüllung des Herrn Jesus wird laut 1,7 wie in 1 Thess 4,16 vom Himmel aus stattfinden (a'IT' oupavou), doch über Paulus hinaus begleitet von den "Engeln seiner Macht" (f.LH' aYYEAwv öuVUf.LEWC; autou). Das dazu nächstverwandte Konzept findet sich in Mk 13,26f par.
19 Vgl. O. MERK, Zur Christologie im Ersten Thessalonicherbrief, in: ders., Wissenschaftsgeschichte (s. Anm. 1),360-373 (= Anfänge der Christologie. FS F. Hahn, hg. v. C. Breytenbach / H. Paulsen, Göttingen 1991, 97-110), bes. die Zusammenfassung 373 (= 110, angelehnt an 1 Thess 4,17); zum Erwählungsmotiv vgl. auch DERS., 1 Thessalonians 2:1-12: An Exegetical-Theological Study, in: K. P. Donfried / J. Beutler (Hg.), The Thessalonians Debate. Methodological Discord or Methodological Synthesis?, Cambridge 2000, 89-113: 11 0 (= 1 Thessalonicher 2,1-12: ein exegetisch-theologischer Überblick, in: ders., Wissenschaftsgeschichte [so Anm. 1],383-403: 401). 20 Zur Parusie-Vorstellung vgl. M. KARRER, Art. Parusie, EKL 3,31992, 1059-1061. 21 'EKAOY~ fehlt gegen 1 Thess 1,4 im ganzen 2 Thess (ebenso EKAEYEo9al, EKAEKtOC; KÜ.). 22 LlLwYIlOC; (2 Thess 1,4) findet sich im 1 Thess noch nicht, OLWKELV nur in anderer Bedeutung (5,15). 23 V 7, begrifflich angelehnt an 1 Kor 1,7; im 1 Thess fehlt der Begriff. 24 Vgl. Jes 2,10f.17.19.21; 66,4.15; Jer 10,25 und Ps 67,36; 88,8 LXX Fast alle leitenden Begriffe von 1,5-10 fehlen im 1 Thess, wie Broer, Einleitung (s. Anm. 10),476 notiert; vgl. auch F. HAHN, Frühjüdische und urchristliche Apokalyptik, BThSt 36, Neukirchen 1998, 110f. 25 IIapouola und E1TLOUvaywy~ erläutern sich in 2,1. Die E1TLOUvaywy~ Elr' autov (Versammlung zu Jesus) knüpft sprachlich an 6 9EOC; ... ä.~EL ouv autQ (Gott wird mit Jesus zusammenführen) aus 1 Thess 4,14 an; eine Konnotation gottesdienstlicher Versammlung (vgl. Hebr 10,25) kommt allenfalls hinzu (P. J. WILLSON, Preaching as the Re-Reading of Scripture, Interp 52, 1997,392-404: 403 setzt sie primär). Börschel, Konstruktion (s. Anm. 10) verweist außerdem auf Mt 24,31. 26 V gl. 1, 11f; vgl. dazu Lietaert Peerbolte, Antecedents (s. Anm. 10), 69f.
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Hellhörig werden wir dafür, daß auch die Leitmotive von 2,2a (zusammen mit 2,1 der partitio des Schreibens) Parallelen in Mk 13 par besitzen. Das seltene 8poE'ia8al begegnet neutestamentlich überhaupt nur noch dort. Vom Stamm her besäße es neutrale Bedeutung (ein lauter Klang wird vernehmbar). In Mk 13 par gewinnt es wie an unserer Stelle negative Konnotation 27 • Mehr noch, es wird beide Male zur Warnung eingesetzt: Es gelte, sich nicht durch einen Klang des Endes erschrecken zu lassen (Mk 13,7 par: jJ.~ 8poE'ia8E; 2 Thess 2,2: jJ.T\OE 8poE'ia8al). Das zweite Verb in Vers 2a, aaAEUElV, ist etwas häufiger (im Neuen Testament 15mal). Indes begegnet es in der synoptischen Apokalypse gerade in der Nachbarschaft zur Erscheinung des Menschensohns in seiner Macht, zu der wir die Linie aus 2 Thess 1 beobachteten (nämlich in Mk 13,24f par; Paulus ist es ganz fremd). Überschätzen wir die Bezüge nicht. Nichts weist auf eine unmittelbare Kenntnis der synoptischen Apokalypse durch unseren Autor hin. Wir müssen uns auf eine Berührung in Traditionen bzw. Konzepten beschränken und überdies einen markanten Unterschied notieren: In Mk 13,24f par beschreibt aaAEUEa8al die erwartete Erschütterung beim Ende. 2 Thess 2,2 warnt die Leserinnen und Leser dagegen, sie sollten sich "nicht schnell (jJ.~ taXEwc;) erschüttern lassen". Die Erschütterung hat keinesfalls Eile - der entscheidende Impuls gegen die vom Autor bekämpfte Nächst- oder Gegenwartserwartung. Halten wir also zunächst lediglich fest, daß der Autor des Zweiten Thessalonicherbriefes sich für seine eschatologischen Formulierungen einer Sprache bedient, die über Paulus hinaus Traditionen der synoptischen Apokalypse berührt. Schon diese Beobachtung genügt, um den Vorschlag Otto Merks zu unterstreichen: Der Zweite Thessalonicherbrief kann in den sechziger Jahren, der Ausgangszeit des paulinischen Wirkens, entstanden sein. In dieser Zeit verdichten sich verschiedene eschatologische Konzeptionen, neben Paulus unter anderem in der synoptischen Apokalypse bzw. deren Vorstufen28 • Der Autor gebraucht darauf nicht zulet-zt Motive, die auch in die synoptische Apokalypse eingegangen sind, um seine Sicht des Endes darzulegen. Durch die Mischung der Traditionen entfernt er sich von Paulus, durch die spezifische Verlangsamung des Endes, das jJ.~ taXEwc;, von Paulus 29 und anderen Entwürfen frühchristlicher Naherwartung3o • Hier liegt sein Proprium.
Vgi. auch Lk 24,37 v.i. Wobei wir die (vor und nach R. PESCH, Naherwartungen: Tradition und Redaktion in Mk 13, KBANT, Düsseldorf 1968) viel diskutierte literarische Schichtung von Mk 13 im einzelnen offenlassen können (vgi. u. Anm. 52). 29 Paulus verwendet "CO'.XEW<; nur für innerzeitliche Aussagen, nämlich die Eile seines Wirkens (1 Kor 4,19; Phil2,19.24) bzw. einen raschen Wandel nach seiner Abreise (GaI1,6). Für eschatologische Naherwartung setzt er, falls überhaupt, EV "COCXEl (Röm 16,20a; in der Authentizität sind 16,1727
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3 Die eschatologische Krise nach 2,3f und ihre Traditionen
Der Autor muß die Verlangsamung des Endes verdeutlichen und trifft in seinem Schreiben eine folgen reiche Entscheidung: Die Zeit bis zum Ende ist keine Zeit von Verzückung und Entrückung31 • Sie trägt wesentliche Züge einer Krise .. (2,3f u. ö.). Damit verblassen die aus der Überzeugung des Paulus, der Tag sei nahe (siehe Texte bis Röm 13,12), bereits ins Jetzt durchbrechenden Lichtstrahlen. Der Autor fixiert den Tag des Herrn auf den künftigen Tag herrlichen und kritischen Rechts (siehe das Futur in 1,9f gegen die bekämpfte These von 2,2 Ende). Die Tage der Gegenwart erhalten dagegen im Fortgang zu Kapitel 3 ein Antlitz von Mühe und Plage32 • Die Erfahrung, daß sich die Gemeinde in der Zeit ungeachtet des Zuspruchs der Gnade und des Friedens Gottes mühseliger Arbeit stellen muß 33 und von Unheil fast zerrieben zu werden vermag3\ erhält eine innerweltlich begreifliche und dennoch theologisch einseitige Priorität. Der Autor sieht sich gleichwohl theologisch gut gestützt. Er greift in 2,3f hinter Paulus zurück zu den Schriften Israels, an denen Paulus seine Theologie verankerte, und findet dort Aussagen darüber, daß Gott seine Zusagen aussetzt, zum Beispiel in Ps 89 (benützt durch ihn in der griechischen Fassung Ps 88 LXX). Gottes Wort, kein Widersacher dürfe mehr Nutzen ziehen, kein "Sohn der Gesetzlosigkeit" (uLoc: avojlLac:) in seinen Übeltaten zum Zuge kommen (ps 88,23 LXX), besitzt demnach Grenzen. Gesetzlose Menschen geißelte schon der Prophet es 57,3f LXX). Psalm und Prophet geben, auf die Gegenwart übertragen, über das
a
20a umstritten; so bei M. THEOBALD, Der Römerbrief, EdF 294, Darmstadt 2000, 19f [dort weitere Lit.]). Die Verlangsamung der Eile (Stamm 'tax-) mit \.l.~ fehlt bei ihm. 30 Die Geschichte der frühchristlichen Naherwartung differenziert sich in jüngerer Zeit. Naherwartung (s. EV 'ta.XEl bis Offb 1,1; 22,6) wie die Reflexion einer Verzögerung des Endes konnten in den Phasen des frühen Christentums je neu aufbrechen; vgl. Erlemann, Naherwartung (s. Anm. 10), passim. 31 Die Versuche, alToo'taol.a in 2,3 in solcher Richtung zu deuten (zuletzt in der Variante einer "rapture" der Gemeinde aus der Welt), scheiterten; vgl. W. W. COMBS, ls Apostasia in 2 Thessalonians 2:3 a Reference to the Rapture?, Detroit Baptist Seminary Journal 3, 1998, 63-87 gegen H. W. HOUSE, Apostasia in 2 Thessalonians 2:3: Apostasy or Rapture?, in: Th. lee / T. Demy (Hg.), When the Trumpet Sounds, Eugene 1995, 261-295 u. a. 32 3,8f (der dritte und letzte Beleg für ~\.l.Epa im 2 Thess nach 1,10 und 2,2, nun in der Redewendung VUK'tO<; KaI. ~\.l.Epa<;) stellt das über die Person des Paulus dar; vgl. dazu Merk, Nachahmung (s. Anm. 1), 326f (= 196~. 33 Statt ein gemeindliches Sozialsystem zu überfordern. Das spitzt 3,10ff weit über 1 Thess 4,11; 5,14 hinaus zu; vgl. bes. R. JEWETT, Tenement Churches and Pauline Love Feasts, in: ders., Paul the Apostle to America: Cultural Trends and Pauline Scholarship, Louisville 1994, 73-86 sowie B. W. WINTER, Seek the Welfare of the City. Christians as Benefactors and Citizens, First-Century Christians in the Graeco-Roman World 1, Grand Rapids 1994, 41-60. 340Al.PElV ("zerreiben" usw.) bildet die Basis für 8Ulln<; in 2 Thess 1,4.6.
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Christus geschehen hinaus Raum für eine Krise des Abfalls und der Gottferne. Die Aussage über den gesetzlosen 35 Menschen gilt jetzt. Den originären Paulus verläßt das. Von einem Abfall (ano01:aoLa K'"CA.) sprach dieser noch nicht. Ps 88,23 LXX und Jes 57,3f LXX zitierte er nicht. Der Autor des Zweiten Thessalonicherbriefs sieht sich darauf zu einem noch gravierenderen Einschnitt genötigt. Während Paulus die eschatologische Enthüllung auf Jesus beschränkt (anOKtXAU\tnc; [1 Kor 1,7]), erweitert er das Enthüllungsgeschehen des Endes um den negativen Erfahrungsbereich (anoKaAu8u [2,3]) und erlaubt einen im Urchristentum bis dahin so nicht vorhandenen Einbruch apokalyptischen Krisendenkens. Dieser Einbruch ändert zugleich die Rezeption von Ps 88 LXX und Jes 57 LXX. Die Schuldfeststellungen beider Texte würden nahe legen, das Versagen auf das Volk Gottes und näherhin die Gemeinde zu konzentrieren (vgl. Ps 88,31ff LXX). Sogar der letzte in Vers 3 verwendete Ausdruck, 0 ULOC; '"Cf]c; anwAELac; ("der zum Verderben bestimmte Sohn"), könnte sich dazu fügen; immerhin begegnet er im Urchristentum ein weiteres Mal: für Judas, den Jünger, der ins Verderben geht Goh 17,12)36. Doch der Autor des Zweiten Thessalonicherbriefs schlägt eine andere Spur ein. Er nennt den Abfall, dem Kontext nach die theologische und ethische Auflehnung gegen Paulus, zwar an erster Stelle (npw'"COv [2,3])37. Aber dann geht es um einen Widersacher von außen (2,4)38. Diese Wende entlastet die Gemeinde und erlaubt ihr, sich trotz ihrer inneren Konflikte unschuldig bedrängt zu sehen (ein Bogen zu 1,3-10).
35 In 2,2 ist avollLac; vor O:llap'rLac; (trotz sehr guter Bezeugung für die v. 1.) zu bevorzugen; vg1. B. M. METZGER, A Textual Commentary on the Greek New Testament, Stuttgart 21994,567. 36 Nichts spricht freilich dafür, daß der Autor des 2 Thess diese Tradition kennt. Das widerrät einer vergleichenden Interpretation (gegen A. SCHMIDT, Erwägungen zur Eschatologie des 2 Thessalonicher und des 2 J ohannes, NTS 38, 1992, 477-480, bes. 478~. 37 Im Fortgang des 1. Jh. verbreitert sich die Erfahrung der alToato:aLa (vg1. die angrenzenden Formulierungen in 1 Tim 4,1; Hebr 3,12). Aber der 2 Thess ist aus seinem eigenen Kontext zu deuten. Dort weist alles auf einen innergemeindlichen Konflikt (vgl. nach 2,2 etwa 3,6). Die heute vielleicht zuerst assoziierte Erscheinung eines Abbröckelns der Gemeinde aus innerer Ermüdung erhält auch durch die Begriffsgeschichte von alTOataaLa (vornehmlich Aufstand, Rebellion und speziell Aufstand gegen Gott; vgl. Jos 22,22; Jer 2,19 u. a.) keine Priorität; vg1. die Forschung von E. V. DOBSCHÜTZ, Die Thessalonicher-Briefe, KEK 10, Göttingen 1974, 268-273 über CH. H. GIBLIN, The Threat to Faith. An Exegetical and Theological Re-Examnination of 2 Thessalonians 2, AnBib 31, Rom 1967, 81-88 (mit einseitiger Zuspitzung) bis Hughes, Rhetoric (s. Anm. 8), 58f und Holland, Tradition (s. Anm. 10), 45f.106. 38 'AlTOataaLa begegnet in Israels Schriften auch als Abfall auf Druck von außen, so für die Absicht des Antiochos Epiphanes in 1 Makk 2,15. Ein zusätzlicher Bogen dorthin liegt nahe. Der 2 Thess verwehrt aber durch die Anordnung in 2,3 (der Abfall käme "zuerst"), die Veranlassung zum Konflikt in der Gemeinde unmittelbar dem Widersacher Gottes zuzuweisen.
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Mehr noch, der Widersacher individualisiert sich (0 aV1"LKE(f.LEVO~ K"LA.. [2,4]). Er zieht die pluralische Tradition von Widersachern gegen Gott und Gottes Volk, die wir in Israels Schriften länger und breiter finden 39 , auf eine einzelne Person zusammen 40 • Ältere Forschung sah hier (samt den Aktionen von 2,4) die Aufnahme eines lange entwickelten Antichristmythos 41 • Das ließ sich nicht halten. Der Antichristmythos entsteht vielmehr aus verschiedenen Wurzeln erst bis etwa 200 ,no Chr. 42 , so daß die Hintergründe unseres Textes differenzierter zu erheben sind. Wieder verraten die vom Autor gewählten Anklänge an Israels Schriften die entscheidende Bezugslinie. Ob wir zu Ez 28,2.9 und Dan 11,36 greifen - den Stellen, die im Wortlaut von 2,4 am deutlichsten spürbar sind -, zur Skizze Nebukadnezzars im Buch Judit (3,8; 6,2bt3 oder zum Spottlied gegen den König von Babel J es 14,13f, stets stoßen wir auf den Kontrast Israels zur Vergottung von Herrschern in der Umwelt. Der Zweite Thessalonicherbrief abstrahiert den Widersacher, der sich über alles und jeden erhebt, was Gott oder Heiligtum heißt (i.rrrEpaLp6f.LEVO~ ElTt. mlv"La K"LA..)4\ mithin aus einer politischen Erinnerungsgeschichte und ergänzt erst von dort aus zusätzliche Züge 45 • Die Eckpunkte der Erinnerung setzte Ez 28,1-10 mit der Kritik am Herrscher von Tyrus (für den Zweiten Thessalonicherbrief relevant in der Septuagintafas-
39 Vgl. die aVLLKELjJ.EVOl in Ex 23,22; Est 8,11; 9,2; 2 Makk 10,26 u. ö.; weitere Belege bei Lietaert Peerbalte, Antecedents (s. Anm. 10),76 mit Anm. 6. 40 , AVLLKE"LIlEvoC; hat die Grundbedeutung "der sich widersetzt" (Opponent / Feind). In Sach 3,1 LXX rückt das Verb in gewisse Nähe zu Satan / bllXßOAOC;. Das löst in der Wirkungsgeschichte die Verdichtung zur Teufels- und Dämonenbezeichnung aus. Aber konkret nachweisbar wird diese erst nach dem 2 Thess, ist deshalb in diesen noch nicht einzutragen; vgl. J. ERNST, Die eschatologischen Gegenspieler in den Schriften des Neuen Testaments, BU 3, Regensburg 1967, 36; G. J. M. BARTELINK, ANTlKEIMENOI: (Widersacher) als Teufels- und Dämonenbezeichnung, SE 30, 1987/89,205-224. ' 41 Vgl. bes. W. BOUSSET, Der Antichrist in der Überlieferung des Judentums, des Neuen Testaments und der alten Kirche. Ein Beitrag zur Auslegung der Apocalypse, Göttingen 1895, 104.107. 42 Zu diesem Zeitpunkt haben wir eine Formulierung mit dem präzisen Begriff: "eum autem devastaverit Antichristus hic omnia in hoc munda ... sederit in templo Hierosolymis" (Irenäus, haer. V 30,4). Besonders wichtig zwischen dem 2 Thess und diesem Abschluß ist Justin, dial. 32.110; vgl. dazu Lietaert Peerbalte, Antecedents (s. Anm. 10),63-95. 43 Die F. MUSSNER, Das Buch Judith und die neutestamentliche Antichristidee, TThZ 72, 1963, 242-245 hervorhebt. 44 'Enl. nuv'W. wird geläufig als Neutrum Pl. gedeutet (vgl. z. B. die Übersetzung bei Trilling, 2 Thess, 69) und AEY0jJ.EVOV auf eEOV und OEßo:OjJ.O: bezogen (z. B. ebd., 85), kann aber auch Maskulinum Sg. sein. Sinnvollerweise sind daher beide Aspekte zu verbinden (allein für Maskulinum entscheidet sich J. GWYN GRIFFITHS, 2 Thessalonians Ir 4, ET 52, 1940/41, 38). 45 Vgl. bes. 2,9f. Viele Ausleger ziehen von dort Linien zu eschatologischer Prophetie (z. B. Ernst, Gegenspieler [so Anm. 40], 41). Versuche, die politischen Implikationen angesichts dessen überhaupt klein zu schreiben (vgl. z. B. TH. L. WILKINSON, The Man of Lawlessness in II Thessalonians, in: J. H. Skilton / C. A. Ladley, The New Testament Student and His Field, Philadelphia 1982, 124-149), überzeugen aber nicht.
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sung). Er behauptete, obwohl Mensch und nicht Gott (äv9pWTTOC;; KO:I. OU 9EOC;; [Ez 28,2.9]; vgl. äv9pWTTO<; in 2 Thess 2,3): "Gott bin ich" (0EO<; ELIlL EYW [Ez 28,2.9 LXX]; vgL 2 Thess 2,4 [Ende]). Menschen, die ihn erhoben, unterstützten ihn darin (avo:l.pELv in Ez 28,9 LXX bereitet iJTTEPO:LPOIlEVOC;; in 2 Thess 2,4 vor). Gott aber macht ihn zunichte (28,7). Der Gegenwart nähert sich die Erinnerung über den König von Dan 11,36f (LXX / 8), der sich größer machte als jeden Gott (ETTi. TTaVto: 9EOV K't"A.; vgl. ETTI. mxv't"O: AEYollEVOV 9EOV KtA. [2 Thess 2,1]). Er spiegelt Antiochos IV Epiphanes, der sich in der Epoche der hellenistischen Herrscherkulte am Tempel Gottes in J erusalem vergriff (1 Makk 1,20-24 USW.)46. Die Details dieser Erinnerungsgeschichte sind gut erschlossen, und zahlreiche Auslegungen versuchen, zur Erklärung des Zweiten Thessalonicherbriefs mit einem Einfluß besonders aus Ez 28,2.9 LXX (dem für die sprachlichen Details relevantesten Bezugstext), Dan 11,36 sowie gegebenenfalls Jes 14,13f auszukommen 47 • Dennoch bleibt eine Frage ungelöst: Wie kommt der Autor des Zweiten Thessalonicherbriefs zum Gewicht der politischen Option?
4 Aktuelle Einflüsse auf das Bild des Widersachers in 2,3f Das Einströmen der herrscher kritischen Erinnerung in 2 Thess 2 und ihre mythologische Abstraktion bedarf eines Anlasses und Kontextes. Weil Paulus, dessen eigene Hand unser Autor schreiben will, bis in seine späten, unter der Regierung Neros entstandenen Schreiben jede stilisierte Herrscherkritik vermeidet 48 , scheidet eine Initiative durch ihn aus. Dennoch brauchen wir keine Generati~n hinabzugehen, um das Phänomen zu erklären. Eine Entwicklung neben Paulus sorgt für Plausibilität: In der jüdischen Erinnerung setzte sich die Erfahrung, daß ein Herrscher sich gegen den einen Gott überhöhte und am Tempel vergriff, nach Antiochos IV- Epiphanes fort. Pompeius zog die Bezeichnung "Gesetzloser" auf sich (&VOIlOC;; [psSal 17,11; 1. Jh. v. Chr.]), weil er das Allerheiligste des Jerusalemer Tempels betrat. Bei Caligula kulminierte die Mißachtung von Gottes Heiligtum (die aOEßELO:) vol-
46 Vgl. noch bes. 1 Makk 1,41-50.54-59; 2 Makk 5,11-21; 6,1-6; Josephus, Ant XII 5f; vgl. auch Holland, Tradition (s. Anm. 10), 107 u. ö.; J. A. GOLDSTEIN, I Maccabees. A New Translation with Introduction and Commentary, AncB 41, Garden City 1976, 104-160; Hughes, Rhetoric (s. Anm. 8),59 u. ö. 47 Weichenstellend dafür: B. RIGAUX, L'Antechrist et l'Opposition au Royaume Messianique dans l'Ancien et le Nouveau Testament, DGDFT 2/24, Gembloux 1924,261 u. ö. 48 Vgl. namentlich Röm 13,1-7. Aber auch im Phil, der in 3,20 eine deutliche Distanz zu irdischem Bürgerrecht und Gemeinwesen impliziert und nach manchen jünger als der Röm ist, spart Paulus Kritik am Kult für die römischen Herrscher, der überall in den Provinzen vordringt, aus.
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lends. Er überhob sich - so der jüdische Blickwinkel- in der Absicht, als Gott geehrt zu werden und Standbilder (avöp LcXVTEC;t9 seiner Person im Tempel (vo:6c;) Jerusalems aufstellen zu lassen Gosephus, Bell II 184f). Lediglich sein Tod, in den Augen Philos ein Akt göttlicher Gerechtigkeit (philo, Leg Gai 107)50, verhinderte 41 n. Chr. die Verwirklichung. Das Scheitern von Caligulas Plan bedeutete nicht das Ende der Reflexion über den Vorgang. Vielmehr wurde seine Intention, den Tempel Jerusalems in Dienst zu nehmen, frei für eine Spekulation, die sich von seiner Person löste und mit der apokalyptischen Tradition verband, ein Widersacher mißbrauche den Tempel Jerusalems. Dan 9,27 (u. ö.) hatte das vorbereitet. Nun war es aktualisierbar. Eine wichtige Linie der Aktualisierung im frühesten Christentum bietet die uns schon begegnete synoptische Apokalypse (siehe die Rezeption von Dan 9,27; 11,31; 12,11 in Mk 13,14 usw.). Dabei ist nicht wesentlich (und meines Erachtens eher fraglich), ob deren Grundschicht (Mk 13':-) in Reaktion auf Caligulas Absicht noch während der Vorgänge des Jahres 40 entstand (wie G. Theißen vorschlägt)51. Entscheidend ist, daß sich die Impulse nach dem Tod Caligulas zusammen mit anderen apokalyptischen Traditionen zu einem Bild kommender eschatologischer Bedrohung verdichten und als solches überliefert werden 52 . Auf einen vergleichbaren Vorgang stoßen wir in 2 Thess 2,3f. Die Forschung bemerkt ihn seit langem 53 (und G. Theißen favorisiert ihn neuerdings 54),ohne ihn bislang umfangreich zu verfolgen 55 • Tatsächlich gibt es zahlreiche und unmittelbarer als in Mk 13 erkennbare Berührungen zur bedeutendsten zeitgenössischen Quelle über Caligulas Absicht und Vorgehen, der Schilderung Philos über die jü-
49 Vgl. &.vöpuxc; (Singular) in Ant. XVIII 261.301 und bei Philo, Leg Gai 188.265.337. 50 Was die alte Vorstellung aktualisiert, daß Gott gegen einen sich göttlich überhöhenden Herrscher einschreitet (vgl. Ez 28,7f.10 LXX). 51 G. THEISSEN, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien. Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 21992, 171f. 52 Das jüdisch-apokalyptische Vor- und Umfeld brauchen wir dabei hier nicht weiter zu verfolgen; vgl. dazu die o. in Anm. 28 und 51 genannte Literatur; E. BRANDENBURGER, Markus 13 und die Apokalyptik, FRLANT 134, Göttingen 1984 sowie die Kommentare. 53 Da der Jubilar in Erlangen wirkt, sei für das 19. Jh. ein Erlanger vermerkt: J. eHR. K. v. HOFMANN, Die heilige Schrift neuen Testaments zusammenhängend untersucht. 1. Die Aufgabe. Ausgangspunkt der Untersuchung. Der erste und zweite Brief Pauli an die Thessalonicher, Nördlingen 21869, 315f. 54 Theißen, Das Neue Testament (s. Anm. 13), 86; vgl. auch schon Menken, 2 Thessalonians (s. Anm. 12), 105f. 55 Die zu rasche Bemühung der Theologiegeschichte um eine Identifikation des Widersachers trug sicher zu solcher Vorsicht bei; vgl. Rigaux, L'Antechrist (s. Anm. 47),270-290 u. v. a. - Die angesprochene Faszination durch einen umfangreichen vorchristlichen Antichristmythos kam hinzu. Für die Distanz zu zeitgeschichtlichen Deuteimpulsen vgl.· noch Reinmuth, Briefe (s. Anm. 15), 178f; Hahn, Apokalyptik (s. Anm. 24), 11lf.
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dische Gesandtschaft zu Caligula am Höhepunkt der Krise s6 , ohne daß der Zweite Thessalonicherbrief diese Quelle selbst benützte s7 . Notieren wir die sachlichen Bezugspunkte von Philos Skizze (in seiner Legatio ad Gaium): - Gaius war, lesen wir dort, von seinen frühen Taten an ein Meister in gesetzlosem Tun (avollLaL [philo, Leg Gai 30,4]; man vergleiche die avollLa in 2 Thess 2,3). - Da Gaius zum augusteischen Geschlecht (YEVOC; ~Eßao-eov [Leg Gai 48,6 u. ö.]) gehörte, gebührte ihm - so Philo - die Anrede ~EßCXO-eOC; (Leg Gai 352). Ihm war vertraut, Ehrung zu empfangen. Aber er kontrollierte dies nicht wie der Begründer des Namens ~EßCXO-eOC;, Augustus (Leg Gai 143f u. ö.). Er überhöhte sich über die Kulte (OEßcxolloL) von Halbgöttern und Göttern (Leg Gai 93). Man vergleiche in 2 Thess 2,4 die Beschreibung des Widersachers als lYlTEpaLpollEvoC; ElTL mxv-ea AEYOIlEVOV SEOV ~ oEßcxollaS8.
- In der Konsequenz dessen formte sich Gaius, der doch Mensch war (&vSpumoc;), zu einem Gott (SEOlTAao-ef)oaL [philo, Leg Gai 118]). Er beging, was die Juden für die schwerste Gottlosigkeit halten (aoEß'Illlcx [Leg Gai 118]). Nachdem er annahm, bei den Alexandrinern faktisch (-e4) ovn) für einen Gott (SEaC;) gehalten zu werden (VOIlL(EOSCXL [Leg Gai 164]), erweiterte er diesen Anspruch. Obwohl Mensch (nochmals &vSpumoc;)S9, suchte er durch die Errichtung göttlicher Bilder
seiner Person (angelehnt an Zeusbilder)60 in Heiligtümern bis zum Jerusalemer Tempel vom Himmel Besitz zu ergreifen (Leg Gai 347). Den jüdischen Gesandten, die ihn um Mäßigung baten, warf er vor, Gotteshasser (SEOIlLoE'iC;) zu sein, da sie entgegen seinem Selbstbild61 nicht meinten (Il~ VOIlL(ElV), "ich (sc.- Caligula) sei Gott" (SEOV ELVaL IlE [Leg Gai 353]). Man vergleiche die Spannung, der Widersacher sei Mensch (&vSPWlTOC; [sc. der Gesetzlosigkeit]) und behaupte doch, Gott zu sein (on EO-eLV SEOC;), in 2 Thess 2,3f. Überschauen wir die Erzählung Philos und ihre Parallelen im Zweiten Thessalonicherbrief62 , ist das kritische Urteil beider Texte darüber, daß ein menschlicher
56 Philo schrieb sie nach dem Geschehen nieder und gab sie zur Weitergabe frei, so daß sie bis heute erhalten blieb. Die Niederschrift nach dem Tod Caligulas ergibt sich aus Leg Gai 107. 57 Das erweisen sprachliche Unterschiede. Etwa gebraucht Philo für den Tempel Jerusalems in der Leg Gai nirgends vaoc;, sondern LEPOV u. ä. (der 2 Thess belegt hier in 2,4 einen Sprachgebrauch wie der oben genannte Josephus) und versteht KatEXELV anders als 2 Thess 2,6 stets als besiedeln (Leg Gai 216 u. ö.). 58 ~Eßaafla erhält dadurch die übergreifende Bedeutung ,,(jedes) Objekt der Verehrung" mit Konkretion auf Heiligtümer, Götter und Götterbilder; vgl. Apg 17,23; Dion. Hal., Ant Rom I 30; Lietaert Peerbolte, Antecedents (s. Anm. 10), 77; vgl. auch u. Anm. 75. 59 Der wiederholte Gegensatz erinnert an Ez 28,2.9. 60 Vgl. Sueton, Cai. 22.33; Dio Cassius 59,26,3-5.8; Josephus, Ant XIX 4.11. 61 Vgl. Leg Gai 164 zu Alexandria. 62 Ob 2 Thess 2,3f.8f auf älteres geprägtes Überlieferungsgut zurückgreift, stellen wir dabei hintan. Die Indizien genügen trotz Trilling, Untersuchungen (s. Anm. 8), 89f u. ö. nicht für einen siche-
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Herrscher den Anspruch "Ich bin Gott" erhebt, durch Ez 28,1-10 vorgezeichnet und hat auch der Vorwurf der avollLU alte Wurzeln (vgl. die anderen im letzten Abschnitt genannten Schrift texte Israels). Zugleich verschärfen Philo und der Zweite Thessalonicherbrief den Kontrast plastisch vor dem Hintergrund des ersten Jahrhunderts. Denn sie bedienen sich der in dieser Zeit überaus augenfälligen Motivik einer mangelnden Verehrungswürdigkeit des Widersachers: Philo benützt das durch den Namen der Augusti eröffnete Wortfeld OEß- (das in den genannten älteren Quellen Israels fehlt) für viele erzählerische Effekte gegen Caligula (~E ßUOtOL, aOEßELU KtÄ.). Der Zweite Thessalonicherbrief abstrahiert es nach dem Tod Caligulas von dessen Person und verdichtet es polemisch in die Erwartung eines Widersachers, der sich zum Widerspruch gegen alles OEßuollu erhebe (2,4). Parallel verdichtet sich die Pointe dazu, der sich falsch erhebende Mensch beanspruche Gottheit, und der Schluß von 2 Thess 2,4 (on Em:l.v 8EOC;) gemahnt trotz der Abstraktion noch unmittelbar an Caligulas Variante des Herrscheranspruchs auf Gottheit. 2 Thess 2,3f bietet damit eine eindrückliche zweite Aktualisierung apokalyptischer Tradition unter dem Einfluß der Caligula-Erfahrung im frühen Christentum neben der synoptischen Apokalypse (Mk 13':-). Wieder dürfen wir freilich keine direkten Kontakte zwischen den beiden Quellen konstruieren. Angefangen bei der Rezeption des Danielbuches unterscheiden sich die Akzente gravierend: Mk 13 greift aus Dan 11 den Greuel der Verwüstung auf (11,31)63, 2 Thess 2,4 die einige Verse danach (11,36) artikulierte Selbsterhebung des Herrschers. Daß den Zweiten Thessalonicherbrief außerdem die Verzögerung, nicht das rasche Ende interessiert, sprachen wir bereits an. Ausschlaggebend für die Untersuchung ist also allein der unter den Differenzen analoge religions geschichtliche Grundvorgang, ein Einbruch apokalyptischen Denkens unter Anverwandlung des jüdischen CaligulaBildes. Dieser Einbruch beginnt im paulinischen Kreis nicht durch Paulus selbst, sondern, wie der Zweite Thessalonicherbrief zeigt, unter nachträglichem Eingriff und mithin verzögert (falls man eine Frühdatierung der synoptischen Apokalypse vertritt, auch gegenüber dieser). Wir gelangen in etwa in die 60er Jahre 64 .
ren Nachweis (frilling stellt im übrigen keinen engeren Bezug der Überlieferung zu CaligulaErinnerung her, streift sie auch im Kommentar lediglich kritisch; vgl. ders., 2 Thess [so Anm. 15], 87). 63 Bei Theißen, Lokalkolorit (s. Anm. 51), 170 plausibel auf die Kaiserstatue gedeutet (sie ist als Materie ein Neutrum wie ßBEAUYf.lIX., im personalen Bezug Maskulinum, weshalb Mk 13,14 in der constructio ad sensum EOtT]KW!; beifügt). 64 Weiter als bis in sie sollte der Vorgang nicht nach hinten gerückt werden, denn mit dem unter Nero begonnenen Jüdischen Krieg schiebt sich vor eine Usurpation des Tempels dessen Zerstörung; vgl. Sib V 150 nach 28-34 (vgl. dazu Lietaert Peerbolte, Antecedents [so Anm. 10], 332f u. ö.). Wo sich der Impuls Caligulas in den nächsten Generationen fortsetzt (wie in der Vorstellung von AscJes
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5 Der Höhepunkt in 2,4: der Gottesbeweis des Widersachers
2 Thess 2,4 bringt als Schlußton ein, der Widersacher setze sich in den Tempel Gottes und erweise sich dort in seinem Anspruch auf Gottheit. Die prägnante Formulierung findet trotz der beschriebenen Entsprechungen keine unmittelbaren Parallelen in den Vergleichsquellen von Ez 28 über Philos legatio ad Gaium bis zur synoptischen Apokalypse. Spüren wir ihrem eigenen Klang nach: Die Erwähnung des Tempels Gottes greift auf die Absicht Caligulas zurück, den Tempel Jerusalems wie andere Heiligtümer für eine dem Lokalkult beigeordnete Verehrung seiner Person zu usurpieren, und gebraucht deshalb das allgemeine, für alle Tempel der Antike geeignete VlXOC;65. Der Zweite Thessalonicherbrief abstrahiert den Vorgang allerdings. Er futurisiert und signalisiert: Der Widersacher, der auftreten wird, wird nicht wie Caligula scheitern, bevor er seine Absicht vollendet. Er wird seinen Anspruch auf den Wohnsitz des einen Gottes vielmehr verwirklichen. Das übersteigt den bekannten Vorgang. Analog entgrenzt sich der Tempel zum Wohnsitz des einen Gottes über den irdischen Ort hinaus 66 • In den Wohnsitz Gottes "setzt sich" der Widersacher sodann. Caligulas Liebe für Bilder seiner Person 67 erzwingt die Konkretion zum Sitzen nicht (ein Kultbild kann auch stehen68). Indes vertieft das KlXSLOlXL vorzüglich das sachliche Gefälle. Zu sitzen, kennzeichnet Herrscher und Gottheiten auf ihrem Thron 69 • Der Zeus von 4,lH, Beliar werde als ungerechter König wirken, sich in der Kraft von Wundern zeigen und sein Bild überall aufstellen), müssen wir mit einem Einfluß des 2 Thess (2,4.9) rechnen. Explizit wird die Rezeption unserer 2 Thess-Passage bei Irenäus, haer. V 25,3f. 65 Statt einer spezifischen Bezeichnung des Jerusalemer Tempels ("Haus Gottes" o. ä.); dazu, daß Philo letzteren in der legatio nicht vocoe;; nannte, vgl. o. Anm. 57. 66 Ohne daß wir den Ansatz beim irdischen Ort vergessen dürften. Die spätantik-mittelalterliche Antichrist-Spekulation tat das, als sie das Motiv des Tempels auf die Kirche übertrug. Die kritische Forschung korrigierte das zu Recht; für den Forschungsgang im 20. Jh. vgl. Rigaux, L'Antechrist (s. Anm. 47), 260ff. Die Entwicklung geht von Giblin, Threat (s. Anm. 37), 76-80 zu DERS., 2 Thessalonians 2 Re-read as Pseudepigraphal: A Revised Reaffirmation of The Threat to Faith, in: R. F. Collins, The Thessalonian Correspondence, BEThL 87, Leuven 1990, 459-469: 462; J. DU PREETZ, Op soek na die betekenis van b vocoe;; LoD SEOD in 2 Thessalonisense 2:4, NGTT 22, 1981,91-95 u. v. a. Inzwischen ist der Ansatzpunkt beim Jerusalemer Tempel gesichert; vgl. für die jüngeren Kommentare bes. Trilling, 2 Thess (s. Anm. 15),86 und Menken, 2 Thessalonians (s. Anm. 12), 105. 67 In den griechisch-jüdischen Quellen a.vöpuxe;; / a.VÖpllXVtEe;; (Nachweise s. oben Anm. 49; vgl. auch Anm. 60), lateinisch "simulacrum" (vgl. bes. Sueton, CaI22,3). 68 Und die Rezeptionslinie mit EomKwe;; / EotT]KOm in Josephus, Ant XVIII 301; Mk 13,14 stellt sich laut Theißen, Lokalkolorit (s. Anm. 51), 170 eher ein stehendes Bild vor. 69 Zahlreiche Belege zu KOCSE(0f.lOCL und KOCS((W in H. G. LIDDELL / R. SCOTT, A Greek-English Lexicon, Vol. 1, revised by H. S. Jones, Oxford 1951, 851.853f. - Die bei beiden Verben vorhandene Alternative sitzender Bittsteller (Nachweise ebd.) kommt zur Deutung unseres Verses ebenso wenig in Frage wie das Sitzen für einen Streik (Nachweis und Diskussion bei Lietaert Peerbolte, Antecedents [so Anm. 10], 77 Anm. 3). Eine Reihe von Skriptorien sichert den Sinn gegen diese Alternativen zusätzlich durch die Beifügung we;; SEOV (sicher textkritisch sekundär; vgl. Metzger, Commentary [so Anm. 35], 567f).
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Olympia, den Caligula besonders liebte 70 , "sitzt" so als "Gott" (eE6~) auf seinem dortigen Thron (KIXeE(HIXL K"CA.. [paniausas V 11,1])71. Das Sitzbild zeigt seine personale, göttliche Realität in umfassender Macht 72 • Der Widersacher zieht das an sich und tritt gleichzeitig in eine Verdrängungs-Konkurrenz zu dem einen Gott Israels und der ersten Christen. Denn dessen Thron bildet nach den Quellen der Zeit gleichfalls einen Thron-Sitz (4Q405 20,2; 21,3 u. ö.). Der eine Gott heißt nach dem Sprachgebrauch der Septuaginta sogar "sitzender Herr" (1 Bas 4,4 LXX u. Ö.)73, bei den frühen Christen wiederholt "der auf dem Thron Sitzende"74. Beachten wir das, spricht 2 Thess 2,4 nicht zufällig statt von einem Götterbild von einem Handeln des Widersachers in Person: Der Widersacher überbietet in seiner Aktion jede Aufstellung eines Götterbildes. Er verschmilzt sich immediat mit Zeus-Jupiter und vor allem mit dem einen Gott Israels 75 . Er verlangt uneingeschränkt nach der Würde des einen Gottes in seinem herrschaftlichen Heiligtum. In diesem seinem Verlangen "zeigt er sich". Die Syntax konstruiert das Verb (hrOÖHKvllVIXL ("zeigen") zunächst mit Akkusativ. Da zusätzlich ein önfolgt, lösen viele Übersetzungen die Konstruktion im Sinne eines doppelten Akkusativs auf6 • Es resultiert, der Widersacher mache sich zu Gott bzw. gebe sich als Gott aus 77 • Als Rahmen ist das sinnvoll. Aber die Eigentümlichkeit der doppelten Konstruktion bringt darin wichtige Nuancen ein: , A lTOÖHKVUVIXL mit Akkusativ verweist - so das erste Moment - auf die Wahrnehmbarkeit des Sitzenden. Das Verb übernimmt die Valenz einer koinegriechischen Intensivbildung zu ÖHKVUVIXL. Der Widersacher zeigt sich mithin. Er kann mit den Augen gesehen werden 78 . Er konfrontiert seine Anschaubarkeit zur Unanschaulichkeit des einen Gottes.
70 Und nach Rom schaffen wollte; vgl. bes. Josephus, Am XIX 8; Sueton, Ca157. 71 V 10,10 heißt der Zeustempel von Olympia vorab VIlOC;. 72 Man vergleiche auch die durch viele Abbilder überlieferte kapitolinische Trias in Rom: Jupiter (den Caligula laut Josephus, Am XIX 4 als seinen "Bruder" bezeichnete) sitzt auf dem Thron in der Mitte; vgl. F. CANCIANI/ A. CONSTANTINI, Art. Zeus / Iuppiter, LIMC VIII 1, 421-470, bes. 465468; VIII 2,268-311, bes 308-310 (mit Abb. [479-527]). 73 Breitere Nachweise bei C. SCHNEIDER, Art K&STJflIlL K-cA., ThWNT 3,1938,443-447: 444. 74 V gl. den Sprachgebrauch von Mt 23,22 bis Offb 4,2f u. ö. 75 Insofern bezieht die Erhebung über alles, was Gott und Verehrungsgegenstand (vgl. o. Anm. 58) heißt, in 2,4 die konkrete Überhöhung über verehrte Götterstatuen ein (für Götterstatuen als SEOL vgl. z. B. Weish 13,10) und radikalisiert die Erhebung eines Menschen zum OEßIlOflll durchs Bild, die Weish 14,12-21 geißelt (OEßIlOflll in V 20; vgl. Holland, Tradition [so Anm. 10], 108). 76 Wie W. BAUER, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, Berlin 61988, hg. v. K. u. B. Aland, vorschlägt (178f). 77 Vgl. z. B. die EÜ z. St. 78 V gl. die Definition von ÖELKVUVIlL bei Plato, Crat 430e; vgl. auch H. SCHLIER, Art. ÖELKVUflL K-cA., Th WNT 2, 1935, 26.
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Darin führt er - so das zweite - gleichsam einen Gottesbeweis. 'ArrOOElKVUVCXl mit ön übernimmt diesen Akzent, das Zeigen im erweiterten und übertrageneri Sinn, wieder mit einer geläufigen Bedeutung des Verbs 79 • Der Nebensatz markiert, was zu demonstrieren ist: Eat'LV 8EOc; ("es ist" bzw. - wenn wir das Subjekt zur Kopula dem Vordersatz entnehmen - "er ist Gott"). Aus dem Blickwinkel des Widersachers hängt beides zusammen. Er beweist, daß Gott ist, gerade dadurch, daß er sich als Gott zeigt. Sein Selbstbeweis wird zum Gottesbeweis und verbannt zugleich alles, was neben ihm Gott heißen könnte, aus Anschauung und Argumentation. Zeitgeschichtlich gelesen, abstrahiert das den Wunsch Caligulas, faktisch (tQ övn) für einen Gott (8EOc;) gehalten zu werden (voIlL(E08cxl [siehe oben zu Leg Gai 164]). Der Zweite Thessalonicherbrief spitzt das aufs äußerste zu. Sein Widersacher heischt nicht nur nach allgemeiner göttliche Anerkennung. Er zieht alles, was von Gott an Sein und Beschaffenheit aussagbar wäre, und damit alle Dimensionen antiken Gotteserweisens an sich 80 • Darin rundet sich der Gedanke. Der Widersacher des Zweiten Thessalonicherbriefs überhöht sich nicht allein über alle Götter der Völker. Er usurpiert Sein und Beschaffenheit des einen Gottes und setzt dem die Krone auf, indem er seine Usurpation durch die Anschaulichkeit beweist, in der er als Gott im Tempel dem Wohnsitz Gottes - Platz nimmt. Sein Widerspruch zu Gott ist radikal und umfassend und seiner eigenen Ansicht nach unwiderstehlich bewiesen. Schon ein Kenner antiker Gottesbeweise wird an dieser Stelle zögern. Denn diese Beweise dürfen beim Aussehen allenfalls beginnen. Vollziehen müssen sie sich im Logos 81 , der Rationalität des Denkens 82 , weil die Gottheit, die den Kosmos zusammenstellt und zusammenhält, nicht nur im Denken Israels, sondern philosophisch grundsätzlich als unsichtbar gilt 83 • Für ein kritisches Auge überdeckt der 79 Vgl. die Bedeutung 16 des Verbs in Liddell-Scott-Jones, Lexicon (s. Anm. 69), 195 (dort als paradigmatischer Beleg Plato, Prot 323c). 80 Die Beschaffenheit der Götter ist um die Zeitenwende gelegentlich sogar der eigentliche Gegenstand des Gottesbeweises; vgl. "deos esse natura opinamur, qualesque sint, ratione cognoscimus" bei Cicero, Tusc I 36. 81 Die einzig relevante Aufnahme des Beweisdenkens in der Septuaginta, Weish 13,1-9, hebt den logischen, der Vernunft entsprechenden Aufblick hervor (vgl. aVO:Aoyw<;; in V 5); dazu mit unterschiedlichen Akzenten H. HÜBNER, Die Weisheit Salomons, ATD Apokryphen 4, Göttingen 1999, 167ff; H. ENGEL, Das Buch der Weisheit, Neuer Stuttgarter Kommentar Altes Testament 16, Stuttgart 1998,214-219. 82 Vgl. das "ratione cognoscimus" der o. in Anm. 80 zitierten Cicero-Stelle und die Rationalität der bedeutendsten Zusammenstellungen von Gottesbeweisen: Kleanthes SVF I 528 (nach Cicero, Nat Deor II 13-15; III 16) sowie Chrysipp, Fr. 1011 (nach Cicero, Nat Deor III 25 ). 83 Der überlieferte Text in Xenophon, Mem IV 3,13 führt das auf ein Gespräch mit Sokrates zurück. Das Gespräch macht zur Vorgabe allen Gotteserweises: " ... der (sc. Gott), der den ganzen Kosmos zusammenstellt und zusammenhält, in dem alles Schöne und Gute ist ... , der wird gesehen,
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Widersacher dieses Problem durch sein Selbst-Bild und gelangt seine Absicht dennoch nicht über eine Konterkarikatur hinaus. Er muß und wird versagen. Der Zweite Thessalonicherbrief stellt das Interesse am denkerischen Widerspruch hintan und zieht die Entmachtung des Widersachers durch den Herrn84 bei der Parusie vor (2,8). Das apokalyptische Szenario absorbiert die aufblitzende philosophische Möglichkeit. Insofern darf die Auslegung letztere nicht überbetonen. Indes wäre ebenso falsch, sie ganz zu ignorieren. Der apokalyptische Einbruch integriert, wie Apokalyptik so oft, einen weisheitlichen Impuls, in unserem Falle partiell und kritisch. ' 6 Schluß: Ertrag und Ausblick
Der Zweite Thessalonicherbrief setzt sein Szenario in 2,5-12 fort. Er verlangsamt das Ende durch die Einführung eines KIX't"EXWV ("Aufhaltenden") weiter (bes. V 7)85 und füllt das Bild seines Widersachers durch zusätzliche Züge (V 9-11). Doch braucht uns das hier nicht mehr zu beschäftigen. Die gemachten Beobachtungen genügen, um zu klären: Die Caligula-Erfahrung führte zu einem Schub apokalyptischer Entwicklung im frühen Christentum mit verschiedenen Strängen zur synoptischen Apokalypse (Mk 13':') und dem Zweiten Thessalonicherbrief. Dessen Autor beschäftigt dabei eine notwendige Verzögerung des Endes. Im Widerspruch gegen eine forcierte Nah- oder Gegenwartserwartung integriert er die Impulse der Caligula-Erinnerung mit Traditionen der Schriften Israels (bes. Ez 28,2-10 LXX und Dan 11,3M
wie er das Größte tut, aber er ist, obwohl und indem er das verwaltet, für uns unsichtbar" (Übers. vom Vf.). 84 Zahlreiche Handschriften klären: "durch den Herrn Jesus"; zur Textkritik vgl. Metzger, Commentary (s. Anm. 35), 568; zu den christologischen Pointen G. HOTZE, Die Christologie des 2. Thessalonicherbriefes, in: K. Scholtissek (Hg.), Christologie in der Paulus-Schule. Zur Rezeptionsgeschichte des paulinischen Evangeliums, SBS 181, Stuttgart 2000, 125-148. 85 In V 6 KlltEXOV ("Aufhaltendes"). - Der nach wie vor reizvolle Vorschlag A. STROBELs, die Probleme der Aussage als Umschreibung für eine gottbestimmte Verzögerung vor dem Hintergrund von Hab 2,2ff zu lösen (vgl. ders., Untersuchungen zum eschatologischen Verzögerungsproblem auf Grund der spät jüdisch-urchristlichen Geschichte von Habakuk 2,2ff., NT.S 2, Leiden 1961, 101110), genügt nicht allein. Die Diskussion dauert an; vgl. Giblin, Threat (s. Anm. 37), 167-242 und in jüngster Zeit u. a. M. BARNOUIN, Un 'Lieu Intermediaire' Mythique en 2 Thess 2.7, NTS 40, 1994, 471; P. S. DIXON, The Evil Restraint in 2 Thess 2:6, JETS 33, 1990, 445-449; Erlemann, Naherwartung (s. Anm. 10), 208ff; G. KRODEL, The "Religious Power of Lawlessness" (Katechon) as Precursor of the "Lawless One" (Anomos) 2 Thess 2:6-7, CThMi 17, 1990,440-446; L. J. LIETAERT PEERBOLTE, The KATEXON / KATEXQN of 2 Thess. 2:6-7, NT 39, 1997, 138-150; C. NrCHOLL, Michael, the Restrainer Removed (2 Thess. 2:6-7), JThS 51, 2000, 27-53; CH. E. POWELL, The Identity of the "Restrainer" in 2 Thessalonians 2:6-7, BS 154, 1997, 320-332. - Die im Mittelalter dominierende Deutung auf das Römische Reich (die Tertullian, res. 24 und Hippolyt, comm. Dan. IV 21 anbahnen) t'ntfernt sich vom Text.
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[LXX / 8]) und formt in 2,3f die eigentümliche Erwartung eines Widersachers Gottes, der sich über alles erhebt und als Gott selbst zu beweisen sucht 86 • Weisheitlich-philosophisches Denken, das er - wie Apokalyptik so oft - berührt, ordnet er der skeptischen Geschichtsbetrachtung unter. Wer ihn wegen des Endes von Vers 4 der Geschichte der Gottesbeweise zuordnet, findet deshalb dort die kritischst mögliche Position: Nicht Gott, sondern der Widersacher Gottes beweist sich augenfällig für die Welt. Gottes Heiligtum läßt sich nicht gege"n den Widersacher schützen und die menschliche Wahrnehmung gegen Gott mißbrauchen. Erst das Gericht Gottes wird das ändern (1,9f; 2,12). Gehört diese Skepsis noch in die 60er Jahre des ersten Jahrhunderts - wofür die Kontakte zur frühjüdischen Caligula-Erinnerung, die Orientierung am Tempel als Wohnsitz Gottes und die Verbindungen zur synoptischen Apokalypse sprechen -, bezeugt der Zweite Thessalonicherbrief den Einbruch des intensivierten Krisendenkens im Paulinismus kurz nach dem paulinischen Wirken. Eine Generation vor der Offenbarung des J ohannes entwirft er ein zentrales welt- und herrscherkritisches Zeugnis apokalyptischer Erwartung. Bereits das Unterfangen Caligulas, sich göttlich zu erhöhen, und nicht erst das späte Wirken Neros sowie der Jüdische Krieg lösten das Empfinden einer unausweichlichen Krise im frühen Christentum aus, das sich in einzelnen seiner Teile bis zum Ende des ersten J ahrhunderts steigerte. Der Zweite Thessalonicherbrief verdient wegen seines Ortes in der Geschichte der frühchristlichen Apokalyptik alle Aufmerksamkeit.
86 Ob es dazu schon vor ihm Anregungen gab, läßt sich nicht klären; vgl. o. Anm. 62 zur Frage, ob 2 Thess 2,3f.8f auf älteres geprägtes Überlieferungsgut zurückgreift.
Theo K. Heckel DIE TRADITIONSVERKNÜPFUNGEN DES ZWEITEN PETRUSBRIEFES UND DIE ANFÄNGE EINER NEUTEST AMENTLICHEN BIBLISCHEN THEOLOGIE
Der Zweite Petrusbrief setzt unterschiedlich geprägte theologische Konzeptionen bei seinen Leserinnen und Lesern voraus und verbindet diese. Diese Traditionsverknüpfung verdient, im Rahmen einer neutestamentlichen Biblischen Theologie beachtet zu werden. Die Schriftsammlung, die wir "Neues Testament" zu nennen gewohnt sind, ist eine Sammlung von Schriftensammlungen. Eine Sammlung von Schriften liegt vor, wenn Schriften miteinander gelesen werden sollen. Der ursprüngliche historische Kontext einzelner Schriften wird dabei verlassen. In einer Sammlung erhalten Schriften einen sekundären Kontext. Die Schriftensammlung "Neues Testament" vereinigt Jesusliteratur und Paulusbriefe; beide Teilsammlungen haben die Einzelschriften, die sie enthalten, bereits durch eine neue Kontextualisierung verändert. Waren die Paulusbriefe wenigstens zum Teil Gelegenheitsschreiben für eine konkrete Situation an bestimmte Adressaten, so werden dieselben Briefe im Kontext einer Paulusbriefsammlung anders gelesen, nämlich im sekundären Kontext christlicher Gemeinden ohne den ursprünglichen konkreten Bezug zwischen dem Apostel und bestimmten Gemeinden. Diese Ablösung des ursprünglichen historischen Kontextes zu einem sekundären, weitgehend literarischen Kontext setzt das Neue Testament als Schriftsammlung voraus. Auch die Evangelien werden anders verstanden, wenn sie nebeneinander rezipiert werden. Wenn die Evangeliensammlung und eine Sammlung von Paulusbriefen gegenseitig aufeinander bezogen werden, liegt ein wesentliches Fundament des Neuen Testaments vor. Wo läßt sich dieses Fundament historisch nachweisen? Durch diese Fragestellung komme ich zum Zweiten Petrusbrief. Ich will zeigen, welche Bedeutung dieses Schreiben für die Herausbildung des neutestamentlichen Kanons einnimmt. Die theologischen Einzelthemen des Briefes können gegenüber seiner kanons geschichtlichen Weichenstellung geradezu nachgeordnet werden 1. I
Zur Theologie des Briefes vgl. etwa: R. BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, hg. v.
o. Merk, Tübingen 91984,520; H. CONZELMANN, Grundriß der Theologie des Neuen Testaments,
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Theo K. Heckel
Unter den wenigen Neutestamentlern, die dies sehen, findet sich bei Gerd Theißen ein entsprechender Hinweis, dem der Heidelberger Exeget allerdings nicht weiter nachgeht2 • Das will ich nun tun. Die These lautet: Der Zweite Petrusbrief hat seine kanons geschichtliche Bedeutung als Vermittler zwischen unterschiedlichen Traditionsströmen des frühen Christentums. Zunächst werde ich in Abschnitt 1 den historischen Ort des Briefes abstecken und andere Petrusüberlieferungen benennen. Dann wende ich mich in Abschnitt 2 den Stellen zu, in denen der Zweite Petrusbrief auf andere christliche Schriften verweist. Im abschließenden dritten Teil bündle ich dann die Ergebnisse.
1 Der historische Ort des Zweiten Petrusbriefes und die Petrustradition Es bedarf keiner Diskussion, daß dieser Brief pseudonym geschrieben wurde, der reale Autor ist uns unbekannt, ich gebe ihm den Namen Pseudopetrus 3 • Der Zweite Petrusbrief dürfte in den ersten Jahrzehnten des zweiten Jahrhunderts verfaßt worden sein und gilt wohl zu Recht als jüngste neutestamentliche Schrift4 • Als Entstehungsort wird gerne Rom vermutet, doch diese wie andere Ortszuweisungen stützen sich auf allgemeine Erwägungen, nicht auf deutliche Fakten s. Der Zweite Petrusbrief läßt sein Briefschema mit Eröffnung (1,1-11), vierteiligern Briefkorpus mit Eröffnung (1,12-21), erstem und zweitem Hauptteil (2,1-22; hg. v. A. Lindemann, Tübingen 41987, 350f (neben Einzelbemerkungen); U. SCHNELLE, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 31999, 441f; R. FELDMEIER, in: K.-W. Niebuhr"(Hg.), Grundinformation Neues Testament, Göttingen 2000, 336f; etwas ausführlicher: F. W. HORN, in: G. Strecker, Theologie des Neuen Testaments, hg. v. F. W. Horn, Berlin 1996,683-689. 2 G. THEISSEN, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000, 366: "Da der Brief schon große Teile des gesamten neutestamentlichen Kanons voraussetzt, dürfte er in die Nähe der Kanonbildung gehören". M. E. zu kühn fährt er fort (36M): "Vielleicht wurde er als pseudonymer Brief erst im Zusammenhang mit der Kanonbildung geschrieben, als eine Art ,Editorial' der Herausgeber des Kanons, die sich hinter dem Namen des ersten Apostels versteckten." - Die Traditionsvermittlung hebt hervor: PH. PERKINS, Peter. Apostle for the whole Church, Columbia, 1994, 122-125; vgl. P. MÜLLER, Der 2. Petrusbrief, ThR 66, 2001, 310-337: 335. 3 Die wenigen anders lautenden Voten neuerer Zeit referiert und widerlegt z. B. Müller, Petrusbrief (s. Anm. 2), 329-331. 4 So etwa A. VÖGTLE, Der Judasbrief. Der zweite Brief des Petrus, EKK 22, Zürich 1994, 128f; H. PAULSEN, Der Zweite Petrusbrief und der Judasbrief, KEK 12/2, Göttingen 1992, 94 ("im ersten Viertel des zweiten Jahrhunderts"); Müller, Petrusbrief (s. Anm. 2), 333 ("das 1. Viertel des 2. Jh.s"); N. BROX, Art. Petrusbriefe, TRE 26, 1996,308-319: 314 (vgl. 316): "ca. 120-140". Spät datiert: R. METZNER, Die Rezeption des Matthäusevangeliums im 1. Petrusbrief. Studien zum traditionsgeschichtlichen und theologischen Einfluß des 1. Evangeliums auf den 1. Petrusbrief, WUNT 2/74, Tübingen 1995, 280: "Mitte des 2. Jhdts.". Gegen Spätdatierungen wendet sich z. B. R. J. BAUCKHAM, 2 Peter. An Account of Research, ANRW II, 25,5, 1988, 3713-3752: 3741f. Ohne weitere Begründung datieren K. BERGER / CHR. NORD (Hg.): Das Neue Testament und die Frühchristlichen Schriften, Frankfurt/M. 1999, 737 sehr früh ("um 75"). 5 So auch Müller, Petrusbrief (s. Anm. 2), 334.
