Michael Jäckel Medienwirkungen
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Michael Jäckel Medienwirkungen
Studienbücher zur Kommunikations- und Medienwissenschaft Herausgegeben von Günter Bentele, Hans-Bernd Brosius, Otfried Jarren
Herausgeber und Verlag streben mit der Reihe „Studienbücher zur Kommunikationsund Medienwissenschaft“ an, das Fachgebiet Kommunikationswissenschaft als Ganzes wie die relevanten Teil- und Forschungsgebiete darzustellen. Die vielfältigen Forschungsergebnisse der noch jungen Disziplin Kommunikationswissenschaft werden systematisch präsentiert, in Lehrbüchern von kompetenten Autorinnen und Autoren vorgestellt sowie kritisch reflektiert. Das vorhandene Basiswissen der Disziplin soll damit einer größeren fachinteressierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Herausgeber und Verlag wollen mit der Reihe dreierlei erreichen: • Zum ersten soll zur weiteren Entwicklung, Etablierung und Profilierung des Faches Kommunikationswissenschaft beigetragen werden. Kommunikationswissenschaft wird als sozialwissenschaftliche Disziplin verstanden, die sich – mit interdisziplinären Bezügen – vor allem mit Phänomenen der öffentlichen Kommunikation in der Gesellschaft befasst. • Zum zweiten soll den Studierenden und allen am Fach Interessierten ein solider, zuverlässiger, kompakter und aktueller Überblick über die Teilgebiete des Faches geboten werden. Dies beinhaltet die Darstellung der zentralen Theorien, Ansätze, Methoden sowie der Kernbefunde aus der Forschung. Die Bände konzentrieren sich also auf das notwendige Kernwissen. Die Studienbücher sollen sowohl dem studienbegleitenden Lernen an Universitäten, Fachhochschulen und einschlägigen Akademien wie auch dem Selbststudium dienlich sein. Auf die didaktische Aufbereitung des Stoffes wird deshalb großer Wert gelegt. • Zum dritten soll die Reihe zur nötigen Fachverständigung und zur Kanonisierung des Wissens innerhalb der Disziplin einen Beitrag leisten. Die vergleichsweise junge Disziplin Kommunikationswissenschaft soll mit der Reihe ein Forum zur innerfachlichen Debatte erhalten. Entsprechend offen für Themen und Autorinnen bzw. Autoren ist die Reihe konzipiert. Die Herausgeber erhoffen sich davon einen nachhaltigen Einfluss sowohl auf die Entwicklung der Kommunikationswissenschaft im deutschen Sprachraum als auch einen Beitrag zur Aussendarstellung des Faches im deutschen Sprachraum. Die Reihe „Studienbücher zur Kommunikationswissenschaft“ wird ergänzt um ein „Handbuch der Öffentlichen Kommunikation“ sowie ein „Lexikon der Kommunikationswissenschaft“, das von den gleichen Herausgebern betreut wird. Das Handbuch bietet einen kompakten, systematischen Überblick über das Fach, die Fachgeschichte, Theorien und Ansätze sowie über die kommunikationswissenschaftlichen Teildisziplinen und deren wesentliche Erkenntnisse. Das Lexikon der Kommunikationswissenschaft ist als Nachschlagewerk für das gesamte Lehr- und Forschungsgebiet der Kommunikationswissenschaft konzipiert.
Michael Jäckel
Medienwirkungen Ein Studienbuch zur Einführung 5., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. . 1. Auflage 1999 (erschienen im Westdeutschen Verlag, Wiesbaden) 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2002 (erschienen im Westdeutschen Verlag, Wiesbaden) 3., überarbeitete und erweiterte Auflage 2005 4., überarbeitete und erweiterte Auflage 2008 5., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Barbara Emig-Roller | Eva Brechtel-Wahl VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-17996-4
Meinen Studierenden an der Universität Trier
Inhalt Verzeichnis der Abbildungen ................................................................................ 11 Verzeichnis der Tabellen ........................................................................................ 15 Vorwort ................................................................................................................... 17 Einleitung ................................................................................................................ 23 1 Die Entwicklung der (Massen-)Medien ........................................................... 33 1.1
Modelle der Medienentwicklung ................................................................ 33
1.2
Medienentwicklung und gesellschaftliche Veränderungen ........................ 42
1.3
Massenkommunikation in historischer Perspektive.................................... 47
1.4
Beginn und Aufstieg der Massenkommunikationsforschung ..................... 56
2 Kommunikation, Massenkommunikation, Wirkung. Ein erster Überblick 61 2.1
Interaktion, Kommunikation, Massenkommunikation ............................... 61
2.2
Massenkommunikation. Definitionsmerkmale und Herleitung des Begriffs ..................................... 69
2.3
Die ‚Pionierphase‘ des Wirkungsbegriffs ................................................... 76
3 Wirkungsmodelle und Forschungstraditionen ............................................... 83 3.1
Das widerspenstige Publikum: ‚Mediating Factors‘ im Überblick ............. 83
3.2
Nutzungswirkungen. Rezipientenzentrierte Wirkungsvorstellungen ......... 89
3.3
Der dynamisch-transaktionale Ansatz und der Konstruktivismus .............. 95
3.4
Kritische Theorie der Massenmedien ....................................................... 101
4 Spektakuläre Medienwirkungen.................................................................... 107 4.1
‚The War of the Worlds‘. Die Inszenierung eines Hörspiels .................... 107
4.2
‚The Invasion from Mars‘. Dokumentation und Einordnung der Reaktionen ..................................... 111
4.3
Beurteilung und Einordnung spektakulärer Medienwirkungen ................ 116
Inhalt
8 5 Massenkommunikation und interpersonale Kommunikation:
die Meinungsführerforschung ....................................................................... 125 5.1
Die Pionierphase der Meinungsführerforschung ...................................... 125
5.2
Erweiterungen und Modifikationen der ‚Zwei-Stufen-Fluss‘-Hypothese ............................................................... 139
5.3
Mehrdimensionale Konzepte und Netzwerkanalysen ............................... 148
6 Die Glaubwürdigkeit der Medien .................................................................. 159 6.1
Der Ursprung der Persuasionsforschung .................................................. 159
6.2
„Communication and Persuasion“. Das Forschungsprogramm der Hovland-Schule ....................................... 163
6.3
Massenmedien und Glaubwürdigkeit: Die Weiterentwicklung der Forschung ..................................................... 172
7 Die Agenda-Setting-Forschung. Hauptaussagen und Weiterentwicklungen .................................................. 189 7.1
Vor und nach Chapel Hill: Der Beginn der Agenda-Setting-Forschung ............................................. 189
7.2
Die Agenda-Setting-Forschung im Überblick: Methoden, Fragestellungen, Ergebnisse ................................................... 197
7.3
Der Priming-Effekt ................................................................................... 206
7.4
Agenda-Setting und Anschlusskommunikation ........................................ 213
8 Die Wirklichkeit der Medien ......................................................................... 221 8.1
Massenmedien und Realitätsvorstellungen ............................................... 221
8.2
Der ‚Cultivation of Beliefs‘-Ansatz. Darstellung und Kritik .................... 239
8.3
Die Mediatisierung der Wirklichkeit ........................................................ 253
Inhalt
9
9 Öffentlichkeit, öffentliche Meinung und die Bedeutung der Medien ......... 263 9.1
Öffentlichkeit und öffentliche Meinung. Begriffliche Vorbemerkungen .................................................................. 263
9.2
Strukturwandel der Öffentlichkeit. Die Analyse von Habermas ...................................................................... 264
9.3
Öffentlichkeit und öffentliche Meinung. Die Theorie von Luhmann ........................................................................ 271
9.4
Öffentliche Meinung und soziale Kontrolle. Die Theorie der Schweigespirale .............................................................. 276
9.5
Die Fragmentierung der Öffentlichkeit. Konsequenzen der Medienentwicklung .................................................... 293
10 Das Medium und die Botschaft: die Bedeutung des Verbreitungsmediums.................................................... 301 10.1 Das Medium ist die Botschaft. Anmerkungen zu McLuhan ..................... 301 10.2 Die ‚Fernseh-Gesellschaft‘. Die Theorie von Meyrowitz ......................... 311 10.3 Medienökologie. Die Thesen von Postman .............................................. 317 11 Die Wissenskluftforschung ............................................................................. 325 11.1 Die Hypothese von der wachsenden Wissenskluft ................................... 325 11.2 Aspekte der Entstehung von Wissensklüften............................................ 330 11.3 Interessen und Notwendigkeiten: Defizittheorie versus Differenztheorie ..................................................... 337 12 Ein Blick in die Medienzukunft ..................................................................... 349 Literaturverzeichnis ............................................................................................. 389 Sachregister ........................................................... Fehler! Textmarke nicht definiert.
Verzeichnis der Abbildungen Abbildung 1.1
Die Uhr von Wilbur J. Schramm .................................................. 34
Abbildung 1.2
Evolution der Medien von 1450 bis heute .................................... 35
Abbildung 1.3
Merrill und Lowensteins Modell der Medienspezialisierung ....... 36
Abbildung 1.4
Amerikanische Massenmedien: Entwicklung und Konkurrenz .... 38
Abbildung 1.5
Medienkonkurrenz: Ein Analysemodell ....................................... 39
Abbildung 1.6
Die sechs Informationsrevolutionen nach Irving Fang ................. 44
Abbildung 1.7
Das soziale Gedächtnis in den Etappen der Medienevolution ...... 46
Abbildung 1.8
Lautes Vorlesen in der frühen Neuzeit ......................................... 51
Abbildung 1.9
Rundfunkempfang am Ende des 19. Jahrhunderts........................ 54
Abbildung 2.1
Die Pyramide der Kommunikation ............................................... 62
Abbildung 2.2
Ein lineares und ein Zirkulationsmodell der Kommunikation ..... 67
Abbildung 2.3
Das Modell der Massenkommunikation nach Wilbur J. Schramm ....................................................................... 68
Abbildung 2.4
Primäre, sekundäre und tertiäre Medien ....................................... 69
Abbildung 2.5
Radiohören als Gemeinschaftserlebnis in der Familie ................. 71
Abbildung 2.6
Merkmale der Massenkommunikation im Überblick ................... 75
Abbildung 2.7
Die Grundstruktur des Stimulus-Response-Modells .................... 77
Abbildung 2.8
Die Lasswell-Formel .................................................................... 79
Abbildung 3.1
Eine Erweiterung des Stimulus-Response-Modells ...................... 87
Abbildung 3.2
Publikumsfaktoren und Medienfaktoren ...................................... 89
Abbildung 3.3
Die Grundstruktur des dynamisch-transaktionalen Modells......... 97
Abbildung 3.4
Das dynamisch-transaktionale Modell in zeitlicher Perspektive ................................................................... 99
Abbildung 4.1
Spektakuläre Medienwirkungen: Relevante Einflussfaktoren .... 115
Abbildung 4.2
Orson Welles in Aktion. Eine Erinnerungstafel in Grovers Mill ............................................................................... 117
Abbildung 5.1
Der Zwei-Stufen-Fluss der Kommunikation .............................. 129
Abbildung 5.2
Identifikation von Ratgebern und Ratsuchern in der Decatur-Studie ............................................................................ 133
12
Verzeichnis der Abbildungen
Abbildung 5.3
Merkmale der frühen Übernehmer einer medizinischen Innovation .......................................................... 137
Abbildung 5.4
Modifiziertes Modell des Zwei-Stufen-Flusses der Kommunikation .......................................................................... 144
Abbildung 5.5
Massenkommunikation und interpersonale Kommunikation: .... 147
Abbildung 5.6
Informationsfluss in einem sozialen Netzwerk ........................... 152
Abbildung 6.1
Die Glaubwürdigkeit des Kommunikators. Forschungsbeispiele ................................................................... 166
Abbildung 6.2
Der Sleeper-Effekt ...................................................................... 167
Abbildung 6.3
Dimensionen von Glaubwürdigkeit ............................................ 174
Abbildung 6.4
‚Routes to Persuasion‘. Eine Erweiterung des Modells von Petty und Cacioppo................................................ 175
Abbildung 6.5
AmerikasVertrauen in Zeitungen und TV-Nachrichten ............. 183
Abbildung 7.1
Media Agenda, Public Agenda und Policy Agenda ................... 197
Abbildung 7.2
Medienagenda und Publikumsagenda. Das Verfahren der Cross- Lagged-Korrelation ........................... 201
Abbildung 7.3
Der Einfluss der Golf-Berichterstattung auf die Wahrnehmung von Problemen ................................................... 211
Abbildung 7.4
Agenda Setting: die Rolle von Massen- und interpersonaler Kommunikation .......................................................................... 217
Abbildung 7.5
Der Entstehungsprozess von Agenden im Überblick ................. 219
Abbildung 8.1
Nachrichtenfaktoren nach Galtung und Ruge ............................. 224
Abbildung 8.2
Ereignisse, Berichterstattung und Publikationsfolgen. Das Modell von Kepplinger ....................................................... 233
Abbildung 8.3
Drei Realitäten – Das ‚Double Cone‘-Modell von Weimann ..... 238
Abbildung 8.4
Verschiedene Modelle von Kultivierungseffekten ..................... 249
Abbildung 9.1
Vereinfachter Grundriss der bürgerlichen Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert ...................................................................... 266
Abbildung 9.2
Öffentlichkeit als gesellschaftsinterne Umwelt der gesellschaftlichen Teilsysteme ................................................... 273
Verzeichnis der Abbildungen Abbildung 9.3
13
Öffentliche Meinung als Resultat von Redebereitschaft ............ 292
Abbildung 10.1 Die Entstehung von Kommunikationsnetzen ............................. 320 Abbildung 11.1 ‚Nahe liegende‘ und ‚entfernte‘ Themen .................................... 333 Abbildung 11.2 Wahrnehmung einer Informationskampagne zum Thema ‚radioaktive Strahlung‘ in verschiedenen Bildungsgruppen (Niederlande) .............................................................................. 334 Abbildung 11.3 Methodische Erfordernisse im Rahmen der Wissenskluftforschung ............................................................... 337 Abbildung 11.4 Knowledge Gap-Modelle im Überblick ..................................... 339 Abbildung 11.5 Einfluss der Zeitungsnutzung auf die Wissenskluft zwischen verschiedenen Bildungsgruppen ................................................. 341 Abbildung 12.1 Medieneffekte unter Berücksichtigung der Dimensionen ‚Intentionalität‘ und ‚Zeit‘ .......................................................... 355 Abbildung 12.2 Mediennutzung als Thema der Karikaturisten ............................ 381
Verzeichnis der Tabellen Tabelle 2.1
Effekte: eine Differenzierung ....................................................... 81
Tabelle 4.1
Einschaltzeitpunkt und Interpretation des Hörspiels .................. 114
Tabelle 4.2
Bildungsabschluss und Interpretation des Hörspiels als ‚News Report‘ ............................................................................ 115
Tabelle 5.1
Informationsfluss in einem sozialen Netzwerk ........................... 151
Tabelle 6.1
Relative Glaubwürdigkeit und medienspezifische Glaubwürdigkeit ......................................................................... 179
Tabelle 6.2
Glaubwürdigkeit und Objektivität der Medien, 1964-1995 (Ergebnis für alte Bundesländer) ................................................ 180
Tabelle 6.3
Images der Medien im Direktvergleich der Jahre 2000 und 2005................................................................... 184
Tabelle 7.1
Rangkorrelation von Medienagenda und Publikumsagenda, differenziert nach Bedeutung der Themen und Themenbezug. .. 193
Tabelle 7.2
Priming-Effekte im Falle der Bewertung des amerikanischen Präsidenten ................................................................................. 209
Tabelle 8.1
Gewalt als Bestandteil des amerikanischen Fernsehprogramms ..................................................................... 242
Tabelle 8.2
Täter-Opfer-Relationen im amerikanischen Fernsehprogramm (Zeitraum 1967-1975) .................................. 244
Tabelle 8.3
Kultivierungseffekte der Fernsehnutzung................................... 247
Tabelle 8.4
Lebensauffassungen von Vielsehern .......................................... 257
Tabelle 8.5
Zuschauergruppen nach Einschätzung der TV- und realen Welt ............................................................. 259
Tabelle 10.1
Fernsehdebatten und Wahlausgang. Das Beispiel USA ............. 309
Tabelle 11.1
Entwicklung der Onlinenutzung in Deutschland 1999 bis 2010 ........................................................ 344
Vorwort
1999, als die erste Auflage dieses Buches erschien, war das Internet noch auf dem Weg zu einem Massenmedium. Die Frage „Was geht mich das eigentlich an?“, 1997 in einem Beitrag der Süddeutschen Zeitung vor dem Hintergrund einer etwa fünfprozentigen Diffusionsrate in Privathaushalten formuliert (vgl. Zorn 1997), würde heute wohl viele verwundern. Aktuelle Erhebungen gehen für die Gruppe der 14-19-Jährigen gelegentlich bereits von einer Vollversorgung aus. Ebenso wird die Differenz zwischen älteren und jüngeren Generationen geringer. Die nunmehr fünfte Auflage der ‚Medienwirkungen‘ trägt diesem Wandel Rechnung, bleibt zugleich aber der Zielsetzung einer einführenden Darstellung treu und versucht, aktuellen Entwicklungen auch weiterhin gerecht zu werden. Für die Aufnahme dieser Einführung in die Reihe ‚Studienbücher zur Kommunikations- und Medienwissenschaft‘ möchte ich erneut den Herausgebern Günter Bentele, Hans-Bernd Brosius und Otfried Jarren danken. Ebenso sei an dieser Stelle die sehr gute Zusammenarbeit mit der Lektorin des Verlags, Frau Barbara Emig-Roller, hervorgehoben. Das Rahmenthema hat nichts an Relevanz eingebüßt. Alles deutet darauf hin, dass Medienanbieter, Medienpublika und Medienkontrollinstanzen in wechselnden Allianzen für Kontroversen sorgen. Die Qualitätsdebatte wird zwar eher diskontinuierlich geführt, aber gelegentlich durch die Bedrohung von Medieninstitutionen mit besonderer Aufmerksamkeit versehen. Wenn eine Zeitung wie die New York Times die zunehmende Konkurrenz neuer Internet-Vertriebswege fürchten muss und das Wall Street Journal nur noch online publiziert werden soll, wenn die ‚klassischen‘ TV-Sender ihr Publikum trotz minutiöser Beobachtung als immer rätselhafter empfinden und jüngere Generationen den Begriff des Publikums als antiquiert einstufen, wenn Private Equity-Unternehmen die Leitlinien von Programmen bestimmen, dann wird deutlich, dass ein eher schleichender Medienwandel auf einmal signifikante Spuren hinterlässt. Parallel zu diesem Strukturwandel sind Entscheidungsnotwendigkeiten, insbesondere über die Grenze zwischen Erlaubtem und Nicht-Erlaubtem, fast schon alltäglich geworden. Eine Gesellschaft wird ungewollt immer toleranter, weil der wirksame Zugriff auf die Gesamtzustände nicht möglich ist. Der Eindruck verstärkt sich – sei es im Kontext von ‚Big Brother‘, der ‚Dschungel‘-Dramaturgie mit aufgesetztem Starkult, von Survival-Shows, der Ausweitung dokumentarisch genannter Soaps, der Inflation von Casting-Shows, der inszenierten Performanz in allen erdenklichen Feldern der Freizeitgestaltung und Hobbies oder der LiveÜbertragung einer Brustoperation –, dass hier eine nicht auf vertraglicher Grundlage operierende Allianz zwischen Anbietern und Nutzern agiert: Hier wird der Publikumsgeschmack als Legitimation genannt, dort reagiert man empfindlich auf Be-
18
Vorwort
vormundungen im Sinne von „Darf man so etwas sehen?“ Der Nimbus des Rebellischen auf Seiten des Publikums entpuppt sich dabei zuweilen als Bärendienst an der Gesellschaft. Hier liegt eine neue Herausforderung für die Medienwirkungsforschung. Einige Sender zelebrieren eine neue Chancengleichheit, in dem jedem, der in dieser Gesellschaft noch seinen Platz sucht, eine Plattform für seine Talente offeriert wird. Das Publikum entscheidet dabei gleichzeitig über die Qualitäten einzelner Akteure und das Schicksal von Formaten. Das vermittelt zusätzlich ein Gefühl von Einfluss. Aber es sind nicht nur diese Beispiele, die dafür sorgen, dass ein weiterhin expandierendes Lehr- und Forschungsfeld zu beobachten ist. Das große Interesse an dem Faszinosum ‚Medien‘ ist ungebrochen vorhanden, wenngleich doch so vieles an diesen Medien alltäglich geworden ist. Dieses Alltägliche stumpft gleichwohl nicht nur ab, sondern sensibilisiert auch für die Wahrnehmung guter Angebote, die es nach wie vor gibt. Diese Einschätzung mag bereits als paradoxe Beobachtung eingestuft werden. Aber die Ereignisse wiederholen sich und mit ihnen das Unbehagen über einen permanenten Begleiter, der doch letztlich mehr ist als ein ungebetener Gast. Man regt sich über die Nachrichten auf, aber schaltet sie am nächsten Tag wieder ein. Die Lokalzeitung wird nicht nur aus Interesse, sondern auch mangels konkurrierender Angebote gelesen, aber ein Zeitungsstreik wird als Angriff auf die Gewohnheiten wahrgenommen. Diejenigen, die unmittelbare Erfahrungen mit Medienschaffenden kennen, ärgern sich nicht selten über Verkürzungen ihrer Aussagen, und wieder andere empfehlen, doch nur noch dann etwas zu sagen, wenn man auch etwas zu sagen hat. Der verstorbene französische Soziologe Pierre Bourdieu (19302002) hat jene, „die stets disponibel und bereit sind, ihre schriftliche Stellungnahme abzusondern oder ihre Interviews zu geben“ (Bourdieu 1998, S. 40), einmal als „Medienhirsche“ (ebenda) bezeichnet. Diese Medienkritik ist an sich nicht neu. Die Unzufriedenheit mit bestimmten Protagonisten, den Arbeitsweisen und Selektionskriterien sind Ausdruck einer Summe von Differenzen, die letztlich aus unterschiedlichen Zweck-MittelVorstellungen von Anbietern und Nachfragern resultieren. Da zudem auf beiden Seiten selten Einigkeit über Leitlinien, Praxisregeln und gute Programme vorliegt (trotz der bereits angesprochenen Allianz), bleibt diese Kritik ein beständiger Begleiter der Medienentwicklung. Wer diese Realität ins Visier nimmt, muss auch die Wirklichkeit der beteiligten Akteure und Institutionen einkalkulieren. Daraus ergibt sich in der Summe eine Mischung aus Vereinnahmung und Distanzierung. So vielzählig sind die Ereignisse, Meldungen, Geschichten und Inszenierungen, die tagtäglich wahrgenommen werden (müssen), dass sich auch immer mehr Menschen mit verhaltenem Engagement auf diese Art von Beschreibungen einlassen. Kurt Tucholsky (1890-1935) schrieb einmal: „Ist es nicht schön, daß immer gerade so viel passiert, damit die Zeitung voll wird?“ Diese Frage hat auch etwas mit den sich wandelnden Vorstellungen von Aktualität zu tun. Mittlerweile könnte bereits von
Vorwort
19
einer Aktualitätsfalle gesprochen werden, weil einem gelegentlich nichts langweiliger erscheint als eine Meldung, die man gerade gelesen oder gehört hat. In historischer Perspektive kann daher ohne Zweifel von einer Steigerungslogik gesprochen werden, die sich in einem raschen ‚Verbrauch‘ von Themen niederschlägt, aber auch die Wiederholungen zunehmen lässt. Zugleich mündet dieser Prozess in eine quälende Neugier: Warum soll es/muss es noch schneller gehen? Wieviel Authentizität – ein in den letzten Jahren häufig verwandter Begriff – muss vor laufender Kamera sein und wieviel davon verträgt eine Gesellschaft? Aber unter dem Eindruck des ‚Verbrauchs‘ steht auch die subjektive Kultur, die mit der objektiven Kultur nicht mehr Schritt halten kann. Georg Simmel (1858-1918) hat diese Unterscheidung eingeführt und damit illustrieren wollen, dass das Individuum in der Moderne Vielfalt auch als ein Problem erlebt. Über die technische Errungenschaft der Fotografie, die als eine Verdoppelung der Wirklichkeit wahrgenommen wurde, konnte man noch staunen, ebenso über den Film und die Anfänge des Fernsehens. Die Verkürzung der Innovationszyklen lässt dagegen heute gelegentlich kaum noch Raum für die Entfaltung von Interessen. Es verstärkt sich der Eindruck, dass das Zeitempfinden und das Zeitbewusstsein durch den Rahmen, den die Medientechniken und Medienangebote setzen, eine (zusätzliche) Beschleunigung erfährt. Viele audiovisuelle Errungenschaften werden durch ihre Präsenz an vielen öffentlichen Orten trotz ihrer technischen Perfektion nicht mehr als Besonderheit registriert. Diese Medienerfahrungen gehen aber auch mit Medienerfahrenheit einher. Dies bedeutet eben auch, dass für die Anbieter die starke Bindung an ihre Programme immer schwerer zu erreichen ist. Die Erwartungen der Rezipienten steigen, weil es viele Alternativen gibt. Des Weiteren bestärkt die Kenntnis dessen, was sich hinter den Kulissen abspielt, eine Rahmung der Ereignisse als Medienspiel. Man ist sich sicher, dass es eine Wirklichkeit jenseits der Kamera gibt. Über Peter Sellers’ Rolle als Gärtner in ‚Willkommen, Mr. Chance‘, der die Welt nur über Fernsehsendungen kennt, ist man heute ebenso amüsiert wie über die ‚Truman-Show‘, in der der zunächst gutgläubige Hauptdarsteller allmählich entdeckt, dass sein Leben seit der Geburt Bestandteil einer Non-Stop-Fernsehübertragung ist. Zugleich ist die Neigung verbreitet, über solche Manipulationsversuche erhaben zu sein und die Probleme nicht bei sich selbst zu suchen. Ebenso könnten diese Varianten hyperrealistischer Darstellungen eine Einladung sein, die Dinge einmal so zu sehen, wie sie sein könnten. Im übertragenen Sinne wird auch hier eine Lebenswelt vorgeführt, „in der sich jemand befinden würde, der allen Menschen seiner Umgebung fremd wäre.“ (Goffman 1981, S. 92) Als Lehrstück über Medienwirkungen haben diese filmischen Beispiele allemal ihren Wert. Aber sie konnten ihr Potenzial erst entfalten, nachdem sich die besondere Qualität der Kombination von Bild und Ton, die Faszination des bewegten Bildes und die Nähe zu den Ereignissen bei Wahrung der Distanz zu einem wichtigen Element unserer Erfahrung entwickelten. Der Journalist Harald Martenstein hat das
20
Vorwort
gerade Gesagte im Jahr 2001 wie folgt beschrieben: „Seit es die Fotografie, den Film und das Fernsehen gibt, hat die Menschheit sich daran gewöhnt, Augenzeuge zu sein. In den letzten Jahren aber haben wir gelernt, dass auf unsere Augen kein Verlass ist. Bilder können perfekter denn je manipuliert und gefälscht werden, ein Bild ist kein Beweis mehr, womöglich war es nie einer. Nicht nur Theoretiker, auch normale Fernsehzuschauer begannen sich zu fragen: Gibt es überhaupt authentische Bilder, gab es sie je? Ist nicht alles Fiktion? Subjektiv? Ist ein Fernsehbild wirklich wahrer als ein Gemälde oder ein Roman? Dann kam der 11. September. In den ersten ein, zwei Stunden sah man, wenn nicht die brennenden Türme gezeigt wurden, ratlose Reporter und stammelnde Augenzeugen. Was geschah da? Was war überhaupt passiert? Das einzige, was man wusste: Es geschieht wirklich: Es ist Realität.“ (2001, S. 160) Lang anhaltend war dieser Wirklichkeitsschock nicht. Mit dem zeitlichen Abstand zu diesem Ereignis kehrten die vertrauten Diskussionen über Medien und Wirklichkeit zurück. Neue Ereignisse drängten sich in den Vordergrund und die Berichterstattung über die nachfolgenden politischen und militärischen Entscheidungen rückte die selektive Wahrnehmung des Weltgeschehens wieder in sehr deutlicher Weise vor Augen. Der Verweis auf die ‚Mediengesellschaft‘ ist mittlerweile wohl auch Ausdruck dieses Unbehagens in und an der modernen Kultur. Dennoch äußert sich dieses Unbehagen nicht in einer deutlich spürbaren Abkehr von den Angeboten. Deshalb wiederholt sich auch immer wieder die Frage, was mit den Rezipienten im Zuge der Nutzung dieser Angebote geschieht. Wege und Möglichkeiten zur Beantwortung dieser Fragestellung fasst die vorliegende Einführung zusammen. Über die Zielsetzung informiert die Einleitung zu den Kapiteln 1 bis 12. Für diese fünfte Auflage sind alle Kapitel umfassend überarbeitet und aktualisiert worden. In Kapitel 12 werden anhand einiger markanter Beobachtungen Erwartungen oder Einschätzungen, die die Medienzukunft betreffen, diskutiert. Dabei steht Poppers vorsichtige Einschätzung Pate, wonach Prognosen „nur dann abgeleitet werden können, wenn sie sich auf Systeme beziehen, die als isoliert, stationiert und zyklisch beschrieben werden können.“ (Popper, 1997, S. 492) Die Beispieltexte sind zum Teil erneuert worden. Sie werden, ebenso wie die zusätzlich aufgeführten Definitionen, mit dem Symbol gekennzeichnet. Die zur weiteren Lektüre empfohlene Literatur wurde mit dem Symbol markiert. Mein besonderer Dank gilt dieses Mal meiner studentischen Mitarbeiterin Madeline Dahl, die akribisch recherchiert und alle Überarbeitungen und Aktualisierungen sorgfältig umgesetzt hat. Für inhaltliche Anregungen danke ich ihr ebenso wie Gerrit Fröhlich. Philipp Sischka hat sich insbesondere im Rahmen der Formatierungsarbeiten verdient gemacht. Selbstverständlich sind hier auch nochmals alle Personen zu erwähnen, die an früheren Versionen dieses Einführungsbuchs mitgearbeitet haben: Dr. Christoph Kochhan, Dr. Thomas Lenz, Dr. Jan D. Reinhardt, Dr.
Vorwort
21
Sabine Wollscheid, Dr. Nicole Zillien, Birgit Amzehnhoff, Thomas Grund, Heike Hechler, Marissa Maurer, Natalie Rick, Jörg Holdenried, Henrike Krohn, Amelie Duckwitz, Tobias Schlömer und Christian Gerhards. Ich widme diese fünfte Auflage allen Studierenden, die an der Universität Trier in den vergangenen 14 Jahren meine Veranstaltungen besucht - und hoffentlich auch Gefallen an den Themen dieses Buches gefunden haben. Trier, im März 2011
Michael Jäckel
Einleitung
Die Sozialwissenschaften sind voller Effekte. Oder sollte man besser sagen: effektvoll? Jedenfalls lenkt sie die Aufmerksamkeit in besonderer Weise auf sich, wenn sie von Sleeper-, Bumerang- oder Bandwagon-Effekten spricht1. Diese Effekte entstehen in Situationen, die maßgeblich durch den Einsatz von Verbreitungsmedien gekennzeichnet sind und werden von den Medien als berichtenswerte Ergebnisse der Forschung eingestuft. Im Folgenden seien eine Reihe aktueller Beispiele angegeben. Als die amerikanische Talkmasterin Oprah Winfrey bspw. im Frühjahr 2004 den Roman ‚Anna Karenina‘ dem amerikanischen Fernsehpublikum als Sommerlektüre empfahl, stieg die Nachfrage nach dem 862 Seiten umfassenden Buch binnen weniger Tage sprunghaft an. Der Verlag Penguin Classics erhöhte die Auflage auf 900.000 , bis zu diesem Zeitpunkt waren von der Neuübersetzung des Tolstoi-Romans gerade einmal 15.000 bis 20.000 Exemplare verkauft worden. Ein Jahr zuvor hatte die Empfehlung der Talkmasterin bereits zu einer ähnlichen Nachfrage des Romans ‚Jenseits von Eden‘ geführt. Oprah’s Pick (Oprah’s erste Wahl) hatte wieder einmal gewirkt (siehe hierzu auch die Ausführungen von Wilke/König 1997 und Wilke 2001b). Spektakuläre Erfolge konnte auch die ‚Süddeutsche Zeitung‘ als erster deutscher Zeitungsverlag mit ihrem Verkaufskonzept der gebundenen Klassiker des 20. Jahrhunderts verbuchen. Nach dem Vorbild italienischer Zeitungsverlage wagte die ‚Süddeutsche Zeitung‘ im März 2004 mit Milan Kunderas ‚Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins‘ den Schritt in den Buchmarkt und legte damit den Grundstein für eine Erfolgsgeschichte (vgl. Fuhrmann 2005, S. 13). Insgesamt wurden bis zum 30. Juni 2005 50 gebundene Titel zum Preis von je 4,95 Euro veröffentlicht (vgl. Roesler-Graichen 2005, S. 8). Zu Beginn des Jahres 2005 waren bereits mehr als zehn Millionen Bücher der ‚SZ-Bibliothek‘ erschienen (vgl. Beckmann 2005, S. 44). Der ‚Kylie-Effekt‘ wiederum beschreibt die sprunghafte Zunahme von Brustkrebs-Vorsorgeuntersuchungen in Australien, nachdem die Popsängerin Kylie Minogue im Mai 2005 ihre Brustkrebserkrankung publik gemachte hatte. Schon kurze Zeit nach der Diagnose erhöhte sich die Zahl der Vorsorgeuntersuchungen um 40%. Australische Ärzte erhoffen sich durch den ‚Kylie-Effekt‘ eine Senkung der Todesfälle durch Brustkrebs. „Kylies Diagnose hat der Krebsstatistik ein Gesicht gegeben und wird hoffentlich helfen, ein neues Bewusstsein zu schaffen“, so Dr. Helen Zorbas, Direktorin des ‚National Breast Cancer Center‘ (Siemens 2006). 1
Auf diese Effekte wird in späteren Kapiteln näher eingegangen. Zur schnellen Orientierung dient das Sachregister. Generell wird in diesem einleitenden Kapitel weitgehend auf definitorische Erläuterungen verzichtet.
M. Jäckel, Medienwirkungen, DOI 10.1007/978-3-531-93191-3_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Einleitung
Auch weit zurückliegende Ereignisse werden gerne herangezogen, um bestimmten empirischen Zusammenhängen einen Namen zu geben. Von einem ‚Luther-Effekt’ sprach der Philosoph Peter Sloterdijk und wollte damit auf ein autodidaktisches Element der Glaubensverbreitung und -aneignung hinweisen, das durch die Bibelübersetzung forciert wurde: „Die Autodidaktik des Glaubens produziert das moderne Individuum, das sich selber in die Bibel einloggt. Man könnte es den LutherEffekt nennen, als ob Christus plötzlich eine Steckdose hätte. Da entsteht eine Art Plug-in-Christentum, das durch den Buchdruck möglich wurde.“ (Burda/Sloterdijk 2010, S. 89) Ein Effekt, der ebenfalls dem Buchdruckzeitalter zugeschrieben wird, ist das sogenannte ‚Wertherfieber‘ erwähnt werden, dem zur Zeit der Veröffentlichung von Goethes umstrittenen Erstlingswerk ‚Die Leiden des jungen Werther‘ vor allem junge Intellektuelle verfielen. Nicht nur die im Briefroman beschriebene Kleidung des Werther wurde kopiert. Auch der fiktionale Selbstmord des Protagonisten fand eine ganze Reihe realer Nachahmungstäter, woraus im Jahr 1775 ein Verbot der Schrift durch den Leipziger Stadtrat resultierte. Zwei Jahrhunderte später prägte schließlich Phillips den Begriff des ‚Werther effect‘, der besagt, dass eine intensive Mediendarstellung von Suiziden mit einem Anstieg der Selbstmordrate einhergeht. Die Schlussfolgerung stützt sich auf die Analyse der Nachwirkungen von Presseberichterstattungen in britischen und US-amerikanischen Zeitungen zwischen 1947 und 1968 (vgl. Phillips 1974). Eine ebenso erstaunliche und zugleich beunruhigende Entwicklung lässt sich am Beispiel des ‚CSI-Effekts‘ erläutern. Der Name ist auf die erfolgreiche Krimiserie ‚CSI - Den Tätern auf der Spur’ zurückzuführen, in der mittels forensicher Methoden Verbrechen aufgeklärt werden. Der ‚CSI-Effekt‘ bezieht sich zum einen auf die gestiegene Zahl der Einschreibungen im Studiengang Forensik und zum anderen auf die überhöhten Erwartungen, die die Bevölkerung an diese Methode der Verbrechensaufklärung stellt. Dies führte in den USA mitunter schon zu Problemen bei Gerichtsverhandlungen, in denen Geschworene, die selbst große Fans der Serie waren, ihr Urteil lediglich an den forensischen Ergebnissen orientierten, obwohl diese in manchen Fällen auch fehlerbehaftet waren oder für den zu entscheidenden Fall keine Relevanz besaßen. In der Folge durften in einigen US-Bundesstaaten, so im Mai 2004 die Tageszeitung USA Today, angehende Geschworene nach ihren Fernsehgewohnheiten befragt werden. Ein anderes Beispiel aus der Unterhaltungsbranche wäre der sogenannte ‚Palmer-Effekt‘. In der Fernsehserie ‚24‘ war die Figur des Präsidenten der Vereinigten Staaten ein Afroamerikaner - vor der Wahl Barack Obamas. Das bot Anlass zu Spekulationen über die mögliche Akzeptanzförderung durch die Serie. Die genannten Beispiele stehen am Beginn dieser Einführung, weil sie exemplarisch auf einen wesentlichen Aspekt aufmerksam machen: Im Falle bestimmter Medienangebote treten offensichtlich gleiche oder ähnliche Reaktionen in Teilen des Publikums auf. Daher ist die Neigung vorhanden, eine direkte Beziehung zwischen
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dem Stimulus und der Reaktion zu konstatieren. Eine pragmatische Einschätzung könnte auch wie folgt lauten: Mögen zwischen dem Stimulus und dem evozierten Verhalten noch so viele zwischengeschaltete Variablen gewirkt haben (Zögern, Nachdenken, Konsultation von Freunden etc.), letztlich zählt ‚overt behavior‘, das tatsächliche Verhalten. Zur Rechtfertigung seiner zögerlichen Einschätzung könnte der Medienwirkungsforscher sagen: Es werden tagaus, tagein Empfehlungen ausgesprochen: in Talkshows, in Daily Soaps, in Kultursendungen, in Leitartikeln. Aber sie beschäftigen die Öffentlichkeit offensichtlich nur, wenn eine nicht näher definierte kritische Größe überschritten wird, die gleichsam dazu verleitet, von massenhaften Reaktionen zu sprechen. Massenkommunikation bedeutet ja zunächst nichts anderes als die Erreichbarkeit einer a priori unbekannten Zahl von Empfängern, deren Existenz und deren Verstehen von bestimmten Informationen in einer wie auch immer weit gesponnenen Zukunft von gewissen mitteilenden Instanzen der Massenkommunikation zwar vorausgesetzt wird, über deren konkrete Verstehensprozesse aber prinzipiell nichts weiter bekannt sein muss. Wegen ihrer Heterogenität, der Unbekanntheit der Zeitpunkte und Orte ihrer Teilhabe an Massenkommunikation kann dies auch nicht der Fall sein. Jedenfalls ist die zunehmende Verwendung des Etiketts ‚Mediengesellschaft‘ maßgeblich darauf zurückzuführen, dass die Verfasstheit moderner Gesellschaften untrennbar mit der Existenz von Massenmedien und -kommunikation verflochten ist. Massenmedien sind wichtige Instanzen der Gesellschaftsbeschreibung und der Realitätsbeschreibung geworden. In dieser Hinsicht sind sie bedeutsame Konkurrenten der (Sozial-)Wissenschaften und anderer gesellschaftlicher Bereiche und geben häufig ambivalente Impulse und Kommunikationsangebote an ihr Publikum weiter. Jeder verkürzten Form von Gesellschaftsbeschreibung liegt die Beobachtung und Erwartung regelmäßig wiederkehrender Ereignisse bzw. Verhaltensweisen zugrunde. Es geht um den Nachweis dauerhafter Elemente (bei Varianz der inhaltlichen Einzelheiten). Wenn die Soziologie von ‚Strukturen‘ spricht, meint sie ja berechenbare, konstante Phänomene benennen zu können. Die Pionierphase der Wirkungsforschung liefert hierzu ein gutes Beispiel: In ‚What ‚Missing the Newspaper‘ means?‘, einer Analyse des New Yorker Zeitungsstreiks aus dem Jahr 1945, konnte Berelson die Beobachtung machen, dass ein Medium nicht nur der Befriedigung bestimmter Informationsbedürfnisse dient, sondern auch ein fester Bestandteil des Alltagshandelns geworden war (vgl. Berelson 1949). Als Bestandteil wiederkehrender Routinen wurde ein auferlegter Verzicht als Eingriff in die Gewohnheiten wahrgenommen. Eine mit diesem Befund korrespondierende Feststellung findet sich auch in Lippmanns Analyse der öffentlichen Meinung. Im Kapitel ‚Der treue Leser‘ heißt es: „Obwohl sich alles um die Beständigkeit des Lesers dreht, existiert nicht einmal eine vage Tradition, um dem Leser diese Tatsache ins Gedächtnis zu rufen. Seine Treue hängt von seinen Gewohnheiten oder davon ab, wie er sich gerade aufgelegt
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fühlt. Und seine Gewohnheiten sind nicht einfach von der Güte der Nachrichten abhängig, sondern öfter von einer Anzahl undeutlicher Elemente, die bewußt zu machen wir uns in unserer zufälligen Beziehung zur Presse kaum bemühen.“ (Lippmann 1990 [zuerst 1922], S. 224) Der Hinweis auf die ‚undeutlichen Elemente‘ wird sogleich durch Analysen der Präferenzen des Lesers präzisiert (z. B. hoher Stellenwert von Ereignissen aus dem eigenen Erfahrungsbereich, aber auch beständige Versorgung mit Nachrichten aus ‚den glänzenden Höhen der Gesellschaft‘). Zugleich liegt dieser Präzision nicht die Erwartung zugrunde, dass der Leser über eindeutige und unumkehrbare Präferenzstrukturen verfügt. Die ständige Bereitstellung von Informationen kann also paradoxerweise dazu führen, dass nicht nur spezifische Bedürfnisse nach konkreten, verwertbaren Inhalten entstehen, sondern die Tatsache des periodisch wiederkehrenden Berichtens den Konsum von Nachrichten zu einer Selbstverständlichkeit macht. Alleine dieser Mechanismus von Publizität und Periodizität setzt das System als Ganzes unter Druck, gibt ihm gleichsam einen Eigenantrieb, der wiederum selbst in der Lage ist, sich durch ‚Notaggregate‘ zu helfen. Es geht darum, möglichst viel zu beobachten, um Anschlussmöglichkeiten zu steigern und sich dadurch selbst zu erhalten. Es muss immer wieder etwas Neues berichtet werden, um den Differenzverlust beim Senden der Nachrichten auszugleichen. So entsteht jenes eigentümliche Verhältnis zwischen Redundanz und Variabilität, das für Presse und Funk charakteristisch ist. Ein wirksamer und dauerhafter Kontrast zum Alltagsleben soll hergestellt werden. Aus dieser Unterscheidung von Realitäten leitet sich die temporale Struktur der öffentlichen Meinung ab. Der Hinweis auf die Zeit lenkt den Blick auf ein weiteres Merkmal, das Mediengesellschaften auszeichnet: der Umgang mit Zeitbudgets. Angesichts der zunehmenden Mediennutzung - insbesondere innerhalb der Freizeit - steht die Erfassung von Medienzeitbudgets verstärkt im Zentrum der (Frei-)Zeitbudgetforschung (vgl. Jäckel/Wollscheid 2004a). Auf die Dominanz der Mediennutzung gegenüber alternativen Aktivitäten in der Freizeit ist verschiedentlich hingewiesen worden, unter anderem von Schulz: „Mediennutzung ist in der heutigen Gesellschaft die häufigste und für viele auch wichtigste Beschäftigung. Die Menschen widmen der technisch vermittelten Kommunikation – neben Schlafen und Arbeiten - die bei weitem meiste Zeit in ihrem Leben“ (1994, S. 127). Innerhalb der modernen Gesellschaft kommt der Zeit als „Ressource und Orientierungsmedium“ ein wachsender Einfluss zu (vgl. Lüdtke 2001, S. 5, umfassend auch Rosa 2005). Mit neuen Tendenzen der „Verzeitlichung“ (Rinderspacher 1988, S. 24) findet sozusagen eine ‚zweite temporale Modernisierung‘ statt. Damit verbunden sind zunehmende Anforderungen an die einzelnen Akteure einer Gesellschaft hinsichtlich eines rationalen, organisierten und ökonomischen Umgangs mit der Ressource ‚Zeit‘. Diese Entwicklung betrifft die Erwerbszeit, die Regenerationszeit und die Freizeit, wobei letztere dem Einzelnen den größten Handlungsspielraum erlaubt. Lüdtke
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(2001) charakterisiert Verhalten in der Freizeit als ‚diffus‘ und ‚expressiv‘, d.h. Menschen orientieren sich sowohl an eigenen Interessen und Präferenzen als auch an gesellschaftlichen Normen und Zielen, wobei der Zeitaufwand für eine Tätigkeit relativ variabel ist (vgl. Lüdtke 2001, S. 16). Auf der Makroebene lassen sich die Handlungen einzelner Akteure dann als Lebensstile zusammenfassen. Unbestritten ist, dass Massenmedien innerhalb der Freizeit eine dominierende Rolle einnehmen. Aus der Studie ‚Massenkommunikation 2005‘ ging bspw. hervor, dass im Jahre 2005 die deutsche Bevölkerung ab 14 Jahren täglich rund 10 Stunden Zeit mit Medien verbrachte (vgl. Ridder/Engel 2005, S. 447 sowie kritisch zur Messung allgemein Jäckel/Wollscheid 2004b). Dieser Wert wurde auch im Jahr 2010 annähernd bestätigt (vgl. Ridder/Engel 2010a, S. 525). Bis Anfang der 1990er Jahre war Freizeit - zumindest für einen Großteil der Bevölkerung - ein wachsendes Gut, was eine ansteigende Mediennutzung plausibel erscheinen ließ. Eine weitere Ausdehnung des Medienzeitbudgets ist gegenwärtig jedoch nur noch eingeschränkt zu erwarten, da seit Beginn des 21. Jahrhunderts eher von einer zunehmenden Verknappung der Freizeit auszugehen ist. Dies gilt zumindest in Relation zum steigenden Angebot an Freizeitmöglichkeiten. Ein ‚Mehr‘ an Mediennutzung lässt sich einerseits durch ein ‚Weniger‘ an alternativen Freizeitbeschäftigungen erkaufen, andererseits können Medien gleichzeitig bzw. parallel genutzt werden. Viele neue Medien eignen sich in besonderer Weise für Nischennutzung derart, dass zuvor ‚wertlose‘ Zeit oder Pausen durch den flexiblen Zugriff auf über Medienschnittstellen verfügbar gemachte Angebote ausgefüllt werden. Zugleich gewährleistet das Freizeitbudget Erreichbarkeit unterschiedlicher Publika und damit ein weites Feld von Wirkungs- und Mitwirkungsformen (vgl. hierzu ausführlicher Jäckel 2005). Die Mediengesellschaft tritt also in zahlreichen Facetten zutage:
Medien setzen auf Dauerpräsenz. Sie sind ein signifikanter Bestandteil der modernen Kultur und binden die Zeit öffentlicher Akteure ebenso wie die Freizeit verschiedenster Publika (zeitliche Dimension). Medien sind omnipräsent, weil neue Technologien mittlerweile eine ortsungebundene Nutzung ermöglichen (räumliche Dimension). Medien sind zwar kein Spiegelbild der sozialen Wirklichkeit, sie integrieren aber sukzessive neue Themenfelder. Neben das ‚Alltagsgeschäft‘ von Information und Unterhaltung treten kalkulierte Tabubrüche, die in der Summe ein wachsendes Medienmisstrauen befördern (sachliche Dimension). Medien richten ihre Angebote an unterschiedliche Publika. Neben unspezifische treten zunehmend zielgruppenspezifische Formen. Eine Berücksichtigung unterschiedlichster sozialer Gruppierungen und Mentalitäten findet statt (soziale Dimension).