Die Traditionsverknüpfungen des Zweiten Pet1"usbriefes
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3,1-13) und Korpus-Abschluß (3,14-16) und Briefschluß (3,17~ recht klar erken, nen 6 .Der Brief zeigt einen durchaus ausgearbeiteten, relativ hohen Stil und eine Vertrautheit mit weitgestreuter griechischer Literatur7• Die Petrusfiktion teilt der Brief mit dem ebenfalls pseudepigraphen Ersten Petrusbrief und anderen Schriften, die sich auf die Autorität des Petrus berufen, aber nicht in den Kanon des Neuen Testaments aufgenommen wurden, etwa dem Petrusevangelium 8 • Natürlich wollen alle Schriften, die sich als petrinisch ausgeben, etwas vom Glanz des großen Apostels für ihre Werke beanspruchen. Die herausragende Bedeutung des Simon Petrus, genannt Kefas, im Neuen Testament steht außer Frage. 165 mal fällt sein Name im Neuen Testament9 • Dort geben ihn zwei Briefe explizit als Verfasser an, die Apostelgeschichte überliefert acht Petrusreden lO • An Material für die Rückfrage nach dem historischen Petrus mangelt es also nicht. Doch bislang ist kein Konsens abzusehen, von welchem sicheren Grundbestand aus die Verkündigung des Petrus zu erschließen sei. Etwa Paulus verweist gelegentlich auf Petrus, besonders in Gal 2. Einige historische Daten und die Fol6 Die Gliederung folgt H.-J. KLAUCK, Die antike Briefliteratur und das Neue Testament. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, Paderborn 1998,307-310; Müller, Petrusbrief (s. Anm. 2), 317 will bereits 1,3-11 "eher schon zum Briefcorpus" rechnen. 7 Zum Stil jetzt umfassend: TH. J. KRAus, Sprache, Stil und historischer Ort des zweiten Petrusbriefes, WUNT 2/136, Tübingen 2001; knapp referiert ältere Arbeiten auch Müller, Petrusbrief (s. Anm. 2), 315. 8 Einen Überblick bieten: K. FROEHLICH, Petrus, Apostel II, TRE 26, 1996, 273-278; K. BERGER, Unfehlbare Offenbarung. Petrus in der gnostischen und apokalyptischen Offenbarungsliteratur, in: P.-G. Müller / W. Stenger (Hg.), Kontinuität und Einheit, FS Franz Mußner, Freiburg 1981,261-326: v. a. 261-265; Berger, Testament, 1227-1231. - Zu diesen frühen Schriften, die angeblich durch Petrus verfaßt wurden, zählen: - das Petrusevangelium (dazu: D. LÜHRMANN / E. SCHLARB [Hg.], Fragmente apokryph gewordener Evangelien in griechischer und lateinischer Sprache, MThSt 59, Marburg 2000, 72-95; Berger, Testament [so Anm. 4], 675-680 datiert auf "um 75 n. Chr." zeitgleich mit 2Petr [737]; fast alle anderen Fachleute setzen die beiden Schriften rund fünf Jahrzehnte später an; zum EvPetr vgl. auch TH. K. HECKEL, Vom Evangelium des Markus zum viergestaltigen Evangelium, WUNT 120, Tübingen 1999, 287-300); - das Kerygma Petri (dazu: W. SCHNEEMELCHER [Hg.], Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Bd. 2, Tübingen 51989, 34-41 [Lit.]; grundlegend: H. PAULSEN, Das Kerygma Petri und die urchristliche Apologetik [1977], in: ders., Zur Literatur und Geschichte des frühen Christentums, hg. v. U. E. Eisen, WUNT 99, Tübingen 1997, 173-209); - die Petrusapokalypse bzw. die Petrusapokalypsen (dazu: Berger, Testament [so Anm. 4], 1163-1189 bietet unter der Überschrift "Die Apokalypse Petri" die griechische Petrus-Apokalypse [1163-1168] und unter der Überschrift "Die koptische Petrus-Apokalypse" [1168-1181] den Text von ApcPt, NHC 7/3 [po 70,13-84,14], die etwa J. BRASHLER, in: J. Robinson [Hg.], The Nag Hammadi Library in English, Leiden 31988, 373 in das 3. Jh. datiert; ähnlich A. WERNER, Koptisch-gnostische Apokalypse des Petrus, in: Schneemelcher, Apokryphen Bd. 2, 634-643: 634 auf "Ende des 2. / Anfang des 3. JahrhundertS"). 9 Nach Ausweis der Konkordanzen: 156 mal Petrus (vgl. auch: W. BAUER, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, 6. Aufl., hg. v. K. u. B. ALAND, Berlin 1988, 1319D, 9 mal Kefas. 10 Apg 1,16-22; 2,14b-36.38f; 3,12b-26; 4,8b-12.19b-20; 5,29b-32; 10,34-43; 11,5-17; 15,7b-11.
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gen der petrinischen theologischen Position lassen sich daraus noch erschließen, die Verkündigung des Petrus selbst deckt uns Paulus aber nicht auf'l. Von welchem Grundstock her soll die Verkündigung des Petrus erschlossen werden? Sprach Petrus so, wie ihn Mk sprechen läße 2 ? Hat vielleicht das Matthäusevangelium Petrusüberlieferungen für uns bewahrt 13 ? Wußte Lk etwas über die Art des Petrus, Reden zu halten? Ist hinter dem Ersten Petrusbrief noch die Verkündigung des historischen Petrus erahnbar? Gibt es irgendwelche zuverlässigen petrinischen Wort- und Themenfelder, die uns in unterschiedlichen Schriften entgegen treten, die sich auf diesen Apostel berufen? Jede der genannten Ausgangsbasen wäre möglich, keine wäre mit überzeugenden Argumenten der anderen vorzuziehen. Daher ist es insgesamt vielleicht sogar noch schwieriger, nach der Verkündigung des Petrus zurück zu fragen als nach der Verkündigung Jesu. Für Jesus läßt sich ein im wesentlichen einheitlicher modus loquendi aus dem Markusevangelium, der erschlossenen Logienquelle und wohl auch einiger lukanischerSondergutperikopen herauslesen und etwa gegen die Sprechweise J esu im J ohannesevangelium abhebe~, so daß hier wenigstens die Ausgangsbasis für eine weitere Rekonstruktion der Lehre J esu weithin anerkannt ist. Für den historischen Petrus ist nicht einmal die Ausgangsbasis klar. Es erscheint mir daher weiterführender, die historische Rückfrage zurückzustellen und stai:tdessen die literarische Funktion zu betrachten, die Petrus jeweils in den Quellenschriften einnimmt. Die Petrusquellen insgesamt lassen sich daraufhin befragen, welche literarische Funktion die Person des Petrus in ihnen einnimmt. Die Darstellung steht dann unter der Überschrift: "Petrus" im Markus-, im Lukas-, im Matthäusevangelium und so weiter. Diese Fragestellung ist im Zuge der redaktions geschichtlichen Forschung vielfach vorgenommen worden 14 • In einer zweiten' Stufe dieser Fragestellung läßt sich dann die literarische Funktion des Petrus in literarisch voneinander abhängigen Schriften untersuchen. DaVgl. O. BÖCHER, Art. Petrus, Apostel I, TRE 26, 1996,263-273: 263f. Zu den Verfechtern der Petrus-Mk-Tradition, wie sie erstmals beim Presbyter des Papias berichtet wird, gehört in neuerer Zeit v. a. Martin Hengel (zuletzt:M. HENGEL, The Four Gospels and the One Gospel of Jesus Christ. An Investigation of the Collection and Origin of the Canonical Gospels, Harrisburg 2000, 65-68; zu seiner Petrus-Mk-Tradition vgl. meine Rezension: ThLZ 126, 2001,925-929: 926Q. 13 Für den Ausgangspunkt bei Mt plädiert L. WEHR, Petrus und Paulus - Kontrahenten und Partner. Die beiden Apostel im Spiegel des Neuen Testaments, der Apostolischen Väter und früher Zeugnisse ihrer Verehrung, NTF NF 30, Münster 1996, z. B. 289: "Es wird also hier die These vertreten, daß sich im Mt am ehesten im NT Petrusüberlieferung greifen läßt und daß sich über das Mt am leichtesten der theologische Standpunkt des Petrus erhellen läßt." 14 Vgl. Böcher, Petrus (s. Anm. 11), 263-267; C. BÖTTRICH, Petrus. Fischer, Fels und Funktionär, Biblische Gestalten 2, Leipzig 2001,235-243. 11
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bei tritt hervor, wie stark das jeweilige Petrusbild von den unterschiedlichen Verfassern umgeformt wird. Solche Umformungen lassen auf wenig gesicherte und außertextlich anerkannte Petrusbilder schließen ls • Einen Sonderfall des literarischen Umgangs mit Petrus stellt schließlich der Zweite Petrusbrief dar. Es geht dabei nicht um die Frage, welche Quellen Pseudopetrus in sein Werk einarbeitete - zweifellos gehörte der Judasbrief dazu l6 - , es geht vielmehr darum, wie er mit der Petrusfiktion gegenüber seinen Leserinnen und Lesern arbeitet. 2 Verweise auf andere christliche Schriften im Zweiten Petrusbrief
Der Zweite Petrusbrief verweist zum Teil explizit auf andere christliche Schriften und setzt so deren Kenntnis auch bei seinen Leserinnen und Lesern voraus. Diese Stellen werde ich im folgenden genauer anschauen. Ich beginne mit den ausdrücklichen Verweisen und komme erst dann zu den schwerer einzuschätzenden Anspielungen auf andere Texte: Dieser Gang vom Sicheren zum Unsichereren führt dazu, daß ich vom Ende des Briefes ausgehe und mich in vier Stationen nach vorne durcharbeite. Pseudopetrus nennt ausdrücklich Briefe des Paulus (3,15D, er verweist (3,1D auf seinen ersten Brief; ferner unterstreicht Pseudopetrus seine Sonderrolle als Vertrauter J esu mit Anspielungen auf J esusüberlieferung, die für die Leserinnen und Leser nachvollziehbar sein sollen (1,16--18). Schließlich unterstreicht er die Autorität seines Briefes gegenüber anderen Äußerungen, indem er andeutet, daß es sich um sein letztes Lebenszeichen handelt (1,12-15). An fast allen diesen Verweis-Stellen verwendet Pseudopetrus den Wortstamm "erinnern", "sich erinnern" {f.,tVTj_),17 und nur hier verwendet er diesen Wortstamm: Es geht ihm darum, Erinnerung zu stiften durch einen Vertrauten Jesu l8 • 2.1 Der explizite Rückverweis auf mehrere Paulusbriefe (3,14-16)
(14) ßLO, ayu1TTj!Ol., !UU!U 1TPOOÖOKWV!Ee; o1TOUÖaOU!E äomAoL Kut aIlWIlTj!OL UU!Q EUPE8f]vuL EV EtP~V1J (15) KUt !~V !OU KUPI.OU ~IlWV IlUKpo8uIll.UV OW!TjPI.UV ~yE108E, Ku8we; Kut 6 ayu1TTj!Oe; ~IlWV aöd<poe; ITuuAoe; KU!a !~V öo8E1ouv UU!<.\) OO
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pI. TOlrrwv, EV ale; Eonv ÖuovOT]Ta nva, & 01. eXllaSE1e; KaI. eXOT~PLKTOL OTPEßAWOOUOW we; KaI. Tr.te; AOLlTr.te; ypacpr.te; lTpOe; T~V töLav aUTWv eXlTWAELlXV. (14) Daher, Geliebte, seid bestrebt, weil ihr diese Dinge erwartet, daß ihr fleckenlos und tadellos 19 vor ihm vorgefunden werdet in Frieden. (15) Und die Langmut unseres Herrn achtet als Rettung, wie (es) auch der von uns geliebte Bruder Paulus entsprechend der ihI!l zuteil gewordenen Weisheit für euch aufschrieb; (16) wie auch in allen Briefen, wenn er in diesen darüber spricht, in welchen einige (Dinge) schwer verständlich sind, welche die Unverständigen und U ngestärkten verdrehen werden 20 wie auch die übrigen Schriften zu ihrem eigenen Verderben.
Pseudopetrus bezieht sich auf eine Zusammenstellung zumindest mehrere Briefe des Paulus. Das heißt: Die Paulusbriefe sind ihrer ursprünglichen dialogischen Situation zwischen Paulus und einer bestimmten Gemeinde bereits entnommen. Die Mitverfasser sind stillschweigend übergangen, so wie auch der Epheserbrief und die Pastoralbriefe von Paulus als allein schreibendem Verfasser ausgehen. Die Paulusbriefe sind nach Pseudopetrus Quelle der Vergegenwärtigung des Paulus, durch s'ie spricht Paulus zu den Adressatinnen und Adressaten des Zweiten Petrusbriefes. Er schrieb "für euch", behauptet Pseudopetrus. Da der Vers zwischen den Briefen, also einer Briefsammlung und dem "an euch" gerichteten Schreiben unterscheidet, ist hier meines Erachtens tatsächlich behauptet, der Zweite Petrusbrief richte sich an eine Gemeinde, an die auch ein Brief des Paulus gerichtet ist21 • Schwerlich soll Paulus "für euch" geschrieben haben, wie es ähnlich von Mose im Neuen Testament öfter heißt, er hätte "für uns geschrieben"22, Welche Briefstellen Pseudopetrus genau im Kopf hatte, wenn er davon spricht, daß Paulus in allen Briefen so spreche, bereitet den Auslegern seit jeher Kopfzerbrechen. Gerne verweist man auf einzelne Stellen aus dem Römerbrief 3 , Vielleicht ist aber die Frage nach bestimmten Bibelstellen zu eng gestellt. Pseudopetrus tritt nicht in die Schriftexegese einzelner Äußerungen des Paulus ein, sondern verweist auf eine angeblich klare Gesamttendenz der paulinischen Schreiben. Die Bemerkung über Paulus impliziert einige Autorität, die einem "Petrus" zusteht, der hier über eine Generallinie der Paulusbriefsammlung befindet.
19 Die Vokabel äam'\'o<; findet sich viermal im NT, in der LXX nur als vI. des Symmachus zu Hi 15,15; zu eXjlWjlTjTO<;: 2 Petr 3,14 verwendet die Vokabel übertragen auf den Zustand der einzelnen Gemeindeglieder beim Endgericht; sie begegnet innerhalb der griechischen Texttradition zum Alten Testament nur als vI. des Symmachus und des Theodotion zu Ps 25 (MT 26), 1.11; die Vokabel ajlwjlo<;, eine Nebenform zu ajlwjlTjt'o<;, benützt LXX, auch 1 Petr 1,19 neben &am'\'o<;, für ein kultisch einwandfreies Opferlamm, für das J esus steht. 20 Mit der EDITIO eRITleA MAIOR z. St. ist hier wohl Futur zu lesen, nicht Präsens (so NESTLEALAND 27. Aufl.; vgI. u. Anm. 28). 21 Falsch ist m. E. die Behauptung Müllers, Petrusbrief (s. Anm. 2), 321, nach 2 Petr habe Paulus "Briefe" (PI.) an ",euch' geschrieben", also an die Adressatengemeinde. 22 So etwa Mk 10,5; 12,19; Lk 20,28; Joh 1,45. 23 Röm 2,4; 3,25; 9,22f; 11,22f.
Die Traditionsverknüpfungen des Zweiten Petrusbriefes
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Die Bemerkung des vermeintlichen Petrus ist schwerlich abschätzig gedacht. Pseudopetrus will seinen berp.hmten "Kollegen" nicht herabsetzen 2\ im Gegenteil. Ausdrücklich nennt er ihn "unseren Bruder". Der Plural "unser" umschließt hier wohl nicht Adressaten und Absender, vielmehr dürfte die Anrede versuchen, die besondere Bedeutung des Paulus zu unterstreichen, weil im Sinne der Autorenfiktion hier sogar Petrus ihn einen Bruder nennt. So treten hier Petrus und Paulus, genauer die Briefe der beiden, als "Pole der Einheit" aufS. Die für uns nicht mehr gen au feststellbaren Sammlungen sind den Adressaten des Zweiten Petrusbriefes und den bekämpften Irrlehrern bekannt. Die Irrlehrer haben nicht falsche Briefe, sondern - nach Pseudopetrus - eine falsche Hermeneutik. Wie 2 Petr 2,20-22 hinreichend deutlich zeigt, sind die jetzt bekämpften Gegner aus der christlichen Gemeinde hervorgegangen26 • Die Gegner quälen die Briefe - "verdrehen" ist in der Septuaginta noch nicht übertragen verwendet, sondern beschreibt die Folter des Rückgratverdrehens 27 • Die Gegner verdrehen nicht nur die Paulusbriefe, sondern auch andere Schriften. Diese "anderen Schriften" könnten alt- wie neutestamentliche sein 28 • Es geht aber auch hierbei nicht um ganz fremde Schriften, weil der Zweite Petrusbrief die Bezeichnung ypacpaL ohne Einschränkung verwendet und die Näherbestimmung "die übrigen" auf eine zwischen Adressaten und Gegnern gemeinsamen Umfang der Texte schließen läßt. Der Umfang der Schriften, aus denen heraus zu argumentieren ist, steht offenbar nicht zur Debatte. Die Gegner werden bei schwer verständlichen Stellen in eine falsche Auslegung verfallen, weil sie alla8E1c; sind, Menschen, die nicht genügend ausgebildet wurden. Dies ist zwar sicher Polemik, zeigt aber etwas von der Schriftkultur, die det:>Zweite Petrusbrief voraussetzt. Die zweite Beschreibung als "ungestärkte Menschen" nimmt ein Stichwort aus dem Kontext auf: Pseudopetrus mahnt wiederholt, fest zu werden im Gnadenstand (1,12; 2,14, 3,17). Die beiden Bestimmungen treffen im Verbund die Gegner, im Griechischen steht nur ein Artikel vor den beiden substantivierten Adjektiven.
24 Dies vermutet allerdings Theißen, Religion (s. Anm. 2), 366; ähnliche Thesen in älterer Lit. belegt Paulsen, Kanon (s. Anm. 18), 158 Anm. 34. 25 So die Formulierung Mußners nach Vägtle, Judasbrief (s. Anm. 4),263 Anm. 13. 26 Wehr, Petrus (s. Anm. 13), 341f. 27 OtPEß)..OW: 2 Sam 22,27, leicht abgewandelt in der Parallele Ps 17(18),27; 4 Makk 9,17; 12,3.11; mit Vorsilbe ,,!lno": 2 Makk 9,7; das Folterinstrument OLPEß)..~ nennt: 4 Makk 7,4.14; 8,11.24. 28 Das nach ECM (vgl. Anm. 20) zu lesende Futur des Verbs "Verdrehen" erleichtert, die "anderen Schriften" auf neutestamentliche Schriften zu beziehen, die aus der Sicht des fiktiven Petrus erst zukünftig falsch interpretiert werden. Mit dem Text von Nestle-Aland 27. Aufl. erwog neutestamentliche Texte auch schon Vägtle, Judasbrief (s. Anm. 4),264.
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2.2 Der explizite Rückverweis auf den Ersten Petrusbrief (3, lf)
(1) Talrcrw ~Öll, &yalTll-eOL, öEU"CEpav Ulllv ypacfJw E1TlO"COA~V, EV ale; ÖLEydpw ullWV EV UlTOIlV~OEL -e~v ELÄ LKp LVf) ÖLaVO Lav (2) Ilvllo8f)va L -eWV lTPOELPllllEVWV Plllla-ewv UlTO -eWV aYLwv lTpocfJll-eWV KaI. -ef)e; -eWV &lToo-eDÄWV UIlWV Ev-eoÄf)e; -eou KUPLOU KaI. ow-ef)poe; (1) Diesen Brief, Geliebte, schreibe ich euch schon als zweiten, durch welche ich euch den reinen Verstand wach zu halten versuche mittels Erinnerung, (2) um euch zu erinnern an die vorher von den heiligen Propheten mitgeteilten Worte und an das Gebot eurer Apostel vom Herrn und Retter.
Pseudopetrus knüpft zwar per expliziter Nennung an den Ersten Petrusbrief an 29 , aber inhaltlich liegt ihm wenig an diesem Brief. ,Die Argumentation dieses Briefes macht er sich nirgends im Brief zu eigen, die Stichwortanknüpfungen bleiben vage und äußerlich. Schwerlich steht der Verfasser des Zweiten Petrusbriefes gegenüber dem Verfasser des Ersten Petrusbriefes in einem Schülerverhältnis. Auch der literarische Ort des Rückverweises auf den Ersten Petrusbrief läßt wenig inhaltliches Interesse erwarten. Pseudopetrus hat in Kapitel 2 seine Gegner abgeurteilt und nennt nun noch den Vorgängerbrief. Trotzdem verweist Pseudopetrus durchaus zustimmend auf den ersten Brief. Er schließt sogar sein Ziel mit dem des Ersten Petrusbriefes zusammen. Beide Briefe versuchen, die Gemeinde wach zu halten, um Erinnerung zu stiften an bestimmte Überlieferungen. Diese Überlieferungen benennt Pseudopetrus mit charakteristischen Veränderungen aus seiner Vorlage, nämlich J ud 1730 • Diese Veränderungen " an der Vorlage dürfte Pseudopetrus bewußt gestaltet haben. Die Erinnerung gilt den jeweils mit bestimmten Artikeln versehenen Worten und dem Gebot. Die Worte sind wie in Jud 17 mit einem Partizip Perfekt Passiv als "vorhergesagt" näher bestimmt. Als Subjekt dieses Passivpartizips nennt Pseudopetrus "die heiligen Propheten", statt der in J ud 17 an dieser Stelle genannten Apostel. Es dürften damit die schriftlich vorliegenden Propheten der Schrift, unseres Alten Testaments, gemeint sein. Apostel nennt Pseudopetrus zwar auch, aber er stellt sie zu dem Gebot, dem zweiten Gegenstand der Erinnerung. Dieser zweite Gegenstand der Erinnerung findet sich nicht in Jud 17. Pseudopetrus führte dieses Gebot bereits ein in 2 Petr
29 Den seit Hugo Grotius nicht aufhörenden Erwägungen, 3,1 beziehe sich auf ein anderes Schreiben als 1 Petr, treten z. B. Vögtle, Judasbrief (s. Anm. 4), 211f; Paulsen, Petrusbrief (s. Anm. 4), 150 überzeugend entgegen. JO Die beiden Texte lauten: 2 Petr 3,2: I!vTJo8fwal tWV lTpOnpTJI!EvWV PTJl!lhwv {mo twv aYLwv lTpo<j>TJtwv KaL tf]c; twv UlTOOtOAWV UI!WV EVtOAf]C; toU KUPLOU KaL OWtf]poc;; Jud 17: 'YIlElC; oE,
uyalTTJtoL, I!V~08TJtE twv PTJl!lltWV tWV lTpOnpTJI!EvWV UlTO twv UlTOOtOAWV tOU KUPLOU ~IlWV 'ITJoOU XPWtou.
Die Traditionsverknüpfungen des Zweiten Petrusbriefes
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2,21. An dieser Stelle werden einige getadelt, sich "von dem heiligen für sie überlieferten Gebot" abgewandt zu haben31 • Pseudopetrus ordnet zu diesem Gebot zwei Genitive, vorangestellt" von euren Aposteln", nachgestellt" von dem Herrn und Retter". Überträgt man das von dem "Erinnern" abhängige Objekt in den Nominativ, heißt es wörtlich: "das Gebot eurer Apostel des Herrn und Retters". Gemeint ist wohl, daß ein Gebot ursprünglich vom irdischen Jesus, dem Retter, über bestimmte Apostel zu den Adressaten gelangt. Daß am Anfang der Kette der irdische J esus, nicht der auferstandene Christus zu setzen ist, ergibt sich aus der Logik der Kette, die auf die auf persönliche Vertrautheit mit den vorangehenden Zeugen abzielt. Bestimmte Apostel könnte die Formulierung "eure Apostel" implizieren, etwa im Gedanken an bestimmte Regionen, die durch verschiedene Apostel abgedeckt wurden - ein Gedanke, der etwa bei Justin und Irenäus greifbar wird32 • Vielleicht will Pseudopetrus auch nur festhalten, daß die Apostel unter anderem auch für die Briefadressaten zuständig seien. Jedenfalls zeigt die Reihe ein Interesse an historischen Überlieferungsketten, welche die Authentizität überprüfen lassen. Der dahinterstehende Gedanke dürfte sein, daß nur Gebote, die über persönliche Vertraute des Herrn zur Gemeinde gelangen, Vertrauen verdienen - ein Gedanke, der sich mit demselben Stichwort EvtOA.~ auch bei Papias findee 3 • Pseudopetrus verändert die Herkunftsangabe über die wesentlichen Erinnerungsgegenstände gegenüber Jud 17 so, daß die ihm wichtige EV'mA.~ in eine Überlieferungskette vom irdischen Jesus über bestimmte Apostel bis zur Gemeinde einbezogen werden kann. Pseudopetrus bezieht sich in 3,1 derart auf den Ersten Petrusbrief, daß auch seine Leserinnen und Leser diesen Ersten Petrusbrief kennen sollen. Bereits der Erste Petrusbrief setzt sowohl paulinische wie synoptische Traditionssplitter voraus. Waren die Paulinismen beim Ersten Petrusbrief noch so marginal, daß in der neueren exegetischen Diskussion sogar der paulinische Hintergrund bestritten werden konnte 3\ bezieht sich 2 Petr 3,15f explizit und unbestreitbar auf Briefe des Apostels.
31 Zum Begriff des Gebots für grundlegende christliche Überlieferungen vgl. 1 Tim 6,14; Ignatios, TraU 13,2; im Plural: Ignatios, Philad 1,2; Papias bei Euseb, h. e. 3, 39,4. - 2 Petr bezeichnet die Gegner als "diese" (o{r1:OL; 2,12.17.20). 32 Justin, 1apol 45,5; Irenäus nach Euseb, h. e. 5, 20,4; zur Aussendung der Apostel vgl. z. B. Euseb, h. e. 2, 1,8. 33 Papias, Fragment 5,3 (= Euseb, h. e. 3,39,3); dort freilich ohne das Stichwort "Apostel". 34 Vgl. TH. K. HECKEL, Juden und Heiden im Epheserbrief, in: M. Karrer u. a. (Hg.), Kirche und Volk Gottes, FSJürgen RoloH, Neukirchen-Vluyn 2000,176-194: 178 Anm. 8 (Lit.).
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2.3 Der implizite Rückverweis auf die synoptische Tradition (1,16-18)
(16) Ou yap OEOOCPtaIlEVOL<; IlUSOL<; E~aKoAouS~mxV'rE<; EyvwpLmxllEv UIlLV -c~v -cou KUPLOU ~llwV TllGoU Xpta-coU öuvallLV Kat 1TapoUOLav aAA' E1T01T-caL YEVllSEV-CE<; -cfl<; EKELVOU IlEYaAELO-cll'CO<;. (17) Aaß~)V yap 1Tapa SEGU 1Ta-cpo<; nll~v Kat Öo~al' cpwvflc; EVEXSELOll<; au-cQ 'COUiOÖE U1TO -cflc; IlEyaAo1TpE1TOU<; ÖO~ll<;' 0 ui.O<; lloU 0 aya1Tll-co<; lloU oiJ-co<; Eonv ELc; ÖV EYW EuöoKlloa, (18) Kat -cau-cllV -c~V CPWV~V ~1lE1<; ~KouoallEV E~ oupavou EVExSE10av OUV au-cQ ÖV-CE<; EV -cQ ay L4l ÖPE L. (16) Denn nicht weil wir ausgeklügelten Dichtungen nachfolgten, ließen wir euch die Macht und Ankunfe s unseres Herrn Jesus Christus erkennen, sondern weil wir Vertraute jener Großartigkeit geworden sind. (17) Denn als er von Gott, vom Vater, Ehre und Herrlichkeit empfing, als eine derartige Kunde zu ihm getragen worden war von der großartigen Herrlichkeit: "Mein geliebter Sohn, dieser ist es, an dem ich Wohlgefallen hatte", (18) und eben diese Kunde haben wir gehört, als sie aus dem Himmel getragen wurde, während wir mit ihm auf dem heiligen Berg waren.
Der Zweite Petrusbrief spielt auf die Verklärungsgeschichte an, wie wir sie aus Mk 9,2-10 und den synoptischen Parallelen kennen. Besonders groß ist die Nähe hier zum Matthäusevangelium. Unter anderem darauf stützt sich Peter Dschulnigg, wenn er den Zweiten Petrusbrief in die Wirkungs geschichte des ersten Evangeliums einordnee 6• Die Himmelsstimme bei der Verklärung endet 2 Petr 1,17 wie in Mt 17,5 mit den Worten: "an dem ich Wohlgefallen hatte". Nur das Matthäusevangelium hat diesen Nachsatz aus der Taufperikope (Mk 1,11; Mt 3,17; Lk 3,22) im Zusammenhang der Verklärungsszene wiederholt. Aber auch hier stimmt Pseudopetrus nicht genau wörtlich überein: 2Petr 1,17: 0 Ui,oc; IlOU 0 aya1Tll-co<; lloU oiJ-co<; Eon v Etc; ÖV EYW EuöoKlloa Mt 17,5: oiJ-co<; Eonv 0 ui,o<; lloU 0 aya1Tll-coC;, EV 4> EuöoKlloa Mk 9,4: oiJ-co<; Eonv 0 ui,o<; IlOU 0 aya1Tll-co<; Lk 9,35: ou-co<; Eonv 0 ui,o<; IlOU 0 EKAEAEYIlEVOC; Robert J. Miller hat plausibel machen können, daß auch die genannten Abänderungen, nämlich das zweimalige IlOU und die bei dem Verb EUöOKEW durchaus seltene Präposition ELc; ÖV sich am besten durch literarische Abhängigkeit des Zweiten Petrusbriefes vom Matthäusevangelium erklären. Pseudopetrus verbindet in seiner Version die thematisch ähnlichen Aussagen von Mt 12,18 mit Mt 17,5 37: Den Einspruch Paulsens, Petrusbrief (s. Anm. 4), 118 gegen die Eingrenzung des Wortes an dieser Stelle auf die Wiederkunft Christi soll die für irdische "Ankunft" und für die "Wiederkunft" am Ende der Tage offene Übersetzung mit "Ankunft" bewahren. 36 P. DSCHULNIGG, Der theologische Ort des Zweiten Petrusbriefes, BZ NF 33, 1989, 161-177: 170; ähnlich Metzner, Rezeption (s. Anm. 4), 279-282; Theißen, Religion (s. Anm. 2), 366; Kraus, Stil (s. Anm. 7), 376-379; vgl. Wehr, Petrus (s. Anm. 13), 350-354, der allerdings eine literarische Kenntnis des Mt-Ev für 2 Petr ausschließen will. 37 R. J. MILLER, Is There Independent Attestation for the Transfiguration in 2 Peter, NTS 42, 1996,620-625: 624f. - Mt verwendet hier Jes 42,1 in einer sonst nicht belegten Textform, die 2 Petr 35
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Mt 12,18a: töau 0 mx'ic; Ilau ÖV UPETLOa, 0 ayaTTlrrOC; Ilau dc; ÖV EUÖOKTjOEV ~ llJUx~ Ilau Auch mit lukanischem Zusatzgut der Verklärungsgeschichte finden sich im Zweiten Petrusbrief Ähnlichkeiten. Lukas hebt ohne synoptische Parallele die Sprecherrolle des Petrus hervor: "Petrus und die mit ihm waren", heißt es Lk 9,32. Nicht nur die Hervorhebung des Petrus, auch die Formulierung für die anderen bei den findet sich sehr ähnlich in 2 Petr 1,18. Zudem verbindet nur Lk 9,31 unter den Synoptikern das Stichwort öo~a mit der Perikope 38 : "Petrus und die mit ihm waren in tiefem Schlaf, als sie aber erwachten, sahen sie seine Herrlichkeit..." In 2 Petr 1,17f heißt es: "Denn als er von Gott, vom Vater, Ehre und Herrlichkeit empfing, als eine derartige Kunde zu ihm getragen worden war von der großartigen Herrlichkeit: ,Mein geliebter Sohn, dieser ist es, an dem ich Wohlgefallen hatte', und eben diese Kunde haben wir gehört, als sie aus dem Himmel getragen wurde, während wir mit ihm an dem heiligen Berg waren." Üblicherweise fragen die Exegeten nach dem literarischen Verhältnis des Verfassers des Zweiten Petrusbriefes zu den uns bekannten Evangelien39 • Sofern man sich nur in den Autor des Zweiten Petrusbriefes hineindenkt und für ihn Abhängigkeiten nachweisen will, bleiben die Ähnlichkeiten letztlich nicht beweiskräftig für eine literarische Abhängigkeit des Zweiten Petrusbriefes von Mt oder Lk. Bezieht man jedoch die bei den Leserinnen und Lesern vorausgesetzten Kenntnisse in die Überlegung mit ein, gewinnt die Annahme an Plausibilität, daß Pseudopetrus sich auf bestimmte erzählende Jesusliteratur bezieht. Die Leserinnen und Leser des Zweiten Petrusbriefes sollen nämlich die Andeutungen über die Verklärungsgeschichte zuordnen können, also eine entsprechende Erzählung kennen, wie wir sie jetzt in Mk 9,2-10 und den synoptischen Parallelen (Mt 17,1-9; Lk 9,28-36) finden. Die Geschichte ist für die Adressatinnen und Adressaten so vertraut, daß Pseudopetrus den Berg als "heiligen Berg" vorstellen kann (2 Petr 1,18), eine Bezeichnung, die sonst dem Zion vorbehalten war, an den der Verfasser hier wohl schwerlich denkt 40 • Die Leserinnen und Leser sollen den Berg kennen; sie sollen diese Zuordnung nachvollziehen, denn so gelingt es dem Pseudopetrus, seine besondere Autorität mit der Andeutung herauszustellen. Die mit keinem unserer Evangelien genau übereinstimmende Formulierung dürfte weniger durch vage mündliche Kenntnisse des Pseudopetrus zu erklären sein, auch wenn dies nicht auszuschließen ist. Vielmehr dürfte Pseudopetrus versuchen, das Ereignis, welches ihm und seinen Leserinnen und Lesern in mehreren übernimmt; schwerlich greift Pseudopetrus unabhängig von Mt auf diese Sonderüberlieferung des J es-Textes zurück. 38 Theißen, Religion (s. Anm. 2), 366. 39 So etwa Metzner, Rezeption (s. Anm. 4),279-282. 40 Vgl. Vägtle, Judasbrief (s. Anm. 4), 169.
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Versionen vorliegt, in einer Zusammenschau der unterschiedlichen Formulierungen wiederzugeben. Für die Kenntnis schriftlicher Berichte sprechen die expliziten Ausführungen über schriftliche Werke, die dem Autor und dessen Leserinnen und Lesern vorliegen. Daß speziell unsere Evangelien die Grundlage bildeten, läßt sich nicht bewei.. sen oder widerlegen. Auch die weiteren Anspielungen des Pseudopetrus auf Stellen, die wir aus unseren Evangelien kennen, sind nicht über Zweifel erhaben41 • Pseudopetrus bezieht sich in 1,16-18 nur implizit auf andere christliche Schriften. Vielleicht erschwerte ihm die eigene Petrusfiktion, die Evangelienliteratur genauer zu nennen. Daß Pseudopetrus tatsächlich die auch uns noch vorliegenden Jesusüberlieferungen benützt und bei seinen Leserinnen und Lesern voraussetzt, dürfte schließlich der Bezug auf Joh 21, 18f in 2 Petr 1,14 nahelegen. 2.4 Petrus als ein Vertrauter des irdischen Jesus (1,12-15) Zum Eingang des Briefkorpus, unmittelbar nach dem Proömium, unterstreicht der Briefschreiber seine eigene Sonderrolle (2 Petr 1,12-15). (12) Lho IlEAA~OW UIl&<; UlTOlllllVTIOKELV lTEpt tOUtWV KO:I. lTEp döoto:<; Ko:t EOtT}Pl YIlEVOU<; EV t'iJ lTO:POUOlJ aAT}SELq.. (13) öLKO:Lov öE ~YOUIlO:L, E<j>' ÖOOV ELIlL EV tOUttp t4> OKT}Vwllo:n, ÖLEYEI.PELV UIl&<; EV UlTOIlV~OEL, (14) ELÖW<; ön to:XLV~ Eonv ~ alTOSEoL<; tOU OKT}VWllo:to<; IlOU KO:SW<; Ko:t 0 KUPLO<; ~IlWV 'IT}oou<; XPLOtO<; EÖ~AWOEV IlOL, (15) olTouöaow öE Ko:t EXaOtOtE EXELV ull&<; IlEtcX t~V EIl~v E~OÖOV t~V tOlJtWV IlV~IlT}V lTOLEl.OSO:L.
(12) Daher will ich euch erinnern an diese (Dinge), auch wenn ihr (sie) kennt und in der anwesenden Wahrheit gestärkt seid. (13) Ich halte es für gerecht, solange ich in dieser Behausung bin, euch wach zu halten in der Erinnerung, (14) weil ich weiß, daß die Wegnahme meiner Behausung bald geschieht, wie es auch unser Herr Jesus Christus mir verdeutlichte; (15) ich will mich aber auch anstrengen, daß ihr, nach diesem meinem Ausgang, etwas habt zu jeder Zeit, um Erinnerung zu betreiben.
Das Futur in Vers 12 blickt auf den folgenden Brief voraus 42 • Die Verse 12-15 beschreiben die Bedeutung des Briefes als Grundlage für das "Erinnerung betreiben" nach dem Tod des Petrus. Pseudopetrus spricht etwas umständlich über seinen bevorstehenden Tod. Er kündet für die nächste Zeit an, er werde "die Behausung verlassen", und benützt so das Bild vom Leib als Behausung, wie es sich auch in 2 Kor 5, aber nicht nur dort findet 43 • So gibt er seinen Leserinnen und Lesern schon zum Briefkorpusbeginn zu verstehen, wie drängend seine Mitteilungen sind. Der nahe bevorstehende 41 Etwa: 2 Petr 2,20 zu Q 11,26 (Lk 11,26 par Mt 12,45); dazu: Miller, Attestation (s. Anm. 37), 620f; weitere Stellen bespricht z. B. Kraus, Stil (s. Anm. 7),376--379. 42 Vgl. Papias im Proömium seines Werkes, Frgm 5 (Könner; überliefert bei Euseb, h. e. 3, 39,3,
OUK 43
6KV~OW ... ).
Vgl. SapSa19,15
(OKTlVOC;).
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Tod macht den Brief zur letzten Verfügung des Apostels. Es bleibt sozusagen keine Zeit mehr, diese letzte Verfügung noch zu korrigieren oder zu widerrufen. So versucht der Zweite Petrusbrief, einen Schlußpunkt unter die Petrusliteratur zu setzen. Bedeutsam ist wiederum, welche Kenntnisse Pseudopetrus bei seinen Leserinnen und Lesern voraussetzt, um seine Ankündigung verstehbar zu machen. Pseudopetrus kündet von seinem baldigen Tod, "wie es auch unser Herr selbst, Jesus Christus, ihm verdeutlichte" (1,14). Dieser Rückverweis auf eine Spezialankündigung des Herrn verdoppelt die erste Todesankündigung und hat meines Erachtens seinen Sinn darin, auf eine den Leserinnen und Lesern des Zweiten Petrusbriefes bekannte Erzählung zu verweisen. Eine entsprechende Überlieferung, nach welcher der Herr speziell dem Petrus seinen Tod ankündigt, findet sich in den Schriften des Neuen Testaments nur in Joh 21,18: "Amen, Amen ich sage dir, solange du noch ein Jüngerer bist, gürtest du dich selbst und gehst einher, wo du willst, wenn du aber alterst, wirst du deine Hände ausstrecken, und ein anderer wird dich gürten und er wird dich führen, wohin du nicht willst." In einem Kommentarsatz erläutert J oh 21, 19a dieses Wort J esu: "Dies aber sprach er, um zu bedeuten, durch welchen Tod er Gott verherrlichen werde." Natürlich muß 2 Petr 1,14 nicht auf Joh 21,18f anspielen, es wäre auch ein uns unbekanntes Literaturstück mit einer ähnlichen Ankündigung denkbar. Sehr wahrscheinlich aber ist ein solches Literaturstück allerdings nicht, da von ihm jede auch nur polemische Spur fehlt. Die Auskunft, der Zweite Petrusbrief könne sich auf eine Vorstufe von Joh 21,18f berufen, überzeugt kaum stärker. Wenn in den beiden Versen eine Vorstufe enthalten war, dann wäre das etwas dunkle Jesuswort Joh 21,18 älter als der Kommentarsatz Joh 21,19a. 2 Petr 1,14 setzt aber unmißverständlich eine Ankündigung des Todes des Petrus durch den Herrn voraus, wäre also von Joh 21,18f in seiner bereits kommentierten Version abhängig. Entsprechend sieht auch Anton Vögtle inJoh 21 die Vorlage für 2 Petr 1,1444 • In 1,16 beansprucht Pseudopetrus für sich 45 , nicht nur schriftliche Quellen (iJ,U80L), sondern persönlichen Kontakt zu J esus Christus gehabt zu haben: Er nennt sich einen Augenzeugen (E 1T(l1Ttll<;) 46. Die Vokabel unterstreicht die besondere Vertrautheit des Petrus mit dem irdischen J esus 47• Diese Vertrautheit ist selbst durch den Geist nicht einzuholen. Es geht also um eine Legitimation durch Rück-
Vögtle, Judasbrief (s. Anm. 4), 160f. Bzw. mehrere ähnlich Autorisierte (er schreibt hier im Plural). 46 Bauer-Aland, Wörterbuch (s. Anm. 9), 619 schlagen vor, als "Weihzeuge" zu übersetzen. Im 2 Petr dürfte schwerlich mit der Vokabel auch die Konnotation der Mysterienkulte intendiert sein. 47 Alle vier Belege der LXX sind Gottesprädikate: Esth 5,la; 2 Makk 3,39; 7,35; 3 Makk 2,21. 44 45
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verweis auf den irdischen J esus, vielleicht im Gegenüber zu Offenbarungen, die sich auf den auferstandenen Christus berufen. Der Brief zielt darauf, Erinnerung zu bewahren ~vrnl~V TIoE1v). Es geht dem Pseudopetrus dabei nicht um eine Erinnerung speziell an Petrus, sondern um eine Erinnerung an Vertraute aus dem Umkreis des irdischen J esus. So spricht er im apostolischen "Wir" in 1,1.16.18f und wohl auch in 3,15 48 . Es geht ihm also nicht um ein petrinisches Monepiskopat, vergleichbar etwa mit dem faktischen Alleinanspruch der Pastoralbriefe auf Paulus. Es geht dem Pseudopetrus vielmehr darum, die Erinnerungen der ersten Vertrauten zu bewahren. Dazu schreibt er seinen Brief. In ihm bleibt er als Erinnerung. Wie dies zu denken ist, erklärt vielleicht die Äußerung in 2 Petr 3,15 über die Briefe des Paulus. Danach schrieb Paulus einst (Aorist), damit er jetzt und immer wieder spricht (Partizip Präsens)49. Pseudopetrus hat über die schriftliche Form der Überlieferung nachgedacht, er führt sie ausdrücklich ein. Pseudopetrus verweist zur Legitimation seiner besonderen Erfahrungen auf schriftlich vorliegende Zeugnisse dieser besonderen Erfahrungen. Die Leserinnen und Leser des Zweiten Petrusbriefes sollen mit den Anspielungen die Vertrauenswürdigkeit des Autors überprüfen können.
3 Die Traditionsvermittlung zwischen der Evangelien- und Paulusbriefsammlung im Zweiten Petrusbrief Pseudopetrus bezieht sich auf vorliegende Literatursammlungen, die er mit seinen Leserinnen und Lesern, ja sogar mit den bekämpften Gegnern teilt. Es sind dies zunächst eine Sammlung paulinischer Briefe und der Erste Petrusbrief. Dazu kommen mehrere biographische J esusdarstellungen, wahrscheinlich das Matthäus-, Lukas- und Johannesevangelium. Um nicht ohne Not uns unbekannte Texte postulieren zu müssen, dürfte der Zweite Petrusbrief auf eine Szene aus Joh 21 anspielen und damit wohl die Vierevangeliensammlung voraussetzen 50 • Der Zweite Petrusbrief zielt nun darauf, diese Schriften miteinander lesbar zu machen und benützt dafür die Autorität des Petrus. Nicht die Worte eines historischen Petrus braucht er dazu, nur dessen Ansehen und das Wissen um dessen Tod. Petrus ist für ihn Projektionswand für eine traditionsgebundene Theologie. TradiVgl. Wehr, Petrus (s. Anm. 13), 34M. Vgl. die analogen Aspekte der Verbformen Joh 21,24: Der Jünger (nach Joh 21,22f ist klar der sog. Lieblingsjünger gemeint) bezeugt (Part. Präsens) ... und er schrieb (Part. Aorist); vgl. Heckel, Evangelium (s. Anm. 8), 179. 50 Es ist m. E. sinnvoll, zwischen einer Textsammlung und einem Kanon zu unterscheiden; vgl. Heckel, Evangelium (s. Anm. 8), 2-5.23-25.30. - 2 Petr zeigt keine abgrenzenden Tendenzen, er setzt daher nicht den Vierevangelienkanon voraus (so aber Theißen, Religion [so Anm. 2], 366), sondern wahrscheinlich die Vierevangeliensammlung. 48
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tion heißt für Pseudopetrus: Überlieferungen, die auf Vertraute des irdischen Jesus zurückgehen, geben den Maßstab für alle theologischen Erwägungen ab. Diese traditionsgebundene Orientierung spitzt Pseudopetrus nicht gegen Paulus zu. Es kann auch keine Rede davon sein, daß Pseudopetrus die Autorität des Petrus höher einschätzt als die des Paulus 51 • Beide Autoritäten liegen ihm in Schriften vor. Nur wäre eine Berufung auf Paulus nicht historisch unüberholbar gegen andere Deutungen abzusichern. Paulus war kein Vertrauter des irdischen Jesus. Pseudopetrus benützt seine usurpierte Autorität, um seiner Meinung nach bedenklichen Tendenzen sei'ner Gegenwart mit dieser Autorität zu begegnen. Hier setzt die verbreitete Kritik am Zweiten Petrusbrief ein, denn seine Auseinandersetzung mit den Gegnern besteht inhaltlich weitgehend aus Gegenfeststellungen. Bedeutsam allerdings ist der durch Pseudopetrus aufgebaute Maßstab für Autorität. Mit seiner Berufung auf die Person des Petrus verlangt Pseudopetrus, die überlieferten Texte mit den überkommenen Traditionen zusammenzudenken. Pseudopetrus legitimiert seine Theologie mit einzelnen Zeugnissen christlicher Schriften. Diese Zeugnisse deutet er zwar mit der usurpierten Autorität eines Petrus, beendet aber faktisch mit seinem Verfahren die Neuproduktion christlicher Primärschriften, da er den Zweiten Petrusbrief als letztes Wort des Apostels kurz vor seinem Tod einführt. Kurz: Pseudopetrus zielt zugleich darauf, die Petrusüberlieferung zu beenden und diese mit anderen Überlieferungen der Augenzeugen des irdischen Jesus zu verbinden. So setzt er eine historische Grenze für Zeugnisse über Jesus. Bei der Herausbildung der autoritativen Sammlung christlicher Schriften, dem sogenannten Kanon des Neuen Testaments, wurde dieser Maßstab so streng angewandt, daß der Zweite Petrusbrief selbst fast an diesem Maßstab gescheitert wäre, den er aufzurichten half. Wir sind gewohnt, mit dem Titel "Neu es Testament" eine Sammlung von 27 Schriften zu bezeichnen. Genauer wäre das Neue Testament wohl als Sammlung von Schriftsammlungen zu bezeichnen, nämlich der Evangeliensammlung, der Paulusbriefsammlung, des Praxapostolos (der die Apostelgeschichte und die sogenannten Katholischen Briefen enthält) und schließlich der Offenbarung des J0hannes. Die Herausbildung genau dieser Sammlung läßt sich in den ersten Jahrhunderten zumindest nicht erweisen52 • Trotzdem meine ich, daß wesentliche Grundlagen für die Schriftsammlung "Neues Testament" bereits mit dem Zweiten Petrusbrief In diese Richtung zielt Wehr, Petrus (s. Anm. 13),335. Hier sehe ich das Hauptproblem der anregenden Studie: D. TROBISCH, Die Endredaktion des Neuen Testaments. Eine Untersuchung zur Entstehung der christlichen Bibel, NTOA 10, Freiburg / Gättingen 1996; vgl. Hecke!. Evangelium (s. Anm. 8), 346f. 51
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vorliegen. Diese wesentlichen Voraussetzungen sind erstens die Evangeliensammlung, zweitens eine Paulusbriefsammlung und drittens deren Bezug aufeinander. Bei der Paulusbriefsammlung mag zum Beispiel die Zugehörigkeit des Hebräerbriefes noch umstritten sein, trotzdem liegt bereits im zweiten Jahrhundert eine Sammlung von Paulusbriefen vor. Daneben läßt sich eine Sammlung von vier Evangelien deutlich ~rkennen. Die genaue Ausgrenzung der 27 Schriften, die wir heute üblicherweise zum Neuen Testament zählen, ist über Jahrhunderte hin für einzelne Schriften immer wieder umstritten. Und doch zeigt gerade der Zweite Petrusbrief eine Tendenz, Briefliteratur und Evangelienliteratur in einen gemeinsamen Kontext zu stellen. Dieser gemeinsame Kontext ist für die Schriftensammlung Neues Testament so wesentlich, daß ich meine, der bestimmte Artikel für diese Textsammlung als "Das Neue Testament" ist berechtigt, auch wenn in dieser Zeit die Zugehörigkeit einzelner Schriften noch umstritten bleibt, wie etwa der Erste Clemensbrief, der Hebräerbrief, die Offenbarung des Johannes oder der Zweite Petrusbrief. Die Zurechnung einzelner dieser Schriften verändert zwar den Umfang des N euen Testaments, greift aber nicht mehr grundsätzlich in das Verständnis dieser Sammlung von Textsammlungen ein. Soweit läßt der Zweite Petrusbrief das "Neue Testament" bereits erkennen.
Reinhard Feldmeier DAS LAMM UND DIE RAUBTIERE Tiermetaphorik und Machtkonzeptionen im N euen Testament
1. In der christlichen Symbolsprache! wie in der Ikonographie2 ist das Bild von J esus Christus als Lamm weit verbreitet. Die biblische Grundlage dafür ist wohl die berühmte Prädikation Christi durch den Täufer: "Siehe, das Lamm (ullv6<;) Gottes" Goh 1,29.36), aber auch der abundierende Gebrauch des Begriffes apvLov für Christus in der Johannesoffenbarung3 • Dazu kommen noch zwei weitere Stellen, an denen Christus mit einem Lamm (ullv6<;) verglichen wird (1 Petr 1,19; Apg 8,32). Über die Herkunft dieser im Judentum für den Messias nicht belegten Metaphorik werden verschiedene Vermutungen angestellt4 • Die Bedeutung des Bildes wird vor allem in der Analogie zum sühnenden Blut des Passahlammes gesehen,
I Vgl. nur das Agnus Dei der Abendmahlsliturgie oder Lieder wie "Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld... " (EG 83). 2 Das Lamm ist das häufigste Christussymbol. Nachweisbar ist das Motiv des Gotteslammes seit dem 4. Jahrhundert in der frühchristlichen Sarkophagplastik und auf Mosaiken verbreitet. Vom 5. bis 13. Jahrhundert sind Lammallegorien sehr beliebt. Im Mittelalter findet sich das Lamm-Motiv häufig auf Gewölbeschlußsteinen und auf der Rückseite von Vortragekreuzen, konnte aber auch in größere Bildkompositionen aufgenommen werden, wobei dort vor allem eine starke Prägung durch die Offb zu beobachten ist: das Lamm und das Buch mit den sieben Siegeln (Offb 5,1-14), das Lamm auf dem Zionsberg (Offb 14,1-5), die Hochzeit des Lammes (Offb 19,6-8) und das Lamm als Licht der Gottesstadt (Offb 21,23). Beliebt ist auch das Lamm mit der Kreuzfahne, welche zeigt, daß gerade das sein Leben dahingebende Lamm der Sieger ist; vgl. Art. ,Lamm, Lamm Gottes', LCI 3, 1971, 7-14; M. LURKER, Wörterbuch biblischer Bilder und Symbole, München 1987,213-217; H. SACHS u. a., Erklärendes Wörterbuch zu christlichen Kunst, Hanau o. J., 233f. 329mal, davon 28mal direkt von Christus und einmal (Offb 13,11) vom "Tier" als dem Gegenspieler und teuflischen Nachahmer Christi. 4 Zumeist wird auf die Entsprechung des Sterbens Jesu zur Opferung des Passahlamms oder allgemein zum Opferlamm verwiesen. Immer wieder wird auch eine Übertragung aus J es 53,7 erwogen. Weitere, weniger wahrscheinliche Möglichkeiten sind die Herleitung aus astralmythologischen Vorstellungen (die sieben Augen des Lammes in der Offb entsprechen den Planeten) oder die Annahme einer Übersetzungsvariante aus dem Aramäischen, wo ~i1"~' ~,"t!l sowohl "Knecht Gottes" als auch "Lamm Gottes" bezeichnen kann; vgl. J. JEREMIAS, Art. a~v6<; K'tA., ThWNT 1, 342-344; G. DAUTZENBERG, Art. a~v6<; KtA., EWNT 1, 168-172; U. B. MÜLLER, Die Offenbarung des Johannes, ÖTK 19, Gütersloh / Würzburg 21995, 160-162.
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die eventuell schon Paulus bezeugt (vgl. 1 Kor 5,7)5. Für den Ersten Petrusbrief und die Johannesoffenbarung (vgl. Offb 5,9f; 7,14) kann ein solcher Zusammenhang als sicher gelten 6 , für Johannes als wahrscheinlich 7, wohingegen Apg 8,32 explizit nur auf das in Jes 53 geweissagte Leiden und die Erhöhung Bezug nimmt. Doch selbst wenn das Opfer- und Sühnemotiv der Lamm-Metaphorik inhärent sein sollte, erschöpft sich doch darin nicht die Bedeutung dieses Bildes. Die Metapher hat wie so oft einen Bedeutungsüberschuß, der sich in unserem Fall gerade auch in der immer wieder begegnenden Entgegensetzung des wehrlosen Lammes I Schafes zum gewalttätigen Raubtier erschließt. 2. Die Entgegensetzung von Schaf und Wolf findet sich inverschiedenen Aussagen über die Gemeinde. Die Aussendungsrede faßt die Exis.tenz der Gemeinde in der Welt in das Bild der unter die Wölfe gesandten Schafes. Geht es hier um die Bedrohung von außen, so beziehen die Warnungen am Ende der Bergpredigt (Mt 7,15) und bei der Abschiedsrede des Paulus in Ephesus (Apg 20,29) das Bild vom Wolf auf Falschpropheten und Irrlehrer, welche die Gemeinde von innen zu zerstören drohen. Das Provozierende dieser Selbstidentifikationen einer Gemeinschaft mit einer Herde wehrloser Schafe wird aufgrund der Gewöhnung oft gar nicht wahrgenommen. Sie ist aber nichts weniger als selbstverständlich. Die Pointe der symbolischen Repräsentation durch ein Tier besteht ja fast immer in der Steigerung des persönlichen Erscheinungsbildes durch die identifikatorische Inanspruchnahme von animalischen Kräften und Fähigkeiten, welche menschliches Vermögen übersteigen: Deswegen dominieren in den Wappen aJter Adels geschlechter ebenso wie in den modernen Selbstbezeichnungen von Fußball- und Eishockeyvereinen vor allem die wegen ihrer Stärke, Wildheit und Gefährlichkeit besonders bewunderten Raubtiere wie Löwe, Bär, Adler und Panther9 • Die gleiche Funktion erfüllen Fabeltiere wie Drache und Einhorn oder auch der Hirsch, das Pferd oder der Stier, die dem Menschen aufgrund ihrer Schnelligkeit oder Kraft überlegen sind. Regenwürmer, Frösche, Rotkehlchen oder Kaninchen sucht man 5 Die Wendung von 1 Kor 5,7, daß "unser Passahlamm geschlachtet ist, Christus", weist wahrscheinlich auf die erlösende und sündentilgende Kraft des Todes Jesu hin; vgl. W. SCHRAGE, Der erste Brief an die Korinther. 1. Teilband: 1 Kor 1,1-6,11, EKK 7/1, Zürich / Neukirchen-Vluyn 1991, 383; ähnlich C. Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther, ThHK 7, Leipzig 1996,
10M. 6 Vgl. J. ROLOFF, Die Offenbarung des Johannes, ZBK NT 18, Zürich 21987, 7Sf; E. LOHSE, Die Offenbarung des Johannes, NTD 11, Göttingen 31971,41; Müller, Offenbarung (s. Anm. 4), 162. 7 In seiner Passionsdarstellung setzt Johannes den Tod Jesu in Beziehung zum Passah und dem Schlachten der Lämmer; vgl. außer Joh 19,14 auch noch Joh 19,33.36, wo erzählt wird, daß dem Gekreuzigten nicht die Knochen zerbrochen werden (vgl. 19,33), und zwar unter Bezugnahme auf Ex 12,10.46 LXX (vgl. Joh 19,36, wo dasselbe vom Passahlamm gesagt wird). 8 Mt 10,16a (npoßutov) par Lk 10,3 (&p~v); vgl. auch Joh 10,12, wo das Bild der Bedrohung der Gemeinde durch den einbrechenden Wolf aufgenommen wird. 9 Heute können es auch noch andere wilde Tiere sein; vgl. etwa im Eishockey die Kölner Haie.