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Als Joseph T. Klapper im Jahr 1960 seine Zusammenfassung zu den Befunden der Medienwirkungsforschung vorlegte, war diese ‚Mediengesellschaft‘ ohne Zweifel noch überschaubarer. Dennoch wies er in seinen einleitenden Ausführungen auf den folgenden Aspekt hin: Noch in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts hielten es viele Kommunikationsforscher für notwendig, den Begriff und das Phänomen, mit dem sie sich beschäftigen, exakt zu definieren (vgl. Klapper 1960, S. 1). Dieser Hinweis bezog sich auf ‚mass communication‘, ein Kommunikationstypus, der sowohl zu faszinierenden als auch beunruhigenden Interpretationen Anlass gab. Nur zwei Jahrzehnte später wurde der Versuch eines Überblicks mit dem Hinweis auf die disparate Entwicklung dieser Forschungsrichtung versehen: „The literature has reached that stage of profusion and disarray, characteristic of all proliferating disciplines, at which researchers and research administrators speak wistfully of establishing centers where the accumulating data might be sifted and stored. The field has grown to the point at which its practitioners are periodically asked by other researchers to attempt to assess the cascade, to determine whither we are tumbling to attempt to assess, in short‚ what we know about the effects of mass communication.“ (Klapper 1960, S. 1) Diese Feststellung hat nicht an Aktualität verloren. Die Medienwirkungsforschung ist in den letzten Jahrzehnten zu einem umfassenden Forschungsgebiet geworden, das von den Fragestellungen und Interessen einer Vielzahl unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen profitiert. (vgl. Bonfadelli/Friemel 2006, Schenk 2007, Bryant/Oliver 2009 sowie die von Donsbach editierte ‚International Encyclopedia of Communication‘). Die Zahl der Publikationen, oftmals zu Einzelaspekten, hat ein Ausmaß erreicht, das jeden Versuch einer einführenden Darstellung vor Auswahlprobleme stellt. Ein Lösungsweg ist die Konzentration auf Forschungstraditionen, die eine Kontinuität erkennen lassen. In Anlehnung an Lowery/DeFleur kann auch von den ‚Milestones‘ einer Wissenschaft gesprochen werden, die als Orientierungsraster dienen (Lowery/DeFleur 1995). Diese Meilensteine markieren den Weg in und durch das 20. Jahrhundert, wenngleich einige der behandelten Traditionen ihr theoretisches Fundament dem Rückgriff auf bereits vorhandene sozialwissenschaftliche Erkenntnisse verdanken. Aus heutiger Sicht werden diese Traditionen gelegentlich als einengend empfunden. Insbesondere in den letzten Jahren ist die Notwendigkeit einer Vernetzung dieser Forschungsrichtungen thematisiert worden (vgl. Halff 1998, S. 12ff.). Aber jeder Versuch einer Vernetzung von Befunden erfordert die Existenz verknüpfbarer Elemente. Die bisherige Medienwirkungsforschung hat die relevanten Eckpfeiler gesetzt, die den Ausgangspunkt für Versuche einer Gesamtschau repräsentieren. Im Falle der Medienwirkungsforschung wird das Bemühen um Überschaubarkeit durch ein Forschungsfeld erschwert, das sich nicht ‚ruhig‘ verhält und ständig neue Aspekte hervorbringt, die nach Antworten verlangen. Den Pionieren der Kommunikationsforschung ist bewusst gewesen, dass die Themen, die im Zentrum des Interesses stehen, auch von historischen Zufällen be-
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einflusst werden. Paul Felix Lazarsfeld und Robert King Merton leiteten eine der frühen Erörterungen der Wirkungsaspekte von Massenmedien mit der folgenden Feststellung ein: „Fragestellungen, die die Aufmerksamkeit der Menschen erregen, wandeln sich, und das nicht zufällig, sondern zum großen Teil im Einklang mit den sich wandelnden Erfordernissen von Gesellschaft und Wirtschaft. Wenn ein Team wie das, das diesen Aufsatz geschrieben hat, vor ungefähr einer Generation zusammengearbeitet hätte, wäre der Inhalt der Erörterungen aller Wahrscheinlichkeit nach ein völlig anderer gewesen. Kinderarbeit, Wahlrecht für Frauen oder die Altersversorgung hätten die Aufmerksamkeit eines solchen Teams bewegt, sicherlich aber nicht Probleme der Massenkommunikationsmittel.“ (Lazarsfeld/Merton 1973, S. 447) Der beschriebene Aufmerksamkeitsfaktor hat heute einen weitaus höheren Stellenwert erreicht als im Jahr der Publikation dieses Beitrags. Ungeachtet dessen müssen die Fragestellungen und Themen jeweils präzisiert werden. Die verbindende Klammer lag und liegt in dem Interesse an der gesellschaftlichen Bedeutung der Massenmedien. Lazarsfeld und Merton sprechen hinsichtlich dieses verbindenden Elements jedoch von einer „schlecht definierte[n] Fragestellung.“ (Lazarsfeld/Merton 1973, S. 450) Die allgemeine Frage nach der Bedeutung von Medien für die Gesellschaft und dort beobachtbarer Entwicklungen bedarf der Eingrenzung. In Anlehnung an den Soziologen Arnold Gehlen könnte man auch provozierend formulieren (siehe hierzu Schelsky 1963, S. 225): Über den Kosmos ‚Gesellschaft‘ schlechthin kann man nur dilettantisch reden. Die Vergangenheit und die Gegenwart verbindet gleichwohl das Bedürfnis nach schnellen Antworten auf häufig diffuse Fragestellungen. Es besteht ein hoher Bedarf an kurzfristigen Erklärungen, obwohl bekannt ist, dass die Reaktionen der Publika auf die jeweiligen Angebote langfristig beobachtet werden müssen. Nur auf diese Art und Weise kann das Problem reduziert werden, den Zufällen des Augenblicks eine Bedeutung zuzuschreiben, die der Logik des Beobachtungsfelds entspringt. Wer sich heute mit der Bedeutung der Medien beschäftigt, ist unausweichlich permanent am Puls der Zeit. Die Dauerpräsenz der Medien und der ständige Wechsel von Themen und Programmen erschwert den Blick auf überdauernde Wirkungen. Die in ihrer Grundstruktur einfache Fragestellung nach den Wirkungen der Massenmedien auf die Gesellschaft lehnt sich an eine mechanistische Vorstellung von Ursache und Wirkung an. Implizit erwartet man die eindeutige Zurechenbarkeit von Effekten auf vorausgegangene Ereignisse. Dieses enge Wirkungsverständnis, das sich konkret in einem Reiz-Reaktions-Modell manifestiert hat, trug mit dazu bei, dass die durchaus differenzierte Vorgehensweise im Rahmen der frühen Phase der Medienwirkungsforschung seltener ins Blickfeld geriet (siehe hierzu Brosius/Esser 1998). Bereits die Anfänge der Kommunikationsforschung waren auf der Suche nach einem erfahrungswissenschaftlichen Fundament (vgl. Reimann 1989, S. 30). Gegen die Vorherrschaft der Spekulation sollte das empirisch fundierte Urteil stehen. In den USA verlief diese Einbettung der Kommunikationsforschung weitge-
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hend unproblematisch und wurde von dem dort dominierenden Pragmatismus getragen. Hingegen war die Situation in Europa, und insbesondere in Deutschland, eher durch eine Kontroverse vorbestimmt, die den Stellenwert der Erfahrungstatsachen für die Erklärung sozialer Phänomene betraf. Diese methodologische Diskussion begleitete die Vorstellungen über wissenschaftliches Arbeiten und die Angemessenheit theoretischer Konzepte bis in die Gegenwart. Ein in naturwissenschaftlichem Denken verankerter Wirkungsbegriff konkurrierte sowohl mit einer kulturkritischen Perspektive als auch mit Erklärungsmodellen, die an die Stelle der Eindeutigkeit der Wirkung bestimmter Stimuli eine Unbestimmtheitsrelation setzten und diese unter Bezugnahme auf hermeneutische und/oder (wissens-)soziologische Theorien rechtfertigten. Die Wirkungsdebatte kann somit als eine spezifische Variante einer grundlegenden geistes- und sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung begriffen werden. Zugleich wird damit noch einmal die Einbindung der Wirkungsforschung in unterschiedliche Disziplinen deutlich. Jede Erörterung von (Medien-)Wirkungen ist darüber hinaus mit der Frage konfrontiert, wie Effekte, die zumeist auf der Individualebene beobachtet werden, auf der gesellschaftlichen Ebene zur Geltung kommen können. Dieser Übergang von der Mikro- zur Makroebene lenkt den Blick auf Ebenendifferenzen (vgl. Jäckel/Reinhardt 2001), die für zahlreiche Analysefelder von Bedeutung sind: individuelle Meinungsbildung und öffentliche Meinung, individuelle Mediennutzung und Informationsstand der Bevölkerung, interpersonale Kommunikation und Meinungsführerschaft. Es geht somit in vielen Bereichen darum, das Zusammenwirken der Interessen unterschiedlicher Akteure zu erklären, die zum Zwecke der Realisierung bestimmter Ziele Kommunikationsangebote bereitstellen und nutzen. Wenngleich methodische und theoretische Fragen nicht im Vordergrund dieser Einführung stehen, werden diese - soweit erforderlich - in die Gesamtdarstellung integriert. Das erste Kapitel beschäftigt sich mit der Entwicklung der (Massen-) Medien und beschreibt wichtige Einschnitte und Erweiterungen auf dem Weg in eine Gesellschaft, deren Alltag zunehmend von Medienereignissen und Mediennutzung geprägt ist. Kapitel 2 und 3 dienen einer notwendigen Begriffsklärung sowie der überblicksartigen Darstellung bedeutsamer allgemeiner Theorietraditionen, die sich in unterschiedlicher Weise in spezifischen Forschungsfeldern widerspiegeln. Eine engere thematische Orientierung an Hypothesen und Theorien erfolgt in den sich anschließenden Kapiteln: Behandelt werden die Kontroverse um spektakuläre Medienwirkungen, das Zusammenwirken von interpersonaler Kommunikation und Massenkommunikation (Meinungsführerforschung), die Glaubwürdigkeit der Medien und ihr Einfluss auf die Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit, die Konstitution von öffentlicher Meinung und Öffentlichkeit unter modernen Kommunikationsbedingungen sowie der Einfluss der Medien auf die Angleichung oder Ausweitung von Wissensdifferenzen in der Bevölkerung. Diese Einführung wird durch ein Kapitel abgeschlossen, das die wieder zunehmende Diskussion um die Zukunft der
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Massenkommunikation diskutiert und markante Aspekte der jüngeren Medienentwicklung kritisch aufgreift. Burkart und Hömberg (1997, S. 82) kommen zu dem Ergebnis, dass die Art und Weise, wie das Feld der Massenkommunikation modellhaft skizziert wurde, auch zukünftig relevant sein wird, aber nicht mehr die einzige und zugleich prototypische Ausprägung von Sender-Empfänger-Beziehungen beschreibt. In kommunikationstheoretischer Hinsicht plädieren sie für die Berücksichtigung einer übertragungsorientierten und interaktionistischen Sichtweise, damit unterschiedliche Formen der Beteiligung und Einbindung in Medienumwelten differenziert beschrieben werden können. Trotz einer Zunahme technischer Konvergenzen, die sich unter anderem in einer „integrativen Verwendung verschiedener Medientypen“ (ebenda, S. 78) niederschlagen, nämlich statischer (Text, Graphik) und dynamischer Elemente (Video- und Tonsequenzen), wird eine grundlegende Abkehr von den herkömmlichen Distributionswegen nicht erwartet. Mittelfristig werden sich neue Muster der Mediennutzung herausbilden, „in denen verschiedenen medialen Angeboten ein unterschiedlicher Stellenwert im Informationshaushalt der Rezipienten zukommt.“ (ebenda, S. 79) Dies gelte insbesondere für den ‚individualisierten‘ Zugriff auf Medienangebote. Die Kontroverse um aktive User und passive Zuschauer ist nicht neu, erfordert aber angesichts der Weiterentwicklungen auf technologischer Ebene und dadurch ermöglichte neue (Selbst-)Darstellungsmöglichkeiten und Nutzungsformen in elektronischen Umgebungen eine Diskussion, die diesen veränderten Rahmenbedingungen Rechnung trägt. Fest steht, dass sich die Chancen der gegenseitigen Wahrnehmbarkeit von Kommunikatoren und Rezipienten und die Möglichkeit des Rollentauschs insbesondere durch den Einsatz neuer Informations- und Kommunikationstechnologien verändert haben, und damit die Notwendigkeit, Wirkung auch im Sinne von Mitwirkung zu thematisieren. Das Ziel dieser Einführung liegt in der Vermittlung von Grundlagenwissen, das in der Diskussion um die Bedeutung der Medien in modernen Gesellschaften hilfreich sein kann.
Donsbach, Wolfgang (Ed.) (2008, erster Druck): The International Encyclopedia of Communication. Bryant, Jennings; Oliver, Mary Beth (Ed.) (2009): Media Effects. Advances in Theory and Research. 3rd edition. New York. Lowery, Shearon A.; DeFleur, Melvin L. (1995): Milestones in mass communication research: media effects. 3rd edition. White Plans.
1 Die Entwicklung der (Massen-)Medien
1.1 Modelle der Medienentwicklung Die in der Einleitung angedeutete Ebenendifferenzierung kann unter Rückgriff auf die Geschichte der Medien illustriert werden. Gerade historische Einordnungen von Medienentwicklungen veranschaulichen unterschiedliche Bezugsebenen der Argumentation. Im Folgenden werden deshalb zunächst verschiedene, insbesondere deskriptive Modelle der Medienentwicklung dargestellt, um diesen Sachverhalt zu erläutern. Innerhalb der Kommunikationswissenschaft wird häufig von der Evolution der Kommunikation gesprochen. Die damit verbundene Vorstellung impliziert vor allem, dass jede Erweiterung eines Mediums auch eine Erweiterung des Empfängerkreises der Kommunikation bedeuten kann. Luhmann hat diesen Sachverhalt mit dem Begriff ‚Verbreitungsmedien‘ beschrieben. Je mehr sich diese Verbreitungsmedien von Orten und Personen lösen, desto unabhängiger wird die jeweilige Kommunikation „von der Anwesenheit dessen, der sie mitteilt.“ (Luhmann 1997, S. 314) Zugleich reduziert eine systematische Erweiterung der räumlichen Dimension von Kommunikation die Wahrscheinlichkeit von Zufällen. Die Nutzung mittelalterlicher Manuskripte illustriert dies: „Noch im Mittelalter war [...] die semantische Evolution entscheidend davon abhängig, in welchen Bibliotheken welche Manuskripte aufbewahrt wurden und welche Zufälle Leser, die dadurch zu Ideen angeregt wurden, an die seltenen Manuskripte heranführten. Hier spielt [...] der Körper von Individuen und damit ihr Aufenthalt an bestimmten Orten eine wichtige Rolle. Das ändert sich nach und nach mit der Verbreitung gedruckter Schriften.“ (Luhmann 1997, S. 314) Letztere beschleunigen gesellschaftliche Veränderungen und die Diffusion von Informationen2. Damit einher geht die Entstehung von Öffentlichkeit, die von diesen Öffnungen profitiert. Sobald die Kontrolle über den Zugang zu Informationen entfällt, ist der Empfängerkreis nicht eindeutig bestimmbar. Diese allgemeine Feststellung veranschaulicht auch ein Modell des kanadischen Kommunikationswissenschaftlers Wilbur J. Schramm (vgl. Abbildung 1.1). In seinem Beitrag ‚What is a long time?‘ werden die 24 Stunden eines Tages ins Verhältnis zur Menschheitsgeschichte, die er auf etwa eine Million Jahre festlegt. Erst gegen 21.33 Uhr treten die Anfänge der Sprache auf (language 21:33). Zu diesem Zeitpunkt befindet man sich etwa im Jahre 100.000 v. Chr. Bis zur Erfindung der
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In diesem Zusammenhang ist auf die Bedeutung der Schrift für die Ausbildung eines gesellschaftlichen Gedächtnisses hinzuweisen. Siehe hierzu Schramm 1981, S. 204; Briggs/Burke 2002, S.19; Bohn 1999.
M. Jäckel, Medienwirkungen, DOI 10.1007/978-3-531-93191-3_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Die Entwicklung der (Massen-)Medien
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Schrift vergehen weitere 96.500 Jahre (writing 23:52). Audiovisuelle Medien und der Computer tauchen erst kurz vor Mitternacht auf. Abbildung 1.1
Die Uhr von Wilbur J. Schramm erstes Buch-23:58:52
Gutenberg-23:59:14
Stempeldruck-23:57:25 Schrift-23:52:06
audiovisuelle Medien-23:59:47 Computer-23:59:57
24:00 Sprache-21:33
18:00
06:00
12:00
Quelle: Eigene Erstellung in Anlehnung an Schramm 1981, S. 203 Dieses, in Anlehnung an den kosmischen Kalender von Carl Sagan3 entworfene Modell der Kommunikationsgeschichte vermittelt auf einfache Weise, mit welchem kurzen Abschnitt der Kommunikationsentwicklung sich die Medienwirkungsforschung auseinandersetzt. Einer Stunde auf dieser Uhr entsprechen ca. 41.667 Jahre, einer Minute entsprechen ungefähr 694 Jahre, einer Sekunde etwa 12 Jahre. Die Ereignisse bzw. Innovationen, die sich in der letzten Minute dieses Tages konzentrieren, verdeutlichen zugleich die rasante Geschwindigkeit, mit der sich insbesondere die technisch vermittelte Kommunikation entwickelt hat:
3
Zwischen den ersten Anfängen der Sprache und der Schrift liegen fast 100.000 Jahre. Carl Sagan hatte die Geschichte des Universums in ‚The Dragons of Eden’ auf die zwölf Monate eines Jahres übertragen.
Die Entwicklung der (Massen-)Medien
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Von der Erfindung der Schrift bis zu ersten Techniken des Druckens vergehen etwa 4.000 Jahre, weitere 1.200 Jahre bis zur Drucktechnik mit beweglichen Lettern. Weitere 400 Jahre braucht es bis zur Erfindung der Fotografie. Telegraf, Telefon, Film und Hörfunk folgen in immer kürzeren Abständen. Etwa 20 Jahre liegen zwischen den ersten Fernsehübertragungen und der Erfindung des Computers.
Nimmt man die Modernisierung des Buchdrucks als Ausgangspunkt, dann verschafft Abbildung 1.2 einen weiteren Einblick in die immer raschere Aufeinanderfolge von Innovationen. Abbildung 1.2
Evolution der Medien von 1450 bis heute 2010 3D-ready sets 2006 BD-Player 2004 UMTS 2003 DVB-T 1997 DVD-Player 1992 Internet-Browser 1991 HDTV
MEDIENZUWACHS
1990 digitaler Mobilfunk 1987 DAT 1983 CD Player 1982 Bildplattenspieler 1981 PC 1980 BTX 1978 Video/Kabel TV 1971 Satteliten TV 1954 Fernsehen 1950 Tonbandgerät 1920 Rundfunk 1897 drahtloser Telegraph 1877 Phonograph
1895 Film
1875 Telefon 1840 Elekt. Telegraph 1829 Photographie 1682 Zeitschrift 1609 Zeitung 1450 Buchdruck
1400
1500
1600
1700
1800
1900
2000
Jahre
Quelle: Eigene Erstellung in Anlehnung an Schrape 1995, S.77 Abbildung 1.2, die die Zunahme der Medien einerseits sowie die Verringerung der Zeitabstände andererseits verdeutlicht, übersetzt somit das von Schramm gewählte Modell in eine andere Form. Die Kurve wurde von Schrape (1946 - 2001) wie folgt
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kommentiert: „Die Richtung dieser Medienevolution läßt sich mit zunehmender Differenzierung und Spezialisierung beschreiben: In immer kürzeren Zeitabständen entstehen immer mehr Formen der Medien-Kommunikation mit steigender Leistungsfähigkeit (Zeit, Menge, Selektivität). Das Volumen des publizistischen Angebots wächst hyperexponentiell.“ (Schrape 1995, S. 78) Darüber hinaus sind Modelle vorgelegt worden, die Prozesse der Mediendifferenzierung in den Vordergrund stellen. Beispielhaft kann hier das Modell von Merrill und Lowenstein genannt werden. Die Autoren unterscheiden drei Phasen: ‚Elite Stage‘, ‚Mass Stage‘ und ‚Specialized Stage‘ (vgl. Abbildung 1.3). Demzufolge ist die Akzeptanz jedes neuen Mediums durch einen idealtypischen Verlauf beschreibbar: Personen mit überdurchschnittlicher Bildung und entsprechenden finanziellen Möglichkeiten repräsentieren die frühen Übernehmer. Merrill und Lowensteins Modell der Medienspezialisierung
NUTZER
Abbildung 1.3
Elite
Masse
Spezialisierung
STADIUM
Quelle: Entnommen aus Neuman 1991, S. 118 Wenn die Anschaffungskosten bzw. Preise fallen, steigt die Zahl der Nutzer; ein Massenmedium entsteht. Sobald aber ein weiteres konkurrierendes Medium auf den Markt drängt, tendieren die bereits vorhandenen Medien zur Spezialisierung ihres Angebots. Die Hauptaussage des Modells lautet wie folgt: Die Reichweite bzw.
Die Entwicklung der (Massen-)Medien
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Verbreitung von Medien steigt zunächst an und nimmt erst infolge des Aufkommens neuer Medien bzw. Medienangebote ab. Ob der Rückgang der Reichweite bereits ein hinreichendes Indiz für Spezialisierung sein kann, ist ohne Kenntnis der inhaltlichen Ebene jedoch nicht beantwortbar. Wenn diese inhaltliche Differenzierung Beachtung findet, kann aus dem Rückgang der jeweiligen Publikumsgröße möglicherweise auf einen Vorgang der Abhebung von konkurrierenden Angeboten geschlossen werden. Die als EPS-Kurve bezeichnete Entwicklung beschreibt einen idealtypischen Verlauf: „[...] media in any nation grow from elitist to popular to specialized. In the elitist stage, the media appeal to and are consumed by opinion leaders, primarily. In the popular stage, media appeal to and are consumed by the masses of a nation’s population, primarily. In the specialized stage, the media appeal to and are consumed by fragmented, specialized segments of the total population.“ (Merrill/ Lowenstein 1979, S. 29)4 Der Hinweis ‚primarily‘ ist wohl im Sinne einer Einschränkung des Geltungsbereichs dieser Skizzierung zu lesen. Das allgemeine Modell von Merrill und Lowenstein ist in Bezug auf die Entwicklung der amerikanischen Massenmedien überprüft worden. Neuman präsentiert hierzu eine Darstellung (vgl. Abbildung 1.4), die sich an dem Kurvenverlauf in Abbildung 1.3 orientiert. Der Wert von 100 Prozent auf der vertikalen Achse repräsentiert den jeweils maximalen Verbreitungsgrad eines bestimmten Mediums. Im Falle der Zeitungen (‚Newspapers‘) dient als Indikator für den Verbreitungsgrad ‚Zeitungen pro Haushalt‘. Danach wurde der Höchstwert etwa zwischen den Jahren 1910 und 1920 erreicht. Im Falle des Kinos (‚Motion Pictures‘) liegt der Höchstwert bei 2,5 Besuchen pro Woche, der zwischen 1930 und 1940 beobachtet wurde. Bezüglich des Radios liegt der höchste Wert, nämlich 4 1/3 Stunden pro Tag, zwischen 1950 und 1960, hinsichtlich des Fernsehens (‚Network TV‘) wird die Reichweite mit Hilfe der Sehzeit pro Haushalt operationalisiert: Zwischen 1970 und 1980 liegt der Höchstwert bei etwa sieben Stunden pro Haushalt. Die Konkurrenz durch das Kabelfernsehen und den Videorekorder führt dazu, dass die Sehzeit, die sich auf die landesweit empfangbaren Fernsehprogramme verteilt, zurückgeht. Aufgrund dieser empirischen Befunde liegt die Vermutung nahe, dass insbesondere das Kino den höchsten Spezialisierungsdruck verspürt hat und sich gegenüber der Konkurrenz des Fernsehens durch eine Ausdifferenzierung seines Angebots behaupten musste. Die tatsächliche Entwicklung dürfte dieser Interpretation kaum entsprechen. Offensichtlich vermitteln diese Kurven zunächst einmal eine Konkurrenz um zeitliche Ressourcen der jeweiligen Publika, ohne dass damit bereits eine deutlich erkennbare inhaltliche Differenzierung einhergehen muss.
4
Die Bezeichnungen in Abbildung 1.3 sind in Anlehnung an dieses Zitat gewählt worden.
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Amerikanische Massenmedien: Entwicklung und Konkurrenz
100 90 80
PROZENT
70 60 50 40
Zeitung
30 Film
Radio
20
Terrestrisches Fernsehen Kabelfernsehen
10
1860
1880
1900
1920
1940
1960
Videorecorder
1980
ZEIT
Quelle: Entnommen aus Neuman 1991, S. 119 In Bezug auf die Konkurrenz der audiovisuellen Medien bemerkt Neuman darüber hinaus: „It is not at all clear, however, that the elite-mass-specialized pattern will repeat itself as television begins to face competition from even newer media. Although cable television and especially ‚pay television‘ have cut into the network share of prime-time viewing, network television, perhaps in a modified format, is likely to remain the dominant, low-cost, mass-audience medium.“ (Neuman 1991, S. 119) Auch wenn im Hinblick auf die berücksichtigten Medien die Frage nach der Vollständigkeit gestellt werden darf (das Buch ist bspw. nicht berücksichtigt), lässt diese Darstellung doch die Schlussfolgerung zu, dass eine völlige Verdrängung eines bereits vorhandenen Mediums durch ein neues eher unwahrscheinlich ist. Wolfgang Riepl vertrat diese Auffassung bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als er sich mit der historischen Entwicklung des Nachrichtenwesens auseinandersetzte. „[Es] ergibt sich [...] als ein Grundgesetz der Entwicklung des Nachrichtenwesens, daß die einfachsten Mittel, Formen und Methoden [die] eingebürgert und brauchbar befunden worden sind, auch von den vollkommensten [Mitteln, Formen und Methoden] [...] niemals wieder gänzlich und dauernd verdrängt [...] werden können, son-
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dern sich neben diesen erhalten, nur daß sie genötigt werden, andere Aufgaben und Verwertungsgebiete aufzusuchen. Denn nicht nur die Nachrichtenmittel, ihre Leistungen und Verwendungsmöglichkeiten vermehren und steigern sich unausgesetzt, auch das Gebiet ihrer Verwendung [...] ist in fortwährender Erweiterung und Vertiefung begriffen. Sie machen einander die einzelnen Felder dieses Gebietes streitig, finden aber in dem fortschreitenden Prozeß der Arbeitsteilung alle nebeneinander genügend Raum und Aufgaben zu ihrer Entfaltung, bemächtigen sich verlorener Gebiete wieder und erobern Neuland dazu.“ (Riepl 1913, S. 5ff.) Historisch betrachtet gibt es für eine Substitution auch keine auffälligen Beispiele. Die mündliche Nachricht, welche am Anfang der Entwicklungsreihe steht, wurde zwar durch die schriftliche und später durch die telegraphische stark zurück-, aber keineswegs verdrängt. In Form des Telefons hat die mündliche Nachricht wieder immens an Bedeutung gewonnen, ohne jedoch ihrerseits die schriftliche oder telegraphische Nachricht zu verdrängen (vgl. Riepl 1913, S 5ff.). Kiefer kritisiert an diesem ‚Grundgesetz der Entwicklung‘ zu Recht, dass es auf die Binnendifferenzierung der Medien und Mediengattungen und auf das Wettbewerbsverhältnis der Medien keine befriedigenden Antworten geben kann. Obwohl hinsichtlich der Verdrängungsthesen nach wie vor eher ‚versöhnliche‘ Töne dominieren, ist nach ihrer Auffassung eine detailliertere Analyse von Angebots- und Nachfragestrategien sowie der durch technologischen Wandel ermöglichten Verbreitungsformen von Medienangeboten erforderlich (vgl. Kiefer 1989, S. 338). Auf die Perspektive der Mediennutzung lässt sich bspw. folgendes Analysemodell anwenden, das die technologische Dimension mit der zeitlichen Dimension verknüpft. Daraus ergeben sich idealtypisch vier Konstellationen: Abbildung 1.5
Medienkonkurrenz: Ein Analysemodell
Technische Verdrängung Ja Nein Umverteilung des MediSubstitution enzeitbudgets (z. B. Lesezeit wird vollJa (z. B. seltener Kinobesuch ständig durch Fernsehund häufigere Fernsehnutzeit ersetzt) Zeitliche zung) Verdrängung Neue Technik, ähnliKomplementarität che Inhalte Nein (z. B. ‚The more the more(z. B. DVD- anstelle von Regel’) Videokonsum) Quelle: Eigene Erstellung
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Wenn die Zeit, die bislang dem Lesen von Büchern gewidmet wurde, nach dem Aufkommen des Fernsehens vollständig der Nutzung des Bildmediums zukommt, findet eine zeitliche Verdrängung statt, die signifikant zu Lasten des gedruckten Mediums geht. Himmelweit u.a. verwandten bspw. den Begriff ‚functional similarity‘. Das Fernsehen, so ein Ergebnis der Studie ‚Television and the Child‘ aus dem Jahr 1958, verdrängt funktional ähnliche Aktivitäten. Das Bedürfnis nach Unterhaltung wird nicht mehr durch das Lesen von Comics, sondern durch das Sehen befriedigt (vgl. Himmelweit et al. 1958, S. 329). Wenn sich dagegen die Nutzungsschwerpunkte verschieben und eine Umverteilung des vorhandenen Zeitbudgets stattfindet, wird ein bereits vorhandenes Medium nicht substituiert, sondern in seiner Gesamtbedeutung geschmälert. Das kann z. B. eine Spezialisierung auf der Angebotsebene zur Folge haben. Kracauer hat dies am Beispiel der Konkurrenz von Kino und Fernsehen veranschaulicht: „Der Triumpf des Fernsehens, so scheint es, führt zu einer Teilung der Aufgaben zwischen den beiden Medien, die auch für den Hörfunk von Vorteil sind.“ (1964, S. 227) Findet keine zeitliche Verdrängung statt, so verbreitet das neue Medium z. B. ähnliche Inhalte. Die Konkurrenz zwischen Videokassette und DVD wäre hierfür ein gutes Beispiel, wenn die damit verbrachte Zeit weitgehend unverändert bleibt. Der klassische Fall von Komplementarität wird durch die ‚The more the more‘Regel verdeutlicht. Unter Rückgriff auf Ergebnisse aus der Erie County-Studie (vgl. Lazarsfeld u.a. 1969, S. 161)5 wird von additiven Nutzungsformen ausgegangen. Das Zeitbudget für Mediennutzung erweitert sich mit dem Hinzukommen neuer Medien.Dies zeigt sich heute bspw. in der Art und Weise, wie Jugendliche das Internet mit dem Fernsehen kombinieren 6.
Je intensiver die Wechselwirkung zwischen den jeweils vorhandenen Verbreitungsmedien, den zur Verfügung gestellten Medienangeboten und dem vorhandenen Zeitbudget der Bevölkerung betrachtet wird, desto deutlicher wird die Notwendigkeit von Mikro-Makro-Analysen. Die Gefahr ökologischer Fehlschlüsse steigt, wenn aus der geringen Verschiebung von Medienzeitbudgets auf relativ konstantes Medienverhalten geschlossen wird. Von ökologischen Fehlschlüssen wird gesprochen, wenn Strukturmerkmale als Ursache von Individualmerkmalen betrachtet werden. Auf dieses Problem hat insbesondere Kaase hingewiesen, als er von dem „MikroMakro-Puzzle der empirischen Sozialforschung“ (Kaase 1986, S. 209) sprach. Blickt man auf die aktuelle Diskussion um neue Medien, ist eine radikalere Vorstellung von der Art und Weise, wie Menschen in Zukunft Informationen auf5 6
Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 5. Siehe hierzu die Ausführungen in Kapitel 12.
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nehmen und verarbeiten, keineswegs untypisch. Diese Erwartung stützt sich insbesondere auf die folgende Annahme: Die Medien der Vergangenheit präsentieren in der Regel ‚fertige‘ Produkte, z. B. ein Buch, einen Film oder ein Hörspiel. Die darin vermittelten Informationen sind mehrheitlich als Einheit konzipiert und werden im allgemeinen auch sequentiell aufgenommen. Man kann zwar auch in einer Tageszeitung hin- und herblättern, ein Buch auszugsweise lesen, aber das Medium selbst gibt keine technische Hilfestellung, die die nicht-sequentielle Informationsaufnahme gestattet. Neue Medien ersetzen nach Bolz diesen linearen Gedanken der Buchkultur durch ein Denken in Konfigurationen (vgl. Bolz 1993, S. 422). Während heute noch die Vorstellung dominiert, etwas verstehen und gleichsam endgültig repräsentieren zu können, werde die Zukunft durch Simulationen beherrscht, die nicht wirklich wirklich sind. Diese sehr grundsätzlichen Einschätzungen beinhalten Hinweise auf eine andere Erfahrung der Welt. Der Aufbruch in die neue Welt der neuen Medien, die man auch als Hypermedien bezeichnet, verändert den Prozess der Wissensaufnahme durch neue Wege des Erschließens: „Die Etappen der Medienevolution sind deutlich: Abschied vom Buch als Archiv – Abschied vom Papier als Schauplatz der Schrift – Abschied vom Alphabetisch-Literarischen als Medium des Wissens. Hypermedien erreichen heute durch die digitale Datenverarbeitung von multimedialem Material eine völlig neue Darstellungsebene.“ (Bolz 1993, S. 226) Und weiter heißt es zur Besonderheit der Hypermedien: „Sie implementieren ein Wissensdesign, das Daten gleichsam frei begehbar macht; d.h. sie dekontextualisieren Informationselemente und bieten zugleich Verknüpfungs-Schemata der Rekombination an.“ (ebenda, S. 207) Einen anderen, eher technikzentrierten Ansatz bietet die Idee der Aufschreibesysteme nach Kittler. Allgemein ist ein solches ein „Netzwerk von Techniken und Institutionen [...], die einer gegebenen Kultur die Entnahme, Speicherung und Verarbeitung relevanter Daten erlauben.“ (Kittler 1987, S. 429) Das Aufschreibesystem 1800, so Kittler, ist mit dem Leitmedium Buch ein typografisches, geschriebenes und literarisches. Der Inhalt geschriebener Medien ist ein symbolischer - nur was in der symbolischen Welt schon vorhanden ist, kann hier geschrieben und sogar gespeichert werden. Die besondere Bedeutung des Symbolischen zeigt sich auch in Kittlers Fokus auf die Dichtung als nicht übersetzbaren Idealtypus, wobei Goethe so gesehen das ganze Aufschreibesystem 1800 „kommandierte“ (ebenda, S. 237). Die Aufschreibesysteme 1900 sind die analogen technischen Medien, wie Schreibmaschine, Film und Phonograph, die alle erdacht wurden, um den physiologisch defizitären Menschenkörper zu überbieten, der mit Hilfe der Psychophysik damals in seine einzelnen Funktionen zerlegt und in diesen untersucht wurde. Das Grammophon kann wiedergeben, was der Mensch schriftlich nicht erfassen kann. Möglich wird also eine technische Aufzeichnung des Realen auch außerhalb der symbolischen Kategorien (vgl. ebenda, S. 235ff.). Der Bedarf des Aufbaus innerer Welten mit Hilfe der Dichtung wird dank des Kinobesuches überflüs-
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sig. Interessant ist auch, dass Kittler die Psychoanalyse eng mit den Medientechnologien verknüpft sieht. Erst die neutrale Aufzeichnung des Gesprochenen erlaubte eine Untersuchung der Sprache im Sinne der Freudschen Psychoanalyse und machte sie somit auch erst möglich. Das Aufschreibesystem 2000 ist von der Digitalisierung und dem Computer als integrierendem Leitmedium geprägt, der die Verknüpfung und reziproke Übersetzung aller anderen Medien ineinander ermöglicht, mit dem Endergebnis eines totalen Medienverbundes. Kittler betont also die zwischen den traditionellen Zäsuren Schrift und Computer liegenden technischen Errungenschaften, die nicht übersehen werden sollten (vgl. Kittler 1987; sowie 1986). Die dargestellten Modelle und Erwartungen beziehen sich entweder auf eine Interpretation der historischen Entwicklung oder auf die damit einhergehende Konkurrenz der jeweiligen Medienangebote. Aber die eingangs angedeutete Erweiterung der Erfahrung und der Verzicht auf die räumliche Integration der Kommunikation verweisen bereits auf Wirkungsdimensionen, die über den engen Bereich einer veränderten Informations- und Wissensaufnahme hinausgehen. Es ist zu fragen, welche gesellschaftlichen Veränderungen sich im Zuge dieser Medienentwicklung vollzogen haben. 1.2 Medienentwicklung und gesellschaftliche Veränderungen Irving Fang spricht in seiner historischen Analyse von sechs Informationsrevolutionen (vgl. Abbildung 1.6). Gemeint sind damit nicht plötzliche und durch Gewaltanwendung erzeugte Veränderungen, sondern „profound changes involving new means of communication that permanently affect entire societies, changes that have shaken political structures and influenced economic development, communal activity, and personal behaviour.“ (Fang 1997, S. XVI) In diesem Sinne sind die in Abbildung 1.6 genannten Ereignisse jeweils Anfangspunkte signifikanter Entwicklungsprozesse. Die sogenannte ‚Writing Revolution‘ beschreibt die Konvergenz von Schrift und Papier. Sie ermöglichte es, das Wissen der jeweiligen Zeit von dem Gedächtnis einzelner Personen unabhängiger zu machen. Den Beginn dieses ersten bedeutenden Entwicklungsschritts datiert Fang in das 8. Jahrhundert v. Chr. Die zweite Revolution, die von ihm als ‚Printing Revolution‘ bezeichnet wird, resultiert aus einer Konvergenz von Papier, Schrift und Drucktechniken. Die Drucktechnik eröffnet neue Möglichkeiten der Vervielfältigung von Informationen und markiert den Beginn sozialer Veränderungen, die durch die Reformation, die Renaissance und den Aufbruch in die Moderne (Ende des Feudalismus) fortgeführt werden. Die dritte Informationsrevolution, die Fang mit dem Aufkommen von Massenmedien zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Verbindung bringt (‚Mass Media Revolution‘), ergänzt die bereits vorhandenen und verfeinerten Möglichkeiten der Verbreitung von Informati-
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onen durch die Möglichkeit der Raumüberwindung in kurzer Zeit. Die Erfindung des Telegrafs erweitert den Radius der erfahrbaren Nachrichten und bringt Ereignisse aus fernen Regionen in die Nahwelt der Menschen. Die Fotografie hält Einzug in die Informationsvermittlung. Ende des 19. Jahrhunderts beginnt die ‚Entertainment Revolution‘ und setzt erste Marksteine. Anfänglich bewegen sich die neuen Medien Film und Hörfunk noch in einem technischen Experimentierstadium, können aber im Laufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Massenpublikum begeistern. Insbesondere die Verbindung von Film und Ton eröffnet eine neue Dimension im Bereich der Unterhaltung. Zugleich nehmen die Möglichkeiten der schnellen Produktion und Reproduktion von Unterhaltungsangeboten zu. Noch in den 30er Jahren rätselte man darüber, ob die Menschen Zeit für die Nutzung dieser Angebote haben werden. Ein Reporter der ‚New York Times‘ sah das Problem des Fernsehens darin, „[...] that the people must sit and keep their eyes glued on a screen; the average American family hasn’t time for it.“ (zitiert nach Latzer 1997, S. 113) Die Fortsetzung dieser Entwicklung wird durch die fünfte Informationsrevolution eingeleitet, die die rasche Diffusion der Medien in die Privathaushalte beschreibt. Mit der Bezeichnung ‚Communication Toolshed Home‘ illustriert Fang die zentrale Bedeutung des häuslichen Umfelds für die Aufnahme und Verarbeitung von informierenden und unterhaltenden Angeboten. Die sechste Informationsrevolution beschreibt schließlich die Konvergenz von Computertechnologien und bereits vorhandenen Medien. Damit verbunden ist eine Erweiterung des Einsatzes von Medien in allen Lebensbereichen (Bildung, Beruf, Freizeit). Im Sinne der von Fang vorgeschlagenen Klassifikation befindet sich diese Entwicklung erst am Anfang. Schon jetzt aber ist erkennbar, dass mit diesen Veränderungen „permanent marks on the society“ (Fang 1997, S. XVI) verbunden sein werden. In Ergänzung zu den Kurzbeschreibungen der ‚Revolutionen‘ sind darüber hinaus folgende Aspekte hervorzuheben (vgl. Fang 1997, S. XVIIIf.):
Neue Kommunikationsmedien resultieren aus der Konvergenz bereits vorhandener Erfindungen. Neue Kommunikationsmedien beschleunigen den sozialen Wandel. Sie verwandeln statische in dynamische Gesellschaften. Informationsmonopole werden aufgebrochen und Wissensunterschiede in der Bevölkerung gleichen sich an. Gleichzeitig nehmen Informationsmengen zu und die Gefahr der Desinformation steigt. Das Themenspektrum, das eine Gesellschaft wahrnimmt, erweitert sich. Das Phänomen des Pluralismus nimmt zu. Neue Kommunikationsmedien verwenden neue Codes. Für jede neue ‚Sprache‘ (z. B. Alphabet, drahtlose Übertragungstechniken, Software) entwickeln sich neue Expertengruppen.
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Abbildung 1.6
Die sechs Informationsrevolutionen nach Irving Fang 1
2
Schrift
Druckverfahren
Writing Revolution
Printing Revolution
8. Jahrhundert vor Christus, Griechenland (Konvergenz des Alphabetes mit Papyrus)
2. Hälfte des 15. Jahrhunderts, Europa (z.B. Johannes Gutenberg)
6 Neue Medien Information Highway Ende des 20. Jahrhunderts, 1. Welt und später weltweit (Konvergenz von Computer, Fernsehen, verschiedenen Übertragungs- und Visualisierungstechniken)
3
Sechs
Informationsrevolutionen
Massenmedien Mass Media Revolution Mitte des 19. Jahrhunderts, Westeuropa und Ostküste der USA (Telegraph, Fotographie, Schulen)
5
4
Zugang im häuslichen Bereich
Unterhaltung
Communications Toolshed Home Mitte des 20. Jahrhunderts, 1.Welt (Telefon, Fernsehen, Radio, Aufzeichnungsmöglichkeiten)
Entertainment Revolution Ende des 19. Jahrhunderts, Europa und USA (Schallplatten, Fotokameras, Film)
Quelle: Eigene Erstellung in Anlehnung an Fang 1997, S. XVf.
Während sich die ‚Hardware‘ der Kommunikationsübertragung wandelt, bleiben die Interessen und Vorlieben der Menschen eher stabil. In Bezug auf die Gegenwart hat die Nutzung der Medienangebote nur in extremen Fällen zu einem deutlichen Rückgang sozialer Aktivitäten geführt. Soziale Dysfunktionen sind die Ausnahme und resultieren aus einer übermäßigen Mediennutzung im privaten Umfeld.
Auch die von Fang vorgelegte Analyse unterstützt die Feststellung, dass der „Radius der Wahrnehmbarkeit“ (Merten 1994a, S. 144) für die Bedeutung eines Mediums von großer Relevanz ist. Auf diesen Sachverhalt wird im Rahmen der Erläuterung des Begriffs ‚Massenkommunikation‘ noch detaillierter eingegangen7. Wenn die Wahrnehmbarkeit von Informationen ortsgebunden bleibt, ergeben sich diesbezüglich naheliegende Grenzen: die Lautstärke eines Redners, Ablenkungen unterschiedlichster Art usw. Wichtig ist aber, dass jede Form von Anschlusskommunikation im Falle der Dominanz von Mündlichkeit (mündliche Kultu7
Siehe hierzu die Ausführungen in Kapitel 2.
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ren) an das menschliche Gedächtnis gekoppelt bleibt. Was kommuniziert wird, lebt nur von unmittelbarer Erfahrung. Assmann und Assmann haben hierfür den Begriff des sozialen Gedächtnisses vorgeschlagen. Dieses soziale Gedächtnis erfährt durch die Entwicklung neuer Medien entscheidende Erweiterungen, die sich in einer räumlichen und zeitlichen Überschreitung der „Grenzen der Mündlichkeit“ (Assmann/Assmann 1994, S. 134) niederschlagen. Der Übergang von der Handschriftlichkeit zur Druckschriftlichkeit bedeutet zunächst noch keine Veränderung des in den verwandten Symbolen enthaltenen Wissens, wohl aber eine Steigerung, die sich anfänglich quantitativ am deutlichsten niedergeschlagen hat. Assmann und Assmann weisen darauf hin, dass in dem ersten halben Jahrhundert des Buchdrucks eine Zahl von ca. acht Millionen Bücherproduktionen zu verzeichnen war, die zuvor in sämtlichen Skriptorien Europas zusammen auch nicht annähernd erreicht wurde (vgl. Assmann/Assmann 1994, S. 135). Die qualitative Komponente dieser Veränderung schlägt sich in der allmählichen Auflösung von Wissensmonopolen, in der Entstehung von Märkten für die Buchproduktion und schließlich in der Entwicklung der wissenschaftlichen Disziplinen nieder. Verbunden damit beginnt ein langer Weg der Alphabetisierung und des Anstiegs der Literalität (Lesefähigkeit). Während das Wissen der mündlichen Kulturen vorwiegend an bestimmten Orten zirkulierte, zum Beispiel im Rahmen von Festen oder öffentlichen Veranstaltungen, tritt das Buch in der Phase der schriftlichen Kulturen zusätzlich als Zirkulationsmedium hinzu, das zugleich eine größere Effektivität für sich reklamieren kann. An die Stelle des menschlichen Gedächtnisses treten Texte als eine Möglichkeit der Artikulation von Wissen. Ähnlich beschreibt auch Irmela Schneider die Bibliothek als Dispositiv des Wissens, somit auch als Ergebnis eines langwierigen Prozesses, der eine wachsende Zirkulation und den erleichterten Zugang zu Inhalten dank des Buchdrucks beinhaltet. Dies führt wiederum zu einer weiteren Systematisierung des Wissens. Das 18. Jahrhundert sei somit nicht nur ein Zeitalter der Aufklärung, sondern auch der Wissensdisziplinierung gewesen, da sich mit den neuen Medien auch neue Wissensordnungen etablierten (vgl. Schneider 2006). Das elektronische Zeitalter führt nun zu einer Erweiterung der Dokumentations- und Speichermöglichkeiten und eröffnet ganz neue Möglichkeiten der Aufbewahrung und des Transports. Aleida Assmann spricht von „elektronisch hochgerüsteten externen Wissensspeichern“ (Assmann 1999, S. 11). Ebenso spricht Alois Hahn von zumeist bewusstseinsextern gespeicherten sozialen Gedächtnissen, die unabhängig von dem Gedächtnis des Individuums sind (vgl. Hahn 2010, S. 26f.). Mit der zunehmenden Kapazität der elektronischen Speichermedien korrespondiert ein Rückgang des Auswendiglernens. Die Erweiterung der Speicherkapazitäten führt zu einer drastischen Verschärfung der „Diskrepanz zwischen bewohnten und unbewohnten, verkörperten und ausgelagerten Erinnerungsräumen“ (Assmann 1999, S. 409). Mit dem Aufkommen der Verbreitungsmedien beziehen sich Wissen, Aktuali-
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tät und Neuigkeit aufeinander. Neu zur Disposition steht, was wissenswert ist und vor allem - wie lange. Zur Bibliothek als Dispositiv des Wissens gesellt sich der Kiosk, an dem schnell und schnell veraltetes Wissen erwerbbar ist (vgl. Schneider 2006, S. 90). Abbildung 1.7
Das soziale Gedächtnis in den Etappen der Medienevolution Mündlichkeit
Kodierung Speicherung
Elektronik
symbolische Kodes
Alphabet, verbale Kodes
nonverbale Kodes, künstliche Sprachen
begrenzt durch
gefiltert durch Sprache in Texten
ungefiltert, unbegrenzte
Bücher
audiovisuelle Medien
menschlichesGedächtnis Zirkulation
Schriftlichkeit
Feste
Dokumentationsmöglichkeit
Quelle: Assmann/Assmann 1994, S. 139 An die Stelle von traditionellen Archiven treten High-Tech-InformationsMaschinen, die unendlich viele Möglichkeiten der Vergangenheitskonstruktion gestatten8. Zugleich beginnt neben den bereits vorhandenen Möglichkeiten der Zirkulation die Dominanz der audiovisuellen Medien. Gedächtnis und Sprache verlieren nicht ihre Bedeutung für Kommunikationsprozesse, aber im elektronischen Zeitalter „ihre kulturprägende Dominanz.“ (Assmann/Assmann 1994, S. 139) In Abbildung 1.7 werden diese Etappen der Medienevolution zusammengefasst. Formen des virtuellen Erinnerns werden auch von Hein im Kontext von Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus thematisiert. Von den jüngeren Generationen werden zwar praktisch die Möglichkeiten vor allem des Internets, wie Multimedialität und aktiver Austausch, gerne komplementär zu klassischen Informationsquellen genutzt. Eine altersübergreifende Ausschöpfung der Möglichkeiten findet jedoch (noch) nicht statt. Für eine zunehmende Bedeutung des Internet für das Erinnern spricht vor allem die Möglichkeit, und in diesem Falle sogar Notwendigkeit, der medialen Aufarbeitung und Speicherung von Zeitzeugenaussagen und Lebensgeschichten. Diese werden durch einen dynamischen Prozess allgemein zugänglich und virtuell erinnerbar. Die Eigenschaften, die das Internet zu einem solchen leistungsfähigen Speichermedium machen, sorgen bei manchen Kritikern jedoch auch für Befürchtungen, dass die durch die Immaterialität der Daten bedingte Flüch8
Der Auftrag an die Deutsche Nationalbibliothek, alle deutschen Internetseiten zu speichern, verleitete zu dem Kommentar, dass nun Augenblicke archiviert werden. Die Entscheidung über Speichern oder Nicht-Speichern ist eine schwierige Entscheidung, weil man nicht weiß, was für zukünftige Generationen relevant sein wird (vgl. Löbbert 2006, S. 33).
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tigkeit und Dynamik auch negative Auswirkungen auf das tatsächliche Erinnern haben könnte (vgl. Hein 2010). Die Diskussion um die Materialität bzw. Immaterialität der Kommunikation gewinnt gerade in Bezug auf neue Medien wieder an Bedeutung. Ist die Materialität eines Buches noch relativ offensichtlich, wird dies bei neueren Medien diffuser. Das Alltagsverständnis betrachtet das Medium oft als transparenten Mittler, den man im besten Falle gar vergisst und der nur im Rauschen, also einer Fehlfunktion, wahrnehmbar wird. Über die Beschäftigung mit der Sinndimension der Kommunikation wurde die materielle Ebene der Kommunikation fast schon zu einem „blinde[n] Fleck“ (Krämer 2009, S. 74) Sybille Krämer weist auf die Idee der Spur hin, die ein Medium durch seine Materialität als Bote oder Mittler zwangsläufig der Botschaft anhaften lässt und somit für ein Mehr an Bedeutung sorgt (als eigentlich intendiert war). In virtuellen Gemeinschaften stehe hinter der ‚virtual persona‘ immer noch eine ‚real person‘. Man teilt sich quasi mehr auf, als dass man Entkörperlichung erfahre (vgl. Krämer 2002, 2008, 2009). 1.3 Massenkommunikation in historischer Perspektive Mit der Modernisierung des Buchdrucks sind die Grundlagen für die Entstehung eines Massenpublikums geschaffen worden. Allerdings musste sich das Publikum selbst noch konstituieren. McQuail bemerkt hierzu: „The emergence of the mass media audience began mainly with the introduction of the printed book.“ (McQuail 1997, S. 4) Aber erst Ende des 16. Jahrhunderts ist es gerechtfertigt, von einem ‚lesenden Publikum‘ zu sprechen, das Bücher erwirbt, liest und für private Zwecke sammelt. Periodisch erscheinende Presseerzeugnisse nehmen mit Beginn des 17. Jahrhunderts an Bedeutung zu, werden aber infolge einer Kontrolle durch Staat und Kirche in ihren Entfaltungsmöglichkeiten begrenzt. Insbesondere England kann im Zuge einer Öffnung des politischen Raums bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts einen deutlichen Anstieg von politischem Schrifttum verzeichnen, das sich an ein lesendes Publikum richtet. Hinzu kommt ein sich allmählich ausdifferenzierendes Angebot an periodischen Magazinen, die auch Unterhaltungsinteressen bedienen. Der Begriff ‚mass audience‘ erhält jedoch erst im Verlaufe des 19. Jahrhunderts seine eigentliche Bedeutung. Wenngleich Größenangaben hinsichtlich des Publikums bis heute unpräzise geblieben sind, ist es doch die Ausweitung der Angebote einerseits und dessen kontinuierliche Verfügbarkeit andererseits, die das Publikum zu einem stabilen Faktor werden lassen. Die bisherigen Ausführungen zur Entwicklung der Medien sind das Ergebnis einer Betrachtung großer Zeiträume. Notwendigerweise müssen solche Betrachtungen einen hohen Allgemeinheitsgrad annehmen. Jahrhunderte in einen geschichtlichen Überblick zu bringen, kann nicht die Nähe der Beschreibung vermitteln, die
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eine Detailgeschichte einzelner Medien leisten kann. Wenn im Folgenden erneut auf historische Ereignisse Bezug genommen wird, soll dies auch unter Berücksichtigung der Frage geschehen, welche sozialen Großgruppen in welcher Form an den jeweiligen Erweiterungen der Kommunikationsmöglichkeiten partizipiert haben.
Kleine Dinge lösen große Medienrevolutionen aus. Eine These des Philosophen Peter Sloterdijk
„Die Griechen haben ja bekanntlich zu den orientalischen Schriftsystemen, die reine Konsonantenschriften gewesen sind, eine kleine Erfindung hinzugefügt, die aus der historischen Entfernung genauso geringfügig erscheinen könnte wie der Übergang bei Gutenberg zum Druck mit den beweglichen Lettern. Aber die kleinen Dinge sind es, die die großen Medienrevolutionen auslösen. Die Griechen haben den autonom lesbaren Text erfunden, weil man zum ersten Mal - deswegen heißen die Dinge auch Vokale - die Stimme des Autors rekonstruieren kann. Ansonsten braucht man immer einen Vorleser, der sagt, wie der Text gesprochen werden muss [...] Tendenziell ist der europäische Leser also ein autonomer Leser.“ (Burda/Sloterdijk 2010, S. 89)
Das Zeitalter des Buchdrucks nimmt seinen Anfang am Ende des 15. Jahrhunderts. ‚Literacy‘, also die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, wird durch dieses neue Medium nicht zu einem vormals unbekannten Bedürfnis, aber zu einem für immer mehr Menschen erstrebenswerten Ziel. Noch 100 Jahre vor der Modernisierung der Drucktechnik durch Gutenberg konnten selbst manche Könige nicht lesen. Auch die Größe der damaligen Privatbibliotheken, sofern solche überhaupt vorhanden sind, entspricht einem bescheidenen Umfang dessen, was heute nahezu jeder moderne Mensch sein eigen nennen darf. Ein französischer Bischof soll im 14. Jahrhundert eine große Bibliothek besessen haben - sie umfasste 76 Bücher (vgl. Fang 1997, S. 25). Eine rückblickende Betrachtung muss zu dem Ergebnis kommen, dass viele Entwicklungen parallel verlaufen und sich gegenseitig begünstigen. Burke bemerkt hierzu: „As the paper mills spread, so too did the spirit of religious reform.“ (Burke 1995, S. 87) Und weiter heißt es: „As the price of paper continued to fall, the development of eye-glasses intensified the pressure for literacy. Glasses had first appeared in the early fourteenth century, and a hundred years later they were generally available. Their use lengthened the working life of copyist and reader alike. Demand for texts increased.“ (Burke 1995, S. 88)
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Starke Premiere in Straßburg Johann Carolus - Der Mann, der die erste Zeitung der Welt gründete „[Johann Carolus] [...] trägt eine scheinbar simple Idee mit sich herum, volle 150 Jahre nach Gutenbergs Mainzer Durchbruch: Nachrichten gedruckt und regelmäßig zu verbreiten. Wie wär es mit dem Rhythmus einer Woche?, fragt sich der Mann, der aus Thüringen stammt und als Buchbinder in Straßburg lebt, einer freien deutschen Reichsstadt. [...] Um diese Geschäftsidee genehmigt zu bekommen, wendet er sich im Oktober 1605 an den Straßburger Rat. Von dem will er zweierlei: das Ja für ‚wochentliche ordinarj avisen’ und die Garantie, dass er als einziger dafür die Lizenz bekommt. Carolus begründet seine Eingabe geschickt. Dennoch sagt der Rat am 21. Dezember 1605 Nein. ‚Sein begeren ist Ime rundt abgeschlagen worden’, bekunden die Akten. Ein Monopol - damit hat er zuviel gefordert. Seine Zeitung, die ‚Relation’, darf er jedoch drucken. Sie erscheint mit vier Seiten in der üblichen Flugschriftengröße. Als Schrift wird meist die Fraktur verwendet. Überschriften wie heute gibt es nicht. Vorangestellt wird nur der Ort, von dem die Nachricht stammt. Die folgende Meldung war spannend genug. Die Straßburger Kundschaft war begierig auf Nutzwertiges aus Handel und Krieg, Kirchenstreit und Prozessen, sie wollte Neues aus Prag und Köln, aus Venedig, Wien und Rom erfahren. Das waren die begehrtesten Nachrichtenplätze, von denen Carolus einmal pro Woche genug Stoff bekam [...]." (Roloff 2005, S. 1)
Eine vorwiegend auf Mündlichkeit beruhende Kultur wird durch das allmähliche Aufkommen von Flugblättern, Pamphleten, Zeitungen und Büchern nicht aus dem Alltag verdrängt. Noch zur Reformationszeit will man hören, nicht lesen (vgl. Scribner 1981, S. 66). Trotz dieser Parallelität von Hören und Lesen wird die Grundlage für eine neue Kulturtechnik geschaffen, die der Entwicklung zur modernen Gesellschaft entscheidende Impulse verleiht. Die Erschließung vormals unbekannter Wissensbereiche - von der Übersetzung der Bibel bis hin zu philosophischer und schöngeistiger Literatur - öffnet die insbesondere im kirchlichen und weltlichen Herrschaftsraum verankerte Informationshierarchie. Zwar bleibt das Mittel der Zensur ein wichtiges Kontrollinstrument, aber diese Beschränkungen können die Entwicklungen in Ökonomie, Wissenschaft und Gesellschaft allenfalls verlangsamen. Dies gilt insbesondere für die Entwicklung des Zeitungswesens. Orientiert man sich an den Kriterien Aktualität (=Gegenwartsbezogenheit), Universalität (=Themenoffenheit), Publizität (=allgemeine Zugänglichkeit) und Periodizität (=regelmäßiges Erscheinen), kann Deutschland als Ursprungsland der Zeitung bezeichnet werden.
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Im Jahr 1609 erscheinen zwei periodische Wochenzeitungen: Aviso in Wolfenbüttel und Relation in Straßburg (vgl. Bucher 1998, S. 730; Wilke 2009 S. 505). Eine besondere Gründungswelle von Zeitungen wurde im 17. Jahrhundert durch lang andauernde kriegerische Ereignisse ausgelöst (vgl. Schultheiß-Heinz 2004, S. 33ff.), die teilweise bereits mehrmals wöchentlich erschienen. Überhaupt waren es die großen Konflikte, die auf Seiten der Bevölkerung die Neugier verstärkten (vgl. auch Wilke 2001a, S. 48). Im 18. Jahrhundert erschienen die Zeitungen zwei- bis dreimal in der Woche, in besonderen Situationen „hielten sie aber mit Sondernummern das Lesepublikum auch schon täglich auf dem Laufenden.“ (Gestrich 2006, S. 23).
Die ‚New York (Daily) Times‘ „[...] Die Zeitungsjungen rufen neben ihren mehr als einem Dutzend Gazetten (von denen nur zwei als halbwegs seriös gelten) noch ein weiteres Blättchen aus, vier Seiten für einen Cent. Vorne darauf Nachrichten aus Europa, auch aus Deutschland – Kriegsgerüchte in Bayern und Skandalöses in Bremen, wo ein Ratsherr und Direktor der Handelsschule 120 000 Taler unterschlagen habe. Des Weiteren Lokales: Die Notiz, dass zwar am Vorabend die Glocke im Sechsten Distrikt geläutet habe, der Zeitung aber kein Hinweis auf ein Feuer vorlägen, und in der Spring Street ein junger Mann von einem Eiswagen überrollt und schwer verletzt worden sei. Über all diesen internationalen und lokalen Novitäten flattert der Name des neuen Blattes: New-York Daily Times. Der Bindestrich und der Hinweis aufs tägliche Erscheinen sollten noch im Laufes des 19. Jahrhunderts verschwinden, das Blatt jedoch blieb. Der 18. September 1851 ist der Geburtstag einer Institution, die heute zu den USA gehört wie das Weiße Haus selbst: der New York Times, einer der besten Zeitungen der Welt.“ (Gerste 2001, S. 96)
Das Aufkommen von Lesemedien erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass eine Vielzahl von Menschen in einem überschaubaren Zeitraum Kommunikationsangebote identischen Inhalts an verschiedenen Orten wahrnehmen kann. McQuail spricht von einer „dispersed reading public“ (1997, S. 4). In erster Linie aber sind es Adel, Klerus und Bürgertum, die sich als dominante Trägerschichten identifizieren lassen. Daneben entwickelt sich die Institution des Vorlesens zu einer bedeutenden Form öffentlicher Lektüre (vgl. Winter/Eckert 1990, S. 33f.). Zeitgenössische Abbildungen illustrieren diese Lesesituation (vgl. Abbildung 1.8). Während das laute Vorlesen insbesondere eine Mitteilungsform für die unteren sozialen Schichten darstellt, entfaltet sich in den oberen Schichten der Gesellschaft zunehmend auch die Praxis des stillen und intimen Lesens in Privatbibliotheken
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oder Salons. Bis die von Fang beschriebene ‚Printing Revolution‘ weite Teile der Bevölkerung erreicht, vergehen dennoch annähernd vier Jahrhunderte. In der Regel sind es Plausibilitätsüberlegungen, die Angaben zur Verbreitung des Schrifttums zugrunde liegen. Bezüglich Luthers Traktaten ist bspw. zu lesen, „[...] daß sie in einer Größenordnung von mehreren Zehntausenden verbreitet waren. Wer kaufte und las sie? Konnten sie überhaupt von einer größeren Bevölkerungszahl gelesen werden? Genaue Zahlen sind nicht überliefert. Die Fähigkeit zu lesen, also nicht nur das mühsame und umständliche Buchstabieren, war nicht einmal in Städten oder wirtschaftlich gut gestellten Regionen stark verbreitet. Die Forschung rechnet für Mitteleuropa mit einem Durchschnittswert von höchstens 2 bis 3 Prozent; in großen Städten dürfte die Zahl gelegentlich auch einmal 25 Prozent leicht überschritten haben.“ (Sösemann 1995, S. 73f.) Noch um das Jahr 1800 wurde die Lesefähigkeit der Bevölkerung in Deutschland im optimistischen Falle auf 40%, im pessimistischen Falle auf 25% geschätzt. Im Jahr 1840 konnte etwa jeder zweite erwachsene Deutsche lesen und schreiben (vgl. Schulze 1996, S. 101). Zunächst konzentriert sich die Expansion des Lesens somit auf das Bürgertum. Diesen Prozess hat Engelsing als Leserevolution bezeichnet. Parallel dazu nimmt auch das Leseangebot zu, so dass sich ein Übergang von einer intensiven Wiederholungslektüre zu einer extensiven Novitätenlektüre abzeichnet (vgl. Engelsing 1974, insb. S. 187ff.). Abbildung 1.8
Lautes Vorlesen in der frühen Neuzeit
Quelle: Manguel 1998, S. 132
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Die Zunahme von Lesegesellschaften, die die private Aneignung unterschiedlicher Lektüre zumindest in einem halböffentlichen Raum stattfinden lässt, wirkt sich im Zeitalter der Aufklärung positiv auf die Entstehung einer politischen Öffentlichkeit aus, die Diskussionen und Erörterungen aus dem privaten Innenraum herausträgt (vgl. Koselleck 1973, insb. S. 141ff.)9. Ebenso nimmt die Zahl der Buchhandlungen zu, eine Entwicklung, die sich zunächst in größeren Städten vollzieht: In Berlin zählte man im Jahr 1831 80 Buchhandlungen, 24 Jahre später 195. Als Folge der noch strengen Zensurverordnungen konzentriert sich das Buchangebot zwar vorwiegend auf unpolitische Sachliteratur und Belletristik, das Wechselverhältnis von Lesefähigkeit und Lesebereitschaft schafft gleichwohl die Voraussetzungen für einen expandierenden Markt (vgl. Schulze 1996, S. 100). Insgesamt lässt sich das Zeitalter des Buchdrucks als ein eher langsames Zeitalter bezeichnen. Das ‚Tempo des Lebens‘, von dem Georg Simmel (1858-1918) in einem anderen Zusammenhang gesprochen hat (vgl. Simmel 1897), wird noch nicht durch das Tempo der Kommunikation beeinflusst. Bereits vor der Industrialisierung hat es zahlreiche Versuche gegeben, die im weitesten Sinne der Fern- bzw. Telekommunikation zugeordnet werden können. Aber erst im 19. Jahrhundert gelingen die entscheidenden Entwicklungen, die letztlich zum Aufkommen eines Mediums führen, das Bild und Ton vereinen und über weite Distanzen transportieren kann. Es sind zunächst kleine Demonstrationen, die Aufsehen erregen und die Menschen in Erstaunen versetzen. Öffentliche Vorführungen des Cooke-Telegrafen vermittelten bspw. einen Eindruck von der Faszination, die die Vorausschau eines weltumspannenden Systems hervorrief (vgl. Flichy 1994, S. 70).
Der Telegraf „Bevor es den Telegrafen gab. erfolgte der Konsum von Nachrichten hochunterschiedlich (sic!), je nach der geographischen Position des Abnehmers. 1830 betrug die durchschnittliche Zeit, in der man etwas aus New York erfuhr, in den Vereinigten Staaten 14 Tage. In manchen Gegenden dauerte es dabei aber 42 Tage. Schon 1857 war die Durchschnittszeit auf dreieinhalb Tage reduziert worden und der Extremwert auf sechs Tage. Der Telegraf machte daraus dann eine einzige Zeitzone mit einem viertel Tag an Übermittlungsdauer. Die Medientechnik brachte insofern Gleichzeitigkeit des Weltbewusstseins hervor. [...] Julius Reuter begann mit Tauben, die zwischen Aachen und Brüssel hin und her flogen. Nach 1840 kam dann der elektrische Telegraf auf, der die Kosten der Informationsübermittlung stark 9
Siehe hierzu insbesondere die Ausführungen in Kapitel 9.
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senkte. Zwischen 1866 und 1882 fiel der durchschnittliche Preis pro durchs Kabel gesendete Nachricht jährlich um mehr als 17 Prozent. Kostete ein telegrafiertes Wort 1858 in heutiger Kaufkraft noch 217 Dollar, so waren es 1888 nur noch 4,7 Dollar.“ (Kaube 2008, S. 72)
Der Telegraf ermöglicht nicht nur eine Punkt-zu-Punkt-Kommunikation, sondern erweist sich über den geschäftlichen Bereich hinaus als ein frühes Medium politischer Kommunikation, das bspw. in Londoner Clubs eingesetzt wird.10 Die Möglichkeit der Informationsübermittlung über größere Distanzen wird durch die Erfindung des Telefons erleichtert und erschließt allmählich Verwendungsmöglichkeiten, die ebenfalls über den politischen und beruflichen Kontext hinausgehen. Die Skepsis gegenüber einem Medium, das sich unaufgefordert zwischen andere Alltagsgeschäfte drängte und auch die Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit missachtete (invasives Medium), wich allmählich pragmatischen Überlegungen, aus einem „scientific toy“ (Casson 1910, S. 42) wurde ein Geschäfts- und Massenmedium. Die Raumüberwindung mit Hilfe der neuen Übertragungstechnik verändert auch das ‚Gesicht‘ der Zeitung. Die Nachrichtenbeschaffung wird professionalisiert und findet in Nachrichtenagenturen und Korrespondentenbüros ihren Niederschlag (vgl. Bucher 1998, S. 733). Die Weiterentwicklung von Fotografie und Drucktechnik steigert den Einsatz von Illustrationen und anderen grafischen Elementen. Davon profitiert unter anderem die Werbung, später verändert sich ebenso das Erscheinungsbild der Zeitungen. Nach Boorstin fand hier eine ‚graphische Revolution‘ statt, die einen neuen Fokus auf das Sehen allgemein setzte und mit der Flut der Bilder auch das Denken in Leitbildern statt in Idealen förderte (vgl. Boorstin 1964). Ebenso ebnet die drahtlose Telegrafie den Weg zum heutigen Rundfunk. Menschen versammeln sich an öffentlichen Orten (Gaststätten, Theater) und verfolgen unter Zuhilfenahme einer technischen Apparatur Sendungen, die an einem anderen Ort ihren Ursprung haben (vgl. Abbildung 1.9). Die zunächst noch radioähnliche Nutzung des Telefons wird schließlich zum Vorläufer der späteren ‚Broadcasting‘Systeme11. Bereits im Jahr 1912 stellt der Schriftsteller Francis Collins in seinem Roman ‚Wireless Man’ fest: „Eine über ganz Amerika verstreute Hörerschaft von Hunderttausend Jungs kann allabendlich mit der drahtlosen Telegrafie erreicht werden. Das ist ohne Zweifel die größte Hörerschaft der Welt. Kein Football- oder Baseballpublikum, kein Kongreß, keine Konferenz kann sich mit ihr vergleichen.“ (zitiert nach Flichy 1994, S. 183)
10
Bereits 1857 hat sich Karl Knies in seinem Werk ‚Der Telegraph als Verkehrsmittel‘ intensiv mit dem neuen Medium beschäftigt und einige wichtige Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts vorweggenommen. Knies sieht vom Telegrafen einen Zwang zur friedlichen Zusammenarbeit der Völker ausgehen. Selbst die Idee des ‚globalen Dorfes‘ ist in Knies’ Arbeit bereits angelegt (vgl. Knies 1996 [zuerst 1857]). 11 Das Wort ‚broadcasting‘ umschreibt ursprünglich das Auswerfen von Saatgut.
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54 Abbildung 1.9
Rundfunkempfang am Ende des 19. Jahrhunderts
Quelle: Flichy 1994, S. 252 Einen weiteren Meilenstein der Medienentwicklung repräsentieren die Erfindung von Fotografie und Film. Insbesondere der Kinematograf zieht aufgrund seiner Popularisierung im Rahmen von Jahrmarktvorstellungen die öffentliche Kritik auf sich und muss eine Kontrastierung mit den Theatersälen des Bürgertums erdulden. Während dort Schweigen oberstes Gebot sein sollte, gilt für diese Art von Vorstellungen in den Anfängen gerade das Gegenteil. Man sucht nach Möglichkeiten, den fehlenden Ton zu ersetzen: „In den Räumen, in denen Filmisches zur Vorführung kam, war es nie still, auch nicht hinsichtlich des inszenatorischen Angebots. Die Herstellung wie die technische Reproduktion von Geräuschen, von Musik und Sprache ist essentieller Bestandteil des filmischen Diskurses über seine gesamte historische Ausdehnung, weshalb auch die Bezeichnung audiovisueller Diskurs treffender ist. Von Daguerres Mont Blanc-Diorama aus dem Jahr 1831, bei dem während der Vorführung eine leibhaftige Ziege meckerte, Alphörner erklangen und ein Chor Schweizer Volkslieder sang, über die reichhaltigen akustischen Inszenierungen der Laterna Magica-Shows, für die sich erste spezialisierte Geräuscheerzeuger herausbildeten, bis hin zu den Rezitatoren und Erzählern vor wie hinter der Leinwand und dem synchronen Einsatz von Sprech- und Musikmaschinen gab sich die Präsentation von
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Bewegungsillusionen laut und tönend, auch lange vor der Implementierung des Synchrontons im Sprechfilm Ende der zwanziger Jahre.“ (Zielinski 1989, S. 29f.) Aber auch das Publikum unterhält sich, man lacht, es ist eine Vergnügungsstätte, die Züge eines Jahrmarkts trägt; das Kino findet dort zunächst seine vorwiegende Heimstatt und bleibt zunächst eine „Domäne der kleinen Leute“ (Flichy 1994, S. 253). Die Einführung des Tonfilms lässt dagegen konkurrierende Seherinteressen aufeinander treffen. Diejenigen, die die Verbindung von Wort und Bild genießen wollen, empfinden die Äußerungen des bisherigen Publikums als störend. Eine Konsequenz dieser Entwicklung wurde sehr anschaulich wie folgt beschrieben: „Das tönende Publikum der Stummfilme wurde zum stummen Publikum des Tonfilms.“ (zitiert nach Flichy 1994, S. 255) Obwohl auch das Zeitalter des Buchdrucks nicht frei von Befürchtungen über die negative Konsequenz des Lesens war (z. B. der Vorwurf einer Irritation des Geistes), ist es doch insbesondere der Film und die Art und Weise seiner öffentlichen Präsentation, die immer häufiger Anlass zu diffusen und weitreichenden Wirkungsvorstellungen gibt. Die dunklen Vorführungsräume, das enge Beieinandersein einer Vielzahl fremder Menschen und die Oberflächlichkeit der Inhalte sind Hauptanlass der Kritik. Von einer systematischen Erforschung dieser Wirkungsvorstellungen kann aber nicht gesprochen werden. Es dominiert eher das moralische Urteil. Das wissenschaftliche Interesse an den Folgen dieser unterschiedlichen Medienpräsentationen erwacht zunehmend und versucht, die zunächst noch disparaten Befunde und Befürchtungen aus verschiedenen Disziplinen zusammenzutragen. Für die Vereinigten Staaten sind hier exemplarisch die sogenannten ‚Payne Fund Studies‘ (vgl. hierzu Lowery/DeFleur 1995, S. 21ff.) zu nennen. Bereits diese frühen Studien verwenden das damals in Ansätzen zur Verfügung stehende methodische Instrumentarium: Experimente, Inhaltsanalysen, Umfragen, Feldexperimente und Einzelfallstudien. Nach Auffassung von Lowery und DeFleur gelingt mit der Durchführung der ‚Payne Fund Studies‘ die Etablierung der Medienforschung als seriöses und ernstzunehmendes wissenschaftliches Gebiet. Im Mittelpunkt der Untersuchungen stand die Frage, welchen Einfluss das Kino auf die Einstellungen und Verhaltensweisen junger Menschen hat. Die Tageszeitung ist in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts noch ein Erwachsenenmedium, der Hörfunk befindet sich noch in seiner Pionierphase, aber das Kino konstituiert erstmals ein Publikum, das zur gleichen Zeit am gleichen Ort bestimmte Inhalte mal mit Faszination, mal mit Schrecken oder Erstaunen wahrnimmt. Eine Imitation der Kinohelden wird ebenso festgestellt wie die nachhaltige Wirkung bestimmter Bilder oder Szenen, die emotionale Überreaktionen hervorrufen. In Ergänzung zur Dokumentation dieser kurzfristigen Effekte wird auch über langfristige Wirkungen solcher Medienangebote nachgedacht. Man erwartet, dass die Filmangebote einen Einfluss auf die Vorstellungen, die sich Menschen von der sozialen Wirklichkeit machen, haben werden, die zugleich einen veränderten Blick auf bisherige Formen der Lebensführung mit
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sich bringen können (vgl. die Zusammenfassung bei Lowery/DeFleur 1995, S. 39ff.). 1.4 Beginn und Aufstieg der Massenkommunikationsforschung Spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts erwacht das wissenschaftliche Interesse an der Bedeutung der Medien. Erste Versuche, die eher disparaten Befunde aus verschiedenen Disziplinen zusammenzutragen, beginnen. Für die amerikanische Soziologie hatten dies Small und Vincent bereits 1894 in einem ersten Einführungsbuch getan, das auch ein Kapitel zum „communicating apparatus“ enthielt und die Bedeutung von neuen Kommunikationsströmen für die gesellschaftliche Entwicklung behandelte (vgl. Small/Vincent 1894). Ende der 1920er Jahre widmete sich insbesondere die sogenannte Chicago School dem Zusammenhang von Medien und Gesellschaft (vgl. den Überblick bei Jäckel/Grund 2005), Ende der 1940er Jahre konnte bspw. Wirth feststellen: „Mass communication is rapidly becoming, if it is not already, the main framework of the web of social life.“ (1948, S. 10) Längst hatte sich das Spektrum der Themen über den Bereich der gedruckten Medien ausgedehnt. Dennoch erfuhr auch das Zeitungswesen über lange Zeit eine vorwiegend moralisch-kritische Kommentierung, weniger eine profunde wissenschaftliche Beobachtung. Lowery und DeFleur sprechen für die Vereinigten Staaten von „widely held beliefs about the horrors of newspaper influence current during the late nineteenth century.“ (Lowery/DeFleur 1995, S. 41) Vertraut man den Beobachtungen des amerikanischen Publizisten Walter Lippmann (1889-1974), so war für Sozialwissenschaftler die Arbeitsweise der Presse noch nach dem Ersten Weltkrieg (die Analyse erschien im Jahr 1922) kein Thema (siehe den Beispieltext). In seiner ‚Natural History of the Newspaper‘ schrieb Park im Jahr 1923: „Offensichtlich ist die Zeitung eine Institution, die noch nicht ganz verstanden worden ist.“ (2001 [zuerst 1923], S. 283)
Das wissenschaftliche Interesse am Zeitungswesen in den USA „So tief wurzelt die Tradition, daß noch bis vor kurzem Politische Wissenschaft in unseren Seminaren gelehrt wurde, als existierten Zeitungen überhaupt nicht. Ich denke dabei nicht an Journalistenschulen, denn das sind Berufsschulen mit dem Ziel, Männer und Frauen auf ihre Laufbahn vorzubereiten. Ich denke vielmehr an die Politische Wissenschaft, wie sie zukünftigen Geschäftsleuten, Rechtsanwälten, Beamten und Bürgern im allgemeinen dargestellt wird. In dieser Wissenschaft haben das Studium der Presse
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und der Quellen öffentlicher Informationen keinen Platz gefunden. Das ist allerdings ein merkwürdiger Tatbestand. Für jemanden, der nicht in die Routineinteressen der Politischen Wissenschaft verstrickt ist, erscheint es beinahe unerklärlich, daß kein amerikanischer Soziologe jemals ein Buch über das Einholen von Nachrichten geschrieben hat. Gelegentlich liest man Hinweise auf die Presse und die Feststellung, sie sei nicht ‚frei’ und ‚wahrhaftig’ oder sie solle das sein. Aber ich kann sonst fast nichts darüber finden. Diese Geringschätzung der Fachleute findet ihr Gegenstück in den öffentlichen Meinungen. Es wird allgemein zugegeben, daß die Presse das Hauptkontaktmittel zur ungesehenen Umwelt ist. Und praktisch überall wird die Meinung vertreten, daß die Presse spontan für uns das tun sollte, was die primitive Demokratie von jedem von uns erwartete, nämlich daß wir es spontan für uns selbst tun könnten: Sie soll uns täglich und sogar zweimal am Tag ein getreues Bild der ganzen äußeren Welt entwerfen, für die wir uns interessieren.“ (Lippmann 1990 [zuerst 1922], S. 219)
Nur fünf Jahre später erscheint eine deutschsprachige Analyse des amerikanischen Journalismus von Emil Dovifat. Die im Jahr 1927 erschienene Abhandlung ‚Der amerikanische Journalismus‘ ist nach Auffassung von Ruß-Mohl und Sösemann ein noch heute lesenswertes historisches Dokument, in dem sich viele Aspekte des modernen Journalismus widerspiegeln. Die von Dovifat verarbeitete Literatur zeigt im übrigen, dass auch schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Vielzahl von Veröffentlichungen über Journalismus und Zeitungswesen in den Vereinigten Staaten vorlag (vgl. Dovifat 1990 [zuerst 1927]; Ruß-Mohl/Sösemann 1990, S. IXff.) Nachrichtenwert-Kriterien spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Wenige Jahre später erscheint eine Arbeit von Warren, die sich mit Formen des ‚modern news reporting‘ in den Vereinigten Staaten auseinandersetzt (vgl. Warren 1934). Aber auch in Deutschland erwacht das wissenschaftliche Interesse an der Bedeutung der Medien bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Exemplarisch kann hier auf den deutschen Soziologen Max Weber (1864-1920) verwiesen werden, der bereits ein Jahr nach Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (1909) Überlegungen zu einer Soziologie des Zeitungswesens präsentiert. Darin heißt es unter anderem: „Das erste Thema, welches die Gesellschaft als geeignet zu einer rein wissenschaftlichen Behandlung befunden hat, ist eine Soziologie des Zeitungswesens.“ (Weber 1911, S. 42) Die von Weber vorgelegte Forschungsskizze, die aus vielerlei Gründen nicht realisiert werden konnte (vgl. Weischenberg 2010; Lepsius 2011), enthält eine Vielzahl von Fragestellungen (Kriterien der Nachrichtenauswahl, Machtverhältnisse, finanzielle Lage von Presseunternehmen, soziale Herkunft und Selbstverständnis der Journalisten usw.), die noch heute aktuell sind. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf eine Passage, die bereits Gewöhnungseffekte der Informationsaufnahme problematisiert: „Man hat ja bekanntlich direkt versucht, die Wirkung des Zeitungswesens auf das Gehirn zu untersu-
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chen, die Frage, was die Konsequenzen des Umstandes sind, daß der moderne Mensch sich daran gewöhnt hat, ehe er an seine Tagesarbeit geht, ein Ragout zu sich zu nehmen, welches ihm eine Art von Chassieren durch alle Gebiete des Kulturlebens, von der Politik angefangen bis zum Theater, und allen möglichen anderen Dingen, aufzwingt. Daß das nicht gleichgültig ist, das liegt auf der Hand. Es läßt sich auch sehr wohl und leicht einiges Allgemeine darüber sagen, inwieweit sich das mit gewissen anderen Einflüssen zusammenfügt, denen der moderne Mensch ausgesetzt ist. Aber so ganz einfach ist das Problem doch nicht über die allereinfachsten Stadien hinauszubringen.“ (Weber 1911, S.50f.) Dieser Projektentwurf ist er ein weiteres Indiz für das wachsende Interesse an Fragestellungen, die heute unter dem Oberbegriff Medienwirkungsforschung behandelt werden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erhält diese Disziplin allmählich erste Konturen. Erst die zunehmende Präsenz der Massenmedien im Alltag führt somit zu einer wachsenden Problemsicht auf diesen Teil der sozialen Wirklichkeit. Das Kino schafft erstmals ein Massenpublikum in dem Sinne, dass identische Inhalte von einer Vielzahl von Menschen unter vergleichbaren Bedingungen wahrgenommen werden. Presse, Buch, Hörfunk und Kino bleiben bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts die dominierenden Medien, und die frühe Wirkungsforschung ist dementsprechend an diesen Medien orientiert. Der Hinweis auf die Bedeutung der Medien für die Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit muss gleichwohl für die Frühphase der Medienwirkungsforschung um einen zentralen Aspekt ergänzt werden: Das Interesse an diesen Fragestellungen bleibt keine ausschließliche Angelegenheit der Wissenschaft. Kenntnisse über die Wirkung von Kommunikationsangeboten erwecken die Neugier von Politik und Wirtschaft. Getragen von der Erwartung gezielter Beeinflussungsmöglichkeiten wird Zeit und Geld in ‚Reiz-Reaktions‘-Experimente investiert. Die Konsumgüterindustrie sucht bspw. nach Möglichkeiten, wie ein Publikum mit Hilfe der Medien vom Wert eines Produkts überzeugt oder für bestimmte Interessen gewonnen werden kann. Diese Entwicklung lässt sich zunächst am deutlichsten in den Vereinigten Staaten beobachten, da sich dort sehr rasch eine Verschmelzung von Medien- und Konsumgüterindustrie abzeichnet (vgl. hierzu Prokop 1995, S. 75ff.). Das zunächst im Hörfunk beheimatete Genre ‚Daily Soap Opera‘ verdeutlicht diese Verschmelzung bereits in der Namensgebung. Das amerikanische Unternehmen Procter&Gamble zählt zu den ersten Firmen, die in den 30er Jahren den Hörfunk als Werbemedium nutzen. Der Waschmittel- und Speiseölhersteller sponserte im Jahr 1939 ca. 22 Serien (vgl. Buchman 1984). Während sich der Hörfunk auf diesem Weg zu einem Unterhaltungs- und Ratgebermedium entwickelt, erobert das Kino mit seinen Angeboten insbesondere die amerikanische Mittelschicht und wird zu einem wichtigen Spiegelbild der amerikanischen Gesellschaft.