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dagegen vergebens. So ist es schon einer eingehenderen Überlegung wert, daß sich die christlichen Gemeinden mit dem schwachen Tier KIX-r' E~OX~Vl0 identifizieren, mit dem sozusagen für die Opferrolle prädestinierten Schaf. Nicht im Raubtier, das sich selbst durchsetzt 1,md vom Fleisch und Blut anderer Tiere lebt, sehen sie sich repräsentiert, sondern im Schaf, von dessen Fleisch die anderen Tiere (und die Menschen) leben. Das hängt zwar auch, wie Mt 10,16 par Lk 10,4 und Röm 8,36 zeigt, mit den Erfahrungen der frühen Christen als ausgegrenzte Minderheit zusammen ll . Bezeichnend ist jedoch, daß die mit dem Bild ausgedrückte Opferrolle nur die eine Seite der Medaille ist; es sind eben auch die wie Schafe unter die Wölfe gesandten Jünger, denen die Dämonen gehorchen (Lk 10,17) und denen Jesus Vollmacht (E~ouaLIX) über alle Gewalt (ÖUVIXI-W;) des Feindes 12 gegeben hat (Lk 10,19). Es sind die wie Schlachtschafe geachteten Gläubigen, welchen der Sieg über alle Mächte und Gewalten verliehen ist (Röm 8,36-39). Gerade in der Schwäche der "Schafe" kommt Gottes Herrschaft zur Welt. Hier wird schon deutlich, daß das Bild vom Lamm nicht allein auf die Opferfunktion beschränkt werden kann, sondern einen semantischen Überschuß hat. 3. Das ist noch deutlicher im Blick auf Christus selbst. Gewiß will das Bild des agnus dei an den Tod J esu am Kreuz erinnern, aber doch so, daß die im Bild des Opferlammes dargestellte Selbsthingabe nun auch das Verständnis der Herrschaft Christi bestimmt: Der "Sohn" im Johannesevangelium, der eins ist mit dem Vater, wird zweimal als Gottes Lamm prädiziert Goh 1,29.36), und das "gleichsam geschlachtete Lamm" der J ohannesoffenbarung ist zugleich der diese Welt erneuernde König und der die widergöttlichen Kräfte ausmerzende Krieger (vgl. bes. Offb 17,14). Auch im Ersten Petrusbrief begegnet diese Struktur: Dort ist der mit dem Lamm verglichene Christus, der uns durch sein Blut aus dieser nichtigen und vergehenden Welt loskauft (1 Petr 1,18ff), zugleich der zur Rechten Gottes Erhöhte, der nun der Herr über alle Gewalten ist (1 Petr 3,22). Der als Lamm dargestellte Christus ist also alles andere als machtlos - sowohl im J ohannesevangelium wie im Ersten Petrusbrief und in der J ohannesoffenbarung partizipiert dieses Lamm eindeutig an der göttlichen Macht und Herrlichkeit. Daß diese Macht Christi dennoch durch das Bild des geopferten Lammes dargestellt wird, ist auch für das Verständnis von Herrschaft nicht ohne Bedeutung. Das kann sehr schön daran gese10 Schon in Äsops Fabeln ist das dem Wolf kontrastierte Lamm der Inbegriff der Wehrlosigkeit: Es wird trotz seiner Unschuld und seiner besseren Argumente von der bloßen Gewalt bezwungen und gefressen (Fab 160, in A. HAUSRATH / H. HUNGER [Hg.], Corpus Fabularum Aesopicarum, Bd. 1, Leipzig 1970, 186~. So hat es faktisch keine Alternative zur Opferrolle (Fab 168 [ebd., 193]). Rezipiert wird in diesem Sinn das Lammbild etwa in äthHen 90,1 ff, wo die Israeliten als Lämmer dargestellt werden, die von Raubtieren attackiert und zerfleischt werden. 11 Vgl. dazu R. FELDMEIER: Die Christen als Fremde, WUNT 64, Tübingen 1992, bes. 105-132. 12 Damit ist, wie der vorangehende Vers 18 zeigt, der Satan gemeint.
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hen werden, daß auch die Bezeichnung Christi als Lamm zweimal in einen spannungsvollen Kontrast zum Löwen gesetzt wird, dem traditionellen Macht- und Herrschaftssymbol. Dies geschieht im Ersten Petrusbrief und in der J ohannesoffenbarung auf unterschiedliche Weise, wie im folgenden gezeigt wird. 4. In der Johannesoffenbarung tritt das Lamm 13 das erste Mal an einer sehr be,zeichnenden Stelle auf. In Kapitel 5 wird eine Buchrolle mit sieben Siegeln vor den himmlischen Thron gebracht, die zunächst keine der anwesenden himmlischen Mächte öffnen kann. Diese Rolle erweist sich dann im Fortgang als der endzeitliche Geschichtsplan Gottes, dessen Entsiegelung die Endzeitereignisse und damit letztlich die Erlösung der Welt in Gang setzt. So ist es verständlich, daß der Seher als Vertreter einer zuhöchst bedrängten und angefochtenen Gemeinschaft (6,9t) in Tränen ausbricht (5,4) - scheint es doch, als könnte das Rätsel der Geschichte mit all ihrer Ungerechtigkeit und ihrem Unheil nie gelöst werden. Der weinende Seher wird jedoch von einem der Ältesten mit dem Verweis auf den siegreichen Löwen aus dem Stamm Juda getröstet, der das Buch und seine Siegel. lösen könne (5,5). Doch wie der Seher sich nach jenem Löwen unter den himmlischen Gestalten um~ieht, da sieht er "inmitten des Throns und der vier Tiere und der Ältesten ein Lamm stehen", und zwar ein Lamm, das aussieht "wie geschlachtet" (5,6). Die Hörner und Augen des Tieres zeigen zwar seine Mächtigkeit 1\ und es tritt im folgenden dann ja auch als Krieger und Herrscher auf. Aber gerade in einer Schrift, die so markant die Allmacht Gottes und die Durchsetzung seiner Herrschaft durch einen kriegerischen Christus betont, fällt dieser Bruch in der Metaphorik auf: Es wird ein Löwe angekündigt, und es erscheint ein Wesen, das - pointiert gesprochen - aussieht wie ein totes Schaf. Auch wenn die Ankündigung des Löwen aus dem Stamm Juda nicht zurückgenommen wirdIs, so ist es doch nicht dieser Löwe, sondern das Lamm, das im folgenden agiert und die Welt durch die Schrekken als Herrscher und Krieger zur Vollendung führt. Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, daß die göttliche (All-)Macht I6 , die im folgenden diese Welt unter
Zur Deutung des apvlov als Lamm (und nicht als Widder) vgl. die in Anm. 4 genannten Titel. Die Hörner sind ein verbreitetes Bild der Macht, mit den Augen wird die Verfügungsgewalt über die Engelwesen ausgedrückt; vgl. dazu die Belege bei Müller, Offenbarung (s. Anm. 4), 156; RoloH, Offenbarung (s. Anm. 6), 76. - , 15 Der Titel knüpft an den Jakobssegen Gen 49,9f an, der im Frühjudentum messianisch verstanden wurde (vgl. 4 Q Patriarchensegen). Dabei wurde dann auch das Löwenbild messianisch verwendet, wie die Vision 4 Esr 11,1-12,3 und deren nachfolgende Deutung zeigt: "Der Löwe aber, den du gesehen hast... das ist der Gesalbte, den der Höchste bis zum Ende der Tage aufbewahrt" (4 Esr t2,3tf). 16 Pantokrator wird in der Offb neunmal als Gottesprädikat verwendet; vgl. R. FELDMEIER: Nicht Übermacht noch Impotenz. Zum biblischen Ursprung des Allmachtsbekenntnisses, in: w. Ritter I R. Feldmeier (Hg.), Der Allmächtige. Annäherungen an ein umstrittenes Gottesprädikat, Göttingen 21997, 13-42, bes. 33f. 13
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Gottes Herrschaft zurückerobert, etwas anderes ist als die via eminentiae ins absolute gesteigerte Gewalt. Vielmehr zeigt das Lamm mit der bleibend sichtbaren Todeswunde, daß der in der J ohannesoffenbarung als Sieger portraitierte Christus seine siegreiche Macht gerade darin bewährt hat, daß er an sich selbst Leiden und Tod erlitten und überwunden hat. Gerade deshalb, weil es geschlachtet wurde, ist dieses Lamm im Gegensatz zu allen anderen himmlischen Mächten dann auch "würdig", das Buch und die Siegel zu öffnen, wie wiederholt hervorgehoben wird (5,5.9f.12). Vielleicht hängt es auch mit dieser Verbindung des Herrschenden mit dem Leidenden zusammen, daß die gewaltsamen und erschreckenden Bilder, welche in den drei Visionszyklen zeigen, wie die gewaltsamen Strukturen dieser Welt zerbrochen werden, in der strahlenden Vision einer von aller Krankheit und allem Verderben geheilten und erneuerten Welt gipfeln. In die vom Himmel herabgekommene Gottesstadt kommen nach Offb 21,24 nun auch die Völker dieser Welt und ihre Könige zur Anbetung (mit deren Existenz man nach drei Weltuntergängen eigentlich nicht mehr gerechnet hat). Ja, in gewisser Weise wiederholt sich der Bruch in der Metaphorik von Löwe und Lamm auch darin, daß sowohl im ersten Visionszyklus als auch am Ende der Visionszyklen das zärtliche Bild des alle Tränen abwischenden Gottes steht (7,17; 21,4)17. 5. Wird in der J ohannesoffenbarung das Bild des Raubtieres durch das des ge. schlachteten Lammes ergänzt und modifiziert, so werden im Ersten Petrusbrief mit den beiden Metaphern zwei einander entgegengesetzte Mächte bezeichnet. "Durch das wertvolle Blut wie von einem untadeligen und makellosen Lamm" (1,19) - so betont der Anfang des Briefes - sind die Gläubigen aus dem Verblendungszusammenhang des bisherigen Lebens (1,18) und seiner Todverfallenheit (1,23-25) losgekauft. Dieser Erlösung durch das Lamm wird in den Schlußermahnungen die Macht des Bösen entgegengestellt, welche die Erlösten wieder zurück ins Verderben reißen möchte. Bezeichnenderweise wird diese Macht nun im Gegenbild zum geopferten Lamm durch den auf Beutefang gehenden, hungrig brüllenden Löwen verkörpert: "Seid nüchtern und wacht. Denn euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe, der jemanden zum Verschlingen sucht" (5,8)18. Noch deutlicher als in der Apokalypse werden hier in den entgegengesetzten Tieren die beiden Mächte symbolisiert, welche um diese Welt ringen: 17 Es soll allerdings auch nicht verschwiegen werden, daß innerhalb der Visionszyklen eine nicht unbeträchtliche Härte herrscht. Das dürfte zum einen auf das Konto der verwendeten apokalyptischen Tradition gehen, zum andern auf die Situation der Bedrängnis, deren Leiden durch die geschaute göttliche Vergeltung wohl in gewisser Weise auch kompensiert werden. 18 Der Löwe ist eine traditionelle Metapher für den Verfolger, der die Gerechten bedroht (10,9; 17,12; 22,14.22; 57,5; Esth 4,17f; 1 QH 5,5-19; Jos Ant 18,228). Als Bild für den Teufel, der die bekehrte Aseneth wieder vom Glauben abbringen will, erscheint der wilde und verfolgende Löwe auch in JosAs 12,9f.
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Das eine ist das mächtige Raubtier, das vom Leben anderer lebt, das andere ist das Lamm, das sich für andere aufopfert. Steht der im Löwen verkörperte Teufel für die gegenwärtig herrschende, auch die "Wiedergeborenen"19 immer wieder bedrohende Wirklichkeit, so das Lamm für Gottes Erlösung am "Ende der Zeit", die aber zugleich dem bereits "vor der Grundlegung der Welt" festgelegten Schöpfungsplan entspricht (1,20). 6. Die Symbolisierung der Mächte durch Tiergestalten ist nicht neu; sie findet sich bereits in der Vision Dan 7, wo die vier aufeinander folgenden Weltreiche in vier Tieren verkörpert sind (Dan 7,3-8). Und wie im Neuen Te'stament dem Wolf bzw. dem Löwen das Lamm kontrastiert wird, so tritt in Dan 7,13 den Raubtieren einer entgegen, der aussieht "wie ein Menschenkind" (7,13). Der durch Zähne und Klauen und Hörner dargestellten zerstörerischen Potenz der Bestien tritt ein unbewaffneter! - Mensch entgegen. Was immer es mit diesem "Menschensohn" sonst noch auf. sich hat - im Kontrast zu den in den Raubtieren symbolisierten Mächten verkörpert er wohl auch das Humanum der Herrschaft Gottes. Dieses Kontrastbild des Menschensohnes in Dan 7 wird im Neuen Testament durch den Bezug auf den Gekreuzigten gleichsam nochmals radikalisiert: Der wie ein Lamm sein Leben dahingebende Menschensohn ist der wahre Herr dieser Weh. Das Lamm verkörpert also - nochmals sei dies unterstrichen - sowohl in der Johannesoffenbarung wie im Ersten Petrusbrief keineswegs eindimensional den ohnmächtigen Christus, sondern den in den Tod Hingegebenen als den Befreier, der den Kräften des Todes überlegen ist. Aber solche Befreiung ist nur m~glich durch eine Macht, die nicht selbst den Tod bewirkt, sondern diesen durch Ertragen überwunden hat. Das äußerst spannungsreiche, ja widersprüchliche Bild des den Tod überwindenden Opfertieres bzw. des über die Bestien triumphierenden Lammes bringt diese unseren gewohnten Machtvorstellungen widersprechende Herrschaft Gottes als Gegen-Macht eindrücklich zum Ausdruck. Sie ist so Herausforderung, den Machtbegriff differenzierter zu verwenden: Weder ist Gottes Macht die einfache Übersteigerung der die Welt beherrschenden Gewalt, noch ist diese im Lamm dargestellte Herrschaft Gottes ohnmächtig. Vielmehr verkörpert das Lamm die heilsame und Leben schaffende Macht Gottes, der sich gerade im Geschick Jesu Christi uns zugute festgelegt hat. 7. Das aus Dan 7 stammende Motiv des Menschensohnes wird in den Evangelien von Jesus aufgenommen, gerade auch im Zusammenhang seiner Hingabe des Lebens "als Lösegeld für viele" (vgl. Mk 10,45 par). Diese Lebenshingabe wird als Dienst bezeichnet. Mit diesem Stichwort des Dienens werden auch die Jünger als Kontrastgesellschaft profiliert - als Kontrastgesellschaft im Gegenüber zu denen, 19 Wiedergeburt ist im 1 Petr das zentrale Bild für die radikale Erneuerung der Existenz (vgl. 1 Petr 1,3.23f; 2,2).
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die "zu herrschen scheinen" und dies in Form von Unterdrückung und Machtmißbrauch tun (Mk 10,42-44; vgl. auch die Aufnahme dieser Tradition im Abschiedsgespräch Lk 22,25f~. In der Jesustradition gibt es also beim Begriff des Dienstes J esu eine Verbindung von stellvertretender Lebenshingabe und Gewaltkritik. Es wäre auch beim Bild des Lammes zu fragen, ob und wie dessen Bedeutung als alternatives Machtsymbol mit der durch sein Blut bewirkten Sühne zusammenhängt.
Martin Meiser DAS CHRISTENTUM UND DIE HERAUSFORDERUNGEN DER GRIECHISCH-RÖMISCHEN ANTIKE
Die "bleibende Gegenwart des Evangeliums"l als theologische Basis der einzelnen neutestamentlichen Entwürfe zu begreifen, impliziert für meinen verehrten Lehrer Otto Merk die mahnende Erinnerung daran, daß auch der neutestamentlichen Wissenschaft, ähnlich wie in anderer Form der kirchlichen Verkündigung, die bleibende Orientierung an der theologischen Fragestellung als Aufgabe gestellt ist, ihr die einseitig verabsolutierte Bezugnahme auf historische und religionswissenschaftliche Problemstellungen verwehrt bleiben muß. In Aufnahme dieses Anliegens geht der folgende Beitrag vornehmlich anhand der neutestamentlichen Briefliteratur der Frage nach, inwiefern die Wahrnehmung theologischer Aussagen des Neuen Testaments inmitten der nicht jüdischen und nichtchristlichen Antike auch für die gegenwärtigen Herausforderungen christlicher Theologie von Nutzen sein kann. Die Fragestellung lohnt umso mehr, als Erkenntnisse neuerer althistorischer Forschung zur Bedeutung von Religion in der griechisch-römischen Antike auch für das Verstehen neutestamentlicher Texte fruchtbar zu machen sind. Aus Raumgründen kann vieles nur angedeutet, nicht ausgeführt werden. Daß epigraphische Zeugnisse weitaus stärker als hier geschehen herangezogen werden müßten, dessen bin ich mir bewußt. Als wesentliche neuzeitliche Herausforderungen an das Christentum lassen sich die Phänomene der Individualisierung und der Globalisierung benennen, die auch jenseits des durch sie evozierten philosophischen Diskurses zu den Themen Moderne .und Postmoderne ein neu es Nachdenken über die Funktion von Religion und die Identität konfessioneller Christentümer erforderlich machen. Individualisierung meint die Orientierung des einzelnen an der eigenen Biographie2 , die Ori-
I Vgl. O. MERK, Glaube und Tat in den Pastoralbriefen (1975), in: ders., Wissenschaftsgeschichte und Exegese. Gesammelte Aufsätze, hg. v. R. Gebauer / M. Karrer / M. Meiser, BZNW 95, Berlin 1998,260-271: 268f. 2 K. FECHTNER, Religiöser Individualismus. Und Kirche. Praktisch-ekklesiologische Perspektiven im Anschluß an Ernst Troeltsch, in: K. FECHTNER / M. HASPEL (Hg.), Religion in der Lebenswelt der Moderne, Stuttgart 1998, 208-226: 208f.
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entierung an Werten, die sich in anderen Lebenskontexten bewährt haben 3 , und impliziert ekklesiologisch die tendenzielle Partialisierung und Relativierung der fides quae 4 • Globalisierung impliziert die erleichterte äußerliche Zugänglichkeit nichtchristlicher religiöser Traditionen und die Möglichkeit neuen Partizipationsverhaltens. So ist nicht nur der Selbstanspruch gesamtgesellschaftlich relevanter Vermittlung von Daseins- und Handlungsorientierung hinfällig geworden, vielmehr sind auch bei den eigenen Mitgliedern die kirchlichen Angebote wie die kirchlichen Orientierungsvorgaben nicht mehr der Situation der Konkurrenz entnommen. Die Vorschläge für einen Weg aus der Krise lassen sich in affirmative und kritische Optionen einteilen: Affirmative Optionen empfehlen die Besinnung auf die offensichtlich vorhandenen Sehnsüchte, deren Bedienung derzeit teilweise vom Christentum in andere Religionen und Religionsformen\ teilweise von der Religion in andere Bereiche wie etwa der Werbung6 abgewandert ist, oder definieren die Funktion von Religion für das Individuum und die Gesellschaft unter Zuhilfenahme religionspsychologischer, religionssoziologischer und religionsphilosophischer Kategorien zumeist als Ausgleich zwischen unverwechselbarer und unvertretbarer Identität des Individuums und der kosmologischen7 bzw. sozialen Randständigkeit8 seiner Existenz. Kritische Optionen haben die Vision der Kirche als einer Gegengesellschaft 9 vor Augen und empfehlen eine Jesusförmigkeit, die sich auch in Distanz zu herkömmlichen kirchlichen Inhalten und Strukturen verwirklichen kann lO •
3 F. BENTHAUS-ApEL, Religion und Lebensstil. Zur Analyse pluraler Religionsformen aus soziologischer Sicht, in: Fechtner / Haspel, Religion, 1998, 102-122: 107. 4 Vgl. das Dictum von Thomas Jefferson "I'm a sect by mys elf" (mitgeteilt bei R. SACHAU, Individueller Synkretismus als Lebensform moderner Religiosität. Westliche Reinkarnationsvorstellungen im Kontext neuzeitlichen Christentums, in: Fechtner / Haspel, Religion, 67-87: 81). 5 W. THIEDE, Esoterik - die postreligiöse Dauerwelle. Reihe Apologetische Themen 6, Neukirchen-Vluyn 1995, 80 u. ö. 6 A. MERTIN, Zur Kultur der Religion in der Werbung, in: ders. / H. Futterlieb, Werbung als Thema des Religionsunterrichts, Göttingen 2001, 19-37: 31. 7 K. MÜLLER, Mehr als Kitt oder Stolperstein. Erwägungen zum philosophischen Profil von Religion in der Moderne, in: M. KNAPP / TH. KOBUSCH, Religion - Metaphysik(kritik) -_ Theologie im Kontext der Moderne / Postmoderne, TBT 112, Berlin 2001, 41-55: 52f. 8 W. GRÄB, Religion in der Moderne, in: Knapp / Kobusch, Religion, 104--109. 9 TH. RUSTER, Der verwechselbare Gott. Theologie nach der Entflechtung von Christentum und Religion, QD 181, Freiburg 2000, 191.198.204 u. ö. legitimiert Kapitalismuskritik vom biblischen Grundgebot des Monotheismus her. 10 R. LA Y, Nachkirchliches Christentum. Der lebende J esus und die sterbende Kirche, Düsseldorf 1997, 61.127. Lays Christusbild ist in einigem veraltet. - Affirmative wie kritische Elemente sind in der Situationsanalyse bei K. GABRIEL, Christentum zwischen Tradition und Postmoderne, QD 141, Freiburg 1992, 158-162 vereint: Religion ist von Bedeutung "im Sinne der individuellen und gesellschaftlichen Kontingenzbewältigung" (158), aber auch als Protest gegen die Zerstörung der Schöp-
Das Christentum und die Herausforderungen der griechisch-römischen Antike
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Die Phänomene antiker Individualisierung und Globalisierung sowie die Parallelen zwischen den Herausforderungen damals und heute bedürfen keiner Ausführung. Doch sind auch die Divergenzen zwischen antiker und (post-)moderner Situation im Blick zu behalten: 1. Das Christentum gilt in der Antike als das neue, das sich gegenüber dem Alten 1\ heute als das Alte, das sich gegenüber dem Neuen auch aufgrund seiner eigenen Geschichte rechtfertigen muß. 2. Das Christentum konnte wie das Judentum damals gegenüber dem Polytheismus an wichtige Positionen aufklärerischer griechischer Religionsphilosophie anknüpfen 12 und so, wenigstens seinem subjektiven Empfinden nach, den Standort der geistigen Avantgarde für sich reklamieren, während heute die Existenz anderer monotheistischer Religionen einerseits, die Existenz eines auf transzendentale Grundlegungen verzichtenden Rationalismus andererseits das Christentum zu einer Neubesinnung auf seine Identität zwingen. Auf diese Herausforderungen sind nun auch die Antworten antiker Religionen im Kontext ihrer Kulturen 13 zu benennen und in diesen Kontext das Christentum einzuzeichnen: Was konnten nicht jüdische Nichtchristen l 4, aus ihren je verschiefung, gegen das wirtschaftliche Ungleichgewicht in der Welt (161) und gegen die Zerstörung gesellschaftlich und individuell überlebensnotwendiger Sozialformen (162). II V gl. Kelsos, nach Origenes, Cels. 5,35. 12 Vgl. schon josephus, Ap. 2,281 u. ö.; zu dem damit zumeist verbundenen Altersbeweis vgl. insgesamt P. PILHOFER, PRESBYTERON KREITTON. Der Altersbeweis der jüdischen und christlichen Apologeten und seine Vorgeschichte, WUNT 2/39, Tübingen 1990. 13 Zur Problematik der Anwendung des Religionsbegriffs auf die Antike vgl. und anderen G. AHN, Art. Religion I. Religionsgeschichtlich, TRE 28, 1997, 513-522: 515.519f sowie die Kontroverse zwischen U. BERNER, War das frühe Christentum eine Religion?, ZNT 10,2002, 54--60 und W. STEGEMANN, War das frühe Christentum eine Religion?, ZNT 10, 2002, 61-68. Stegemann (64) begründet seine Abkehr von dem Religionsbegriff als Beschreibungskategorie des antiken Christentums mit der erst neuzeitlich gegebenen Eigenständigkeit des gemeinten Erfahrungsbereiches. Bisher hat sich noch kein Ersatzbegriff durchgesetzt, der Ritus, Ethos und "Mythos" / belief systems in gleicher Weise umgreift. Daß sich Plinius nicht im einzelnen für die Glaubenslehren der Christen interessiert, ist zweifellos richtig, doch ist ihm die christliche superstitio als solche ein Widerspruch zum mos maiorum als dem Inventar der als "römisch" empfundenen kultischen Vollzüge und ethischen Einstellungen (zu Berner, Christentum, 58). 14 Eine große Zahl der sog. Heidenchristen dürfte dem Kreis der Sympathisanten des Judentums (vgl. D. SÄNGER, Heiden - Juden - Christen. Erwägungen zu einem Aspekt frühchristlicher Missionsgeschichte, ZNW 89, 1998, 145-172: 166; meines Erachtens zu einseitig: M. REISER, Hat Paulus Heiden bekehrt?, BZ NF 39, 1995,76-91: 91) bzw. der Gottesfürchtigen entstammen. An der Existenz der hinsichtlich ihres religiösen Status nicht exakt zu bestimmenden Gruppe der Gottesfürchtigen wird trotz des Einspruchs durch A. T. KRAABEL, The Disappearance of the ,God-Fearers' (1981), in: J. A. Overman / R. S. MacLennan (Hg.), Diaspora Jews and Judaism. Essays in Honor of, and in Dialogue with A. Thomas Kraabel, SFSHJ 41, Atlanta 1992, 119-130 und anderen im allgemeinen festgehalten. Doch haben wohl manche Heiden auch ohne vorherigen Kontakt zur Synagoge zur christlichen Gemeinde gefunden. Heidenchristen werden wiederholt auf ihre heidenchristliche Vergangenheit angesprochen (1 Thess 1,9; 1 Kor 6,9-11; 12,2 [vgl. dazu W. REINBOLD, Propaganda und Mission im ältesten Christentum. Eine Untersuchung zu den Modalitäten der Ausbreitung der frühen Kirche, FRLANT 188, Göttingen 2000,180 Anm. 63]; Eph 2,1-3.11; 1 Petr
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denen religiösen Kontexten kommend, in der frühen Prinzipatszeit am Christentum als sinnvolle Ergänzung bzw. Alternative zu ihrer bisherigen religiösen Praxis wahrnehmen? Was konnten sie am Christentum unattraktiv, was konnten sie attraktiv finden? Wie kann ihre Hinwendung zum Christentum so verstanden werden, daß Diskontinuität des religiösen Bezuges mit Kontinuität der Welt- und Selbstwahrnehmung vermittelbar war? Gefragt werden wird dann auch: In welcher Weise haben neutestamentliche und frühchristliche Autoren auf die Gegebenheiten dieses spezifischen Kontextes reagiert?
1 Religionen in der Antike Es gilt, in gebotener Kürze sich Bekanntes zu vergegenwärtigen. Antike Religion IS ist als wesentliches Element ihrer Kultur immer auch soziale Kommunikation. So können antike religiöse Vollzüge die Sphäre des Hauses ebenso betreffen wie die Sphäre der politischen Öffentlichkeit und gegebenenfalls zusätzlich der Öffentlichkeit eines freiwillig gewählten Teilsegmentes der Gesellschaft, beispielsweise in Form der Mitgliedschaft in einem privaten Kultverein. Diese einzelnen Sphären sowie ihr Miteinander können religiös fragmentiert oder integriert sein - das heißt, es können verschiedene Gottheiten oder es können die selben Gottheiten sein, die verehrt werden, und die Aktivierung entsprechender (Mehrfach-)Bindungen kann in vielfältiger Form erfolgen 16 • Neuere althistorische For-
4,3f u. ö.). Von da aus werden am ehesten die in 1 Kor 6,12-20; 10,1-22; 15,12 genannten Verhaltensweisen und Argumentationen verständlich (vgl. N. WALTER, Christusglaube und heidnische Religiosität in paulinischen Gemeinden [1979], in: ders., Praeparatio Evangelica. Studien zur Umwelt, Exegese und Hermeneutik des Neuen Testaments, hg. v. W. Kraus und F. Wilk, WUNT 98, Tübingen 1997, 95-117: 109 zur Thematik von 1 Kor 10,1-22; R. KIRCHHOFF, Die Sünde gegen den eigenen Leib, Studien zu lTOPVT] und lTOPVElO: in 1 Kor 6,12-20 und dem sozio-kulturellen Kontext der paulinischen Adressaten, StUNT 18, Göttingen 1994, 101 zur Thematik von 1 Kor 6,12-20; K. BERGER, Die "impliziten Gegner". Zur Methode des Erschließens von "Gegnern" im neutestamentlichen Texten, in: D. Lührmann / G. Strecker (Hg.), Kirche. FS G. Bornkamm, Tübingen 1980, 373-400: 388; vgl. J. S. Vos, Argumentation und Situation in 1Kor. 15, NT 41, 1999, 313-333: 332 zu 1 Kor 15,12). - Die Begriffe OEßOIlEVOl und ifloßoullEvol tOV 8EOV fehlen in den echten Paulinen, im Epheserbrief und im Ersten Petrusbrief (Reinbold, Propaganda, 180 Anm. 63). 15 J. A. NORTH, Roman Religion. Greece & Rome, New Surveys in the Classics 30, Oxford 2000, 11 hat als Probleme unseres Zugangs zur antiken Religion die Konzentration der Quellen auf öffentliche Vollzüge, auf Vollzüge der Oberschicht, auf bestimmte Praxis benannt. - D. FEENEY, Literature and Religion at Rome. Cultures, Contexts, Beliefs, Cambridge 1998, 17f sieht den Widerstreit schon innerhalb des literarischen Werkes einer Person sowie zwischen literarischen und epigraphischen Befunden. 16 Als Leistung der bekannten Unterscheidung Varros zwischen der mythischen, der philosophischen und der staatlichen Theologie muß vorn paganen Standpunkt aus die Bewältigung der multireligiösen Situation im römischen Reich gelten. Augustin, civ. 6,7-9 fragt nur aus christlicher Sicht heraus logisch: Wie kann Varro die staatliche Theologie beibehalten, wenn er die mythische Theologie kritisiert?
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schung untersucht neben den reichsweit greifenden Phänomenen antiker und speziell römischer Religion auch die lokalen und regionalen Besonderheiten17 in ihrer soziologischen und diachronen Differenzierung18 • Inwieweit neutestamentliche Autoren auf diese Besonderheiten eingehen, ist derzeit Gegenstand der Forschung19, die freilich auch Kritik herausgefordert hat20 • Systemimmanent21 betrachtet stellte ein lokales Pantheon ein intern flexibles, nach außen korporatives und nur potentiell exklusives Gebilde dar. Die häufige summarische Redeweise von "den Göttern" in der Literatur - die Wendung steht weitaus öfter als der Name eines einzelnen Gottes - trägt dieser Flexibilität Rechnung und markiert zugleich die Fundamentalunterscheidung zwischen Unsterblichen und Sterblichen als Grunderfahrung22 , der nach antikem Empfinden auch die Heroenverehrung keinen Abbruch tut. Die genannte Formel darf keinesfalls generell als Ausdruck der Ungewißheit über Zahl und Namen der zu verehrenden Gottheiten verstanden werden, sondern hat die Zusammengehörigkeit der verschiedenen Götter in ihrem Wollen und Wirken nach außen vor Augen 23 • So werden auch manche Glieder der christlichen Gemeinde ihre neue christliche religiöse Bindung zu an17 H. CANCIK / J. RÜPKE (Hg.), Römische Reichsreligion und Provinzialreligion, Tübingen 1997; S. PRICE, Religions of the Ancient Greeks, Cambridge 1999, 11-46. 18 Wurde in Rom zur Zeit der Republik der Kreis der Staatsgötter immer wieder erweitert, so galt , dies noch im 3. Jahrhundert als spezieller Vorzug spezifisch römischer Gesinnung (vgl. die Rede des Nichtchristen Caecilius bei Minucius Felix, Oct. 6,11). Die Religionspolitik mancher principes kennt die Erneuerung altrömischer Kulte und die Förderung von Mysterienkulten nebeneinander. Doch ist auch das Abgrenzungsbedürfnis gegenüber dem jeweiligen Vorgänger in Rechnung zu stellen (vgl. H. KLOFT, Mysterienkulte der Antike. Götter, Menschen, Rituale, München 1999, 47.60.68). 19 V gl. und anderen K. P. DONFRIED, The Cults of Thessalonica and the Thessalonian Correspondence, NTS 31, 1985, 336-356; L. BORMANN, Philippi. Stadt und Christengemeinde zur Zeit des Paulus, NT.S 78, Leiden 1995; P. PILHOFER, Philippi, Bd. 1: Die erste christliche Gemeinde Europas, WUNT 87, Tübingen 1995; J. R. LANCI, A New Temple for Corinth. Rhetorical and Archaeological Approaches to Pauline Imagery, Studies in Biblical Literature 1, New York 1997; CHR. VOM BROCKE, Thessaloniki - Stadt des Kassander und Gemeinde des Paulus. Eine frühe christliche Gemeinde in ihrer heidnischen Umwelt, WUNT 2/125, Tübingen 2001; D. GEORGI, Aeneas und Abraham. Paulus unter dem Aspekt der Latinität?, ZNT 10,2002,37-43. 20 H. KÖSTER, Archäologie und Paulus in Thessalonike, in: L. Bormann / K. Del Tredici / A. Standhartinger (Hg.), Religious Propaganda and Missionary Competition in the New Testament World. FS D. Georgi, NT.S 74, Leiden 1994,393-404: 404 erinnert daran, daß jüdische wie christliche Religion wesentlich auf die übergreifenden Phänomene reagieren. Man wird das Partielle und das Generelle im Auge haben müssen. 21 Frühjüdische und altkirchliche Autoren konnten dies aufgrund ihrer Prämissen nur als Widerlegung des Wahrheitsanspruches nicht jüdischer und nichtchristlicher Religion ansehen Gosephus, Ap., 2,66; Justin, 1 apoI24,2; Athenagoras, leg. 14). Systemimmanent ist anders zu urteilen. 22 Vgl. Seneca, Marc Consolll,3; Plutarch, Mor 394 c. 23 Das Bewußtsein einer "Einheit" der hellenischen bzw. römischen Götter wurde aktuell in der Auseinandersetzung mit dem Judentum (vgl. Josephus, Ap 1,66) und dem Christentum (vgl. Plinius, Ep. 10,97,1: dei nostri; Lukian, Peregr Mort 13: die hellenischen Götter).
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deren bereits bestehenden Bindungen hinzugenommen haben24 . Umgekehrt konnten später die Funktionen der oft nur summarisch genannten Götter auf den einen Gott des Himmels und der Erden übergehen. Antike Kulte haben auf die Herausforderungen der Individualisierung und der Globalisierung Antworten bereitgestellt im Sinne der Kontingenzbewältigung, der Daseins- und Handlungsorientierung und im Sinne der sozialen Erfahrung. Einige Verweise müssen genügen: Zur Kontingenzbewältigung gehört die Einschätzung der Götter als Förderer der salus privata25 ebenso wie die überregionale Verbreitung wichtiger Kulte, die dem Angehörigen eine religiöse Heim~t auch in der Fremde boten 26 . Auf das Feld der Daseins- und Handlungsorientierung verweisen Plutarchs Zeugnis darüber, von den Dionysosmysterien seine Unsterblichkeitshoffnung bezogen zu haben27 , sowie Ciceros Bemerkung, die Mysterienkulte hätten "die unkultivierte und rohe Menschheit zur Humanität und Zivilisation geführt, ihr Lebensprinzipien an die Hand gegeben und sie gelehrt, in Freude zu leben und mit besserer Hoffnung zu sterben"28. Soziale Erfahrungen und ökonomischer Nutzen konnte die Zugehörigkeit zu einem der diversen collegia nahe legen, denen allein schon auf Grund der miserablen Lebensbedingung der vorindustriellen Stadt die Rolle sozialer Netzwerke zukam29 . Dabei war neben den Mysterienkulten die Verehrung der angestammten Gottheiten durchaus lebendig. Abschied zu nehmen gilt es einem Teil der neueren althistorischen Forschung zufolge von 24 So die Vermutung bei A. FELDTKELLER, Identitätssuche des syrischen Urchristentums, NTOA 25, Freiburg/CH 1993, 56; ähnlich Stegemann, Christentum (s. Anm. 13), 67: "Daß ein und dieselbe Person sog. jüdische, christliche und pagane Praktiken und Überzeugungen nebeneinander durchführen konnten, scheint mir ernsthafter Vermutung wert"; vgl. aber schon Walter, Christusglaube (s. Anm. 14), 103: Auch der christliche Gott und Christus wurden unter "die Götter" eingereiht. 25 V gl. den Dank des römischen Matrosen Apion an seinen "Herrn Serapis" für die Rettung aus Seenot (abgedruckt bei A. DEISSMANN, Licht vom Osten. Das Neue Testament und die neuentdeckten Texte der hellenistisch-römischen Welt, Tübingen 41923, 147) sowie die Bitte Plinius' d. J. für seinen Freund Titius Aristo in Krankheitsnot (Plinius, Ep 1,22,11). Hierher gehört aber auch die Inanspruchnahme eines Orakels; vgl. dazu R. BAUMGARTEN, Heiliges Wort und Heilige Schrift bei den Griechen. Hieroi Logoi und verwandte Erscheinungen, ScriptOralia 110, Tübingen 1998, 37. 26 Vgl. das Bekenntnis des mittlerweile nach Rom übersiedelten Lucius "eram cultor (sc. Isidis) denique adsiduus, fani quidem advena, religionis autem indigena" (Apuleius, Metam 11,26,3), und die Feststellung, seine Gefolgschaft des Isis- und des Osiriskultes bedeute "summum peregrinationi meae ... solacium" (Apuleius, Metam 11,28,6). Das gesamte. 11. Buch dieses Werkes von Apuleius ist mehr als nur Beleg für die Mysterienformel Metam 11,23,5-7. 27 Plutarch, Mor 10, 611 D. 28 Cicero, Leg 2,36; vgl. auch Diodorus Siculus 5,49,6. 29 A. BENDLIN, Gemeinschaft, Öffentlichkeit und Identität. Forschungsgeschichtliche Anmerkungen zu den Mustern sozialer Ordnung in Rom, in: U. Egelhaaf-Gaiser / A. Schäfer, Religiöse Vereine in der römischen Antike. Untersuchungen zu Organisation, Ritual und Raumordnung, ST AC 13, Tübingen 2002, 9-40: 33, in Bezug auf die Stadt Rom. Der Befund dürfte wohl zu verallgemeinern sein.
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der wohl in einem religions geschichtlichen Entwicklungsdenken des 19. J ahrhunderts befangenen Vorstellung30 der "Verkalkung des Heidentums"31. Auch für die soziopolitische Führungsschicht der Prinzipatszeit nahmen die großen römischen Staatsgötter als Garanten der salus publica wie der salus privata einen beherrschenden Raum ein 32 , wie die vielen privaten Dedikationen deutlich machen 33 . Die Religionspolitik etwa bei Augustus und N ero zeigt, daß beide zumindese 4 bei der plebs die Verehrung bestimmter Gottheiten als einen nicht zu unterschätzenden Bestandteil der sozialen und religiösen Selbstdefinition des Volkes erachteten35 • Später wurde gerade von der traditionellen Religion aus der antike Kampf gegen das Christentum durchaus wirksam geführt36 • Was wir diachron als interne Verschiebungen der religiösen Orientierung innerhalb des lokal und regional gegliederten Pantheons wahrnehmen, blieb für Juden und Christen in der Einschätzung der nicht jüdischen und nichtchristlichen Umwelt ohnehin folgenlos. Im übrigen zeigt sich bei Tacitus 37 und bei JuvenaP8, wie das Wertesystem des mos maiorum beurteilungsleitend bleiben kann, auch wenn die zugrundeliegenden religiösen
3D North, Roman Religion (s. Anm. 15),68. 3( D. FLACH, Die römischen Christenverfolgungen. Gründe und Hintergründe, Historia 48, 1999,442-464: 459. - Nach U. Egelhaaf-Gaiser ist persönliche Frömmigkeit als Triebfeder menschlichen Handelns auch in griechischer und lateinischer Literatur fest etabliert; vgl. U. EGELHAAFGAISER, Wohnen bei den Göttern. Zur Lebensqualität und persönlichen Religiosität des niedrigen Personals im Tempel, in: C. Batsch / U. Egelhaaf-Gaiser / R. Stepper (Hg.), Zwischen Krise und Alltag. Antike Religionen im Mittelmeerraum, Potsdamer Altertumswissenschaftliche Beiträge 1, Stuttgart 1999, 143-159. 32 W. ECK, Religion und Religiosität in der soziopolitischen Führungsschicht der Hohen Kaiserzeit, in: ders. (Hg.), Religion und Gesellschaft in der römischen Kaiserzeit, FS F. Vittinghoff, Kölner Historische Abhandlungen 39, Köln 1989, 15-51: 49, gegen K. LATTE, Römische Religionsgeschichte, HAW V,4, München 31976, 310. 3) J. RÜPKE, Die Religion der Römer, München 2001, 19. 34 W. SPEYER, Das Verhältnis des Augustus zur Religion, ANRW II 16,3, 1986, 1777-1805: 1799f.1805 hatte die Religionspolitik des Augustus völlig dem Aspekt der eigenen Legitimation subsumiert. 35 Vgl. E. SIMON, Die Götter der römischen Plebs, AA 1994, 149-158: 151.155. 36 Tertullian, apol. 24,1 (vgl. 6,9); Minucius Felix, Oct. 6,lf; vgl. die Anordnung der supplicatio im Herbst 249 durch Decius. 37 So tadelt Tacitus, wenn man unter Mißachtung göttlichen Rechtes die Ermordung eines Konkurrenten auf den Cäsarenthron vorbereitet (Tacitus, Ann 13,15) oder in einem Tempel Blut vergießt (Tacitus, Hist 1,40,2; 1,43,2), obwohl ihm die gegenwärtige römische Geschichte in manchem nur das Desinteresse der Götter an dem Geschick Roms zeigen kann (Tacitus, Hist 1,3,lf.; vgl. Tacitus, Ann 16,33). Die in Ann 1,3,1 angekündigten rühmlichen Ausnahmen von der allgemeinen Sittenverderbnis (Annalen und Historien zusammen lassen sieben Beispiele dafür laut werden) werden m. W. nirgends unmittelbar mit Bezug auf religiöse Motivationen erzählt, ein einziges Mal mit dem mos maiorum begründet (Tacitus, Hist 2,64,2). 38 Auch bei Juvenal bildet trotz der Kritik an den traditionellen Göttervorstellungen uvenal, Sat 2,127-132; 13,75-119) der mos maiorum den wichtigsten Orientierungs maßstab für das allgemeine sittliche Empfinden, das dem Leser die Zustimmung zu dem Urteil des Satirikers nahelegen soll.
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Vorstellungen und Vollzüge mit Skepsis betrachtet werden39 • Unter solchen Voraussetzungen hat das Christentum ähnlich wie auch andere Kulte wenig Chancen der Akzeptanz4o , denn der Berufung auf den mos maiorum hat das Christentum zunächst wenig entgegenzusetzen41. 2 Das 9hristentum in antiker Religionsphänomenologi~
Das Christentum wird in der Außenwahrnehmung42 am ehesten als ein privater Kultverein mit Einschlag eines Mysterienkultes um einen Vatergott und einen Kultheros Jesus Christus erschienen sein 43 • Analog sind die Freiwilligkeit der erst im Erwachsenenalter eingegangenen Bindung, die regelmäßigen Zusammenkünfte, das Gruppenethos des Vereins und bald auch seine innere Struktur, die Konzentration auf eine bzw. zwei Kultgottheiten, die Terminologie der Berufung44 und des' Vereinslebens 45 sowie das Bewußtsein, nicht aus eigener Kraft den rettenden Weg gefunden zu haben46 , und die strengere Ethik47 • Das Folgende wird nach der Zuordnung zu den Bereichen Ritus, Ethos, Mythos gegliedert, denn die Besonderheiten des Ritus sind am ehesten sichtbar.
39 Nach Auffassung der nicht jüdischen .und nichtchristlichen Antike besteht zwischen Skepsis und Leugnung durchaus ein Unterschied, während gerade die christliche Glaubensgewißheit den Nichtchristen kaum verständlich zu machen war (vgl. Flach, Christenverfolgungen [so Anm. 30], 462). Daß die Wendung pertinacia ... inflexibilis obstinatio bei Plinius, Ep 10,96,3 (vgl. Mark Aurel, ad se ipsum 11,3) in dem provozierenden Verhalten mancher Christen ihren Erlebnishintergrund hatte, betonen J. WALSH / G. GOTTLIEB, Zur Christenfrage im zweiten Jahrhundert, in: G. Gottlieb / P. Barcel6 (Hg.), Christen und Heiden in Staat und Gesellschaft des zweiten bis vierten J ahrhunderts. Gedanken und Thesen zu einem schwierigen Verhältnis, Schriften der Philosophischen Fakultäten der Universität Augsburg 44, München 1992,3-86: 26--29. 40 V gl. Tacitus, Ann 15,44 sowie J uvenal, 6,487-591 pauschal zur Hinneigung von reichen Frauen zu anderen exotischen Kulten. 41 Erst Tertullian, apol. 6,1-11, wird mit dem Vorwurf kontern, seine nichtchristlichen Gegner würden sich selbst nicht an den mos maiorum halten. 42 Die folgenden Ausführungen zielen nicht auf die Intention der damaligen christlichen Verkündiger, sondern auf das, was u. U. auch als arges Mißverständnis christlicher Botschaft zu beurteilen wäre, jedoch zugleich veranlassen konnte, das eigene Profil erkennbar und unterscheidbar zu präsentieren. 4J E. W. STEGEMANN / W. STEGEMANN, Urchristliche Sozialgeschichte, Stuttgart 1995,238 haben Analogien im wesentlichen zur städtischen Vollversammlung der freien Bürger und zum antiken O[KOC; benannt. An letzteres ist beim Gruppenethos zu .erinnern, bei ersterem ist am ehesten das Moment der offiziellen Aussendungen einschlägig (2 Kor 8,19; Apg 14,23), dessen ungewohnter Grad an überörtlicher Kommunikation für den Aufstieg des Christentums mitentscheidend war. Die meisten Analogien sind meines Erachtens jedoch bei den privaten Kultvereinen gegeben. 44 Pausanias, 10,32,13 für die Isismysterien. 45 Der Verein heißt manchmal ouvoöoc;, die Versammlung auch in paganen Texten ouvaywytl, seltener EKKATJOLa; Aufseher können E-ITLOKOlTOL heißen, Spaltungen heißen OXLo~ulLa etc. 46 Eph 2,8; EpPolyk 2,3; Apuleius, Metam 11,22,5. 47 Cicero, Leg 2,36; Apuleius, Metam 11,19,3.
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2.1 Der christliche Ritus Der Verzicht auf Götterbilder und auch der Verzicht auf materielle Opfer48 zumindest seitens der Heidenchristen 49 ist nur von Apologeten als Kennzeichnung der Zugehörigkeit der Christen zur geistigen Elite vereinnahmt worden; auch die wohlwollenderen Kritiker wie Galen rekurrieren nicht positiv daraufso. Das Gebet mit erhobenen Händen entspricht dem den olympischen Göttern geltenden Gebetsgestus. Omina waren wenigstens literarisch in Mk 15,38; Mt 2,1-12; Mt 27,51-54 und Lk 2,34f greifbar. Daß wir für die Frühzeit des Christentums von keinem privat motiviertem Gelübde eines Christen wissenS!, muß nicht viel besagen: Die einschlägigen Schriften spiegeln wenig von der religiösen Praxis des normalen Christen. Die Regelmäßigkeiten der Gemeindeversammlungen und ihre Häufigkeit kann aufgefallen sein, wohl kaum der Übergang vom Sabbat auf den ersten Tag der Woche. Ob und wie lange Christen außerhalb Israels den Sabbat als Ruhetag eingehalten haben, wissen wir nicht. Der Vorwurf der Arbeitsscheu begegnet meines Wissens nur gegenüber Juden. Die generelle Distanz zur Verehrung der Gottheiten der Stadt oder des Reiches ist den Nichtchristen schon immer aufgefallen. Den Inhabern der römischen Staatsrnacht eine allgemeine religiöse Toleranz zu attestieren, ist nach Einsicht neuerer althistorischer Forschung zu unpräzise s2 ; sinnvoller ist die Frage nach dem Grad der "exclusivity of the Roman system"S3. Warum einige der als unrömisch empfundenen Kulte s4 das Mißtrauen der römischen Staatsrnacht erregt haben, ist 48 T. SCHEER, Die Götter anrufen: Die Kontaktaufnahme zwischen Mensch und Gottheit in der griechischen Antike, in: K. Brodersen (Hg.), Gebet und Fluch, Zeichen und Traum. Aspekte religiöser Kommunikation in der Antike, Antike Kultur und Geschichte 1, Münster 2001,31-56: 43. 49 H.-J. KLAUCK, Die religiöse Umwelt des Urchristentums I, Stuttgart 1995,27 hält es für möglich, daß sich die aramäisch sprechenden Judenchristen anfangs weiterhin an den Tempelopfern beteiligten. 50 Gelegentlich wird das Christentum deshalb in eine Reihe mit anderen gottlosen und gesetzlosen Völkern gestellt; vgl. Kelsos, nach Origenes, Cels. 7,62; Minucius Felix, Oct. 8,4. 51 1 Clem 41,2 erwähnt Gelübdeopfer im Tempel zu Jerusalem (in der Rückschau), aber nur als Beispiel für die Notwendigkeit, eine gegebene Ordnung einzuhalten. 52 C. FRATEANTONIO, Autonomie der antiken Stadt und Zentralisierung religiöser Administration in der Kaiserzeit und Spätantike, in: Cancik / Rüpke, Römische Reichsreligion, 85-97: 86. 53 M. BEARD / J. NORTH / S. PRICE, Religions of Rome, Vol. I, AHistory, Cambridge 2000,212 (Hervorhebung im Original); dort auch zur Problematik der Anwendung des Toleranzbegriffes auf diese Epoche. 54 Nur die bekanntesten Repressionsmaßnahmen seien in Erinnerung gerufen: 213 v. Chr. wurden verdächtige Bücher konfisziert (Livius, 25,1,1lf.); 186 v. Chr. wurde der Bacchuskult mit rigiden Einschränkungen belegt; 139 v. Chr. wurden Chaldäer, mehrmals wurden Anhänger des Isiskultes und des jüdischen Kultes verboten; Augustus verbot die ägyptischen Gottheiten (Dio Cassius 52,36; 54,6.) Tiberius und Claudius vertrieben Anhänger des ägyptischen und des jüdischen Kultes aus der Stadt (für Tiberius vgl. Tacitus, Ann 2,85,4; Sueton, Tib 36; für Claudius vgl. Tacitus, Ann 11,15; Sueton, Claud 22; 25,8). Paulus wird in Philippi als Jude wegen der Propagierung unrömischer Gebräuche verklagt (Apg 16,20Q. Als Störung der öffentlichen Ordnung wurde das Christen-
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unter Aufnahme einer These John Norths mit dem Phänomen der Individualisierung von Religion zu erklären: Religion wird durch individuelle Erfahrung ausgelöst und über persönliche Entscheidung definiert; die Selbst definition des Individuums vollzieht sich über eine partikulare Gruppe, nicht über die Eingebundenheit in das imperium Romanum 55 • 2.2 Das christliche Ethos
Für den Bereich des Ethos legt sich die Unterscheidung zwischen praktiziertem und gelehrtem Ethos nahe. Nichtchristen werden zunächst eher das praktizierte Ethos wahrgenommen als das gelehrte Ethos begriffen oder gar verinnerlicht haben. Die gesellschaftliche Selbstisolation der Christen wird manches missionarische Hindernis bereitet haben 56 , das anderweitig zu kompensieren war, aber auch kompensiert werden konnte: Attraktiv konnte sein, daß man, ähnlich wie in einem privaten Kultverein oder einem Mysterienkult, unter Umständen einen neuen Sozialstatus innerhalb der neuen Gemeinschaft erlangen und sich als Patron einer neuen Gruppe betätigen konnte. Als Sklave konnte man vielleicht ein humaneres Verhalten s7 erleben, vorausgesetzt, die aus dem antiken olKoc; bekannten, aber im religiösen Vereinswesen unüblichen s8 Termini "Schwester" und "Bruder" wurden von den Christen tatsächlich ernst genommen59 • So konnte man darauf
turn offenbar von den Kontrahenten des Paulus in den 2 Kor 11,25 benannten Situationen empfunden; vgl. auch Sueton, Claud 25,8. 55 North, Roman Religion (s. Anm. 15), 66f.; vgl. Bendlin, Gemeinschaft (s. Anm. 29), 12f. Das politische Gefahrenpotential dürfte von der römischen Staatsmacht in aller Regel überschätzt worden sein. - Walsh / Gottlieb, Christenfrage (s. Anm. 39), 47 vermuten, daß sich Plinius durch die Anklagen gegen die Christen an den Bacchanalienskandal in der Darstellung des Livius erinnert fühlen konnte. 56 Einerseits wird diese Selbstisolation manche davon abgehalten haben, sich der christlichen Gemeinde anzuschließen, andererseits ist sie auch die äußere Voraussetzung für die Vorwürfe sittlicher Greuel (vgl. Tacitus, Ann 15,44; Athenagoras, leg. 3; Tertullian, apol. 7-9 u. ö.). 57 Humanität gegenüber Sklaven konnte philosophisch mit der Gemeinsamkeit der menschlichen Natur, christlich mit der Bruderschaft in Christus begründet werden. Christliche wie schon frühjüdische Apologetik beanspruchten eine größere Breitenwirkung im Vergleich zu derjenigen der Philosophie (vgl. Josephus 2,69; Justin, 1 apol. 60,11; 2 apo1.10,8; Tatian, orat. 32,1). 58 P. PILHOFER, llEP't tfiC;
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60 hoffen, in der Gemeindeversammlung vor der Bezeichnung putidissimus servus , als Haussklave bei einem christlichen Herrn vor sexueller Ausbeutung61 verschont zu bleiben. Manche Sklaven hofften wohl auch auf die finanzielle Unterstützung ihres Freikaufs durch die christliche Gemeinde 62 . Die Fürsorge für die Gefangenen, Witwen und Armen etc. ist durch nichtchristliche wie christliche Texte belegt63, Heilungs- und Wundererfahrungen dürften das ihre zur Ausbreitung des Christentums getan haben64 . So hat das Christentum gerade den nichttheologischen Faktoren 65 seinen (begrenzten Grad von) Erfolg der Verbreitung zu verdanken, denn das Christentum konnte ökonomisch durchaus attraktiv sein: Der Arme bekam regelmäßig am Herrentag etwas zu essen, und zwar ohne Aufnahmegebühr; der berufsbedingt Mobile fand kostengünstig Quartier66 . Geld brauchte man nur, wenn man Notleidende unterstützen wollte; Aufwendungen für materielle Opfer fielen weg. Auffällig und für den Nutznießer attraktiv kann das allgemein sozial verträgliche Verhalten eines Christen empfunden worden sein, das zu Sekundärkonversionen veranlassen konnte 67. Solch praktiziertes Ethos innerhalb der Gemeinde war nicht nur theologisch wünschenswert, sondern auch organisatorisch eine Überlebensfrage. Kompensieren mußte das Christentum die Erfahrung der gesellschaftlichen Ausgrenzung der Neubekehrten. Ferner hatte das Christentum als kleine Schar aus allen Stämmen . und Völkern und Nationen keine ethnisch oder in sonstiger Weise traditionell gegründete Basis, die als nichttheologischer Faktor zusätzlich zur Integration innerhalb der Gemeinschaft beitrug. Wenig attraktiv war das Christentum für traditionell verwurzelte Peregrinen 68 ; im Bezug auf die weniger traditionell Verwurzelten
Eine Analyse von I Cor. XI 17-34, NT 16, 1974, 179-206; J. MURPHY-O'CONNOR, St. Paul's Corinth. Texts and Archaeology, GNS 6, Wilmington 1983, 159-161). 60 Petronius, 34,5. 61 Seneca, Ep 47,10. 62 V gl. IgnPolyk 4,3. 63 Lukian, Peregr Mort 12-13 ; 1 Tim 5,3-16; Hebr 13,3; IgnPolyk 4,1; Did 12,3-5. 64 Vgl. Gal 3,1-5; Mk 9,14-29; Hebr 2,4 u. a. Zur Wirksamkeit christlicher Exorzisten noch in der Mitte des 3. Jahrhunderts vgl. Origenes, Cels. 1,6.46. 65 Vgl. A. TRIPOLITIS, Religions of the Hellenistic-Roman Age, Grand Rapids 2002, 147. Entsprechendes hat L. FELDMAN, Jew and Gentile in the Ancient World. Attitudes and Interactions from Alexander to J ustinian, Princeton 1993, 33M für die Motive der Konversion zum Judentum gezeigt. - Beim Christentum dürfte das Fehlen der für viele Nicht juden unver~tändlichen jüdischen Ritualvorschriften die Bedeutung der nichttheologischen Faktoren zusätzlich forcieren. 66 P. PILHOFER, Die ökonomische Attraktivität christlicher Gemeinden, in: ders., Die frühen Christen (s. Anm. 58), 194-211: 205-211. 67 Entsprechende Hoffnungen lassen 1 Kor 7,12-14 sowie 1 Petr 3,1 erkennen. 68 Vielleicht ist es kein Zufall, daß wir in der neutestamentlichen Prosopographie der Stadt Rom wie der Stadt Korinth trotz der für Rom von P. Lampe festgestellten hohen Zuwanderungsrate aus dem Osten noch keine ägyptischen bzw. orientalischen Namen finden (P. LAMPE, Die stadtrömi-
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mußte es wiederum mit Mysterienkulten und anderen Kultvereinen konkurrieren 69 • Hinsichtlich des von den Christen gelehrten Ethos reicht die Bandbreite der Außen wahrnehmung von dem Vorhalt des Kelsos, Christen würden im U nterschied zu den Mysterienkulten auch. ethisch minderwertige Subjekte bei sich aufnehmen 70 , bis hin zu Galen, der den Christen ein Ethos bescheinigt, das an sittlicher Höhe dem der Philosophen in nichts nachstehe, freilich auf unphilosophischem Wege, nämlich mit ständigem Verweis auf eine heteronome Autorität gewonnen werde 71 • Diese Außen wahrnehmung bestätigt sich gelegentlich hinsichtlich der T erminologie 72 , häufiger hinsichtlich der Inhalte 73 , der Begründungen74 und der Verbindlichkeies christlicher Forderungen, wobei die intellektuelle Höhe schen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten. Untersuchungen zur Sozialgeschichte, WUNT 2/18, Tübingen 21989, 138Q. 69 Apuleius, Metam 11,28,5. 70 Nach Origenes, Cels. 3,59. - Allerdings sieht sich der Verfasser des Ersten Petrusbriefes in 1 Petr 4,15 zur Klarstellung genötigt, daß ein Christ nur dann auf den Durchgang vom Leiden zur Herrlichkeit mit Christus hoffen darf, wenn er nicht als Mörder oder Dieb oder Übeltäter leidet; vgl. Justin, 1 apol. 16,14. . 71 R. WALZER, Art. Galenos, RAC 8, 1962, 777-786: 782f; zur unphilosophischen christlichen Herleitung ethischer Maximen vgl. B. SCHWENK, Hellenistische Paideia und christliche Erziehung, in: C. Colpe / L. Honnefelder / M. Lutz-Bachmann (Hg.), Spätantike und Christentum. Beiträge zur Religions- und Geistesgeschichte der griechisch-römischen Kultur und Zivilisation der Kaiserzeit, Berlin 1992, 141-158: 157. 72 Die christlichen Zentralbegriffe IJ.EtavOLa. und ElTLOtPEELV begegnen jeweils nur" in einem Beleg; für IJ.EtavOLa. vgl. Ps.-Kebes 10f.; von der Reue über einzelne Akte eigenen Fehlverhaltens begegnet der Begriff an einigen Stellen bei Plutarch; ElTLOtPEELV begegnet bei Epiktet, Diss II 20,22 i. S. der Bekehrung, steht ansonsten meistens für "sich mit etwas beschäftigen". 73 Ähnlich wie die Philosophie verlangt auch das Christentum von den neugewonnenen Anhängern eine völlige Abkehr von der bisherigen Lebensweise (vgl. Epiktet, Diss IV 2,1 mit 1 Petr 4,2) und führt zu den selben Tugenden (in der Ablehnung der ElTL9u1J.La. konvergieren griechische Philosophie und jüdische Geistigkeit, die die Anfangsworte von Ex 20,17 als generelles Verbot der Begierde auffaßt), macht damit aber in den Augen von Außenstehenden den christlichen Offen barungsanspruch hinfällig (Origenes, Cels. 1,4; Tertullian, apol. 46,2). Jüdisch-christliche Sexualethik erinnert im generellen wie im einzelnen (etwa das Verständnis der lTOPVELa. als Sünde gegen den eigenen Leib betreffend) an analoge Aussagen bei Musonius Rufus, Diss 12; vgl. dazu D. ZELLER, Konkrete Ethik im hellenistischen Kontext, in: J. Beutler (Hg.), Der neue Mensch in Christus. Hellenistische Anthropologie 'und Ethik im Neuen Testament, QD 190, Freiburg 2001, 82-98: 94f. Musonius wird ähnlich wie Seneca als Beispiel sittenstrengen Wandels gelegentlich auch von Christen des 2. und 3. Jh. anerkannt; vgl. Justin, 2 apol. 7 (8),1; Origenes, Cels. 3,66. 74 Justin zitiert als Einwand der Philosophen, die Christen empfehlen die Tugend um der Gottesfurcht willen, nicht deshalb, weil tugendhaft zu leben an sich schön und beglückend sei Gustin, 2 apol. 9,1). Für Kelsos ist im Gefolge der antisophistischen Polemik Platons (Platon, Grg., 454c455a) die christliche lTLOnc; eine unphilosophische Haltung (vgl. Origenes, Cels., 1,9; 6,7; 6,8; 6,11). 75 Für griechisch-philosophische Sexualethik ist das Maß der Aktivierung von Sexualität nicht die Einhaltung einer heteronomen Norm, sondern die stete Herrschaft über sich selbst, die aber nicht immer den völligen Triebverzicht erzwingt. Plutarch kann Päderastie im Hinblick auf die Förderung junger Menschen durch Philosophen bei aller Skepsis für möglich halten (plutarch, Mor 11 E).