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Aus der frühen Dominanz dieser kommerziellen Interessen resultiert zwar eine Vorliebe für die Persuasionsforschung. Aber im Sog und im Schatten dieser Entwicklung kann sich auch Forschung etablieren, die sich um eine wissenschaftliche Grundlegung des Phänomens ‚Massenkommunikation‘ bemüht. Gleichwohl bedurfte es dazu auch in den USA eines langen Prozesses der Emanzipation, der sich über den Weg der theoretischen Originalität und der Verfeinerung methodischer Entwicklungen vollzog. Diese Feststellung lässt sich an einer Vielzahl von Forschungstraditionen nachvollziehen, die in den nachfolgenden Kapiteln dargestellt werden. Dabei sind es in der Pionierphase der Medienwirkungsforschung einzelne Studien, die aufgrund ihrer Besonderheit Anlass dazu geben, deren Fragestellungen weiterzuverfolgen und zu systematisieren: Einzelstudien geben die Initialzündung für langfristige Forschungsprogramme. An die Stelle einer nicht immer wertfreien Forschung, in der die „critical claims“ (Lowery/DeFleur 1995, S. 14) dominieren, treten also allmählich systematischere Untersuchungen der Wirkung von Massenmedien. Überhaupt ist der Aufstieg der Medienwirkungsforschung ein Teil der allgemeinen Entwicklung der Sozial- und Verhaltenswissenschaften. Insbesondere in den Vereinigten Staaten hat sich der Siegeszug der Empirie als vorteilhaft für diesen Bereich der Forschung erwiesen. Während sich die Faszination für empirisches Arbeiten in Europa etwas zögerlicher entwickelt, wird sie in den Vereinigten Staaten auch unter pragmatischen Gesichtspunkten ein wesentlicher ‚Motor‘ der akademischen und außerakademischen Forschung. Im Zuge dessen registriert diese Forschung auch eine Verschiebung des Verhältnisses öffentlicher und privater Mediennutzung. Das folgende Beispiel stammt zwar aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ist aber nichtsdestotrotz eine gute Veranschaulichung dieses Wandels. Als Elihu Katz und Hadassah Haas eine Wiederholung der berühmten Israel-Studie12 durchführten, erhielten sie für die Interpretation ihrer Daten die folgende Hilfestellung: „Der Sohn von Hadassah Haas, ein 18jähriger Mann, [...] schaute seiner Mutter über die Schulter, betrachtete den Berg von Daten, die wir gesammelt hatten, und sagte sehr schnell: ‚Ich sage dir, welche Veränderungen du zwischen 1970 und 1990 festgestellt hast. 1970 aßen die Leute zu Hause und gingen aus, um sich einen Film im Kino anzusehen. Heute schauen sie sich den Film zu Hause an und gehen essen.‘“ (Katz/Haas 1995, S. 199f.) Auch hier gilt selbstverständlich, dass es – erinnert sei an das unter Punkt 1.1 dargestellte Modell von Merrill und Lowenstein – von Land zu Land mehr oder weniger zutreffen kann. Dennoch: Die Mediennutzung verlagert sich im Zuge einer verbesserten Ausstattung der Privathaushalte zunehmend in den privaten Bereich. Zugleich werden in der Öffentlichkeit Erscheinungsformen beobachtet, die aufgrund ihrer Ungewöhn12
Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 3.
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lichkeit einer Institution zugeschrieben werden, die ebenfalls als neu empfunden wird.
Qualm im Film „In Hollywood-Filmen wird gequalmt wie seit 50 Jahren nicht, so Professor Stanton A. Glantz von der University of California. Demnach sind ‚Rauchvorfälle’ in Kinofilmen dramatisch gestiegen. Für 2003 zählte er pro Filmstunde zwölf Zigarettenzüge, Nahaufnahmen von Aschenbechern oder andere Hinweise auf Tabakkonsum. 1950 waren es noch 10,7, Im Jahr 1980 sogar nur 4,9 ‚Vorfälle’. Obwohl der Zigarettenkonsum der Amerikaner laut Glantz seit den 50er Jahren um die Hälfte gesunken sei, zeigt er sich besorgt: ‚Dieses Comeback hat ernsthafte gesundheitliche Auswirkungen, weil es Jugendliche zum Rauchen anregt’. Gestützt wird er von Untersuchungen des US-Gesundheitsministeriums. Jugendliche haben danach eine deutlich positivere Einstellung zum Rauchen, wenn ihre Stars qualmen.“ (N.N. 19.5.2004, S. 24)
Unkonventionelle Verhaltensweisen nehmen zu (z. B. das Rauchen von Frauen in der Öffentlichkeit), die Nahwelt der Menschen wird mit vormals kaum bekannten Lebensstilen konfrontiert usw. So macht auch Brumberg (1994) darauf aufmerksam, dass mit dem Aufkommen der Modeindustrie und der Modefotografie die Modelle immer schlanker wurden und allgemein im Laufe des letzten Jahrhunderts gerade junge Frauen, die in den 40er Jahren in den USA als Zielgruppe für Diätliteratur entdeckt wurden, vermehrt mit einem immer dünner werdenden Schönheitsideal konfrontiert wurden. Die Vermutung, dass diese Veränderungen auch mit den Angeboten der Massenmedien in Verbindung zu bringen sind, wird daher vermehrt artikuliert und analysiert.
Fang, Irving (1997): A History of Mass Communication: Six Information Revolutions. Boston usw. Flichy, Patrice (1994): Tele. Geschichte der modernen Kommunikation. [Aus d. Franz.]. Frankfurt am Main, New York. Prokop, Dieter (2001): Der Kampf um die Medien. Das Geschichtsbuch der neuen kritischen Medienforschung. Hamburg. Stöber, Rudolf (2003): Mediengeschichte, Band 1: Presse - Telekommunikation. Wiesbaden (Studienbücher zur Kommunikations- und Medienwissenschaft).
2 Kommunikation, Massenkommunikation, Wirkung. Ein erster Überblick
2.1 Interaktion, Kommunikation, Massenkommunikation Eine Verständigung über Begriffe und deren Bedeutung ist eine der Grundaufgaben jeder wissenschaftlichen Disziplin. Ob es wirklich Nachlässigkeit war, die dem Begriff ‚Massenkommunikation‘ zum Erfolg verhalf, ist spekulativ. Häufig sind es eben auch die Grenzen der Sprache, die zu Folgefragen Anlass geben und unglückliche Wortschöpfungen über Jahrzehnte begleiten. Bevor der Begriff und die mit ihm einhergehenden Konnotationen näher erläutert werden, soll die Pyramide der Kommunikation von McQuail die zentrale Bedeutung dieses Kommunikationsphänomens veranschaulichen (vgl. Abbildung 2.1). Am Fuß der Pyramide ist die intrapersonale Kommunikation angesiedelt. Hier geht es ausschließlich um Informationsverarbeitungsvorgänge, die im menschlichen Bewusstsein verankert sind. Es handelt sich sowohl um Vorgänge, die im Vorfeld von Kommunikation stattfinden (Denken, Handlungsplanung), als auch um Aktivitäten, die sich im Zuge der interpersonalen Kommunikation als parallel laufende Prozesse der Wahrnehmung und Bewertung ergeben. Dieses Kommunikationsphänomen ist individuell und beschreibt die Basis, auf der alle Formen gegenseitiger Orientierung von Menschen aufbauen. Die darüber liegende Stufe wird von der interpersonalen Kommunikation repräsentiert. Dieses Phänomen wird von McQuail an dyadische Beziehungen gekoppelt. Es geht somit in erster Linie um Gespräche zwischen zwei Personen, die in der Regel auch physisch anwesend sind: Freunde, Paare etc. Die Notwendigkeit eines Gegenübers erklärt, warum dieses Kommunikationsphänomen in quantitativer Hinsicht seltener zu beobachten ist als die Selbstreflexion. Auf dem Weg zur Spitze der Pyramide folgt die Intragruppenkommunikation, eine Kategorie, die im Gesamtkontext dieses Modells am wenigsten trennscharf erscheint. McQuail bestimmt diese Form der Kommunikation über Gruppengrenzen und nennt beispielhaft die Familie. Da jede Intragruppenkommunikation letztlich auf einer Vielzahl interpersonaler Kommunikationen beruht, ist diese Abstufung nur vor dem Hintergrund des zugrundegelegten formalen Merkmals nachvollziehbar. Dennoch dürfte zutreffend sein, dass interpersonale Kommunikation, die nicht an bestimmte Gruppenzugehörigkeiten gebunden ist, das häufigere Phänomen darstellt. Vor diesem Hintergrund wird auch die nächste Stufe in der Pyramide der Kommunikation von McQuail verständlich. Hier wird als Abgrenzungskriterium entweder ein geografischer oder ein Mitgliedschaftsaspekt benannt: Zugehörigkeit zu einer Gemeinde oder Zugehörigkeit zu einer Sekundärgruppe (z. B. Verein, Verband). Es
M. Jäckel, Medienwirkungen, DOI 10.1007/978-3-531-93191-3_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Kommunikation, Massenkommunikation, Wirkung. Ein erster Überblick
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folgen Institutionen und Organisationen, deren Kommunikationstätigkeiten in ihrer Zielgruppenausrichtung und Zweckgebundenheit variieren. McQuail fasst auf dieser Ebene sehr disparate Phänomene zusammen, wenn er sowohl das politische System als auch das Erziehungssystem bzw. das Rechtssystem benennt, gleichzeitig aber auch die Kommunikation von Firmen mit ihren Kunden als eine vergleichbare Variante dieses Typs aufführt. Abbildung 2.1
Die Pyramide der Kommunikation WENIGE FÄLLE
Gesellschaft (z.B. Massenkommunikation)
Ebene des Kommunikations -
Institutionen bzw. Organisationen (z.B. politisches System oder Unternehmen)
prozesses Zwischen Gruppen bzw. Vereinigungen (z.B. Vereine in einer Gemeinde)
Innerhalb von Gruppen (z.B. innerhalb eines Vereins)
Interpersonal
VIELE FÄLLE
(z.B. Zweierbeziehung)
Intrapersonal (z.B. Informationsverarbeitung)
Quelle: In Anlehnung an McQuail 2005, S. 18 Welche Kommunikationsform aber ist in der Lage, Kommunikation zu gewährleisten, die potenziell alle Mitglieder einer Gesellschaft erreichen kann? Die Einlösung dieser Bedingung erfordert nach McQuail ein großes öffentliches Kommunikationsnetzwerk, über das heute alle modernen Gesellschaften verfügen. Gemessen an der dazu erforderlichen technischen Infrastruktur wird nachvollziehbar, warum McQuail dieses Kommunikationsphänomen als selten bezeichnet und nur wenige Fälle (‚few cases‘) erwartet. Bei McQuail heißt es diesbezüglich: „In an integrated modern society there will often be one large public communication network, usually depending on the mass media, which can reach and involve all citizens to varying degrees, although the media system is also usually fragmented according to regional and other social or demographic factors. [...] Alternative (non-mass-media) tech-
Kommunikation, Massenkommunikation, Wirkung. Ein erster Überblick
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nologies for supporting society-wide networks do exist (especially the network of physical transportation, the telecommunication infrastructure and the postal system), but these usually lack the society-wide social elements and public roles which mass communication has. In the past (and in some places still today) society-wide public networks were provided by the church or by political organizations, based on shared beliefs and usually based on a hierarchical chain of contact.“ (McQuail 2005, S. 16f.) Vor dem Hintergrund neuerer technischer Entwicklungen ist diese Einschätzung zwar in Frage gestellt worden13. Für die Aufmerksamkeit, die dem Phänomen Massenkommunikation entgegengebracht wird, bleibt aber das Kriterium entscheidend, dass jede Informationsverbreitung, die diesen Weg beschreiten kann, mit einer hohen Reichweite und Wahrnehmung rechnen kann. Dies ist ein wesentlicher Grund für die Beschäftigung mit Massenkommunikation, der zugleich maßgeblich die Theoriebildung mitbestimmt hat. Massenkommunikation und Massenmedien sind eng miteinander verbunden. Das eine benennt einen Kommunikationsprozess, das andere entsprechende Organisationen, Träger und Technologien. Massenmedien nutzen technische Mittel zur Verbreitung von Kommunikation und erreichen damit einen in der Regel nicht präzise bestimmbaren Adressatenkreis. Ein entscheidendes Merkmal aber liegt in der Struktur dieses Kommunikationsprozesses begründet und wird maßgeblich durch die Differenz zu Face-to-Face-Beziehungen charakterisiert. Entscheidend ist, „[...] daß keine Interaktion unter Anwesenden zwischen Sender und Empfängern stattfinden kann. Interaktion wird durch Zwischenschaltung von Technik ausgeschlossen, und das hat weitreichende Konsequenzen, die uns den Begriff der Massenmedien definieren. Ausnahmen sind möglich (doch nie: mit allen Teilnehmern), wirken aber als inszeniert und werden in den Senderäumen auch so gehandhabt.“ (Luhmann 1996, S. 11) Während bislang der Begriff ‚Kommunikation‘ im Vordergrund stand, wird nunmehr der Begriff ‚Interaktion‘ eingeführt. Insofern ist der Hinweis, dass Interaktion durch die Zwischenschaltung von Technik ausgeschlossen wird, näher zu präzisieren. Interaktion und Kommunikation sind soziologische Grundbegriffe, die einen unterschiedlichen Sachverhalt beschreiben. Interaktion meint im soziologischen Sinne die Wechselbeziehung zwischen Handelnden. Nimmt man eine dyadische Interaktion als Bezugsrahmen, so beschreibt der Begriff den Prozess aufeinander bezogenen Handelns zweier Akteure. Kommunikation hingegen beschreibt die Mittel, derer man sich im Rahmen von Interaktionen bedient. Diese kann im Sinne von Verbindung bzw. Mitteilung nonverbal und/oder verbal geschehen. Gestik, Mimik, Sprache und Schrift dienen der Informationsübermittlung. 13
Siehe hierzu insbesondere die Ausführungen in Kapitel 9 und Kapitel 12.
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Kommunikation, Massenkommunikation, Wirkung. Ein erster Überblick
Wenn von Interaktion gesprochen wird, bedeutet dies somit immer auch Kommunikation. Wenn dagegen von Kommunikation gesprochen wird, muss nicht Interaktion vorliegen. Wenn Person A Person B einen Brief schreibt, findet zeitversetzte Kommunikation ohne Anwesenheit statt. Wenn Moderator A Rezipient B eine Nachricht vorliest, werden Informationen vermittelt, ohne dass Interaktion stattfindet. Dass im letzteren Fall dennoch der Begriff Kommunikation Verwendung findet, ist ein Grund für den eingangs erwähnten Vorwurf der unglücklichen Wortschöpfung. Wenn man zunächst aber das Kriterium der Anwesenheit der Interaktionspartner als Grundvoraussetzung definiert, dann gilt der folgende Sachverhalt: „Interaktion und Kommunikation fallen dann zusammen, wenn die Interaktionspartner anwesend sind, also zugleich auch Kommunikationspartner füreinander sein können.“ (Merten 1977, S. 65) Auch Watzlawick u.a. stellen fest: „Ein wechselseitiger Ablauf von Mitteilungen zwischen zwei oder mehreren Personen wird als Interaktion bezeichnet.“ (1969, S. 50f.) Folgt man diesen Feststellungen, dann wird der Begriff Interaktion an das Vorliegen von Face-to-Face-Beziehungen geknüpft. Um den Begriff auch für Kommunikationsphänomene anwenden zu können, die sich durch Zwischenschaltung von Technik auszeichnen, wurde bereits in den 1950er Jahren der Begriff der parasozialen Interaktion geprägt. Horton und Wohl (1956) haben mit diesem Terminus ursprünglich die Identifikation des Zuschauers mit einer auf dem Bildschirm sichtbaren Figur beschreiben wollen. Bekannt geworden ist hierfür die Bezeichnung ‚Intimität auf Distanz‘. Diese letztlich intrapersonalen Vorgänge suggerieren eine Begegnung von Angesicht zu Angesicht. Im Zuge der Ausweitung audiovisueller Medienangebote ist dieses Konzept aber zu einem konstitutiven Moment von Medienkommunikation deklariert worden (vgl. Mikos 2001, S. 125). Obwohl der ‚Einbahnstraßencharakter‘ der Kommunikation aufrechterhalten bleibt, haben sich sowohl auf Seiten der Medienakteure als auch auf Seiten der Empfänger Formen der Bezugnahme herausgebildet, die der Kompensation einer de facto nicht bestehenden sozialen Beziehung dienen. Obwohl sich Sender und Empfänger in der Regel nicht kennen, werden bspw. Formulierungen gewählt, die Anonymität überbrücken sollen: Nachrichtensprecher beginnen mit ‚Guten Abend, meine Damen und Herren‘, andere wählen ein lockeres ‚Hallo‘ und wählen somit eine scheinbar individuelle Ansprache eines Massenpublikums. Wenn der Moderator einer Live-Sendung das Saalpublikum anspricht, liegt wiederum ein Sonderfall vor: Anwesende kommunizieren miteinander und werden zugleich von Abwesenden beobachtet. Da der Moderator weiß, dass er in dieser Situation von vielen gesehen wird, spricht er in diesem Zusammenhang immer wieder auch das Publikum zu Hause an. Auf Seiten des Publikums tritt an die Stelle einer fehlenden Interaktion ein wechselnder Grad von Eingebundenheit in die präsentierten Medienangebote. Wenn jemand der Aussage ‚Characters have become like close friends to me‘ zustimmt, liegt wahrscheinlich ein hoher Grad an Identifikation mit den Medienpersonen vor. Auch wenn in der
Kommunikation, Massenkommunikation, Wirkung. Ein erster Überblick
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Praxis die Unterscheidung zwischen Interaktion und Kommunikation selten eingehalten wird, macht diese nur Sinn, wenn die Begrenzungen und Unterschiede bedacht werden, die aus Anwesenheit und Abwesenheit der jeweiligen Akteure resultieren. Kornelia Hahn vertritt wiederum die These, dass eine dichotome Unterscheidung zwischen face-to-face und Medienkommunikation weder halt- noch fruchtbar ist. Somit wird auch die Gegenüberstellung von ‚realer‘ Interaktion und durch Medientechnologien unterstützte Kommunikation hinfällig. Nach ihrem Verständnis sind Medienkulturen solche, deren sämtliche Kommunikations- und eben auch Interaktionsprozesse „durch die Erfahrung von neuer Medienkommunikation beeinflusst sind“ (Hahn 2009, S. 14). Für fortgeschrittene Medienkulturen ist eine ‚hybride‘ Kommunikationssituation charakteristisch, also abseits der Dichotomie von face-toface und nach klassischem Verständnis davon abgeleiteter Medienkommunikation. Prägend ist eher eine Koexistenz der verschiedenen Formen. Die Überbrückung räumlicher Distanzen durch Medien ist nämlich nur eine der Funktionen dieser, und keineswegs die primäre. Auch während der Anwesenheit der Akteure können Medientechnologien unterstützend eingesetzt werden, weiterhin finden sie allgemein nicht bloß dann Verwendung, wenn eine direkte Interaktion nicht möglich ist. Sinn kann dank des Doppelaspektes in einer ‚ent-fernten‘ Kommunikation sowohl ‚näher gebracht‘ und so vergegenwärtigt werden oder für eine analytisch orientierte Betrachtung distanziert vergegenwärtigt werden. Eine entscheidende Funktion der Medienkommunikation ist gerade die repräsentative Vergegenwärtigung von abwesendem Sinn. Dass mediale Kommunikation von der Face-to-Face-Kommunikation abgeleitet ist, oder ihr gegenüber defizitär erscheinen müsse, bestreitet Hahn. Die Alltäglichkeit der Medienkommunikation beeinflusst heutzutage sämtliche Kommunikationssituationen. Daraus folgt, dass Medienkommunikation auch eine Auswirkung auf Interaktionssituationen zwischen je anwesenden Akteuren hat, selbst wenn keine Medien verwandt werden, da wir die Situationen immer unter der Erfahrung der medialen Kommunikation betrachten. Die Repräsentation von Sinn durch Medien wird und kann also nicht mehr als defizitär im Vergleich zu Face-to-FaceKommunikation erfasst und wahrgenommen werden. Im Gegenteil stellt die Anwesenheit der Akteure nicht immer die informationsreichste Form der Kommunikation dar und kann nicht mehr als Voraussetzung für optimale Kommunikation verstanden werden, weswegen auch die durch Medientechnologien hergestellte Kommunikation nicht bloß als Nachbildung der ‚realen‘ Interaktion gesehen werden soll. Durch Entfernung kann auch eine „neue Form sozialer Nähe“ (ebenda, S. 366) bei räumlicher Distanz entstehen. Durch die Selbstverständlichkeit der Medienkommunikation können in fortgeschrittenen Medienkulturen selbst face-to-face Situationen nicht mehr hinreichend beschrieben werden, wenn man sie nicht auch unter dem Aspekt der Nicht-Anwesenheit von Medien betrachtet (vgl. Hahn 2009). Kritisch anmerken kann man hier vielleicht, dass man sich nie ganz von allem befreien kann. Im Hin-
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tergrund laufen immer verschiedene Prozesse ab, aus dem „Strom der Erfahrungen“ (Luckmann 1992, S. 3) kann man sich wohl nie gänzlich befreien. Bereits die kurze Diskussion der Begriffe ‚parasoziale Interaktion‘ und der entfernten Kommunikation bei Hahn hat verdeutlicht, dass die Aufgabe des Adressaten von Kommunikationsangeboten nicht auf den passiven Vorgang des Rezipierens begrenzt werden kann. Gleichwohl hat die Massenkommunikation strukturelle Nachteile gegenüber der interpersonalen Kommunikation, wenn Verständigung hergestellt werden soll. Burkart konstatiert in seiner Analyse bspw.: „Erst der wechselseitig(!) stattfindende Prozeß der Bedeutungsvermittlung soll als Kommunikation begriffen werden.“ (Burkart 2002, S. 32f.) Diesem Kriterium kann die Massenkommunikation nicht gerecht werden. Aber selbst Kommunikation, die sich in einem überschaubaren Rahmen vollzieht, kann nicht immer garantieren, dass das Ziel ‚Verständigung‘ erreicht wird. Burkart, der diese Erweiterung vorschlägt, erhöht damit die Relevanz von Kommunikation. Selbstverständlich will man verstanden werden und selten sind Interaktionen, in denen aneinander vorbeigeredet wird, von großer Dauer. Dennoch kann Verständigung keine hinreichende Begründung für das Vorliegen von Kommunikation sein. Wenn bspw. Geheimdienste Informationen verbreiten, geschieht dies gelegentlich mit der Absicht der Täuschung. Wenn die Täuschung gelingt, ist man im intendierten Sinne verstanden worden, aber verständigt hat man sich eigentlich nicht. Watzlawick u.a. haben dieses implizite Problem mit Hilfe des Hinweises auf den Inhalts- und Beziehungsaspekt von Kommunikation veranschaulicht. Der Inhalt von Kommunikationen definiert auch Situationen: „Der Inhaltsaspekt vermittelt die ‚Daten‘, der Beziehungsaspekt weist an, wie diese Daten aufzufassen sind.“ (1969, S. 55) Der am Modell der Face-to-Face-Beziehung orientierte Interaktionsbegriff impliziert die wechselseitige Bezugnahme der Interaktionspartner. Die in diesem Kontext möglichen Reaktionen und Antizipationen kann ein ausschließlich auf räumliche oder raumzeitliche Distanz Bezug nehmendes Kommunikationsmodell nicht angemessen integrieren. Die Reduktion des Kommunikationsverständnisses auf den Vorgang der Übermittlung von Informationen ist daher immer wieder als ein zu anspruchsloses Konzept empfunden worden. Das in der Informationstheorie verankerte Modell von Shannon und Weaver ist in diesem Falle Orientierung und Zielpunkt der Kritik. Die mathematisch-technische Ausrichtung dieses Modells betrachtet Kommunikation als einen linearen und einseitigen Vorgang der möglichst störungsfreien Informationsübermittlung. Das Verfehlen des Verständigungsziels wird hier vorwiegend auf Störquellen technischer Art zurückgeführt, nicht auf inhaltlich begründete Missverständnisse. Eine Informationsquelle formuliert eine Nachricht und überträgt diese mit Hilfe eines Übertragungsmediums (Sender, im engl. ‚transmitter‘) an einen technischen Empfänger, der diese wiederum an den Adressaten weiterleitet (vgl. Abbildung 2.2).
Kommunikation, Massenkommunikation, Wirkung. Ein erster Überblick Abbildung 2.2
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Ein lineares und ein Zirkulationsmodell der Kommunikation
Das 'mathematische' Kommunikationsmodell von Shannon und Weaver Nachricht Informationsquelle
gesendetes Signal
empfangenes Signal
Nachricht
Techn. Empfänger
Sender
Adressat
Störquelle
Das Zirkulationsmodell von Osgood und Schramm
Nachricht
Encoder
Encoder
Interpreter
Interpreter
Decoder
Decoder
Nachricht
Quelle: Weaver 1949, S. 7 und Schramm 1954, S. 8 Abbildung 2.2. enthält darüber hinaus das Zirkulationsmodell von Osgood und Schramm. Dieses Modell orientiert sich an der interpersonalen Kommunikation und kann nur in sehr eingeschränkter Form auf Kommunikationsprozesse übertragen werden, die sich durch ein geringes Maß an Rückkopplung zwischen den beteiligten Akteuren auszeichnen. Deutlich wird hier jedoch auf die inhaltliche Ebene Bezug genommen, indem die Frage der Verständigung auf die Ebene der Entschlüsselung (‚Decoding‘) bezogen wird. Die zusätzliche Betonung einer Interpretation erscheint in diesem Zusammenhang eher redundant, da jeder Vorgang des Entschlüsselns und Verschlüsselns solche Leistungen impliziert. Im Falle von Massenkommunikation aber bleibt jegliche Reaktion der Empfänger zunächst folgenlos für die Struktur einer vermittelten Aussage, weil diese schon im Zuge der Rezeption der Vergangenheit angehört. Die Sender im Bereich der Massenkommunikation reagieren - wenn überhaupt – eher langsam. Um das Modell der zirkulären Kommunikation wenigstens ansatzweise noch für den Typus ‚Massenkommunikation‘ aufrechterhalten zu können, hat Schramm ein erweitertes Modell entwickelt, welches den Vorgang der Entschlüsselung und Verschlüsselung von Aussagen auf der Sender- und Empfängerebene weiter differenziert.
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Kommunikation, Massenkommunikation, Wirkung. Ein erster Überblick
Abbildung 2.3
Das Modell der Massenkommunikation nach Wilbur J. Schramm
ORGANISATION
Encoder
Massenpublikum
Interpreter
Viele Empfänger, jeder entschlüsselt, interpretiert, verschlüsselt
Decoder Viele identische Nachrichten
Jeder ist Teil einer Gruppe in der Nachrichten (re-) interpretiert und handlungsrelevant werden
Feedback
verschiedene Nachrichtenquellen
Quelle: Schramm 1954, S. 21 Das Modell (vgl. Abbildung 2.3) enthält Hinweise auf den mehrstufigen Entstehungsprozess von Aussagen14 (‚Input von ...‘, Verarbeitung von Meldungen in Medienorganisationen) sowie die Illustration des (zeitverzögerten) Effekts einer möglichen Rückkopplung. Die Vorstellung, dass die übertragenen Inhalte zwar von Individuen empfangen, aber in Gruppenzusammenhängen weiter diskutiert und interpretiert werden, verdeutlicht bereits mögliche Effekte von Massenkommunikation. Die Vermittlung mit Hilfe von Medien wird ergänzt durch eine Weitervermittlung in sozialen Kontexten. Medien übernehmen somit zunächst die zentrale Funktion der Vermittlung von Inhalten zwischen einem Sender und einem Empfänger. Pross hat diesbezüglich die Unterscheidung zwischen primären, sekundären und tertiären Medien vorgeschlagen (vgl. Abbildung 2.4). Medien dienen dem Transport von Symbolen. Um primäre Medien wahrnehmen zu können, ist Anwesenheit Voraussetzung. Sekundäre Medien gehen über körpergebundene Medien hinaus und setzen auf der Seite des Senders eine bestimmte Technik oder Apparatur voraus, die der Empfänger nicht besitzen muss. 14
Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 8.
Kommunikation, Massenkommunikation, Wirkung. Ein erster Überblick Abbildung 2.4
Primäre, sekundäre und tertiäre Medien
SENDER
MEDIUM
EMPFÄNGER
primär
sekundär
tertiär
Sprache Mimik Gestik
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Rauchzeichen
Telefon
Flugblätter
Fernschreiber
Zeitungen
Fernsehen
Mikrofon
Neue Medien
Quelle: Eigene Erstellung in Anlehnung an Pross 1972, S. 128ff. Für tertiäre Medien gilt, „daß sowohl die Herstellung und Übertragung der Zeichen als auch ihr Empfang einer technischen Einrichtung bedarf.“ (Hunziker 1996, S. 16) Das Erreichen einer Vielzahl von Menschen ist demzufolge sowohl mit sekundären als auch mit tertiären Medien möglich. Es sind zugleich die Medien, die der Massenkommunikation ihre Form geben. Kubicek hat in Anlehnung an eine Unterscheidung von Joerges und Braun Medien erster und zweiter Ordnung unterschieden. Der Grundgedanke ist hier, die technische Ebene einerseits und die organisatorisch-inhaltliche Ebene andererseits analytisch zu trennen. Die Typologie von Pross ist in diesem Sinne auf der technischen Ebene anzusiedeln. Nach Kubicek sind „Medien erster Ordnung [...] technische Systeme mit bestimmten Funktionen und Potentialen für die Verbreitung von Informationen. Medien zweiter Ordnung sind sozio-kulturelle Institutionen zur Produktion und Verständigung bei der Verbreitung von Information mit Hilfe von Medien erster Ordnung.“ (Kubicek 1997, S. 220)
2.2 Massenkommunikation. Definitionsmerkmale und Herleitung des Begriffs Obwohl seit dem Aufkommen einer Massenpresse (Tageszeitungen) die Möglichkeit fasziniert, eine Vielzahl von Menschen innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums mit Informationen zu erreichen, begann die systematische Auseinandersetzung mit dem
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Kommunikation, Massenkommunikation, Wirkung. Ein erster Überblick
Begriff ‚Massenkommunikation‘ erst in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. Diese verspätete Diskussion begünstigte eine aus heutiger Sicht unrealistische Interpretation des Begriffs. Dass das Aufkommen der sogenannten Massengesellschaft und das Aufkommen von Medien der Massenkommunikation parallel verliefen, beförderte eine sehr negative Auslegung dieses Phänomens. Eine Zerlegung des Begriffs ‚Massenkommunikation‘ in seine Bestandteile, nämlich Masse und Kommunikation, kann verdeutlichen, welche inhaltlichen Probleme aus der Verknüpfung resultierten. Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch haben Begriffe zunächst eine ordnende Funktion. Ein Begriff soll einen Sachverhalt kennzeichnen, der in der außersprachlichen Wirklichkeit vorhanden ist. Häufig bleibt es aber nicht bei dieser neutralen Funktion, weil der Begriff zusätzliche Assoziationen hervorruft. Diese Doppelfunktion von Begriffen wird mit der Unterscheidung Denotation und Konnotation angesprochen. Im Falle des Begriffs ‚Masse‘ sind insbesondere die negativen Konnotationen dominierend. Masse erscheint als ein Aggregat, in dem jegliche Individualität verloren geht. Diese Interpretation resultierte aus einer überwiegend pessimistischen Einschätzung der Folgen von Urbanisierung und Industrialisierung. Das Aufkommen der Massengesellschaft wird als Folge der Auflösung traditioneller Sozialformen beschrieben. An die Stelle von Überschaubarkeit tritt Unüberschaubarkeit, an die Stelle von Gemeinschaft die Zunahme von Isolation, die vormalige Verschmelzung von Wohn- und Arbeitsplatz wird durch eine Zunahme der Arbeitsteilung seltener. Die damit einhergehenden Bindungsverluste der Menschen münden in eine wachsende Entwurzelung und Entfremdung. Diese neuen Anforderungen an die Lebensführung werden als Überforderung erlebt und bedingen eine Zunahme von Desorientierung. W. Russell Neuman hat diese insbesondere zu Beginn des 19. Jahrhunderts auftretenden Entwicklungen in sechs Punkten zusammengefasst (vgl. Neuman 1991, S. 25):
Rückgang der Bedeutung des Familienlebens, Zunahme von Arbeitsbedingungen, die als entfremdend empfunden werden, Abnahme lokaler Verbundenheiten im Zuge einer wachsenden Urbanisierung, Lockerung religiöser Bindungen, nachlassende Bedeutung ethnischer Zugehörigkeiten und Rückgang der Beteiligung an freiwilligen Vereinigungen.