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der philosophischen Diskussion christlicherseits lange Zeit nicht erreiche6 und wohl auch nicht immer erstrebt wird. 2.3 Der christliche "Mythos"
Einzelne christliche Begriffe und Vorstellungen, die das Gottesbild und die Gottesbeziehung betreffen, sind auch einem nicht jüdischen Nichtchristen nicht unverständlich - etwa die Begriffe 1Tl.Onc;77, EA1Tl.C;78, UI-.uXp"Cl.U 79 und !lnavol.uso sowie der Begriff der XaPLC; im Sinne der Beförderung der Wohlfahrt des einzelnen bzw. der GemeinschaftS!, die Beziehung des göttlichen "Willens" auf individuelle Schicksales2 , die Konzentration religiösen Erlebens auf die Sphäre der salus privataS\ der Zusammenhang zwischen Nachahmung des Göttlichen und Wohlverhaltens4, zwischen Verachtung des Göttlichen und ethischem Fehlverhaltens5 • Daß der Begriff des Neides der Götter fehlt, hat Parallelen in der nichtchristlichen Antike da, wo Gott grundsätzlich als gut gedacht wird s6 • Christliche Rede vom Zorn Gottes wird den Heiden an die staatliche Theologie erinnern 87, ihn allerdings hinIn jüdisch-christlicher antiker Ethik sind diese Praxis und ihre Rechtfertigung gleichermaßen inakzeptabel. 76 Die Verbreitung des Christentums fast ausschließlich in den nichtphilosophischen Schichten war denn auch lange Zeit ein seine Ausbreitung hemmender Faktor; vgl. Kelsos, nach Origenes, Cels. 3,44; Lukian, Peregr Mon 13. - Christen mit römischem Bürgerrecht werden, von Paulus (Apg 16) abgesehen, m. W. erstmals bei Plinius, Ep 10,96,4 (ohne Nennung einzelner Namen) für Bithynien erwähnt. 77 Der Begriff umschreibt und anderen bei Plutarch, Mor 170 F die Annahme, daß es Götter gibt; an seiner Stelle steht z. B. in Mor 165 B o'LOj..I.IU, in Mor 169 F VOj.1L(W. Der neutestamentliche Begriff geht darin nicht auf, kann aber ebenfalls das Moment der Anerkennung eines vorgegebenen Sachverhaltes (Röm 10,9) implizieren. 78 Vgl. Cicero, Nat Deor 1,116; Plutarch, Mor 26, 1104 c (in beiden Fällen in antiepikureischer Polemik); ohne diesen Bezug: Plutarch, Mor 168 F. 79 Vgl. Plutarch, Mor 168 D. 80 Vgl. das lateinische Äquivalent paenitentia bei Plinius, Ep 10,96,10; 10,97,1. 81 2 Kor 1,15; 8,1; 9,8. Auffällig ist allerdings, daß die Gottesprädikation ElTIIK01JWV (der Gott, der erhört) im Neuen Testament nur in 2 Kor 6,2 in einem Zitat ausJes 49,8 LXX begegnet. 82 Vgl. Lk 22,42; Jak 4,15. Doch sind, so Scheer, Götter (s. Anm. 48), 33 die homerischen Götter nicht allmächtig. Umgekehrt fehlt in christlicher Literatur der Begriff der 'tUXll; von der paganen Überwindung des blinden Schicksals vgl. Apuleius, Metam 11,15,1-5. 83 Vgl. Apuleius, Metam 11, 15,1-5; 30,1-5. 84 Vgl. Eph 5,1 mit Musonius, Diss 8 (ed. Hense, 37: der König als (llAW'tllC; des Zeus) und Diss 17 (ed. Hense 90: der Mensch als j.1Lj.1llj.1IX. Gottes hinsichtlich der Tugenden), wie denn die Mahnungen an den Statusüberlegenen mit dem Hinweis auf seine Unterlegenheit unter Gott (Kol 4,1; Eph 6,9; vgl. Jak 3,1) begründet werden können. Im christlichen Sprachgebrauch der "Nachahmung" tritt freilich das Moment des Gehorsams stärker hervor. 85 Dio Chrysostomus, Or 12,36f mit antiepikureischer Polemik. 86 Plutarch, Mor 167f. 87 Für den speziellen Gedanken aus Röm 1, daß der Zorn Gottes gerade darin besteht, die Menschen in ihrem gemeinschaftsschädigenden Verhalten zu belassen, vgl. T acitus, Ann 4,1. - Für das düstere Sittenbild von Röm 1 werden im allgemeinen die Erfahrungen des Paulus in Korinth als
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sichtlich ihrer individualethischen Ausrichtung irritieren; immerhin hat D. Zeller Parallelen aus römischer stoisch geprägter Literatur für das Verständnis der EKlT\JpWOI.C; als göttliches Gerichtshandeln beigebracht 88 • Die christliche Grundaussage vom Tod Jesu für unsere Sünden und von seiner Auferweckung kann "in heidenchristlichen Gemeinden in Analogie zurp lEPOC; AOYOC; von Mysteriengöttern verstanden, ... die sakramentale Aneignung des Heils in Taufe und Abendmahl. .. von ähnlichen Mysterienriten her gedeutet" worden sein 89 • Andererseits rief der Kreuzestod als Strafe für Verbrecher und entlaufene Sklaven in heidnischer Umgebung b~i Tacitus Abscheu, bei Kelsos Verachtung, bei Lukian bloßen Spott gegenüber dem Christentum hervor9o • Eine positive Analogie zwischen Jesus und Sokrates haben meines Wissens nur christliche Apologeten festgestellt 9I, nicht die paganen Autoren 92 • Den inneren Widerspruch zwischen dem angeblichen christlichen Monotheismus und der hohen Christologie hat Kelsos bemerkt93 •• Die christliche Hoffnung auf Unsterblichkeit konnte für Nichtchristen attraktiv wirken, das boten jedoch auch andere, wenngleich nicht alle Mysterienkulte94 • Die Verbreitung solcher Hoffnung sollte man aber, so zeigt der epigraphische Befund, nicht überschätzen. Auch Philosophie als Lebenskunst lehrt nicht die Unsterblichkeits hoffnung, sondern will die Furcht vor dem Tode nehmen, und das über Schuldifferenzen hinweg95 • Epiktet kann seinen Kyniker als prägend benannt. Rezeptionsästhetisch mag Röm 1 gerade in Rom durchaus unter eigenem Gesichtspunkt zu würdigen sein. 88 D. ZELLER, Der Untergang der Gestirne in jüdisch-christlicher und stoischer Sicht, in: ders. (Hg.), Religion im Wandel der Kosmologien, Religionswissenschaft 10, Frankfurt/M. 1999, 191201: 195f. 89 D. ZELLER, Art. Mysterien / Mysterienkulte, TRE 23, 1994, 504-526: 520; vgl. auch C. MARKSCHIES, Zwischen den Welten wandern. Strukturen des antiken Christentums, Frankfurt/M. 1997, 227, der aber auch auf die Bemühung um die "vernünftig-wissenschaftliche Durchdringung dieses Mythos" verweist; zur möglichen Außenwirkung des Christentums i. S. einer Mysteriengemeinschaft vgl. Lukian, Peregr Mort. 11; Kelsos, bei Origenes, Cels. 6,24; Minucius Felix, Oct. 9. Daß in christlicher Apologetik die nichtchristlichen Mysterien als Nachäffung der christlichen erklärt werden (vgl. Justin, 1 apol. 20-21; Firmicus Maternus, err., 18-26), ist inhaltlich unsinnig, setzt aber doch strukturelle Vergleichbarkeit voraus. 90 Tacitus, Ann 15,44 (vgl. schon die politische Apologetik in Lk 23,1-25); Kelsos, nach Origenes, Cels. 7,53; Lukian, Peregr Mort 13; Dial Mort;-14. Auch Hebr. 2,5-18 insgesamt hat m. E. die antike Infragestellung des Christentums' wegen des Todesgeschickes J esu vor Augen; zur Kritik an der niederen und zweifelhaften Herkunft J esu vgl. wiederum Kelsos (nach Origenes, Cels. 1,32). 91 Justin, 1 apol. 5,3f; 2 apol. 10,5; Origenes, Cels. 2,17. . 92 Kelsos hat nur im Auge, daß die christliche Strategie der Geheimhaltung ihres Tuns und ihrer Lehre der Abwehr einer dem Schicksal des Sokrates vergleichbaren Todesgefahr diene (nach Origenes, Cels. 1,3). 93 Nach Origenes, Cels. 8,12. 94 Die Kulte der samothrakischen Mysterien und des Mithras beinhalteten diese Vorstellung nicht. 95 Zur epikureischen Tradition vgl. Diogenes Laertios 10,124-127; für die stoische Tradition vgl. Musonius Rufus, Diss 8 (ed. Hense, 35); Diss 17 (ed. Hense, 91f). - Für Seneca ist die Unsterblich-
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Gesandten des Zeus portraitieren, die Menschen aufzuklären über Gut und Böse96 , doch er legt ihm die Worte in den Mund: "Meine Aufgabe... ist der rechte Gebrauch meiner Vorstellungen. Der elende Körper geht mich nichts an. Seine Glieder gehen mich nichts an. Der Tod? Mag er kommen, was er will, sei es für den ganzen Menschen oder eins seiner Glieder!"97 So stellt in Epiktets Augen die Sorge um die eigene Sterblichkeit oder Unsterblichkeit letztlich eine unphilosophische Haltung dar. Entsprechend bot die christliche Unsterblichkeits hoffnung immer wieder Anlaß zu Polemik98 und war die Außenwirkung christlicher Martyrien nicht nur werbend99 , wie zumeist betont, sondern auch abstoßend 10o • 3 Die Antworten des antiken Christentums 3.1 Partizipation und Distanz im Verhältnis zu den nichtchristlichen Antworten
Die Beschreibung der christlichen Antworten auf die Herausforderung der Antike beginnt wiederum zunächst bei dem äußerlich Sichtbaren, um dann die Identität des Christentums inmitten seiner Pluralität hinsichtlich ihrer normierenden Rolle zu erörtern. Die in der Außenansicht zugänglichen Antworten lassen sich aufgliedern nach Partizipation und Distanz. Parallelen zwischen nichtchristlichen und christlichen Aussagen gibt es in den Fragen der Verunsicherung aufgrund der gesellschaftlichen Isolation, die ange. sichts des exklusiven Monotheismus und der fehlenden ethnischen Bindung zusätzlich v~rschärft ist, der Kontingenzbewältigung und der Daseins- und Handlungsorientierung. Als Antworten auf die genannte Verunsicherung sind meines Erachtens die Hinweise auf die Größe des Christenstandes in Eph 3,1-13; 1 Petr 1,10-12; 2,1-10 zu deuten, die für die Adressaten anders als für uns heute ohne jeden äußerlich
keitshoffnung eine philosophische Möglichkeit, aber deren Akzeptanz ist nicht Bedingung für ein philosophisches Existenzverständnis (Seneca, Ep 102, 22f.30). 96 Epiktet, Diss III 22, 23. 97 Epiktet, Diss III 22, 20f. 98 Die Grundzüge dieser Polemik: Leibliche Auferstehung von den Toten ist analogielos (rheophilos, Autol. 1,13,1; Justin, 1 apol. 19,3), töricht (ratian, orat. 6,3), unlogisch (Minucius Felix, Oct. 11,1-3), empirisch zu widerlegen (Athenagoras, res. 4), unvorstellbar (die Frage aus 1 Kor 15,35: "mit welchem Leib werden die Toten auferstehen?", wird noch bei Minucius Felix, Oct. 11,7 dem Nichtchristen Caecilius in den Mund gelegt), und sie ist eine Erfindung der Dichter, die sich die Christen zunutze machen (Minucius Felix, Oct. 11,9). 99 Justin, dial. 110; Irenäus, haer. 4,33,9; Diogn 7; Origenes, Cels. 7,26; Lactantius, inst. 5,19,9. 100 Epiktet, Diss IV 7,6; Mark Aurel, ad se ipsum 11,3; Lukian, Peregr Mort 13. Dies gilt trotz der Philosophen martyrien etwa eines Sokrates (vgl. Platon, Ap 29c) oder Helvidius Priscus (nach Epiktet, Diss I 2,19) und anderen - A. D. NOCK, Conversion. The Old and the New in Religion from Alexander the Great to Augustine of Hippo, Oxford 1933, 199 verweist zusätzlich auf das Zeugnis der zum Tod um ihrer standhaften Treue bereiten Leukippe bei Achilies Tatius 6,20f.
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vermittelbaren Erlebnishintergrund bleiben mußten - christliche Sakralbauten, die ein solches christliches Selbstverständnis zugleich prägen wie nach außen widerspiegeln, sind für die Frühzeit archäologisch nicht nachweisbar. "Priester und Könige" zu werden, war den Christen des Ersten Petrusbriefes in ihrer Lebenswelt als Möglichkeit verschlossen, die Begriffe definieren für die Adressa~en einen hohen Status in einer GegenwelL Überlebensnotwendig war, wie bereits betont, eine funktionierende Gemeinschaft, die auch neue soziale Erfahrungen ermöglichte; die Schärfe der Ausführungen in 1 Kor 11,17-31; Jak 2,1-4 wird von daher verständlich. . Zur Kontingenzbewältigung trägt es bei, daß der Christ ähnlich wie der Isismyste des Apuleius in einen neuen Lebenszusammenhang hinein integriert wird, demgegenüber sonstige Bindungen an Bedeutsamkeit verlieren 1ol . Ferner bilden Texte wie 2 Kor 1,8-10 und Phi m 22 neutestamentliche Analogien zu der gängigen antiken VorstellunglOZ, daß ein Gott seinen Verehrern auch als persönliche Schutzgottheit nahestand, zu der man auch wegen der Belange irdischen Lebens beten konnte 103 . Daseins- und Handlungsorientierung wird in Form einer bei Paulus grundgelegten und vor allem in den neutestamentlichen Spätschriften dominierenden Soteriologie geleistet, die mit Hilfe der frühjüdischen Entgegensetzung zwischen J udenturn und Nicht judentum die heidenchristlichen religiösen Voraussetzungen der Adressaten bearbeitet. Ihr entspricht das altkirchliche sofa gratia l04 : Erlösung in Christus ist ungeschuldete Zuwendung Gottes; und in diesem Horizont ist die Vergebung meiner Sünden, die ich durch meine heidnische Vergange"nheit in U nkenntnis Gottes getan habe, Übergang von der Finsternis zum LichtlOS, Erlösung von einem Leben in Orientierungsiosigkeie06 zu einem Leben, das an sittlicher Qualität dem von wirklichen Philosophen in nichts nachsteht 107 . Werden einzelnelOs nicht jüdische und nichtchristliche religiöse Grundbefindlichkeiten im Neuen
Vgl. die Vorstellung der "neuen Familie Jesu" in Mk 3,31-35 parr. Apuleius, Metam 11,15,3: Eine sehende als Ersatz für die blinde Fortuna ist Isis dem Lucius geworden. 103 Vgl. Plinius, Ep 1,22,11 sowie in der Rückschau Minucius Felix, Oct. 7,6. 104 Vgl. Eph 2,8f; 2 Tim 1,9f; Tit 3,5. 105 Eph 5,8; 1 Petr 2,9; Cyprian, ad Donat. 3-5; vgl. aber schon 1 Thess 5,4; 2 Kor 6,14. 106 Vgl. Tit 3,3; Justin, 1 apol. 14,1; 2 Clem 1,4-8. 107 Vgl. Justin, 2 apol. 9; T ertullian, apol. 46,2. 108 Nichtjüdische und nichtchristliche Grundbefindlichkeiten werden keineswegs durchgehend aufgegriffen. Die neutestamentlichen Autoren entwickelten ihre Gedanken von ihrem Eigenem aus, wie etwa die unkommentierte Einfügung apokalyptischer Gestalten und Motive im Ersten Thessalonicherbrief zeigt. Hebr 11 und später durchgehend der erste Clemensbrief schöpfen ihre Orientierungsbeispiele aus der Heiligen Schrift Israels; der sich so entwickelnde christliche "Bildungsschatz" macht den Rekurs auf nichtbiblische Traditionen zu einer Sache der Freiwilligkeit; vgl. allerdings C. 101
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Testament aufgegriffen, so unterstreichen die Hoffnungsbegriffe die Herrlichkeit des Christentums, die ethisch relevanten Begriffe die Schärfe seines Anspruches. Letzteres gilt für das Menander-Zitat in 1 Kor 15,33 ebenso wie für das AratosZitat in Apg 17,28, das im Kontext der Areopagrede den Menschen gerade aufgrund seiner Gottesverwandtschaft zur Umkehr hin zu dem christlichen Gott führen soll - ähnlich wie der Paulus der Pastoralbriefe, der Modellfall eines bekehrten Heiden, im Rückblick auf seine Vergangenheit in 1 Tim 1,13 nicht umsonst als UßPL01:TV; bezeichnet wird. Rezeptionsästhetisch im selben Sinne wirken Konzepte, die, ursprünglich wohl auf frühjüdischem Hintergrund entwickelt, doch auch dem Heidenchristen verständlich waren wie etwa das Bild der Heiligkeit des Tempels (1 Kor 3,16f; 6,19), das den ehemaligen Heiden an die antike Grundunterscheidung zwischen Sakral und Profan erinnerte. Die Selbstverteidigung des Paulus in 2 Kor 1,12-22 wird theologisch von dem Gedanken in Vers 19 geprägt, daß sich der Inhalt der Verkündigung des Apostels auch in seinem persönlichen Verhalten niederschlagen muß; die Adressaten in der Colonia J ulia Laus Corinthiensis konnten zusätzlich die alt römische fides-Vorstellung assoziieren. Die Schelte des Jakobus hinsichtlich einer verkehrten inneren Einstellung beim Gebet hat ebenfalls ihre paganen Parallelen 109 • Für die zuerst genannten Hoffnungsbegriffe mögen stellvertretend die Begriffe des "unvergänglichen Erbes" (1 Pt 1,4) und der "himmlischen Berufung" (Hebr 3,1) stehen, ebenso die Vorstellungen von der Unvergänglichkeit und Unsterblichkeit (1 Kor 15,53f.) und von der "Teilhabe an der göttlichen Natur" (2 Pt 1,4). Nach den Analogien ist nunmehr auch die Distanz der christlichen zur nichtchristlichen Situationsbewältigung zu benennen, zumeist begründet in der Exklusivität des christlichen Monotheismus und seiner ethischen Verbindlichkeit. Der christliche Gott will nicht als zusätzliche Bindung gelten, wie gerade fromme römische Gesinnung denken konnte, in der Intention, alle vorhandenen Bindungen zu rezipieren 110. Ferner ist dem Christentum eine enge Verzahnung von Theologie und Ethik eigen, die für Nichtchristen möglich, aber nicht zwingend ist. Das Christentum partizipiert an dem Sprachschatz griechischer Sprichwörter und sprichwörtlich benutzter Metaphern, greift aber gemäß seinem Gottesbild vornehmlich diejenigen Motive auf, "welche die Grenzen menschlicher Möglichkeiten dokumentieren "111.
MARKSCHIES, Lehrer, Schüler, Schule. Zur Bedeutung einer Institution für das antike Christentum, in: U. Egelhaaf-Gaiser I A. Schäfer, Vereine (s. Anm. 29), 97-120: 102-112. 109 Aus der Literatur der Prinzipatszeit vgl. Horaz, Sat 1,16,57-62; Sat 2,6,8-13; Persius, 2,5-16. 110 Valerius Maximus 1,1; vgl. Minucius Felix, Oct. 6,lf. 111 P. POKORNY, Griechische Sprichwörter im Neuen Testament, in: ders. I J. B. Soucek, Bibelauslegung als Theologie, hg. v. P. Pokorny, WUNT 100, Tübingen 1997, 147-153: 153.
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Für das Christentum war es aufgrund des Monotheismus und der Ethik gefordert, verschiedene religiöse Bedürfnisse zu integrieren, ihre Befriedigung nicht zu fragmen tieren. Die jüdische Gleichung Heidentum gleich Unkenntnis Gottes gleich Torheit gleich sittliche Verfehlung galt auch im Christentum weiter (1 Thess 1j9f; 4,1-8; Röm 1,18-32 u. a.). So mußten die Christen einerseits dessen versichert werden, daß sie tatsächlich die richtige Entscheidung getroffen hatten, andererseits an die hierin implizierte ethische Verpflichtung erinnert werden. Dem Christentum waren wie dem Judentum ethisch bedingte Verzichts leis tungen hinsichtlich der Erlebnisformen religiöser Feiern auferlegt; den zahlreichen Kultvereinen gerade des Dionysos hatte es nichts Vergleichbares entgegenzusetzen. Diese Verzichts leistungen mußten, aber konnten auch kompensiert werden durch eine Deutung christlicher Ethik im Sinne einer Annäherung an Ideale frühjüdischer Selbstunterscheidung von den Nicht juden, die zugleich die Ideale der philosophischen Eliten in ihrer Selbstunterscheidung von der Masse einschlossen l12 • Was in 1 Thess 4,5 noch als Anspruch an die Christen formuliert wird, ist in späterer christlicher Literatur Bestandteil ihres stolzen Selbstbewußtseins: Sie sind das Licht für die Heiden t13 , die Seele im Leib der Welt l14 • Dieses Ineinander von Analogie und partieller Abgrenzung führt auf die Frage nach der Identität des Christentums, der sich die ersten Zeugen Christi verpflichtet wußten. 3.2 Der Kern christlicher Identitiit
Für die naheliegende Frage nach dem Kern christlicher Identität inmitten aller Pluralität in der Sicht der neutestamentlichen Autoren reicht als Antwort der Verweis auf die Bindung an die Person J esu Christi nicht aus; zu Recht werden zunehmend heilsgeschichtliche 115 , ekklesiologische 116, eschatologische tt7 und ethische 118 Bezüge ergänzt. Das hat bei Unterschieden im einzelnen auch Eingang ge112 Am deutlichsten differenziert Lukas in der Wahrnehmung der verschiedenen Formen antiker Religion, wie der Vergleich von Apg 14,15-17; 16,16--18; 17,18-31 zeigt. 113 Barn 14,7-9. 114 Diogn 6,1. 115 L. GOPPELT, Theologie des Neuen Testaments, hg. v. J. Roloff, Göttingen 31978,50. 116 F. HAHN, Vielfalt und Einheit des Neuen Testaments. Zum Problem einer neutestamentlichen Theologie, BZ 38, 1994, 161-173: 171. 117 H. CONZELMANN, Grundriß der Theologie des Neuen Testaments, 4. Aufl., hg. v. A. Lindemann, Tübingen 1987, 49-54; Hahn, Vielfalt (s. Anm. 116), 171; P. STUHLMACHER, Biblische Theologie des Neuen Testaments. Bd. 2: Von der Paulusschule bis zur Johannesoffenbarung. Der Kanon und seine Auslegung, Göttingen 1999,309. 118 W. G. KÜMMEL, Die Theologie des Neuen Testaments nach seinen Hauptzeugen Jesus, Paulus, Johannes, GNT 3, Göttingen 31976, 204f; F. W. HORN, Vielfalt und Einheit der neutestamentlichen Botschaft, in: K.-W. Niebuhr (Hg.), Grundinformation Neues Testament. Eine bibelkund-
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funden in einige der neueren Darstellungen der Theologie- und der Religionsgeschichte des frühen Christen'tums l19 • In zusammenfassender Vorausnahme sei folgende eigene These formuliert: Die Identität christlicher Botschaft nach neutestamentlichen Texten und nach eingeforderter und bezeugter urchristlicher religiöser Praxis liegt in einer dem biblischen Monotheismus verpflichteten, christologisch begründeten und in einem eschatologischen Horizont gedachten, nunmehr definitiv auch Nicht juden geltenden Soteriologie mit ekklesiologischen und ethischen Konsequenzen. In diesen Konsequenzen wird sichtbar, inwieweit sich die vorhin beschriebene Identität auf die Art und Weise auswirkt, wie die ersten Christen die Herausforderungen der Antike bewältigt haben. 1. Der exklusive Monotheismus verwehrt die Teilhabe an nichtchristlichen Kulthandlungen (1 Kor 10,14--21) wie die Vornahme heidnischer Kultpraktiken 120 ; generell wird die Reduzierung verfänglicher Sozialkontakte angemahnt 121 • Zwar ist der individuelle, biographisch bedingte Übergang zur Konzentration auf eine einzige Kultgottheit auch bei anderen Kulten möglich 122 , doch mußte gerade den Christen der völlige Exklusivanspruch der neuen Kultzugehörigkeit sowie die Abgrenzung in gesellschaftlichem Verkehr und privatem Lebensvollzug eingeschärft werden. Freilich wird die Pluralität frühchristlicher Handlungsanweisungen mehrfach zum Antagonismus, etwa in den Fragen des Genusses von Götzenopferfleisch 123 und der SexualmoraP24. Insgesamt gilt: Die Heiligkeit Gottes verlangt die . Heiligkeit des Christen (Eph 4,24; 1 Pt 1,15~. 2. Die Christologie definiert die Einheit der Gemeinde und ist wesentliche Instanz zur Begründung und Gestaltung zwischengemeindlichen, innergemeindlichen und individualethischen Verhaltens. Um die Mazedonier für die Kollekte für Jerusalem zu gewinnen, hätte eine Begründung mit dem Gebot der Nächstenliebe
lieh-theologische Einführung, Göttingen 2000, 371-387: 386; zu all den bisher genannten Aspekten vgl. auch T. SÖDING, Inmitten der Theologie des Neuen Testaments. Zu den Voraussetzungen und Zielen neutestamentlicher Exegese, NTS 42, 1996, 161-184: 182f. 119 K. BERG ER, Theologiegeschichte des Urchristentums. Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 21995, 17-100; G. THEISSEN, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 22001, 370--380. 120 Vgl. Did 3,4; Hermas, mand XI, 1-6.12-15; Origenes, horn. in Jos. 7,4; Diodor von Tarsus, fat., passim; Augustin, conf. 4,3,4 u. ö. 121 1 Kor 6,1; 1 Kor 10,14-22; vgl. noch die Kritik bei Hermas, sim VIII 9,1. - Die Mahnungen Röm 12,17-21; 13,3; Phil 4,5 bilden den Gegenpol. Diese Zweigleisigkeit der Verhaltens anweisung galt auch später (vgl. Eph 4,17-19 neben KoI4,5f). 122 Vgl. Apuleius, Metam 11, passim. 123 Teilweise gilt Offb 2,14.20 als bewußte Korrektur von 1 Kor 8; 10,23-31; vgl. dazu N. W ALTER, Nikolaos, Proeselyt aus Antiochia, und die Nikolaiten in Ephesus und Pergarnon. Ein Beitrag auch zum Thema: Paulus und Ephesus, ZNW 93, 2002, 200-226: 213-217. 124 Vgl. 1 Tim 4,1-5 einerseits, christlich-gnostische Thesen zum generellen Sexualverzicht andererseits.
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(2 Kor 9,7 = Prov 22,8a) oder der geforderten Solidarität zwischen Glaubensgenossen (Gal 6,10) völlig ausgereicht; Paulus zieht in 2 Kor 8,9 nichts weniger als die Inkarnation zur Begründung heran. Innergemeindlich verpflichtet die Erlösungstat Christi zur Akzeptanz des anderen (Röm 15,7), zur Rücksichtnahme auf das Gewissen des Mitchristen 125 , die Herrschaft Christi zur Gemeinschaft auch mit soziologischen Konsequenzen (1 Kor 11,17-31) sowie über Divergenzen der Lebensführung hinweg, soweit diese als tolerabel gelten können (Röm 14,1-14; vgl. dagegen 1 Kor 5,4); innergemeindlich verpflichtend sind Christi Dienstbereitschaft (Mk 10,42-45), seine Demut (Phil 2,1-11), seine Orientierung an dem, was dem Nächsten zum Guten dient (Röm 15,1-3), ebenso die Vergebung Gottes in ihm (Eph 4,32; vgl. Kol 3,13). Nach dem ersten Johannesbriefhat die von uns geforderte Liebe zu den Schwestern und Brüdern ihren Grund (1 J oh 4,19) und ihr Vorbild (1 J oh 4,11) in der Liebe, die uns Gott zuvor durch die Hingabe seines Sohnes erwiesen hat (1 Joh 4,9~. Ist diese Liebe für Gott bestimmend, so soll sie es auch für uns sein (1 Joh 4,16). In 1 Tim 6,13 erscheint Christus als der urbildhaft Bekennende, dessen Treue zu seinem Auftrag das normierende Vorbild für den Apostelschüler abgibt. Individualethisch impliziert die liebende Lebenshingabe J esu unser Leben in der Liebe (Eph 5,2), die Teilhabe an Christi Geschick die Absage an die Sünde (Röm 6,1-11; Kol 3,3), die Herrschaft Christi den umfassenden Anspruch an die Lebensführung (1 Kor 6,13; 10,9), und hierin gewinnt auch der Mimesis-Gedanke seine Bedeutung: Die Christuskonformität des Paulus besteht in seiner Liebe (2 Kor 5,14), in seiner Milde (2 Kor 10,1) und in der Leidensbereitschaft (1 Kor 4,9; vgl. in diesem Sinne auch Kol 1,24); summarisch "kann sich der Apostel als Vorbild der Gemeinde und als N achahmer Christi empfehlen (1 Kor 11,1). Dabei steht an diesen Stellen weniger das ethische Vorbild des historischen J esus als vielmehr "das Daß des Gekommenseins J esu, seine Präexistenz, Menschwerdung und das Kreuzesgeschehen ,,126 im Blick. Die ethische Relevanz der Christologie ist auch bei anderen neutestamentlichen Autoren unumstritten: In Mk 10,45 motiviert sie die Dienstbereitschaft, in 1 Petr 2,21-23 die Unterordnung, in 1 Petr 4,lf die Abkehr von den fleischlichen Begierden, in 1 Petr 4,12 wie in Hebr 13,12f die Leidensbereitschaft, in Hebr 12,1-3 die Geduld. Christologie fordert aber nicht nur dem Statusunterlegenen die Einwilligung in seine Statusunterlegenheit ab, es können auch Mahnungen an den Statusüberlegenen christologisch begründet werden (Eph 5,25-33). 3. Der eschatologische Horizont verlangt die Heiligkeit und Reinheit der Gemeinde (1 Kor 3,13-15; 2 Kor 11,2; 1 Joh 3,3; Jud 24; 2 Petr 3,11-13) und die Be125
1 Kor 8,11; vgl. dazu Epiktet, Diss I 13,3f. O. MERK, Nachahmung Christi. Zu ethischen Perspektiven in der paulinischen Theologie (1989), in: ders., Wissenschaftsgeschichte (5. Anm. 1), 302-336: 333. 126
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währung des einzelnen in Verantwortlichkeit der Lebensführung (1 Thess 5,23; Hebr 13,4; 1 Pt 1,17 sowie die Lasterkataloge 1 Kor 6,9f; Gal 5,19-21; Eph 5,5 u. a.). Das Konzept der Heiligkeit der Gemeinde ist alttestamentlich-frühjüdisch gedacht und begründet (vgl. 1 Pt 1,15f mit dem Zitat Lev 19,2), ist aber in seinem Grundanliegen auch dem antiken Nicht juden verständlich (siehe oben). 4. Die Bezogenheit auf die Heilige Schrift Israels formiert ekklesiologisch das Selbstverständnis der Gemeinde im Rahmen einer Theologie der Erwählung (fit 2,14) und prägt die materiale Ethik des Christentums auch da, wo nicht explizit auf die Heilige Schrift zurückverwiesen wird. Allerdings ist die materiale Prägung nicht deckungsgleich mit der autoritativen Begründung in der Heiligen Schrift, und sie ist in manchen Fragen auf der Grenze zwischen ethischer und ritueller Vorschrift, zum Beispiel hinsichtlich der verbotenen Verwandtschaftsgrade nach Lev 17f nicht im einzelnen nachzuweisen. 5. Die Öffnung des Heils für Nicht juden verlangt nach Konsequenzen im Gemeindeleben (Gal 2,11-14), wie sie umgekehrt eine für den ehemaligen Heiden nicht unbedingt selbstverständliche ethische Verbindlichkeit impliziert (1 Kor 6,12-20; 1 Petr 4,3~. Mit dieser Argumentationsweise vom christlichen Spezifikum her ist unbeschadet der Mehrpoligkeit der Argumentation in Texten wie 1 Kor 6,12-20; 11,2-16 und anderen die Tendenz angelegt, alles in dieser Weise zu begründen zu können. Damit aber wird der Boden bereitet, auf dem später der Anspruch des Christentums auf umfassende Welt- und Lebensdeutung sowie Handlungsorientierung formuliert werden kann. 4 Konsequenzen für die Gegenwart
Durch das neuzeitliche Gegenüber anderer monotheistischer Religionen und theologisch ungebundener philosophischer Entwürfe ist eine Neubesinnung auf die Identität des Christentums gefordert. Das Christentum muß in der Situation der Moderne reflektiert werden als verantwortbarer Letztbezug, der freies, verantwortliches Handeln ermöglicht und nicht verhindert. Daß Christentum in der letztlich nie aufzuhebenden Spannung zwischen 1 Thess 4,1-8 und Phil 4,8 auch zum Humanum erzieht, ist in der heutigen Zeit wieder neu zu leisten und nach außen hin zu vertreten, wiederum mit dem schon antiken 127 Verweis auf die mögliche Streubreite christlicher Erziehung. Gegenüber anderen Religionen besteht die Identität des Christentums in der christologischen Bindung, die in der Bandbreite der aufgewiesenen ekklesiologischen und ethischen Bezüge als Verpflichtung für die Christen selbst zu begreifen ist und so das soziale Engagement des 127
Vgl. Origenes, Cels. 3,50.
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einzelnen wie der Organisationen motiviert und prägt. Gerade in einer Weh ohne ein generelles Netz sozialer Sicherungen, auf die wir wieder zusteuern, wird das Christentum aufs Neue auch an der Möglichkeit sozialer Erfahrung gemessen werden. Zusammen mit der Moderne hat ein geläutertes Christentum an das unveräußerliche Recht auf Respektierung des anderen in seiner je eigenen geistigen Orientierung128 zu erinnern, angesichts der auch problematischen Folgen der Globalisierung an sein physisches Existenzrecht. So ist es Aufgabe von' Theologie und Kirche als Institution, die Identität des Christentums in ihren affirmativen wie kritischen Zügen zu reflektieren und für das philosophische wie politische Gespräch der Gegenwart fruchtbar werden zu lassen.
128 Vgl. A. J. BUCHER, Verantwortlich handeln. Ethik in Zeiten der Postmoderne, E5t NF 43, Regensburg 2000, 30.
Jürgen RoloH DER BIBLISCHE KANON ALS ORIENTIERUNGSGRÖSSE NEUTEST AMENTLICHER EXEGESE Neun Thesen 1
(1) Grundlegend für das in den letzten zwei Jahrzehnten entwickelte Programm kanonischer Schriftauslegung ist die Einsicht, daß der Altes und Neues umfassende biblische Kanon eine Größe von hoher theologischer Relevanz ist. Aus ihr ergeben sich unmittelbare Folgerungen für die exegetische Arbeit. Diese hat ihr Ziel nicht schon dann erreicht, wenn sie den jeweiligen biblischen Text im Rahmen seiner individuellen historischen Voraussetzungen und der unmittelbaren Intention seines Autors - also nach dem methodisch reflektierten Ineinander von "Rekonstruktion und Interpretation" - erkläre. Sie muß vielmehr darüber hinaus seinen Ort im Spektrum des zweiteiligen biblischen Kanons zu ermitteln suchen. Damit trägt sie dem Umstand Rechnung, daß dieser Text als Teil dieses Kanons von der Kirche überliefert und interpretiert worden ist. (2) Dieser Forderung liegen zwei Vorentscheidungen zu Grunde, die unter Exegeten heute nach wie vor kontrovers sind: (2.1) Die erste Vorentscheidung besteht darin, daß der Exeget / die Exegetin das Verständnis der Texte, die Gegenstand seiner / ihrer Arbeit sind, als der Kirche vorgegebene biblisch-kanonische Texte versteht und interpretiert, und das heißt, daß sie mehr oder anderes für ihn / sie sind als nur Dokumente spätantiker Kultur, Religion und Literatur. Das alles sind sie natürlich auch. Sie haben in der Kirche jedoch seit der Zeit ihrer Anfänge normative Bedeutung. Allein darauf gründet ihr besonderer Anspruch, der sich - wenn auch in unterschiedlichen Maße -
1 Kurzreferat auf der Mitarbeitertagung des Evangelisch-katholischen Kommentars zum NT (EKK) am 25.3.2002 in Frankfurt/Main. 2 Es sei nicht verschwiegen, daß ich mich damit im Widerspruch zum verehrten Jubilar befinde, der in seinen kritischen Anmerkungen zum Programm einer kanonischen Schriftauslegung (0. MERK, Gesamtbiblische Theologie. Eine offene Diskussion, in: eh. Dohmen / Th. Söding (Hg.), Eine Bibel - zwei Testamente, Paderborn 1995, 225-236), R. Bultmann folgend, Exegese konsequent als komplexes "Ineinander von Rekonstruktion und Interpretation" versteht und die Berücksichtigung biblisch-theologischer Zusammenhänge in den Verdacht eines Abgleitens "in das Feld methodisch unkontrollierbarer Beliebigkeit" stellt (229f).
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in ihrem Inhalt und ihrer formalen Gestaltung niedergeschlagen hae. Es ist allein diese Orientierung am Kanon, durch die sich biblische Exegese von spätantiker Religionsgeschichte unterscheidet. (2.2) Die zweite Vorentscheidung besteht in der Einsicht, daß biblische Exegese es mit einem aus Altem und N euem Testament bestehenden Doppelkanon zu tun hat, dessen beide T e~le jeweils als in sich abgeschlossen zu gelten haben. Die biblischen Schriften sind darum nicht als Hervorbringungen eines in 'der Geschichte linear fortschreitenden und sich immer weiter entfaltenden Traditionsprozesses zu verstehen, der in den neutestamentlichen Schriften sein Ziel und seine Erfüllung fände 4 • Auszugehen ist vielmehr von der wesentlichen Abgeschlossenheit des alttestamentlichen Kanons zur Entstehungszeit des Neuen Testaments. Dieser Kanon hat einen "doppelten Ausgang" (K. Koch) - einerseits in die jüdische Traditionsliteratur von Mischna und Talmud, andererseits in das Neue Testament. Das Neue Testament setzt in allen seinen Schriften die Existenz eines jüdischen AT-Kanons voraus. Es versteht sich selbst als dessen Weiterführung, Kommentierung und Ergänzung im Licht des von der christlichen Gemeinde als definitiver Abschluß des geschichtlichen Heilshandelns Gottes gedeuteten Christusgeschehens. Ist der alttestamentliche Kanon Basis des Judentums, so ist er in Verbindung mit dem neutestamentlichen Kanon zugleich Basis des Christentums. So ist das Neue Testament keineswegs die Ergänzung eines in sich 'unfertigen und defizitäre'n Kanons, es bildet vielmehr einen eigenständigen Kanon, der freilich den Kanon des Alten Testaments zur unentbehrlichen Voraussetzung hat. (3) Das Programm kanonischer Exegese ist von Alttestamentlern - zunächst in den USA - entwickelt worden und hat in deren Kreis eine außerordentlich rege Diskussion - sowohl in Zustimmung wie auch in Ablehnung - ausgelöst. Sowohl dort wie in Europa haben sich Neutestamentler an dieser Diskussion zunächst nur am Rand beteiligt. Das ist auffällig5 •
J Mit B. S. CHILDS, Biblische Theologie und christlicher Kanon, JBTh 3, 1988, 16 verstehen wir unter dem Begriff des Kanons "im wesentlichen nicht eine späte kirchliche Festlegung des Umfangs der normativen Schriften", "sondern ein tief im Schrifttum verwurzeltes Bewußtsein. Es erwächst aus einer besonderen Haltung der Tradenten gegenüber der Autorität der Schrift und spiegelt sich in der Weise, in der die Texte von verschiedenen Glaubensgemeinschaften empfangen, bewahrt und überliefert wurden. " 4 Hier liegt die Problematik des von H. Gese und P. Stuhlmacher entwickelten traditionsgeschichtlichen Ansatzes Biblischer Theologie ("Tübinger Modell"), das im Neuen Testament Abschluß und Ziel des geschichtlichen Offenbarungsprozesses Gottes suchen möchte und darum das Alte Testament als in sich unabgeschlossene, nach vorwärts offene Größe versteht; zur Kritik vgl. Merk, Gesamtbiblische Theologie (s. Anm. 2), 230f. 5 Hierzu: P. D. MILLER JR., Der Kanon in der gegenwärtigen amerikanischen Diskussion, JBTh
3,1988,217-240:218.
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Ein wesentlicher Grund für das größere Interesse der Alttestamentler an der Kanonsproblematik mag darin zu suchen sein, daß der alttestamentliche Kanon der Forschung nach wie vor eine Fülle von ungelösten und offenen Fragen aufgibt. Aus historischer Sicht ist seine Entwicklung außerordentlich komplex. Strittig ist nach wie vor das Verhältnis von Masoreten- und Septuaginta-Kanon sowie das Verhältnis beider zu dem breiten Strom frühjüdischen apokalyptischen und weisheitlichen Schrifttums. Neben diese primär historischen Fragen treten hermeneutische. Besteht nicht die Gefahr, daß das historisch erkannte Profil als eigenständiger älterer Quellen und literarischer Schichten durch den Blick auf die kanonische Endgestalt nivelliert werden könnte, sowie - als vielleicht schwierigster Brocken - das bereits erwähnte Problem des "doppelten Ausgangs" des alttestamentlichen Kanons, von dem wiederum die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Christentum und Judentum abhängt? (4) Umgekehrt hat es den Anschein, als stelle sich für Neutestamentler (sofern sie die beiden in These 2 genannten Vorentscheidungen getroffen haben) das Kanonsproblem als weit weniger folgenreich dar als für Alttestamentler. Das gilt in erster Linie hinsichtlich der historischen Aspekte der neutestamentlichen Kanonsgeschichte. So ist der neutestamentliche Kanon in einer relativ kurzen, überschaubaren Zeitspanne innerhalb der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts n. Chr. entstanden. Er umfaßt im wesentlichen jene Schriften, die sich bereits als Vorleseschriften in den christlichen Gemeinden durchgesetzt hatten und um 150 n. Chr. als normativ in Geltung standen 6 - die immer wieder unternommenen Versuche, die These einer Steuerung dieses Vorgangs durch bestimmte kirchliche Gremien und Autoritäten in der Forschung zu etablieren 7, sind bis heute im wesentlichen erfolglos geblieben. Nach überwiegendem Konsens ist es im Zuge der Kanonisierung nur in Ausnahmefällen zu Veränderungen der rezipierten Schriften gekom-
6 Am zuverlässigsten informieren über die Entstehungsgeschichte des christlichen Kanons nach wie vor H. FRH. VON CAMPENHAUSEN, Die Entstehung der christlichen Bibel, BHTh 39, Tübingen 1968 sowie W. SCHNEEMELCHER, Art. Die Entstehung des Kanons des Neuen Testaments und der christlichen Bibel, TRE 6, 1980, 22-48. 7 So zuletzt D. TROBISCH, Die Endredaktion des Neuen Testaments. Eine Untersuchung zur Entstehung der christlichen Bibel, NTOA 31, Freiburg u. a. 1996, 68: Trobisch "möchte zeigen, daß das Neue Testament in der Form, die in der Christenheit kanonische Geltung erlangt hat, nicht das Produkt eines jahrhundertelangen Entwicklungsprozesses ist. Die Geschichte des Neuen Testamentes ist die Geschichte eines Buches. Eines Buches, das von einem konkreten Herausgeberkreis an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt herausgegeben wurde"; kritisch hierzu: TH. K. HECKEL, Vom Evangelium des Markus zum viergestaltigen Evangelium, WUNT 120, Tübingen 1999, 34M.
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men 8 ; größtenteils ist deren kanonische Gestalt mit der von den Verfassern intendierten Endgestalt identisch. In der heutigen neutestamentlichen Exegese spielen - anders als in der alttestamentlichen - Quellenscheidung und Rekonstruktion älterer literarischer Schichten ohnehin eine eher zurückgesetzte Rolle. Die einzige nennenswerte Ausnahme ist die Logienquelle Q, der in ihrer durch Quellenscheidung rekonstruierten Form in der Sicht heutiger Forschung nachgerade die Stellung einer kanonischen neutestamentliche Schrift zugewachsen ist9 • Die frühchristlichen Texte sind in jener Gestalt, in der sie in den Kanon eingegangen sind, die Gegenstände unserer Arbeit. Das gilt '-nahezu ohne Einschränkung seit der unangezweifelten Dominanz der kompositions kritischen Betrachtungsweise. Rekonstruierte vorkanonische Versi0nen dieser Texte führen in der neutestamentlichen Forschung eher eine Randexistenz lO • Aber ist damit der Aspekt des Kanonischen für die heutige neutestamentliche Wissenschaft wirklich nicht-existent bzw. hat sie ihn bereits hinter sich gelassen? Daß dieser Aspekt spätestens dann, wenn man nach der Wirkungsgeschichte fragt, in den Vordergrund tritt, sollte nicht bezweifelt werden. Denn biblische Texte sind durchweg in Kombination mit anderen biblischen Texten von der ,Kirche und den einzelnen Christen rezipiert worden. Doch davon soll hier nicht die Rede sein. Uns geht es vielmehr darum, daß auch der Neutestamentler in verschiedenen Phasen der Textauslegung diesem Aspekt des Kanonischen begegnet - wenn auch in unterschiedlicher Dringlichkeit -, so daß der Kanon für ihn zur unentbehrlichen Orientierungsgröße wird. Darüber hinaus haben wir mit diesem Aspekt aber auch bei den übrigen Auslegungsschritten zu tun. ~ (5) Eine am Kanon orientierte Auslegung wird der kanonischen Endgestalt des jeweiligen biblischen Textes besondere Beachtung schenken. Das bedeutet jedoch keineswegs, daß sie diese Endgestalt unkritisch gegenüber der ihr voraus liegenden Entstehungsgeschichte isolieren dürfte. Im Gegenteil: Gerade kanonische Exegese wird die Fragen nach Quellen, Traditionen und Vorformen eines Textes sowie nach den für dessen Entstehung maßgeblichen religions- und zeitgeschichtlichen Faktoren nicht ausklammern dürfen. Sie wird jedoch verhindern, daß sich diese Fragen verselbständigen, indem sie deren Bezug auf die Genese des vorliegenden Endtextes in den Vordergrund stellt. Was tragen diese Faktoren dazu bei, daß der 8 Die wohl wichtigste im Zusammenhang mit der Kanonisierung stehende Veränderung des Textbestandes war die Hinzufügung der Evangelienüberschriften; Nachweis bei M. HENGEL, Die Evangelienüberschriften, SHAW.PH 1984,3, Heidelberg 1984. 9 Ich verweise hier auf Pläne, neutestamentliche Kommentarreihen (wie z. B. EKK) durch eigene Kommentierungen von Q zu ergänzen. 10 So gibt es eine Reihe von Untersuchungen zur Komposition und Redaktion der verschiedenen Schichten von Q. Anders steht es etwa bei Protomarkus und Protolukas. Auch Forscher, die von deren Existenz überzeugt sind, haben zu deren Einzelerforschung nur wenig beigetragen.
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Text seine vorliegende Endgestalt gewonnen hat? Die Synchronie gewinnt so gegenüber der Diachronie einen klaren Vorrang. (6) Besondere Beachtung ist den Bezügen auf alttestamentliche Texte zu schenken. Inwieweit wird in den alttestamentlichen Zitaten und Anspielungen im Neuen Testament vorausgesetzt, daß es sich bei diesen Texten um Teile des alttestamentlichen Bibelkanons handelt? Wo und wie kommt die bleibende Verbindlichkeit dieses Kanons für die hinter der jeweiligen Schrift stehende christliche Gemeinde - in direkter Anknüpfung und in kritischer Neuinterpretation - zum Ausdruck? Beispiele solcher direkten Anknüpfung bieten zum Beispiel der synoptische Passionsbericht mit seinen vielfältigen Bezügen auf Ps 22 sowie das Matthäusevangelium in seinen Reflexionszitaten, die das Christusgeschehen als Erfüllung des im Prophetenwort angekündigten endzeitlichen Gotteshandelns deuten und es damit in unmittelbaren Bezug zum kanonischen Schrifttum setzen. Kritische Neuinterpretation wird zum Beispiel in der Johannesoffenbarung geleistet, die in ihren Visionszyklen traditionelle prophetische Muster aktualisierend auf die Gegenwart der Kirche hin entfaltet (so ist die Tiervision [Offb 12] eine eindeutige Neufassung der apokalyptischen Grundvision [Dan 7])11. Dabei wäre dem Gesichtspunkt der Intertextualität sehr viel mehr Beachtung zu schenken, als dies bisher geschehen ist: Wo handelt es sich um Texte, die bei zeitgenössischen Lesern / Leserinnen die intime Kenntnis alttestamentlicher Vorlagen voraussetzen? (7) Eine am Kanon orientierte Auslegung wird darüber hinaus auch auf jene Motive und Entwicklungslinien in den neutestamentlichen Schriften achten, in denen sich die Bildung eines zweiten Kanonteils vorbereitet. Mit dem Hinweis auf solche protokanonischen Faktoren wird sie nicht nur ein Korrektiv gegen die verbreitete Meinung einbringen, der neutestamentliche Kanon sei nur eine mehr oder weniger zufällig zustande gekommene Sammlung frühchristlicher Gelegenheitsschriften; sie wird - darüber hinaus - auch der verbreiteten Abwertung der Schriften der zweiten und dritten christlichen Generation gegenüber denen der apostolischen Frühzeit entgegentreten. Wir benennen im folgenden drei solche protokanonische Faktoren, von denen jede einer der drei im Neuen Testament enthaltenen Schriften gruppen entspricht. (7.1) Im synoptischen Bereich muß die weitgehende Übernahme der durch Markus geschaffenen Form der Evangeliumsschrift durch die beiden Großevangelisten Lukas und Matthäus ohne Zweifel als protokanonischer Faktor gelten. Beide folgen mit ihrer Darstellung der Geschichte Jesu der Markus-Akoluthie. Darüber hinaus rezipieren sie auch weitgehend die markinische Sichtweise auf Gestalt und Geschichte Jesu. 11 Hierzu: J. ROLOFF, Die Adaption der Tiervision (Dan 7) in frühjüdischer und frühchristlicher Apokalyptik, SBAW.PPH, München 2002.
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Diese kompositorische Gemeinsamkeit vermag grundsätzliche theologische Differenzen - etwa zwischen Matthäus und Markus - fast bis zur Unkenntlichkeit überdecken. So ist Matthäus in seinem Verständnis der Stellung J esu zum Gesetz und zu Israel sehr viel näher bei Q als bei Markus. Weil er "den Erzählungsentwurf des Markusevangeliums übernommen" hat, ist sein Werk "literarisch eine Neufassung des Markusevangeliums und nicht eine Neufassung von Q"12. Offensichtlich rechnete Matthäus mit Rezipienten seines Werkes, die das Markusevangelium bereits sehr genau kannten und in ihren Gottesdiensten benutzten, und das heißt, er wollte es nicht als Neuentwurf, sondern als erweiterte und ergänzte Version des Markusevangeliums gelten lassen. Verhält es sich aber so, dann hat Matthäus - und ähnlich Lukas - dem Markusevangelium eine protokanonische Bedeutung zugestanden. (7.2) Im johanneischen Bereich ist auf Joh 21, das sogenannte Nachtragskapitel des vierten Evangeliums, hinzuweisen. Dessen Autor hat Überlieferungen über den als Garanten der synoptischen Tradition geltenden Petrus mit spezifisch johanneischen Sichtweisen und Theologumena kombiniert. Damit hat er ein Gleichgewicht zwischen Petrus und der rätselhaften Gestalt des "Lieblingsjüngers", dem johanneischen Traditionsrepräsentanten, geschaffen. Dadurch wird es ihm möglich, die Petrusüberlieferungen "auf dieselbe Höhe wie~die johanneische Überlieferung zu stellen"13 und damit die Rezeption des johanneischen Werkes in die entstehende Vier-Evangelien-Sammlung zu ermöglichen 14 • Er geht dabei anscheinend von einer protokanonischen Geltung der drei synoptisc~en Evangelien in weiten kirchlichen Kreisen 15 aus und mächte auf die Einbeziehung der im johanneischen Kreis entstandenen Evangelienschrift in den Bereich dieser Geltung hinwirken. (7.3) Im Bereich des Corpus Paulinum entwickelt sich das Verhältnis der deuteropaulinischen Schriften zu den paulinischen Homologumena als ein protokanonischer Prozeß von besonderer Intensität. Ausgelöst wurde er ohne Zweifel durch den Autoritätsanspruch, den Paulus selbst für seine Briefe erhob. Wenn er sich - den Propheten gleich - als vom Mutterleib her auserwählt und durch Gott zum Träger einer besonderen Offenbarung 12 U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus. 1. Teilband: Mt 1-7, EKK 1/1, Düsseldorf u. a. 22002,80. l) Heckel, Evangelium (s. Anm. 7), 188. 14 Wobei, wie Heckel gezeigt hat, die Entstehung dieser Sammlung zeitlich vor der Entstehung des neutestamentlichen Kanons anzusetzen ist. Die Vier-Evangelien-Sammlung ist also als solche ein entschiedener Entwicklungsschritt auf dem Wege zu diesem Kanon, sie ist also demnach insgesamt "protokanonisch". 15 Ob man hier bereits von der "werdenden Groß kirche" sprechen darf, entscheidet sich vor allem an der Vorentscheidung über Wesen und gesamtkirchlicher Verortung des johanneischen Kreises.
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bestimmt darstellte (Gal 1,15), so stellte er sich damit in die Reihe der alttestamentlichen Propheten und erhob somit den Anspruch der Gleichwertigkeit und Gleichrangigkeit seiner Briefe mit den kanonisierten Prophetenschriften. Paulus trat in seinen Briefen den Gemeinden als "Sklave Christi Jesu" und als dessen "berufener Apostel" (Röm 1,1) gegenüber, der die von den Propheten in "heiligen Schriften vorher verkündigte Heilsbotschaft" (Röm 1,2) abschließend als Gottes weltweites Herrschaftsmanifest ausruft und in Kraft setzt (Röm 10,15-18). Paulus schrieb im Bewußtsein, daß der Inhalt seiner Briefe für die Glieder der angeschriebenen Gemeinden verbindliche Lehre und Verhaltensnorm setzte (Phil 4,9). Und er war sich darüber hinaus dessen bewußt, daß der Kreis seiner Schüler und Anhänger, mit dem er in einem ständigen intensiven Kommunikationsprozeß stand, sich für die Akzeptanz seiner Botschaft in den Gemeinden einsetzen werde l6 • Zugespitzt ließe sich sagen: Paulus kanonisierte seine Briefe selbst kraft seines apostolischen Auftrags. Diese paulinische Selbstkanonisierung wird durch die aus der Paulusschule zur Zeit der dritten christlichen Generation hervorgegangenen deuteropaulinischen Schriften gleichsam ratifiziert. Daß deren Verfasser einige wichtige Paulusbriefe kannten - so den Römerbrief und den Ersten Korintherbrief -, darf heute als gesichert gelten. Aber sie wollen nicht die zentralen Punkte paulinischer Lehre einfach wiederholen. Ihr Anliegen ist es vielmehr, das Erbe des Apostels in ihre jeweilige Zeit weiterzugeben und für neu entstandene Probleme Lösungen vorzuschlagen, .die den Grundlinien paulinischer Lehre und Gemeindeleitung entsprachen. Dazu nehmen sie Motive der Homologumena auf, um sie - im vollen Bewußtsein der situativen Differenz zu Paulus - weiterzuentwickeln. So gelingt es ihnen, ein Leitbild für den christlichen Umgang mit "kanonischen" Schriften zu schaffen, das bis heute in der Kirche lebendig geblieben ist. Daß sie selbst Eingang in den neutestamentlichen Kanon gefunden haben, mag man ein Stück weit auf diese ihre hermeneutische Leitbildfunktion zurückführen . . (8) Ganz allgemein wird eine am Kanon orientierte Exegese danach zu fragen haben, ob und wie sich in diesen vielfältig im Neuen Testament vorhandenen protokanonischen Motiven ein übergreifendes theologisches Profil des neutestamentlichen Kanons vorbereitet. Als Beispiele für eine solche Fragestellung wären etwa zu nennen: - die Offenheit für Weiterinterpretation der Tradition auf neue Situationen hin, wie sie in den Deuteropaulinen praktiziert wird; - die Sanktionierung von Vielfalt, wie sie sich in der protokanonischen VierEvangelien-Sammlung erweist;
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Hierzu: U. SCHNELLE, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 31999, 45f.
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- die formprägende Kraft des paulinischen Apostelbriefs, durch die das apostolische Zeugnis als Grundsubstrat der neutestamentlichen Schriften herausgestellt wird. (9) Kanonizität und Wirkungsgeschichte stehen zueinander im Verhältnis von Ursache und Folge. Darum wird, wer nach der Wirkungsgeschicht,e eines Textes fragt, vorrangig darauf achten müssen, wie dieser Text im Lauf der Kirchengeschichte als Teil des Kanons wahrgenommen worden ist und welche Akzente er für das Verständnis des biblischen Zeugnisses insgesamt gesetzt hat.
Ferdinand Hahn EINE RELIGIONSWISSENSCHAFTLICHE ALTERNATIVE ZUR NEUTEST AMENTLICHEN THEOLOGIE? Ein Gespräch mit Heikki Räisänen l
Heikki Räisänen vertritt die Auffassung einer religionswissenschaftlichen Alternative zur neutestamentlichen Theologie im Sinn einer "Geschichte der urchristlichen Religion". Da ich selbst ein entschiedener Vertreter nicht nur einer theologiegeschichtlichen, sondern auch einer systematisch konzipierten Theologie des Neuen Testaments bin, dürfte das Gespräch zwischen uns von Interesse und einiger Brisanz sein. In einem ersten Teil nehme ich Stellung zu Räisänens programmatischen Ausführungen in dem im Jahre 2000 erschienenen Band 186 der Stuttgarter Bibelstudien "Neutestamentliche Theologie? Eine religionswissenschaftliehe Alternative". In einem zweiten Teil werde ich meine eigene Auffassung skizzieren und kurz begründen. 1 Räisänens Programm
Räisänen betont in einer einleitenden Übersicht über die Geschichte der neutestamentlichen Theologie die Bedeutung der von William W rede bereits 1897 formulierten, nach seiner Meinung aber bis heute nicht wirklich eingelösten Forderung,_Exegese als religionsgeschichtliche Untersuchung von einer philosophischtheologischen Beurteilung der Texte konsequent zu trennen. An die Stelle einer Theologie des Neuen Testaments habe eine "Geschichte der urchristlichen Religion" zu treten 2 • 1. Damit stellt sich zunächst die Frage, was ist und was leistet Religionswissenschaft? Vier Merkmale sind meines Erachtens dabei zu benennen: Religionswis-
I Es handelt sich um ein Referat, das am 22.11.2002 bei einem Symposion der EvangelischTheologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München in Anwesenheit von Heikki Räisänen vorgetragen wurde. Ich grüße mit diesem Beitrag meinen verehrten Kollegen Otto Merk sehr herzlich zu seinem 70. Geburtstag. 2 Vgl. W. WREDE, Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie, in: G. Strecker (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments, WdF 367, Darmstadt 1975,81-154.
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senschaft hat es (a) mit der Vielfalt der Religionen zu tun, sie hat (b) die entscheidenden Phänomene zu untersuchen, sie hat (c) konkrete Religionen in ihrer Entwicklung darzustellen, und sie hat schließlich (d) zu vergleichen und wechselseitige Abhängigkeiten oder Entsprechungen aufzuzeigen. Unter dieser Voraussetzung sind konkrete Religionsformen phänomenologisch, anthropologis~h, soziologisch, im Blick auf ihre Vorstellungswelt, in ihrer mündlichen und / oder schriftlichen Traditionsbildung und ihrer Geschichte zu untersuchen. 1.1 Entscheidend ist für Räisänen, daß religiöse Erscheinungen, die in Texten, Riten und Lebensformen sichtbar we~den, "gleichsam von außen" (71fY betrachtet werden und daß der Forscher "neutral" und "unparteiisch" dazu Stellung nimmt. Dabei geht es nicht nur um fremde Religionen, sondern zugleich um das "Fremdbild der eigenen Religion" (73). Allerdings sind sämtliche Texte im Sinne der "Empathie" ernst zu nehmen (91). So sollen neben dem Neuen Testament Erscheinungen wie Judentum, Stoizismus, Mysterienreligionen, Gnosis etc. "von ihren eigenen Intentionen aus" erfaßt und dargestellt werden (76), und zwar so, daß alle Wertungen vermieden werden. Deshalb können auch Begriffe wie "Offenbarung" oder "Inspiration" in der religionswissenschaftlichen Arbeit keinen Raum haben (87). Dieser Grundsatz der Neutralität gilt generell, das heißt auch dann, wenn ein Nichtchrist biblische Texte zu verstehen sucht oder wenn ein Christ eine andere Religion erforscht; denn in jedem Falle gilt: "Die Quellen ernstzunehmen kann nicht heißen, den Standpunkt der Quellen einfach anzunehmen." (89) 1.2 Räisänen weist seinerseits darauf hin, daß es in der heutigen religionswissenschaftlichen Forschung eine Diskussion zwischen zwei Lagern gibt, den Transzendentalisten, die den irrationalen Charakter des Forschungsgegenstandes berücksichtigen, und den Empiristen, die sich auf die konkreten Tatbestände konzentrieren. Er selbst betont, daß seine Sympathie auf Seiten der Empiristen liegt (73). Aus diesem Grunde ist für Räisänen die empirische Forschung von entscheidender Bedeutung. - Nun stellt sich allerdings bereits im Blick auf die Religionswissenschaft die Frage, ob ein rein empirischer Zugang wirklich sachgemäß ist. Einmal abgesehen von bestimmten Tendenzen der transzendentalistischen Religionsforschung, die "Einheit aller Religionen" oder das "Wesen der Religion" zu bestimmen, bleibt doch zu überlegen, ob eine konkrete religiöse Erscheinung rein empirisch ohne jede transzendente Komponente zu erfassen ist. Religion hat es doch qua definitione mit Transzendenz zu tun, wie immer diese verstanden wird und wie immer diese konkret faßbar wird. Die Außen- und die Innenperspektive lassen sich zwar verfahrensmäßig, aber nicht prinzipiell voneinander trennen. So wenig ich ein Kunstwerk verstehen kann, wenn ich es lediglich von außen und 3 Zahlenangaben in Klammern beziehen sich auf die Seiten des Werks von H. RÄISÄNEN, Neutestamentliche Theologie? Eine religionswissenschaftliche Alternative, SBS 186, Stuttgart 2000.
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nicht von seiner ästhetischen Intention her zu erfassen suche, so wenig kann Religion nur aufgrund ihrer äußeren Erscheinungsweise verstanden werden; vielmehr muß nach den darin sich dokumentierenden inneren Motivationen geforscht werden. Daß eine transsubjektive und transempirische Dimension eine Rolle spielt, ist ja die Voraussetzung dafür, daß es Religion gibt und daß es zu deren Akzeptanz kommt. Dem steht auch nicht entgegen, daß jeweils noch andere religiöse Ansprüche bestehen (vgl. 73). 1.3 Die Tatsache, daß Religionen einen transzendenten Anspruch erheben, ist im übrigen Grund dafür, daß eine ganz bestimmte Terminologie verwendet wird, auf die auch bei einer neutralen Darstellung nicht ohne weiteres verzichtet werden kann. Das gilt bei den neutestamentlichen Texten in jedem Fall für den Begriff der Offenbarung, ja sogar für die Auffassung von der Inspiration, die immerhin explizit in 2 Petr 1,20f begegnet (unabhängig von Verständnis und Tragweite der Stelle). Natürlich hat die Verwendung solcher Begriffe religionswissenschaftlich nur eine deskriptive und keine normative Funktion. Ferner kann man auch bei einer religionsgeschichtlichen Erörterung des Neuen Testaments keinesfalls davon absehen, daß es sich bei den Texten um Dokumente handelt, die zwar nicht eo ipso mit dem eigentlich Gemeinten zusammenfallen, wohl aber unablösbar darauf bezogen sind und wesenhaft damit zusammenhängen. Deswegen dürfen auch bestimmte Elemente nicht einfach ausgeklammert werden. Nun geht es Räisänen durchaus darum, daß eine Darstellung der frühchristlichen Religionsgeschichte "nicht aus einem Studium der Texte als Texte besteht, sondern hinter die Texte blicken möchte" (85), aber das bezieht er nicht auf die religiöse Komponente selbst, sondern auf die vorauszusetzende Symbolwelt (104~, auf die sich spiegelnde soziale Situation und ähnliches (107). So wenig das ausgeschlossen zu werden braucht, entscheidend ist, daß hinter den Texten und in ihnen eine ganz bestimmte Glaubensaussage steht. Deshalb erscheint es problematisch, eine rein empirische religionswissenschaftliche Methode anzuwenden. 2. Ein besonders gravierendes Problem sieht Räisänen darin, daß in vielen Fällen die neutestamentliche Theologie als eine Funktion der Kirche aufgefaßt wird (74). Es gehe vielmehr um eine wissenschaftliche Aufgabe, die, wie schon Wrede betont hat, ihren Zweck in sich selbst hat (74). - Natürlich ist Exegese eine wissenschaftliche Aufgabe, der Selbständigkeit zukommt; sie steht aber gleichzeitig in Relation zu einem konkreten Aufgabenbereich, was doch ebenso für andere wissenschaftliche Forschungszweige gilt, man denke nur an die Medizin oder bestimmte Naturwissenschaften. So befindet sich auch die streng wissenschaftliche Exegese einschließlich der neutestamentlichen Theologie in einem übergreifenden Beziehungsverhältnis, das durch die Texte selbst benannt und gefordert wird. Wissenschaftliche Exegese ist argumentativ und überprüfbar, sie unterscheidet sich
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darin von einer homiletischen oder katechetischen Auslegung, aber sie ist zugleich funktional ausgerichtet auf die Existenz und die Aufgaben der Glaubensgemeinschaft. Dieser Sachverhalt kann keinesfalls als textfremd angesehen werden, da die neutestamentlichen Texte selbst auf Glauben und die Konstituierung einer Glaubensgemeinschaft zielen. 3. Ein zentrales Problem besteht für Räisänen darüber hinaus in der Bindung einer neutestamentlichen Theologie an den Kanon. Der Kanon ist als kirchlichtheologische Entscheidung religionsgeschichtlich "nicht verantwortbar" , sofern man die Entstehung des Christentums verstehen will (77). Die Geschichte des frühchristlichen Denkens ist vielmehr prinzipiell zur Kirchengeschichte hin offen, und alle vorgeschlagenen Grenzen, ob bei den Apologeten, bei Irenäus oder Konstantin, sind "willkürlich" (95). - Zweifellos ist die Kanonbildung eine "GlaubensEntscheidung der Ekklesia" (77), aber das gilt bereits für die Wahrung und Weitergabe der J esustradition, für die Abfassung der Briefe und Evangelien und für die ältesten Sammlungen der urchristlichen Schriften, die alle im Zusammenhang mit dem Leben der Kirche stehen. Entstehung und Tradierung der urchristlichen Verkündigung sind ohne den Kontext der christlichen Glaubensgemeinschaft nicht zu verstehen, und das betrifft in derselben Weise die Fixierung der bleibenden Glaubensgrundlage in Gestalt des neutestamentlichen Kanons. Wurde schon in ältester Zeit um das rechte Verständnis der christlichen Botschaft gerungen, so ist auch bei der schrittweisen Sammlung der neutestamentlichen Schriften und bei der Festlegung des Kanons eine bewußte Abgrenzung vollzogen worden, di~ in ihrer Bedeutung nicht einfach übergangen werden kann. Nach Räisänen kommen allerdings die Begriffe "Häresie" und "Orthodoxie" "als Deutungskategorien nicht in Frage" (79). Dies mag für eine religionsgeschichtliche Betrachtung zutreffen, im Blick auf das Selbstverständnis der neutestamentlichen Texte ist darauf nicht zu verzichten. 4. Im Blick auf die Durchführung einer neutestamentlichen Theologie sieht Räisänen die Suche nach dem Ursprung und die "Idealisierung des Ursprungs" (88) als problematisch an. Wenn sich eine Darstellung schon am Kanon orientiert, habe sie sich doch auf die darin enthaltenen Schriften als "Endprodukte" zu konzentrieren, nicht aber auf die "durch historische Kritik rekonstruierte Verkündigung J esu", während diese umgekehrt durchaus Bestandteil einer religionswissenschaftlichen Konzeption sei (80). - Natürlich kann die rekonstruierte Verkündigung Jesu nicht einfach neben die neutestamentlichen Schriften gestellt werden, wohl aber muß die Rückfrage nach J esus und die Rezeption durch die U rgemeinde Bestandteil einer neutestamentlichen Theologie sein. Nicht zufällig ist die gesamte urchristliche Verkündigung zurückbezogen auf das Ursprungsereignis in der Person und Geschichte J esu, was nicht unberücksichtigt bleiben darf. Mag eine Idealisierung der Anfangszeit problematisch sein, die Frage nach dem Ursprung und
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dem allmählichen Werden christlicher Tradition und Lebensformen ist für eine neutestamentliche Theologie' unerläßlich und legitim. Auch bei anderen Religionen ist ja die Frage nach deren Ursprung keineswegs bedeutungslos. 5. Räisänen ist sich bewußt, daß die Eigenperspektive des jeweiligen Forschers eine nicht geringe Rolle spielt, aber unter Kontrolle gehalten werden muß. Eine volle Objektivität ist keinesfalls zu erreichen, erst recht keine absolute Neutralität. Er findet daher im "fair play" ein angemessenes Schlagwort für den Umgang mit Texten (82). Das muß im Blick auf religionswissenschaftliche Arbeit in jedem Falle gelten; die Frage ist aber, ob dies in der Exegese als Alternative zu einer neutestamentlichen Theologie zu gelten hat, bei der es um die Eigenintention der zu untersuchenden Überlieferung und deren Gegenwartsbedeutung geht. Immerhin berücksichtigt Räisänen die Frage der aktuellen Relevanz, auf die er in einem Anhang eingeht (108-110). Bei aller Konsequenz, mit der er die religionsgeschichtliche Rekonstruktion und die Aktualisierung unterscheidet, vertritt er jedenfalls die Auffassung, daß Aktualisierung möglich und sinnvoll ist. Das hat aber nicht im Sinn einer "Anwendung" zu geschehen, sondern einer "Konfrontierung", so daß damit kritische Impulse freigesetzt werden. Ob das aber ein Gegensatz ist? 6. Insgesamt handelt es sich bei Räisänen um einen in sich geschlossenen methodischen Entwurf, der die neutestamentliche Exegese im Sinn religionswissenschaftlicher Prinzipien definiert. Dabei werden die theologischen Elemente bewußt ausgeklammert, und die Textinterpretation wird in einem alternativen Sinn durchgeführt. Zugleich wird damit aber auf eine fruchtbare Integration religionsgeschichtlicher Fragestellungen in die theologisch orientierte Exegese verzichtet. Gerd Theißen, der eine eng verwandte Auffassung von der "Religion der ersten Christen'( vertritt, versteht seinen Entwurf immerhin als eine komplementäre Darstellungsweise, die die neutestamentliche Theologie nicht aufhebt 4 • 2 Die Notwendigkeit einer neutestamentlichen Theologie
Wenn ich der Kritik an Räisänens Programm meine eigene Konzeption gegenüberstelle, wie ich sie in einem zweibändigen Werk über die "Theologie des N euen Testaments" durchführeS, dann tue ich das, um dies ebenfalls der kritischen Rückfrage auszusetzen. 1. Da ich den ersten Teil meiner Ausführungen mit der Frage begonnen habe, was Religionsgeschichte ist, so ist nun die Frage zu stellen: Was ist Theologie und speziell eine neutestamentliche Theologie?
4 Vgl. G. THEISSEN, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000, 13f. S F. HAHN, Theologie des Neuen Testaments I/II, Tübingen 2003.
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1.1 Grundsätzlich ist Theologie ein Nach-Denken über den als verbindlich anerkannten Wahrheits anspruch, speziell den Wahrheitsanspruch der christlichen Botschaft. Theologie ist insofern nicht neutral und unparteiisch, sondern reflektierte Explikation des Glaubensgrundes. Neutestamentliche Theologie hat deshalb ein anderes Ziel als die religionswissenschaftliche Erforschung der biblischen Texte. Es ist keine Betrachtung "von außen", sondern Auslotung der Innenperspektive. Sie steht in Zusammenhang mit der Frage nach der "Wahrheit des Evangeliums". Die Darstellung einer Theologie des Neuen Testaments im Sinn des Gültigkeitsanspruchs der Texte ist für die Exegese unaufgebbar. Nur auf diesem Wege ist die spezifische Intention der urchristlichen Texte zu erfassen. Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei gleich hinzugefügt: Voraussetzung für eine neutestamentliche Theologie ist dabei natürlich nicht der persönliche Glaube, sondern das in den Texten erkennbare Glaubensverständnis. 1.2 Religionsgeschichte des Urchristentums und neutestamentliche Theologie sind zweifellos unterschiedliche Konzeptionen. Das heißt aber nicht, daß die Erkenntnisse religionswissenschaftlicher Forschung für die Theologie irrelevant wären; sie werden jedoch wie die philologischen, literaturgeschichtlichen und soziologischen Beobachtungen in einen speziellen Kontext eingeordnet und unter einer bestimmten Perspektive berücksichtigt. Neutestamentliche Theologie ist jedenfalls nicht durchzuführen ohne einen Rückgriff auf die historischen Bedingungen und Entstehungsverhältnisse. Entscheidend sind aber die jeweiligen Verkündigungsaussagen und deren theologische Relevanz, wobei die Frage nach der Verbindlichkeit der Texte nicht ausgeklammert werden darf. Das bedeutet Konzentration auf das Glaubenszeugnis, weswegen zum Beispiel die Positionen der Gegner in urchristlicher Zeit oder die spätere gnostische Entwicklung, die natürlich in den Zusammenhang einer religionsgeschichtlichen Darstellung gehören, hier keinen eigenen Raum beanspruchen können. Beim Ringen um die Wahrheit wurden bereits im Urchristentum klare Kriterien entwickelt, die durchaus überprüfbar bleiben, aber grundsätzlich Relevanz behalten. Der Vorwurf, daß dabei andere religiöse Konzeptionen karikiert werden (76), mag in Einzelfällen zutreffen, gilt aber keinesfalls generell. 2. Neutestamentliche Theologie geht somit vom Anspruch der Texte aus und entfaltet deren Aussagen. In einem ersten Arbeitsgang sind nach meiner Auffassung die ältesten Traditionen und die einzelnen Schriften und Schriftenkomplexe im Sinn einer Theologiegeschichte des Urchristentums zu behandeln. Aufgabe ist dabei, die grundlegenden theologischen Entwürfe in ihrer Eigenständigkeit und Vielfalt möglichst prägnant herauszuarbeiten. Das kann aber nur ein Teil der Aufgabe einer Theologie des Neuen Testaments sein, obwohl neuere Darstellung sich vielfach darauf beschränken. Es muß darüber hinaus nach der Konvergenz und
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nach der inneren Zusammengehörigkeit der urchristlichen Zeugnisse gefragt werden. Es genügt auch nicht, lediglich in grundsätzlichen Thesen die Mitte des Neuen Testaments zu bestimmen (so durchaus eindrucksvoll Peter Stuhlmacher)6; es muß vielmehr anhand aller wesentlichen Einzelthemen das Problem der Einheit erörtert werden, wobei die Spannungen und gelegentlichen Widersprüche selbstverständlich zu berücksichtigen sind. 3. Die Darstellung der Theologiegeschichte des Urchristentums hat mit dem Ursprung der ältesten christlichen Überlieferung einzusetzen. Das bedeutet, daß die vorösterliche Botschaft und Geschichte Jesu ein Bestandteil dieser Darstellung sein muß. Die historische Rückfrage nach Jesus gewinnt allerdings erst dann eine spezifisch theologische Relevanz, wenn zugleich aufgezeigt wird, wie sie von der nachösterlichen Verkündigung rezipiert und in diese integriert worden ist. Das besagt, daß die durch das Ostergeschehen erschlossene Perspektive einbezogen werden muß, die eine wesentliche Komponente für die christliche Botschaft und Theologie darstellt. Unter der doppelten Voraussetzung des Wirkens Jesu und des Ostergeschehens ist danach die älteste christliche Traditionsbildung zu erörtern. Das betrifft zunächst die Konzeption der aramäisch sprechenden Gemeinde J erusalems und die der griechisch sprechenden Gemeinden der Frühzeit; die U nterscheidung beider ist übrigens nicht nur aus sprachlichen, sondern auch aus erkennbaren inhaltlichen Differenzen nicht zu umgehen (man denke nur an das Missionsverständnis). Im Anschluß daran ist die Theologie des Paulus zu besprechen. Bei ihm tritt uns erstmals ein weithin geschlossener theologischer Entwurf entgegen. In der Paulusschule setzen sich alsbald unterschiedliche Tendenzen durch, wie aus dem Zweiten Thessalonicherbrief, dem Kolosser- und dein Epheserbrief und den Pastoralbriefen hervorgeht. Ein eigenständiger Komplex stellt dann die außerpaulinische Briefliteratur aus hellenistisch-judenchristlicher Tradition dar, wozu der Jakobusbrief, der Erste Petrusbrief, der Hebräerbrief und die J ohannesoffenbarung gehören. Im Anschluß daran ist die Theologie der synoptischen Evangelien einschließlich der Apostelgeschichte zu behandeln. Ein letzter großer Komplex betrifft das Johannesevangelium und die Johannesbriefe. Schließlich sind noch die an der Wende vom ersten zum zweiten Jahrhundert entstandenen Schriften zu berücksichtigen, wozu neben dem Judas- und dem Zweiten Petrusbrief die Apostolischen Väter gehören. - Unter theologiegeschichtlicher Perspektive sind also die Grenzen des Kanons insoweit offen, als Schriften zu berücksichtigen sind, die die Brücke zu den Apologeten und der weiteren altkirchlichen Theologie darstellen. Da es aber bei der theologiegeschichtlichen Betrachtung um die direkte oder abgeleitete Verbindlichkeit von Texten geht, sind die Apo6 Vgl. P. STUHLMACHER, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Band 2, Göttingen 1999, 287-349.
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kryphen angesichts ihrer häretischen Tendenzen beiseite zu lassen. Ihre Behandlung gehört in den Zusammenhang einer Geschichte des ältesten Christentums, bei der abgesehen von der Religiosität der Umwelt auch die verschiedenen synkretistischen Nebenformen im frühchristlichen Bereich zu behandeln sind. Hier kommt dann auch die religionsgeschichtliche Methode zur Anw:endung. 4. Die theologiegeschichtliche Darstellung der urchristlichen Überlieferung enthebt den Exegeten nicht der Aufgabe, die Einheit des Neuen -Testaments zu bestimmen. Dabei ist zunächst auf die strittige Frage einzugehen, ob es überhaupt möglich oder gar notwendig ist, die Einheit aufzuzeigen. Das wird sehr unterschiedlich beantwortet. Ist in der konservativen Forschung des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts bei der Entfaltung verschiedener "Lehrbegriffe" die Einheit einfach vorausgesetzt worden, so ist dies von der kritischen Forschung angesichts der durchaus vorhandenen Spannungen mit stichhaltigen Gründen bestritten worden. Wieweit dann noch von einer Konvergenz oder einer Mitte des Neuen Testaments gesprochen werden kann, wurde seither unterschiedlich beurteilt. In einem einzigen Fall ist die alleinige Darstellung der Vielfalt des urchristlichen Zeugnisses als theologisch notwendig angesehen worden; das gilt für die Auffassung von Rudolf Bultmann, für den das Kerygma als Heilszuspruch seinem Wesen nach unverfügbar ist, daher auch nur in unterschiedlicher Weise artikuliert werden kann 7• Demgegenüber hat Heinrich Schlier 1957 in einem programmatischen Beitrag zu Recht gefordert, daß die Einheit unter Berücksichtigung der grundlegenden urchristlichen Glaubensformeln explizit zu machen sei, und das dürfe keinesfalls in allgemeinen Grundsätzen stecken bleiben; denn die neutestamentliche Theologie sei wie jede echte Theologie eine konkreteS., Den ersten Versuch einer thematisch entfalteten, auf die Einheit zielenden neutestamentlichen Theologie hat Karl Hermann Schelkle vorgelegt, dessen vierbändiges Werk allerdings mehr eine Materialsammlung als eine wirkliche Auswertung der unterschiedlichen Traditionen ist9 • In anderer Weise ist Wilhelm Thüsing in einem leider unabgeschlossen gebliebenen Entwurf vorgegangen; er bemüht sich, anhand von zentralen Kriterien die Gemeinsamkeit der vielfältigen neutestamentlichen Theologien zu bestimmen 1o • Wenn ich selbst mich nun um eine entsprechende Darstellung mühe,
7 Vgl. R. BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1953, 91984, durchgesehen und ergänzt von Otto Merk, 585-589. B Vgl. H. SCHLIER, Über Sinn und Aufgabe einer Theologie des Neuen Testaments, in: G. Strecker (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments, WdF 367, Darmstadt 1975,323344. 9 Vgl. K. H. SCHELKLE, Theologie des Neuen Testaments, Bände 1-4, Düsseldorf 1968-1976. 10 Vgl. W. THÜSING, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus, Bd. 1, Münster 21996; Bd. 2,1998; Bd. 3,2001, hg. von Th. Söding.
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so möchte ich methodisch mit Schelkle nach Themen vorgehen, aber mit Thüsing den Textbestand problemorientiert aufarbeiten. 4.1 Bei der Erörterung der Einheit des urchristlichen Zeugnisses ist in jedem Fall der Kanon des Neuen Testaments zugrunde zu legen. Er steht, wie bereits erwähnt, in Kontinuität mit der nachösterlichen Traditionsbildung und deren Verschriftlichung. Es geht um das gemeinsame Grundzeugnis, in dem die Wahrheit des Evangeliums erkennbar wird. Bei der Durchführung dieser zweiten Aufgabe ergeben sich nun mehrere Schritte. 4.2 Einzusetzen ist in einem ersten Kapitel mit dem Alten Testament als der "Bibel des Urchristentums" (von Campenhausen)11. In der im Neuen Testament erkennbaren "Offenheit zum Alten Testament hin" (Stuhlmacher) besteht das prinzipielle Recht der Forderung nach einer Biblischen Theologie. Allerdings ist angesichts der unterschiedlich beurteilten Vielfalt sowohl des Alten wie des Neuen Testaments eine ausgeführte gesamtbiblische Theologie zumindest derzeit noch nicht durchführbar (vgl. immerhin Stuhlmacher 12 und Klein 13). Wohl, aber ist im Blick auf das Neue Testament die konstitutive Rückbindung an das alttestamentliche Zeugnis zu beachten. Dabei geht es nicht nur um das Vetus Testamenturn in Novo receptum, also um die urchristlich herangezogenen alttestamentlichen Texte (so Hübner)'\ sondern um das Alte Testament insgesamt in neutestamentlicher Sicht. Zu behandeln ist in diesem Zusammenhang das Alte Testament sowohl als Zeugnis des vorausgehenden als auch des kommenden Geschichtshandelns Gottes; ferner ist auf die lnterpretatio Christiana der alttestamentlichen Überlieferung einzugehen. 4.3 In einem mehrteiligen zweiten Kapitel geht es um das Offenbarungs handeln Gottes, in dem Theologie, Christologie, Pneumatologie und Ansätze für eine spätere Trinitätslehre zu behandeln sind. 4.3.1 Grundlegend für das ganze Neue Testament ist das Bekenntnis zu dem einen Gott, der sein verheißenes Heil zu verwirklichen beginnt. Die eindeutige Priorität der Theologie darf bei aller Dominanz der Christologie nicht übersehen werden. Dabei gehören Schöpfungs-, Erlösungs- und Vollendungshandeln Gottes untrennbar zusammen. Widersprüche oder Spannungen gibt es in dieser Hinsicht innerhalb des Neuen Testaments kaum, nur die Breite und Intensität der Aussagen
11 Vgl. H. FREIHERR VON CAMPENHAUSEN, Das Alte Testament als die Bibel der Kirche vom Ausgang des Urchristentums bis zur Entstehung des Neuen Testaments, in: ders., Aus der Frühzeit des Christentums, Tübingen 1963, 152-196. 12 Vgl. P. STUHI.MACHER, Wie treibt man Biblische Theologie?, BThSt 24, Neukirchen-Vluyn 1995. \3 V gl. H. KLEIN, Leben neu entdecken. Entwurf einer Biblischen Theologie, Stuttgart 1991. 14 Vgl. H. HÜBNER, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Band 1, Gättingen 1990,62-70.
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über Gott ist unterschiedlich; sie ergänzen sich aber und fügen sich zu einem Gesamtbild zusammen. 4.3.2 Das Heilshandeln Gottes ist unlösbar verbunden mit der Person Jesu Christi. Das wird in der Christologie reflektiert und expliziert. Dabei geht es zunächst um Jesu Person, seine Würde und Funktion unter Zurückstellung der Soteriologie. Die Christologie hat ihr Zentrum einerseits in dem Rückblick auf die irdische Geschichte Jesu und auf seinen Tod und andererseits in der Auferweckung und seinem gegenwärtigen und zukünftigen Wirken (die beiden Grundpfeiler oder "Hauptkriterien" Thüsings). Dabei sind im Urchristentum sehr verschiedene Modelle entwickelt worden; so vor allem irdischer und wiederkommender Menschensohn, leidender und auferweckter Messias, erniedrigter und erhöhter Herr, Sendung des Gottessohnes, himmlischer Hoherpriester. Es handelt sich um Modelle, die sich vielfach überlappen, aber nur teilweise miteinander verbunden wurden oder regelrecht zusammengewachsen sind. U neinheitlich ist dabei die stärkere Betonung von J esu Tod oder seiner Auferweckung (zum Beispiel Paulus und Lukas); uneinheitlich ist die Gewichtung des vorösterlichen Verkündigens und Wirkens Jesu neben der Osterbotschaft (Evangelien und urchristliches Kerygma); uneinheitlich ist die Einbeziehung der Motive der Präexistenz und Schöpfungsmittlerschaft (Synoptiker und J ohannesevangelium). Es kann nicht die Aufgabe sein, dies nivellierend auszugleichen. Stattdessen muß aufgezeigt werden, auf welchem Wege sich unterschiedliche Aussagen auf gemeinsame Grundintentionen zurückführen lassen und wie in ihrer Wechselbeziehung bestimmte Aspekte zur Geltung kommen, die für ein Gesamtbild wesentlich sind. " 4.3.3 Mit Theo-Iogie und Christologie eng verbunden sind die pneumatologischen Aussagen des Neuen Testaments. Sie enthalten ein breites Spektrum von rein dynamistischer Auffassung bis hin zur Personalisierung bei der Parakletvorstellung. Die Eigenständigkeit der einzelnen Konzeptionen ist in jedem Fall zu wahren; es darf nicht alles sofort dem durch reflektierten johanneischen Geistverständnis subsumiert werden; vielmehr ist deutlich zu machen, wie die verschiedenen Ausformungen sich zueinander verhalten und sich ergänzen. 4.3.4 So wenig es im Neuen Testament eine durchreflektierte oder ausgebaute Trinitätslehre gibt, so sehr ist zu bedenken, daß dafür deutliche Ansätze erkennbar sind und daß eine Trinitätslehre die notwendige Konsequenz aus den neutestamentlichen Texten ist. In jedem Fall ist eine trinitarische Grundstruktur erkennbar und aufzuzeigen. 4.4 In drei weiteren Kapiteln sind die soteriologische, die ekklesiologische und die eschatologische Dimension des Offenbarungshandelns Gottes in J esus zu bedenken, was bedeutet, daß das Offenbarungsgeschehen der übergeordnete Gesichtspunkt bleibt. Dabei betrifft die Erörterung der soteriologischen Dimension
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ein höchst komplexes Gefüge. Hier ist eingangs die Anthropologie zu behandeln, der Mensch als Geschöpf und als Sünder, sowie das Problem des Gesetzes. Daß es dabei nicht nur Spannungen, sondern auch Überschneidungen und Widersprüche gibt, ist nicht zu bestreiten, weshalb nun zu fragen ist, warum es zu so divergierenden Elementen gekommen ist und wieweit Gründe dafür erkennbar sind. In der Anthropologie stehen beispielsweise Aussagen über eine trotz der Sünde verbliebene Bindung an Gott und eine radikale Sicht des Sünderseins gegenüber, die sich vordergründig ausschließen, aber zwei Aspekte zum Tragen bringen, die dialektisch dennoch zusammengehören. Zu klären ist ferner, ob verschiedene Aussagen nur aus der veränderten äußeren Situation abzuleiten oder nicht doch im theologischen Ansatz begründet sind. Das betrifft das Verständnis des alttestamentlichen Gesetzes, das nicht nur wegen der zunehmend heidenchristlichen Gemeindetradition an Bedeutung verlor, sondern vor allem wegen der Neuinterpretation des Gesetzes als des "Gesetzes Christi" und dessen Integration in die Heilsbotschaft. Weitere Teilthemen dieses Kapitels sind die geschehene Errettung des Menschen, also die heils begründende Komponente der Christologie, sowie das Evangelium als gegenwartsbezogene Proklamation und Zusage des Heils, wozu auch ein Abschnitt über die gegenwärtige Teilhabe am Heil gehört. 4.5 Zur ekklesiologischen Dimension des Offenbarungshandelns Gottes gehören zunächst Nachfolge und Glaube sowie das Selbstverständnis der Jüngergemeinschaft; dabei sind zwar Verlagerungen erkennbar, aber keine gravierenden Verschiedenheiten. Dasselbe gilt für die christliche Taufe, während sich beim Herrenmahl eher unterschiedliche Tendenzen abzeichnen. Noch deutlicher sind die Differenzen bei der Frage der Gemeindeleitung und bei der Verkündigung unter Juden und Heiden. Wieder müssen die einzelnen Tendenzen miteinander verglichen, auf ihre Ansätze zurückgeführt und in Beziehung zu einander gesetzt werden. Zur ekklesiologischen Dimension gehört schließlich die urchristliche Ethik, bei der Voraussetzungen und Grundlagen einerseits und die konkrete christliche Verantwortung für Kirche und Welt andererseits zu besprechen sind. Auch das ist wieder unter der leitenden Fragestellung der Konvergenz zu erörtern, wobei die Einheit in den Grundprinzipien Vorrang vor den durchaus variablen konkreten Einzelentscheidungen innerhalb der Paränese hat. 4.6 In dem Kapitel über die eschatologische Dimension des Offenbarungshandelns Gottes sind zuerst Aussagen über das weitergehende Heil und die Drangsal in der Weh zu behandeln, dann die Texte über die Zukunftshoffnung und die künftige Vollendung des Heils. Hier ist es vor allem notwendig, die verwendeten bildhaften Vorstellungen zu hinterfragen und auf ihren Wesens kern zurückzuführen.
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5. Indem die neutestamentliche Exegese die Aufgabe wahrnimmt, neben der urchristlichen Theologiegeschichte auch die innere Einheit des Neuen Testaments zu bestimmen, nimmt sie eine fundamentaltheologische Funktion wahr. Es geht ja um das Fundament schlechthin für die christliche Verkündigung, den christlichen Glauben und die christliche Kirche. Die Exegese übernimmt damit zwar keine systematisch-theologische Aufgabe in dem Sinn, daß die neutestamentliche Botschaft im Zusammenhang mit den Fragestellungen der Folgezeit und den Problemen der Gegenwart durchdacht wird; andererseits treibt sie mehr als eine bloße "Zuarbeit für die Dogmatik" (Stuhlmacher), indem sie die gemeinsame Grundkonzeption urchristlicher Theologie darstellt. Sie übernimmt damit ein Stück anfänglicher dogmatischer Arbeit und geht bewußt einen Schritt über die divergierenden Texte hinaus. So wenig sie auf die Auslegungs- und Wirkungsgeschichre dabei einzugehen hat, so wenig steht sie vor der Notwendigkeit der aktualisierenden Applikation; sie verweist aber auf deren entscheidende Voraussetzung, sofern die neutestamentlichen Texte als solche nicht nur rückblickend und heilsbegründend sind, sondern als Heilsbotschaft einen konsequent gegenwartsbezogenen und zukunftsorientierten Charakter besitzen. Es handelt sich ja trotz aller konkreten Bezugnahmen auf die Gegenwart von damals um einen grundsätzlichen Bezug auf jede Gegenwart, was in der Erhähungschristologie und der Pneumatologie seinen Ausdruck gefunden hat. 6. Wird neutestamentliche Theologie in diesem Sinne durchgeführt, dann unterscheidet sie sich prinzipiell von einer religions geschichtlichen Betrachtung der urchristlichen Texte. Sie befindet sich mit ihrer spezifischen Aufgabe der theologischen Interpetation der kanonischen Schriften im Kontext der anderen theologischen Disziplinen. Darüber hinaus steht sie in Relation zur christlichen Kirche, indem sie grundlegende Elemente freisetzt, die für die Praxis ebenso eine aufbauende wie eine kritische Bedeutung haben.
3 Schluß
Es ist von hoher Bedeutung, daß die Eigenständigkeit der religionswissenschaftlichen und religions geschichtlichen Forschung hervorgehoben wird, wie das Heikki Räisänen getan hat. Das schließt aber die Notwendigkeit einer neutestamentlichen Theologie nicht aus, deren Prinzipien ebenfalls klar definiert sein müssen. Daß sich in beiden Fällen offene Fragen ergeben, braucht dabei nicht übersehen zu werden. Ausschlaggebend ist, daß man über den jeweiligen methodischen Zugang Rechenschaft ablegt und sich über eine sinnvolle Wechselbeziehung verständigt.
Wolfgang Wischmeyer EIN MAGISCHES KREUZ Bemerkungen zu I Kourion 202
An der zyprischen Südwestküste liegen die Ruinen der alten Stadt Kouri6n, die nach Herodot (Hist 5,113) auf argivische Ursprünge zurückgeht! und in der Antike durch ihren Apollotempel berühmt war2 • Kourion liegt höchst malerisch auf einem steilen Hügel über einem schmalen Uferstreifen3 • Auch in der Spätantike hat die Stadt vor ihrer Zerstörung durch Erdbeben 4 wohl auf Grund ihrer Lage an einem steilen Hang - nach Ausweis der Monumente und vor allem der Inschriften5 noch eine bedeutende Rolle gespielt. Kourion bietet verschiedene Kirchenanlagen6 , den großen Bischofskirchenkomplex7 und 1 Vgl. K. NICOLAOU, Kourion Cyprus, in: R. Stillwell / W. L. MacDonald / M. H. McAllister (ed.), Princeton encyclopedia of classical sites, Princeton 1976, 467f.; zur Geschichte der Stadt, bes. in der römischen Zeit, vgl. R. S. BAGNALL / T. DREW-BEAR, Notes on the History of Kourion, ChronEg 49, 1974, 179-195; D. SOREN / J. JAMES, Kourion. The search for a lost Roman city, New York 1988; D. CHRISTOU, Kourion. Seine Monumente und lokales Museum, Nicosia 71997; 1. HUBER, in: K. Brodersen, Antike Stätten am Mittelmeer, Stuttgart 1999, 420-422. 2 D. BIRGE, AAOOC; and the Sanctuary of Apollo Hylates, in: J. C. Biers (ed.) Studies in Cypriote archaeology, Los Angeles 1981, 153-157; D. BUITRON / D. SOREN, Excavations in the Sanctuary of Apollo Hylates at Kourion 1979 and 1980, in: J. C. Biers (ed.) Studies (s.o.), 99-104; D. SOREN, Some New Ideas on Dating and Rebuilding the Temple of Apollo Hylates at Kourion, RDAC 1983,232-241; DERS., The Apollo sanctuary at Kourion. Introductory summary of the excavation and its significance, in: Cyprus between the Orient and the Occident. Acts of the international archaeological symposium Nicosia 1985, Nicosia 1986, 393-404; DERS., The sanctuary of Apollo Hylates at Kourion / Cyprus, Excavations at Kourion / Cyprus 1, Tucson 1987; S. SINOS, The temple of Apollo Hylates at Kourion and the restoration of its south-west corner, Athen 1990; D. BUITRON-OLIVER, The sanctuary of Apollo Hylates at Kourion. Excavations in the archaie preeinet, Studies in Mediterranean archaeology 109, Aström 1996. 3 Zum Problem des Hafens: D. CHRISTOU, Some brief thoughts on the ancient harbor of Kourion, in: Res maritimae. Cyprus and the Eastern Mediterranean from prehistory to late antiquity. Proceedings of the Second International Symposium "Cities on the sea" Nicosia 1994, Atlanta 1997,371-372. 4 D. SOREN, Earthquake. The last days of Kourion, in: J. C. Biers, Studies (s. Anm. 2), 117-132. 5 T. B. MITFORD, The inscriptions of Kourion, Philadelphia 1971. 6 A. H. S. MEGAW, Excavations at the Episcopal Basilica at Kourion in Cyprus in 1974 and 1975. A Preliminary Report, DOP 30, 1976, 345-371; DERS., The Atrium of the Episcopal Church at Kourion, RDAC 1979, 358-365; DERS., Progress in Early Christian and Medieval Archaeology. The Episcopal Basilica at Kourion, in: Archaeology in Cyprus 1960 - 1985, Nicosia 1985, 292-295; R.
Wo/fgang Wischmeyer
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zwei weitere Basiliken8 , interessante Beispiele einer reich ausgestalteten Hausarchitektur9, vor allem aber die in Stil und Ikonographie sehr interessanten und prachtl1 lO vollen Fußbodenmosaiken aus der hellenistischen Epoche , aus der Kaiserzeit und aus spätantiker Zeit 12 • Durch seinen Reichtum an Fußboden mosaiken zeichnet sich auch der sogenannte "Eustolios-Komplex" aus, eine die Dimension einer domus sprengende, eher palastartige Anlage mit einem Thermentrakt, nach Aufweis der Münzenfunde zur Zeit des Valens errichtet und in der Zeit Theososius' 11 erweitert. Stifter der Anlage war ein sonst unbekannter Eustolios, den wir aus der Mosaikinschrift für die Stiftung der Thermen in der Osthalle des Komplexes kennen. Er vergleicht sich wegen seiner Wohltätigkeit für seine Mitbürger in Kourion in drei eleganten Distichen mit den einstigen Wohltaten des Apollo und feiert sich als wiedergekommenen Phoibos 13 : ]tO ······ .• · .• 1J~V11~ 1T··9· tlX <; ]wv EK TIOöo<; Euato.ho<; ] Pll<; ETIE(t.~alXto 'IXAA' &plX KIXL tf]<; ]w<;AOYIp.u XlXpLaa&~Evo<; ]§~~~"Co KOUPLOV (~k TIQ"CE olßo<;
N~ "'~1JI}EV UTIllVE~(llV14.
So wie Apollo einst der Stadt Kourion Wohltaten erwies, erweist nun das Subjekt von Eo((EtO der Stadt Wohltaten. Wer verbirgt sich hinter dem Subjekt? Dies LOVERANCE, Early Byzantine marble church furnishings. Some examples from the episcopal basilica of Kourion in Cyprus, in: Church and people in Byzantium, Birmingham 1990, 225-243. 7 A. H. S. MEGAW, The episcopal precinct at Kourion and the evidence od relocation, in: A. A. M. Bryer / G. S. Georghallides (Hg.), The sweet land of Cyprus, Nicosia 1993, 53-67 (55 fig.1). 8 Zu diesen und zur "Kriminalgeschichte" besonders der frühbzyantinischen zyprischen Wandmosaiken, deren Reste - soweit sie wiedergefunden und zurückgeführt werden konnten - jetzt im Erzbischöflichen Museum in Nicosia gesammelt sind, vgl. D. KOROL, Die spätantik-christlichen Wand- und Gewölbemosaiken Zyperns und ihre neue re Geschichte, in: S. Rogge (Hg.), Zypern. Insel im Brennpunkt der Kulturen, Schriften des Instituts für Interdisziplinäre Zypern-Studien 1, München 2000, 159-201. 9 A. H. S. MEGAW, Byzantine architecture and decoration in Cyprus: Metropolitan or provincial?, DOP 28, 1974,57-88. 10 D. W. RupP, A hellenistic black and white pebble mosaic from the acropolis of Kourion, RDAC 1978, 254-265. 11 Zum Haus der Gladiatoren: M.xp. AOUUOUTTTl, ANA~KAAI EI~ KOYPION, 1967-1970; >H OIKIA TON MONOMA30N<, RDAC 1971, 86-116; zum Haus mit dem Achilleus-Mosaik: K. NrCOLAOU, Kourion, o. 0.1996,58. 12 D. MrCHAELIDES, Some characteristic traits of a mosaic workshop in Early Christian Cyprus, in: La Mosaique greco-romaine 8, 2001, 314-325; 1. NrcoLAou, The Transition from Paganism to Christianityas revealed in the Mosaic Inscriptions of Cyprus, in: J. Herrin / M. MuHet / C. OttenFroux (Hg.), Mosaic. FS A. H. S. Megaw, British School at Athens Studies 8, London 2001, 14-17. 13 Mitford, inscriptions (s. Anm. 5), 204. 14 Ich folge der Transskription von Nicolaou, Transition (s. Anm. 12), 15.
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müssen wir angesichts der Zerstörung dieser Mosaikinschrift fragen. Grundsätzlich kommen verschiedene Personen in Frage. So ist auch in der Literatur darüber diskutiert worden, ob hier - unter der Antithese damals und heute - überbietend Christus dem Phoebus Apollo gegenübergestellt wird. Dabei würden dann alle jene Attribute mitschwingen, die eine biblisch gespeiste poetische Theologie Christus als der "neuen Sonne", "der Sonne der Gerechtigkeit", beigelegt hae s. Gegenüber dieser zwar möglichen, aber doch aus einem argumentum e lacuna bestehenden Ergänzung dürfte es methodisch angemessener sein, den in unserer Inschrift als Stifter gerühmten Eustolios mit Phoibos zu parallelisieren. Das entspricht auch den panegyrischen Nebentönen ähnlicher Stiftungsepigramme. Damit wird der Stifter aber zugleich in eine auch juristisch sehr komplizierte Hierarchie der Stifter aufgenommen. Diese setzt ihn zunächst in eine Beziehung zum Kaiser als dem eigentlichen Ktistes und weiter auch zur staatlichen Verwaltung sowie zur Parallelstruktur des Bischofs und der jeweiligen Ortskirche. Der Stifter wird in dieses traditionelle Geflecht des Euergetismus l6 eingeordnet. Außerdem gewinnt "dieser neu entstandene Unfug, um sich einen Namen zu machen", so Justinian in November 67, im Verlauf der Spätantike zunehmendes Eigengewicht - bis dahin, daß die traditionell vorgegebene Topographie antiker Städte durch große und oft auch mit Kirchen versehene überdimensionierte Hauskomplexe gestört wird, die für die Tendenz der Entwicklung zu einer "societe feodale" (M. Bloch) charakteristisch sind. Unseren Eustolios-Komplex in Kourion könnte man, gerade auch wegen der exzeptionellen topographischen Situation am Hang, als ein frühes Beispiel für eine solche U mstrukturierung und U morganisation der spätantiken Stadt betrachten 17 • Wie wichtig das Stiftungs thema in dieser Zeit und für unseren Eustolios ist, zeigt das Medaillon mit der Personifikation der Ktisis l8 aus dem Frigidarium der Thermenanlage. Das Bildthema ist in Antiochia gleich fünfmal belegt l9 • Wenn wir die Ansprüche, die dort in der Metropole Asiens mit ihm verbunden sind, auf Kourion übertragen, können wir die Dimension erahnen, die Eustolios für seine Stiftung prätendierte.
15 Vgl. die reichhaltige Dokumentation aus Literatur und Kunst bei M. WALLRAFF, Christus verus sol. Sonnenverehrung und Christentum in der Spätantike, JbAC Erg.bd. 32, 2001. 16 V gl. die klassische Darstellung von P. VEYNE, Le pain et le cirque, Paris 1985. 17 Vgl., bes. für den syrischen Raum: C. JÄGGI / H.-R. MEIER, " ... this great appetite for church building still needs adequate explanation". Zum Kirchenbauboom am Ende der Spätantike, in: R. L. Colella / M. J.Gill / L. A. Jenkens / P. Lamers (Hg.), Pratum Romanum. Richard Krautheimer zum 100. Geburtstag, Wiesbaden 1997, 181-198. 18 Mit Beischrift: Mitford, Inscriptions (s. Anm. 5), N r. 205; vgl. Megaw, Byzantine architecture, Abb. 4. Ob der Winkel, den Ktisis hier hält, die für die zyprische Spätantike maßgebende pes-Norm enthält (so ebd., 60), mag dahingestellt bleiben. 19 Vgl. D. LEVI, Antioch Mosaic Pavements 2, Princeton 1947, passim.
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Leider ist eine weitere Mosaikinschrift mit dem elegischen Distichon am Eingang zu den Südräumen des Komplexes zu zerstört, um uns eindeutig die Tugenden nennen zu lassen, die die Mentalität des Stifters Eustolios bestimmen sollen20 : 'E~EöprlV SaAa~6v TESUW [öEa Toum]!! [aö]EAtPat
A i.öw < C; > I:wtPPOOUVT] TE Kat [.......] KO~EOUO LV.
In konventioneller Weise werden drei Tugenden einander als Schwestern zugeordnet und vorgestellt, "als Hüterin dieser Exedra, d.h. des Apsidenraumes, und dieser zerbrechlichen Halle", nämlich Aidos und Sophrosyne sowie Euv6~La - so der erste Editor, Mitford - oder - so die neueren Herausgeber':"- die in der Spätantike sehr viel stärker verbreitete und zum klassischen Dreitugendkanon gehörende Personifikation der EuoEßELa / pietas. Deren Bezug zum Stiftungswesen ist auch deutlicher ausgeprägt und kommt in unzähligen Stiftungsinschriften der unterschiedlichsten Funktionen zum Ausdruck, obwohl ein solcher auch bei Eunomia vorhanden ist .. Ins Stiftungsgedicht treten also Begriffe, die mit Sophrosyne und - wohl - Eusebeia die Mentalität des Stifters als philosophisch und religiös bestimmt akzentuieren. Dazu paßt auch der weniger"weit verbreitete Terminus Aidos, der ebenfalls in einem philosophisch-religiösen Umfeld zu Hause ist, vielleicht aber hier eher die schamvoll-fromme Verehrung meint, die man seiner Heimatstadt schuldet. In eben diesem Sinne wird dann oft bei Stiftungen etwa vom "Erziehungsgeld" (SpETTT~pLOV) gesprochen, das man der Stadt zurückgibt, in der man aufwuchs und erzogen wurde. Trifft diese Sinnkomponente zu, so betont ~ustolios damit seinen starken Zusammenhang mit seiner Vaterstadt Kourion. Dieser Zusammenhang wird auch in den daneben vergleichsweise trivial wirkenden Akklamationen aus dem Vorhof unserer Anlage deutlich. In einem von ei-' ner bunten Girlande gerahmten Clipeus lesen wir schwarz auf weiß2 1: E'(o[aYE] ETT' ayaS[4)] EUTUXWC; T4) OLK
Was das Gute, was das Glück für unseren Eustolios-Komplex überraschenderweise darstellt, finden wir dann in I Kourion 202, der interessantesten Inschrift des Komplexes. Diese unbeschädigte Mosaikinschrift befindet sich auf dem Fußboden des Durchgangsbereiches von der südlichen zur östlichen Säulenhalle. Sie enthält ein Epigramm von drei daktylischen Hexametern in archaisierend-homerischem Stil: 20 Mitford, Inscriptions (s. Anm. 5), Nr. 203; Christou, Kourion (s. Anm. 1),30; Nicolaou, Transition (s. Anm. 12), 15 u. pI. 1,4. 21 Mitford, Inscriptions (s. Anm. 5), Nr. 201.
Ein magisches Kreuz
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, Av-rL At.8wv I-lEYaAWV, av'"Cl. a'"CEpEOLO aLÖ~pOU (hedera) xaAKou '"CE ~av8010 KaI. au'"Cou av'"C' aÖeXl-lav-coc;; E'LÖE Ö0I-l0L (waav-co iTOAUAAt.'"Ca a~l-la'"Ca Xpw'"Cou
Mitford und die späteren Herausgeber22 sehen alle den ersten Buchstaben von 1.3 als eine Verschreibung des Mosaizisten und lesen < 0> '(ÖE Ö0I-l0L. Allein Christou23 schreibt EIßE ßOMOI, übersetzt aber: "Anstatt großer Steine und soliden Eisens, schimmernder Bronze und auch Adamant, ist dieses (Hervorhebung vom Verfasser) Haus umgeben von den hochverehrten Zeichen Christi." Ich möchte den vorliegenden Text nicht derart korrigieren, zumal das exklamatorische E'(ÖE deshalb gut paßt, weil es sich metrisch einordnet und die dichterische Intensität unseres Epigramms und seines Inhaltes zu steigern vermag. Ich schlage deshalb folgende sinngemäße Übertragung vor: "Siehe, anstatt mit großen Steinen, hartem Eisen und gliinzendem Erz, ja statt mit unzerstörbarem Diamant gürtete sich das Haus mit den hochverehrten Zeichen Christi. « Im aufgehenden Mauerwerk der Außenwände, vielleicht auch - die Position unseres Mosaikepigramms im Durchgangsbereich legt dies nahe - auf dem Türsturz unseres Durchgangs befanden sich diese "Zeichen Christi", also Kreuzesdarstellungen. In diesen "Zeichen" Hinweise auf die in den Mosaiken zu findenden Darstellungen von Graugänsen, Fasanen, Falken, Reb- und Perlhühnern sowie den Fischen als christlichen Symbolen zu sehen, ist abwegig. Die a~l-la'"Ca Xp W'"Cou weisen eindeutig .auf Kreuzdarstellungen, lassen aber über die Form: crux graeca oder latina, Christogramm oder Staurogramm und ihre vorhandene oder nichtvorhandene Rahmung, keine sichere Vermutung zu. Diese Zeichen Christi besitzen - darauf weist gerade ihre Erwähnung in einem Durchgangs- und Eingangsbereich - eine apotropäische Funktion: Sie halten das Übel draußen. Diese magische Verwendung des "heilbringenden Sieges zeichens" ist in der Antike so weit verbreitet, daß sich hier Einzelnachweise erübrigen. Es sei nur etwa auf das Phänomen der Kreuzeshäufung hingewiesen. Sicherer ist es eben, wenn man noch ein paar Kreuze hinzufügt und es damit auch noch gelingt, eine magisch hochwertige Zahl zu erreichen. Daß der Gedanke der Magie für unsere Inschrift nicht abwegig ist, zeigt das Gürtelmotiv (waav'"Co. Der "Gürtel" - ein Fundamentalmotiv der Magie und des Volksglaubens - spielt in Epigrammen eine große Rolle, meist in erotischem Zusammenhang. Aber auch dort ist ja sehr oft ein magischer Kontext mitgegeben, der das Lösen des die Frau schützenden Gürtels erreichen will, so daß der magische Adept sie verführen, sie zwingen und sich ihrer "bemächtigen" kann. Daß 22 23
Bis zu Nicolaou, Transition (s. Anm. 12), 14. Christou, Kourion (s. Anm. 1), 27.
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Wolfgang Wischmeyer
hierfür in den Zauberpapyri, besonders den koptischen, auch der gesamte religiöse Apparat der himmlischen Mächte aufgeboten werden kann, zeigt den engen Zusammenhang von Magie und Religion im spätantiken Denken 24 • Die diesen schützenden Gürtel schaffenden Kräfte, also das, was Schutz und Bestand des Eustolios-Komplexes garantieren soll, sowie natürlich Glück und Wohlergehen, die "Seligkeit" all derer, die sich hier aufhalten, sind in unserem Falle die Kreuzzeichen.' Sie werden mit einem Wort attributiert, das seit homerischen Zeiten in der religösen Sprache gebraucht wurde und dann besonders in der Dichtung für das Motiv "sich den Göttern im Gebet nähern" (Haaol-uu). Das daraus gebildete Adjektiv, das etwa venerabile / adorandum entspricht, wird in unserem Epigramm mit der selteneren Hyperbolform TfOA.uÄ.A.I."C'OC; wiedergegeben, auch einem alten homerischen Wort, das in religiöser Dichtung. und . Philosophie bis zu Proklos weiterlebt. Es darf aber im Zusammengang des "U mgürtens" auch das biblische Zeugnis nicht vergessen werden: 1:6~ov ÖUva1:WV ~a8EvllaEV, KaL aa8EVOUV1:EC; TfEpI.E(waaV1:o öuva~.I.I.v (1 Sam 2,4 LXX bzw. üd 3,4). Dies ist umso weniger, als diese Verse eine dichte Rezeptionsgeschichte sowohl in der Auslegungsgeschichte der Kirchenväter 25 wie in der kirchlichen Hymnographie26 besitzen . .Die Kreuze, diese "viel! höchstanbetungswürdigen Zeichen" , besitzen die Macht, wie ein Gürtel, wie ein magischer Kreis, das Haus (öojJ.OI.) zu schützen. Das können sie besser (aV1:L) als "riesige Steine, als hartes Eisen, als strahlendes Erz, ja selbst als ein Diamant", den doch kein Mensch zerschneiden oder zerschlagen kann, ganz abgesehen von all den magischen übelabwehrenden Eigenschaften, die ihm wegen seiner physischen Härte zu eigen sind. Diamanten kommen nur selten in Inschriften vor, auch nicht in der für die metrische Dichtung sehr geeigneten Formel mit aV1:L, auf die im Zusammenhang der anderen Materialien gleich einzugehen sein wird. Adamas kennen wir in verschiedenen Formen als Namen, unter anderem auch als Sklaven und Freigelassenennamen27, und begegnen ihm als Adamantius in der christlichen Literturgeschichte. Diamanten selbst finden wir in Inschriften zum Beispiel als Weihegaben, so in zwei Ringen für den kleinen Finger bei der Ausstattung einer Isis in Cadiz oder einen Diamanten und ein Schwert für Herkules in Adramyttion28 •
24 Vgl. W. WISCHMEYER, Magische Texte. Vorüberlegungen und Materialien zum Verständnis christlicher spätantiker Texte, in: J. van Oort / D. Wyrwa (Hg.), Heiden und Christen im 5. Jahrhundert, löwen 1998,88-122. 25 Vgl. Didymus, Eccl. 9,8-10,20; Johannes Chrysostomus, deJoanne apostolos, PG 59,613. 26 Analecta Hymnica Graeca. Canones Iulii 11,17,6,24; 23,31,76. 27 Vgl. z. B. CIl 8,12589. 28 CIl 2,3386 = IlS 4422,13f: in digito minimo anuli / duo gemmis adamant.; I Adramytt. 23.
Ein magisches Kreuz
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Wie erwähnt sind Verbindungen mit UVrL metrisch sehr interessant. Deutlicher aber dürfte in unserem Epigramm zu dieser Figur die Klimax der Stärke hinzukommen, die in der eine gewöhnliche Trias überbietenden Tetras zum Ausdruck kommt: Stein, Eisen, Erz und Diamant. Und diese Tetras selbst wird nun völlig überboten durch die hochzuverehrenden, schützenden Kreuzeszeichen, die mehr Schutz als die genannten Materialien bieten. Dabei wird die Qualität jener herkömmlicherweise schützenden Materialien noch durch ihre jeweiligen Attribute gesteigert. Die Steine sind groß und lassen gewissermaßen an zyklopische Mauern denken. Das Eisen ist hart. Goldglänzend, strahlend ist das Erz und verrät in seinem Funkeln schon seine Härte. Erst recht verhält es sich mit einem Diamanten so. Aber alle diese Materialien, mögen sie als Fortifikation oder mögen sie als Waffen genutzt werden, ja auch wenn sie als magisches Mittel benutzt werden, wie es sich für den Diamanten nahelegt, werden weit überboten durch den schützenden Bindezauber, mit dem die TTOAUAA.L1:a. <J~1la.1:O: XPL<J1:0U das Haus umgeben und seine Schönheit und das Glück derer sicherstellen, die in ihm verweilen und hier die Annehmlichkeiten des Lebens genießen. Diese Annehmlichkeiten sind dann in der Osthalle, in die der Durchgang mit unserer Inschrift führt, in den Vogel- und Fischemblemata in abbreviierender Weise dargestellt und führen uns in die klassische Welt der Bukolik und der maritimen Szenen bei der Dekoration von repräsentativen Räumen, deren durch Wassertechnologie unterstützte Kühle in der langen heißen Jahreszeit Schutz und Erfrischung bot. Eine solche Stiftung, die der Allgemeinheit - wir wissen nicht in welchem U mfang - zur Verfügung stand, und ihren Stifter preisen alle Inschriften des Eustolios-Komplexes und besonders I Kourion 202. Sie sind natürlich von Eustolios selbst veranlaßt. Wie oft in der spätantiken Epigrammdichtung kommt es dabei auch hier zu einer eigentümlichen Verbindung von christlichen und nichtchristlichen Elementen 29 • Außer der Hervorhebung der Person des Stifters und der Pracht und des Nutzens seiner Stiftung für die Stadt und ihre Bürger zielen solche Epigramme darauf, den Wert des Stiftens und damit auch des Neugründens als einer ebenso einmalig großen wie nachahmenswerten Tat herauszustellen. Wie der Stifter sich damit in die Tradition des Euergetismus stellt, so steht das damit verbundene Epigramm in einer literarischen Konvention. Hier begegnen sich Altes und Neues und formen jene uns schwer verständliche, aber für die Spätantike und die frühbyzantinische Zeit charakteristische Mentalität, in der sich wie in I Kourion 202 29 Vgl. W. WISCHMEYER, Die Menas-Inschrift aus Anazarbus (I. K. 56,58). Ein "nonnianisches" Epigramm der gelehrten Märtyrerfrämmigkeit, in: W. Kinzig / A. M. Ritter / W. Wischmeyer (Hg.), "Zur Zeit oder Unzeit". FS H. G. Thümmel, Birmingham 2003, 184--200.