Diese Entwicklungen beschreiben zusammenfassend ein Krisenphänomen der aufkommenden Moderne. Vor diesem Hintergrund wurde den Massenmedien eine besondere Funktion zugeschrieben: „[...] the evolving mass media technologies, including radio and television, become available to provide a new nationally cen-
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tered identity for the isolated and rootless individual who seeks a sense of belonging.“ (Neuman 1991, S. 25) Abbildung 2.5
Radiohören als Gemeinschaftserlebnis in der Familie
Quelle: Entnommen aus Flichy 1994, S. 259 Ein Programmgestalter des BBC-Hörfunks meinte im Jahr 1942: „Der Rundfunk bedeutet eine Wiederentdeckung des ‚Home‘. In einer Zeit, da Heim und Herd wegen vielfältiger außerhäuslicher Interessen und Aktivitäten vernachlässigt werden und die familiären Bande und Gefühlsbindungen folglich zerfallen, könnte das gemeinsame Dach der Familie durch dieses neue Überzeugungsmittel in gewissem Maße seine herkömmliche Bedeutung wiedererlangen [...].“ (zitiert nach Flichy 1994, 258f.) Abbildung 2.5 veranschaulicht diesen Gedanken. Der Begriff ‚Masse‘ impliziert somit zweierlei: Zum einen beschreibt er eine Gesellschaft der Individuen, denen es an Orientierung mangelt, zum anderen eine damit einher gehende Anfälligkeit für Beeinflussungen unterschiedlichster Art. Insbesondere an diesem Punkt setzen viele Abhandlungen zur Massengesellschaft an, bspw. die viel zitierte Arbeit des französischen Arztes Gustave Le Bon (1841-1931). In seinem 1895 erschienenen Buch ‚Psychologie der Massen‘ charakterisiert er das Phänomen aus einer psychologischen Perspektive: „Im gewöhnlichen Wortsinn
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bedeutet Masse eine Vereinigung irgendwelcher einzelner von beliebiger Nationalität, beliebigem Beruf und Geschlecht und beliebigem Anlass der Vereinigung. Vom psychologischen Gesichtspunkt aus bedeutet der Ausdruck ‚Masse‘ etwas ganz anderes. Unter bestimmten Umständen, und nur unter diesen Umständen, besitzt eine Versammlung von Menschen neue, von den Eigenschaften der einzelnen, die diese Gesellschaft bilden, ganz verschiedene Eigentümlichkeiten. Die bewußte Persönlichkeit schwindet, die Gefühle und Gedanken aller einzelnen sind nach derselben Richtung orientiert. Es bildet sich eine Gemeinschaftsseele, die wohl veränderlich, aber von ganz bestimmter Art ist. Die Gesamtheit ist nun das geworden, was ich mangels eines besseren Ausdrucks als organisierte Masse oder, wenn man lieber will, als psychologische Masse bezeichnen werde. Sie bildet ein einziges Wesen und unterliegt dem ‚Gesetz der seelischen Einheit der Massen‘ [...].“ (Le Bon 1895, S. 10) Le Bon beschreibt ein emergentes Phänomen, das aus dem (vorübergehenden) Verlust der Kontrolle über die eigenen Verhaltensdispositionen resultiert: „Das Ungleichartige versinkt im Gleichartigen, und die unbewußten Eigenschaften überwiegen.“ (Le Bon 1895, S. 14) Zugleich ist er der Auffassung, dass diese Vermassung dem Einzelnen Verhaltensweisen gestatte, „die er für sich allein notwendig gezügelt hätte.“ (Le Bon 1895, S. 15)15 Dennoch beharrt Le Bon auf der Vorstellung, dass der Einzelne in der Masse vom Unbewussten beherrscht wird. Insbesondere Theodor Geiger (1891-1952), der in seiner 1926 vorgelegten Analyse ‚Die Masse und ihre Aktion‘ den Zusammenhang von Industrialisierung und Massengesellschaft analysiert hat, wirft Le Bon in dieser Hinsicht Oberflächlichkeit vor. Letztlich behaupte er, dass sich in der Masse die Dummheit akkumuliere. Für Geiger ist eine Masse dadurch gekennzeichnet, dass ihr kollektiver Willensgehalt ohne die Mitwirkung „individualer Intelligenz bestimmt wird.“ (Geiger 1967 [zuerst 1926], S. 131) Innerhalb einer Masse ist es nicht möglich, eine Debatte zu führen; Beratungen, Abstimmungen und Beschlüsse lassen sich nicht realisieren. Die Masse, so Geiger, „[...] debattiert nicht, sie stimmt nicht ab; es macht nicht einer dem anderen Gedankenmitteilungen; in der Masse dominiert die Kundgebung [...].“ (Geiger 1967 [zuerst 1926], S. 131) Als Gründe führt er vier Aspekte an: 1. Die Emotionalität ist innerhalb einer Masse aufgrund der hohen Fremdheit der sie bildenden Glieder stark ausgeprägt. 2. Die Masse verfügt nicht über einen organisatorischen Apparat. 3. Die aktuelle Willensbildung erfolgt in einem Zustand kollektivemotionaler ‚Aufgewühltheit‘. Und schließlich: „Die Masse selbst, ihr letzter Sinn, sind irrational [...].“ (Geiger 1967, [zuerst 1926], S. 132) Diese Ausführungen müssen vor dem Hintergrund der jeweiligen historischen Situation betrachtet werden. Dennoch kann die Schlussfolgerung gezogen werden,
15
Später wurde dieser Sachverhalt von Leon Festinger et al. mit dem Begriff der "deindividuation" bezeichnet und näher untersucht (vgl. 1952).
Kommunikation, Massenkommunikation, Wirkung. Ein erster Überblick
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dass sich Kommunikation in oder mit der Masse auf Schlagworte und emotionale Appelle reduziert. Die Versuche, den Begriff ‚Massenkommunikation‘ etwas genauer zu fassen, entlasten den Terminus von diesen sehr negativen Konnotationen. Einer der Ersten, der in dieser Hinsicht einen Systematisierungsversuch unternommen hat, ist Herbert Blumer (1900 - 1987) (1946, S. 178ff.). Er unterscheidet zwischen der Masse, der Menge, der Gruppe und der Öffentlichkeit (‚mass‘, ‚crowd‘, ‚small group‘ und ‚public‘). Blumer definiert ‚Masse‘ als eine neue soziale Erscheinung (‚social formation‘) in modernen Gesellschaften. Seine Definitionsvorschläge lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Gruppe: Die Mitglieder kennen sich untereinander, Face-to-Face-Beziehungen liegen vor, ein Wir-Gefühl ist vorhanden sowie gemeinsame Interessen und Ziele, die Beziehungen sind stabil und dauerhaft, es kommt zur Ausbildung von Strukturen (Führer, Gefolgschaft). Menge: Die Menge versammelt sich an einem bestimmten Ort und überschreitet die Größe einer Gruppe deutlich. Sie kennt keine Mitgliedschaft und konstituiert sich sporadisch. Das Handeln in der Menge wird häufig von Affekten und Emotionen geleitet und weist irrationale Züge auf. Damit werden der Menge jene Charakteristika zugeschrieben, die man nach dem bislang Gesagten eher der Masse attestieren würde. Öffentlichkeit: Öffentlichkeit bezeichnet ein politisches Phänomen. Diese formiert sich um ein gemeinsames Ziel, zum Beispiel die Arbeit an politischen Reformen. Öffentlichkeit ist nicht ortsgebunden, aber von einer gewissen Dauerhaftigkeit, die sich aus der Fixierung auf Themen ergibt 16. Masse: Der Begriff ‚Masse‘ wird hier im Sinne von ‚mass audience‘ verwandt. Es wird ein Publikum beschrieben, dessen Konstituierung ebenfalls nicht an Anwesenheitskriterien gebunden wird. Dieses Publikum ist im geografischen Sinne weit verstreut, es finden keine Interaktionen statt, die Mitglieder kennen sich nicht. Daraus resultiert für diese Masse eine heterogene Struktur, die als Ergebnis einer Offenheit des Kommunikationsphänomens bezeichnet werden kann.
Der Begriff ‚mass audience‘ bzw. ‚Masse‘ soll somit veranschaulichen, dass sich eine Vielzahl von Menschen in einem überschaubaren Zeitraum durch ähnliche Verhaltensweisen auszeichnet. Diese eher technische Definition lässt zunächst Wirkungsaspekte unberücksichtigt. Damit wird zugleich ein deutlicher Kontrast zu dem ursprünglichen Verständnis des Begriffs ‚Masse‘ gesetzt. Die kulturkritischemotionale Belastung entfällt, ohne eine gesellschaftliche Verharmlosung dieses 16
Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 9.
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Sachverhalts an dessen Stelle zu setzen. Diese Interpretation kann auch für den Definitionsversuch von Gerhard Maletzke (1922-2010) Geltung beanspruchen, der im Jahr 1963 eine umfassende Studie zum Begriff ‚Massenkommunikation‘ vorgelegt hat. Um eine unpräzise Vermengung von Massenkommunikation mit Massenphänomenen zu vermeiden, schlägt Maletzke den Begriff ‚disperses Publikum‘ vor. Zu den Medien der Massenkommunikation zählen bei Maletzke: Film, Funk, Fernsehen, Presse, Schallplatte. Das disperse Publikum konstituiert sich nach Maletzke von Fall zu Fall. Je nach Angebot wendet sich eine unterschiedliche Anzahl von Menschen den jeweiligen Medienangeboten zu. Je nach Situation und thematischer Spezialisierung können die Aussagen der Massenkommunikation unterschiedliche Publika erreichen. Entscheidend bleibt, dass zwischen den Mitgliedern dieser Publika keine direkte Kommunikation erfolgt, zumindest nicht während der Mediennutzung. Der Kommunikationsprozess zwischen dem Sender und den Empfängern ist rückkopplungsarm. Daraus resultiert für Maletzke die folgende Definition: „Unter Massenkommunikation verstehen wir jene Form der Kommunikation, bei der Aussagen öffentlich (also ohne begrenzte und personell definierte Empfängerschaft) durch technische Verbreitungsmittel (Medien) indirekt (also bei räumlicher oder zeitlicher oder raumzeitlicher Distanz zwischen den Kommunikationspartnern) und einseitig (also ohne Rollenwechsel zwischen Aussagendem und Aufnehmendem) an ein disperses Publikum [...] vermittelt werden.“ (Maletzke 1963, S. 32) ‚Indirekt‘ bedeutet dabei ‚nicht unmittelbar‘, also nicht von Angesicht zu Angesicht. Eine indirekte Vermittlung in Verbindung mit
einer zeitlichen Distanz zwischen den Kommunikationspartnern liegt bspw. vor, wenn Signale ortsgebunden bleiben und zu einem späteren Zeitpunkt vom Empfänger wahrgenommen werden. Hinweisschilder (z. B. im Straßenverkehr), aber insbesondere Aushänge der unterschiedlichsten Art, z. B. Plakate, Notizzettel, zählen hierzu; einer räumlichen Distanz zwischen den Kommunikationspartnern ist gegeben, wenn das Senden und Empfangen der Signale zeitgleich erfolgt. Das Telefonat und die Live-Sendung repräsentieren bspw. diesen Fall; einer raumzeitlichen Distanz zwischen den Kommunikationspartnern deckt einen großen Bereich der Massenkommunikation ab: etwa der Abstand zwischen der Fertigstellung eines Romans und dem Zeitpunkt des Lesens, zwischen Filmproduktion und Filmausstrahlung, grundsätzlich also die Distanz zwischen Entstehung und Rezeption an unterschiedlichen Orten (vgl. Maletzke 1963, S. 23). In diesem Sinne erfordert Massenkommunikation keine Gleichzeitigkeit des Empfangs der verbreiteten Aussagen. Lässt man einmal zeitversetzte Möglichkeiten des Empfangs von Medienangeboten außer Acht, dann ist im Falle des Fernsehens und des Hörfunks die Gleichzeitigkeit des Empfangs gewährleistet. Aber auch die Ta-
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geszeitung gilt als ein Massenmedium, obwohl die über diesen Weg vermittelten Aussagen zu unterschiedlichen Zeitpunkten wahrgenommen werden können. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an das Sprichwort: Nichts ist so langweilig wie die Zeitung von gestern. Eine Sonderform dürfte das Kino darstellen: Man kann im Falle von Kinoübertragungen sowohl von Präsenzpublika als auch von einem dispersen Publikum sprechen. Die Vorführung eines aktuellen Films findet zu ähnlichen Zeiten in einer Vielzahl von Städten statt. Populäre Filme werden innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums von einer Vielzahl von Menschen gesehen. Hinsichtlich der Nicht-Gleichzeitigkeit des Empfangs dürften die Verbreitung von Musikangeboten (siehe Maletzkes Hinweis auf die Schallplatte) und das Lesen von Büchern die markantesten Beispiele darstellen. Dadurch reduziert sich auch die Wahrscheinlichkeit einer unmittelbaren und kurzfristig beobachtbaren Wirkung17. Abbildung 2.6
Merkmale der Massenkommunikation im Überblick
KOMMUNIKATOR - hoher Grad an Arbeitsteilung, komplexe Organisation - mehrstufiger Entstehungsprozess einer Aussage
MEDIUM
REZIPIENT - disperses Publikum
- technische Verbreitungsmittel - mehrstufiger, technischer Vermittlungsprozess
- allgemeine Zugänglichkeit (“öffentlich”)
- Reflexivität des Wissens - (annähernd) Gleichzeitigkeit des Empfangs
RÜCKKOPPLUNG - keine Face-to-Face-Beziehung - räumliche, zeitliche, raumzeitliche Distanz - parasoziale Interaktion - anonymer Kommunikationsprozess
Quelle: Eigene Erstellung
17
Maletzkes Modell der Massenkommunikation ist zwischenzeitlich auch auf neue Medien, z. B. das Internet, übertragen worden. Siehe hierzu die Ausführungen in Kapitel 12.
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Kommunikation, Massenkommunikation, Wirkung. Ein erster Überblick
Das weitgehende Fehlen von Rückkopplungsmöglichkeiten zwischen den Empfängern der Massenkommunikation und dem jeweiligen Sender hat darüber hinaus zu häufigen Hinweisen auf die Unangemessenheit des Kommunikationsbegriffs geführt (vgl. insb. Merten 1977). Die Kommunikation in Face-to-Face-Situationen wird hier mit den Desiderata der Massenkommunikation kontrastiert. Obwohl Kommunikation nicht an die sofortige Reaktionsmöglichkeit der daran Beteiligten gekoppelt sein muss (siehe Abschnitt 2.1), wird die fehlende Wahrnehmbarkeit als Kriterium benannt, das die Verwendung des Kommunikationsbegriffs in diesem Zusammenhang nicht gestattet. Um den Begriff für die Situation der Massenkommunikation dennoch zu retten, schlägt Merten vor, an die Stelle der reflexiven Wahrnehmung die „Reflexivität des Wissens“ (Merten 1977, S. 147) zu setzen. Diese Reflexivität resultiert aus der Erwartung an gleiches oder ähnliches Kommunikationsverhalten der Rezipienten. Zugleich wird das Aufeinanderbezogensein von Massenkommunikation und interpersonaler Kommunikation integriert. Ebenso wird daraus ersichtlich, dass mögliche Wirkungen zunächst Erreichbarkeit voraussetzen. Angesichts der Erweiterung und Ausdifferenzierung des Medienangebots hat Schmidt vorgeschlagen, zwischen unspezifischer und spezifischer Massenkommunikation zu unterscheiden. Damit soll dem unterschiedlichen Zielgruppencharakter von Medienangeboten Rechnung getragen werden (vgl. Schmidt 1994a, S. 88). Abbildung 2.6 gibt noch einmal wichtige Merkmale der Massenkommunikation im Überblick wieder. 2.3 Die ‚Pionierphase‘ des Wirkungsbegriffs Die ‚Wiege‘ des Wirkungsbegriffs steht in den Naturwissenschaften für das hier verwandte Modell besonders in der Tradition des Behaviorismus. Er stellt das Pendant zum Begriff der Ursache dar. Die Verwendung des Begriffs legt Kausalitätsannahmen nahe und wird im alltäglichen Sprachgebrauch auch mit solchen Implikationen verknüpft. Wirkung wird in der Regel mit Veränderung gleichgesetzt. Und Veränderung bedeutet, dass sich auf der Einstellungs- oder Verhaltensebene Beobachtungen machen lassen, die auf das Vorliegen eines bestimmten Stimulus zurückgeführt werden können. Die Stimuli bestehen im vorliegenden Falle aus Medienangeboten, deren Wirkungen sich in beobachtbaren bzw. messbaren Reaktionen von Rezipienten manifestieren. Dieser Beschreibung entspricht auch die Grundstruktur des Modells, das in der Literatur verschiedene Namensgebungen erfahren hat. Die geläufigsten Bezeichnungen lauten:
Stimulus-Response-Modell Reiz-Reaktions-Modell Hypodermic Needle-Modell
Kommunikation, Massenkommunikation, Wirkung. Ein erster Überblick
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Transmission Belt-Theorie Magic Bullet-Theorie
Am häufigsten wird die Stimulus-Response-Terminologie (Reiz-Reaktion) verwandt. Orientiert man sich an diesen Begriffen, so resultiert daraus das folgende Grundmodell des Wirkungsvorgangs (vgl. Abbildung 2.7). Das Modell ist wie folgt zu interpretieren: Die von den Massenmedien präsentierten Stimuli erreichen die Rezipienten unmittelbar, Rückkopplungen finden nicht statt und damit weder Interaktionen zwischen dem Sender und dem Empfänger noch unter den Empfängern selbst. Das Modell hat endgültigen Charakter und enthält keinerlei Hinweise auf Lernprozesse; es erscheint statisch. Reaktionen werden lediglich als Folge einer bestimmten Aussage definiert: Kommunikation ist gleich Wirkung. Es dominiert ein fast ‚technisches‘ Verständnis von ‚Wirkung‘. Dass Menschen selbst Medien sein können, also Vermittler oder Interpreten von über Medien vermittelten Aussagen, ist in diesem Ausgangsmodell der Medienwirkungsforschung nicht berücksichtigt. Abbildung 2.7
MEDIUM
Die Grundstruktur des Stimulus-Response-Modells
STIMULI
REZIPIENT
RESPONSE
Alternativ: STIMULUS
ORGANISMUS
RESPONSE
Quelle: Eigene Erstellung in Anlehnung an Merten 1994b, S. 295 und McQuail 2005, S. 470f.
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Kommunikation, Massenkommunikation, Wirkung. Ein erster Überblick
Daraus erklärt sich auch die Verwendung des Begriffs ‚Organismus‘ (vgl. Abbildung 2.7). Reflexivität bleibt ausgeschlossen und an die Stelle eines deutenden Verstehens tritt ausschließlich ein ursächliches Erklären. Diese Grundannahmen ergeben ein weitreichendes Modell, das sich aus einfachen Bausteinen zusammensetzt. Diese können wie folgt benannt werden:
Die Stimuli der Massenkommunikation erreichen die Rezipienten unmittelbar. Die Stimuli sind eindeutig und werden infolgedessen weitgehend gleich wahrgenommen. Infolge dieser Homogenitätsannahme kommt es zu ähnlichen oder identischen Reaktionen der Rezipienten. Der Inhalt und die Richtung des Effekts eines Stimulus werden gleichgesetzt. Das Publikum der Massenkommunikation erscheint als eine undifferenzierte Masse.
Für die anfängliche Popularität dieses Modells können mehrere Gründe angeführt werden:
Es korrespondierte mit dominierenden Annahmen über die menschliche Natur. Es korrespondierte mit den Vorstellungen über die Verfassung moderner Gesellschaften (siehe Abschnitt 2.2). Die Popularität wurde von einer politischen und sozialen Konfliktlage getragen, in der der Einsatz von Kommunikation für Propagandazwecke im Zentrum des Interesses stand. Begünstigend wirkten zudem gelegentliche spektakuläre Erfolge von Kampagnen, die auf den ersten Blick die Modellannahmen stützten 18.
Die Vorstellungen über die menschliche Natur sind ein Spiegelbild der Vorstellungen, die mit dem Begriff ‚Massengesellschaft‘ assoziiert werden. Gerade hier lässt sich verdeutlichen, dass für die Analyse von Massenkommunikationsprozessen das jeweilige ‚concept of man‘ von zentraler und forschungsleitender Bedeutung ist. Pointiert formuliert wird die atomisierte Masse zum Spielball von Kommunikationsstrategien, die ihren Erfolg behavioristisch oder instinkttheoretisch begründen (siehe zur Instinkttheorie auch Heckhausen 1980, S. 51ff.). Und dies bedeutet: Wenn ein Reiz eine bestimmte Reaktion auslöst, dann lässt sich diese Reiz-Reaktions-Kette bei einer Vielzahl von Menschen beobachten. Dieser psychologische Mechanismus ist nicht individuell. Am deutlichsten wird dieses Wirkungsverständnis durch den schon erwähnten Begriff ‚hypodermic needle‘ vermittelt. Ähnlich einer Injektionsspritze wirken die Medienangebote sofort und unmittelbar. Obwohl diese Wirkungsmodelle schon zur damaligen Zeit umstritten waren, konnten sie über einen relativ 18
Siehe hierzu die Ausführungen in Kapitel 4.
Kommunikation, Massenkommunikation, Wirkung. Ein erster Überblick
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langen Zeitraum einen bestimmenden Einfluss ausüben (siehe hierzu insb. Brosius/ Esser 1998)19. So äußerte sich Marshall D. Beuick bereits im Jahre 1927 kritisch zu den Erwartungen, die Verbreitung des Hörfunks in den USA würde soziale Revolutionen anstoßen. Sein Artikel trägt den vielsagenden Titel ‚The limited social effect of broadcasting‘ und enthält die Feststellung: „Broadcasting can never really stimulate a consciousness of kind.” (1927/28, S. 622). Ein wesentliches Missverständnis dieser Theorie kann darauf zurückgeführt werden, dass aus dem Vorliegen anthropologischer Konstanten ein identisches Reaktionspotenzial in anderen Bereichen abgeleitet wurde. Auch in der Frühphase der Wirkungsforschung blieben Zweifel an diesen Vorstellungen nicht aus. Beispielhaft lässt sich dies mit einem Zitat verdeutlichen, das von einem der ‚Väter‘ der Kommunikationsforschung, Harold D. Lasswell (1902-1978), stammt. In einem frühen Beitrag zur Theorie der politischen Propaganda ist die folgende Feststellung zu finden: „The strategy of propaganda [...] can readily be described in the language of stimulus-response. [...] the propagandist may be said to be concerned with the multiplication of those stimuli which are best calculated to evoke the desired responses, and with the nullification of those stimuli which are likely to instigate the undesired responses.“ (Lasswell 1927, S. 630) Abbildung 2.8
Die Lasswell-Formel Komponenten des Kommunikationsprozesses
WER Kommunikator
sagt WAS Nachricht
in we lchem KANAL Medium
zu WEM Empfänger
mit welchem EFFEKT Wirkung
Bereiche der Kommunikationsforschung
WER Kommunikatorforschung
sagt WAS Inhaltsanalyse
in welchem KANAL Medienanalyse
zu WEM Publikumsforschung
mit welchem EFFEKT Wirkungsforschung
Quelle: Lasswell 1948, entnommen aus McQuail/Windahl 1981, S. 10
19
Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 3 und Kapitel 4.
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Kommunikation, Massenkommunikation, Wirkung. Ein erster Überblick
Lasswell spricht in diesem Zitat von erwünschten Reaktionen und gibt zu erkennen, dass die Wahrscheinlichkeit anderer Reaktionen nicht auszuschließen ist. Aber das Interesse der Forschung lag weniger in dem Nachweis der unterschiedlichen Wirkung identischer Stimuli, sondern in der Erarbeitung von Regeln gezielter Beeinflussung. Auch die 21 Jahre später vorgelegte ‚Lasswell-Formel‘ konzipiert Kommunikationsprozesse noch als einen einseitigen Vorgang vom Sender zum Empfänger. Ein mehrstufiger Vorgang wird zwar angedeutet, aber zunächst noch nicht im Sinne eines mehrstufigen Wirkungsprozesses interpretiert. Vielmehr werden diesen Stufen Forschungsgebiete der Kommunikationswissenschaft zugeordnet, die ebenfalls Abbildung 2.8 zu entnehmen sind. Die Belegnachweise für die Gültigkeit des Stimulus-Response-Modells werden in Kapitel 4 noch einmal ausführlicher dargestellt. Schon an dieser Stelle darf aber festgehalten werden, dass der umfassende Anspruch dieses Modells und die damit einhergehende medienzentrierte Sichtweise den Ausgangspunkt differenzierterer Perspektiven markiert. Die Geschichte der Medienwirkungsforschung lässt sich als Auseinandersetzung mit diesem Modell beschreiben. Neuman und Guggenheim stellen die Entwicklung der Theorien und Ansätze als kumulativen Prozess dar, weniger als Phasenmodell mit eindeutig trennbaren zeitlichen Abfolgen bzw. Forschungs"epochen". Die Evolution der Theorien besteht danach weniger aus einer Zurückweisung oder Ablösung früherer, sondern mehr aus einer ständigen Auseinandersetzung und Weiterentwicklung. Das Stimulus-Response-Modell bleibt auch hier der Ausgangpunkt, von dem aus eine kontinuierliche Erweiterung mit neuen Ansätzen und Verfeinerungen, wie den Active-Audience Modellen und der Berücksichtigung des sozialen Kontextes, stattgefunden hat (vgl. Neuman/Guggenheim 2011).20 Dass eine historische Aufarbeitung der Theorienevolution nicht einfach ist, liegt auch an der nachträglichen Klassifizierung sämtlicher älterer Theorieansätze zu starken Medieneffekten als Stimulus-Response-Modelle. Weiterhin wird diskutiert, ob das Stimulus-Response-Modell die Medienwirkungsforschung überhaupt als Disziplin beeinflusst hat und wie stark der Einfluss war (vgl. Bussemer 2003; Brosius/Esser 1998). Auch Lazarsfeld schrieb am Ende seiner akademischen Karriere, dass das Wirkungsproblem „mit Konfusion, Verwirrung und Widersprüchen beladen“ (1975, S. 214) sei. Dies mag auch daran liegen, dass allein die Möglichkeiten Effekte nach ihren Dimensionen zu klassifizieren so vielfältig sind. Wesentliche Dimensionen sind noch einmal in Tabelle 2.1 zusammengefasst. In Kapitel 3 werden nun die wesentlichen Etappen der Kontroverse bzw. die Weiterentwicklungen nachgezeichnet.
20
Neuman und Guggenheim haben hierzu ergänzend eine interessante Einteilung der Theorien zusammengestellt und mit der entsprechend wichtigsten Literatur ergänzt (vgl. ebenda, S. 38).
Kommunikation, Massenkommunikation, Wirkung. Ein erster Überblick Tabelle 2.1
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Effekte: eine Differenzierung
Stärke
Wandel – Abschwächung/Verstärkung direkt – indirekt stark – schwach
Zeit/Dauer
kurzfristig – langfristig
Entwicklung
einmalig – kumulativ
Richtung, Verlauf
unidirektional – zirkulär – oszillatorisch
Objekt
Meinungen/Einstellungen – Verhalten
Zielebene
individuell – sozial
Wirkungsweise
Persuasion – Interpretation
Vorsatz/Absicht
intendiert – unintendiert
Art
Quelle: Eigene Erstellung
Bryson, Lyman (Ed.) (1948): The Communication of Ideas. A Series of Addresses. New York. Maletzke, Gerhard (1963): Psychologie der Massenkommunikation. Theorie und Systematik. Hamburg. McQuail, Denis; Windahl, Sven (1981): Communication Models for the Study of Mass Communications. London, New York. Neuman, W. Russell; Guggenheim, Lauren (2011): The Evolution of Media Effects Theory: Fifty Years of Cumulative Research. (Im Erscheinen).
3 Wirkungsmodelle und Forschungstraditionen
3.1 Das widerspenstige Publikum: ‚Mediating Factors‘ im Überblick Die 1930er und 1940er Jahre sind in den Vereinigten Staaten die Pionierphase der Medienwirkungsforschung. In den Forschungsberichten ist gleichwohl immer seltener von einfachen Kausalketten und eindeutigen Einflüssen der Medienangebote auf das Einstellungs- und Verhaltensrepertoire der Menschen die Rede. Die in der Einleitung bereits zitierte Arbeit von Joseph T. Klapper ist hierfür ein gutes Beispiel. Bereits im Jahr 1949 hatte dieser Autor einen Forschungsbericht vorgelegt, der unter dem Titel ‚The Effects of Mass Media‘ publiziert wurde. Im Jahr 1960 erschien diese Studie in aktualisierter Form unter dem Titel ‚The Effects of Mass Communication‘. Das Stimulus-Response-Modell kann danach allenfalls noch als eine adäquate Beschreibung der Richtung des Kommunikationsprozesses verstanden werden. Die Kernaussage lässt sich wie folgt formulieren: Was sich als Wirkung einer Kommunikation zeigt, ist nicht allein das Resultat eines sorgsam gestalteten Stimulus, sondern steht unter dem Einfluss eines „host of other variables.“ (Klapper 1960, S. 3)21 Hierzu zählen unter anderem: die Prädispositionen des Publikums, das Image des jeweiligen Senders, die Einbindung des Rezipienten in soziale Gruppen und die Bedeutung von Gruppenmitgliedschaften, die Spezifika der jeweiligen Rezeptionssituation, die Schichtzugehörigkeit und die allgemeinen Lebensbedingungen. Nach Beuick kann bspw. das Radio keinen so großen Einfluss ausüben, da es nicht die gesellige Versammlung seiner Rezipienten fördere und damit eine Einbindung in soziale Interaktion fehle (vgl. Beuick 1927/28). Auch bei Lazarsfeld finden sich einige Hinweise auf die komplexen Wirkmechanismen und verschiedenen Einflüsse, die alltäglich auf ein Individuum einwirken. So müssen Bedürfnisse, Meinungen, Erfahrungen und vieles mehr bedacht werden (vgl. Lazarsfeld 1975). Dies gilt natürlich ebenso in Situationen der Medienrezeption. Die Benennung einer Vielzahl von Einflussfaktoren hat im Umkehrschluss die Vorstellung bestärkt, dass Wirkung ein Phänomen repräsentiert, das sich der exakten wissenschaftlichen Analyse entzieht. In diesem Zusammenhang wird oftmals eine Auffassung von Bernard Berelson zitiert, die wie folgt lautet: „Some kinds of communication on some kinds of issues, 21
Brosius und Esser (1998) weisen in ihrem Beitrag ‚Mythen in der Wirkungsforschung‘ darauf hin, dass Klappers Literaturauswahl keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt (S. 350) und Klapper aufgrund seiner Anstellung beim amerikanischen Fernsehsender CBS einem Medienkonzern verpflichtet war, der an einem „Nachweis starker Medienwirkungen nicht interessiert sein konnte [...].“ (S. 353) Klappers Buch vermittelt dennoch nicht den Eindruck der Antizipation eines Organisationswillens.
M. Jäckel, Medienwirkungen, DOI 10.1007/978-3-531-93191-3_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Wirkungsmodelle und Forschungstraditionen
brought to the attention to some kinds of people under some kinds of conditions, have some kinds of effects.“ (Berelson 1960, S. 531) Der polemische Unterton dieser Feststellung sollte nicht überbewertet werden. Es ist kein Plädoyer für eine Individualisierung von Wirkung. Auch diese Aussage legt eine Berücksichtigung von Sender- und Empfängermerkmalen nahe. Hinsichtlich der Empfängerseite sind insbesondere intrapersonale und interpersonale Einflussvariablen zu berücksichtigen. Exemplarisch soll hier auf einige ‚mediating factors‘ hingewiesen werden:
22
Vermeidung von unsympathischer Kommunikation: Klapper verwendet diesbezüglich den Begriff ‚selective exposure‘. Gemeint sind Versuche der Rezipienten, sich von unbeliebtem oder unerwünschtem Informationsmaterial fernzuhalten; es geht um Formen der Begrenzung des Einflusses. Klapper referiert eine Studie von Cannell und MacDonald, die feststellten, dass Nichtraucher zu einem wesentlich höheren Anteil Artikel über den Zusammenhang von Rauchen und Krebs lesen als Raucher (vgl. Klapper 1960, S. 21).22 Umdeutung von Kommunikation: Klapper bezieht sich bspw. auf eine Untersuchung, die Allport und Postman 1945 durchführten. Im Zuge der Diffusion von Informationen stellten sie deutliche Verfälschungen des Inhalts fest. Das zu kommentierende Bild zeigt einen Weißen, der einen Schwarzen mit einem Rasiermesser bedroht. Nach einer Reihe von Nacherzählungen landet das Rasiermesser in der Hand des Schwarzen. An diesem Experiment, das ein extremes Beispiel von selektiver Wahrnehmung repräsentiert, nahmen nur Weiße teil. Im Englischen wird dieses Phänomen mit dem Begriff ‚selective perception‘ beschrieben. Selektive Wahrnehmung ist in einem weiteren Sinne das Resultat des Zusammenspiels von Interesse, Relevanz und Betroffenheit. Speicherung von und Erinnerung an Kommunikation: Der mit dem Begriff ‚selective retention‘ beschriebene Vorgang ergänzt die bereits genannten Selektionsformen. Man könnte auch von ‚selektivem Behalten‘ sprechen. Folgendes Beispiel soll zur Illustration dienen: In einem Experiment mit amerikanischen Studenten bildeten Levin und Murphy zwei Gruppen, die sich nach einer Vorbefragung hinsichtlich ihrer politischen Einstellungen als pro-sowjetisch bzw. anti-sowjetisch einstufen ließen. Den beiden Versuchsgruppen wurden sowohl ein pro-sowjetischer als auch ein anti-sowjetischer Text präsentiert mit der Bitte, diese nach einem kurzen Zeitraum möglichst exakt nachzuerzählen. Dieser Vorgang wurde mehrfach wiederholt, zunächst unter erneuter Vorlage der Texte, später dann ohne Präsentation des Stimulus-Materials. Als Ergebnis dieser Robert Levine verweist in einer aktuelleren Publikation auch auf die Überzeugung vieler Raucher hin, selbst mit geringerer Wahrscheinlichkeit an Lungenkrebs zu erkranken. Dies sei nach seiner Auffassung mit Hilfe kognitiver Dissonanz, defensiver Attribution und unrealistischem Optimismus erklärbar (vgl. Levine 2007, S. 20f.).
Wirkungsmodelle und Forschungstraditionen
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Versuchsreihe zeigte sich, dass sympathische Aussagen in der Regel besser erinnert werden als unsympathische Aussagen. Vermutlich stehen hier ‚selective retention‘ und ‚selective perception‘ in einer Wechselbeziehung. Gruppenzugehörigkeit und Gruppennormen: Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und das Ausmaß der Identifikation mit den dort geltenden Gruppennormen sind wichtige Faktoren der Urteilsbildung. Der Hinweis auf die Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen ist in doppelter Hinsicht relevant: Zum einen verdeutlicht er, dass die Berücksichtigung der jeweiligen Rezeptionssituation und Verarbeitung von Inhalten bedeutsam ist, zum anderen hebt sich die Beobachtung kleiner Gruppen von dem bis in die 1940er Jahre dominierenden Massen-Konzept ab. Die soziale Gruppe wird wiederentdeckt, Schutzschildfunktionen werden illustriert und Prozesse der sozialen Kontrolle beschrieben. Zugleich ergibt sich aus dem Blick auf die Strukturen sozialer Gruppen das Phänomen von Meinungsführung und Gefolgschaft. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Form der Kommunikation eine bestimmte Wirkung erzielt, ist danach auch das Resultat der Übereinstimmung des kommunizierten Inhalts mit dem Wertesystem der jeweiligen Gruppe. Wenn die Intentionen des Kommunikators den Gruppennormen zuwiderlaufen, steigt die Wahrscheinlichkeit eines Bumerang-Effekts: Eine beabsichtigte Einstellungs- und Verhaltensänderung resultiert in einer Verstärkung des Wir-Gefühls der Gruppe und in einem Imageverlust des Urhebers der Aussage.
Obwohl Klapper immer wieder von Massenkommunikation spricht, stützt er sich wie bereits angedeutet - zur Beweisführung fast ausschließlich auf Experimente mit kleinen Gruppen. Generell wurde davon ausgegangen, dass die unter kontrollierten Bedingungen durchgeführten Analysen auch außerhalb der experimentellen Situation Gültigkeit beanspruchen können. Die späteren Ausführungen werden zeigen, dass die hier eingeführten Begriffe auch im Rahmen quasi-experimenteller Versuchsanordnungen zur Anwendung gelangten. Die experimentelle und quasiexperimentelle Forschung ergänzen sich. Die hier exemplarisch zugrundegelegte Arbeit von Klapper erlaubt eine Erweiterung des Stimulus-Response-Modells, die in der folgenden Abbildung zusammengefasst wird (vgl. Abbildung 3.1). Mit dem Begriff ‚Störfaktoren‘ soll verdeutlicht werden, dass es verschiedene Formen einer ‚defensiven Selektivität‘ gibt (vgl. Winterhoff-Spurk 1999, S. 33), die einen ungehinderten und unmittelbaren Effekt von Kommunikationsangeboten auf die jeweiligen Empfänger unwahrscheinlich machen. Das ursprüngliche Stimulus-ResponseModell wird durch die mit der Zahl 1 gekennzeichnete Linie dargestellt. Die modifizierte Variante ergibt sich aus dem Ablauf, den Linie 2 verdeutlicht. Das Publikum der Massenkommunikation gewinnt dadurch einen höheren Stellenwert. Wenngleich noch nicht explizit von einer Publikumsaktivität gesprochen wird, deuten sich viele Vorstellungen an, die mit diesem Begriff in Verbindung
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Wirkungsmodelle und Forschungstraditionen
stehen. Wenige Jahre nach dem Erscheinen von Klappers Analyse schrieb bspw. Maletzke in seiner Analyse ‚Psychologie der Massenkommunikation‘: „Allzu eng betrachtete man die Massenkommunikation zunächst als einen einseitigen linearen Prozeß, der geradlinig vom Kommunikator über Aussage und Medium zum Rezipienten verläuft und bei dem die Aussage als Agens und der Rezipient lediglich als Beeinflußter, als passiv Registrierender verstanden wurde. [...] Diese Ansicht wird den tatsächlichen Verhältnissen im Beziehungsfeld der Massenkommunikation nicht gerecht. Sie übersieht, daß der Rezipient von sich aus selektiv, akzentuierend und projizierend den Prozeß der Massenkommunikation mitbestimmt und daß dieses aktive Eingreifen zu einem wesentlichen Teil durch die Funktionen gesteuert wird, welche die Aussagen für die Rezipienten haben.“ (Maletzke 1963, S. 132f.) Damit nimmt Maletzke eine Einteilung in „lineare“ und „reflexive Paradigmata“ (vgl. Merten u.a. 1992) der Wirkungsforschung vorweg. Merten u.a. verstehen unter ‚linear‘ solche Ansätze, die in der Tradition des Stimulus-Response-Modells stehen23. Demgegenüber bezeichnen sie mit ‚reflexiv‘ jene, die nachweislich akausale Strukturen aufweisen24. Von einer Überbetonung des Individuums kann insofern nicht gesprochen werden, als es in der Rolle des Empfängers verharrt. Streng genommen sind die beschriebenen Reaktionen (Selektionen) bereits das Resultat von Wirkungen. Wenn bestimmte Inhalte als unangenehm empfunden werden, liegt bereits ein Effekt vor, der Ausgangspunkt für Antworten unterschiedlicher Art sein kann. Entsprechendes gilt, wenn die Kommunikationsangebote vorhandene Einstellungen verstärken. Wer die Konfrontation mit dem Unangenehmen nicht vermeiden kann, versucht die empfundene Dissonanz zu reduzieren und Konsonanz herzustellen. Diese Begriffe verweisen auf die sozialpsychologischen Arbeiten von Leon Festinger, in denen Anschlusshandlungen von Menschen beschrieben werden, die ein inneres Ungleichgewicht verspüren (vgl. Festinger 1978). Die Theorie der kognitiven Dissonanz und andere sozialpsychologische Modelle, die sich mit diesen Ausgleichsphänomen beschäftigen, gehen von der Grundannahme aus, dass Konflikte als unangenehm empfunden werden und ein als harmonisch empfundener Zustand angestrebt wird. Diese Vorstellungen verdeutlichen zugleich die noch starke Verankerung der Medienwirkungsforschung in der Tradition von Persuasion bzw. Überredungskommunikation. Wie werden Wirkungen begrenzt, wie kann Beeinflussung verhindert werden usw.? Würde man die Frage nach den Medienwirkungen auf diese Aspekte reduzieren, wären viele Formen des Medieneinflusses nicht thematisierbar. In vielen Bereichen realisiert sich Medienwirkung bereits dadurch, dass eine Vielzahl von Menschen Gemeinsamkeiten (Einstellungen, Meinungen, Präferenzen, Wissen) aufweisen. Der Ablauf von Medienwirkungsprozessen erschließt sich am ehesten dann, 23 24
Siehe hierzu die Ausführungen in Abschnitt 3.2, 8.2 und Kapitel 7. Siehe hierzu die Ausführungen in Abschnitt 5.2, 9.4 und Kapitel 11.
Wirkungsmodelle und Forschungstraditionen
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wenn bereichsbezogene Analysen systematisiert werden und im Zuge der Schlussfolgerungen eine Ebenendifferenzierung Beachtung findet. Abbildung 3.1
Eine Erweiterung des Stimulus-Response-Modells
MEDIUM
STIMULUS 2
STÖRFAKTOREN
STIMULUS
1
intrapersonal
interpersonal
“selective exposure” “selective retention” “selective perception” Aufmerksamkeit Interessen Involvement
Primärgruppennormen Meinungsführer
RESPONSE Quelle: Eigene Erstellung Berghaus (1999) hat ein Hierarchiemodell vorgeschlagen, das in diesem Zusammenhang erläutert werden soll:
Auf einer ersten Stufe werden die Rahmenbedingungen für Wirkungspotenziale der Massenmedien angesiedelt. Die Wahrscheinlichkeit einer spezifischen Medienwirkung ist danach nicht ausschließlich individuell bestimmbar: „Sozialisation, Familie, Gruppenbindungen und persönliche Kommunikation liefern die Selektionskriterien für die Medienbeurteilung. Das soziale Umfeld steuert Medienwirkungen. Es gibt gleichsam die Lesart für Massenmedien vor.“ (Berghaus 1999, S. 183) Auf einer zweiten Wirkungsebene werden Medien und Medieninhalte voneinander abgegrenzt. Im Vergleich zur Stufe 1 scheint in diesem Fall eine noch grundsätzlichere Rahmung gemeint zu sein. Es geht um die Bestimmung von Wirkungschancen, die der Beschaffenheit des Mediums selbst zuzuschreiben
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Wirkungsmodelle und Forschungstraditionen sind: „Das Medium selbst ist mehr als die Summe seiner Inhalte, seine ‚message‘ ist gesellschafts- und kulturprägend: Man denke an die Unterschiede zwischen Gesellschaften ohne oder mit Druckmedien, ohne oder mit Fernsehen.“ (Berghaus 1999, S. 183)25 Insofern müsste diese Stufe der ersten mindestens gleichgestellt sein. Die dritte Stufe differenziert die Wissens- und Einstellungsebene. Das Eintreten kognitiver Medienwirkungen (z. B. Kenntnis von Themen und Kontroversen)26 wird höher eingeschätzt als die Realisierung einer Meinungs- oder Einstellungsänderung. Hier werden die Einflüsse des sozialen Umfelds wieder relevant.
Dennoch kann weder dem sozialen Umfeld noch den organisatorischen Rahmenbedingungen des Mediensystems eine unmittelbare Handlungsrelevanz zugeschrieben werden. Eine Vielzahl sogenannter Makrophänomene ist nur erklärbar, wenn der Umweg über die Dispositionen und Motivationen der Akteure (=Rezipienten) gegangen wird. In diesem Sinne ist die Individualebene Teil eines Prozesses, der Makrophänomene hervorbringt (vgl. Jäckel/Reinhardt 2001, S. 35ff.): öffentliche Meinung, Realitätsvorstellungen, Zuschreibungen von Glaubwürdigkeit, Entstehung von Wissensdifferenzen in einer Gesellschaft usw. Ein Modell, das individuelle und strukturelle Faktoren zu verknüpfen versucht, stammt von Webster et al. Es fokussiert zwar vornehmlich auf kurzfristige Eigenschaften des Publikumverhaltens und auf Formen von Media Exposure, ist jedoch auch hier instruktiv und zweckdienlich (vgl. 2006). Eine Vernachlässigung dieser Verknüpfung von Mikro- und Makroebene ist insbesondere einer Forschungstradition vorgeworfen worden, die dem individuellen Umgang mit Medienangeboten besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat.