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Wo/fgang Wischmeyer
antike Formen und literarische und religäse Motive mit den neuen christlichen Motiven mischen. Last but not least in diesen Bemerkungen, die einem Neutestamentler, dem ebenso gelehrten wie liebenswürdigen Erlanger Kollegen und großen Kenner der Wissenschafts geschichte Otto Merk gewidmet sind, sei schließlich angemerkt, daß auch das apotropäische Kreuz in die Rezeptionsgeschichte des paulinischen Skandalon des Kreuzes gehärt. In I Kourion 202 zeigt sich exemplarisch in einem Epigramm aus dem Kontext spätantiker Stiftermentalität, was sich ereignet, wenn die differenzierende Schärfe paulinischen theologischen Denkens und Argurnentierens und die durch sie bereitgestellte Offenheit in magischer Religiäsität fixiert und eingefangen wird.
Gerhard Müller DIE AUFERWECKUNG DES LAZARUS IN DER AUSLEGUNG MARTIN LUTHERS UND RUDOLF BULTMANNS
1 Martin Luthers Predigten über Joh 11
Martin Luther hat das J ohannesevangelium hoch geschätzt. In seiner Vorrede zum Neuen Testament von 1522 "Wilchs die rechten und Edlisten bucher des neuen testaments sind" schreibt er: "Denn nemlich ist Johannis Euangelion unnd Sanct Paulus Epistelln, sonderlich die zu den Romern, und sanct Peters erste Epistel der rechte kern und marck unter allen buchern ... Und eym iglichen Christen zu ratten were, das er die selben am ersten und aller meysten lese, und yhm (sich) durch teglich leßen so gemeyn mechte, als das teglich brott. Denn ynn disen findis tu nicht viel werck unnd wunderthatten Christi beschrieben, Du findist aber gar meysterlich außgestrichen, wie der glaube an Christum sund, tod und helle uberwindet und das leben, gerechtigkeyt unnd seligkeyt gibt ... Weyl nu J ohannes gar wenig werck von Christo, aber gar viel seyner predigt schreybt, widderumb die andern drey Evangelisten viel seyner werck, wenig seyner wort beschreyben, ist Johannis Euangelion das eynige zartte recht heubt Euangelion und den andern dreyen weyt weyt fur zu zihen und hoher zu heben.
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Gerhard Müller
listen th uno Der beschreibets aber kurtz, der nicht von Christus wercken, sondern kürtzlich anzeiget, wie er durch sein sterben und aufferstehen Sünde, Tod und Helle uberwunden habe denen, die an jn gleuben, wie S. Petrus und Paulus. ,,3 Geblieben ist also die hohe Achtung der Petrus- und Paulusbriefe, während das J ohannsevangelium nicht mehr von den Synoptikern lInterschieden wird. Das könnte damit zu tun haben, daß der Wittenberger Reformator 1546 Wert darauf legt, daß Christus kein neuer Mose sei, wie die Vorreden des Hieronymus zu den neutestamentlichen Schriften nahelegten4 • Daß Jesus wirklich der Verkündiger des Evangeliums ist, haben nach Luthers Meinung im Jahr 1546 die Briefe der genannten Apostel deutlicher zum Ausdruck gebracht als die Evangelien. Gleichwohl ist der Reformator in seiner Arbeit immer wieder mit den Evangelien beschäftigt gewesen s. Häufig hat er auch Abschnitte aus dem Johannesevangelium ausgelegt. Er predigte gerne darüber, weil er meinte, der Evangelist verkünde "Trost fürs angefochtene Gewissen, den Trost, der in der Rechtfertigung des Sünders beschlossen liegt"6. Aber nicht nur persönliche, sondern auch lehrmäßige Gründe ziehen den Reformator zum vierten Evangelium: "Luther schätzt ... Johannes ... wegen seiner dogmatischen Bedeutung": Er lehre die Trinität und die Christologie meisterlich 7• Diese sind aber für Luther die Vorraussetzung und Ermöglichung der Rechtfertigungsbotschaft. "Darum ist J ohannes ,ein aus bündiger Evangelist', ... weil er nicht den Weg des Menschen zu Gott, sondern den Weg Gottes zum Menschen verkündet. ,,8 Luthers Auslegung des J ohannesevangeliums verdient Beachtung: "Die christozentrische Gottesschau, _die Paradoxie der christlichen Wahrheit und den Leidensgedanken bei J ohannes hat wohl kein Ausleger so stark zur Geltung gebracht wie Luther. ,,9 Er hat sich auch nicht vor Aussagen verschlossen, die zwar in der östlich-orthodoxen Theologie beachtet, die aber im Abendland leicht überhört werden: "Es gibt für J ohannes ein christliches Eritis sicut Deus, und Luther hat sich nicht gescheut, diese überschwengliche Aussage auf-
3 W A.DB 6, 7,22.27-29; 9,lf. 4 Vgl. WA.DB 6, 9,3-5. 5 Vgl. G. EBELING, Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthers Hermeneutik, Tübingen 31991; W. VON LOEWENICH, Luther als Ausleger der Synoptiker, FGLP 10/5, München 1954. 6 W. VON LOEWENICH, Luther und das Johanneische Christentum, FGLP 7/4, München 1935, 16. 7 Ebd., 20 (mit Verweis auf WA 45, 467). 8 Ebd., 22. 9 Ebd., 51; vgl. auch DERS., Die Eigenart von Luthers Auslegung des Johannes-Prologes, SBAW.PH 8/1960, München 1960,54: "Luthers Exegese (des Johannes-Prologes) ist durchgängig christozentrisch; darin liegt ihr eigentlicher Fortschritt"; vgl. auch M. KREuZER, "Und das Wort ist Fleisch geworden." Zur Bedeutung des Menschseins Jesu bei Johannes Driedo und Martin Luther, KKTS 68, Paderborn 1998.
Die Auferweckung des Lazarus in der Auslegung Luthers und Bultmanns
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zunehmen. "10 Also auch für gegenwärtige Diskussionen in der Lutherforschung ll verdient Luthers Auslegung des vierten Evangeliums Aufmerksamkeit. Der Text, dem wir uns hier zuwenden, ist bisher offenbar kaum beachtet worden. Er fehlt zum Beispiel im Bibelstellenregister bei Ebeling und von Loewenich l2 • Der Wittenberger hat auch nicht häufig über ihn gepredigt - das ist bei Texten anders, die als Perikopen aus den Evangelien jährlich auszulegen waren. Immerhin liegen von ihm Auslegungen über die Auferweckung des Lazarus aus den Jahren 1518, 1539 und 1540 vor, also aus seiner frühen und aus seiner späten Tätigkeit, was auch Entwicklungen oder Veränderungen erkennen läßt. Im Jahr 1518 hielt Luther zwei Predigten über Texte aus dem J ohannesevangelium während der Fastenzeit, und zwar am Mittwoch und am Freitag nach dem Sonntag Laetare. Beide wurden im Jahr 1702 gedruckt und sind dadurch überliefert lJ • Während die erste Auslegung die Geschichte vom Blindgeborenen Joh 9,138 behandelte, wandte sich der Reformator am 19. März 1518 einem weiteren johanneischen Wunderbericht zu: "Wie der Herr Lazarum vom Tod 'erweckt. "14 Diese Ausführungen über Joh 11,1-45 sind also als eine der sogenannten Wochenpredigten gehalten worden. Der Wittenberger Theologe meint eingangs, Christus begehre "in aller geschrifft der Aposteln und Propheten nichts anders von uns ... , denn das wir ein sicher und trutzig hertz und zuversicht zu im (ihm) haben"ls. Es wird also nicht zentral auf das Wunder einer Totenerweckung abgehoben, sondern es wird das Vertrauen zu "Christus unser(em) Gott"16 thematisiert. Wird Gott als Gott geglaubt, dann ist nicht die Problematik eines Wunders entscheidend, sondern die Einstellung der Christen dem Gottessohn gegenüber. Dadurch wird es möglich, das pro nobis eines vergangenen Geschehens herauszuarbeiten. Im Anschluß an Augustin wird sodann auf die drei Totenerweckungen durch Jesus verwiesen, die in den Evangelien berichtet werden: "ein Jungfrau von 12 jaren" (Mt 9, 18-26), die Tochter des Jairus, sodann der "einige(n) Son der Widwe" (Lk 7,11-17), der Jüngling von Nain, und schließlich Lazarus l7. Augustin folgend findet Luther hier "dreyerley geschlecht der Sünder" charakterisiert: "Das erste sind die, die an der Seelen gestorben sind." Anfechtung hat bei ihnen zur Sünde
Von Loewenich, Luther (s. Anm. 6), 57. Die neuere finnische Lutherforschung hat diesen Komplex zur Debatte gestellt; vgl. z. B. T. MANNERMAA, Glaube, Bildung und Gemeinschaft bei Luther, Lu] 66, 1999, 167-196. 12 V gl. Ebeling, Evangelienauslegung (s. Anm. 5), 537; v. Loewenich, Luther (s. Anm. 6), 92. 13 Vgl. WA 1,266. 14 WA 1,273,6. 15 W A 1,273,11-13. 16 WA 1,273,10. 17 Vgl. WA 1,273,14-22. 10 \1
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geführt, die die Seele tötete. Aber sie "stehen gering (=leicht) auff von dem falle. Gott handelt auch mit inen ganz süssiglich, ruHt sie heimlich, schickt inen zu ein innerlich unterweisung ihres Hertzens, das sie allein wissen." 18 Das betrifft die Tochter des J airus. "Der ander Todte bedeut, die in den wercken gefallen sind, das man sie mus tragen." Diese müssen acht haben, "sonst werden sie durch schwerheit der Sünden (denn eine zeucht zu ir die ander, als sanct Gregorius sagt) ganz uritergedrückt"19. Den Tod aufgrund bösen Tuns finden also Augustin und Luther im Geschick des Jünglings von Nain ausgedrückt. Den ,schwersten' Tod aber stellen beide Theologen im Ergehen des Lazarus fest: Er ist der Sünde "also verhafft", daß sie ihm zur "gewonheit" geworden ist, "welche in eine natur wird gewandelt, wissen nicht anders denn sündigen, stincken und sind vergraben in der Sünde"20. Matthias Flacius Illyricus hatte gemeint, die Sünde sei die Natur des nicht wiedergeborenen Menschen - jedenfalls wurde seine Lehre von seinen Gegnern so interpretiert. Diese Auffassung wurde in der Konkordienformel von 1577 abgelehnt21 . Flacius hätte sich auch nicht auf diese Äußerung Luthers berufen können (wenn sie ihm denn bekannt gewesen wäre), weil Luther hier nicht von der Erbsünde spricht, sondern die Schwere der Sünde in diesem speziellen und ähnlich gelagerten Fällen zum Ausdruck bringen will. Die Sünde belastet die, die J esus vom Tod erweckt hat, also unterschiedlich schwer. Entsprechend leicht kann J esus die Tochter des J airus ins Leben zurückrufen. Etwas schwerer ist dies beim Jüngling von N ain, was man daran sehe, daß Jesus ihm gebieten muß aufzustehen. Am schwersten ist die Erweckung des Lazarus. Christus wendet sich zunächst an Gott, seinen Vater, und befiehlt dann dem Gestorbenen, aus seinem Grab herauszukommen: Er "ist herfür komen, gebunden hende und füsse, auch sein angesicht, und den haben die Apostel müssen auHlösen. Das ist das grab und kercker, die verhertung der Sünde."22 Wenn auch diese Klassifizierung heute auf wenig Zustimmung stoßen dürfte, so beruht sie doch auf der Vorstellung vom Zusammenhang von Sünde und Tod, von dem das Neue Testament spricht (vgl. Röm 6,23). Immer gehört zum Tod als Voraussetzung die Sünde, die unterschiedlich schwer gewesen sein kann. Augustin und Luther scheuen sich deswegen nicht, den Zusammenhang von Sünde und Tod auch für das Sterben der Tochter des J airus zu behaupten, die von Gott aber "innerlich" unterwiesen worden sei. Der Gemeinde wird mit dieser -Interpretation etwas Bibelkunde WA 1, 273,23-3l. WA 1,274,1-4. 20 WA 1, 274,(r.9. 21 Vgl. die Ausführungen über die Erbsünde in der Konkordienformel in: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 6. Aufl., Gättingen 1967, 770-776.843-866. 22 Vgl. WA 1,274,9-18. 18
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vermittelt oder ins Gedächtnis zurückgerufen, bevor auf den Bericht von der Auferweckung des Lazarus im einzelnen eingegangen wird. Der Wittenberger geht von der Mitteilung der Martha aus: "Herr, den du liebest - nämlich Lazarus -, ist kranck." Daß der Gottessohn nicht den Sünder, sondern die Wahrheit liebt, wird sofort hervorgehoben - angesichts der Schwere der Sünden, die Lazarus gerade nachgesagt worden waren, ist dies naheliegend. Zum Beleg für die Einstellung J esu wird auf Ps 45, 8 hingewiesen: "Du hast geliebet Gerechtigkeit und gehasset die bosheit." Aber zugleich erinnert Luther an das Christuswort Mt 9, 13: "Ich bin nicht kamen umb der rechten willen, sondern das ich gerecht mache, was ungerecht ist und sündlich, und die bösen zu der busse füre. ,,23 Alle Menschen seien des Hasses würdig, so führt der Prediger aus. Dennoch habe Christus uns geliebt. Er habe dies "aus gebot des Vaters" getan. Der wolle nun, daß wir Christi "Menschheit ansehen und in wider lieben". Ganz beiläufig werden der Gemeinde noch trinitarische Eigenschaften mitgeteilt: Dem "Vater wird zugelegt die gewalt, dem San die Weisheit, die gütigkeit dem heiligen Geist". Dieser Gott sei für uns unerreichbar, so daß wir verzweifeln müßten, wenn nicht Christus "vom Himmel gestiegen" wäre und "die Sünder aus gehorsam des Vaters" geliebt hätte 24 . Die Predigt wird nun ganz christozentrisch: Durch J esu Kommen haben wir Menschen Hoffnung. "Christus ist der rechte Brieff, das güldene Buch, darinnen wir lesen, Lernen in (ihn) sehen, vor Augen den Willen des Vaters." Es gebe keinen Weg, der näher zum Vater wäre, "denn das wir Christum lieben, in in (ihn) hoffen und trauen, alles gutes uns kecklich zu im versehen, in lernen kennen und loben"25. Nicht der Tod eines Menschen wird hier thematisiert oder die Trauer seiner Angehörigen, sondern unser Verhältnis zu Gott, das durch Jesus ein neues Fundament erhalten habe. Dadurch werde unser "elendes ... verzagtes gewissen ... erquicket." Das Gewissen erschrecke und erzittere vor der Reinheit und Gerechtigkeit Gottes - "bis das es Christum erwischet, die rechte Pforte und Ancker". Darin bestehe die gute Botschaft für die Trauernden: Gott "neret uns, tregt uns, wartet unser etc. durch seinen San. Also wird unser hertz umbgekeret, Christo nachzufolgen." Dies "haben mit hohem vleis geleret Petrus und Paulus, die zwey Heubter der Kirchen, auch alle andern Apostel"26. Um nichts anderes als die Rechtfertigung des Sünders geht es also für die Gemeinde bei der Predigt über die Auferweckung des Lazarus: Nicht auf unsere Werke komme es an, "wie gros sie sind, Gebet, Gesenge, geplerre, gekleppere. Denn es Vgl. WAl, 274,19-27. Vgl. WA 1,274,28-40. 25 Vgl. WA 1,274,41-275,6. 26 Vgl. WA 1,275,7-23.
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Denn es wird sicherlich keiner durch diese alle zu Gott komen." Vielmehr müsse das Herz "ein W olgefallen haben in Christo und durch Christum zum Vater". W er dagegen sein eigenes Tun für wichtiger hält, gehe verloren. Luther wirbt um Vertrauen zu Gott, der in Christus zu den Menschen damals wie heute kommt: "Sehet, wie freundlich er unser Hertz zu im zeucht, der fromme Gott. Er liebet Lazarum, der ein Sünder was. Item, er tregt den verzagten Glauben seiner Jünger." Alle ohne Ausnahm~ sind "im unglauben und Sünde gewesen ... Noch (Dennoch) sehen wir, wie göttlich der Herr mit inen umbgehet, betet und weinet mit inen ... Das ist das rechte kunstbuch, daraus wir den willen des ewigen Vaters erlernen. ,,27 Luth.er hält sich an dieses meisterliche Buch, an das "kunstbuch" in seiner Predigt, nämlich an Christus und sein Wort. Natürlich haben wir keine Traueransprache vor uns. Aber dennoch hätte man über die Befindlichkeit von Martha und M"!.ria oder der damaligen Trauergemeinde reflektieren können. Das tut der Wittenberger Theologe aber nicht. Vielmehr argumentiert er trinitarisch und christologisch. Seiner Gemeinde will er nahe bringen, was diese Erzählung für sie bedeutet: "Mercket nu auff, alle die, die ir ein blödes (verzagtes) gewissen habt, das ir euch nicht mit diesen oder jenen wercken erlösen werdet. Denn es wird euch gehen als einem, der im Sande arbeitet; je mehr er auswirfft, je mehr auff in fellet." Statt solch falschen Verhaltens fordert der Prediger dazu auf, Gott seine Sünden zu bekennen, zu bereuen und ihn um Hilfe zu bitten 28 • Der Wittenberger mahnt nicht nur zur Abkehr von den eigenen Werken, sondern warnt auch vor falscher Zuversicht zu den Heiligt!n. Wenn man schon über sie predige, dann solle man "aus dem Evangelio" sagen, "wie sie gefallen weren". Denn "sie sind eins fleisches mit uns, eines Glaubens, einer Tauffe, eines bluts". Selbst Petrus - wie gesehen: eines der Häupter der Kirchd - wurde nach seiner Seligpreisung durch J esus bald darauf von diesem als Satan bezeichnet (vgl. Mt 16,17.23). Die Wirrnisse des Lebens mit seinen Höhen und Tiefen werden von Luther lapidar zusammengefaßt: "Also (So) ist es." Ein jeder sei von sich aus "ein teufel, aber aus Christo heilig". Nur "wenn man die Heiligen mit Christo verknüpfft, so (dann) sind es Christi rechte Heiligen"29. Nichts soll von dem Gottessohn als dem alleinigen Weg zu Gott ablenken30 , auch nicht die so hoch geachteten Heiligen. Die Erzählung von der Auferweckung des Lazarus drücke deswegen "nichts aus denn Christi süssigkeit aus dem gehorsam des Vaters, und das er nichts gibt aus verdienst". So faßt Luther seine Predigt zusammen. In den Mittelpunkt hatte er Vgl. WA 1, 275,38-276,21. Vgl. WA 1,276,22-29. 29 Vgl. WA 1, 276,30-277,3. 30 Joh 14,6 hatte Luther während seiner Predigt zitiert; vgl. WAl, 275,2f. 27
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nicht das Wunder einer Totenerweckung gestellt, sondern das Wunder der Rechtfertigung. Wenn uns der Teufel mit Anfechtung überschütte, müßten wir - "wiewol ich nichts guts getan habe" - nicht verzweifeln. Christi "süssigkeit" bleibe. Nur die Verdammten blieben Gott fern - das zeige die Bibel an vielen Stellen -, bis sie den ,letzten Heller bezahlen'(vgl. Mt 5,26). Wer sich Christus zuwendet, der uns liebt, der werde sich auch den Mitmenschen zuwenden3!. Diese Predigt will während der Passionszeit auf den verweisen, der zu trösten vermag. Denn Gott ist es, der sich den Glaubenden zuwendet, die ihm nichts vorzuweisen vermögen, die aber die Güte, die "süssigkeit" Christi erkennen und ihre Konsequenzen daraus ziehen. Am Tag vor dem Palmsonntag des Jahres 1539, also am 29. März, legte der Wittenberger Professor wieder die Geschichte von der Auferweckung des Lazarus aus. Diese Predigt ist durch eine Nachschrift Georg Rörers überliefert worden32 . Luther ordnet seine Ansprache in das Kirchenjahr und speziell in die Passionszeit ein33 , um dann den Skopus des Textes so zu formulieren: Hier "siehst du, warum Christus in die Welt kam und was sein wahres Amt ist; und hier hat er ein recht vorspiel gemacht seines Amtes. Sein Amt ist dies, daß er den Tod besiegt und die Toten vom Tod erweckt."34 Es geht also auch im Jahr 1539 nicht 'Um das individuelle Geschick des Lazarus, sondern um das "offitium", den Auftrag Christi. Der bestehe in der Überwindung des Todes. Dafür ist die Geschichte des Lazarus ein "vorspiel", ein Hinweis auf das, was einmal grundsätzlich und überall geschehen soll. Aber natürlich hat der Prediger nicht nur die Passion, sondern auch Ostern im Blick und meint: Wir wissen, "daß Christus auferstanden ist und seine Auferstehung die Auferstehung des ganzen Menschengeschlechts bewirkt. Das ist sein ampt. ,,35 Mit diesen Worten wird das Thema der Predigt wiederholt, um es der Gemeinde einzuprägen. Auf die spezielle Erzählung eingehend, betont der Reformator die Besonderheit dieser Totenerweckung. Zwar werde von solchen Handlungen auch durch Elia und Elisa, durch die Apostel und durch Christus selbst" berichtet. "Aber einen Begrabenen und schon in einem Grabmal Liegenden zu erwecken, das ist ein sonderlich, wunderlich Werk." Es hätte die anwesenden Juden zum Glauben an den Gottessohn bewegen müssen. Der Evangelist habe das Tun J esu besonders hervorgehoben. "Er schläft", sagt Jesus Goh 11,11). Später zeigt er, "daß er vom Tod redet, den er einen Schlaf nennt"36. Aber auch durch anderes deute der Evangelist Vgl. WA 1,276,4-16. Vgl. WA 47, XIX. 33 Gedruckt W A 47, 712-715. 34 Vgl. WA 47, 712,21-24. 35 Vgl. WA 47,713,1-3. 36 Vgl. WA 47,713,5-11.
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die Besonderheit dieses Werkes an: J esus erfährt von der schweren Erkrankung seines Freundes, bleibt aber dennoch zwei weitere Tage, "lesst in sterben und kompt 4 tag nach dem Tod"37. Wenn Jesus dann dennoch von einem Schlaf spreche, dann sei dies darauf zurückzuführen, "das unser herr Gott in allem Denken anders ist als die anderen Menschen, als ob er sagte: Der Tod ist schrecklich. Dennoch ist er nicht und sol nicht tod sein. ,,38 Luther geht hier also genauer als im Jahr 1518 auf Einzelaussagen des Textes ein, stellt aber nach wie vor das Wirken des Gottessohnes für alle Menschen in den Mittelpunkt seiner Predigt. Die Erzählung von der Erweckung des Lazarus werde nämlich berichtet, damit "ir seht, welche macht und Potenz Gott hat. Ist mir zuthun, daß ihr Jünger glaubt, daß vor Gott und mir der Tod ein Schlaf ist. Da lerne, wer kann. Mein(e) ja, das sei ein(e) Lektion, sicher zu wissen, daß die, die vor unseren Augen begraben werden, schlafen. Ich wust nicht, wie mans sollt herrlicher, trostlicher predigen. ,,39 Der Gedanke vom Seelenschlaf der Verstorbenen mag im Luthertum aufgrund solcher Aussagen viel Anklang gefunden haben 40 . Aber er ist hier nicht gemeint. Für Luther ist vielmehr entscheidend, daß Christus sich als der Herr über den Tod erweist, obwohl Lazarus bereits vier Tage lang tot ist. Denn grundsätzlich gilt: Der Tod ist "ein schrecklich Teufelswerk, wenn nicht Gott sich so drein gemengt, daß er gemäß dem Werk Gottes ein Schlaf sol heissen "41. Luther betont, durch die biblische Geschichte solle unser Glaube gestärkt werden. Er zitiert J esu Wort an Martha: "Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe" Goh 11,25). Der Prediger fordert die Gemeinde auf: "Laßt uns als Christen darin üben ... , daß wir diesen Worten nachdenken. Die ganze Welt wird erschreckt durch Tod, Pest, Fieber; eine so mächtige Bestie ist der Tod, der alle in ein bockshorn" jagt42. Die Macht des Todes wird nicht verharmlost; es wird nicht bestritten, daß die Furcht vor ihm alle in seinen Bann zieht. Aber dabei muß es nicht bleiben: "Das were mein hertz (Wunsch), daß, wenn Pest oder Schwert kommen, ihr sagen könnt: Das heisse ich ins Bette schlaffen gehen." Aber wir vertrauen auf Heilige oder Äußerlichkeiten und nicht auf Christus 43 . Deswegen werde die Angst vor Krankheit und Krieg nicht weichen. Das liege daran, daß wir das Entscheidende nicht begreifen und meinen, der Glaube sei eine leichte Sache. In Wahrheit aber ist gegen Vernunft, Verstand und Weisheit zu glauben, "daß der, 37Vgl. WA 47, 713,14f. 38 Vgl. WA 47, 713,21-23. 39WA 47, 713,31-714,1. 40 Vgl. P. ALTHAUS, Die letzten Dinge, Gütersloh 1949, bes. 146-148; W. HÄRLE, Dogmatik, Berlin 1995, 630. 41 WA 47, 714,lf. 42 Vgl. W A 47, 714,6-8. 43 Vgl. WA 47,714,10-12.
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der tot ist, lebt, schläft". Der Prediger fordert, auf Christus zu hören. Wir sollen nicht an das denken, was wir sehen, sondern das beachten, was durch J esus geschieht: Lazarus wird auferweckt und die Herrlichkeit Gottes sichtbar. Luther faßt zusammen: "Einen solchen Heiland haben wir, in dessen Augen der Tod nicht Tod ist wie vor der Welt. "44 Das aber ist nur möglich, weil Christus seinem Vater gehorsam war. Doch zugleich ist er ein Mensch und reagiert wie ein Mensch: "Als die Schwestern Martha und Maria weinen, weint auch er selbst. Ist das nicht ein rechter mensch, der sich des Nächsten erbarmt und fragt, wo sie ihn (sc. Lazarus) hingelegt haben, als ob er es nicht wüsste?" Wie ein "natürlicher Mensch" tritt er auf, mit menschlichen Gebärden und Regungen, daß niemand etwas anderes denkt, als daß er· nichts anderes als ein Mensch sei. "Darum predigen wir diesen Artikel, weil 1. Christus, Gott und Mensch, thut und redet wie Gott und Mensch, und er ist (zweitens) dennoch nur der eine Christus." Der Prediger fordert die Gemeinde auf, dies zu bedenken, zumal J ohannes ganz gewissenhaft darauf bedacht sei, "daß er Christum behalt in den 2 naturen"45. Also auch 1539 ist die Christusverkündigung Luthers zentrales Anliegen. Dabei knüpft er an die altkirchliche Christologie an, die er so auszulegen versucht, daß Vertrauen zu Gott geweckt wird und die Angst der Gemeinde gemindert wird oder gar vergeht. Auch die Predigt aus dem Jahr 1540 ist durch eine Nachschrift Georg Rörers überliefert 46 • Der Reformator hat sie am Sonntag Judica, am 14. März 1540 gehalten. Auch in ihr - wie schon ein Jahr zuvor - verweist der Wittenberger zunächst auf die Passionszeit und auf die Bedeutung des Leidens und Sterbens J esu. Während die Juden ihn steinigen wollten, weil er gesagt hatte, daß er älter als Abraham sei (vgl. Joh 8,58), sind wir "drauff getaufft und sterben drauff, daß er nicht allein Mensch ist, sondern (auch) Gott. Wir bessern uns und werden selig durch diesen Artikel. Wir müssen danken, daß wir dieses so Glorreiche hören und predigen dürfen. (Es) ist (ein) so hoch ding, daß die Engel sich nicht gnug druber verwundern. Deshalb wollen wir fröhlich sein, daß wir es hören und lesen können. ,,47 Nach dieser Einführung verlas Luther Joh 11. Er erwähnte, daß nur Johannes dieses Wunder berichtet hat. Das sei nicht verwunderlich, denn wir erführen ja Joh 21,25, daß Jesus noch vieles andere .getan habe, was nicht mitgeteilt worden sei. Aber J ohannes habe dieses ,Sondergut' genau aufschreiben wollen. Mit den Geschwistern Lazarus, Martha und Maria sei J esus persönlich verbunden gewesen. "Sie hatten gesehen, daß er Tote auferwecken kann, und glaubten an ihn. Aber sie Vgl. WA 47,714,25-34. Vgl. WA 47,715,20-27. 46 Vgl. WA 49, XVIII; gedruckt wurde die Predigt ebd., 50-54. 47 Vgl. WA 49,50,2-13. 44
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konnten nicht glauben, daß er als Abwesender Tote erwecken könne."48 Dies wird sofort auf die gegenwärtige Gemeindesituation bezogen: "Der Glaub ist jung und uns zum Exempel, daß Christus (nur) leiblich anwesend helfen könne. So ist es auch mit uns. So wir Christum bey uns hetten, glaubten wir, daß er uns helfen könne. Aber weil er zur Rechten des Vaters sitzt, sehen und hören wir ihn nicht." Wir verhalten uns wie die Menschen zur Zeit J esu. Die Lazarusgeschichte ist uns deswegen "zum Exempel" geschrieben worden: Es liegt am Glauben, ob wir Christus die Macht über den Tod zutrauen. Auch wenn "wir tot und begraben sind, und nicht nur vier Tage, sondern bis zum Jüngsten Tag, und verbrannt oder von wilden Tieren verschlungen werden, weis er, wie er uns wider sol zusamen bringen." Dazu bedarf es eines Glaubens, den der Papst und die Kardinäle nicht hätten. Sie hielten, meint der Prediger, dieses Evangelium "für ein gespot und narren werck". Aber Gott lüge nicht. Deswegen spotte die christliche Gemeinde nicht: "Dies ist der Christen Glaube und Wissen, daß die Toten auferstehen werden." Wir glauben "an den, der sagen kann: ,Lazarus, komm heraus', .der mit einem einzigen Wort auch mich aus Staub und Würmern rufen wird. Mein Leib soll (dann) heller leuchten als die Sonne. ,,49 Es geht also nicht um eine göttliche Epiphanie, sondern um eine Trostgeschichte, die Glauben wecken und stärken will. Auch in dieser Predigt betont Luther die zwei Naturen Christi: Es "gehet so menschlich und freundlich zu uber alle mas, daß sie nicht anders sagen konnten, als daß Christus ein Mensch sei; ... und doch gebraucht er dies Exempel so, daß seine göttliche Herrlichkeit kundgetan wird." Gott hätte Wesen erschaffen können, die ewig leben. Aber aufgrund des Todes kann e~ seine Macht offenbaren. "Wenn du gestorben bist, kannst du an diesem Werk (der Auferweckung) erkennen, wer Gott (und) welches die Herrlichkeit des Sohnes ist. Er wird nur sagen: Steht auf, und alle werden auferstehen ... Der Tod sol nicht Tod heissen, sondern Krankheit." Immer werde Jesus von Johannes als wahrer Mensch und wahrer Gott beschrieben 50 • Auch die Heiden sollen von dieser Auferstehungsgewißheit erfahren 51 • Es geht nicht nur darum, daß Lazarus gerettet wird, vielmehr solle die ganze Welt erkennen, daß Gott der ist, "der die Toten erwecken wird"s2. Insofern ist Lazarus Exempel und nicht etwa ein zum ewigen Leben Erweckter. "Ich bin die Auferstehung" Goh 11,25). Diese Worte gelte es zu bedenken. Besonders wichtig seien sie für Angefochtene und Sterbende, denen man sie einbläuen müsse SJ • Luther faßt zusammen: "Dies ist der christliche Glaube, daß wir die Vgl. Vgl. 50 Vgl. 51 Vgl. 52 Vgl. 53 Vgl. 48
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WA 49,50,14-28. WA 49,50,31-51,18. WA 49, 51,23-39. WA 49, 52,3-6. WA 49,52,15-17. WA 49, 53,4-6.
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Ohren des Herzens öffnen, daß wir wissen, daß die Sterbenden nicht sterben, sondern in das Leben eingehen. ,,54 Anders als die Rhetoriker will der Reformator nicht diskutieren, ob J esu Worte "formaliter vel effective" zu verstehen seien. Vielmehr soll Christus mit den Glaubenden so vereinigt werden, "das die seel im mit den armen an hals falle ... : ,Du bist mein Heiland, die Auferstehung, das Leben.' Nichts anderes als dieser Glaube ergreift dies."55 Nach Luther ist die Auferweckung des Lazarus ein Exempel, eine Erzählung für uns, "damit alle, die umherstehen, glauben, daß sie nicht so den Tod fürchten und unwillig sterben und daß sie von tag zu tag lernen, den Tod zu verachten; was er am Anfang gesagt hat, ,daß die Herrlichkeit Gottes offenbar werde"'56. Auch 1540 geht es dem Wittenberger um den Glauben, der durch die Botschaft von der Auferweckung des Lazarus geweckt und gefördert werden soll. Die Glaubwürdigkeit der Erzählung hängt für ihn daran, ob Gott die Macht über den Tod zugetraut wird. Für Christen ist dies nach Luther - trotz aller Anfechtungen - gegeben. Da in Jesus, der so menschlich agiert, Gott am Werk ist, kann die viva vox evangelii von der Todesfurcht befreien. Das hält sich in Luthers Predigten über Joh 11 die Jahrzehnte hin durch: Das Handeln des Gottessohnes steht im Mittelpunkt, und dies nicht nur für Lazarus und die Seinen sowie für die anderen Anwesenden, sondern für alle Glaubenden, die sich Christus anvertrauen und die "im mit den armen an hals falle(n)" . Auffällig ist, daß der Reformator in den beiden späteren Predigten die Exegese Augustins nicht mehr wiederholt. Dieser hatte gemeint, die Totenerweckungen seien J esus unterschiedlich schwer gefallen, weil die Verstorbenen unterschiedlich schwere Sünden auf sich geladen hätten. Diese quantifizierende Auffassung konnte der Wittenberger später offenbar nicht mehr vertreten. Ein Unterschied besteht auch darin, daß 1539 und 1540 nicht mehr so stark wie 1518 vor dem Vertrauen auf die eigenen Werke gewarnt und nicht mehr ausführlich falsche Heiligenverehrung angegriffen wird. Neu ist in den beiden späteren Predigten auch die Polemik gegen Papst und Kardinäle. Die Verurteilung Luthers durch die römisch-katholische Kirche 1520/21 hat darin ihre Spuren hinterlassen. Offenbar waren auch die "Werke" so rasch zurückgegangen, daß das Vertrauen auf sie schwächer geworden war. Aber die Annahme jedes Glaubenden durch Christus wird durchgehend gelehrt57 .
W A 49, 53,20f. Vgl. WA 49,53,24-54,1. 56 Vgl. WA 49,54,18-25. 57 Vgl. auch E. ELLWEIN, Die Christusverkündigung in Luthers Auslegung des Johannesevangeliums, KuD 6, 1960,31-68, bes. 38-68; G. MÜLLER, "Christus allein alles". Zur Christologie Martin Luthers, in: LKW 48, 2001, 51-70. 54
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2 Rudolf Bultmanns Auslegung der Lazarusgeschichte
Es ist sicher problematisch, nach Texten aus dem 16. Jahrhundert solche zu behandeln, die gut vierhundert Jahre jünger sind. Müßte hier nicht die Wissenschaftsgeschichte berücksichtigt werden, die auf die historischen und methodischen Neuerungen aufmerksam macht 58 ? Auf der anderen Seite ist es aber natürlich auch willkürlich, erst mit Auslegungen der Reformationszeit einzusetzen und alles Vorhergehende gewissermaßen zu überspringen. Aber da eine auslegungsgeschichtliche Darstellung von J oh 11 den Rahmen eines Aufsatzes sprengen würde, muß die Auswahl von nur zwei Theologen als ein exemplarischer Zugang zum Thema verstanden werden. Weder sollen dadurch normative oder auch unzulässige Deutungen noch gar die Erfassung aller möglichen Verstehensweisen behauptet werden. Vielmehr kann es nur darum gehen, an Beispielen den Umgang mit einem neutestamentlichen Text zu erfassen, um sich dadurch anregen zu lassen. Daß Rudolf Buhmann neben Martin Luther gestellt wird, hat damit zu tun, daß Otto Merk dem Marburger Neutestamentler persönlich und wissenschaftlich stark verbunden war und ist59 • Auch der Verfasser dieser Zeilen hat mit Gewinn bei Rudolf Buhmann studiert und von ihm Anregungen und Förderung erfahren. Also nicht die exemplarische Darstellung dürfte problematisch sein. Eher muß man sich fragen, ob es sinnvoll ist, neben Predigten eine Exegese zu stellen. Denn von Buhmann habe ich keine Predigt über Joh 11 entdeckt 60 . Jedoch ist sein Kommentar zum vierten Evangelium so wichtig geworden 61, daß ein Hinweis auf einen kleinen Abschnitt daraus sinnvoll sein könnte. Dem ist nachzugehen. Aufgrund des Zusammenhangs versteht Buhmann die Auferweckung des Lazarus als den Auftakt zur Passion J esu. Denn "durch die Erweckung des Lazarus ist der Todesbeschluß des Synedriums veranlaßt (11,47-53)." Auch "die Jünger ahnen, daß der Weg zum Freunde (Lazarus) in den Tod führen wird (11,7.16)". Buhmann meint, es sei "Jesu Berufswirken ... , das ihn ans Kreuz bringt"62. Jesu 58 Auf die Bedeutung der Wissenschafts geschichte hat O. MERK immer wieder hingewiesen; vgl. z. B. DERS., Biblische Theologie des Neuen Testaments in ihrer Anfangszeit, MThSt 9, Marburg 1972; DERS., Theologie des Neuen Testaments und Biblische Theologie, in: Bilanz und Perspektiven gegenwärtiger Auslegung des Neuen Testaments. Symposion zum 65. Geburtstag von Georg Strekker, hg. v. F. W. Horn, Berlin 1995, 112-143; DERS., Beobachtungen zu Wilhelm HeitmüUers Auslegung des Johannesevangeliums, in: St. Schreiber / A. Stimpfle (Hg.), Johannes aenigmaticus. FS H. Leroy, Regensburg 2000, 173-181. 59 Vgl. R. BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, 9. Aufl., hg. u. ergänzt v. O. Merk, Tübingen 1984. 60 Vgl. R. BULTMANN, Marburger Predigten, Tübingen 1956 und Nachlaß Rudolf Buhmann (1884--1976), bearb. v. H. Waßmann u. a., Tübingen 1999 (masch.). 12 61 R. BULTMANN, Das Evangelium des Johannes, KEK 2, Göttingen 1952; im "Ergänzungsheft" zur 11. und 12. Aufl. dieses Kommentars (Göttingen 1952) finden sich einige Hinzufügungen zur Exegese der Lazarusgeschichte (35Q. 62 Bultmann, Evangelium (s. Anm. 61), 300.
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Auftrag bestehe darin, den Vater zu verherrlichen. Dies geschieht durch seine Reden und seine "Zeichen", die er tut63 . J ohannes habe dieses Zeichen einer T otenerweckung mit Bedacht gewählt, das "im Eingang der Passion" Jesus als die Auferstehung und das Leben "erscheinen läßt"64. Der Exeget verweist darauf, daß es für diese Erzählung keine Parallele bei den Synoptikern gibt, daß der Verstorbene "in den Hintergrund gedrängt" worden sei und seine "Schwestern zu den Hauptpersonen gemacht worden" seien65 . Die Verse 1-16 werden als "Einleitung" verstanden, und die äußere Situation wird skizziert. Vers 3 - die Mitteilung von der Erkrankung des Lazarus - wird als "indirekte Bitte" gedeutet, "daß Jesus komme und den Kranken heile"66. Aber bereits Vers 4 mache deutlich, daß es in dieser Erzählung um die "Verherrlichung Gottes" gehe 67 . Nicht das Wunder stehe im Mittelpunkt, sondern das Handeln des Vaters - also können zwar die Schwestern des Lazarus als wichtiger als der Verstorbene, aber doch nicht eigentlich als "Hauptpersonen" verstanden werden. "Diese Tat (wird) auch J esus selbst verherrlichen." Denn die Herrlichkeit "des Vaters und des Sohnes bilden eine Einheit"68. Bultmann versteht die Erzählung also christologisch. Der Logos, der Fleisch wurde Goh 1,14), hat Teil an Gott. Zwar wird "Jesu Wundertat ihn ans Kreuz bringen". Aber "sie wird zu seiner endgültigen Verherrlichung führen"69. "Der Sinn des Kreuzes" ist geradezu die Verherrlichung Jesu. Nicht um eine Wundererzählung geht es, in der das Exorbitante des Ereignisses im Mittelpunkt stünde, sondern um eine "Epiphanie-Geschichte"70. Bultmann verweist darauf, daß es "zunächst unbegreiflich" ist, daß J esus die Bitte der Schwestern nicht umgehend erfüllt und sich zum Kranken, den er liebt, aufmacht. Jesu Wirken habe jedoch "seine eigene Stunde", und sein Verhalten demonstriere "die Freiheit des Offenbarers von weltlichen Gesichtspunkten"71. Nicht um unsere Hoffnungen oder Wünsche geht es, sondern um Gottes Vorhaben. Das aber muß erst offenbar werden. Deswegen verwundert es nicht, daß die Jünger "warnen vor dem Weg, der in den Tod führen wird" 01 8). Aber Jesus "muß die kurze Zeit, die ihm auf Erden noch bleibt, ausnutzen". Die Seinen "sollen das Wunder der Totenerweckung erleben und Glauben fassen". Thomas wird zu deren Sprecher, der erklärt: "Lasset auch uns hingehen, damit wir mit ihm 63 Vgl. z. B. R. BULTMANN, Untersuchungen zum Johannesevangelium, in: ders., Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, Tübingen 1967, 124-197. 64 Buhmann, Evangelium (s. Anm. 61), 300f. 65 Ebd., 301. 66 Ebd., 302. 67 V gl. ebd., 302f. 68 Ebd., 303. 69 Ebd. 70 V gl. ebd., 299f. 71 Ebd., 303.
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sterben" (V 16). Sein "Wort... bedeutet Ergebung in das den Jüngern mit Jesus gemeinsam drohende Schicksal"~2. Gemäß Rudolf Bultmanns Deutung ist das Gespräch Marthas mit J esus (V 2127) der Höhepunkt dieser Epiphaniegeschichte. Denn hier werden "die Auferstehung und das Leben" thematisiert und nicht nur die Auferweckung eines einzelnen Toten. Der Exeget verweist zunächst auf die äußere Situation (V 17-19) und meint, die Juden seien, "dem Brauch entsprechend, gekommen, um die Schwestern zu trösten; im Sinne der Erzählung ist freilich ihre Anwesenheit notwendig, weil sie als Zeugen des Wunders gebr~ucht werden'c73. Aber das wirklich Wichtige sei der Dialog zwischen Martha und Jesus. Martha bringe zum Ausdruck, daß sie J esus die Heilung der Krankheit ihres Bruders zugetraut hätte. "So ist das Wort ... zum Ausdruck des Glaubens an seine Hilfe, ja überhaupt an ihn als den Offenbarer, dem Gott alles gibt ... , geworden." Was Christus auch immer vermag, alles hat er "von Gott"74. Jesu Hinweis auf die Erweckung des Lazarus bezieht Martha auf "die Auferstehung am jüngsten Tage" (V 23~. Sein folgendes "Ich-bin-Wort" wird von Bultmann nicht metaphysisch, sondern präsentisch gedeutet: Die "von Martha gemeinte künftige Auferstehung (wird) gleichgültig... gegenüber der gegenwärtig im Glauben erfaßten" 75. Darin dürfte ein wichtiger Zug der Theologie Rudolf Bultmanns zum Ausdruck kommen 76 . Der Exeget schreibt: "Jesu ,ich bin das Leben' beschreibt nicht seine metaphysische Wesenheit, sondern seine Gabe für den, der zum Glauben kommt und damit ,aufersteht' ... ; der Glaubende mag den irdischen Tod sterben; gleichwohl hat er das ,Leben' in einem höheren, im endgültigen Sinne. ,,77 Das verheißene Leben "kann ... nicht anschaulich beschrieben, inhaltlich bestimmt werden". Es steht "jenseits der menschlichen Möglichkeiten". Martha läßt sich darauf ein. Ihre Antwort zeige "die echte Haltung des Glaubens". Sie sehe "vom Ich ab" und rede "nur vom Du". Sie könne "anerkennen, daß in Jesus der eschatologische Einbruch Gottes in die Welt geschieht"78. Das Christusbekenntnis der Martha 01 27) ist also der angemessene Abschluß dieses Gesprächs. Für Bultmann entwerfen die Verse 28-44 "ein Gegenbild zu 11;17-27: der primitive Glaube derer wird gezeichnet, die des äußerlichen Wunders bedürfen, um J esus als den Offenbarer anzuerkennen." Maria wird von ihrer Schwester informiert, daß "der Meister da ist und dich rufen läßt" (V 28). "Eilends machte sie sich Vgl. ebd., 303-305. Ebd., 305f. 74 V gl. ebd., 306. 75 Ebd., 307. 76 Vgl. W. SCHMITHALS, Die Theologie Rudolf Bultmanns, Tübingen 1966, bes. 129-149. 77 Buhmann, Evangelium (s. Anm. 61), 307f. 78 Ebd., 30sf.
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auf den Weg zu ihm" (V 29). Dazu Buhmann: "natürlich in stiller Hoffnung oder doch Erwartung; die Juden dagegen denken nur an den Weg zum Grabe (V 31), gutmütig, aber hoffnungslos. Für sie ist es Zufall, daß sie J esus begegnen. ,,79 Aus den Worten der beiden Schwestern an J esus folgert der Exeget, daß in Maria nur "die erste Stufe des Glaubens dargestellt sei, über die sich ihre Schwester erhob ... Wenn nicht eine unbestimmte Hoffnung auf ein Wunder aus ihrem Wort (V 32) spricht, so doch wenigstens die Erwartung, daß Jesus einen Trost für sie hat. Das zeigt ... ihre Eile, zu ihm zu kommen. Jene Gewißheit der Martha aber ist ihr nicht eigen. "so Wie ist die Erregung J esu zu verstehen, von der in Vers 33 berichtet wird? Buhmann deutet sie "als seinen Zorn über die Glaubenslosigkeit, die sich in der Klage ausspricht". Diese "Glaubenslosigkeit der Beteiligten trotz seiner Gegenwart" findet der Exeget auch in den Versen 36f und 39 ausgedrücktSt • Nach Buhmann ist dieser "Zweifel an der Kraft Jesu, den Toten zu erwecken ... nur das symbolische Bild einer Glaubenslosigkeit, die nicht versteht, daß der Offenbarer die Auferstehung und das Leben ist, angesichts dessen der irdische Tod nichtig ist"s2. Nun ist dies ja auch eine alles andere als leicht eingängige Botschaft. Es käme eben darauf an, die Erscheinung Gottes in J esus zu glauben. Weil die Gegenwart des Vaters in ihm vorhanden ist, muß er Gott nicht um die Ermöglichung dieser Totenerweckung bitten, sondern er "dankt für die schon gewährte Erhörung. Es scheint also, daß der Gottessohn des Bittgebetes nicht bedarf." Sein Dank ist "die Demonstration dessen, was er stets von sich gesagt hat, daß er nichts von sich aus ist". J esu Dankgebet zeige, daß er "in vollendeter Einheit mit dem Vater steht"s3. Buhmann häh fest, daß die Menschen Jesu "Wunder erst dann recht auffassen, wenn sie es als eine ihm geschenkte Gabe Gottes verstehen, wenn sie ihn also nicht als einen Magier ... auffassen", als einen ,göttlichen Menschen', "sondern als den, den Gott gesandt hat, und der nichts von sich aus tut, sondern der nur tut, was ihm der Vater gegeben hat"s4. Der, der "sich stets in der Haltung des Bittenden vor Gott weiß, kann nicht anders, denn sich zugleich als den stets von Gott Beschenkten wissen". In J esus "ist verwirklicht, was als eschatologische Möglichkeit den Seinen verheißen ist"s5. Die Epiphaniegeschichte offenbart also Gott und seinen Sohn. Sie will den Glaubenden verdeutlichen, was ihnen offensteht. Dadurch wird das Wunder einer Ebd., 309. Ebd., 309f. 81 Vgl. ebd., 310. 82 Ebd. 83 Ebd., 31H. 84 Ebd., 311. 85 Ebd., 312. 79
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Totenerweckung zwar nicht relativiert, aber es wird doch vorwiegend als Ausdruck der Kraft dessen gedeutet, der die Macht über den Tod hat. Eine Erweckung eines bereits seit einigen Tagen toten Menschen wäre ein einmaliges Ereignis, ein V organg, der Bewunderung, aber auch Ablehnung hervorzurufen vermag (vgl. V 45-53). In den Glaubenden aber ruft sie Zuversicht auf Gott hervor, die ihr Leben fortan bestimmt. 3 Gemeinsames und Unterschiedliches beider Theologen
Die Predigten Luthers und die Exegese Bultmanns nehmen die Aussagen von J oh 11 unterschiedlich auf. In der Exegese geht es darum zu klären, wie alles, was dort geschrieben ist, zu verstehen ist. In Predigten dagegen wird - der anderen Gattung entsprechend - verkündigt, was die Gemeindeglieder in ihrer konkreten Situation in ihrem Vertrauen zu Gott voranzubringen vermag. Angesichts der Fülle der Aussagen wird von Luther nicht alles erwähnt, was die Erzählung mitteilt 86 , sondern nur das, was dem Prediger wichtig erscheint. Bultmann dagegen behandelt - wiederum einem Kommentar gemäß - alle Aussagen von J oh 1l. Beide Theologen betonen den Zusammenhang, in dem diese Geschichte im Johannesevangelium steht: Es wird die Erweckung des Lazarus nicht als ein besonders eindrückliches Wunder hervorgehoben, sondern das Geschehen als Tat Jesu in den Mittelpunkt gestellt. Er ist nämlich der, der von seinen Gegnern bereits verfolgt wurde, die ihn auch an das Kreuz bringen werden. Dies aber wird - ganz gegen ihre Absichten - zur Verherrlichung Gottes beitragen. Die Beachtung des Zusammenhangs erlaubt es Bultmann wie Luther, das Spezifische dieser Geschichte mit der Gesamtaussage des vierten Evangeliums zu verbinden. Bultmann hat - wie gesehen - die Erzählung von der Erweckung des Lazarus als eine "Epiphanie-Geschichte" gedeutet. In der Tat handelt es sich um ein "Zeichen", das J esus getan hat. Aber der Marburger Theologe wendet sich dagegen, J esus als einen "göttlichen Menschen" zu deuten. Christus bleibe vielmehr auch in Joh 11 der, der das, was er tut, dem Vater, Gott, ·verdankt. Denselben Sachverhalt umschreibt Luther mit der altkirchlichen Christologie: Jesus ist "wahrer Gott und wahrer Mensch". Inhaltlich dürfte sich das von Bultmanns Ausführungen nicht allzu weit entfernen, aber es ist eine andere Sprache. J esus tritt wie ein "normaler" Mensch auf, der doch zugleich auf seine Besonderheit verweist: Er ist "die Auferstehung und das Leben" (V 25). Wer mit ihm geht, sieht "die Herrlichkeit Gottes" (V 40).
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In ihren Auslegungen stehen sich beide Theologen am nächsten in der Betonung des Handelns und Redens J esu pro nobis. Mag dies für einen Prediger naheliegen, so fehlt es doch auch nicht in Bultmanns Exegese: J esus, der Christus, der Gottessohn, will Glauben finden. In Martha ist dies vor allen anderen der Fall gewesen. Aber auch Maria hat Vertrauen zu ihm, und die Jünger sind bereit, das mit ihm zu teilen, was ihn erwartet. Wie es mit Lazarus weitergegangen sein könnte, erwägen weder Luther noch Bultmann, denn hier fehlt eine biblische Aussage. Aber beiden ist wichtig, daß Gottes Handeln unterschiedliche Reaktionen hervorruft. Daß Menschen durch J esu Reden und Tun Vertrauen zu Gott gewinnen können, ist eine von beiden Theologen hervorgehobene Aussage, die nach wie vor Beachtung verdient.
Manfred Seitz DIE BEDEUTUNG DES CHRISTLICHEN GLAUBENS FÜR DIE PERSÖNLICHKEITSBILDUNG 1
In der Antike hielten sich Familien, die es sich leisten konnten, einen Hausphilosophen. Der Hausphilosoph war eine Art säkularer Seelsorger und die Philosophie, die er vertrat, eine lebensbehilfliche Wissenschaft. Davon zeugt zum Beispiel Senecas Schrift "De vita beata. Vom glücklichen Leben". - In Erlangen, woher ich komme, gibt es auch Philosophen. Zwei bedeutende, die ich noch kannte, waren Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen. Hätte ich sie als Hausphilosophen gewählt, würden sie mich jetzt einleitend fragen: "Was meinen Sie, wenn Sie Glauben, Persönlichkeit und Bildung sagen?" Sie waren in ihrer "Logischen Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redens" auf eine fast mathematisch präzise Begriffsbildung aus 2.lch habe aber einen anderen zu meinem Hausphilosophen erwählt. Da ich nun einmal durch die Freundlichkeit meines Amtsbruders Gyula Cseri in Gießen bin, muß ich ihn auch nennen. Es ist der Gießener Philosoph Odo Marquard. Mit einem Gedanken von ihm will ich zur Hauptsache überleiten. 1 "Zukunft braucht Herkunft"
Odo Marquards Gedanke lautet: "Zukunft braucht Herkunft. ,,3 Eine Erfahrung, die wir alle kennen, ruft ihn hervor. Es ist der Prozeß der Beschleunigung, in dem sich die moderne Welt befindet. Unser Wissen wächst immer schneller; unsere Technik bietet immer schneller immer bessere Lösungen an; unsere Wirtschaft verbreitet diese Angebote immer schneller über die Welt; "und so wird - im Zeitalter der neuen Medien - die Information immer schneller allgegenwärtig" (68f). Es ist die Fortschritts- und Problemgeschwindigkeit, die Wandlungsbeschleunigung, die ihn fragen läßt: Wie sollen wir in diesem Sturm der Dinge mitkommen oder bestehen? Gastvorlesung an der Universität Gießen, gehalten am 27.11.2002. W. KAMLAH / P. LORENZEN, Logische Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redens. Mannheim 21973. 3 O. MARQUARD, Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Betrachtungen über Modernität und Menschlichkeit, in: ders., Philosophie des Stattdessen. Studien, RUB 18049, Stuttgart 2000. Die folgenden Zahlenangaben in Klammern beziehen sich auf dieses Buch. 1
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Wir müssen es, sagt er; aber wir können es auch. Wir können es, wenn wir diese Mangellage durch ein gegensätzliches Äquivalent, durch einen gleichwertigen Ersatz kompensieren. Es gehöre deshalb zur modernen Welt, "inmitten ihrer Schnelligkeit - kompensatorisch _ce Formen zu entwickeln, "die es den Menschen erlauben, in dieser schnellen Welt langsam und in vertrauter Umgebung zu leben. Doch wie kann das gelingen?" (71f) An dieser Stelle taucht - in philosophischen Traktaten ganz ungewohnt - der Teddybär der kleinen Kinder auf. Es ist eben lebensbehilfliche Philosophie! Wörtlich: "Ein sinnenfälliges Beispiel, wie man das - dieses Mitnehmen der eigenen Langsamkeit ins Schnelle - macht, liefern uns die ganz jungen Kinder; sie - für die die Wirklichkeit unermeßlich neu und fremd ist - tragen ihre eiserne Ration an Vertrautem ständig bei sich und überall mit herum: ihren Teddybären. Kinder kompensieren ihr Vertrautheitsdefizit durch ihren Teddybären" (72). Ich kann das nur bestätigen. Als unser Enkel Lukas, zwei Jahre alt, kürzlich zu uns kam, warf er mir an der Tür seinen Teddy entgegen. Doch nun wieder philosophisch: "Das gilt allgemein: Je mehr die Zukunft modern für uns das Neue - das Fremde wird, desto mehr Vergangenheit müssen wir - teddybärgleich - in die Zukunft mitnehmen und dafür immer mehr Alles auskundschaften und pflegen ... " (72). In diesem Zusammenhang - er nennt ihn "Bewahrungskultur" - stößt Marquard in den Bereich des Letztaussagbaren vor. Die Innovationsgeschwindigkeit wächst, das Veraltungstempo nimmt zu. Aber wir Menschen des Fortschritts werden nie alles beherrschen können. "U nverfügbar bleiben die Kontingenzen (die Zufälligkeiten), also Geburt, Tod und andere Schicksalsschläge." Ich füge hinzu: die Grundsituationen des Lebens: Entscheidung, Schuld, Lebensalter, Krankheit und Leiden. "Darum braucht gerade die moderne Expansion der Wirklichkeitsbeherrschung die ,Kontingenzbewältigungspraxis' der Religion. Sie stirbt durch die erfolgreiche Aufklärung nicht nur nicht ab, sondern ganz im Gegenteil: Je aufgeklärter die moderne Welt wird, desto unentbehrlicher wird die Religion. "4 Zukunft braucht Herkunft. So weit Odo Marquard. Es ist nun einmal so, daß unsere Kultur antike und christlich-jüdische Wurzeln hat. Es ist nun einmal so, daß Religion sie entscheidend mitgestaltete: von Aristoteles über den jüdischen Philosophen Moses Maimonides im Mittelalter und Thomas von Aquin zu Luther und Pascal. Religion, Letztbindung ist noch nicht christlicher Glaube. Aber sie ist als Raum offen .für ihn. Deshalb können wir diesen Raum, der auf philosophischem Weg geöffnet wurde, nun betreten und uns mit christlicher "Kontingenzbewältigungspraxis" befassen. Selbst wenn wir die aus ihr hervorgehende "eiserne Ration an Vertrautem" verloren haben sollten, kann 4 o. MARQUARD, Aufklärung mit Wirklichkeitssinn. Zum 70. Geburtstag von Hermann Lübbe; in: ders., Philosophie des Stattdessen, 122f.
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sie wiedergefunden, zurückgeholt und erneuert werden. Ich bemühe mich, sie so darzustellen, daß sie auch von denen, die keine Nähe zu theologischen Gedankenvorgängen haben oder ihnen ablehnend gegenüberstehen, ernst genommen werden kann. 2 Bildung- die biblischen Wurzeln
Was Bildung ist, wissen Sie. J ohann Georg Hamann hat es schön formuliert: "Eine Jahrmarktsbude sämtlicher pädagogischen Versuche, die an mir ausprobiert worden sind."~ Das ist zwar in der Pädagogik umstritten; aber in der Wissenschaft ist das immer so. Darüber hinaus gibt es einen Band "Bildung und Erziehung" mit 20 Titeln und weiteren offiziellen Äußerungen dazu6 • Ich habe sie nicht gelesen, da ich berufstätig bin; einige schon. Daraus habe ich gelernt: a) Bildung ist einer der schwierigsten und ungefestigtsten Begriffe. b) Bildung im Vorgang ist die Formung von Menschen durch Hilfen von außen zur Erschließung der Wert- und Sinngehalte des Lebens. c) Bildung im Ergebnis ist die Fähigkeit zum realitätsgerechten Verhalten in der modernen Weh. Das waren Definitionen. Ein russisches Sprichwort sagt: "Definitionen sind wie Edelsteine; sie glitzern und glänzen; aber man kann sich nicht von ihnen nähren." Von Wurzeln kann man das. In den genannten Schriften waren sie jedoch nicht zu finden. Deshalb muß man sie ausgraben; auch der Bildungsbegriff braucht Herkunft. Er trat erst im 18. Jahrhundert in die pädagogische Fachsprache ein, aber schon verflacht, als genüge es, über vieles viel zu wissen. Und er war schon seines biblischen und mystischen Hintergrundes entkleidet. Aus handwerklichen und künstlerischen Ursprüngen kommend, sprach er von etwas Schöpferischem: einer Sache Gestalt und Wesen geben, eine eindrucksvolle Vorlage nachbilden, wie es vielfach in den mittelalterlichen Malschulen geschah und wie es J ohann Sebastian Bach mit den Vivaldi-Konzerten gemacht hatte. So lag es nicht fern, daß mit ihm auch über Gott, den Schöpfer gesprochen werden konnte: "Du hast mich im Mutterleib gebildet" (ps 139,13). Das war nicht ohne Bezug auf Gen 1,26f möglich: "Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei ... Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn." Bei diesem Wort darf man "von der realen, massiven Bedeutung des ,Bildes', der ,Plastik' nicht abgehen ... Es sind also die Deutungen abzulehnen, die ... die Gottesbildlichkeit einseitig auf das geistige Wesen des Menschen beschränken ... Das Wunder der leiblichen Erscheinung des Menschen ist von dem Bereich der Gottesbildlichkeit kei-
S
J. G. Hamann, in: ders., Sämtliche Werke, hg. v.J. Nadler, Bd. 2, Wien 1950, 19.
Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), Bildung und Erziehung. Die Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland. Band 4/1, Gütersloh 1987. 6
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nesfalls auszunehmen ... doch in dem einfachen (und dynamischen [M. S.]) Sinne, daß dieses Bild dem Urbild entsprechen, daß es ihm ähnlich sein solle. ,,7 Es ist demnach auch davon die Rede, wozu die Gottesbildlichkeit gegeben ist8 • Überraschend finden wir schon hier angelegt, was wir später als Selbst- und Persönlichkeitsbildung behandeln müssen. Auf diesem Hintergrund ist dann auch das Mystikwort "einbilden" zu hören. Es bedeutet: etwas in die Seele senken, es sich einprägen, damit es Dauer hat. So gebraucht es auch Martin Luther in seinem "Sermon von der Bereitung zum Sterben": " ... das Gnadenbild ansehen und in sich bilden"9. Auch daß es sich um einen Vorgang handelt, der wiederholt, der "geübt" werden muß, taucht im Zusammenhang damit auf: "Christus und seiner Heiligen leuchtende Bilder in uns üben ... "10. Ebenso bedarf der Gedanke des Gleichbildlich-Seins mit Gott, die Gewißheit "ich bin Gott ebenbildlich" der Ein-Bildung, des sich wiederholenden Einprägens, der Übung, solches Glaubenswissen in die eigene Seele zu senken. Erst sehr viel später nahm "sich etwas einbilden" die unerfreuliche Bedeutung von: sich selbst überschätzen, überheblich sein, eine zu hohe Meinung von sich haben, an. Die moderne Pädagogik versucht in ihrem Bemühen um den Bildungsbegriff, an seine Herkunft anzuknüpfen. Sie ist bestrebt, über "bilden" im Sinn von "ausbilden", mit bestimmten Kenntnissen und Fertigkeiten versehen, hinauszukommen. Sie versteht bilden nicht nur als helfendes Eingreifen anderer, sondern auch als Aufruf, sich selbst zu bilden. Ein nach wie vor lesenswertes Dokument dafür sind die "Briefe über Selbstbildung" , über christliche Selbstbildung, von Romano Guardini, einem· der großen Vordenker des Christlichen in der modernen Welt 11 • Mit dem Appell zur Selbstbildung wird der Mensch auf seine höchste Verantwortung angesprochen: für sich selbst, für die Übereinstimmung seines Verhaltens, seiner Äußerungen mit seinem Inneren, seinem eigentlichen Wesen, und damit für die Wahrheit seiner eigenen Existenz. Damit nähern wir uns dem theologischen Bildungsziel einer lebensgestaltenden Glaubenshaltung. Das macht es nun erforderlich, uns dem Begriff der Persönlichkeit zuzuwenden, die als Adressat unseres Vorhabens genannt ist.
G. VON RAD, Das erste Buch Mose. Kap. 1-12, ATD 2, Gättingen 21950, 45. Ebd., 46. 9 M. LUTHER, Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben, in: H. H. Borcherdt / G. Merz (Hg.), Martin Luther. Ausgewählte Werke. Erster Band, München 31963, 360. 10 Ebd., 361. 11 R. GUARDINI, Briefe über Selbstbildung, Mainz 1985 (Topos Taschenbücher 146, Mainz 11993). 7
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3 Was ist eigentlich eine Persönlichkeit? Zur Unterscheidung von
Person und Persönlichkeit Der australische Philosoph Peter Singer unterscheidet zwischen Menschen und Personen. Person ist, wer zu selbständigen, vernünftigen Entscheidungen fähig ist und sein Leben selbst gestalten kann, wer Verstand, Zukunft, Wünsche und Pläne hat. pie anderen, die das nicht haben, zum Beispiel schwerstbehinderte Kinder und nicht mehr geschäftsfähige Alte, sind für ihn "nur" Menschen. Mit fatalen Folgen: "Wer keine Interessen besitze" (also nur Mensch und keine Person ist), "dem könne auch kein Schaden zugefügt werden. Deshalb hält (er) es ... auch für legitim, unter bestimmten Voraussetzungen zum Beispiel schwerstgeschädigte Neugeborene, die kein Interesse am Weiterleben haben könnten" und unheilbar kranke alte Menschen zu töten 12. Ganz anders Hans Jonas. Im "Prinzip Verantwortung" sagt er über ein neugeborenes Kind: "Sieh hin und du weißt", was zu tun ist 13! Es ist Person von Anfang an, weil es einfach in erkennbarer Menschlichkeit da ist. In ihm, dem ebenfalls wie Peter Singer jüdischen Philosophen, wohnte noch etwas vorn christlich-jüdischen Schöpfungs glauben, der in jedem Menschen ein Ebenbild Gottes sieht, auch wenn er durch Behinderung, Unfall, Alter oder Verbrechen eingeschränkt, entstellt oder strafwürdig ist. "Person ist die unverlierbare, von keinen psychologischen oder soziologischen Momenten ableitbare Tatsache, daß der Mensch vom Wesensgrund des Geschaffenseins her im Ich - Du (-Verhältnis) zu Gott steht." Gott hat ihn sich selbst in die Hand gegeben. Er muß ihm gegenüber für sich einstehen. Von daher kommt ihm ein durch keinerlei empirische Einflüsse aufhebbarer unbedingter Daseinssinn zu 14. Wir vertreten diese Auffassung im bewußten Gegensatz zu Peter Singer und seinem Gefolge in Deutschland. Die Personhaftigkeit des Menschen ist ebensowenig wie seine Würde eine aus ihm selbst stammende oder kontingente Eigenschaft. Sie hängt nicht von seinem Tun, seinem sozialen Status oder seinen Lebensumständen ab. Wäre sie eine Zuschreibung - die Neuerer sprechen von einem "kulturgesättigten, geistig bestimmten Zuschreibungsbegriff" (Hubert Markl) -, dann kann sie auch abgeschrieben werden, wie es tatsächlich geschieht. Personalität bezeichnet eine fremde oder inhärente Eigenschaft, die dem Menschen kraft seiner Geschaffenheit und seines Menschseins zukommt. Sie kann und muß nicht erst 12 M. EMMRICH, Der Unterschied zwischen Abtreibung und Kindstätung ist nicht groß. Kann es legitim sein, Leben aktiv zu beenden? Ein Gespräch mit dem australischen Philosphen Peter Singer, in: Frankfurter Rundschau vom 2.11.1994, 11; P. SINGER, Praktische Ethik. Neuausgabe, Stuttgart 21994. 13 H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt 81988, 235 .. 14 R. GUARDINI, Ethik. Vorlesungen an der Universität München. Band 2, Mainz 1993, 1026.
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durch Leistung oder äußere Lebensbedingungen erworben werden. Person - so fassen wir zusammen - ist der konkrete Mensch als einmaliges, unvergleichliches und unersetzbares Wesen, das Gott beim Namen gerufen hat, das es vorher so noch nie gab und nachher nie mehr geben wird. Kurzer Exkurs: Was würde nach dieser Feststellung das reproduktive Klonen bedeuten, die Herstellung eines zweiten oder mehrerer genetisch mit der bisherigen Person gleich gestalteter, identischer Menschen? Was würde es bedeuten, wenn es denn gelänge? Bei der Arbeit sind sie. Nicht den "Absturz ins moralisch Böse, ins Untermenschliche", sondern das, "was wir den Titanismus, die Hybris des Menschen nennen"15, die Hybris, die Vermessenheit des Menschen, der im Sein-wollen-wie-Gott in dessen Schöpfungssouveränität eingreift mit unabsehbaren Folgen. Diese Folgen kann man nur mit paulinischen Aussagen im Römerbrief benennen: "Da sie es nicht für gut befunden haben, Gott im Sinn zu haben, hat Gott sie preisgegeben an einen untüchtigen Verstand, um zu tun, was nicht taugt ... Sie, denen Gottes Rechtsforderung bekannt ist, daß die, die so etwas tun, (des Todes) schuldig sind, tun dies nicht nur, sondern zollen auch noch denen Beifall, die es tun" (Röm 1,28.32)16. Wir kehren zurück und nehmen nun die Unterscheidung von Person und Persönlichkeit auf. Aus Personen können Persönlichkeiten werden. Person und Persönlichkeit müssen also nicht deckungsgleich sein. Persönlichkeit, ein in sich ruhender und· gefestigter Mensch, ist etwas, was sich entwickelt, was sich im Lauf eines Lebens herausbildet und die geschöpflichen u~d geschichtlichen Vorgaben im Maße des Möglichen ausfüllt. Deshalb gibt es "Menschen, die große Persönlichkeiten sind; andere sind durchschnittliche oder unentwickelte; endlich gibt es solche, denen man diesen Charakter überhaupt nicht ... zubilligen kann"17. Es ist möglich, den Persönlichkeitscharakter aus unterschiedlichen oder sogar merkwürdigen Gründen jemandem zuzuschreiben. Hier hätte die Hubert Markl'sche Rede vom "kulturgesättigten, geistig bestimmten Zuschreibungsbegriff" ihre Berechtigung l8 • So hieß es kürzlich im Fernsehen, der Pirelli-Kalender, ein hochbegehrtes Produkt mit ausgezogenen Selbstdarstellern, sei von "bedeutenden Persönlichkeiten" gemacht worden. Was war das hervorstechende Persönlichkeitsmerkmal? Daß sie sich vor der Kamera nackt ausgezogen haben. So kann man es auch zu etwas bringen. Deshalb kommen wir nicht in den Kalender.
Von Rad, Mose (s. Anm. 7), 72. P. STUHLMACHER, Der Brief an die Römer, NTD 6, Göttingen 1989, 34 (Übersetzung). 17 R. GUARDINI, Ethik. Vorlesungen an der Universität München. Band 1, Mainz 1993,206. 18 H. MARKL, Eine Raupe ist noch lange kein Schmetterling. Wider den Mythos vom evolutionären Rubikon: Wann der Mensch zum wirklichen "Menschen" wird, ist allein unsere Entscheidung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.11.2001, 49. 15
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Wie dem auch sei - immer liegt die Person der Persönlichkeit zugrunde und steckt in allen. Zu Persönlichkeiten werden Personen durch die Antwort, die sie auf ihr Geschaffensein geben. Wenn christlich gesehen der geschaffene Mensch, die gottebenbildliche Person in einem "Ich - Du (-Verhältnis) zu Gott steht", muß sie auch Gott gegenüber für sich einstehen, in Anerkennung oder Ablehnung dieses Verhältnisses. Von Eugen Rosenstock-Huessy (1888-1973), dem nicht akzeptierten großen jüdisch-christlichen Denker, stammt die Strophe: "Von mir wird vorausgesetzt, daß ich ruf entspringe; wird dies Rufgebot verletzt, bleib ich toter Dinge."'9 "Ruf-entsprungen" und -beschaffen bildet sich die christliche Persönlichkeit durch "responsorische Existenz", das heißt durch Antwortverhalten, das ihr Leben bestimmt und durchwirkt. Genau das ist die theologische Wurzel von Verantwortung, aus der ethisches Verhalten als Gewissenshaltung entsteht. 4 Bildung und Ge'Wissen - eine Skizze über Ge'Wissensbildung
Eine These zuvor: Was ist das Gewissen? Nicht die Stimme Gottes, sondern ein unentrinnbares Zusammensein mit einer in meinem Ich mit mir gehenden, scheinbar zweiten Person, die mich anruft und beurteilt. 1. Ge'Wissen haben und ge'Wissenlos sein. - Das Gewissen "ist ein Urphänomen, das nicht abgeleitet, sondern nur angetroffen, angenommen und aus. ihm selbst verstanden werden kann"zo. Gewissen haben. Ich wollte auf dem Heimweg von der Erlanger Bergkirchweih an einer Bierleiche vorübergehen. Aber etwas in mir rief mich zurück und sprach: "Ich bin", sagte das Gewissen, "daß du diesem behilflich seiest!"Z' Gewissenlos sein. Ein kolumbianischer Fußballstar wurde von enttäuschten Fans erschossen. Die Presse sprach von gewissenlosen Mördern. Aber das geht an der Sache vorbei. Es gibt individuelle und kollektive Vorgänge, die in die innerste Überzeugungsbildung eingreifen und die Fähigkeit, das Gute zu erkennen so weit zerstören, daß das Böse für gut und notwendig gehalten wird. Wir stehen vor der Tatsache des irregeleiteten, pervertierten Gewissens. Schlußfolgerung: Das Gewissen ist - wie Sigmund Freud richtig erkannte - eine formal leere Instanz, die so oder so gefüllt, geformt, verformt und verschüttet werden kann. Das läßt uns nach Wesen, Entstehung und Verständnis des Gewissens fragen.
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E. ROSENSTOCK-HUESSY, Ja und Nein. Autobiographische Fragmente, Heidelberg 1968, 17. Guardini, Ethik 1 (s. Anm. 16), 112. Ebd., 49.
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2. .I:vvdo7]au; und conscientia. - Ich habe gesehen, daß einer beim Einparken ein anderes Auto anschrammte und fortging. Soll ich mich da einmischen? Ich bekam "Gewissensbisse", und etwas in mir rief mich an und sagte: "Du solltest ihn stellen, weil es ungut war, was du gesehen hastl" Die griechischen Philosophen verlegten nun mich, den Augenzeugen, die andere Person in mich hinein, den Mitwissenden mit dem Wissenden in eine Person. Dadurch traten in einem Subjekt zwei verschiedene Ich auseinander oder zusammen. So entstanden die griechischen und lateinischen Gewissensbegriffe: oUVELÖTjOL<; und conscientia, die besagen, daß ein zweites Ich in mir etwas mitweiß und anfängt, mein Verhalten und meine Taten zu beurteilen. Anmerkung: Es ist die nur dem Menschengeschöpf und dem Menschen als Person eigene Fähigkeit, zu sich selbst in Beziehung zu treten und sie unter Umständen auch zu verfehlen. In der abendländischen Literatur zum erstenmal auftauchend in den Carmina des Catull (um 54 v. Chr.): "heu me miserum!" 100 Jahre später bei Paulus (Röm 7,24): "Ich elender Mensch!" - bayerisch: "Ich Rindvieh!" 3. Kurzer Blick auf Sigmund Freud. - Freud entwickelte keine Lehre vom Gewissen; er ~agte aber etwas über seine Entstehung bzw. Entwicklung. Er lehnte ein ursprüngliches, sozusagen natürliches Unterscheidungsvermögen für Gut und Böse im Menschen ab. Wir folgen ihm darin; denn wir 'werden auch in dieser Hinsicht nackt geboren und müssen erst bekleidet werden. Nun sieht er den Säugling sich entwickeln und schreibt: "Um diese Zeit (um das fünfte Lebensjahr) hat sich eine Veränderung vollzogen. Ein Stück Außenwelt i~t als Objekt, wenigstens partiell, aufgegeben und dafür (durch Identifizierung) ins Ich aufgenommen, also ein Bestandteil der Innenwelt geworden ... Wir heißen diese Instanz das Überich, empfinden sie in ihren richterlichen Funktionen als unser Gewissen. ,,22 In ihm erkennt er eine Art Versammlung, und zwar die Versammlung aller moralischen Anweisungen und Werte, die wir aus Familie, Erziehung, Schule, Gesellschaft und Gemeinschaft jedweder Art übernommen haben. Aber er hielt diese Versammlung für einen Tyrannen und glich damit Immanuel Kant, der vom Gewissen als "innerem Gerichtshof" sprach, in dem die moralische Anlage auf Geheiß einer "idealischen" Person (was immer er darunter verstand) in Aktion trete. Dieser etwas einseitigen, weil nur negativen Anschauung folgen wir nicht. Aber klar ist nun: Das Gewissen ist - außer der geschöpflichen Anlage - nicht von Anfang an da. Es entwickelt sich. Es muß gebildet und kann verbildet werden. Vor unser Auge tritt die hohe Aufgabe der Gewissensbildung.
22 Zitat nach A. HICKLIN, Phänomenologie des Gewissens, in: G. Condrau (Hg.), Transzendenz, Imagination und Kreativitaet: Religion, Parapsychologie, Literatur u. Kunst, Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, 15, Zürich 1979,448.
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4. Nachfrage bei Romano Guardini. - Bedeutsam und praxis relevant ist seine Unterscheidung von Phasen des Gewissensaktes. Ich beziehe sie beispielsweise unmittelbar auf die ärztliche Praxis. Die erste Phase ist das vorausgehende oder zuständliche Gewissen. Sie ist an eine bestimmte Situation gebunden und bringt sich in ihr zu Bewußtsein. Ein Arzt steht vor der Diagnose einer inoperablen Geschwulst. Er muß jetzt unter Umständen schnell erwägen, was gewissensmäßig von ihm gefordert ist: es ohne Umschweife herauszusagen oder zögernd die Sache zu verschleiern oder sich gleich oder später die Zeit zu nehmen, um die Wahrheit zu sagen, ohne die Hoffnung zu nehmen. Die zweite Phase ist das begleitende Gewissen, in der sich das Vorbereitende jetzt realisiert. Der Arzt wählte die dritte Möglichkeit, nahm sich Zeit und unterrichtete den Patienten / die Patient in über seine / ihre Lage. Er muß dabei mit unterschiedlichen Reaktionen rechnen, mit Gefaßtsein, mit Erschrecken, mit Fassungslosigkeit, Weinen usw. Es ist unter Umständen ein krisenhafter Vorgang, in dem ihn das begleitende Gewissen überwacht, korrigiert und mit überlegt. "Nach der ... Handlung tritt der Akt des Gewissens in seine dritte Phase, er wird zur Selbst beurteilung: War das, was ich getan habe, recht? Habe ich die Situation richtig erkannt?", und mich in ihr angemessen und patientengerecht verhalten? War ich ehrlich, ohne den Patienten mehr als nötig zu belasten23 ? Allein diese Phasen zu kennen und sich damit in einer konkreten Situation zu bewegen, dürfte schon ein bewußter Schritt zur persönlichen Entscheidung und Verantwortung sein. 5. Das in Gottes Wort gefangene Gewissen. - Wenn die Theologie das "Wovor" im Begriff der Verantwortung wiederherstellt, dann darf das Letztaussagbare, die theologische Frage nicht fehlen. Paulus versteht, nicht anders als Freud, das Gewissen als allgemein menschliches Phänomen und als profanes Organ. Es muß aber wesentlich an eine transzendente, die Grenzen des sinnlich Erkennbaren überschreitende Instanz angebunden und infolgedessen gebildet werden. Damit sind wir bei Luther. Luthers Rede auf dem Reichstag zu Worms 1521 bewirkte, daß man den evangelischen Glauben als "Gewissensreligion" bezeichnete. Er soll dort gesagt haben: "Hier stehe ich; ich kann nicht anders!" Von daher denkt man modern an das autonome Gewissen des sich selbst bestimmenden Menschen. Das ist jedoch völlig unzutreffend. Luthers "freies" Gewissen ist vielmehr ein an das biblische Wort gebundenes Gewissen. Und so war es wirklich: Aufgrund der erhaltenen Nachschriften rief er wörtlich: " Wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift oder einsichtige Vernunftgründe widerlegt werde ... bin ich durch die von mir angeführten Schriftworte bezwungen. Und solange mein Gewissen in Gottes Wort gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen, weil es unsicher ist und
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Guardini, Ethik 1 (s. Anm. 16), 114.
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die Seligkeit bedroht, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helfe mir. Amen. ,,24 Nur in dieser ausdrücklichen Bindung und lebensdauernd zu erneuernden Bildung ist das christliche Gewissen frei. Die Gewissensentscheidungen bleiben dann immer noch unter der Möglichkeit des Irrens, unter der Widersprüchlichkeit von Sollen und Sein. Aber diese Widersprüchlichkeit steht zugleich unter dem in der Auslegungsgemeinschaft Kirche zu erfahrenden Zuspruch der Vergebung. "Mache mein Gewissen klar, daß ich sehe, was ich soll, auch in den Wirrnissen des täglichen Lebens", war eines der Gebetsworte Romano Guardinis25 • Der Beitrag des christlichen Glaubens zur Persönlichkeitsbildung muß Gewissensbildung sein. Sonst geht er zu wenig tief, bleibt an der Oberfläche und geht nicht vom Kopf ins Herz. 5 Glauben und Lernen - Glauben-lernen
Ich muß dieses letzte und nicht mehr lange Kapitel mit zwei Vormerkungen beginnen. Die erste: Es scheint, als hätten wir über Bilden im Bekenntnis des Glaubens noch nicht oder zu wenig direkt gesprochen. In Wirklichkeit stand alles Bisherige im Dienste dieser Absicht. Wir spitzen es aber jetzt zu, und ich gehe etwas näher an Sie heran. Sie können sich ja wehren. Die zweite Vorbemerkung: "Der Titel ,Glauben-lernen"', so schreibt Ingrid Schoberth, die Verfasserin einer gleichnamigen "katechetischen Theologie", "mag überraschen, gilt doch der Glaube als das, was gerade nicht gelernt werden kann ... Durch die Formulierung ,Glauben-lernen' soll (jedoch) angezeigt werden", daß es sich um eine eigentümliche Bewegung handelt, "die dem Glauben selbst eignet. "26 Wir nehmen das auf und sprechen abschließend über den Glauben und die ihm selbst eignende Bildungs bewegung. 1. Glauben elementar. - "Das Elementare ist die faßbare und kommunizierbare Gestalt dessen, woran der einzelne wie die Gemeinschaft das Herz fest macht. ,,27 Nach einer Sitzung in einem Erlanger Hotel trat ein leitender Siemens-Ingenieur auf mich zu und sagte: "Ich komme mit den widersprüchlichen Botschaften der Kirche nicht mehr zurecht. Erklären Sie mir doch bitte einmal: Was ist denn Kern und Stern des christlichen Glaubens?" Ich antwortete: "Kern und Stern des christlichen Glaubens ist es, den Menschen Jesus von Nazareth als die Offenbarung und Selbstvorstellung Gottes, des Schöpfers anzuerkennen." Er erwiderte: "Ich danke 24 Zitat nach M. BRECHT, Martin Luther. Sein Weg zur Reformation 1483-1521. Band 1, Stuttgart 1981, 438f. 25 Guardini, Briefe (s. Anm. 10), 68. 26 I. SCHOBERTH, Glauben-lernen. Grundlegung einer katechetischen Theologie, Stuttgart 1998, IX. 27 Ebd., 204.
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Ihnen. Endlich einmal eine klare, wenn auch für mich nicht leichte Auskunft." Ein späteres Gespräch zeigte, was er unter "nicht leicht" verstand. Er meinte, man müsse sich mit einer Denkbewegung, die ihm als Techniker gewiß schwer fallen würde, auf den Glauben zubewegen. Es verhält sich aber anders. 2. Glauben tun. - Tun heißt: eine geistige, körperliche oder handwerkliche Tätigkeit verrichten. Es ist natürlich klar, daß das einen Entschluß voraussetzt; sonst geschieht nichts auf dieser Welt. Der Glaube ist - darf ich es einmal so ungewohnt sagen? - eine geistige, körperliche und handwerkliche Tätigkeit; eine geistige zunächst, weil er einen Entschluß voraussetzt. Das spricht nicht gegen die reformatorische Einsicht, daß der Glaube allein Gottes Gabe ist. Paulus kommt Ihnen, falls Sie sich entschließen, zu Hilfe und stellt fest: "Gott ist es, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen" (Phil2,13). Der Glaube ist auch eine körperliche Tätigkeit. Wenn Gott in Ihnen das Wollen gewirkt hat - Sie wären ja sonst nicht zu einem theologischen Vortrag gekommen -, müssen sie in Zukunft gehen: ab und zu oder regelmäßig in einen Gottesdienst oder in die Gemeinde gehen. Die Wissenssoziologen sagen nämlich: Wenn jemand eine gesellschaftlich nicht konforme Anschauung vertritt, zum Beispiel den christlichen Glauben, ist es abzusehen, wann er sie wieder aufgibt; es sei denn, er wird von einer Gemeinschaft gestützt, die ihn trägt und hält. In der Kirche weiß man das. Gehen! Und Sie müssen sich in Zukunft auch setzen, um einen Anfang oder Neuanfang im Lesen der Bibel zu machen. Lesen - das ist die handwerkliche Seite des Glaubens. Ich sage dazu gleich zum Schluß noch etwas. Der Glaube ist ein geistiges, körperliches und handwerkliches Tun. Das Denken, die Denkbewegung wird sich dann von selbst einstellen und - Sie werden sich wundern! - Sie in einem unvorhergesehenen Ausmaß und sicher nicht immer leicht erfüllen. Christus spricht: "Wer die Wahrheit tut, der kommt zum Licht" Goh 3,21). 3. Glauben leben. - Leben kann man nicht definieren. Es ist immer mehr. Aber es ist seinem Wesen nach ein Sein in Beziehungen. Wenn die Gottesbeziehung fehlt, ist es nicht ganz. Auch wenn man - dies unterschlagend - dauernd von Ganzheit spricht. Um diesen Gesichtspunkt - besser: um diese Beziehung - in Ihr Leben als Beitrag zur christlichen Selbst- und Persönlichkeitsbildung zu bringen, abschließend ein einfacher Vorschlag, den Glauben zu leben: - Nehmen Sie sich einmal am Tag Zeit: etwa fünf bis sieben Minuten; mehr braucht es nicht; irgendwann am Tag, wo es am besten geht. - Lesen Sie einen Abschnitt der Bibel: naheliegend nach der täglichen Bibellese, die auch im Losungsbuch angegeben ist, die in kleinen Schritten in vier oder acht Jahren durch die ganze Bibel führt.
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Lesen Sie langsam! Achten Sie auf das, was Sie anspricht! Sie brauchen nicht alles zu verstehen! Klare Fragen dienen auch dem Erkennen! - Beten Sie entweder frei oder mit einem Gebetbuch oder indem Sie einen Satz oder Gedanken des Gelesenen in ein Gebet oder in eine Fürbitte umformen. Wer nicht beten kann, der spreche einfach das Gebet der Armen, der kleinen Brüder Jesu: "Herr, ich kann nicht beten. Ich biete mich dir dar. Nimm mich so, wie ich bin." Letzter Satz: In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung stand kürzlich: Die Auskünfte der meisten Christen über ihren Glauben seien vage, ungenau und verhalten, als ob sie etwas zu verbergen hätte. Ich wollte Sie ernster nehmen und Ihnen etwas zutrauen.
Erich Gräßer KENNEN WIRJESUS? Predigt über Mk 8,27-29 1
"Jesus. Was Forscher heute wissen." So, liebe Gemeinde, lautete die Schlagzeile auf der Titelseite eines viel gelesenen Magazins, das kurz vor Weihnachten erschien. "Die Wahrheit hinter der Legende" war das eigentliche Thema. Berichtet wird von dem Versuch, mit historisch-wissenschaftlichen Methoden herauszufinden, "wer der Nazarener wirklich war". Das Ergebnis ist dürftig. Die Forscher so heißt es - wissen wenig. Tendenz: fallend. Die aufgestellte Gleichung lautet: Jesus, der historische J esus, ist, der er war: Ein damals kaum beachteter jüdischer Wanderprediger und als solcher "eine der verschwommensten Gestalten der Geschichte"z. Ich frage mich aber, ob die genannte Gleichung nicht genau umgekehrt lauten muß, also nicht: Jesus ist, der er war, sondern: er war, der er ist, der "Sohn des Hochgelobten" (Mk 14,61). Warum frage ich mich das? Nun, weil die neutestamentlichen Schriften, die einzigen Quellen, die wir zur Aufhellung der J esusfrage haben, ja nicht rückblickend die Frage beantworten, wer J esus war. Sondern aufblickend auf den erhöhten Christus verkündigen sie den, "der da ist, der da war und der da kommt" (Offb 1,4), und daß dort, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind, er mitten unter ihnen ist (Mt 18,20). Die Frage lautet also: Wer ist Jesus? In unserem Predigttext, in Mk 8;27-29, stellt sich die Frage so: Jesus ging fort mit seinen Jüngern in die Dörfer bei Caesarea Philippi. Und auf dem Wegfragte er seine Jünger und sprach zu ihnen: Wer sagen die Leute, daß ich sei? Sie antworteten ihm: Einige sagen, du seist Johannes der Tiiufer, einige sagen, I Die Predigt wurde im Silvester-Gottesdienst am 31.12.2002 in der Evangelischen Kirche in Witten-Bommern gehalten. Sie der vorliegenden Festschrift beizugeben, mit der der langjährige Freund und Kollege geehrt wird, hat auch einen ganz persönlichen Grund: Qtto Merk war zu der Zeit, als ich bei Werner Georg Kümmel in Marburg Assistent und gleichzeitig Vikar an der dortigen U niversitätskirche war, mein Helfer im sonntäglich zu haltenden Kindergottesdienst. Dies und vieles andere mehr, was wir im Alten Marburg erlebten, hat das besonders feste Freundschaftsband zwischen uns geknüpft. 2 Stern. Das deutsche Magazin, Nr. 52, 18.12.2002,48.
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du seist Elia, andere, du seist einer der Propheten. Und er [ragte sie: Ihr aber, wer sagt ihr, daß ich sei? Da antwortete Petrus und sprach zu ihm: Du bist der Messias.
Liebe Gemeinde! Die knappe Erzählung rührt an den Nerv dessen, worum es bei unserem Christsein geht. Denn unser Glaube ruht auf dem, was der bedeutende Tübinger Theologe Adolf Schlatter in seinem letzten Büchlein frageweise formulierte: "Kennen wir Jesus?" Die Frage ist deshalb so sehr von Belang, weil sich mit dem Problem, worin die Eigenart Jesu besteht, nicht nur die Frage nach dem rechten Wesen des Christentums stellt, "sondern tiefer noch und zuletzt die Gottesfrage". Es muß nämlich von hier aus, von der Frage: "Kennen wir Jesus?", nein: kennen wir Jesus, den Messias, also Jesus Christus, entschieden werden, "wer Gott und wer Abgott ist"3. Von der Antwort auf diese Frage hängen zweifellos "Wahrheit und Heil der Jüngerschaft, rechter und falscher Glaube ab. ,,4 "Denn wenn wir nicht wissen, wer J esus ist, werden wir weder von Gott recht reden können, der sich in ihm geoffenbart hat, noch auch vom Menschen und seiner Welt, um derentwillen sich Gott in Jesus geoffenbart hat. Und wenn wir weder von Gott noch vom Menschen recht reden können, werden wir bis in die äußeren Verhältnisse hinein auch nicht recht leben können. Das ist keine anmaßende theologische Theorie, sondern das erweist ständig die Erfahrung des einzelnen und der Geschichte. ,,5 Allein schon der Jahresrückblick am heutigen Altjahrsabend genügt ja, das zu erweisen. Kriege, Geiselnahme, Terror und Haß erschüttern die Welt. Ungebremste Ausbeutermentalität plündert den blauen Pla~eten Erde. Und ein dramatischer Werteverfall stellt vieles in Frage, was Rang und Geltung behalten sollte wie Ehrlichkeit, Verläßlichkeit, Bescheidenheit, Treue, Rücksichtnahme und andere Tugenden mehr. Es ist schon wahr: Wenn wir weder von Gott noch vom Menschen und seiner Verantwortung recht reden können, werden wir bis in die äußeren Verhältnisse hinein auch nicht recht leben können. Für das eine aber - von Gott recht reden - wie für das andere - vom Menschen recht reden - ist entscheidend wichtig, ob wir Jesus kennen. Wie aber lernen· wir ihn so kennen, daß wir von Gott und uns selbst recht reden können? Auf einer Spruch karte ohne Quellenangabe las ich neulich: " Was könnte wichtiger sein als das Wissen?", fragte der Verstand. "Das Gefühl und mit dem Herzen sehen", antwortete die Seele.
3 E. KÄSEMANN, Der Ruf der Freiheit, Tübingen 31968, 26. 4
Ebd., 21.
H. SCHLIER, Zur Frage: Wer ist Jesus?, in: J. Gnilka (Hg.), Neues Testament und Kirche. Für Rudolf Schnackenburg, Freiburg 1974, 359-370: 359. 5
Kennen wir Jesus?
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Weitaus besser sagt das der französische Moralist Antoine de Saint-Exupery in seiner Märchenerzählung "Der kleine Prinz": "Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. ce Auch der Evangelist Markus scheint mir von dieser Weisheit berührt zu sein, wenn er hier wie auch sonst einen äußeren Kreis von einem inneren unterscheidet: Wer sagen die Leute, daß Jesus sei? Und wer sagen die Jünger, daß er sei? Die Leute, das sind die - wie es einige Kapitel zuvor heißt -, die "draußen" sind, "die mit sehenden Augen sehen, und doch nicht erkennen, und mit hörenden Ohren hören, und doch nicht verstehen" (Mk 4,12). Die Jünger aber, das sind die, die "drinnen" sind, die mit dem Herzen sehen, die Jesus nachgefolgt sind, denen "das Geheimnis des Reiches Gottes anvertraut ist" (Mk 4,11). Geheimnisse sind für die Augen unsichtbar; man sieht sie nur mit dem Herzen gut. Das Wissen der Leute stützt sich auf Vermutungen. Ihre Antworten auf die Frage, wer J esus ist, sind nicht einfach selbsterfundene Annahmen. Denn sie antworten aus der Analogie früherer, ähnlicher Erscheinungen: Jesus könnte Johannes der Täufer oder Elia oder einer der Propheten sein. Das sind Namen, alttestamentliche Namen, solche Namen also, die ihrerseits auf eine Geschichte Gottes mit seinem Volk verweisen 6 • Hingegen heute, da man gerne sensationslüstern fragt, wer J esus war, um ihn dann entweder gänzlich zu verwerfen oder aber als Verkörperung ,eigener Sehnsüchte plausibel zu machen, heute antworten die "Leute" nicht mehr mit Namen, sonern mit Begriffen wie "Jesus Superstar", Revolutionär, Sozialist, Kommunarde, Hippie oder ähnlichem. Das sind eigenhändige "Antworten des jeweiligen. Zeitgeistes", Kopfgeburten, die uns insinuieren, "eben sei die Wahrheit geboren", die aber "meist ziemlich schnell im Sand ihrer Bedeutungslosigkeit verlaufen. ,,7 Nicht so die Antwort aus dem inneren Kreis, die Antwort der Jünger, die mit dem Herzen sehen, zu deren Sprecher sich Petrus macht: "Du bist der Christus", das heißt: "Du bist der Messias". Diese Antwort ist keine Vermutung, keine selbsterdachte Annahme, keine Antwort aus der Analogie früherer Erscheinungen. Diese Antwort ist ein Bekenntnis, ein Glaubensbekenntnis, das dort möglich wird, wo man sich auf Jesus einläßt, sich seinem Worte nicht verschließt und in seine Nachfolge rufen läßt. Denn "der Glaube gründet in der Botschaft, die Botschaft aber im Wort Christi" (Röm 10,17). Es ist das nicht viel anders, als im zwischenmenschlichen Bereich auch. Wer der andere ist, der Mensch an meiner Seite, der Nachbar, der Nächste, der Freund, er-
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H. STOEVESANDT, Pfingstsonntag. Mt 16,13-20, GPM 66, 1977,250-259: 257. Schlier, Frage (s. Anm. 5), 359f.
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fahre ich nur, wenn ich mich ihm öffne und das Risiko, das in jeder Begegnung liegt, auf mich nehme. Das haben die Jünger getan, als sie sich von Jesus in die Nachfolge rufen ließen, heraus aus ihren Familien, aus ihrem Beruf, aus ihrem Heimatort. Und entsprechend geht ihre Antwort auf die Frage Jesuüber die der Leute hinaus. Die Leute vertreten Meinungen über Jesus, die Jünger aber das Bekenntnis zu Jesus. Die Meinungen sind Sand, ein Narr, der bauet drein. Du baust aufMeinungen, wie kannst du weise sein?,
fragt Angelus Silesius in seinem Cherubinischen Wandersmann (Nr. 251). Meinungen können sich ändern. Sie wechseln - was das Bild des histori;chen Jesus anbetrifft - seit der Aufklärung fast in jeder Generation und heute fast in jeder halben Generation. Meinungen kennzeichnen für Platon zum Beispiel den Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen. Das Gemeinte legt mich nicht fest. Ist Jesus etwa Johannes der Täufer? Vielleicht! Elia? Vielleicht! Einer der Propheten? Vielleicht! Hingegen das Bekenntnis ist die prägnanteste Formulierung einer zentralen, verpflichtenden Gewißheit, die mit Ernst Moritz Arndt bekennen kann: Ich weiß, was ewig dauert, ich weiß, was nimmer läßt; auf ewgen Grund gemauert steht diese Schutzwehr fest. Es sind des Heilands Worte, die Worte fest und klar; an diesem Felsenhorte halt ich unwandelbar.
Mit dem Bekenntnis steht der Bekenner selbst auf dem Spiel. Mit dem Bekenntnis legt er sich fest: "Du bist der Messias." Du und kein anderer! "Messias", in der griechischen Sprache des Neuen Testaments "Christus", war für Petrus und die ältesten Christen der zeitlich bedingte Ausdruck dafür, daß sich im gesamten Wirken J esu die endzeitliche Heilstat Gottes als neue Initiative seiner Gerechtigkeit offenbart. Wie die anderen auf Jesus angewandten Hoheitstitel Menschensohn, Gottessohn, Davidssohn ist auch der Titel Messias für uns zum "historischen Gleichnis"s dafür geworden, daß es Gott selbst ist, der uns mit dem von J esus verkündigten Evangelium eine neue Welt erschließt, "eine andere Wirklichkeitserfahrung und eine andere Lebenspraxis. "9
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A. SCHWEITZER, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 1913 (= 61951),642. E. SCHILLEBEECKX, Jesus. Die Geschichte von einem Lebenden, Freiburg 31975, 141.
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Welche? Nun, da mag es vielerlei Antworten geben. Aber es gibt nur einen Schlüssel, der uns diese andere Wirklichkeitserfahrung, diese andere Lebenspraxis aufschließt: Das ist J esu Auslegung der Gerechtigkeit Gottes; man kann auch sagen: J esu Auslegung der Königsherrschaft Gottes, die im Zentrum seiner Botschaft steht und die er nicht nur mit seinem Reden, sondern auch mit seinem Leben und Sterben als Gleichnis und im Gleichnis zur Sprache bringt. Ich könnte auch sagen: Der Schlüssel, der uns die andere Wirklichkeitserfahrung, die andere Lebenspraxis aufschließt, ist er selbst, J esus. Er hat sie gelebt, in Wort und Tat gelebt, anders gelebt, als es üblicherweise der Fall ist. Wo die Gesetzeshüter die Ehebrecherin steinigen wollten, da sprach er: "Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein" Goh 8,7). Und keiner warf ihn! Wo seine Jünger wünschten, daß das ungastliche Samariterdorf mit Feuer vom Himmel vernichtet würde, bedrohte er sie und sagte: "Wisset ihr nicht, welches Geistes Kinder ihr seid? Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, der Menschen Seelen zu verderben, sondern zu erhalten" (Lk 9,55Q. WO der Schächer am Kreuz seine Henker verfluchte, da sagte er: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun" (Lk 23,34). Und der heidnische Hauptmann unter dem Kreuz, als er sah, daß J esus so verschied, sprach: "Wahrlieh, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen" (Mk 15,39). Ja, Jesus war anders! "Er war einzigartig darin, daß er in der Freiheit der Gotteskindschaft stand, lebte und starb, handelte und sprach." Und er war einzigartig darin, daß er in die Freiheit der Gotteskindschaft beriepo. So, wie wir es zu Weihnachten wieder gehört haben: "Er war in der Welt, ... aber die Welt erkannte ihn nicht. Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben" Goh 1,10.12). Liebe Gemeinde! Wer nun sagen wir, daß er sei? Wer ist J esus? Kennen wir ihn? Wissen wir, daß in der Geschichte von J esus die Geschichte Gottes erzählt wirdlI? Mit der Antwort auf diese Frage entscheidet sich die Wahrheit unserer Jüngerschaft, rechter und falscher Glaube. Und niemand kann an unserer Statt auf diese Frage antworten, "nicht die historischen Wissenschaften, nicht die Theologie, nicht einmal die ersten Christen und schon gar kein kirchliches Lehramt"12. Wir selbst sind gefragt. Und niemand kann antworten, ohne sich auf den Fragesteller einzulassen. Mein Gewährsmann dafür, daß dem wirklich so ist und daß es der Evangelist Markus auch so meint, ist Albert Schweitzer, der mit seinem ganzen Leben und Denken der J esusfrage zugewandt war. Seine zum Klassiker und unverzichtbar gewordene "Geschichte der Leben-Jesu-Forschung" endet mit Sätzen von unabge10 II
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Käsemann, Ruf (s. Anm. 3), 53. Schillebeeckx, Jesus (s. Anm. 9), 141. Ebd., 152.
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nutzter und unabnutzbarer Gültigkeit, mit denen ich die Predigt schließe und uns alle in ein hoffentlich friedvolles neues Jahr entlasse. Die Sätze lauten: "Als ein Unbekannter und Namenloser kommt er zu uns, wie er am Gestade des Sees an jene Männer, die nicht wußten, wer er war, herantrat. Er sagt dasselbe Wort: Du aber folge mir nach! und stellt uns vor die Aufgaben, die er in unserer Zeit lösen muß. Er gebietet. Und denjenigen, welche ihm gehorchen, Weisen und U nweisen, wird er sich offenbaren in dem, was sie in seiner Gemeinschaft an Frieden, Wirken, Kämpfen und Leiden erleben dürfen, und als ein unaussprechliches Geheimnis werden sie erfahren, wer er ist ... "13.
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Schweitzer, Geschichte (s. Anm. 8),642.
Berthold Mengel HEIMKEHR Ein interdisziplinäres Gespräch
Grundlage und Zentrum dieses Beitrages bilden drei Texte, die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zugeordnet sind: der Germanistik einerseits und der Theologie - genauer: der neutestamentlichen Theologie - andererseits. Mithin ist dieser Beitrag gedacht als ein interdisziplinäres Gespräch zwischen der germanistischen Literaturwissenschaft und der neutestamentlichen Exegese sowie zugleich als ein intertextuelles Gespräch. Die drei Texte sind miteinander verbunden in dem gemeinsamen Leitmotiv "Rückkehr" oder "Heimkehr". Es handelt sich um das Gedicht Rückkehr von Hilde Domin, um die üblicherweise als Gleichnis vom verlorenen Sohn bezeichnete Parabel in Lk 15,11-32 und um die Parabel Heimkehr von Franz Kafka. Daß in diese Textzusammenstellung nicht auch die entsprechenden Passagen aus dem Drama Die Räuber von Friedrich Schiller, das dieser ursprünglich mit Der verlorene Sohn überschreiben wollte!, und der 1910 erschienene Tagebuchroman Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge von Rainer Maria Rilke, den dieser mit einer Nacherzählung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn als Legende dessen, der nicht geliebt werden wollte beschließt, berücksichtigt werden, hat ausschließlich den Grund, daß diese - sachlich gebotene - Ausweitung den Umfang dieses Beitrags deutlich gesprengt hätte. Die Anordnung der Texte ist nicht motiviert in der Umkehrung der Verse von J. W.Goethe Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind in der Mitten 2, sondern hat seinen sachlichen Grund darin, daß das Gespräch des Theologen mit dem Germanisten letztendlich um der Parabel Vom verlorenen Sohn aus dem Lukasevangelium willen geführt wird, allerdings nicht um den Preis, daß die beiden anderen literarischen Texte funktionalisiert würden. Sie haben ihre eigene Dignität, und es wird darum gehen, sie zu hören und zu vernehmen mit dem Ziel, im Ge1 Diesen Hinweis verdanke ich F. BOVON, Das Evangelium nach Lukas. 3. Teilband: Lk 15,119,27, EKK 3/3, Düsseldorf / Neukirchen-Vluyn 2001,63. 2 J. W. VON GOETHE, Werke, Kommentare und Register, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, München 1981, Bd. 1: Gedichte und Epen I, 90.
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spräch mit ihnen den neutestamentlichen Text zu profilieren. Einschränkend freilich ist zu sagen, daß es nicht um eine umfassende Analyse bzw. Exegese der drei Texte gehen kann, sondern um das Setzen von Mosaiksteinen. Dabei soll es weniger um eine gelehrte Diskussion von Grundsatzfragen im Anmerkungsteil als vielmehr um intertextuelle Bezüge zwischen den drei gewählten Texten gehen. Rückkehr3 Meine Füße wunderten sich daß neben ihnen Füße gingen die sich nicht wunderten. Ich, die ich barfuß gehe und keine Spuren hinterlasse, immer sah ich den Leuten auf die Schuhe. Aber die Wege feierten Wiedersehen mit meinen schüchternen Füßen. Am Haus meiner Kindheit blühte im Februar der Mandelbaum. Ich hatte geträu'!l t, er werde blühen.
Das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32) Ein Mensch hatte zwei Söhne. Und der jüngere von ihnen sprach zum Vater:" Vater, gib mir den Anteil am Vermögen, der mir zukommt. ce Da teilte er das Vermögen unter sie. Und wenige Tage später machte der jüngere (Sohn) alles zu Geld und wanderte aus, in ein weit entlegenes Land. Dort verschwendete er sein Vermögen in einem liederlichen Leben. Als er aber alles vertan hatte, kam es in jenem Land zu einer schweren Hungersnot, und er begann, Mangel zu leiden. Und er ging hin und hängte sich an einen Bürger jenes Landes. Der schickte ihn auf seine Felder, Schweine zu hüten. Und er hätte sich am liebsten den Bauch vollgeschlagen mit den Johannisbrotschoten, mit denen die Schweine gefüttert wurden - aber niemand gab (sie) ihm. Er aber ging in sich und sprach: "Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben Brot im Überfluß, ich aber komme hier vor Hunger um. Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: ,Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin 3
H. DOMIN, Gesammelte Gedichte, Frankfurt 1987, 162.
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nicht mehr wert, dein Sohn genannt zu werden. Halte mich wie einen deiner Tagelöhner. ,ce Und er machte sich auf und ging zu seinem Vater. Als er aber noch weit weg war, sah ihn sein Vater, wurde von Erbarmen erfaßt, lief (ihm entgegen), fiel ihm um den Hals und küßte ihn. Der Sohn aber sprach zu ihm: "Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. leh bin nicht mehr wert, dein Sohn genannt zu werden. ce Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: "Schnell! Bringt das Festge'Wand und zieht es ihm an, gebt ihm einen Ring an die Hand und Schuhe für die Füße. Holt das Mastkalb und schlachtet es. Wir wollen essen und guter Dinge sein. Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig ge'Worden, war verloren und ist gefunden worden. ce Und sie begannen, guter Dinge zu sein. Sein älterer Sohn aber war auf dem Felde. Als er auf dem Heimweg in die Nilhe des Hauses kam, hörte er Musik und Reigentanz. Und er rief einen von den Knechten heran und wünschte zu erfahren, was das wäre. Der aber sagte ihm: "Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat das Mastkalb schlachten lassen, weil er ihn gesund zurück hat. ce Ihn aber packte der Zorn, und er wollte nicht hineingehen. Sein Vater aber kam heraus und redete ihm zu. Er aber gab dem Vater zur Antwort: "Siehe, so viele Jahre diene ich dir wie ein Sklave und habe niemals ein Gebot von dir übertreten. Aber niemals hast du mir (auch nur) einen Bock gegeben, damit ich mit meinen Freunden fröhlich sein könnte. Nun aber dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Vermögen im Umgang mit Dirnen vertan hat, da hast du ihm das Mastkalb geschlachtet. ce Der aber sprach zu ihm: "Mein liebes Kind, du bist alle Zeit bei mir, und alles Meine ist dein. Du müßtest aber jubeln und dich freuen. Denn dieser dein Bruder war tot und ist lebendig ge'Worden, er war verloren und ist gefunden worden. ce
Heimkehr4 leh bin zurückgekehrt, ich habe den Flur durchschritten und blicke mich um. Es ist meines Vaters alter Hof Die Pfütze in der Mitte. Altes, unbrauchbares Gerät, ineinanderverfahren, verstellt den Weg zur Bodentreppe. Die Katze. lauert auf dem Geländer.. Ein zerrissenes Tuch, einmal im Spiel um eine Stange ge'Wunden, hebt sich im Wind. leh bin angekommen. Wer wird mich empfangen? Wer wartet hinter der Tür der Küche? Rauch kommt aus dem Schornstein, der Kaffee zum Abendessen wird gekocht. Ist dir heimlich, fühlst du dich zu Hause? leh weiß es nicht, ich bin unsicher. Meines Vaters Haus ist es, aber kalt steht Stück neben Stück, als wäre jedes mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, die ich teils vergessen habe, teils niemals kannte. Was kann ich ihnen nützen, was bin ich ihnen und sei ich auch des Vaters, des alten Landwirts Sohn.
4 F. KAFKA, Gesammelte Werke, hg. v. Max Brod, Taschenbuchausgabe in sieben Bänden (0. Zählg.): Beschreibung eines Kampfes.l':Jovellen, Skizzen, Aphorismen aus dem Nachlaß, Frankfurt 1983, 107.
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Und ich wage nicht, an der Küchentür zu klopfen, nur von der Ferne horche ich, nur von der Ferne horche ich stehend, nicht so, daß ich als Horcher überrascht werden könnte. Und weil ich von der Ferne horche, erhorche ich nichts, nur einen leichten Uhrenschlag höre ich oder glaube ihn vielleicht nur zu hören, herüber aus den Kindertagen. Was sonst in der Küche geschieht, ist das Geheimnis der dort Sitzenden, das sie vor mir wahren. Je liinger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man. Wie wäre es, wenn jetzt jemand die Tür öffnete und mich etwas fragte. Wäre ich dann nicht selbst wie einer, der sein Geheimnis wahren will. 1 Hilde Domin: Rückkehr
Hans-Georg Gadamer hat die Schriftstellerin Hilde Domin als "die Dichterin der Rückkehr" bezeichnets. Hilde Domin, neben Rose Ausländer, Else LaskerSchüler und Nelly Sachs eine der wenigen deutschen Lyrikerinnen jüdischer Herkunft, die den . Holocaust überlebten, wurde am 27. Juli 1912 als Tochter eines Düsseldorfer jüdischen Rechtsanwalts in Köln geboren. Nach ihren eigenen Worten verlebte sie ihre Kinder- und Jugendjahre gemeinsam mit ihrem jüngeren Bruder in einer familiären Atmosphäre, die davon geprägt war, daß sie "immer, ohne Angst, die Wahrheit sagen durfte cc6• "Ich durfte, was ich wollte, und man hielt mir, so gut es ging, die Hand unter oder auch über und beschützte mich. cc7 Die Familie, wie-
wohl formal der jüdischen Religionsgemeinschaft zugehörig, hatte keinerlei innere Bindung an den jüdischen Glauben; jüdische Feste spielten im jahreszeitlichen Ablauf keine Rolle, wohl aber" Weihnachten, Ostern, Nikolaus cc8 • Wenn sie sich dennoch zu ihrem Judesein bekennt, dann nicht im Sinne einer Glaubensgemeinschaft, auch nicht einer Volkszugehörigkeit, sondern im Sinne einer Schicksalsgemeinschaft. "Ich habe sie nicht gewählt wie andere Gemeinschaften, die dann zu Schicksalsgemeinschaften werden. Ich bin hineingestoßen worden, ungefragt wie in das Leben selbst. Von einer Schicksalsgemeinschaft aber, wie immer sie auch zustande gekommen sei, kann sich der emanzipierte Mensch, der ,befreite', nicht drücken, die menschliche Solidarität gehört unabdingbar zu seinem Credo, ohne sie wä're er nichts als ein Opfer der Umstände. cc9
5 H.-G. GADAMER, Hilde Domin. Dichterin der Rückkehr, in: Vokabular der Erinnerungen. Zum Werk von Hilde Domin, hg. v. B. VON WANGENHEIM, aktualisierte Neuausgabe v. 1. Metz, Frankfurt 1998,29. 6 H. DOMIN, Mein Vater. Wie ich ihn erinnere, in: DIES., Gesammelte Autobiographische Schriften, Frankfurt 1993, 14. 7 Ebd., 12; vgl. auch H. DOMIN, Meine Wohnungen, in: Autobiographische Schriften (s. Anm. 6),72ff. 8 H. DOMIN, Hineingeboren, in: Autobiographische Schriften (s. Anm. 6), 150. 9 Ebd., 152f.
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Als Zwanzigjährige unternimmt Hilde Domin im Oktober 1932 mit dem Archäologiestudenten Erwin Walter Palm von Heidelberg aus, dem gemeinsamen Studienort, eine Studienreise nach Rom, die sich dann als vorweggenommene Emigration, als erste Station eines langjährigen Exils erwies. "Wie ich versuche, über das Verlassen der Heimat zu sprechen, entdecke ich zu meinem Erstaunen, daß of fenbar die Tatsache, daß ich im Jahre 1932 dem Zwang zuvorgekommen bin, daß ichscheinbar freiwillig, von allen verspottet als ,Kassandra'; ,Was Sie sich vorstellen, das kann nie passieren' - in sehr jungen Jahren mich selber entschied, wissend, daß alles schon entschieden war, daß dies freiwillige Aufgeben des in Wahrheit schon Verlorenen mein ganzes Leben bestimmt zu haben scheint. Es hat meinen Freiheitsbegriff geprägt. Nicht so sehr, daß ich ,in die Freiheit' ging, sondern daß ich mir die Freiheit nahm zu gehen "10. Gegen Ende ihres Romaufenthalts müssen Hilde Domin und ihr Mann Erwin Walter Palm - sie heiraten 1936 - jederzeit mit Verhaftung und eventueller Deportation rechnen. Hitlers Rombesuch im Mai 1938 veranlaßt sie, im Morgengrauen Rom zu verlassen und über Sizilien nach England zu fliehen. Von dort geht die Odyssee 1940 weiter in die Dominikanische Republik. " Wir liebten das Land, in dem wir gefangen waren... Wir verzweifelten dauernd. "11 Sie fühlt sich, wiewohl sie die Sprachen ihrer Exilländer - Italienisch, Englisch und Spanisch fließend spricht, als Fremde. In ihrem Gedicht Fremder 12 lesen wir die Strophe: "Unsere Sprache sprichst du", sagen sie überall mit Verwundern. Ich bin der Fremde, der ihre Sprache spricht. Als Neununddreißigjährige beginnt Hilde Domin mit dem Schreiben. Diesen kreativen Akt empfindet sie als ihre eigentliche Geburt. In ihren autobiographischen Notizen lesen wir: "Ich, H. D., bin erstaunlich jung. Ich kam erst 1951 auf die Welt. Weinend, wie jeder in diese Welt kommt. Es war nicht in Deutschland, obwohl Deutsch meine Muttersprache ist. Es wurde spanisch gesprochen, und der Garten vor dem Haus stand voller Kokospalmen ... Meine Eltern waren tot, als ich auf die Welt kam. Meine Mutter war wenige Wochen zuvor gestorben. "13 Dieser Eintritt in ihr "zweites Leben" manifestiert sich auch in der Änderung ihres Namens. Sie wählt
10 H. DOMIN,. " ... und doch sein wie ein Baum". Die Paradoxien des Exils, in: DIES., Gesammelte Essays. Heimat in der Sprache, Frankfurt 1993, 203. 11 Domin, Wohnungen (s. Anm. 7), 100. 12 Domin, Gesammelte Gedichte (s. Anm. 3), 211. 13 H. DOMIN, Unter Akrobaten und Vögeln, in: Autobiographische Schriften (s. Anm. 6),21.
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den Namen "Domin", "Kürzel der amtlichen Bezeichnung ihres damaligen Exils Santo Domingo"14.