25 26
Siehe hierzu die Ausführungen in Kapitel 10. Siehe hierzu die Ausführungen in Kapitel 7.
Wirkungsmodelle und Forschungstraditionen Abbildung 3.2
Publikumsfaktoren und Medienfaktoren Publikumsfaktoren
strukturell
Potenzielles Publikum - räumlich - demografisch - ethnisch, sprachlich Erreichbare Nutzer - zeitliche Schwankungen (saisonal, täglich, stündlich)
individuell
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Präferenzen - Programmtypen - Gratifikationswünsche Einzel-/Gruppennutzung der Medien Kenntnis über Optionen
Medienfaktoren Verbreitung - Verfügbarkeit in Haushalten - Verfügbarkeit verschiedener Angebote (technisch, räumlich) Angebot - Programmauswahl - Programmplanung - multimediale Angebote verfügbare Technologien - Radio-/TV-Geräte - DVD-Recorder etc. - Computer Abonnements - Printmedien - Kabel/Satellit/Terrestrik - Internetangebote Repertoires - Senderauswahl (oft genutzte) - Bookmarking
Quelle: Eigene Erstellung in Anlehnung an Webster et al. 2006 3.2 Nutzungswirkungen. Rezipientenzentrierte Wirkungsvorstellungen Der bereits verwandte Begriff ‚defensive Selektivität‘ setzt an die Stelle einer passiven Akzeptanz die Vorstellung eines aktiven Eingreifens des Rezipienten. Damit wird bereits die Annahme einer unmittelbaren Wirkung zurückgewiesen. Diese Gegenüberstellung legt die Anschlussfrage nahe, was unter einer passiven Akzeptanz verstanden werden soll. Warum und unter welchen Bedingungen sollte dieses ‚Opfer‘-Modell zutreffen? Diese bis heute beobachtbare Kontrastierung von gegensätzlichen Auffassungen zum Verlauf von Kommunikationsprozessen dient eher der bewussten Polarisierung von Perspektiven als der Vermittlung eines adäquaten Blicks auf das Verhältnis von Medienangeboten einerseits und Publikumsreaktionen andererseits. Hasebrink und Krotz sprechen diesbezüglich von einem „Grundmuster kommunikationswissenschaftlichen Denkens“ (1991, S. 117). Beispielhaft kann dieses Grundmuster an einer Auffassung illustriert werden, die die Erklärung des Zuschauerverhaltens zum Gegenstand hat: „Two quite different assumptions have been made about television viewers. Most critics of the medium as well als researchers working in the ‚effects‘ tradition generally assume that viewers are passive, simply ‚watching what is on‘. In marked contrast, researchers working in the
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Wirkungsmodelle und Forschungstraditionen
‚uses and gratifications‘ tradition conceive of viewers as actively choosing what to see and what to attend to while the set is on.“ (Peterson et al. 1986, S. 81) Die Forschungstradition, die sich in besonderer Weise um den Nachweis von Publikumsaktivitäten bemüht hat, wird in diesem Zitat bereits genannt: ‚Uses and Gratifications‘. Die durch diesen Ansatz eingeleitete Sichtweise auf das Publikum wurde euphorisch als ein Paradigmenwechsel gefeiert. Bedeutende Vertreter haben selbst eingestanden, dass eine solche Bezeichnung „is perhaps too grandiose as a description of what occurred.“ (Palmgreen et al. 1985, S. 11) Während die medienzentrierte Sichtweise den Fokus auf die Intentionen des Kommunikators legt, setzt sich die publikumszentrierte Sichtweise für eine stärkere Berücksichtigung der Funktionen und des Nutzens der Medien für die aktiven Rezipienten ein, wobei die Mediennutzung als interpretatives soziales Handeln betrachtet wird. Aus der Fragestellung ‚Was machen die Medien mit den Menschen?‘ wird nun ‚Was machen die Menschen mit den Medien?‘ Diese programmatische Formulierung verwandten Katz und Foulkes 1962 in ihrem Beitrag ‚On the Use of the Mass Media as ‚Escape‘: Clarification of a Concept‘. Der Terminus ‚Uses and Gratifications‘ war in der Forschung bereits vor der Formulierung dieser Kernfragen geläufig. Folgt man der Einschätzung von Lowery und DeFleur, dann ist dieser Begriff im Umfeld von Forschungen entstanden, die vor allem im ‚Office of Radio Research‘ angesiedelt waren. Das im Jahr 1937 gegründete Forschungsinstitut war zunächst an der University of Newark angesiedelt und wurde 1939 an die Columbia University verlegt. Geleitet wurde es von Paul Felix Lazarsfeld. Dank einer großzügigen Förderung durch die ‚Rockefeller Foundation‘ konnten umfassende Analysen zur Bedeutung des Radios für die Hörerschaft durchgeführt werden (siehe hierzu auch Allerbeck 2003, S. 8). Nach Lazarsfeld sei es nicht so „daß die Leute einfach das akzeptieren was man ihnen zeigt oder sagt. Hier tritt eine Reihe von Bedürfnissen auf [...]“ (Lazarsfeld 1975, S. 222) die eine Rezeption von ‚daytime serials‘ mitbestimmen. Herta Herzog analysierte an diesem Institut die Hörgewohnheiten und Funktionen, die die jeweiligen Angebote für das Publikum erfüllen. Mit Hilfe standardisierter Befragungen und ergänzender Einzelgespräche wollte man in Erfahrung bringen, welchen Gewinn diese täglich wiederkehrenden Angebote bieten. Es sollte erklärt werden, warum diese Angebote genutzt werden. Die Gratifikationsleistungen amerikanischer Hörfunkserien wurden von Herzog in drei Bereiche klassifiziert: emotionale Entspannung, Realisation von Wunschvorstellungen und Vermittlung von Ratschlägen. Da insbesondere Frauen die Sendungen hörten, dienten diese auch hauptsächlich als Informanten. Herzog war sich durchaus der Tatsache bewusst, dass die in den Hörfunkserien präsentierten Wertvorstellungen und Ratschläge den Charakter von Scheinlösungen haben können. Die Wirkung solcher Angebote besteht also vorwiegend in einer kurzfristigen psychischen Entlastung. Eine Identifikation mit Serienfiguren und Serienrealitäten veranlasste Herzog nicht nur zu der Schlussfolgerung, dass diese nutzenstiftende Funktion der Medienangebote ein bedeutender Erklä-
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rungsfaktor für die Inanspruchnahme ist, sondern auch zu der Aufforderung an die Verfasser von Hörfunkserien, sich dieser besonderen Verantwortung immer bewusst zu sein (vgl. zusammenfassend Lowery/DeFleur 1985, S. 93ff.; Drabczynski 1982, S. 96ff.). Damit verdeutlicht bereits diese Untersuchung, dass Nutzungswirkungen nicht nur in das Belieben der jeweiligen Rezipienten gestellt werden können. Der Rezipient bleibt in der Erfüllung von Bedürfnissen an Vorgaben gebunden, auf die er in der Regel nur einen sehr begrenzten Einfluss hat. Als Raymond A. Bauer Anfang der 1960er Jahre die Initiative des Publikums aus seiner Sicht zusammenfasste, sprach er - auch unter Bezugnahme auf die Ergebnisse von Herzog - von einem „functional approach.“ (Bauer 1963, S. 3) Auch Bauer sind die unterschiedlichen Möglichkeiten der Einflussnahme auf den Kommunikationsprozess durch Sender und Empfänger bewusst. Er sieht jedoch sowohl in der bewussten Auswahl als auch in dem Verzicht auf bestimmte Angebote eine wesentliche Chance des Publikums. Von ihm stammt die in der Kapitelüberschrift verwandte Formulierung ‚widerspenstiges Publikum‘: „[...] the obstinacy of the audience; it is not passively to be pushed around.“ (Bauer 1963, S. 7) Das widerspenstige Publikum weiß sich somit vor Medienangeboten und entsprechenden Einflussnahmen zu schützen. Katz und Foulkes vertraten darüber hinaus die Auffassung, dass es ein berechtigtes Interesse an der Erforschung von Gratifikationen gibt, die Menschen den Medienangeboten entnehmen. Obwohl in dem bereits genannten Beitrag das Phänomen des Eskapimus in den Vordergrund der Analyse gestellt wurde, geriet nunmehr der Aspekt der Publikumsaktivität verstärkt ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses. Der Begriff ‚publikumszentriert‘ wird ernst genommen und die Vorstellung einer ‚active audience‘ erhält Gestalt. Während man Katz’ und Foulkes’ Ausführungen noch so interpretieren darf, dass aus Wirkungen Funktionen gemacht werden (siehe Beispieltext) werden nun vermehrt Interessen, Motive und Präferenzen des Publikums zum Ausgangspunkt der Erklärung medienbezogenen Handelns.
Eine Begründung der Gratifikationsforschung „It is often argued that the mass media ‚give the people what they want‘ and that the viewers, listeners, and readers ultimately determine the content of the media by their choices of what they will read, view, or hear. Whether or not this is a valid characterization of the role of the mass in relation to the media, it is only an arc of circular reasoning unless there is independent evidence of what the people do want. More particularly, there is great need to know what people do with the media, what uses they make of what the me-
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Wirkungsmodelle und Forschungstraditionen dia now give them, what satisfactions they enjoy, and, indeed, what part the media play in their personal lives.“ (Katz/Foulkes 1962, S. 377)
Mit dem im Jahr 1974 vorgelegten Sammelband ‚The Uses of Mass Communications‘ (Blumler/Katz 1974) und dem elf Jahre später erschienenen Band „Media Gratifications Research“ (Rosengren et al. 1985) hatte diese Forschungstradition wichtige Befunde, Modelle und analytische Vorgehensweisen präsentiert, die den besonderen Stellenwert dieser Fragestellungen veranschaulichen. Ebenso hat Thomas E. Ruggiero auf die anhaltende Bedeutung dieser Perspektive hingewiesen. In seinem Beitrag ‚Uses and Gratifications Theory in the 21st Century‘ stellt er einleitend fest: „Some mass communications scholars have contended that uses and gratifications is not a rigorous social science theory. [...] I argue just the opposite, and any attempt to speculate on the future of mass communication theory must seriously include the uses and gratifications approach.“ (2000, S. 3) Folgt man dem Phasenmodell von Palmgreen et al., dann lässt sich die Entwicklung der Gratifikationsforschung wie folgt beschreiben (vgl. Palmgreen et al. 1985, S. 13f.): Die Operationalisierungsphase: Diese Phase ist durch eine Vielzahl von Typologien gekennzeichnet, die aus den Funktionen, die Medien für die Menschen haben, abgeleitet werden. Es dominieren Beschreibungen, Erklärungen sind selten. Gleichwohl hat diese relativ lange Phase (Anfang der 1940er Jahre bis Ende der 1960er Jahre) bereits einen sehr detaillierten Blick auf mögliche Gratifikationen der Medien eröffnet. In zahlreichen Varianten werden Orientierungs-, Entlastungs- und Unterhaltungsfunktionen der Medien beschrieben. Mit einer gewissen Berechtigung kann gesagt werden, dass eine gelegentliche Überbetonung des Eskapismus-Phänomens vorlag, also einer gesellschaftlich legitimierten Art, sich auf begrenzte Zeit von gesellschaftlichen Rollenverpflichtungen durch die Nutzung von Medien zu befreien. In dieser Zeit werden aber auch zahlreiche Studien vorgelegt, die das Konkurrenzverhältnis der Medien untereinander thematisieren. Die Abkehr von einer engen funktionalistischen Terminologie und Perspektive: Diese Phase kann als Übergangsphase bezeichnet werden. Der ubiquitären Verwendung des Funktionsbegriffs für alle erdenklichen Zusammenhänge zwischen Medienangeboten und Gratifikationsleistungen wird eine stärker theoriegeleitete Systematisierung entgegengestellt. Kritisiert wird eine unzureichende Ebenendifferenzierung, die die jeweils erbrachten Funktionen mal auf der gesellschaftlichen, mal auf der individuellen Ebene verankert (siehe hierzu kritisch Rosengren 1996, insb. S. 21f.). Dieser Zuordnungsproblematik wird im Rahmen der Gratifikationsforschung handlungstheoretisch begegnet. In Verbindung damit rückt das Individuum noch stärker in den Mittelpunkt des Massenkommunikationsprozesses. Zugleich nimmt die Betonung des intentionalen Charakters von Mediennutzung zu. Diese Phase kann auch als eine Phase der Modellbildung bezeichnet werden, in
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der eine genauere Bestimmung der Elemente, die am Gratifikationsprozess beteiligt sind, angestrebt wird. Die Phase der Etablierung und Ausweitung: Für diese Phase, die bis in die Gegenwart reicht, gilt die konsequente Umsetzung einer motivationalen Perspektive. Verbunden damit ist nach Auffassung von Palmgreen et al. eine Ausweitung der Fragestellung über den Kommunikationsprozess im engeren Sinne hinaus. Man bemüht sich um eine Einbindung der Mediennutzung in einen allgemeineren Handlungsrahmen. Diese Versuche können auch als Antwort auf die Überbetonung des Individuums gelesen werden, da insbesondere diesbezüglich die deutlichste Kritik artikuliert wurde (vgl. hierzu auch Jäckel 1996a, S. 93ff.). Wenn Mediennutzung als absichtsgeleitetes Handeln interpretiert wird, erhalten Medienangebote einen instrumentellen Charakter. Konsequenterweise würde daraus folgende Schlussfolgerung resultieren: Medienwirkung ist ein durch das Individuum gesteuerter Vorgang. Die Grundannahmen des Nutzen- und Belohnungsansatzes lassen diese Interpretation zu. Sie lauten:
Das aktive Publikum verwendet Medienangebote zur Erreichung bestimmter Ziele. Es liegt ein Zweck-Mittel-Denken vor. Mediennutzung ist intentional und absichtsvoll. Welches Medienangebot für welche Art von Bedürfnisbefriedigung besonders geeignet ist, entscheidet der Rezipient. Dieser Vorgang der Selektion impliziert, dass auch andere Quellen der Bedürfnisbefriedigung, die außerhalb der Medien anzusiedeln sind, in Frage kommen. Damit wird Mediennutzung als Teil eines umfassenderen Entscheidungshandelns beschrieben.
Diese Annahmen beinhalten eine Vielzahl von Voraussetzungen. Sie implizieren sowohl eine Unabhängigkeit als auch eine hohe Transparenz der Entscheidungsfindung. Sie betonen die Autonomie des Individuums und setzen einen hohen Grad an Bewusstheit voraus, insbesondere hinsichtlich der Bedeutung und Rangordnung von Interessen und Bedürfnissen (vgl. auch die Kritik bei Schweiger 2007, S. 65ff.). Der Vorwurf der Naivität blieb in diesem Zusammenhang nicht aus, da habitualisierte Mediennutzungen nicht berücksichtigt würden. Er ist aber auch auf eine selektive Wahrnehmung des Forschungsansatzes zurückzuführen. Immerhin sah man sich zu korrigierenden Äußerungen veranlasst, etwa bezüglich der Frage, ob man ein in sozialer Hinsicht ungebundenes Individuum als Grundlage der Erklärung von Mediennutzung empfehlen wollte. Blumler et al. äußerten sich zu diesem Einwand wie folgt: „We never meant to talk about abstracted individuals, but about people in social situations that give rise to their needs. The individual is part of a social structure, and his or her choices are less free and random than a vulgar gratificationism would presume.“ (Blumler et al. 1985, S. 260) Dieses Zitat verdeutlicht noch ein-
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mal, in welche Richtung sich die Missverständnisse bewegten. Bereits im Jahr 1949 stellte der amerikanische Soziologe Robert King Merton fest: „Gratifications derived from mass communications [...] are not merely psychological in nature; they are also a product of the distinctive social roles of those who make use of the communications.“ (Merton 1968, S. 461f.) Der Begriff der Publikumsaktivität wurde folglich immer weiter eingeschränkt bzw. konkretisiert, bis zu dem Hinweis, er sei nur im funktionalistischen Sinne zu verstehen. Schließlich sei auch der ‚Nutzen‘ als solcher strukturell bedingt. Wobei hier auch deutlich wird, dass die Frage, warum bestimmte Bedürfnisse eigentlich wirken, durch diesen Ansatz ebenfalls nicht genügend beleuchtet werde (vgl. Hugger 2008). Die Logik der Selektion aus einem gegebenen Angebot muss präzisiert werden. Die Entscheidungen für oder gegen bestimmte Medieninhalte können mit dem Ansatz der low cost decisions beschrieben werden. Die Wahl eines Medienangebotes ist leicht rückgängig zu machen, indem man um- oder ausschaltet, die Zeitung beiseite legt, die Website wechselt. Auch die monetären Ausgaben halten sich in Grenzen. Eine nicht-optimale Wahl kann folglich leicht korrigiert werden. Die Opportunitätskosten im Falle einer Festlegung sind also relativ gering und somit wird auch nicht viel Aufwand in eine Entscheidungsfindung investiert. Die Gratifikationserwartungen rühren von unterschiedlichen Quellen her, wie eigenen Erfahrungen, Empfehlungen oder besonderen Ereignissen. Durch den Wandel in den Medientechnologien und die damit aufkommenden ‚Mitmach-Medien‘ wird wieder vermehrt die Einbindung des Publikums diskutiert. Ob dessen Entscheidungen als ‚Richtspruch‘ interpretiert werden kann, ist fraglich. Nicht selten dürften die Entscheidungen, wie oben beschrieben, eben nicht wohl durchdacht und von ganz bestimmten Zielen geleitet sein. Folgende Punkte sind hier zu beachten:
Als eher unorganisiertes, disperses Publikum verfügt dieses über keine dauerhafte Organisationsstruktur und damit nur über eine geringe Kontinuität. Das Publikum als (Bezugs-)Gruppe kann sich wiederum einbringen, indem es sich über Geschehnisse und Rezeptionen austauscht. Dies erfolgt jedoch weniger engagiert und selten kontinuierlich, da solche Diskussionen meist nicht gezielt geführt werden, sondern aus alltäglichen Interaktionen entstehen. Das Publikum wird, ob aktiv oder passiv, in Medienplanungen als Kalkulationsgröße bedacht.
Entsprechend diesen Konstellationen kann man verschiedene Rollen des Publikums beschreiben: Mündige Konsumenten verfügen über Medienkompetenzen, die als Grundlage für Entscheidungen und Verarbeitung dienen. Qualitätsurteile können als Weiterempfehlungen Auswirkungen haben.
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Schutzbedürftige Gruppen sollen mithilfe institutionalisierter Medienkontrolle über Selbstschutz und Nicht-Nutzung hinaus unterstützt werden. Als (Mit-)Produzenten beteiligen sich Mediennutzer an der Gestaltung von Medienangeboten und übernehmen teilweise sogar selbst die Rolle eines Senders.27 Im Hinblick auf den Wandel des Mediensystems stellt sich somit die Frage, wie sich das Publikum in Zukunft einbringen wird (vgl. Jäckel 2010a). Einen ebenfalls differenzierteren Blick auf die Ursache-Wirkungs-Beziehungen und die Rolle des Publikums wirft auch der dynamisch-transaktionale Ansatz. 3.3 Der dynamisch-transaktionale Ansatz und der Konstruktivismus Gegenüber dem Nutzen- und Belohnungsansatz ist vor allem der Vorwurf des Finalismus erhoben worden. Damit wird auf die Dominanz der zweckorientierten Perspektive hingewiesen. Zu Recht kann man einwenden, dass ein Großteil des Alltaghandelns häufig durch nachträgliche Legitimationen seine Berechtigung erfährt. Medienwirkung aus der Perspektive des subjektiven Nutzens zu betrachten, ist zwar legitim, halbiert aber gleichsam den zu analysierenden Kommunikationsvorgang. Die im folgenden dargestellte Forschungsperspektive greift auf eine Empfehlung von Bauer zurück, die wie folgt lautet: „My proposal that we look at communications as a transactional relationship may have a moralistic overtone, but that is not my intention. In the proper place I would be delighted to be a moralist. Here I am concerned with the research potential of this point of view. It encourages us to look at the initiative of the audience as it goes about its own business of getting the information it wants and avoiding what it does not want, at how the audience affects what will be said, and at the changes which take place in the communicator in the process of communicating.“ (Bauer 1963, S. 7) Die Bezeichnung ‚transactional relationship‘ wird in dieser Einschätzung der Sender-Empfänger-Beziehung verwandt und verleiht dem sogenannten dynamisch-transaktionalen Ansatz einen Teil seines Namens. An die Stelle einer finalistischen Nutzentheorie und einer kausalistischen Wirkungstheorie (Stimulus-Response-Modell) tritt hier als Vermittlungsvorschlag ein Plädoyer für die Aufhebung der klassischen Vorstellung von Ursache und Wirkung. Dieser Ansatz kann in der Bundesrepublik Deutschland insbesondere mit den Namen Werner Früh und Klaus Schönbach in Verbindung gebracht werden. Sie schlagen vor, Medienwirkungen eher als Ergebnisse „realer oder virtueller Interaktionsprozesse zwischen Medien und Publikum“ (Früh/Schönbach 2005, S. 4) zu verstehen (vgl. allgemein Früh/Schönbach 1982). Dies entspricht der
27
Siehe hierzu die die Ausführungen in Kapitel 12.
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expliziten Aufforderung, die Kommunikator- und die Rezipientenperspektive zu integrieren. Die Bedeutung massenmedialer Stimuli wird relativiert, indem man von einer feststehenden Interpretation abkehrt. Der gemeinte Sinn kann nicht auf die Intentionen des Kommunikators reduziert werden. Medienangebote können unterschiedliche Interpretationen und - infolgedessen - unterschiedliche Wirkungen zur Folge haben. Das eigentliche Wirkungspotenzial der Medienangebote resultiert aus den Interpretationen der Rezipienten. Die Medien liefern somit lediglich den Rohstoff für die Entstehung von Wirkungen. Der Begriff ‚transaktional‘ soll bewusst einen Unterschied zur Interaktion im Rahmen von Face-to-Face-Beziehungen illustrieren. Obwohl der Begriff eine wechselseitige Beziehung andeutet, beruhen die Transaktionen zwischen einem Sender und einem Empfänger nur selten auf unmittelbaren Feedback-Prozessen. Gleichwohl lassen sich viele Formen von Rückmeldungen vorstellen. Für Kommunikatoren sind dies bspw.: Einschaltquoten, Verkaufszahlen, Rezipientenreaktionen in Form von Leserbriefen, ein Lob des Programmdirektors, Kritik der Kollegen usw. Auf der Grundlage dieser Indikatoren und Reaktionen entwickelt sich auf Seiten des Senders eine Vorstellung über die Erwartungen des Publikums, zugleich aber auch Annahmen über Qualitätsstandards. Ebenso bilden sich auch bei den Rezipienten im Zuge der Erfahrung mit Medienangeboten Vorstellungen und Erwartungen, die als Grundlage der Bewertung von Medienangeboten dienen. Die theoretischen Überlegungen des Nutzen- und Belohnungsansatzes werden hier berücksichtigt. Stabile Muster von Mediennutzung können den Kommunikatoren signalisieren, dass eine Zufriedenheit mit den präsentierten Medienangeboten vorhanden ist. Man schließt aus diesen Reaktionen auf Erwartungen der Zuschauer und bemüht sich, diesen möglichst optimal gerecht zu werden. Früh und Schönbach sprechen in diesem Zusammenhang von einem ParaFeedback, weil diese Rückkopplungsprozesse einen anderen Interaktions-Typus darstellen. Der Begriff ‚Transaktion‘ soll nicht im Sinne eines Aushandelns zwischen Sender und Empfänger verstanden werden. Wer in diesem Zusammenhang den Begriff ‚bargaining‘ verwendet, verkennt die Trägheit des zugrundeliegenden Prozesses. In Bezug auf Massenkommunikation schreiben die Autoren: „Transaktionen im Sinne unseres Modells finden dort viel öfter habituell, unbewußt und im affektiven Bereich statt.“ (Schönbach/Früh 1991, S. 41) Aus dieser Feststellung darf die Schlussfolgerung gezogen werden, dass sich alle Beteiligten häufig auf vertrauten Pfaden bewegen. Die nachfolgende Abbildung umfasst eine Vielzahl von Transaktionen, die demzufolge ihre Relevanz insbesondere in Situationen entfalten, in denen weder der Kommunikator noch der Rezipient ein adäquates Bild von den Vorstellungen der jeweiligen Gegenseite hat. Vertrautheit hingegen schafft Raum für Alltagsroutinen. Das folgende Modell benennt zugleich die wesentlichen Komponenten des dynamisch-transaktionalen Ansatzes (vgl. Abbildung 3.2)
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Die jeweiligen Vorstellungen der Kommunikationspartner voneinander werden in diesem Modell durch einen gestrichelten Verbindungspfeil angedeutet. IntraTransaktionen resultieren aus dem Zusammenspiel von bereits vorhandenem Wissen und neu hinzukommenden Informationen. Dieser Prozess wird durch den Begriff ‚Aktivation‘ beschrieben und gilt gleichermaßen für Sender und Empfänger. InterTransaktionen finden dagegen zwischen Rezipient und Kommunikator statt. Für diesen Typus gilt: „Basis und Produkt von Inter-Transaktionen sind das ‚Bild vom Rezipienten beim Kommunikator‘ bzw. das ‚Bild vom Kommunikator beim Rezipienten‘.“ (Schönbach/Früh 1991, S. 42) Dass dieser Prozess nicht als statisch begriffen werden darf, erklärt die Hervorhebung des dynamischen Elements, das die Abkehr von einem linearen Modell hin zu einem Veränderungsprozesse und Wechselwirkungen betonenden Ansatz verdeutlichen soll. Es geht mithin um den Versuch, Prozesse der Informationsentstehung und -übertragung transparent zu machen. Dabei kommt dem Wechselspiel von Informationsverarbeitung, -aktivierung und speicherung eine zentrale Bedeutung zu. Diese Schwerpunktsetzung verdeutlicht, warum der dynamisch-transaktionale Ansatz häufig mit Anleihen aus der Kognitionspsychologie arbeitet. Abbildung 3.3
Die Grundstruktur des dynamisch-transaktionalen Modells
Kommunikator
Rezipient
Aktivation
Aktivation
Wissen
Medienbotschaft Para-Feedback Vorstellungen der Kommunikationspartner voneinander usw.
Intra-Transaktionen
Intra-Transaktionen
Inter-Transaktionen
Wissen
Quelle: Modifizierte Darstellung in Anlehnung an Schönbach/Früh 1991, S. 53
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Anhand einfacher Beispiele soll das Modell erläutert und illustriert werden. Der Rezipient entscheidet sich zum Beispiel für das Sehen eines bestimmten Programms. Wenn der Rezipient diese Sendungen einem übergeordneten Genre zuordnet, dokumentiert er damit bereits ein medienbezogenes Erfahrungswissen. Im Verlaufe der Rezeption dieser Sendung kommt es nicht nur zu unterschiedlichen Aktivationen allgemeine Aufmerksamkeit, Aufregung, Betroffenheit, Interesse usw. 28 -, sondern zugleich zu einer Auffrischung, Bestätigung oder Modifikation des bestehenden Wissensvorrats. Im Falle einer Nachrichtensendung kann sich dieser Vergleich sowohl auf den Moderator als auch auf die Qualität der Beiträge oder auf unterschiedliche Darstellungsformen beziehen. Für die Beurteilung von Medienwirkungen folgt daraus allgemein, dass die meisten Kommunikationsangebote den Rezipienten nicht als ein ‚leeres Gefäß‘ vorfinden werden. Medieneffekte sind somit das Resultat der Wechselwirkung von Intra-Transaktionen und Inter-Transaktionen. Die Gemeinsamkeiten mit dem Stimulus-Response-Modell scheinen sich hier auf ein Minimum zu reduzieren. Ein monokausaler Ansatz wird durch einen multikausalen Ansatz ersetzt. Früh spricht daher auch von einem integrativen Paradigma für Medienrezeption und Medienwirkungen (vgl. Früh 2001, S. 11). Dem Modell zufolge „[...] sind sowohl Kommunikationsaussagen als auch bereits im Rezipienten vorhandene Kognitionen und Affekte (zum Beispiel auch solche, die das Bild vom Kommunikator betreffen) Ursachen.“ (Schönbach/Früh 1991, S. 43) Man könnte also sagen: Wirkungen resultieren aus dem Wechselspiel der Ursachen. Wenn man davon ausgeht, dass die Medienangebote die Rezipienten während eines relativ kurzen Zeitraums erreichen, kann die Struktur des dynamischtransaktionalen Modells auch wie in Abbildung 3.4 dargestellt werden. Der dynamisch-transaktionale Ansatz zerlegt den Wirkungsprozess in eine Vielzahl von Teilereignissen, die zeitlich aufeinander aufbauen und miteinander verbunden sind. Diese detaillierte Vorgehensweise würde im Falle einer konsequenten Umsetzung in einer unübersichtlichen Vielzahl von Wechselwirkungen enden. Der Vorwurf der Überkomplexität (und Nichtprüfbarkeit) ist dementsprechend auch einer der am häufigsten vorgebrachten. Entsprechend zeigen die dieser Tradition verpflichteten Untersuchungen, dass man - insbesondere mit experimentellen Verfahren - in der Regel nur Ausschnitte des Modells analysiert. Es geht folglich darum, den vorher bestimmten Wirklichkeitssauschnitt zu analysieren, der für den zu untersuchenden Aspekt entscheidend ist. Dieser Ausschnitt muss nicht unbedingt gänzlich empirisch erfasst werden. Mann kann sich auch mit der experimentellen Kontrolle bestimmter Bereiche zufriedengeben. Zugleich geraten damit die Analysen in die Nähe der Grundstruktur des Stimulus-Response-Modells. Beispielhaft sei hier auf experimentelle Untersuchungen zur Bedeutung der Textstruktur für die Informa28
In der Literatur wird als Oberbegriff für diese unterschiedlichen Formen der Aktivation häufiger der Begriff ‚Involvement‘ verwandt (vgl. hierzu Donnerstag 1996).
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tionsverarbeitung hingewiesen (vgl. hierzu die detaillierte Darstellung bei Früh 1991, S. 246ff.; Früh/Schönbach 2005). Abbildung 3.4
Das dynamisch-transaktionale Modell in zeitlicher Perspektive
Kommunikator
Kommunikator
WIRKUNG
Rezipient
Rezipient
t1
t2
t3
…
Zeitachse inter- transaktional intra-transaktional
Quelle: Eigene Erstellung Ziel der Analysen ist der Nachweis einer konstruktiven Informationsverarbeitung. Der Begriff soll verdeutlichen, dass der Rezipient sich auf der Grundlage bestimmter Medienangebote Sinnzusammenhänge erschließt. Medienwirkungen sind ohne die aktive Beteiligung des Rezipienten nicht vorstellbar. Dieser Sachverhalt wird insbesondere von den Vertretern des Konstruktivismus betont. Der Konstruktivismus umfasst eine Vielzahl von Schulen, die hier nicht dargestellt werden können (vgl. zusammenfassend Rusch/Schmidt 1994). Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass im Falle von Kommunikation verschiedene Selektionen zu beachten sind, die für die Entstehung und Wahrnehmung von Aussagen bedeutsam sind. Der Konstruktivismus fragt nun sehr entschieden, wie wahrscheinlich eine Kopplung (strukturell und inhaltlich) dieser unter Umständen sehr disparaten Vorgänge ist. Der Auffassung von Merten zufolge kommen Wirkungen „nur durch die operative Struktur selektiver Instanzen zustande.“ (Merten 1991, S. 47) Hinsichtlich dieser Operationen erfährt man bspw., dass Menschen
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die Wirklichkeit nicht wahrnehmen, wie sie ist, sondern Modelle von dieser Wirklichkeit entwerfen. Nicht nur der Stimulus ist ein Modell der Wirklichkeit, sondern auch die Wahrnehmung dieses Entwurfs. Bei Dirk Baecker heißt es hierzu: „Was ein Individuum hört, sieht, riecht, schmeckt, tastet und fühlt, bezeichnet die Welt der Sinneseindrücke. Aber man nehme dieses Individuum und lasse es sich mit anderen über das Wahrgenommene austauschen, und etwas ganz anderes kommt dabei herum.“ (2005, S. 14) Für die Entschlüsselung dieses Vorgangs ist Kommunikation zentral. Da der Prozess der Wahrnehmung nicht unmittelbar beobachtet werden kann, ist man immer auf Beschreibungen angewiesen. Diese Beschreibungen repräsentieren aber nicht das Phänomen selbst. Wenn in Massenmedien bestimmte Ereignisse dargestellt werden, greift dieses Grundmodell der Erfahrung selbstverständlich auch. Der Rezipient beobachtet die Beobachtungen anderer. Alle Beobachter haben in diesem Zusammenhang eine ihnen eigene „autonome Kreativität“ (Hennen 1994, S. 133). Der Begriff ‚Objektivität‘ ist dieser Erkenntnistheorie fremd. Wenn die Wirklichkeit durch unsere kognitiven und sozialen Aktivitäten bestimmt wird, dann ist es nicht sinnvoll, von den Objekten und von der Natur zu sprechen (vgl. Schmidt 1994b, S. 5). Infolgedessen ist es auch nicht ratsam, von dem Stimulus und der Wirkung auszugehen. Der Konstruktivismus radikalisiert damit eine Auffassung, die aus soziologischer Sicht nicht neu ist: „Vor der Erfindung des Konstruktivismus hat die Soziologie bereits erkannt, daß die Menschen ihre Wirklichkeiten nicht vorfinden, sondern selbst zur Geltung bringen. [...] Der Zugang zu dem, was als Realität bezeichnet wird, ist das Werk von Beschreibungen.“ (Hennen 1994, S. 133) Diese Beschreibungen beruhen auf Unterscheidungen bzw. Selektionen und haben nur in diesem Sinne – nämlich als von Nicht-Gewähltem Unterschiedenes – Sinn. Sinn meint in diesem Zusammenhang nichts anderes als Auswahl aus verfügbaren Optionen bei Aufrechterhaltung eines Horizontes jenes Möglichen, aber nicht Gewählten. Hierzu schrieb Luhmann in einer frühen Arbeit: „Das Woraus der Selektion, die reduzierte Komplexität, bleibt im Sinn erhalten.“ (Luhmann 1970, S. 116). Dieser Selektionsprozess ist es, der den Konstruktivismus zunächst an einer weitgehend identischen Wirkung bestimmter Stimuli zweifeln lässt. Letztendlich sei der Einzelne bzw. das Bewusstsein des Einzelnen als Sinn prozessierende Instanz dafür verantwortlich, welche Bilder der Welt und welche Entschlüsselung von Informationen erzeugt werden. Die Wahrnehmung von Stimuli bleibt an die Erkenntnismöglichkeiten eines kognitiven Systems gebunden. Jede Diskussion darüber, ob es eine Wirklichkeit gibt, ist aus dieser Perspektive schnell beantwortet. Entscheidend bleibt, dass der Versuch, diese Wirklichkeit zu beschreiben, auf eigene und andere Wahrnehmungen angewiesen bleibt. Die Möglichkeit unterschiedlicher Perspektiven ist dieser Vielfalt der Beobachter immanent. Für die Wirkungsforschung resultiert daraus unter anderem die Frage, „wie trotz völlig individueller Freiheit der Konstruktion von Wirkungen bestimmte Medienangebote in bestimmten Situationen
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vergleichsweise ähnliche Wirkungen hervorrufen - oder auch nicht hervorrufen.“ (Merten 1991, S. 48) Wenn bereits das Phänomen, das beschrieben wird, viele Lesarten bzw. Sichtweisen zulässt, wie kann man dann noch annehmen, dass diesen Lesarten identische Wirkungen folgen werden. Der Konstruktivismus macht in besonderer Weise deutlich, dass von einer Wirklichkeit des Beobachters ausgegangen werden muss und nicht von einer beobachtungsunabhängigen Realität. Medienangebote liefern somit nicht ein Spiegelbild, sondern ein mögliches Bild der Wirklichkeit. Massenmedien gewährleisten immerhin, dass eine Vielzahl von Menschen diese Wirklichkeitsvorstellungen wahrnehmen und als eine mögliche Orientierungshilfe in Betracht ziehen. Diese Beobachtung zählt zu den frühen Gewissheiten der Medienwirkungsforschung29. 3.4 Kritische Theorie der Massenmedien Die Geschichte der Medienwirkungsforschung kann als eine allmähliche Zurückweisung starker Medieneffekte gelesen werden. Dennoch konkurrieren verschiedene Varianten einer medienzentrierten und publikumszentrierten Sichtweise nach wie vor um eine zutreffende Bestimmung der Bedeutung der Medien in modernen Gesellschaften. Diese unterschiedlichen Herangehensweisen an einen Forschungsgegenstand finden in einer empirisch-analytischen Vorgehensweise oftmals eine gemeinsame Klammer. Obwohl sich die frühe Wirkungsforschung vorwiegend mit Phänomenen der Manipulation und Beeinflussung beschäftigt hat, wurde ihr eine Kritikferne gegenüber gesellschaftlichen Machtverhältnissen und eine Ausblendung ökonomischer Zusammenhänge vorgeworfen. Man könnte auch sagen: Die Konzentration auf die Analyse des Kommunikationsprozesses ließ den Blick auf die Rahmenbedingungen in den Hintergrund treten. Die Terminologie lässt bereits erkennen, dass diese Kritik aus einer im Marxismus verwurzelten Auffassung hervorging. Demzufolge werden alle Lebensäußerungen der Gesellschaft als Widerspiegelung des Wirtschaftslebens interpretiert (vgl. Kausch 1988, S. 19). Während die bislang dargestellten Forschungstraditionen vorwiegend amerikanischer Provenienz sind, begegnet man hier einer Schule, die ihre Wurzeln in Deutschland hat: die Frankfurter Schule (umfassend hierzu Albrecht u.a. 1999). Das Zentrum dieser Schule war in den 1920er und 1930er Jahren das Institut für Sozialforschung an der Universität in Frankfurt am Main. Die Mitglieder dieses Instituts interessierte vor allem die Frage, welche Ursachen für das Ausbleiben eines entwickelten Klassenbewusstseins benannt werden müssen. Welche Faktoren verhindern eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Sinne des Marxismus? Medien und Kommunikation spielten in diesem Zusammenhang zunächst nur eine nachrangige 29
Siehe hierzu insbesondere die Ausführungen in Kapitel 7 und Kapitel 8.
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Rolle. Manipulation war ein beliebter Begriff und galt als Sammelbezeichnung für alle Versuche, die bestehenden Produktionsverhältnisse zu stabilisieren. Das immer deutlichere Hervortreten einer sogenannten Massenkultur führte jedoch zu einer umfassenderen Beschäftigung mit der Frage, was diese Kultur kennzeichnet und welchen Zwecken sie dient. In diesem Zusammenhang werden die Angebote der Massenmedien als Stimuli interpretiert, die in der Lage sind, die Menschen von ihren wirklichen Bedürfnissen abzulenken. Während schon die Arbeitswelt den Menschen einen nur geringen gestalterischen Spielraum lässt, wird die Phase der sogenannten Reproduktion durch die Dominanz populärkultureller Inhalte quasi entpolitisiert. Die ständige Wiederkehr dieses Kreislaufs führe dazu, dass diese kulturellen Produkte bereits auf Bedürfnisstrukturen treffen, die gleichsam auf sie zugeschnitten sind. Würden sich die Medienangebote nur auf die Darstellung des wirklichen Lebens beschränken, würde ihnen wahrscheinlich eine nur geringe Aufmerksamkeit entgegengebracht werden. Diese Art von Realismus wird nicht erwartet, obwohl Leo Löwenthal feststellte: „Das Radio, das Kino, die Zeitungen und die Bestseller sind zugleich Vorbilder für den Lebensstil der Massen und Ausdruck ihres tatsächlichen Lebens.“ (Löwenthal 1980, S. 23) Je weiter sich aber die in der Freizeit erzeugten Bedürfnisse von der Wirklichkeit des Arbeitslebens entfernen, desto mehr gerät das gesamte Sozialsystem in eine Legitimationskrise. Insbesondere Theodor W. Adorno stellte diese Massen- bzw. Trivialkultur einer Hochkultur gegenüber, die nicht diesem ökonomischen Imperialismus unterliegt. Das Kennzeichnende für die Industrialisierung der kulturellen Produktion sah Adorno darin, dass die Merkmale der industriellen Produktion, z. B. Standardisierung und Vervielfältigung, sich auch in der Produktion des Kulturellen niederschlagen. Der industriellen Produktion entspreche die kulturelle Komposition, dem Tausch auf dem Markt die Arbeitsweise der Kulturindustrie und dem Konsum die Rezeption. Die Merkmale der kulturindustriellen Produkte sind gekennzeichnet durch „[...] soziale Indifferenz, Wiederholung des Immergleichen, rasche Vergänglichkeit, Verdoppelung der Realität und Verstärkung vorgegebenen Bewußtseins.“ (Kausch 1988, S. 86) Als Adorno in den 1950er Jahren die Gelegenheit erhielt, die Anfänge des amerikanischen Fernsehens zu studieren, fand er sich in dieser Auffassung bestätigt. Das Fernsehen galt ihm als Feind des Individualismus und als Medium, das Oberflächlichkeit institutionalisiert. Nachfolgend (siehe die Beispieltexte) sind einige Zitate aus Adornos ‚Prolog zum Fernsehen‘ und aus seinem Beitrag ‚Fernsehen als Ideologie‘ zusammengestellt. Sie sollen verdeutlichen, wie sich Kultur entwickelt, wenn sie den Gesetzen des Marktes unterliegt. Auch heute werden solche Einschätzungen noch auf Zustimmung stoßen. Die Medienkritik bedient sich gerne dieser Tradition, wenn sie moderne Formen der ‚Augenwischerei‘ kritisieren möchte. Gleichwohl ist diese Kritik häufig ohne explizite Offenlegung dieses ideologischen Kerns artikuliert worden. In einer Rekonstruktion dieser medienkritischen Tradition hebt Wehner unter anderem hervor: „Für
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Adorno und seine Schüler stand fest, dass die gesellschaftliche Funktion von Funk, Film und Fernsehen eine ideologische ist, nämlich mit ihren symbolischen Erzeugnissen ihr Publikum zu motivieren, sich mit den bestehenden Verhältnissen zu arrangieren, statt diese in Frage zu stellen.“ (2006, S. 33) Noch in den 1960er Jahren schrieb Herbert Marcuse in seinem Buch ‚Der eindimensionale Mensch‘: „Es ist der kennzeichnende Zug der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, daß sie diejenigen Bedürfnisse wirksam drunten hält, die nach Befreiung verlangen - eine Befreiung auch von dem, was erträglich, lohnend und bequem ist - während sie die zerstörerische Macht und unterdrückende Funktion der Gesellschaft ‚im Überfluß‘ unterstützt und freispricht. Hierbei erzwingen die sozialen Kontrollen das überwältigende Bedürfnis nach Produktion und Konsumtion von unnützen Dingen; das Bedürfnis nach abstumpfender Arbeit, wo sie nicht mehr wirklich notwendig ist; das Bedürfnis nach Arten der Entspannung, die diese Abstumpfung mildern und verlängern; das Bedürfnis, solche trügerischen Freiheiten wie freien Wettbewerb bei verordneten Preisen zu erhalten, eine freie Presse, die sich selbst zensiert, freie Auswahl zwischen gleichwertigen Marken und nichtigem Zubehör bei grundsätzlichem Konsumzwang.“ (Marcuse 1967, S. 27) Dadurch erfährt Entfremdung einen neuen Charakter: Der Konsum wird das oberste Ziel, gesellschaftliche Veränderung wird durch die Unterstützung dieser Präferenzen unwahrscheinlich (vgl. hierzu auch Lenk 1986, S. 210)30. Die angeführten Beispiele verdeutlichen, dass die Bedeutung der Medien und ihrer Angebote in einen ökonomischen und gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang gestellt werden. In diesem Kontext hat diese kritische Theorie der Massenmedien ihr Augenmerk selten auf Fragen des methodischen Zugangs gelenkt. Sowohl die Medienangebote als auch weite Teile des Publikums wurden von einer umfassenden Homogenitätsannahme erfasst, die wenig Raum für Differenzierung ließ.
Prolog zum Fernsehen: „Das Medium selbst jedoch fällt ins umfassende Schema der Kulturindustrie und treibt deren Tendenz, das Bewußtsein des Publikums von allen Seiten zu umstellen und einzufangen, als Verbindung von Film und Radio weiter.“ (S. 69) „Wie man außerhalb der Arbeitszeit kaum mehr einen Schritt tun kann, ohne über eine Kundgebung der Kulturindustrie zu stolpern, so sind deren Medien derart ineinander gepaßt, daß keine Besinnung mehr zwischen ihnen Atem schöpfen und dessen innewerden kann, daß ihre Welt nicht die Welt ist.“ (S. 69) 30
Zu erwähnen ist hier auch Stuart Ewens 1976 erschienenes Buch „Captain of Consciousness“.
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Wirkungsmodelle und Forschungstraditionen „Der Verdacht, daß die Realität, die man serviert, nicht die sei, für die sie sich ausgibt, wird wachsen. Nur führt das zunächst nicht zum Widerstand, sondern man liebt, mit verbissenen Zähnen, das Unausweichliche und zuinnerst Verhaßte um so fanatischer.“ (S. 72) „Was längst der Symphonie geschah, die der müde Angestellte in Hemdsärmeln seine Suppe schlürfend, mit halbem Ohr toleriert, geschieht nun auch den Bildern.“ (S. 73) „Der Sprache aber werden die Menschen durchs Fernsehen noch mehr entwöhnt, als sie auf der ganzen Erde heute schon sind.“ (S. 75) Fernsehen als Ideologie: „Bei unzähligen Gelegenheiten biedert sich das Schema des Fernsehens dem internationalen Klima des Anti-Intellektualismus an.“ (S. 89) „Mit allerhand Charakterzügen wird herumgewürfelt, ohne daß das Entscheidende, der unbewußte Ursprung jener Charakterzüge, überhaupt aufkäme.“ (S. 91) „Wenn die Ideologie, die sich ja einer recht bescheidenen Anzahl immer wiederholter Ideen und Tricks bedient, niedriger gehängt würde, könnte ein öffentlicher Widerwille dagegen sich bilden, an der Nase herumgeführt zu werden, wie sehr auch die gesamtgesellschaftlich erzeugten Dispositionen ungezählter Hörer der Ideologie entgegenkommen mögen. Es ließe sich eine Art von Impfung des Publikums gegen die vom Fernsehen verbreitete Ideologie und die ihr verwandten denken.“ (S. 96f.) (Adorno 1963)
Damit einher gingen unzureichende Differenzierungen des verwandten Vokabulars: Massenkultur und Kulturindustrie wurden als Oberbegriffe für Kommunikationsforschung, Werbeforschung und Propaganda verwandt. Der Unterscheidung zwischen Hochkultur und Massenkultur fiel zugleich auch die Kommunikationsforschung zum Opfer. Letztere erscheint als jene, die sich für die Beschäftigung mit diesen Phänomen quasi entschuldigen muss: „Daß es bei dieser Aufgabentrennung immer die ‚Massen‘-Kommunikationsforschung ist, die sich für ihren Gegenstand zu entschuldigen hat und die Minderwertigkeitskomplexe heucheln muß, liegt an diesem Vorbehalt gegen das Vergnügen. Die kritische Theorie als fröhliche Wissenschaft und lustvolle Kunst steht dem entgegen.“ (Kausch 1988, S. 82) Diese Dichotomisierung erklärt das distanzierte Verhältnis der Kritischen Theorie zu den Methoden der empirischen Sozialforschung. Wissenschaft sollte nicht auf ‚measurement‘ reduziert werden. Diese unterschiedlichen Grundhaltungen wurden besonders deutlich, als Mitglieder des Instituts für Sozialforschung nach ihrer Emigration in die Vereinigten Staaten mit dem pragmatischen Wissenschaftsverständnis amerikanischer Kollegen konfrontiert wurden. Als Adorno und Löwenthal erste Entwürfe für ein Forschungsprogramm vorlegten, erhielten sie den Ratschlag: „Do not be too
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theoretical [...] Do not form the project in hypotheses but in terms of problems [...] Leave out critical view on concepts.“ (zitiert nach Kausch 1988, S. 32) Zu einem offenen Konflikt kam es schließlich, als der Direktor des ‚Office of Radio Research‘, Paul Felix Lazarsfeld, Adorno eine Halbtagsstelle anbot und letzterer die Weigerung aussprach, sich zum Zwecke des Messens von Kultur bestimmter verdinglichter Methoden zu bedienen (vgl. zu dieser Kontroverse die Darstellung bei Kern 1982, S. 158ff.). Ein Fortwirken der Tradition der Kritischen Theorie ist auch heute noch zu beobachten. Wenn der Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und Kultur analysiert wird und Fragen der Mediennutzung Berücksichtigung finden, lassen sich häufig Argumente bzw. Elemente aus dieser Theorie identifizieren. McQuail unterscheidet in seinem Lehrbuch ‚Mass Communication Theory‘ ein dominantes und ein alternatives Paradigma (vgl. McQuail 2005, S. 62ff.). Für das dominante Paradigma ist nach seiner Auffassung kennzeichnend: das Ideal einer liberalen, pluralistischen Gesellschaft, eine funktionalistische Perspektive, eine Orientierung an linearen Wirkungsvorstellungen und eine an den Gütekriterien der empirischen Sozialforschung orientierte Forschungspraxis. Für das alternative Paradigma hingegen gilt: ein kritisches Gesellschaftsverständnis, eine Ablehnung von Wertfreiheit als Maxime der Sozialwissenschaft, eine Ablehnung linearer Wirkungsvorstellungen, eine Betrachtung von Massenmedien als stabilisierendes Element moderner Industriegesellschaften, eine Grundskepsis gegenüber Medien (Ideologieverdacht) sowie eine Bevorzugung nicht-standardisierter Verfahren, die auch als qualitative Methoden bezeichnet werden. Besonders hervorzuheben ist aus diesem Kanon der sogenannte ‚Cultural Studies Approach‘. Dieser gegenwärtig noch sehr vielschichtige und heterogene Ansatz erfreut sich zunehmender Popularität und legt einen umfassenden Kulturbegriff zugrunde. Kultur wird als die Summe der symbolischen Ausdrucksformen einer Gesellschaft definiert. Diese umfassen auch die Medienangebote, die Vorstellungen von Realität widerspiegeln und Instanzen der Bedeutungsproduktion darstellen. Die Rezipienten werden durch die Aneignung und Verarbeitung dieser Symbole nicht nur mit diesen Realitäten konfrontiert, sondern auch in die jeweilige Gesellschaft eingebunden. An die Stelle einer homogenen Masse tritt hier der Versuch, die Rezeption von Medienangeboten unter Bezugnahme auf die lebensweltlichen Hintergründe zu rekonstruieren. Kultur wird hier als konfliktärer Prozess aufgefasst, die nie als homogenes Ganzes fassbar wird, sondern als Ausdruck konkurrierender Bedeutungssysteme und Lebensweisen. Cultural Studies sollen sich mit diesen Zusammenhängen nun kritisch auseinandersetzen und dabei bedenken, dass ‚die‘ Kultur als solche dann natürlich ständig strittig wäre, da die verschiedenen Kulturen wieder je unterschiedliche Subkulturen beherbergen. Eine Definition von Kultur sei danach nie ohne Berücksichtigung des Kontextes möglich. Neben diesem Bemühen um eine sozialstrukturelle Einbettung von Medienwirkung stößt der Versuch, Gemeinsamkeiten zu benennen, sehr rasch an Grenzen: Mal steht im Vordergrund, dass
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der Zugang und die Kontrolle von Medien einen wesentlichen Einfluss auf das Erleben von Kultur hat (Hegemonie-Konzept), mal dominiert die Beschreibung unterschiedlichster Formen der Aneignung von Medienangeboten, die wiederum den Eindruck einer Individualisierung von Wirkung bekräftigen (vgl. zusammenfassend Jäckel/Peter 1997, Hepp 2010, sowie die Beiträge in Bromley u.a. 1999). Am Ende dieses Kapitels mag somit der Eindruck entstehen, dass sich der Gegenstand der Medienwirkungsforschung gegen einfache Erklärungen sperrt. Die öffentliche Erörterung von Medienwirkungen steht dazu in einem gelegentlich merkwürdigen Kontrast. Dort wird seltener das differenzierte Urteil eingefordert; stattdessen haben einfache und deutliche Antworten Konjunktur. In Anlehnung an Adorno müsste man fragen: Welche Bedürfnisse sind es, die nach solchen Antworten verlangen? Spektakuläre Befunde bzw. Behauptungen genießen naturgemäß eine hohe Aufmerksamkeit. Einwände und Bedenken haben einen eher defensiven Charakter. Wer aus der Beschäftigung mit Medien einen Gewinn erzielen will, muss aber den steinigen Weg von der Theorie zur Praxis gehen. Selbst spektakuläre Medienwirkungen der Vergangenheit werden dann in ein neues Licht gerückt. Kapitel 4 beschäftigt sich mit diesem Thema.
Früh, Werner (1994): Realitätsvermittlung durch Massenmedien. Die permanente Transformation der Wirklichkeit. Opladen. Klapper, Joseph T. (1960): The Effects of Mass Communication. New York. Power, Paul et al. (2002): Audience Activity and Passivity, In: Gudykunst, William B. (Ed.): Communication Yearbook 26. Mahwah, S.116-159. Rosengren, Karl Erik et al. (Eds.) (1985): Media Gratifications Research, Current Perspectives. Beverly Hills usw.
4 Spektakuläre Medienwirkungen
4.1 ‚The War of the Worlds‘. Die Inszenierung eines Hörspiels Am 13. Dezember 2006 unterbricht der belgische Fernsehsender RTBF sein laufendes Abendprogramm, um eine Sonderausgabe seiner Nachrichtensendung auszustrahlen. Um 20.21 Uhr verkündet der RTBF-Anchorman, dass die Region Flandern noch im Laufe des Abends ihre Unabhängigkeit erklären würde, und dass Belgien demnach de facto als Staat nicht mehr existieren würde. Mehrere RTBF-Reporter sind live vor Ort, um über die aktuellen Ereignisse im königlichen Palast oder flämischen Parlament zu berichten. Politiker, Wissenschaftler, Künstler oder Wirtschaftsbosse kommen zu Wort, in Berichten werden Ursachen und Folgen der flämischen Unabhängigkeit beleuchtet. So flieht der belgische König Albert II. nach Kinshasa, an der flämisch-wallonischen Grenze werden sprichwörtlich über Nacht Passkontrollen eingeführt, oder eine flämische Werbeagentur entwirft auf die Schnelle neue flämische Geldnoten und Briefmarken. Nach 94 Minuten endet die Sendung so plötzlich wie sie begonnen hat. Die Sendeanlagen der RTBF werden von der Luftwaffe unter Beschuss genommen. Es wird im Laufe dieses Kapitels noch deutlich werden, wie beliebt vergleichbare Schlussszenen sind. Bei dieser Sendung handelte es sich jedoch um eine reine Fiktion. Die RTBFJournalisten wollten mit dieser „richtigen falschen Ausgabe einer Nachrichtensendung“ (Lits 2007, S. 5; Übers. d. Verf.) ihre Landsleute wachrütteln und die möglichen Konsequenzen einer immer wieder in Belgien diskutierten Spaltung des Landes auf eine eindringliche Weise darstellen. Man wollte die Diskussion darüber erneut anregen und wirkungsvoller sein als das Format einer klassischen Dokumentation. Diese realistische Darstellung ist den Machern durchaus geglückt. Von den geschätzten 534.000 Zuschauern haben – einer nicht repräsentativen RTBF-eigenen Umfrage zufolge – 89% zumindest eine gewisse Zeit an die Echtheit der Berichterstattung geglaubt. Noch während der Sendung hat die RTBF auf einer speziell geschalteten Nummer über 31.000 Anrufe gezählt, und die belgischen Telefongesellschaften konnten während der Ausstrahlung eine gesteigerte Aktivität in ihren Netzen feststellen (bis zu 50% mehr Anrufe als an vergleichbaren Abenden). In den Tagen und Wochen danach gab es eine breite öffentliche Diskussion über diese Sendung – aber nicht über die gezeigten Inhalte, sondern über die Form. Vor allem die Tatsache, dass die RTBF auf ihre bekannten Gesichter und das OriginalNachrichtenstudio zurückgegriffen hat, wurde von vielen Politikern und Journalistenverbänden scharf kritisiert. Die ‚Skandalsendung‘ habe der Glaubwürdigkeit der
M. Jäckel, Medienwirkungen, DOI 10.1007/978-3-531-93191-3_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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gesamten Medien geschadet, so der Tenor dieser Beanstandungen (vgl. Lits 2007; Dutilleul 2006). Als das ‚Zweite Deutsche Fernsehen‘ (ZDF) am 1. Dezember 1998 das Planspiel ‚Der Dritte Weltkrieg‘ ausstrahlte, wurde diese Sendung von 4,41 Millionen Zuschauern gesehen. Bezogen auf alle Personen, die an diesem Tag in der Zeit von 20.15 bis 21.00 Uhr fernsahen, entsprach dies einem Marktanteil von 13,7%. Während und im Anschluss an die Ausstrahlung dieser Sendung, die das Szenario eines weiteren Weltkriegs behandelte, gingen beim ZDF insgesamt 260 Anrufe ein. Von diesen 260 Anrufern waren nach Angaben des Senders weniger als 10% besorgt oder verängstigt. Die insgesamt sehr lebhaften Reaktionen im Umfeld der Sendung waren vorwiegend inhaltlicher Art (z. B. Kritik an der Darstellung einzelner Länder, Kommentierung spezifischer Ausschnitte). Die Zuschauer fragten nach Videokassetten, äußerten Wiederholungswünsche oder artikulierten die Sorge, dass Jugendliche und Personen mit einem geringen politischen Interesse die Produktion missverstehen könnten. Soweit die Zuschauerreaktionen aus dem Jahr 1998 dokumentiert sind (auch in der Woche nach der Ausstrahlung des Beitrags wurden ca. 200 weitere Anrufe registriert), handelte es sich in der Mehrzahl der Fälle eher um Interessensbekundungen und inhaltliche Kommentare, weniger um Äußerungen von Angst und Schrecken31. Im November 2000 berichtete ein luxemburgischer Radiosender über eine Übung des Rettungswesens im Atomkraftwerk Cattenom (Nordfrankreich). Obwohl immer wieder auf den Übungscharakter und die Simulation eines Störfalls hingewiesen wurde, kontaktierten mehrere Dutzend Hörer die RTL-Redaktion, um sich zu erkundigen, was nun zu tun sei. Eine Hörerin war so verzweifelt, dass sie sagte: „Ich habe ja immer gesagt, dass Cattenom uns den Tod bringen wird.“ 32 Ereignisse dieser Art werden mit großer Aufmerksamkeit registriert, weil sie sich von der Alltagsroutine des Nachrichtenwesens abheben. Fast automatisch wird in diesem Zusammenhang an ein Medienereignis erinnert, das sich Ende der 1930er Jahre ereignete. Gemeint ist das Hörspiel ‚The War of the Worlds‘33, das unter der Regie von Orson Welles am 30. Oktober 1938 im amerikanischen Hörfunk ausgestrahlt wurde: „92 radio stations ‚von Küste zu Küste‘“ (Schmolke 2007, S. 129). Eine Vielzahl von Menschen soll irritiert und zu panikartigen Reaktionen veranlasst worden sein. Bevor eine genauere Analyse der Wirkungen dieses Hörspiels erfolgt, soll die Dramaturgie dieses Medienangebots detailliert beschrieben werden. Der Roman ‚War of the Worlds‘ von H. G. Wells bildete die inhaltliche Grundlage für die dramatische Inszenierung durch das ‚Mercury Theatre‘. Im Zuge der Vorbereitungen dieses Hörspiels erwies sich die Umsetzung der in England angesie31
Informationen des Zweiten Deutschen Fernsehens. Informationen von RTL Radio Lëtzebuerg (Luxemburg). 33 Die Audiodateien können über www.mercurytheatre.info angehört werden. 32
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delten Geschichte auf amerikanische Verhältnisse als sehr schwierig. Der Autor Howard Koch konnte letztlich nur die Idee einer Invasion von Marsmenschen übernehmen und den übrigen Teil des Skriptes in Situationen transformieren, die der amerikanischen Hörerschaft vertrauter waren. Letztlich entschied man sich dazu, dem Hörspiel den Charakter einer Nachrichtensendung zu geben. Gesponsert wurden die Sendungen des ‚Mercury Theatre‘ von CBS. Jeden Sonntag zwischen 20 und 21 Uhr wurden Sendungen aus diesem Theater übertragen, auch am 30. Oktober 1938; die Amerikaner feierten Hallowe’en. Pünktlich um 20 Uhr begann die Übertragung mit Auszügen aus einem Klavierkonzert Tschaikowskys. Wenig später meldete sich ein Sprecher mit dem Hinweis, dass eine Bearbeitung des Romans von H.G. Wells folgen wird. Kurz danach beginnt Orson Welles seine Erzählung. Er berichtet von fremden Intelligenzen, die mit neidischen Augen auf die Erde herabsehen und ihre Pläne gegen diese schmieden. Er beendet seine einleitenden Sätze mit den Worten: „In the thirty-ninth year of the twentieth century came the great disillusionment.“ (Cantril 1966, S. 5) Nach diesen allgemeinen Hinweisen auf bevorstehende Gefährdungen wird der Hörer in die Echtzeit zurückgeführt, etwa durch die Information, dass an dem Abend des 30. Oktober nach Schätzungen eines Instituts etwa 32 Millionen Menschen Radio hören. Ohne eine deutlich bemerkbare Unterbrechung verliest im unmittelbaren Anschluss an diese Einleitung ein Sprecher einen Wetterbericht und kündigt eine weitere Musikdarbietung an. Die amerikanischen Hörer vernehmen in ihren Wohnungen kurz danach Tangomusik. Von Dramatik ist zu diesem Zeitpunkt nichts zu spüren. Erst nach einigen Minuten wird die Musikdarbietung für eine kurze Meldung unterbrochen, die von ungewöhnlichen Beobachtungen eines Observatoriums berichtet. Die darauf folgenden Minuten sind gekennzeichnet durch einen ständigen Wechsel zwischen Musik und Unterbrechung für aktuelle Meldungen, die dem weiteren Verlauf des Hörspiels eine hohe Spannung verleihen. Als ein seismografisches Institut eine erdbeben-ähnliche Erschütterung meldet, die in der Nähe von Princeton registriert wurde, nimmt die Unruhe im Hörspiel selbst zu. Eine Vielzahl von Experten werden um kurzfristige Einschätzungen gebeten, Beobachter werden ausgesandt, um die aktuelle Lage zu erkunden, bis schließlich der Kommentator Carl Phillips den Hörern die folgende Schilderung übermittelt, die sich im Drehbuch wie folgt liest: „PHILLIPS[:] Ladies and gentlemen, this is the most terrifying thing I have ever witnessed ... Wait a minute! Someone’s crawling out of the hollow top. Some one or … something. I can see peering out of that black hole two luminous disks ... are they eyes? It might be a face. It might be … (Shout of awe from the crowd) Good heavens, something’s wriggling out of the shadow like a grey snake. Now it’s another one, and another. They look like tentacles to me. There, I can see the thing’s body. It’s
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large as a bear and it glistens like wet leather. But that face. It ... it’s indescribable. I can hardly force myself to keep looking at it. The eyes are black and gleam like a serpent. The mouth is V-shaped with saliva dripping from its rimless lips that seem to quiver and pulsate. The monster or whatever it is can hardly move. It seems weighed down by ... possible gravity or something. The thing’s raising up. The crowd falls back. They’ve seen enough. This is the most extraordinary experience. I can’t find words ... I’m pulling this microphone with me as I talk. I’ll have to stop the description until I’ve taken a new position. Hold on, will you please, I’ll be back in a minute. (Fade into Piano) Announcer Two[:] We are bringing you an eyewitness account of what’s happening on the Wilmuth farm, Grovers Mill, New Jersey. (More piano) We now return you to Carl Phillips at Grovers Mill. [...].“ (Cantril 1966, S. 16f., Ergänzungen durch Verf.)
Die Ereignisse spitzen sich zu, bis schließlich der Ausnahmezustand über verschiedene Regionen Amerikas verhängt wird. Innerhalb von 45 Minuten erlebt Amerika auf diese Weise eine Invasion von Marsmenschen, die sich in unglaublicher Geschwindigkeit vollzieht und zunächst nur von wenigen als unrealistisch empfunden wird. Ein erneuter Hinweis auf den Hörspielcharakter der Darbietung scheint seine Wirkung verfehlt zu haben. Denn bereits während des Hörspiels wird der Sender CBS von einer Vielzahl von Anrufern bedrängt. Es breiten sich Gerüchte über panikartige Reaktionen aus, so dass der Sender sich zu einem weiteren klärenden Hinweis veranlasst sieht. Zu diesem Zeitpunkt zeigten die Hörer bereits Reaktionen, die nicht den Intentionen der Kommunikatoren entsprachen. Das Drehbuch endet mit den Absichten und Hoffnungen der beteiligten Akteure und gibt einen Ausblick auf das weitere Programm. Diese Passage lautet im Original wie folgt: „W ELLES[:] This is Orson Welles, ladies and gentlemen, out of character to assure you that the War of the Worlds has no further significance than as the holiday offering it was intended to be. The Mercury Theatre’s own radio version of dressing up in a sheet and jumping out of a bush and saying Boo! Starting now, we couldn’t soap all your windows and steal all your garden gates, by tomorrow night ... so we did the next best thing. We annihilated the world before your very ears, and utterly destroyed the Columbia Broadcasting System. You will be relieved, I hope, to learn that we didn’t mean it, and that both institutions are still open for business. So good-bye everybody, and remember, please, for the next day or so, the terrible lesson you learned tonight. That grinning, glowing, globular invader of your living-room is an inhabitant of the pumpkin patch, and if your doorbell rings and nobody’s there, that was no Martian ... it’s Hallowe’en. (Music)
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ANNOUNCER: Tonight the Columbia Broadcasting System, and its affiliated stations coast-to-coast, has brought you War of the Worlds by H. G. Wells ... the seventeenth in its weekly series of dramatic broadcasts featuring Orson Welles and the Mercury Theatre on the Air.“ (Cantril 1966, S. 42f., Ergänzungen durch Verf.)
Obwohl im Verlaufe der Sendung viermal auf den fiktiven Charakter des Angebots hingewiesen wurde, musste man auch im Anschluss an die Sendung mehrfach daran erinnern, dass alles nur als Spiel gedacht war. Wenngleich dieses Hörspiel immer wieder als bestätigender Hinweis für die Gültigkeit des Stimulus-Response-Modells herangezogen wird, ist es im Grunde genommen ein Beleg für die Existenz nichtintendierter Effekte. Die Überraschung über den Fortgang der Ereignisse ist auf allen Seiten zu beobachten gewesen. Es soll im Folgenden darum gehen, die Reaktionen des Publikums zu beschreiben und darauf basierend den Stellenwert dieses Medienereignisses zu bestimmen. 4.2 ‚The Invasion from Mars‘. Dokumentation und Einordnung der Reaktionen Auch in diesem Fall war es das ‚Office of Radio Research‘34, das sehr rasch einen Forschungsplan entwickelte, um die durch ein Medienereignis ausgelöste Panik zu analysieren. Die Ergebnisse dieser nachträglich durchgeführten Untersuchung sind in dem Buch ‚The Invasion from Mars‘ zusammengefasst, das unter der Federführung von Hadley Cantril entstanden ist. Schon die Ausführungen zu dem Begriff ‚Masse‘35 haben gezeigt, dass Sozialwissenschaftler ein besonderes Interesse an dem Studium von Massenverhalten hatten. Hier lag nun ein seltenes Ereignis vor, das der raschen Erklärung bedurfte. Innerhalb eines kurzen Zeitraums konnten Interviews mit 135 Personen durchgeführt werden. Die Mehrzahl der Befragten (n=107) wurden durch die Radiosendung beunruhigt und verunsichert, weitere 28 Personen ließen sich offensichtlich nicht durch die Sendung irritieren und dienten als Vergleichsgruppe. Darüber hinaus standen Cantril die Ergebnisse aus zwei Befragungen zur Verfügung: eine spezielle Untersuchung im Auftrag des Senders CBS, die eine Woche nach der Ausstrahlung des Hörspiels landesweit durchgeführt wurde (n=920) sowie eine Umfrage des American Institute of Public Opinion (AIPO), die sechs Wochen nach dem Ereignis stattfand. Ebenfalls berücksichtigt wurden die Hörerreaktionen während und nach der Sendung sowie die Berichterstattung in den Tageszeitungen (siehe die Textauszüge). Auf der Basis dieser Informationen schätzte Cantril, dass ca. sechs Millionen Ame34 35
Siehe hierzu die Ausführungen in Kapitel 3. Siehe hierzu die Ausführungen in Kapitel 2.
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rikaner die Sendung gehört hatten und etwa ein Sechstel der Hörerschaft ängstliche oder panikartige Reaktionen zeigte. Die weitere Untersuchung diente insbesondere der Beantwortung der folgenden Fragen: 1. 2.
Warum hat gerade das Hörspiel ‚The War of the Worlds‘ einige Leute in Angst und Schrecken versetzt, während andere Hörspiele als fiktive Beiträge erlebt wurden? Wie lassen sich die unterschiedlichen Hörerreaktionen erklären?
Zu Frage 1: Dass einige Leute durch das Hörspiel ‚The War of the Worlds’ erschreckt wurden, lag sowohl an seiner hohen dramatischen Qualität als auch an dem Realismus der Darstellung.
Reaktionen auf das Hörspiel ‚The War of the Worlds‘ „No Action Due in Canada” „Toronto, Oct. 31. –Gordon Conant, Attorney General of Ontario said tonight his department did not plan action over the broadcast of a realistic radio drama, which, emanating from the United States and rebroadcast here, caused widespread alarm. The Attorney General would not comment on possible methods of program censorship, but declared: »It is certainly not in the public interest that such broadcasts should be allowed. «” (Quelle: The New York Times, Tuesday, November 1, 1938) „Message from Mars” „Radio Learns That Melodrama Dressed Up As A Current Event is Dangerous Ever since Professor Percival Lowell in the Nineties discovered the “canals” on Mars, and other celestial observers caught signs of atmosphere and clouds, the world has been looking for messages from the ruddyfaced neighbor, which, incidentally, is now 236,000,000 miles away. […] Now, the broadcasters, if no one else, have “received” a message from from Mars. It reads: “Fiction, fables and fantasy cannot, in the public interest, be dramatized to simulate news.” The fantastic, but realistically sounding “gas raid from Mars” adapted for broadcasting from H,.G. Wells’s story, “War of the Worlds,” written in 1897, just when Lowell was seeing the “canals” and Marconi was stirring up the ether, sent an unprecedented wave of public hysteria across the country last Sunday night. It has been a topic of conversation in and out of radio circles ever since. The broadcasters have learnded, as never before in the history of their art, that the voice, especially one as dramatic as that of actor Orson Welles, is a powerful instrument; that it must
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handle “news” without the slightest color or melodrama. Having dipped their microphonic ladles into Europe’s boiling caldron of current history during the recent crisis, the radio showmen tasted real drama as it grips the populace. […].” (Quelle: The New York Times, November 6, 1938)
Hinzu kommt, dass das Radio zum damaligen Zeitpunkt in den Vereinigten Staaten einen hohen Stellenwert als Informations- und Unterhaltungsmedium besaß. Verbunden damit wurde ihm eine hohe Glaubwürdigkeit36 zugeschrieben. Die Glaubwürdigkeit des Hörspiels wurde vor allem auch durch eine Vielzahl von (fiktiven) Experten, die zu Wort kamen, untermauert, zum Beispiel durch Prof. Indellkoffer von der Kalifornischen Astronomischen Gesellschaft oder durch einen Professor namens Richard Pierson, der von Orson Welles gesprochen wurde. Eine interviewte Person sagte zum Beispiel: „I believed the broadcast as soon as I heard the professor from Princeton and the officials in Washington.“ (Cantril 1966, S. 71) Die hohe Authentizität des Hörspiels wurde auch durch die Detailkenntnis von Straßenzügen sowie durch die Nennung vertrauter und bekannter Orte verstärkt. Ein weiterer Aspekt, der die Reaktionen der Zuhörer erklärlich macht, wurde in der ökonomischen Instabilität des Landes und der latenten Gefahr eines weiteren Krieges gesehen. Entscheidend für die Fehlbeurteilung der Sendung ist nach den vorliegenden Umfragen aber das verspätete Einschalten des Radiogerätes. Obwohl im Rahmen der CBS-Umfrage insgesamt 920 Personen befragt wurden, wurde die Frage nur der Hälfte der Stichprobe gestellt. Für dieses Vorgehen waren ausschließlich forschungsökonomische Gründe (Split-Half-Methode) maßgebend. Zur damaligen Zeit standen den Sozialforschern noch nicht die Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung zur Verfügung. Aus diesem Grund reduziert sich die Zahl der Befragten in der nachfolgenden Tabelle auf insgesamt 460 Personen (vgl. Tabelle 4.1). Diejenigen, die die Sendung von Beginn an verfolgten, stuften diese zu 80% als ein Hörspiel ein und zu 20% als Nachrichten. Im Falle derjenigen, die sich erst im Laufe der Sendung einschalteten, zeigt sich eine andere Prozentverteilung: Hier stuften 63% die Sendung als Nachrichten ein (und damit als etwas Reelles) und nur 37% als ein Hörspiel. Gleichwohl darf darin kein Beleg dafür gesehen werden, dass es nicht vielleicht doch bei einem Großteil der Hörer zumindest kurzfristig zu Unsicherheiten gekommen ist. Das Phänomen der kognitiven Dissonanz 37 dürfte im Rahmen der Befragung nicht unwirksam gewesen sein. Die unterschiedlichen Reaktionen der Hörerschaft stehen in engem Zusammenhang mit den jeweils zugrunde gelegten Bewertungsmaßstäben. Sehr religiöse Menschen assoziierten mit den Ereignissen eine schicksalhafte und unausweichliche 36 37
Siehe hierzu die Ausführungen in Kapitel 6. Siehe hierzu die Ausführungen in Kapitel 3.
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Spektakuläre Medienwirkungen
Entwicklung. Während einige Menschen von einer erkennbaren Unruhe in ihrem unmittelbaren Umfeld erfasst wurden und Möglichkeiten der Flucht erörterten bzw. praktizierten, reagierten andere Personen besonnener und suchten zunächst nach weiteren Möglichkeiten der Prüfung. Ein Ehemann versuchte seine Frau mit dem Hinweis zu beruhigen, dass ein solches Ereignis doch auf allen Sendern zu hören sein müsse. Als man auf anderen Sendern Musik hörte, antwortete sie: „Nero fiddled while Rome burned.“ (Cantril 1966, S. 94) Tabelle 4.1
Einschaltzeitpunkt und Interpretation des Hörspiels Es haben die Sendung ...
Interpretation als
von Beginn an gehört (%)
später eingeschaltet (%)
Zahl der Fälle
Nachrichtensendung
20
63
175
Hörspiel
80
37
285
Insgesamt
100
100
Zahl der Fälle
269
191
460
Quelle: Cantril 1966, S. 78 Die von Cantril durchgeführten Intensivinterviews dienten ihm als Grundlage zur Klassifikation unterschiedlicher Hörerreaktionen. Dazu gehörten sowohl interne Kontrollen mit Hilfe des Hörfunkgerätes als auch externe Kontrollen durch Beobachtung der Ereignisse in der jeweiligen Gemeinde. Nicht immer führten diese Kontrollen zum gewünschten Ergebnis oder ließen keine eindeutigen Schlussfolgerungen zu, wie das gerade erwähnte Beispiel verdeutlicht hat. Immerhin gab es auch eine große Zahl von Menschen, die von den Ereignissen paralysiert wurden oder eher unüberlegte Reaktionen zeigten (vgl. Cantril 1966, S. 89ff.). Verschiedene Quellen belegen somit, dass sich nicht alle Hörerinnen und Hörer von der Authentizität und Realitätsnähe des Hörspiels beeindrucken ließen. Personen mit höherer Schulbildung bezweifelten bspw. die Realität der Sendung, weil ihnen die Geschwindigkeit, mit der die Ereignisse abliefen, als unrealistisch erschien. Die folgende Tabelle zeigt: Je höher der Bildungsabschluss war, desto seltener wurde das Hörspiel als eine Nachrichtensendung klassifiziert. Fast jeder zweite Befragte mit einem niedrigen allgemeinen Bildungsabschluss glaubte Nachrichten zu hören, während nur etwa drei von zehn Befragten mit einem College-Abschluss diese Einschätzung äußerten (vgl. Tabelle 4.2).
Spektakuläre Medienwirkungen Tabelle 4.2
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Bildungsabschluss und Interpretation des Hörspiels als ‚News Klassifikation als Nachrichtensendung (in %)
Bildungsabschluss
Zahl der Fälle
College
28
69
High School
36
257
Grammar School
46
132
Report‘ Quelle: Cantril 1966, S. 112 Der Versuch, die von Cantril zusammengefassten Faktoren zu systematisieren, resultiert in Abbildung 4.1. Abbildung 4.1
Spektakuläre Medienwirkungen: Relevante Einflussfaktoren
Unsicherheit Ängste Sorgen Selbstvertrauen
Persönliche Beeinflussbarkeit
Fatalismus Religiosität Kirchenbesuch verängstigt
Formale Bildung
Kritikfähigkeit
Reaktionen
beunruhigt ruhig
Angst anderer Personen Unmittelbarkeit der Gefahr
Rezeptionssituation
Trennung vom Familienkreis
Quelle: Eigene Erstellung in Anlehnung an Cantril 1966, S. 127ff.
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Spektakuläre Medienwirkungen
Darin werden sowohl Merkmale berücksichtigt, die sich auf die Beeinflussbarkeit auswirken, als auch Spezifika der jeweiligen Hörsituation. Hinzu kommt die formale Bildung, die im Zusammenwirken mit diesen Faktoren die Fähigkeit zur Distanz und Kritik des jeweiligen Rezipienten mitbestimmt. Daraus ergeben sich schließlich unterschiedliche Reaktionen. Die Wahrscheinlichkeit für eine deutliche Beeinflussung steigt nach Cantril insbesondere dann, wenn „[...] einem Individuum nicht nur Bewertungsmaßstäbe, mit deren Hilfe es sich orientieren kann, fehlen, sondern auch die Erkenntnis, dass jede andere Deutung möglich ist, außer der ursprünglich vorgelegten. Es glaubt alles, was es hört oder liest, ohne jemals auf den Gedanken zu kommen, es mit anderen Informationen zu vergleichen.“ (Cantril 1985, S. 27) Zugleich wird hiermit eine Situation beschrieben, für die das Stimulus-Response-Modell am ehesten Gültigkeit beanspruchen kann. Cantril ging es primär um die Frage, warum die Personen, die panisch reagiert hatten, sich so verhielten und weniger darum, wie viele Personen aus der gesamten Hörerschaft verängstigt wurden. Es handelte sich also um eine bewusste Auswahl, was dem eigentlichen Interesse Cantrils auch entsprach (vgl. Schmolke 2007). Zu bedenken ist auch, dass für das eingangs erwähnte Beispiel aus Belgien das Zuschauerprofil als „eher gut gebildet und sozial eher bessergestellt“ (Jäckel/Pauly 2009, S. 51) beschrieben wird. Dennoch glaubten Zuschauer, die sich bei der anschließenden Diskussionsrunde an einer Umfrage beteiligten, zu 89 Prozent wenigstens eine gewisse Zeit an die Echtheit der Fiktion. Zuverlässige und belastbare Daten liegen auch hier nicht vor (vgl. ebenda, S. 52f.). 4.3 Beurteilung und Einordnung spektakulärer Medienwirkungen Trotz der Dramatik, die in der Regel mit der Darstellung dieses Falls von Medienwirkung einherging, verlieren die Menschen offensichtlich nicht den Sinn für Humor. Nachdem sich die Unruhe über die Folgen des Hörspiels gelegt hatte, schrieb ein Mann aus Massachusetts an den Sender CBS den folgenden Brief: „I thought the best thing to do was to go away. So I took three dollars twenty-five cents out of my savings and bought a ticket. After I had gone sixty miles I knew it was a play. Now I don’t have money left for the shoes I was saving up for. Will you please have someone send me a pair of black shoes size 9B?“ (zitiert nach Lowery/DeFleur 1995, S. 52) Entgegen dem Rat der Anwälte kam der Sender CBS übrigens dem Anliegen des Hörers nach. Jede nachträgliche Relativierung der Ereignisse des 30. Oktober 1938 sollte in Betracht ziehen, dass die Mehrzahl der Zeitzeugen von den beobachtbaren Folgen überrascht wurde. Cantril selbst weist in seinen Vorbemerkungen auf die Einmaligkeit des Ereignisses hin. Bspw. sei es nicht mit den vorübergehenden Beunruhigun-
Spektakuläre Medienwirkungen
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gen der englischen Hörerschaft im Jahr 1926 vergleichbar. Am 16. Januar 1926 hatte Father Ronald Knox im Stil einer gewöhnlichen Nachrichtensendung von Arbeiterunruhen berichtet, die unter anderem in den Versuch mündeten, die Houses of Parliament und weitere öffentliche Gebäude zu zerstören. Vorübergehend waren die Telefonleitungen der Zeitungen, der Polizei und der Radiostationen überlastet. Während sich der Unmut über den Missbrauch des öffentlichen Vertrauens in ein Massenmedium in den Vereinigten Staaten in Grenzen hielt, erging es einer peruanischen Radiostation, die ebenfalls ‚The War of the Worlds‘ simulierte, anders. Die geringere Verbreitung des Radios in diesem lateinamerikanischen Land führte zwar zu einem geringeren Ausmaß der Panik. Als die peruanische Bevölkerung jedoch realisierte, dass sie bewusst hinters Licht geführt wurde, entschloss sie sich kurzfristig, der Radiostation ein Ende zu bereiten: Sie wurde niedergebrannt. Dramatischer wiederum sollen die Vorfälle in Chile gewesen sein. Hier war es im Jahr 1944 zu einer ähnlichen Ausstrahlung eines Hörspiels gekommen, und auch hier wurden Marsmenschen als Ausgangspunkt der Bedrohung des Landes gewählt. Es soll zu einem Todesfall gekommen sein; eine offizielle Reaktion auf die geforderte Suspendierung des Drehbuchautors blieb jedoch ohne Folgen (vgl. Lowery/DeFleur 1995, S. 66). Abbildung 4.2
Orson Welles in Aktion. Eine Erinnerungstafel in Grovers Mill 38
Ob das Hörspiel ‚The War of the Worlds‘ tatsächlich die Panik ausgelöst hat, von der immer wieder berichtet wird, ist bis heute umstritten. Re-Analysen und nachträgliche Bewertungen können aber kaum die Wirkung des Augenblicks einfangen. Ob die vermeintliche Massenpanik auf falschen subjektiven Situationsdefinitionen oder überzeichnenden Berichterstattungen der Massenmedien selbst beruht hat, wird man aus heutiger Sicht kaum noch angemessen beurteilen können. Selbst wenn 38
Entnommen aus ‚Media Myth Alert‘. Abrufbar unter: http://mediamythalert.wordpress.com/2009/10/
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nachträgliche Gewichtungen der Daten von Cantril zu dem Ergebnis kommen, dass maximal zwei Prozent der erwachsenen Bevölkerung der Vereinigten Staaten durch das Hörspiel beunruhigt und zu panikartigen Reaktionen veranlasst wurde, bleibt für die übrigen 98% die Frage zu stellen, ob sie sich der Überraschung des Augenblicks wirklich entziehen konnten. Schmolke weist darauf hin, dass durch die Annahme, es habe eine Massenpanik gegeben, eine Art Eigendynamik in Gang gesetzt wurde, der schlussendlich mit Cantrils Buch „ein Denkmal gesetzt“ (Schmolke 2007, S. 135) wurde. Will man eine allgemeinere Einordnung vornehmen, so kann man feststellen: Wenn den Rezipienten Möglichkeiten der Gegenkontrolle von Informationen fehlen, dann steigt die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer Reaktion, die vorwiegend durch den Stimulus verursacht wird. Eine überraschende und unerwartete Medienwirkung muss aber keineswegs mit dramatischen Reaktionen des Publikums einhergehen. Dies illustriert bspw. der Fall ‚Kate Smith‘.