Landen dürfen 15 Ich nannte mich ich selber rief mich mit dem Namen einer Insel. Es ist der Name eines Sonntags einer geträumten Insel. Kolumbus erfand die Insel an einem Weihnachtssonntag. Sie war eine Küste etwas zum Landen man kann sie betreten die Nachtigallen singen an Weihnachten dort. Nennen Sie sich, sagte einer als ich in Europa an Land ging, mit dem Namen Ihrer Insel. "Nach 22jährigem Exil gestaltet sich die Rückkehr nach Deutschland etappenweise, als ein von Erwartungen und Enttäuschungen bestimmter Prozeß, der sich über fast ein Jahrzehnt erstreckte und ein ,Leben in möblierten Zimmern' zur Folge hatte."16 Neun Jahre nach ihrer Rückkehr aus Santo Domingo finden Hilde Domin und ihr Mann, der 1960 einen Ruf an die Universität Heidelberg erhielt, in ihrer alten Universitätsstadt endgültig wieder ein Zuhause. "Wie betrunken von so viel Wiedersehen«17 bekennt sie: "Die Rückkehr, nicht die Verfolgung, war das große Erlebnis meines Lebens. «18 Das Gedicht Rückkehr schrieb Hilde Domin am 1. Februar 1960 in Madrid l9 • Ich versuche eine erste Annäherung an den Text über seinen formalen Aufbau. Der Text besteht aus 17 unterschiedlich langen Versen, die je zu dritt eine Strophe bilden. Die letzte Strophe besteht demzufolge nur aus zwei Versen. Die Verslängen variieren vom Acht-Wort-Vers bis zum Ein-Wort-Vers, der auf diese Weise
B. LERMEN / M. BRAUN, Hilde Domin. "Hand in Hand mit der Sprache", Bonn 1997, 13. Domin, Gesammelte Gedichte (s. Anm. 3), 229. 16 Lermen / Braun, Hilde Domin, 20. Braun zitiert H. DOMIN, Dank an Heidelberg, in: Autobiographische Schriften (s. Anm. 6), 65. 17 Domin, Hineingeboren (s. Anm. 8), 155f. 18 Ebd., 156. 19 Vgl. v. Wangenheim, Vokabular (s. Anm. 5),233. 14
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schon besond~rs hervorg~ho~en i~t; Vier- und Fünf-Wort-Verse sindli:liift litIbagsteno Das GedIcht umgrelft dIe Zeltform~n. d~s Präteritum, des Präsenz, dej ~ quamperfekt und des Futur. Formal auffällIg 1st noch der Beginn der dritten Str1j\Y phe mit dem adversativen Signalwort "aber". Metrum und Reim sind für das Ge.. dicht ohne Bedeutung. Die Überschrift des Textes - gemäß ihrer Funktion als "makro-linguistische Erwartungs-Instruktion"2o - weist uns thematisch die Richtung: Rückkehr. Es geht inhaltlich darum, daß jemand, das lyrische Ich, nach einer Zeit der Abwesenheit wieder dorthin zurück geht, wo es früher zuhause war. Ein großer Teil der in diesem Gedicht gebrauchten Wörter ist denn auch dem Wortfeld "gehen" zuzuordnen21 . Das diese Isotopie prägende Schlüsselwort ist zweifelsohne das Wort "Füße". Es eröffnet die erste Strophe, kommt im zweiten Vers erneut vor, indirekt als Relativpronomen zu Beginn des dritten Verses; es klingt in der zweiten Strophe im Wort "barfuß" an und beendet die dritte Strophe. Allerdings scheinen lediglich die ersten drei Strophen von diesem Wortfeld dominant geprägt, die zwei letzten Strophen haben das "Haus meiner Kindheit" - Ziel aller Wege, die die Füße begehen -, verbunden mit dem Motiv des blühenden Mandelbaumes, zum Inhalt. In den beiden ersten Strophen reflektiert das lyrische Ich, reduziert in der rhetorischen Figur der Synekdoche auf "meine Füße", seine Beziehung zu den neben ihm gehenden Mitmenschen, ebenfalls reduziert auf deren Füße, genauer gesagt: deren Beziehung zum lyrischen Ich. Das lyrische Ich wagt offenkundig bei seiner Rückkehr dorthin, von wo es in der Vergangenheit fortging, nicht den geraden, aufrechten Blick und Gang, es wählt vielmehr die Gangart der Bescheidenheit, Ängstlichkeit - nach eigener Charakterisierung: Schüchternheit -, den auf den Boden gerichteten Blick, gesenkten Hauptes, so daß es von sich selbst wie von seinen Mitmenschen nur die Füße in den Blick zu nehmen vermag. Diesem nicht in Augenhöhe mit den anderen Menschen, sondern zu Boden gerichteten Blick korrespondiert in der zweiten Strophe der Hinweis, daß das Ich "barfuß" geht und darum keine Spuren hinterläßt; oder wäre richtiger, das Selbstverständnis und Selbstbewußtsein des lyrischen Ich treffender kennzeichnend, zu formulieren: um keine Spuren zu hinterlassen? Barfuß zu gehen hinterläßt aber nicht nur keine Spuren, es ist auch insofern gefährlich, als man verletzlich ist gegenüber denen, die Schuhe an den Füßen tragen. Darum ist es gut,. den Leuten auf die Schuhe zu sehen - wegen der Gefahr, die von dort ausgeht. Jedoch scheint diese Gefahr einerH. WEINRICH, Sprache in Texten, Stuttgart 1976, 18. V gl. dazu Domin, Wohnungen (s. Anm. 7), 71: "Außer dem Gehen kommt in meinen Gedichten, zumindest den ersten Bänden, vielleicht nichts so viel vor wie das Wohnen oder Wohnen dürfen. Bleiben dürfen." 20
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seits gar nicht gegeben zu sein, denn die Mitmenschen nehmen das lyrische Ich in seiner Besonderheit gar nicht wahr - eine Tatsache, die das lyrische Ich allerdings verwundert, denn offensichtlich ist die Rückkehr des lyrischen Ich alles andere als selbstverständlich. Andererseits liegt aber gerade in dieser befremdlichen Gleichgültigkeit der Mitmenschen dem lyri~chen Ich gegenüber die Gefahr, diesem in all seiner Verletzlichkeit auf die Füße zu treten, wörtlich und auch im übertragenen Sinne, wobei letzteres eine sprachliche Verharmlosung darstellte. Ist das lyrische Ich verwundert, befremdet oder wohl auch enttäuscht, daß es zu keiner Reaktion des Begrüßens, des Willkommen-Heißens seitens der Mitmenschen kommt, so findet die Begrüßungs- und Willkommensfeier doch noch statt: Wenn schon nicht die Menschen, so feiern doch die Wege - personifiziertes Handlungssubjekt der dritten Strophe - Wiedersehen mit den schüchternen Füßen des lyrischen Ich. Diese Wege, so darf man vermuten, führen zum "Haus der Kindheit". Diese Genitivmetapher, die vielleicht für das steht, was Ernst Bloch im letzten Satz seines Werks Das Prinzip Hoffnung so ausgedrückt hat: Das, was "allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat"22, ist verknüpft mit dem Bild des blühenden Mandelbaums; und spätestens jetzt wird Gewißheit, was sich bereits mit der Überschrift des Gedichts andeutete: Dieses Gedicht ist ein in hohem Maße autobiographischer Text und spiegelt die Empfindungen der zurückgekehrten Jüdin Hilde Domin nach 22jährigem Exil. ,fils ich zuerst an die Möglichkeit "einer Reise nach Deutschland dachte, trilumte ich, viele Niichte lang, ich stünde vor unserem Haus: Das Haus selbst lag in Trümmern, nur der Eingang war da, eine Treppe, die ins Nichts führte. Vor der Treppe war das Gittertor, auf dem wir als Kinder geschaukelt hatten. Der japanische Mandelbaum im Vorgarten blühte. Ich träumte es wieder und wieder. Immer blühte der Mandelbaum. Es war noch sehr früh im Jahr, als ich hinkam. cc23 Diese Empfindungen' sind Verwunderung, Befremden, vielleicht Enttäuschung darüber, daß da niemand ist, dem es überhaupt auffällt, geschweige denn der beglückt darüber wäre, daß sie wieder zurückgekehrt ist; andererseits aber ist sie "wie betrunken von soviel Wiedersehen cc24 und - welch ein Mut angesichts der schüchternen Füße - sie läßt das Gedicht mit dem Motiv des blühenden Mandelbaums enden. "Ich sah aus dem Zug und sah die kahlen Bäume in der Rheinebene an und dachte nur daran, daß der Mandelbaum noch nicht blühen könne... Dann nahm ich am Bahnhof ein Taxi. Der Mandelbaum blühte, so früh im Jahr es auch war. cel5 Der
E. BLOCH, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 3, Frankfurt 1959, 1628. H. DOMIN, Randbemerkungen zur Rückkehr, in: Autobiographische Schriften (s. Anm. 6), 336; vgl. auch DIES., Unter Akrobaten und Vögeln, ebd., 22; dies., Wohnungen (s. Anm. 7), 72.79. 24 Domin, Hineingeboren (s. Anm. 8), 155. 25 Domin, Randbemerkungen (s. Anm. 23), 336f. 22 23
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Mandelbaum als Symbol der Hoffnung? So versteht ihn der jüdische Glaube und so hat es Schalom Ben-Chorin 1942 zum Ausdruck gebracht: "Freunde, daß der Mandelzweig wieder blüht und treibt, / ist das nicht ein Fingerzeig, daß die Liebe bleibt? Daß das Leben nicht verging, soviel Blut auch schreit, / achtet dieses nicht gering in der trübsten Zeit. Tausende zerstampft der Krieg, eine Welt vergeht. / Doch des Lebens Blütensieg leicht im Winde weht. Freunde, daß der Mandelzweig sich in Blüten wiegt, bleibe uns ein Fingerzeig, wie das Leben siegt. (<26 2 Lukas 15,11-32: Das Gleichnis vom verlorenen Sohn
Der Text Lk 15,11-32 gehört zur Gleichnisliteratur - jener Gattung, deren sich Jesus in besonderer, für ihn geradezu typischer Weise bedient hat27 , "weil sie dem Inhalt seiner Botschaft gemäß war", war doch die Einzigartigkeit dieser Botschaft nur vorläufig, nur indirekt aussagbar. Näherhin ist unser Text innerhalb dieser verschiedene Textformen umgreifenden Gattung als "Parabel" zu identifizieren, geht es doch nicht um einen jedermann so geläufigen Vorgang aus dem Alltag des Lebens - man vergleiche dagegen etwa das Gleichnis vom Senfkorn oder vom Sauerteig -, sondern um eine unerhörte Begebenheit, um einen Einzelfa1l28 , der die bekannten und darum praktizierten Normen und Handlungsmuster durchbricht. Dieser außergewöhnliche Einzelfall stellt in Frage; die Frage ist nur: wen?! "Nicht, was jeder tut, was gar nicht anders sein kann, wird uns vorgehalten, sondern was einmal jemand getan hat, ohne zu fragen, ob andere Leute es auch so machen würden. cc29 Wenn es in der Parabel nicht um unmittelbar Einsichtiges, sogleich Nachvollziehbares - weil der Hörer jederzeit genauso handelte, weil das Gehörte seine eigene Erfahrung spiegelte - geht, dann stellt die Parabel den Hörer vor eine zweifache Aufgabe: Es geht zunächst darum, das Gehörte in seiner U nerhörtheit zu verstehen und dann mit dem bisher für selbstverständlich Gehaltenen, das heißt mit der eigenen Position als Verstehenshintergrund oder Vorverständnis in Beziehung zu setzen. Eine der eindrucksvollsten Parabeln nicht nur des Alten und des Neuen Testaments ist ganz gewiß die Nathansparabel (2 Sam 12,1-14). David wird allerdings das Verstehen, das heißt der Rückbezug auf ihn selbst, von Nathan erleichtert durch den gleichsam als "hermeneutischer Schlüssel" fungierenden Satz: "Du bist der Mann!", nachdem er als König über diesen unerhörten Frevels schuldigen Mann das Urteil gefällt hat.
26 Evangelisches Kirchengesangbuch. Ausgabe für die Evangelische Kirche im Rheinland, die Evangelische Kirche von Westfalen, die Lippische Landeskirche, Nr. 651. 27 J. ROLOFF, Neues Testament, Neukirchen-Vluyn 1977,95. 28 Vgl. G. THEISSEN / A. MERZ, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Gättingen 21997, 295. 29 So A. Jülicher, zit. nach RoloH, Neues Testament (s. Anm. 27), 93.
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Die Parabel "vom verlorenen Sohn" handelt von einem Vater und seinen zwei Söhnen. Bezüglich der Erzählstruktur ist in allen drei Abschnitten des Textes· das "Gesetz der szenischen Zweiheit" eingehalten. Im ersten längeren Abschnitt treten nur der jüngere Sohn und der Vater in Aktion, wobei zu sagen ist, daß dieser Abschnitt ganz im Zeichen des jüngeren Sohnes steht. Er bestimmt den Gang der Handlung, zumindest als grammatisches Subjekt. Souverän erweist sich der Vater im zweiten Teil der Parabel als Herr des Geschehens, hier bleibt dem jüngeren Sohn kaum mehr als die Statistenrolle als Objekt des väterlichen Handeins, während der dritte Teil geprägt ist vom Gespräch zwischen älterem Sohn und dem Vater mit etwas größeren Textanteilen für den älteren Sohn. Wie es üblicherweise der Parabel entspricht, ist das. unerhörte Geschehen im Aorist erzählt. Als das den Text beherrschende Wort erweist sich die adversative Konjunktion "aber". Sie begegnet insgesamt 15 mal im Text, viermal im ersten, dreimal im zweiten und achtmal im dritten Abschnitt. Der Hörer ist für diesen Text in doppelter Hinsicht konstitutiv: Er konstituiert den Text nicht nur in dem Sinne, daß es ohne seine Mittäterschaft gar nicht zu einem Text käme, sondern er ist auch in der Parabel mit im Spiel, scheinbar als vierter Akteur. Gilt insgesamt für diese Parabel, daß sie deutlich szenisch gegliedert ist, so trifft dies insbesondere für den ersten Teil des Textes zu. Er erinnert nachgerade an den Aufbau des klassischen Dramas. Knapp die Exposition: Der Hörer erfährt, daß es um eine Geschichte gehen wird, in der ein Vater und seine beiden Söhne eine Rolle spielen werden: "Ein Mensch hatte zw~i Söhne." Eröffnet wird die Handlung durch den jüngeren der beiden Söhne. Er erbittet vom Vater die Auszahlung seines Erbanteils. Überlegungen des Hörers, ob dies rechtens und, falls ja, ob dies dann auch moralisch oder bereits der erste Schritt des jüngeren Sohnes in sein Verderben se?O, haben jedenfalls am Text keinen Anhalt, denn es heißt ebenso knapp wie emotionslos sachlich: "Da teilte er das Vermögen unter sie." Es wird von keiner Verabschiedung, von keinen guten Wünschen erzählt, woraus nicht zu schließen ist, daß Vater und jüngerer Sohn - der ältere Sohn kommt ja im ersten Teil ohnehin gar nicht zu Wort - im Unfrieden geschieden wären, sondern womit festgestellt ist, daß solche Überlegungen keinen Anhalt am Text haben, das heißt nicht im Erzählinteresse des Erzählers liegen, daß all dies für die Geschichte, um die es gehen soll, irrelevant ist. Ebenso irrelevant ist die Überlegung, ob der Vater 30 Bisweilen drängt sich einem tatsächlich der Gedanke auf, das Gleichnis vom verlorenen Sohn werde zumindest im deutschsprachigen Raum gleichsam synoptisch mit oder auf dem Hintergrund der Novelle "Aus dem Leben eines Taugenichts" von J. Fr. v. Eichendorff gelesen, allerdings perspektivisch nicht aus dem wohlwollenden Blickwinkel des Erzählers, sondern mit den Augen des Philisters; vgl. dazu C. BRENTANO, Der Philister vor, in und nach der Geschichte, in: Werke, hg. v. F. Kemp, Bd. 2, München 1963.
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gemäß Sir 33,21f klug beraten war, dem Verlangen des jüngeren S4>~l-'Wmt kommen. Der Vate~ kommt der Bitte des jüngeren Sohnes nach und teilt --t& Hörer werden das WIssen - gemäß Dtn 21,15-17 das Vermögen aupl. :.~) Der Sohn macht in wenigen Tagen alles zu Geld (auvayaywv 1Ta.V1:a), und eier (heutige) Hörer erfährt, was der damalige in Kenntnis damaliger Verhältnisse schon ahnte, nämlich welche Absichten der jüngere Sohn mit der Bitte um die Auszahlung des väterlichen Erbes verbindet: Er beabsichtigt auszuwandern und tut· es auch, gewissermaßen stehenden Fußes. Die sprachliche Nüchternheit und Holzschnittartigkeit, aber auch Klarheit der Sprache, die unseren Text bisher auszeichnete, wird auch im folgenden beibehalten, wiewohl die Geschichte von einem Satz auf den anderen einen völlig unerwarteten, durch keine noch so leise Andeutung vorbereiteten, aber die Rolle des Hörers verändernden Verlauf nimmt. In der Fremde, das heißt am Ziel angekommen, verschwendet der Sohn sein gesamtes Vermögen in einem liederlichen Leben32 . Deutlich hervorgehoben werden muß, daß mit keinem Wort veranschaulicht oder gar ausgemalt wird, worin das liederliche Leben des jüngeren Sohnes besteht. Die Klarheit der Sprache zwingt dennoch den Hörer, sich zu positionieren, und ihm bleibt keine andere Position, als sich gegen den Sohn zu entscheiden. Nach hoffnungsvollem Beginn bedeutet Vers 13 einen einzigen Scherbenhaufen, nur Enttäuschung. In einem vorangestellten Gliedsatz wird die Katastrophe noch einmal unterstrichen, als könne der Hörer noch nicht glauben, was er da soeben hörte. Der Hauptsatz allerdings führt dann die persönliche Katastrophe noch einmal fort, indem er sie in eine allgemeine Notsituation großen Ausmaßes gleichsam einbettet. Das Land, das sich der jüngere Sohn als Ort seiner Lebensplanung ausgesucht hatte, wird von einer Hungersnot heimgesucht, die ihn in seiner selbst verschuldeten Situation doppelt hart trifft. Was die Inszenierung der Katastrophe des jüngeren Sohnes anbelangt, fühle ich mich an einige Gedichtverse 1. Bachmanns aus ihrem Gedicht "Ihr Worte"33 erinnert (die dort freilich in eine völlig andere Sinnrichtung gehen): "und sind wir auch schon weiter, / zu weit gegangen, geht' s noch einmal weiter, / zu keinem Ende geht' s." Schonungslos demontiert die Geschichte den jüngeren Sohn, und den Hörer ergreift das blanke Entsetzen über das, was er da zu hören bekommt. Versteht man das EKOAA~eTJ als den Versuch, sich Arbeit und damit Lebensunter31 Zur Binnendifferenzierung der Begriffe ouala, und ßlOC;; vgl. Bovon, Lk (s. Anm. 1), 45, ebenso auch zur rechtlichen Seite des Vorgangs. 32 Zwv &.aw'twc;; "ist längst eingebürgert ... für eine schwelgerische, verschwenderische Lebenshaltung" (so A. Jülicher, zit. nach G. EICHHOLZ, Gleichnisse der Evangelien. Form, Überlieferung, Auslegung, Neukirchen-Vluyn1971, 200); vgl. auch Bovon, Lk (s. Anm. 1),46, der auf die "ethische Dimension" des Adverbs verweist. 33 I. BACHMANN, Werke, hg. v. C. Koschel / I. von Weidenbaum / C. Münster, Bd. 1, München / Zürich 1978, 162.
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halt zu suchen und kommt beim Hörer ein Fünkchen Hoffnung auf, daß noch nicht alles verloren sei mit dem jüngeren Sohn, so ist der nächste Satz um so desillusionierender. Der junge Mann ist bereit Schweine zu hüten, und nicht nur das, er wäre auch bereit, das Schweinefutter zu essen, wenn er nur dürfte. Der Hörer hat Lev 11,7 im Ohr und er ist fassungslos 34 • Als die Situation, in die der jüngere Sohn sich selbst gebracht hat, für ihn völlig ausweglos ist, und er für sich keine Möglichkeit mehr zu sehen vermag, "da ging er in sich", das heißt: Er kehrt um im wörtlichen wie im übertragenen Sinn 35 . Er erinnert sich seines Vaters, allerdings nicht im Sinne einer Vater-Sohn-Beziehung, sondern dessen Funktion als Arbeitgeber, er denkt in der Perspektive des Tagelöhners. Der erste Teil der Parabel endet, wie er begonnen hat: Der Hörer wird mit einem jüngeren Sohn voller Entschlußkraft und Tatendrang konfrontiert: ,,,Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen', und er machte sich auf und ging zu seinem Vater." Allerdings ist ihm klar, daß er nicht ohne Erklärung seiner Situation, und das heißt: seiner Schuld, vor seinen Vater treten kann, und so ist die Formulierung seines Schuldbekenntnisses Teil dieses inneren Monologs. Das Schuldbekenntnis freilich ist - gemessen am Wissen des Hörers - eher verschleiernd36 • Wie wird sich der Vater verhalten? Wie wird er den Sohn empfangen und wie wird er auf dessen Ansinnen reagieren? Das sind zwar ganz sicher auch die Fragen des damaligen Hörers, ebenso wie die des heutigen Hörers, aber es sind für den damaligen Hörer kaum offene Fragen. Er weiß, was sich der jüngere Sohn in der Fremde geleistet, und das heißt: zu Schulde~ hat kommen lassen, und auf Grund seines Vorwissens hat er Erwartungen hinsichtlich des Verhaltens des Vaters. Der Hörer ist nicht neutral, sondern voreingenommen, und das kann nur bedeuten: voreingenommen gegen den jüngeren Sohn. Die Heimkehr zum väterlichen Hof wird für den jüngeren Sohn wie für den Hörer "zu einer einzigen Überraschung"37. In einer beispiellosen Anhäufung von Verben gelingt es, eine Atmosphäre sich überschlagender Freude und Betriebsamkeit zu schaffen. Der Vater steht im Mittelpunkt des Geschehens, dem Sohn kommt nur noch die Rolle des Statisten, des Objekts väterlichen Handelns zu. 34 In diesem Kontext zu hören wäre auch: " ... wird uns auch unser Reichtum, unsere Heimat und was wir sonst Gutes haben, entrissen: das Gesetz wenigstens bleibt uns unzerstörbar, und kein Jude kommt so weit von seinem Vaterlande weg und fürchtet einen erbitterten Tyrannen so sehr, daß nicht seine Scheu vor dem Gesetz noch größer wäre" (zit. nach J. LEIPOLDT / W. GRUNDMANN, Umwelt des Urchristentums. Bd. 1: Darstellung des neutestamentlichen Zeitalters, Berlin 1966,
271~.
Vgl. J. JEREMlAS, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 81970,130; Bovon, Lk (s. Anm. 1), 47f. Von einem "offenen Aussprechen der Schuld" und einer "Stunde der gänzlichen Offenheit" (so Eichholz, Gleichnisse [so Anm. 32],207) kann m. E. jedenfalls nicht die Rede sein. 37 Ebd. 35 36
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Nicht nur, daß er sein vorformuliertes Schuldbekenntnis nicht vollständig aufsagen kann, sondern auch das "aber" im anschließenden Satz sowie die Tatsache, daß der Vater sich mit seinen Anweisungen an die Knechte wendet und auf das Schuldbekenntnis mit keiner Silbe eingeht, lassen beim Hörer den Eindruck entstehen, daß dieses Schuldbekenntnis für den Vater und damit für den Gang der Ereignisse keine überragende Rolle spielt. Freude, grenzenlose Freude ist das Stichwort dieses zweiten Abschnitts - zunächst zum Ausdruck kommend in Gesten spontanen Außer-sich-Seins: Der Vater eilt dem heimkehrenden Sohn entgegen38 , er fällt ihm um den Hals und küßt ihn. Alle Anweisungen an die Knechteman hat den Eindruck, alles könne dem Vater nicht schnell genug gehen - laufen darauf hinaus, den Sohn Sohn sein zu lassen 39; vom Tagelöhner ist keine Rede mehr. Ein Festmahl40 soll als Ausdruck der Freude und Zeichen der Vergebung die erfolgte Heimkehr des jüngeren Sohnes beschließen. Könnte man, genauer: könnte der Hörer einen Moment lang annehmen, der Vater wisse nicht so ganz gen au um die Tragweite seines Tuns und seiner Entscheidungen anbetracht der Vorgeschichte seines Sohnes und im Unterschied zum Hörer, so wird dieser im letzten Satz des mittleren Abschnitts eines Besseren belehrt: Der Vater ist kein Illusionist, er ist sich - hier scheint die Übertragung, die Sachhälfte der Parabel deutlich durch 41 - der Wirklichkeit seines Sohnes ganz und gar bewußt und macht dies in einer Sprache deutlich, die an Klarheit nichts zu wünschen übrig läßt: "Dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden." Auch wenn das Gestorbensein und die Totenauferweckung "nur" metaphorisch gemeint sind, Ez 37, wo das Bild des Gestorbenseins und anschließender Totenauferweckung als argumentative Metapher gebraucht sind, zeigt, welcher Zustand menschlicher Existenz gemeint ist. Das "Verlorensein" ist Synonym des mit der Metapher des Totseins Gemeinten. Die Doppelung unterstreicht die Dimension des Scheiterns. Mit dem ersten Satz des dritten Abschnitts wird der Hörer an den Eingangssatz der Parabel erinnert. Da war von zwei Söhnen des Vaters die Rede. Jetzt kommt der zweite, der ältere Sohn ins Spiel. Auch er kehrt heim. Seine Heimkehr freilich ist kein außergewöhnliches Ereignis, sondern eine routinemäßige Heimkehr: Er kehrt von der Feldarbeit heim, wie viele Male vorher auch schon. Diesmal ist alles anders; er wird mit der Heimkehr seines jüngeren Bruders konfrontiert, genauer: 38 Vgl. Jeremias, Gleichnisse (s. Anm. 35), 130: "tlPO:llwv: das ist für einen betagten Orientalen ganz ungewöhnlich und unter seiner Würde, selbst dann, wenn er es noch so eilig hat." 39 V gl. Eichholz, Gleichnisse (s. Anm. 32), 208. 40 Vgl. O. HOFIUs,Jesu Tischgemeinschaft mit den Sündern, Calwer Hefte 86, Stuttgart 1967. 41 "Denn daß es sich um Gott handelt, ist selbstverständlich", formuliert R. Bultmann knapp und präzise (zit. nach O. MERK, Aus [unveröffentlichten] Aufzeichnungen Rudolf Bultmanns zur Synoptikerforschung, in: ders., Wissenschaftsgeschichte und Exegese. Gesammelte Aufsätze zum 65. Geburtstag, hg. v. R. Gebauer / M. Karrer / M. Meiser, Berlin 1998, 138).
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Er wird mit der Reaktion, die ja längst zur Aktion geworden ist, seines Vaters auf die Heimkehr des jüngeren Bruders konfrontiert. Und diese Aktion seines Vaters fordert seine Reaktion: Protest. Informiert ihn auch der Knecht dahingehend, daß sein Bruder heimgekehrt sei, so vermag er selbst diesen familiären Beziehungsbegriff nicht zu verwenden; er hat keinen Bruder mehr - was aber der Vater so nicht stehen lassen kann und sogleich korrigiert: "Dieser dein Bruder ... " - auch wenn der Vater wieder, oder immer noch, einen zweiten Sohn hat. Ja, es ist zu fragen, ob er, der ältere Sohn, denn überhaupt noch einen Vater hat, ob dieser ältere Mann, der da zu ihm heraus kommt, ihm entgegen kommt wie vorher dem jüngeren Bruder, in seinen Augen noch sein Vater ist; die Ansprache als Vater verweigert er ihm jedenfalls ebenso wie er sich weigert, von seinem Bruder als Bruder zu sprechen ..:.. i~ Unterschied zum jüngeren Sohn, der sowohl in der Eröffnungsszene der Parabel den Vater mit "Vater" anredete als auch bei der Heimkehr sein Schuldbekenntnis mit dieser Anrede einleitet. Vers.30 verrät gewissermaßen den älteren Sohn, entlarvt ihn als den, der er in Wirklichkeit ist: Er hat ein Wissen im Blick auf den jüngeren Sohn, seinen Bruder, das nach dem bisherigen Gang der Ereignisse nicht ihm, sondern nur dem Hörer zukommt. Das heißt aber: Er, der ältere Sohn, ist der Hörer; in der Person des älteren Sohnes meldet sich kommentierend, protestierend der Hörer zu Wort 42 , und sein Kommentar ist eine harsche Kritik am Verhalten des Vaters; es geht nicht um den jüngeren Bruder als Bruder - mit dem ist er fertig, war er bereits fertig, als dieser sich selbstverschuldet in die Gottlosigkeit begab. Nicht der jüngere Bruder ist das Objekt und der Grund seines Zorns, sondern der Vater wegen dessen-Verhalten dem jüngeren Sohn gegenüber. Die Parabel hat ein offenes Ende; das heißt: Es ist müßig zu spekulieren, ob der Vater auf Grund seines Verhaltens einen Sohn, den jüngeren, behalten oder wiedergefunden und einen, den älteren Sohn, verloren hat. Diese Spekulation zu beantworten hieße, die Parabel zu schließen, wo sie aber doch offen ist. Problematisch ist es zu spekulieren, ob der Vater in seiner grenzenlosen Liebe den älteren Sohn schließlich doch noch einholt. Es darf nicht geschehen, das Handeln des Vaters am Ende doch einsichtig, verständlich, erklärlich und nachvollziehbar zu machen und damit dem Unverständnis des Hörers die Spitze abzubrechen. Das Wunder der Barmherzigkeit des Vaters - Gottes - ist weder einsichtig, noch verständlich, noch erklärlich oder nachvollziehbar zu machen.
42 Wenn Eichholz, Gleichnisse (s. Anm. 32), 213 formuliert: ,,50 ist die Schlußszene des Gleichnisses ganz und gar von der Szene in der Mitte her überschattet oder besser überstrahlt", dann ist das selbstverständlich richtig, aber nur die halbe Wahrheit; sie ist eben auch, wie V 30 verrät, vom ersten Teil der Parabel "überschattet", und aus der Konfrontation der beiden ersten Teile erwächst das Ärgernis.
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3 Franz Kafka: Heimkehr
Der Verfasser des letzten Textes, der Parabel Heimkehr, Franz Kafka, wurde am 3. Juli 1883 als erstes von sechs Kindern - zwei Brüder starben früh - in Prag ge-
boren43 . Seine Eltern Hermann Kafka und Julie, geborene Löwy, zeichnete eine höchst unterschiedliche soziale Herkunft aus. Während der Vater "aus dem tschechisch-jüdischen Provinzproletariat" stammte und bis zur Heirat "in den Slums des Prager Gettos" lebte, kam die Mutter "aus dem vermögenden und gebildeten deutsch-jüdischen Bürgertl.~.m und war ,in einem der schönsten Häuser am Altstädter Ring, im Smetanahaus' aufgewachsen"44. Nach der Heirat eröffnete Hermann Kafka in Prag ein Geschäft für Kurzwaren und Modeartikel. "Von vornherein waren die Eltern entschlossen, ihren wirtschaftlichen Erfolg zur Verschmelzung mit der systembejahenden, herrschenden deutschen Oberschicht zu benutzen. ,,45 Diesem Ziel dient auch der gewählte Bildungsweg des Sohnes: Franz Kafka besuchte das deutsche humanistische Gymnasium und studierte im Anschluß daran an der deutschen Karls-Universität in Prag Jura. ,,1907 hat K. mit Examen,' Doktordiplom und Gerichtsjahr alle Voraussetzungen für den Staatsdienst."46 Nach einem Jahr als Versicherungsangestellter war er von 1908 bis 1922 als Beamter der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt des Königreichs Böhmen in Prag beschäftigt. Im Rahmen seiner Tätigkeit - er überprüfte zum Beispiel die Einhaltung des Arbeiterschutz-Gesetzes und nahm Einstufungen der Betriebe nach Gefahrenklassen vor - "stand er mitten in der modernen Welt: Die Arbeiterschaft und ihre Probleme, das Ausgeliefertsein des Menschen an Mächte, die als anonym erlebt werden (Arbeitgeber, Versicherung, Staat) waren eine tägliche Erfahrung. ,,47 Dieser modernen Gesellschaft der Arbeitswelt korrespondiert der ungeheure geistige Umbruch, der Europa ein Jahrzehnt vor dem ersten Weltkrieg erfaßte. Fortschrittsglaube einerseits, Kulturpessimismus andererseits prägten auch das geistige Leben Prags, und
43 Es kann hier nicht darum gehen, ein Psychogramm dieses exzentrischen,. sensiblen, zunächst hypochondrischen, dann wirklich schwer kranken Menschen Franz Kafka zu versuchen. Im Brief an den Vater sagt Kafka selbst: " ... und dann war der Weg zu aller Hypochondrie frei, bis dann unter der übermenschlichen Anstrengung des Heiraten-Wollens ... das Blut aus der Lunge kam" (F. KAFKA, Der Brief an den Vater, in: DERS., Gesammelte Werke, hg. v. M. Brod, Taschenbuchausgabe in sieben Bänden [0. Zählg.]: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß, Frankfurt 1983, 149). Die zweite Auflösung der Verlobung mit Felice Bauer kommentiert Kafka selbst so: ,,50 geht es nicht weiter, hat das Gehirn gesagt, und nach fünf Jahren hat sich die Lunge bereit erklärt zu helfen" (zit. nach METZLER Autoren Lexikon. Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart 1986, 330). 44 B. NAGEL, Franz Kafka. Aspekte zur Interpretation und Wertung, Berlin 1974,318. Nagel zitiert hier K. Wagenbach, jedoch ohne genauere Quellenangabe. 45 Metzler, Lexikon (s. Anm. 43), 329. 46 Ebd. 47 Ebd., 330.
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Kafka nahm an diesem geistigen Umbruch regen Anteil48 . Einem dritten konzentrischen Kreis vergleichbar war seine heimatlose Situation als deutscher Jude im tschechischen Prag. Als erste größere Arbeit entsteht 1912 in einer einzigen Nacht Das Urteil; zuvor hatte Kafka von 1902 bis 1910 an Beschreibung eines Kampfes gearbeitet. Es folgen die Erzählungen Die Verwandlung und Der Heizer, die Erzählungen des Buches Ein Landarzt. Die drei unvollendeten Romane Der Verschollene (Amerika), Der Prozeß und Das Schloß hat Kafkas Freund Max Brod die "Trilogie der Einsamkeit"49 genannt. Eine besondere Bedeutung für das Verständnis Franz Kafkas kommt seinem Brief an den Vater zu, der uns bei der Analyse der Parabel Heimkehr noch intensiver beschäftigen wird. Darum können auch in dieser knappen biographischen Skizze die familiären Aspekte (noch) unberücksichtigt bleiben 50 • Nach weiteren gescheiterten Beziehungen - mit der Pragerin Julie Wohryzek und mit Milena Jesenski, der Übersetzerin seiner Erzählung Der Heizer (später das erste Kapitel des Romans Der Verschollene) ins Tschechische - trifft Kafka "in den Sommerferien 1923 an der Ostsee auf die etwa zwanzig Jahre alte Ost jüdin Dora Diamant. Von ihr, der Gefährtin seines letzten halben Jahres, wird er sich ,gut und zart behütet' fühlen, ,bis an die Grenzen irdischer Möglichkeiten'. ,,51 Am 3. Juni 1924 stirbt Franz Kafka im Sanatorium in Kierling bei Prag. Wenn wir uns jetzt dem dritten Text, der Parabel Heimkehr zuwenden, sei vorab nochmals betont, daß es auch hier nicht darum gehen kann, eine umfassende Analyse dieses Textes vorzulegen. Auch kann es nicht darum gehen, einen grundsätzlichen Beitrag zur Hermeneutik des Werkes von F ranz Kafka zu leisten. Es geht ausschließlich um Kafkas Parabel Heimkehr im Gespräch mit den beiden anderen thematisch verwandten Texten. Eine hermeneutische Grundentscheidung sei dennoch explizit ausgesprochen: Ich führe das Gespräch mit Kafkas Parabel im Kontext von Kafkas Brief an den Vater. In Max Brods Kafka-Biographie lesen wir bezüglich dieses Briefes: "Im November 1919, während er mit mir gemeinsam in Schelesen bei Liboch wohnte (ich kann daher die Stimmung jener Tage ziemlich deutlich rekonstruieren), schrieb er einen sehr ausführlichen ,Brief an den Vater'... Trotz seines Umfangs von mehr als hundert Seiten war der Brief, wie ich aus den
48 "Regelmäßige Teilnahme an den Vortragsabenden im Haus von Frau Berta Fanta, wo die intellektuelle Elite Prags - u. a. der Mathematiker Kowalewski, der Physiker Frank, der Philosoph Ehrenfels und der junge Einstein - verkehrte; ,er lernte also, kurz vor der Niederschrift seiner Hauptwerke, die bedeutendsten Fragestellungen des neuen Zeitalters (z. B. Quantentheorie und Relativitätstheorie) kennen'. (Wagenbach)" (Nagel, Franz Kafka [so Anm. 44], 319). 49 Metzler, Lexikon (s. Anm. 43), 331. 50 Es sei ausdrücklich vermerkt, daß keine vollständige Bibliographie der Werke Kafkas beabsichtigt ist. 51 Metzler, Lexikon (s. Anm. 43), 332.
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Gesprächen mit Franz bezeugen kann, dazu bestimmt, dem Vater wirklich übergeben zu werden (und zwar durch die Mutter), und Franz hatte eine Zeitlang die Meinung, durch diesen Brief eine Klärung der peinlich stockenden, schmerzhaft verharschten Beziehungen zum Vater herbeizuführen... Die Mutter hat... den Brief nicht weitergeleitet, sondern, wohl mit einigen begütigenden Worten, Franz zurückgestellt."52 Kein Widerspruch, aber auch keine Aufhebung oder auch nur Relativierung des im Brief an den Vater Gesagten bedeutet es, daß Franz Kafka die Landarzt-Erzählungen ebenfalls 1919 mit der Widmung "Meinem Vater" veröffentlicht. Die Parabel Heimkehr schrieb Kafka Ende AUg\lst / Anfang September 192053 • Wenn jemand heimkehrt, dann muß er zuvor von Zuhause aufgebrochen sein. Kafka wußte um diese Erfahrung, prägte sie doch als Wunsch, als Versuch sein Leben wesentlich. Er bezeichnet und versteht solche Aufbruchsversuche aus dem Elternhaus - wobei der Begriff "Elternhaus" nicht nur räumlich zu verstehen ist als "kleine Selbständigkeitsversuche", als "Fluchtversuche mit allerkleinstem Erfolg"54. Was dieser Aufbruch als Befreiung leisten könnte, wenn er gelänge, zeigt sich ihm an seiner Schwester Elli: "Die Elli ist das einzige Beispiel für das fast vollständige Gelingen eines Durchbruches aus Deinem Kreis. Von ihr hätte ich es in ihrer Kindheit am wenigsten erwartet. Sie war doch ein so schwerfälliges, müdes, furchtsames, verdrossenes, schuldbewußtes, überdemütiges, boshaftes, faules, genäschiges, geiziges Kind, ich konnte sie kaum ansehn, gar nicht ansprechen, so sehr erinnerte sie mich an mich selbst, so sehr ähnlich stand sie unter dem gleichen Bann der Erziehung ... Aber das alles änderte sich, als sie in jungen Jahren das ist das Wichtigste - von zu Hause wegging, heiratete, Kinder bekam, sie wurde fröhlich, unbekümmert, mutig, freigiebig, uneigennützig, hoffnungsvoll. ,ö5 Auch das eigene Schreiben versteht Kafka als "ein(en) absichtlich in die Länge gezogenen Abschied" vom Vater, "nur daß er zwar von Dir erzwungen war, aber in der von mir bestimmten Richtung verlief"56. Seine Heiratsversuche sieht Kafka als stärkste Versuche der Selbstbefreiung. "Die Heirat ist gewiß die Bürgschaft für die schärfste Selbstbefreiung und Unabhängigkeit. Ich hätte eine Familie, das Höchste, was man meiner Meinung nach erreichen kann, also auch das Höchste, das Du erreicht hast, ich wäre Dir ebenbürtig, alle alte und ewig neue Schande und Tyrannei wäre
52 Zit. nach H. BINDER, Kafka-Kommentar zu den Romanen, Rezensionen, Aphorismen und zum Brief an den Vater, München 21982, 422f. 53 Vgl. zur Datierung dieses Textes H. BINDER, Kafka-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen, München 31982,240. 54 Kafka, Brief (s. Anm. 43), 159. 55 Ebd., 139. 56 Ebd., 148.
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bloß noch Geschichte. ,,57 Das schreibt der Sohn im Alter von 36 Jahren, der im Jahre 1914 als Neunundzwanzigjähriger zwei Monate nach seiner ersten Verlobung mit Felice Bauer sein erstes eigenes Zimmer außerhalb des väterlichen Hauses in der Bilekgasse 10 bezog. Zwei Jahre später ist es seine Schwester Ottla, "die ihm 1916 einen Ausweg aus den Zwängen des Familienraums eröffnet, als sie ihm für einen Winter ein Schreibdomizil im Alchimistengäßchen auf dem Hradschin verschaffte. "58 Weitere Aus- oder Aufbrüche reihen sich an. Als Kafka Ende August / Anfang September 1920 die Parabel Heimkehr schreibt - übrigens zunächst titellos -, ist das Thema "gerade zu dieser Zeit... gewiß nicht zufällig gewählt, hatte Kafka doch damals zweimal diesen Komplex erlebnismäßig realisiert: Ende Juni kam er nach einer mehrmonatigen Kur von Meran nach Prag zurück, am 5. August nach vierwöchigem Aufenthalt in der Wohnung seiner Schwester Elli ... wieder ins elterliche Domizil am Altstädter Ring. Zwei Wochen später, aufgrund des Zusammentreffens mit Milena in Gemünd am 14. und 15. August, war es ihm zur Gewißheit geworden, daß seine Beziehung zu ihr unglücklich wie seine Verlobungen enden, sich also auch jetzt die ersehnte Selbständigkeit vom Elternhaus nicht einstellen würde und daß er demnach zu seinem Ausgangspunkt, seinem wirklichen Zuhause werde zurückkehren müssen. ,,59 Die Parabel Heimkehr ist in der Ich-Perspektive verfaßt. Diese subjektive Beschränkung auf das Parabel-Ich als Erzähler gestattet die größt mögliche Authentizität der Innenschau der Hauptperson der Parabel, freilich um den Preis, daß alles, was das Parabel-Ich erzählt, seine subjektive Wahrnehmung, Beurteilung und Wertung des Geschehens ist. Der Erzähleinstieg is-t dezidiert. Selbstbewußt, das Personalpronomen "ich" zweimal in Satzanfangsstellung, stellt das Parabel-Ich sachlich knapp und präzise fest: "Ich bin zurückgekehrt, ich habe den Flur durchschritten." Natürlich ist es grammatisch korrekt, stilistisch vielleicht sogar geboten, nach zweimaliger Wiederholung des Subjekts "ich" an das zweite Prädikat "habe durchschritten" ein drittes mit der Konjunktion "und" verbundenes anzuhängen; das "ich" mußte nicht ein drittes Mal wiederholt werden. Schon hier eine Verunsicherung, eine Unsicherheit des Heimkehrers auszumachen, wäre vielleicht verfrüht. U nstrittig ist es, daß Kafka mit dem nächsten Satz eine Intertextualität mit dem Gleichnis vom verlorenen Sohn herstellt: "Es ist meines Vaters alter Hof."
Ebd., 157f. Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, hg. v. W. Killy, Bd. 6, Gütersloh / München 1990, 180. 5'} Binder, Kafka-Kommentar (s. Anm. 53), 240f. 57 58
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Hindernisse, so könnte man die nächsten Zeilen inhaltlich zusammenfassen. Hindernisse, zunächst äußerlicher Art, verstellen 60 dem heimkehrenden Sohn den Weg: eine Pfütze, altes, ineinanderverfahrenes, unbrauchbares Gerät. Die auf dem Geländer lauernde Katze signalisiert Angst einflößende Gefahr, wobei das semantische Bild gewichtiger ist als die bezeichnete Realität. Diese Nicht-Kongruenz könnte Hinweis sein, das Bild als Projektion des Inneren des Heimkehrers zu verstehen, ebenso wie das zerrissene Tuch - unsere Sprache kennt die Redewendung vom "zerrissenen (Tisch-)Tuch", und der gesamte Brief an den Vater ist ein einziger Beleg dafür, daß das Tischtuch zwischen Sohn und Vater zerrissen ist, es geht nur noch um die Frage, wie mit dieser Tatsache in Zukunft umzugehen ist. Klingt das anschließende "Ich bin angekommen" wie eine Selbstermutigung, wie das Pfeifen im Wald, so machen die folgenden Fragen deutlich, daß es mit dem Mut nicht weit her ist. Dabei geht es gar nicht darum, ob ihn der Vater empfängt, sondern ob ihn überhaupt jemand empfängt, willkommen heißt, auf ihn wartet. Im weiteren reduziert sich "des Vaters alter Hof" auf die Küche. Das Herdfeuer brennt, es ist warm, "der Kaffee zum Abendessen wird gekocht". Kindheitserinnerungen werden wach, und fast wäre ich geneigt, ein zweites Mal jenen schönen Satz zu zitieren, mit dem Ernst Bloch sein Werk "Das Prinzip Hoffnung" abschließt. Es wäre aber hier unpassend, wie die Antwort auf die selbst gestellte Frage zeigt. Nun, zum ersten Mal, läßt das Parabel-Ich einen offenen Blick in sein Inneres zu: "Ich bin sehr unsicher."61 Nein, anheimelnde Wärme kommt bei dem zurückgekehrten Sohn nicht auf, eher friert es ihn, denn "kalt steht Stück neben Stück". Seine anfängliche Frage: "Wer wird mich empfangen?", wandelt sich in die nach der eigenen Nützlichkeit. Und macht er seine Heimkehr davon abhängig, daß er, "des alten Landwirts Sohn", denen, die da in der Küche versammelt sind, nützlich
60 Im Brief an den Vater klagt Kafka: "Ich hätte ein wenig Aufmunterung, ein wenig Offenhalten meines Wegs gebraucht, statt dessen verstelltest Du mir ihn, in der guten Absicht freilich, daß ich einen anderen Weg gehen sollte. Aber dazu taugte ich nichts" (Kafka, Brief [so Anm. 43], 123.) 61 Zu furchtbare Erinnerungen verbinden sich dem Verfasser der Parabel mit dem Wort "Küche", als daß es dem zurückkehrenden Sohn "heimlich" werden könnte: "Da ich als Kind hauptsächlich beim Essen mit Dir zusammen war, war Dein Unterricht zum großen Teil Unterricht im richtigen Benehmen bei Tisch. Was auf den Tisch kam, mußte aufgegessen, über die Güte des Essens durfte nicht gesprochen werden - Du aber fandest das Essen oft ungenießbar; nanntest es ,das Fressen'; das ,Vieh' (die Köchin) hatte es verdorben. Weil Du entsprechend Deinem kräftigen Hunger und Deiner besonderen Vorliebe alles schnell, heiß und in großen Bissen gegessen hast, mußte sich das Kind beeilen, düstere Stille war bei Tisch, unterbrochen von Ermahnungen: ,zuerst iß, dann sprich' oder ,schneller, schneller, schneller' oder ,siehst du, ich habe schon längst aufgegessen'. Knochen durfte man nicht zerbeißen, Du ja. Die Hauptsache war, daß man das Brot gerade schnitt; daß Du das aber mit einem von Sauce triefenden Messer tatest, war gleichgültig. Man mußte achtgeben, daß keine Speisereste auf den Boden fielen, unter Dir lag schließlich am meisten. Bei Tisch durfte man sich nur mit Essen beschäftigen, Du aber putztest und schnittest Dir die Nägel, spitztest Bleistifte, reinigtest mit dem Zahnstocher die Ohren" (Kafka, Brief [so Anm. 43], 126).
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Berthold Mengel
ist, dann ist das Urteil längst gesprochen, stellt Kafka doch resigniert fest: "Um das Geschäft und Deine sonstigen Angelegenheiten habe ich mich nicht gekümmert, die Fabrik habe ich Dir aufgehalst und Dich dann verlassen. "62 So wundert es nicht, daß das Parabel-Ich es nicht wagt, um Einlaß zu bitten, "an der Tür zu klopfen". Sprachlich hervorgehoben, in der rhetorischen Figur der Anadiplosis, formuliert Kafka das Scheitern der Heimkehr. "Nur von der Ferne horche ich, nur von der Ferne horche ich stehend, nicht so, daß ich als Horcher überrascht werden könnte." Der zurückkehrende Sohn weiß sich ausgeschlossen aus der Gemeinschaft derer, die vor ihm ein Geheimnis haben, wie jedes Geheimnis den Charakter des Exklusiven hat. Kafka thematisiert auch die Ausgrenzung durch das Geheimnis in seinem Brief an den Vater: "Du siehst uns 63 zwar ... oft beisammen, wir flüstern, lachen, hie und da hörst Du Dich erwähnen. Du hast den Eindruck von frechen Verschwörern ... Du bist allerdings ein Hauptthema unserer Gespräche wie unseres Denkens seit jeher, aber wahrhaftig nicht, um etwas gegen Dich auszudenken, sitzen wir beisammen, sondern um mit aller Anstrengung, mit Spaß, mit Ernst, mit Liebe, Trotz,Zorn, Widerwille, Ergebung, Schuldbewußtsein, mit allen Kräften des Kopfes und Herzens diesen schrecklichen Prozeß, der zwischen uns und Dir schwebt, in allen Einzelheiten, von allen Seiten, bei allen Anlässen, von fern und nah gemeinsam durchzusprechen, diesen Prozeß, in dem Du immerfort Richter zu sein behauptest, während Du, wenigstens zum größten Teil (hier lasse ich die Tür allen Irrtümern offen, die mir natürlich begegnen können) ebenso schwache und verblendete Partei bist wie wir. ,,64 Der Zuruckgekehrte identifiziert sich mit der Rolle des Ausgeschlossenen, indem er bereit ist selbst auszuschließen: "Wie wäre es, wenn jetzt jemand die Tür öffnete", das heißt das Geheimnis von innen lüftete und ihn, den Außenstehenden, so mit hineinnähme, "und mich etwas fragte. Wäre ich dann nicht selbst wie einer, der sein Geheimnis wahren will." Es ist wieder keine Frage, sondern eine Feststellung. Wem der Vater als ein die Welt in seinem Lehnstuhl regierender Tyrann erscheint65 und wer sich als seine Kindheit prägendes Erlebnis daran erinnert, daß der Vater ihn in der Nacht, weil er "immerfort um Wasser (winselte)", aus dem Bett nahm, auf die Pawlatsche 66 trug und dort "allein vor der geschlossenen Tür ein Weilchen im Hemd stehn" ließ und "noch nach Jahren ... unter der quälenden Ebd., 119; vgl. dazu Binder, Kafka-Kommentar (s. Anm. 53), 428f. Kafka meint seine Schwester Ottla und sich selbst. 64 Kafka, Brief (s. Anm. 43), 141. 65 Vgl. ebd., 124. 66 Pawlatsche "bezeichnet einen langen Balkon, der in vielen älteren Prager Häusern an der HofInnenseite hinlief - meist für mehrere Wohnungen gemeinsam" (Binder, Kafka-Kommentar [so Anm. 53], 432). 62 63
Heimkehr
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Vorstellung (litt), daß der riesige Mann, mein Vater, die letzte Instanz, fast ohne Grund kommen und mich in der Nacht aus dem Bett auf die Pawlatsche tragen konnte und daß ich also ein solches Nichts für ihn war"67, der kehrt nicht heim, wenn er zurückkehrt. Franz Kafka schreibt nicht wie Rainer Maria Rilke die Geschichte des verlorenen Sohnes als die Legende dessen, "der nicht geliebt werden wollte", sondern er schreibt die Parabel vom Sohn des Vaters, der, auch wenn er des alten Landwirts Sohn ist, nicht heimkehrt, wenn er zurückgekehrt ist. Er kehrt nicht darum nicht heim, weil er nicht heimkehren möchte, sondern" weil er nicht heimkehren kann, weil da niemand ist, der ihn empfängt.
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Kafka, Brief (s. Anm. 43), 122f.
VERZEICHNIS DER AUTORINNEN UND AUTOREN
Dr. Eve-Marie Becker, Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Neues Testament der Universität Erlangen-Nürnberg, Kochstraße 6, 91054 Erlangen. Prof. Dr. Reinhard Feldmeier, Professor für Neues Testament an der Universität Göttingen, Platz der Göttinger Sieben 2,37073 Göttingen. PD Dr. Roland Gebauer, Dozent für Neues Testament am Theologischen Seminar der Evangelisch-methodistischen Kirche, Privatdozent an der Universität Gießen, Hermann-Löns-Straße 9, 72764 Reutlingen. Prof. Dr. Dr.h.c. Erich Gräßer, emeritierter Professor für Neues Testament der Universität Bonn, Akazienweg 25, 58452 Witten. Prof. Dr. Dr.h.c. Ferdiand Hahn, emeritierter Professor für Neues Testament der Universität München, Heimgartenstraße 8, 82393 Iffeldorf. PD Dr. Theo K. Heckel, Pfarrer in Fürth/Bay. und Privatdozent an der Universität Erlangen-Nürnberg, Bierlachweg 24, 91058 Erlangen. Prof. Dr. Hyon Suk Hwang, Professorin für Neues Testament an der Hyupsung Universität. 1017-6, Hwa Gok 3 Dong, Kang Seo Ku, Seoul!Korea. Prof. Dr. Martin Karrer, Professor für Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal, Missionsstraße 1a, 42285 Wuppertal. Prof. Dr. Wolfgang Kraus, Professor für Biblische Theologie an der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz, Universitätsstraße 1, 56070 Koblenz. Dr. Michael Labahn, Wissenschaftlicher Assistent für Neues Testament an der Universität Halle-Wittenberg, Theologische Fakultät, Francke-Platz 1, Haus 25, 06099 Halle/S.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Prof. D. Eduard Lohse, Landesbischof i. R., emeritierter Professor für Neues Testament der Universität Göttingen, Ernst-Curtius-Weg 7,37075 Göttingen. PD Dr. Martin Meiser, Assistent am Lehrstuhl für Ältere Kirchengeschichte der Universität Mainz, Privatdozent an der Universität Erlangen-Nürnberg, Marienbader Straße 20, 91058 Erlangen. Dr. Berthold Mengel, Gymnasiallehrer für die Fächer Deutsch und Evangelische Religionslehre, In den Schinden'51, 57555 Mudersbach. Prof. Dr. Gerhard Müller D. D., Landesbischof i. R., emeritierter Professor für Kirchengeschichte der Universität Erlangen-Nürnberg, Sperlingstraße 59, 91056 Erlangen. PD Dr. Markus Müller, Vikar in Heroldsberg/Bay. und Privatdozent an der Universität Erlangen-Nürnberg, Ahornweg 3, 91080 Uttenreuth. Prof. Dr. Jürgen Roloff, emeritierter Professor für Neues Testament der Universität Erlangen-Nürnberg, Falkenstraße 38, 91056 Erlangen. Prof. Dr. Hans-Christoph Schmitt, Professor für Altes Testament an der Universität Erlangen-Nürnberg, Kochstraße 6, 91054 Erlangen. Prof. Dr. Udo Schnelle, Professor für Neues Testament an der Universität HalleWittenberg, Theologische Fakultät, 06099 Halle/S. Prof. Dr. Manfred Seitz, emeritierter Professor für Pastoraltheologie der Universität Erlangen-Nürnberg, Lukasstraße 7, 91088 Bubenreuth. Prof. Dr. Oda Wischmeyer, Professorin für Neues Testament an der Universität Erlangen-Nürnberg, Kochstraße 6, 91054 Erlangen. Prof. Dr. Wolfgang Wischmeyer, Professor am Institut für Kirchengeschichte, Christliche Archäologie und Kirchliche Kunst der Universität Wien, Rooseveltplatz 10/7, A-I090 Wien.
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Hans Graß und Werner Georg I<ümmel ab Band 19 herausgegeben von
Wilfried Härle und Dieter Lühnnann Band 19: Brümmer, Vincent: Was tun wir, wenn wir beten? Eine philosophische Untersuchung. Übersetzt aus dem Englischen von Christoph Schwöbel, 1985. Band 20: Liebing, Heinz: Humanismus - Reformation - Konfession. Beiträge zur Kirchengeschichte. In Verbindung mit Iris Geyer und Uwe Kühneweg. Hrsg. von Wolfgang Bienert und Wolfgang Hage, 1986. Band 21: Religion im Denken unserer Zeit. Hrsg. von Wilfried Härle und Eberhard Wölfel, 1986. Band 22: Marburger Jahrbuch Theologie I. Vom Handeln Gottes. Hrsg. von Wilfried Härle und Reiner Preul, 1987. Band 23: Graß, Hans: Aus Theologie und Kirche, 1988. Band 24: Marburger Jahrbuch Theologie II. Theologische Gegenwartsdeutung. Hrsg. von Wilfried Härle und Reiner Preul, 1988. Band 25: Preul, Reiner: Luther und die praktische Theologie. Beiträge zum kirchlichen Handeln in der Gegenwart, 1989. Band 26: Hauschildt, Eberhard: Rudolf Bultmanns Predigten. Existentiale Interpretatio1J. und Lutherisches Erbe, 1989. Band 28: Schlarb, Egbert: Die gesunde Lehre. Häresie und Wahrheit im Spiegel der Pastoralbriefe, 1990. Band 29: Marburger Jahrbuch Theologie In. Lebenserfahrung. Hrsg. von Wilfried Härle und Reiner Preul, 1990. Band 30: Graß, Hans: Traktat über Mariologie, 1991. Band 31: Kuch, Michael: Wissen - Freiheit - Macht. Kategoriale, dogmatische und sozialethische Bes cimmungen zur begrifflichen Struktur des Handelns, 1991. Band 32: Unsere Welt - Gottes Schöpfung. Festschrift für Eberhard Wölfel. Hrsg. von Wilfried Härle, Manfred Marquardt und Wolfgang Nethöfel, 1992. Band· 33: Marburger Jahrbuch für Theologie IV. Glaube. Hrsg. von Wilfried Härle und Reiner Preul, 1992. Band 35: Jung, Hans-Gemot: Rechenschaft der Hoffnung. Gesammelte Beiträge zur öffentlichen Verantwortung der Kirche, 1993. Band 36: Kühneweg, Uwe: Das Neue Gesetz. Christus als Gesetzgeber und Gesetz. Studien zu den Anfangen christlicher Naturrechtslehre im 2. Jahrhundert, 1993. Band 37: Ebersohn, Michael: Das Nächstenliebegebot in der synoptischen Tradition, 1993.
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Band 51: Grube, Dirk-Martin: Unbegründbarkeit Gottes? Tillichs und Barths Erkenntnistheorien im Horizont der gegenwärtigen Philosophie, 1998. Band 52: Vetter, Martin: Zeichen deuten auf Gott. Der zeichentheoretische Beitrag von Charles S. Peirce zur Theologie der Sakramente, 1999. Band 53: Marburger Jahrbuch Theologie XI. Reic4 Gottes. Hrsg. von Wilfried Härle und Reiner Preul, 1999. Band 54: Im Kontinuum. Annäherungen an eine relationale Erkenntnistheorie und Ontologie. Hrsg. von Wilfried Härle, 1999. Band 55: Bienert, Wolfgang A.: Werden der Kirche - Wirken des Geistes. Beiträge zu den Kirchenvätern und ihrer Nachwirkung. Hrsg. von Uwe Kühneweg, 1999. Band 56: Schlapkohl, Corinna: Persona est naturae rationabilis individua substantia. Boethius und die Debatte über den Personbegriff, 1999. Band 57: Wohlers, Michael: Heilige Krankheit. Epilepsie in antiker Medizin, Astrologie und Religion, 1999. Band 58: Mühling-Schlapkohl, Markus: Gott ist Liebe. Studien zum Verständnis der Liebe als Modell des trinitarischen Redens von Gott, 2000. Band 59: Lührmann, Dieter: Fragmente apokryph gewordener Evangelien in griechischer und lateinischer Sprache. Hrsg., übersetzt und eingeleitet in Zusammenarbeit mit Egbert Schlarb, 2000. Band 60: Befreiende Wahrheit. Festschrift für Eilert Herms. Hrsg. von Wilfried Härle, Matthias Heesch und Reiner Preul, 2000.
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Band 61: Schuck, Martin: Staatstheorie und Wirklichkeitsverständnis. Studien zu den kategorialen Voraussetzungen des Staa.tsdenkens deutscher Juristen aus theologischer Sicht am Beispiel der Kulturstaatsdebatte, 2000. Band 63: Mohri, Erika: Maria Magdalena. Frauenbilder in Evangelientexten des 1. bis 3. Jahrhunderts, 2000. Band 64: Marburger Jahrbuch Theologie XII. Ökumene. Hrsg. von Wilfried Härle u. Reiner Preul, 2000. Band 65: Lippert, Stefan: Recht und Gerechtigkeit bei Thomas von Aquin. Eine rationale Rekonstruktion im Kontext der Summa Theologiae, 2000. Band 66: Beiner, Melanie: Intentionalität und GeschÖpflichkeit. Die Bedeutung von Martin Luthers Schrift "Vom unfreien Willen" für die theologische Anthropologie, 2000. Band 67: Marburger Jahrbuch Theologie XIII. Woran orientiert sich Ethik? Hrsg. von Wilfried Härle u. Reiner Preul, 2001. Band 69: Gebhardt, Rüdiger: Heil als Kommunikationsgeschehen. Analysen zu dem in Luthers Rechtfertigungslehre implizierten Wirklichkeitsverständnis, 2002. Band 70: Leben und Kirche. Festschrift für Wilfried Härle. Hrsg. von Uta Andree, Frank Miege und Christoph Schwöbel, 2001. Band 71: Marburger Jahrbuch Theologie XIV. Ethik und Recht. Hrsg. von Wilfried Härle und Reiner Preul, 2002. Band 72: Reinhardt,' Ursula: Religion und moderne Kunst in geistiger Verwandtschaft. Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" im Spiegel christlicher Mystik, 2003. Band 73: Harbeck-Pingel, Bernd: Gesellschaft und Reich Gottes. Studien zu Alterität, Kommunikation und Handlung, 2003. Band 74: Marburger Jahrbuch Theologie xv. Religion. Hrsg. von Wilfried Härle und Reiner Preul, 2003.
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