Eine langfristige Wirkung des Hörspiels „Die Gemeinde Grovers Mill, die von den Wells-Bearbeitern mehr oder weniger zufällig ausgewählt wurde, um als Landeplatz des Mars-Raumschiffs an die Stelle der englischen Gemarkung Horsell Common zu treten, gibt es wirklich. Sie liegt in New Jersey und hat, um den Tourismus zu beflügeln, dem Ereignis ein Denkmal gesetzt. Es zeigt eine - wohl bronzene - Reliefplatte, auf der unter dem Titel ‚Martian Landing Site‘ eine fliegende Untertasse landet, Orson Welles sein radio play dirigiert und eine Vater-MutterKind-Familie verschreckt vor dem Radio sitzt.“ (Schmolke 2007, S. 135)
Am 21. September 1943 veranstaltete die Radioreporterin Kate Smith einen Ansagemarathon im Hörfunk. Die populäre amerikanische Reporterin und Sängerin39 wollte die Bevölkerung zum Kauf von Kriegsanleihen ermuntern. Binnen eines Tages gelang ihr durch außergewöhnliches Engagement die Akquirierung von drei Millionen Dollar. Unter der Mitarbeit von Marjorie Fiske und Alberta Curtis analysierte der amerikanische Soziologe Robert King Merton die Frage, warum es zu diesem außergewöhnlichen Erfolg gekommen ist (vgl. Merton et al. 1946). Auch diese Detailanalyse belegt, dass es unrealistisch ist, uneingeschränkt von starken Medienwirkungen zu sprechen. Eine Vielzahl von Faktoren kommt zusammen und ergibt in der Summe ein nachvollziehbares Resultat. Merton untersuchte die Art und Weise, wie Kate Smith ihre Hörer ansprach, die Bedeutung des Redemarathons wurde diskutiert, das Klima der jeweiligen Entscheidungsfindung nachvollzogen und die Bedeu39
Edward Kienholz (1927-1994) hat in seinem Kunstwerk „The Portable War Memorial“ Kate Smith als Teil der US-amerikanischen Propagandamaschinerie während des 2. Weltkriegs dargestellt.
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tung des sozialen und kulturellen Kontexts berücksichtigt. Mit anderen Worten: Der erstaunliche Effekt wird in seine Wirkungskomponenten zerlegt. In methodischer Hinsicht ähnelte das Verfahren der von Cantril praktizierten Vorgehensweise: Im Mittelpunkt standen 100 „focused interviews“ (Merton et al. 1946, S. 13) sowie eine Befragung von 978 repräsentativ ausgewählten Personen im Raum New York. Obwohl sogenannte ‚War Bond Days‘40 von verschiedenen Radiostationen angeboten wurden, schätzte man den Auftritt von Kate Smith als eine ‚Propaganda der Tat‘ ein. Die Ausdauer und der ungebrochene Enthusiasmus bestärkten eine Vielzahl der Hörer in der Aufrichtigkeit dieses Unterfangens. Ehrgeiz und Patriotismus wurden bemüht, um diesen Werbefeldzug zum Erfolg zu führen. Der nachfolgende Beispieltext enthält einige Auszüge aus den von Kate Smith verwandten Ansprachen des Publikums. Da Kate Smith insgesamt 18 Stunden auf Sendung war, wurde sie im Laufe des Tages nicht nur von einer Vielzahl von Hörern wahrgenommen, sondern auch mehrfach von denselben Hörern registriert. Im Laufe des Tages entwickelte sich ein regelrechter Dialog zwischen dem Sender CBS und den Hörern. Dieses „reciprocal interplay“ (Merton et al. 1946, S. 39) verlieh dem gesamten Programm die Art eines Dialogs der Nation über die Notwendigkeit der Unterstützung der Armee. Im Zuge dessen konstituierte sich eine öffentliche Meinung, die sich zu Gunsten der Kriegsanleihen entfaltete und eine durch die Fortsetzung des Marathons verstärkte Dynamik erfuhr. Rationale und emotionale Überlegungen gingen somit mit unterschiedlichen Gewichtungen in die jeweiligen Entscheidungsfindungen ein (vgl. Merton et al. 1946, S. 109ff.). Die Überzeugungskraft der Reporterin wurde insbesondere dann deutlich, wenn ihr vom Publikum Attribute zugeschrieben wurden, die sie im wirklichen Leben gar nicht besaß. Viele Hörer sahen in den emotionalen Appellen eine Verkörperung der Mutterfigur, die durch die Aufopferung für die eigene Familie zugleich einen patriotischen Dienst erbringt. Obwohl offensichtlich viele Hörer wussten, dass Kate Smith nicht verheiratet war, konnte sich dieser Vorbildcharakter im Laufe des Tages entfalten und positiv auf die Bereitschaft zum Kauf von Kriegsanleihen auswirken. Unter Bezugnahme auf dieses Phänomen schrieben Merton et al.: „The organization of American radio permits the building of a public figure who can be utilized for purposes of mass persuasion. Whether this influence is to be exercised for good or for ill continues to be largely a decision vested in the directors of radio networks and stations.“ (1946, S. 172)
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Siehe. zu den Hintergründen auch Lazarsfeld 1975.
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Der Ansagemarathon der Reporterin Kate Smith „I’m going to appear on CBS programs throughout the day from now until one o’clock tomorrow morning.“ „I’ve been in radio quite some time, folks, but in all those years I don’t think anything even remotely like this has ever been done before.“ „This is Kate Smith again, working on what I hope and believe is going to be the most wonderful ... the proudest ... day of my whole life.“ (Merton et al. 1946, S. 22f.)
Unter spezifischen Bedingungen steigt somit die Chance, bestimmte Intentionen zu realisieren. Trotz allem konnte man den Erfolg dieser Kampagne am Morgen des 21. September 1943 noch nicht voraussagen. Zugleich kann in diesem Fall der Berichterstattung der Massenmedien keine Relevanz für die beobachtbaren Reaktionen zugeschrieben werden. Das Radio für öffentliche Appelle einzusetzen wurde bereits vom damaligen amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt erfolgreich praktiziert. Während sein Vorgänger, Herbert Hoover, von Radioansprachen nicht überzeugt war („difficult to deal with anything over the radio except generalities, without embarrassing actual accomplishments that are going forward“, zitiert nach Ryfe 2000, S. 89), sah Roosevelt durchaus Chancen für Überzeugungskommunikation, die zugleich identitätsstiftend wirken sollte. Die häufige Verwendung von I, You und We schuf ein Klima der Gemeinschaft und verlieh seinen Kamingesprächen (‚fireside chats‘) eine familiäre Atmosphäre (vgl. Ryfe 2000, insb. S. 89ff.). Zu erwähnen ist schließlich ein Vorfall, der Parallelen zu den einleitend genannten Beispielen aufweist: die sogenannte Barsebäck-Panik vom November 1973, die sich als Folge einer sehr authentischen Darstellung eines simulierten Kernkraftwerkunfalls ergeben haben soll. Die elfminütige Hörfunksendung irritierte die Bevölkerung, so dass noch am selben Tag von panikartigen Reaktionen in Südschweden berichtet wurde. Auch die am darauf folgenden Tag erschienenen Zeitungen nahmen dieses Thema auf. Die von Rosengren durchgeführte Analyse kam zu folgendem Ergebnis: 20% der schwedischen Bevölkerung hatten die Sendung gehört, etwa die Hälfte aller Zuhörer waren der Auffassung, dass es sich um eine Nachrichtensendung handelte, 70% aus dieser Gruppe zeigten sich verängstigt oder beunruhigt und 14% zeigten verhaltensmäßige Reaktionen (vgl. Rosengren et al. 1975, S. 307). Rosengren schließt daraus, dass die Folgerung auf eine Panik bzw.
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Unruhe in der Bevölkerung vorwiegend durch eine sehr selektive Informationsaufnahme seitens der Massenmedien erfolgte. Die Rundfunkjournalisten schlossen aus einer kurzfristigen Überlastung von zwei Telefonzentralen auf eine große und andauernde Aufregung in der Bevölkerung. Eine große Anzahl intensiver Reaktionen wurde mit einer ebensolchen Reaktion einer großen Population gleichgesetzt. Von einer Individualpanik wurde auf eine Massenpanik geschlossen (vgl. auch Kunczik/Zipfel 2005, S. 288f.). Eine Gemeinsamkeit zu dem einleitend erwähnten belgischen Beispiel zeigt sich in den jeweiligen Intentionen. Beide Sendungen waren als Diskussions-Stimuli mit eher politischen, zivilgesellschaftlichen Intentionen geplant. Im Fall ‚Bye-Bye-Belgium‘ war die Reaktion jedoch die Eröffnung einer Diskussion über medienethische Grundprinzipien. Die mögliche Verletzung des Wahrheitsgebotes und die Schädigung der Glaubwürdigkeit der Medien standen im Vordergrund. Dies zeigt erneut, dass das Stimulus-Response-Modell allenfalls einen Teil der ‚Wirkungsgeschichte‘ von Ereignissen abdeckt. Die Reaktionen auf solche Medienereignisse verlaufen oft nicht wie angedacht, sondern überraschend (vgl. Jäckel/Pauly 2009). Dass es immer wieder – oft auch unbeabsichtigt – zu Reaktionen des Publikums bei spektakulären Medienereignissen kommt, zeigt Rogers an mehreren Beispielen, z. B.: die Reaktionen auf die Bekanntgabe des amerikanischen Basketballspielers Magic Johnson, dass er HIV-positiv sei; die Nachwirkungen des Challenger-Unglücks im Januar 1986 (vgl. Rogers 2002). Rogers geht in diesem Zusammenhang der Frage nach, ob in diesen Fällen von starken oder nachhaltigen Medieneffekten gesprochen werden darf. Er zeigt an diesen Beispielen, dass eine massive Medienberichterstattung, die durch interpersonale Kommunikation ergänzt wird, Verhaltensweisen evozieren kann, die ein alltägliches Medienangebot nicht initiieren könnte. Wirkung heißt hier bspw. eine vermehrte Konsultation von Beratungsdiensten oder – wie im Falle eines ungewöhnlichen (Nachrichten-) Ereignisses in Neu Delhi (Indien) – ‚overt behavior‘, in diesem Falle Milchgaben in den Tempeln zu opfern („Feeding Milk to Hindu Dieties“). Anlass hierfür war die zunächst massenmedial verbreitete Nachricht, dass die Götter dieses Getränk zu sich nehmen (vgl. Rogers 2002, S. 209). Aber in einem weiteren Sinne sollen diese Ausführungen von Rogers wohl auch verdeutlichen, dass wir bereits dann von starken Medienwirkungen sprechen, wenn es sich um eine ungewöhnliche Erscheinung handelt. Phänomene wie ‚The War of the Worlds‘ überschreiten offensichtlich einen Schwellenwert, der die Assoziation eines starken Medieneffekts affiziert. Es besteht jedoch keine Einigkeit darüber, wo dieser Schwellenwert anzusiedeln ist. Re-Analysen von als klassisch bezeichneten Studien der Medienwirkungsforschung belegen dies, bspw. die Arbeit von Chaffee und Hochheimer aus dem Jahr 1982, die eine erneute Betrachtung der Wahlstudie ‚The People’s Choice‘ von Lazarsfeld, Berelson und
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Gaudet zusammenfasst (Jäckel 2005, S. 80)41. Brosius und Esser stellen in diesem Zusammenhang fest: „Bei Cantril wurde die Besorgnis bzw. die Aufregung von 16 Prozent als Beleg für starke Wirkungen genommen, bei Lazarsfeld war eine Änderung der Wahlentscheidung – eine viel weitreichendere und längerfristige Wirkung – bei acht Prozent der Befragten ein Beleg für schwache Wirkungen.“ (Brosius/Esser 1998, S. 350) Diese Problematik taucht im Übrigen auch im Kontext der Werbewirkungsforschung auf. Niemand wird, auch unter Zugrundelegung eines naiven StimulusResponse-Modells, annehmen, dass das Vorliegen eines starken Effekts die gleichgerichteten Aktivitäten aller Mitglieder einer Gesellschaft oder Zielgruppe zur Folge haben muss. Selbst, wenn nur weniger als zehn Prozent der Bevölkerung einer bestimmten Werbekampagne ‚folgen‘, wird ein solcher Effekt von der öffentlichen Meinung wahrscheinlich dennoch bereits als stark eingestuft. Raymond Bauer hat in seinem berühmten Aufsatz ‚The Obstinate Audience‘ an verschiedenen Beispielen gezeigt, dass selbst nur ein geringer prozentualer Anteil an Personen, die ihr Verhalten tatsächlich ändern, schon als Werbeerfolg interpretiert werden kann. Ein bekanntes Beispiel betrifft die Zigarettenindustrie: „Yet, consistently successful commercial promotions convert only a very small percentage of people to action. No one cigarette now commands more than 14% of the cigarette market, but an increase of 1% is worth $60,000,000 in sales. This means influencing possibly .5% of all adults, and 1% of cigarette smokers. This also means that a successful commercial campaign can alienate many more than it wins, and still be highly profitable.“ (Bauer 1964, S. 322) Hinzu kommt, dass solche Effekte das Resultat von unterschiedlich komplexen Wirkungsketten sein können. Werbung gehört ohne Zweifel nicht in den Bereich der verständigungsorientierten Kommunikation, zumindest ist das nicht ihr primäres Ziel. Werbung will und soll verkaufen, indem sie ‚verführt‘. Sie lässt sich folglich der persuasiven Kommunikation zuordnen. Um ihr Ziel zu erreichen, setzt sie verschiedene Techniken ein. Einige davon mögen überraschen, andere sind altbekannt und werden im alltäglichen Bereich sogleich erkannt. Manchmal gelingt die Überzeugung sehr einfach, auf manches lässt man sich vielleicht auch bereitwillig ein, in anderen Fällen bedarf es weitaus größerer Anstrengungen und komplexerer Strategien. Werbung kann dementsprechend einerseits als Manipulationsversuch, dem man misstrauisch gegenübertreten sollte, betrachtet werden, andererseits als willkommenes Mittel, um die eigene Wahl zu erleichtern. Durch die vermehrten Auswahlmöglichkeiten muss man sich auch verstärkt mit ihr auseinandersetzen. Klaus Schönbach geht sogar so weit zu sagen: „Wir leben in einem Zeitalter der Persuasion.“ (2009, S. 7). Die von Luhmann gemachte Beobachtung, dass Bedenken bezüglich „Mitwirkung an Werbung = Mitwirkung am Kapitalismus“ (1996, S. 92) 41
Auf die Studie von Lazarsfeld u.a. (gemeint ist „The People’s Choice“) wird in Kapitel 5 ausführlich eingegangen.
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immer weniger auftreten, zeigt sich wohl auch an dem mittlerweile erreichten Ausmaß von Product Placement und sogenanntem ‚Bartering‘, bei dem Unternehmen Kooperationen eingehen, die auf Gegenseitigkeit beruhen. Die Kritik an manchen Produktionen liest sich denn auch wie folgt: „Hier werden keine Produkte mehr in eine Geschichte hineingeschmuggelt, vielmehr wird der Plot um Produkte herum erzählt.“ (Wolf 2010, S. 114) Unbestritten ist aber, dass man von Werbung umgeben ist und es durchaus hilfreich sein kann, deren Strategien zu kennen (vgl. Levine 2007; Schönbach 2009). Jedenfalls zeigt auch die Geschichte der Werbewirkungsforschung, dass angesichts einer Zunahme des Kommunikationswettbewerbs um Produkte und Dienstleistungen unmittelbare Nachweise von Werbeerfolgen sehr schwierig geworden sind. Auch im Falle der vermeintlich spektakulären Medienwirkungen, die bereits erörtert wurden, sei es nun ‚The War of the Worlds‘ oder der Redemarathon für den Kauf von Kriegsanleihen, den Kate Smith im Jahr 1943 praktizierte – es geht in der Regel um die vorübergehende Gleichgerichtetheit von Verhaltensweisen, die eine solche Schlussfolgerung sehr wahrscheinlich machen. Die hier vorgestellten Beispiele legen es nahe, zwischen überzeugend irritierenden und auf Einstellungs- bzw. Verhaltensänderungen ausgerichteten Medienangeboten zu unterscheiden. Trotz der Hinweise auf die mit solchen Ereignissen einher gehenden Übertreibungen darf davon ausgegangen werden, dass es ein Potenzial für quasi-natürliche Reaktionen des Publikums gibt. Einzelne Angebote werden aber unter den heutigen Medienbedingungen kaum noch diese Wirkung entfalten können. Kurzfristige Verunsicherungen sind gleichwohl weiterhin nicht auszuschließen, wie das einleitende Beispiel aus Belgien zeigt.
Cantril, Hadley (1966): The Invasion from Mars. A Study in the Psychology of Panic. [Zuerst 1940]. Princeton, New Jersey. Lowery, Shearon A.; DeFleur, Melvin L. (1995): Milestones in Mass Communication Research. Media Effects. 3rd edition. New .York, Kapitel 3. Merton, Robert King et al. (1946): Mass Persuasion. The Social Psychology of a War Bond Drive. New York, London. Rogers, Everett M. (2002): Intermedia Processes and Powerful Media Effects. In: Bryant, Jennings; Zillmann. Dolf (Eds.): Media Effects. Advances in Theory and Research. 2nd edition. Mahwah, S. 199-214.
5 Massenkommunikation und interpersonale Kommunikation: die Meinungsführerforschung
5.1 Die Pionierphase der Meinungsführerforschung Wer sich mit der Pionierphase der Medienwirkungsforschung beschäftigt, begegnet immer wieder einem bestimmten Kreis von Forscherpersönlichkeiten. Dies gilt insbesondere für einen Bereich, dem die Wiederentdeckung der sozialen Gruppe und der Bedeutung interpersonaler Kommunikation für die Beurteilung von Medienwirkungen zukommt. Die Ergebnisse, die im Folgenden dargestellt werden, entstammen den sogenannten ‚Columbia‘-Studien. Wenn eine einzelne Person besonders hervorgehoben werden soll, dann ist Paul Felix Lazarsfeld zu nennen. Weitere bedeutende Vertreter sind in den vorangegangenen Kapiteln ebenfalls zum Teil schon genannt worden: Elihu Katz, Robert King Merton, James S. Coleman und Bernard Berelson. Lazarsfeld war nach einem Stipendium der Rockefeller-Stiftung im Jahr 1933/34 nicht mehr aus den Vereinigten Staaten in seine Heimat Österreich zurückgekehrt, wo er in den 1920er Jahren zusammen mit Hans Zeisel und Marie Jahoda die ‚Österreichische Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle‘ gegründet hatte. Im Jahr 1936 konnte er an der Universität Newark – wie bereits erwähnt - ein Forschungszentrum übernehmen und die in Österreich begonnene Tradition der empirischen Sozialforschung fortsetzen. Das praxisnahe Verständnis von soziologischer Forschung fand unter den amerikanischen Kollegen hohe Anerkennung. Im Jahr 1939 wurde die Forschungsstelle an die Columbia University verlagert. Hier wurde Lazarsfeld 1940 auch Professor an der Fakultät für Soziologie42. 1944 erhielt das Institut den Namen ‚Bureau of Applied Social Research‘ (vgl. hierzu auch Kern 1982, S. 174f.). Eine besondere Anerkennung erfährt bis heute die empirische Untersuchung ‚The People’s Choice‘. - The People’s Choice: Gegenstand der Studie war der amerikanische Präsidentschaftswahlkampf des Jahres 1940, in dem auf der Seite der Republikaner Wendell L. Willkie und auf Seiten der Demokraten Franklin D. Roosevelt kandidierten. Insoweit ist die Studie dem Bereich der politischen Kommunikationsforschung zuzuordnen. Es wird untersucht, welche Faktoren insbesondere das politische Verhalten bestimmen. In der Einleitung des Buches findet man den folgenden Satz: „Dies ist ein Buch über politisches Verhalten in den Vereinigten Staaten - insbesondere über die Bildung von Meinungen während einer Präsidentschaftswahl. Alle vier 42
Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 3.
M. Jäckel, Medienwirkungen, DOI 10.1007/978-3-531-93191-3_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Jahre inszeniert das Land ein großangelegtes Reiz-Reaktions-Experiment in politischer Propaganda und öffentlicher Meinung. Die Reize bestehen aus all dem, was die beiden Parteien bei der Wahl ihres Kandidaten unternehmen. Die Reaktionen, die wir hier betrachten und analysieren, bestehen aus dem, was die Menschen im Laufe dieses Wahlkampfes tun.“ (Lazarsfeld u.a. 1969, S. 35) Die Studie folgte somit in theoretischer Hinsicht der dominierenden Tradition, zeichnete sich aber auf methodischer Ebene durch eine Besonderheit aus, die in der Längsschnittkonzeption begründet ist. Die Untersuchung begleitete die letzten Monate des amerikanischen Wahlkampfs. Befragt wurden dieselben Personen zu mehreren aufeinanderfolgenden Zeitpunkten, wie sie sich bei der bevorstehenden Wahl verhalten werden. Im Zentrum stand ein sogenanntes ‚Main Panel‘, das 600 registrierte Wähler umfasste. Zusätzlich wurden im Verlauf der Untersuchung drei unabhängige Stichproben als Kontrollgruppen mit den Befunden der Panel-Stichprobe kontrastiert (vgl. zum Forschungsdesign die Übersicht bei Lowery/DeFleur 1995, S. 75). Der Wahlkampf wird verglichen mit einem Schauspiel, das mit unterschiedlichen Graden der Aufmerksamkeit der Beobachter rechnen muss. Der politische Wahlkampf findet sein Publikum auf unterschiedlichen Bühnen: die Leser einer Tageszeitung, die Hörer einer Rundfunksendung, die Besucher einer Wahlkampfveranstaltung. Diese Arenen des Wahlkampfs zeichnen sich dadurch aus, dass die Aussagen der Kommunikatoren die Rezipienten unmittelbar erreichen. Ursprünglich wollte man sich auf die Analyse dieser Einflussfaktoren konzentrieren. Allerdings berichteten die Interviewer nach den ersten Befragungswellen häufig davon, dass die Befragten auch andere Personen als wichtige Informanten und Ratgeber benannten. Infolge dessen entschloss man sich, weitere Fragen in die Untersuchung aufzunehmen (siehe unten). Der Einbezug einer Vielzahl von Indikatoren ermöglichte eine detailreiche Beschreibung des Interesses am Wahlkampf und der damit einhergehenden Partizipation. Daraus resultierten sehr anschauliche Beschreibungen unterschiedlicher Formen politischer Beteiligung. Eine Kernpassage der Studie lautet: „Die Nicht-Wähler partizipierten am Wahlkampf am wenigsten. Am intensivsten nehmen dagegen die Meinungsführer am Wahlkampf Anteil. Alltägliche Beobachtungen, aber auch viele Gemeindestudien zeigen, daß es auf jedem Gebiet und für jede öffentliche Frage ganz bestimmte Personen gibt, die sich um diese Probleme besonders intensiv kümmern, sich darüber auch am meisten äußern. Wir nennen sie die ‚Meinungsführer‘.“ (Lazarsfeld u.a. 1969, S. 84f.) Die Hauptgrundlage der Analyse stellen Selbsteinschätzungen der Befragten dar. Dies gilt insbesondere auch für die Bestimmung der Gruppe der Meinungsführer. Die im Verlauf der Untersuchung integrierten Fragen lauteten: „Haben Sie neulich versucht, irgend jemanden von Ihren politischen Ideen zu überzeugen? Hat neulich irgend jemand Sie um Rat über ein politisches Problem gebeten?“ (Lazarsfeld u.a. 1969, S. 85) Wer mindestens eine dieser beiden Fragen mit ‚Ja‘ beantwortete, wurde als Meinungsführer bezeichnet. Dies traf auf insgesamt 21%
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der gesamten Stichprobe zu. Diese Gruppe wurde auch als ‚kampflustiger‘ Teil der Gemeinde bezeichnet. Als zentrale Merkmale wurden hervorgehoben: hohe politische Wachsamkeit, großes Interesse an der Wahl, häufige Teilnahme an politischen Diskussionen, überdurchschnittliche Nutzung der Massenmedien. Im OktoberInterview ergab sich bspw., dass sich 90% der Meinungsführer mit ihren Kollegen über den Wahlkampf unterhalten hatten, während dies nur auf 58% der übrigen Befragten zutraf. Meinungsführer wiesen eine höhere Entschlossenheit bezüglich der bevorstehenden Wahlentscheidung als Nicht-Meinungsführer auf. Generell galt: Je stärker das Interesse für die Wahl war, desto früher war auch die Entscheidung gefallen, welcher Partei man die Stimme geben wird. Eine weitere wichtige Beobachtung wurde wie folgt beschrieben: „Die meisten wollen - und brauchen es -, daß ihnen gesagt wird, daß sie Recht haben; sie wollen wissen, daß andere Menschen mit ihnen übereinstimmen. Folglich könnten die Parteien nur mit beträchtlichen Risiken auf ihre Propaganda verzichten, jedenfalls nicht einseitig. Die Funktion der Wahlpropaganda ist, was die Zahl der Stimmen betrifft, nicht so sehr, neue Wähler zu gewinnen, als die Abwanderung von Wählern zu verhindern, die der Partei bereits zuneigen.“ (Lazarsfeld u.a. 1969, S. 124) Für die Gruppe der eher noch unentschlossenen Wähler wird auf die hohe Bedeutung der Umweltwahrnehmung hingewiesen. Dies konnte durch eine Korrelation der Einschätzung von Siegeschancen in der Frühphase des Wahlkampfs mit späteren Wahlabsichten nachgewiesen werden. Für dieses Phänomen wurde auch der Begriff ‚Bandwagon‘-Effekt geprägt. Die Einschätzung der Siegeschancen bestimmter Kandidaten nimmt Einfluss auf die individuelle Wahlentscheidung. Vor allem unentschlossene Wähler zeigen nur eine geringe Bereitschaft, einem wahrscheinlichen Verlierer ihre Stimme zu geben. Dies spiegelt sich etwa in der folgenden Äußerung wider: „Kurz vor der Wahl sah es so aus, als ob Roosevelt gewinnen würde, und deshalb ging ich mit der Masse. Mir machte es nichts aus, wer gewann, aber ich wollte für den Sieger stimmen.“ (Lazarsfeld u.a. 1969, S. 146) Während hier der Hinweis auf die Masse eine Quelle der Umweltwahrnehmung benennt, wird in der folgenden Aussage auf die Bedeutung von Gleichgesinnten bzw. bekannten Personen hingewiesen: „Ich bin immer ein Demokrat gewesen, aber neulich habe ich von so vielen Demokraten gehört, daß sie republikanisch wählen werden, daß ich dasselbe tun könnte. Vier von fünf mir bekannten Demokraten machen das.“ (Lazarsfeld u.a. 1969, S. 146) Auch der heute häufig geäußerte Vorwurf einer ‚Mediendemokratie‘ wird bereits durch den Hinweis illustriert, dass das Urteil von Prominenten und die Ergebnisse von Meinungsumfragen einen Einfluss auf die Wahrnehmung von Siegeschancen nehmen können. Ihren besonderen Stellenwert erhielt die Studie durch die Formulierung der Hypothese des ‚Zwei-Stufen-Flusses der Kommunikation‘. Diese Hypothese will den besonderen Stellenwert der interpersonalen Kommunikation hervorheben. Ne-
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Massenkommunikation und interpersonale Kommunikation
ben die unmittelbare Wahrnehmung durch Massenmedien (Hörfunk, Zeitung) und Wahlveranstaltungen treten persönliche Kontakte. Die Bedeutung des zuletzt genannten Faktors wird wie folgt beschrieben: „Wenn immer die Befragten aufgefordert wurden, alle möglichen Informationsquellen über den Wahlkampf zu nennen, denen sie in letzter Zeit ausgesetzt waren, wurden politische Diskussionen häufiger genannt als Rundfunk oder Presse.“ (Lazarsfeld u.a. 1969, S. 190) Insbesondere unentschlossene Wähler und jene, die ihre Wahlabsicht während des Wahlkampfes änderten, wiesen auf die Bedeutung der Gespräche mit anderen Personen hin. Von den sogenannten Meinungsführern war wiederum bekannt, dass sie sich nicht nur überdurchschnittlich häufig mit den Angeboten der Massenmedien beschäftigen, sondern auch eine überdurchschnittliche Kommunikationshäufigkeit und Bereitschaft, mit anderen in den Dialog zu treten, zeigen. Aus der Kombination dieser Befunde resultierte die Erwartung, dass Meinungsführer im Netzwerk der persönlichen Beziehungen eine besondere Position einnehmen. Das Fazit lautete: „[...] daß Ideen oft von Rundfunk und Presse zu den Meinungsführern hin und erst von diesen zu den weniger aktiven Teilen der Bevölkerung fließen.“ (Lazarsfeld u.a. 1969, S. 191) Gerade in der Endphase von Wahlkämpfen sehen Lazarsfeld u.a. eine große Wirkungschance von Meinungsführern bzw. persönlichen Kontakten. Auch der politisch Uninteressierte oder Indifferente wird gerade in den letzten Tagen vor dem Wahltermin unweigerlich und gelegentlich auch zufällig direkt oder indirekt an Gesprächen über Politik teilnehmen bzw. als Unbeteiligter den Gesprächsverlauf registrieren. Dass auch zufällige Kommunikation Wirkungen entfalten kann, belegt die Äußerung einer Kellnerin: „‚Ich hatte ein bißchen in der Zeitung gelesen, doch die wirkliche Ursache für meine Meinungsänderung war das, was ich so hörte. Willkie gefällt so vielen Menschen nicht. Viele Kunden im Restaurant sagten, daß Willkie zu nichts taugen würde.‘“ (Lazarsfeld u.a. 1969, S. 193) Die Partei Roosevelts gewann nicht nur die Wahl in Erie County - jene Region, in der die Wahl-Studie durchgeführt wurde -, sondern Roosevelt wurde auch für eine dritte Amtszeit gewählt. Bezüglich des großen Reiz-Reaktions-Experiments ‚Wahlkampf‘ lautet das Fazit: „Wir wissen nicht, auf welche Weise die Gelder der politischen Parteien auf die verschiedenen Propagandakanäle verteilt werden, aber wir vermuten, daß der größte Teil der Propagandagelder für Flugblätter, Rundfunk u. a. m. ausgegeben wird. Nach unseren Ergebnissen scheint es sich jedoch eher zu empfehlen, die Gelder gleich stark auf die Massenmedien und auf die Organisation der persönlichen Einflüsse, also der örtlichen ‚Molekularkräfte‘ zu verteilen.“ (Lazarsfeld u.a. 1969, S. 199) Chaffee und Hochheimer haben in einer Re-Analyse der Daten von Lazarsfeld u.a. gezeigt, dass mehr als zwei Drittel der Befragten, die nach der Wahl über die Bedeutung verschiedener Informationsquellen befragt wurden, die Zeitungen oder das Radio als hilfreiche Quelle nannten. Über die Hälfte sah darin die wichtigste Quelle, nur etwa ein Viertel nannten Personen (Verwandte,
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Freunde, Nachbarn, Berufskollegen). Aber die Vorstellung von „limited effects“ wurde in der politischen Kommunikationsforschung frühestens Ende der 1960er Jahre in Frage gestellt (vgl. Chaffee/Hochheimer 1985, S. 267 und 272f.). Die Vorstellung vom Zwei-Stufen-Fluss der Kommunikation ist in unterschiedlichen Varianten visualisiert worden. Die nachfolgende Abbildung orientiert sich auch terminologisch an der Ausgangshypothese (vgl. Abbildung 5.1). Abbildung 5.1
Der Zwei-Stufen-Fluss der Kommunikation Massenmedien
Ideen
Ideen
Meinungsführer
Ideen
Ideen
Ideen
Weniger Interessierte
Quelle: Schenk 2007, S. 352 Die grundlegende Idee eines Zwei-Stufen-Flusses ist jedoch weit älter als das von Lazarsfeld skizzierte Modell. Bereits Gabriel Tarde (1843-1904) ging davon aus, dass die öffentliche Meinung den Spezialfall eines Diffusionsprozesses darstellt. Durch die Tagespresse wird eine Art „menu of ideas“ (Katz 1999, S. 152) bereitgestellt, welches dann in Coffeeshops und Salons als Anregung zur Konversation dient. Auf der Mikroebene beeinflusst die so entstandene Meinung die Wahlentscheidungen, Bewertungen von Produkten und Moden. Laut Katz nimmt Tarde damit sogar die späteren Verfeinerungen und Weiterentwicklungen des Ansatzes vorweg, indem er Einfluss als Faktor, aber auch soziale Gruppen und die dort stattfindenden Interaktionen betont (vgl. zusammenfassend Katz 1991, 1999). Die weitere Entwicklung dieserr Forschungsrichtung ist sowohl durch eine Spezifizierung des Phänomens der Meinungsführerschaft als auch durch eine detailliertere Analyse der Beziehungen von Meinungsführern und beeinflussten Personen gekennzeichnet. Zunehmend kristallisierte sich heraus, dass Meinungsführerschaft ein mehr oder weniger fester Bestandteil „im Prozeß des Gebens und Nehmens täglicher persönlicher Beziehungen“ (Katz/Lazarsfeld 1962, S. 41) ist. Hinsichtlich der
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Wiederentdeckung der sozialen Gruppe stellten Katz und Lazarsfeld fest: „[...] alle zwischenmenschlichen Beziehungen können als Nachrichtennetz dienen und einen Meinungsführer kann man sich am besten als ein Gruppenmitglied vorstellen, das eine Schlüsselstellung im Nachrichtenwesen einnimmt. Mit dieser Bestimmung, d.h. der Verknüpfung des Meinungsführers mit bestimmten anderen, mit denen er Kontakt hat – ist die ‚Wiederentdeckung‘ abgeschlossen.“ (Katz/Lazarsfeld 1962, S. 41) Der Hinweis ‚Schlüsselstellung im Nachrichtenwesen‘ legt es nahe, Meinungsführer mit ‚Schleusenwärtern‘ gleichzusetzen. ‚Gatekeeper‘ ist der geläufigere Fachterminus, den Kurt Lewin eingeführt hat. Nicht zufällig ist aber gerade dieser Begriff im Kontext der Beschreibung von Prozessen der Nachrichtenselektion adaptiert worden. Reimann weist darauf hin, dass die Überwachung ein- und ausgehender Informationen zwar Einfluss im Sinne von Zugangskontrolle meint, aber nicht notwendigerweise Gruppeneinfluss (vgl. Reimann 1974, S. 142f.). Die bereits erwähnte Alltäglichkeit von Meinungsführerschaft führt zu der Anschlussfrage, ob sich Meinungsführer und ihre Gefolgschaft hinsichtlich des sozialen Status deutlich oder nur gering unterscheiden. Die ‚People’s Choice‘-Studie lokalisierte Meinungsführer in allen Berufsgruppen und leitete daraus eine eher horizontale Einflussrichtung ab. Dieser Befund erwies sich als nicht generalisierungsfähig. Auch hinsichtlich des eingesetzten Messverfahrens wurde Kritik laut, weil der unterstellte Fluss von Informationen auf der Grundlage eines Selbsteinschätzungsverfahrens gar nicht gemessen werden konnte. Gemessen wurde, so Bostian, die Abwesenheit eines ‚One-Step-Flow‘ (vgl. Bostian 1970, S. 109ff.). Trotz dieser berechtigten Kritik konnten Lazarsfeld u.a. auf Indizien verweisen (insbesondere auf Aussagen von Befragten), die eine solche Modellannahme nicht als unrealistisch erscheinen ließen. - Rovere Study: Während die ‚People’s Choice‘-Studie eher unbeabsichtigt auf das Meinungsführerphänomen gelenkt wurde, ist die von Robert King Merton durchgeführte Rovere-Studie, ein fiktiver Name für eine in New Jersey existierende Stadt, als explorative Expedition in dieses wiederentdeckte Feld zu lesen. Ausgangspunkt der Analyse war das Interesse eines überregionalen Nachrichtenmagazins an unterschiedlichen Sphären des persönlichen Einflusses in Gemeinden. Die damit möglicherweise einhergehenden Absichten sollen hier nicht thematisiert werden, sondern die Frage, wie Merton versuchte, die einflussreichen Personen in einer Gemeinde zu identifizieren. Darüber hinaus ist als Resultat dieser Untersuchung eine erste Klassifikation von Meinungsführern zu erwähnen, die auszugsweise beschrieben werden soll. Das methodische Vorgehen verdeutlicht in besonderer Weise den FallstudienCharakter dieser Analyse. In einem ersten Schritt wurden insgesamt 86 Personen darum gebeten, Ratgeber in ihrer Gemeinde zu benennen, die sie aus unterschiedlichen Anlässen konsultieren. Diese erste Identifikationsphase führte zur Benennung von insgesamt 379 Informanten, die in verschiedenen Situationen Einfluss ausgeübt
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haben sollen. Unter diesen Personen waren wiederum einige, die mehrfach genannt wurden. Insgesamt lagen 1.043 Nennungen von 379 verschiedenen Personen vor. Jenen Gemeindemitgliedern, die mindestens vier Nennungen erhielten, wurde ein besonderer Einfluss zugesprochen. Dies traf auf insgesamt 57 Personen zu. Mit etwa der Hälfte dieser Gruppe (n=30) wurden Interviews durchgeführt. Die relativ einfache Frage ‚Who influenced you?‘ führte Merton von den Informanten zu den einflussreichen Personen. Nicht die Selbsteinschätzung der Meinungsführer war maßgebend, sondern die Fremdeinschätzung durch mehrere Personen. Diese Kerngruppe stand Rede und Antwort zu unterschiedlichsten Fragen, die sowohl die eigene Einschätzung des Einflusses als auch Anlass und Situation der Einflussnahme betrafen. Die daraus hervorgegangene Typologie kann allenfalls als Versuch einer Systematisierung bezeichnet werden, die in umfassenderen Studien Berücksichtigung finden kann. Dazu zählt insbesondere die Unterscheidung zwischen aktuellen Meinungsführern und potenziellen Meinungsführern. Diese Differenzierung macht darauf aufmerksam, dass Meinungsführerschaft ein vorübergehendes Phänomen sein kann. Für die Analyse der Kommunikationsbeziehungen in Rovere blieb diese Unterscheidung jedoch folgenlos. Die Benennung von Einflussbereichen ist der eigentliche theoretische Gewinn dieser Untersuchung. Dazu zählt zunächst die Differenzierung zwischen monomorphen und polymorphen Meinungsführern. Wenn sich der Einfluss des Meinungsführers auf einen spezifischen Bereich konzentriert (z. B. Politik, Mode), handelt es sich um einen Experten für spezifische Entscheidungen. Erstreckt sich der Einfluss hingegen auf scheinbar unzusammenhängende Einflussbereiche, liegen Anzeichen für eine generelle Meinungsführerschaft vor. Diese polymorphen Meinungsführer können in einer Vielzahl von Entscheidungsfeldern als Einflusspersonen wirken. Eine Variante dieser Differenzierung ergibt sich, wenn eine geografische Dimension berücksichtigt wird. Diese Vorgehensweise führte zur Beschreibung lokaler und kosmopolitischer Meinungsführer. Bezüglich dieser Typologie werden relativ ausführliche Erläuterungen gegeben. Danach handelt es sich im Falle der sogenannten ‚Locals‘ um Personen, die ihre Interessen auf den engeren Bereich der Gemeinde konzentrieren. Überregionale Ereignisse im Bereich der Politik und der Kultur werden auch vorwiegend aus dieser Perspektive wahrgenommen und beurteilt. Sie pflegen sehr viele Beziehungen zu Gemeindemitgliedern und bewerten ihre eigene Stellung insbesondere an der Quantität der Kontakte. Für einen lokalen Meinungsführer ist es nicht so wichtig, was er weiß, sondern wen er kennt. ‚Locals‘ sind stärker mit ihrer Region bzw. Heimat verbunden, häufig sind sie in der Gemeinde auch geboren und aufgewachsen. Sie arbeiten in den freiwilligen Organisationen der Stadt, informieren sich vorwiegend über lokale bzw. regionale Medien und zeichnen sich durch einen eher polymorphen Einfluss aus. Eine typische Aussage dieser Personengruppe lautet: „I wouldn’t think of leaving Rovere.“ (Merton 1968, S. 450) Obwohl aufgrund der Charakterisierung der ‚Locals‘ die Schlussfolgerung naheliegt, dass einflussreiche Kommunalpolitiker
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‚porträtiert‘ werden, relativiert Merton diesen Eindruck. Auch er geht von einer eher horizontalen Meinungsführerschaft aus und sieht nicht zwangsläufig eine Identität von Meinungsführern und formellen Führern der Gemeinde gegeben. Der sogenannte ‚Cosmopolitan‘ interessiert sich hingegen mehr für Ereignisse, die sich außerhalb der Gemeinde auf nationaler und internationaler Ebene ereignen. Gleichwohl verliert er die Gemeinde nicht völlig aus dem Blickfeld, da er, um seinen Einfluss geltend machen zu können, auch hier über soziale Beziehungen verfügen muss. Entscheidend ist für ihn jedoch die Qualität der sozialen Beziehungen. Personen, zu denen er Kontakte unterhält, weisen einen ähnlichen sozialen Status und ähnliche Interessenlagen auf. Der Einfluss des ‚Cosmopolitan‘ beruht in stärkerem Maße auf Leistungen und Fähigkeiten. Persönliche Beziehungen sind somit Konsequenz und nicht Instrument seines Einflusses. ‚Cosmopolitans‘ nehmen in der Regel eine höhere soziale Position ein als ‚Locals‘. Für diese Gruppe gilt: „He resides in Rovere but lives in the Great Society.“ (Merton 1968, S. 447) Der Einfluss konzentriert sich auf bestimmte Sachgebiete (monomorph). Eine typische Frage an diese Gruppe könnte lauten: „[W]hat should we do about a National Science Foundation?“ (Merton 1968, S. 468) Aus dieser Gegenüberstellung lassen sich vier Abgrenzungsmerkmale ableiten:
die Struktur der sozialen Beziehungen, die Grundlage des Einflusses, die Ausübung des Einflusses in konkreten Entscheidungssituationen und die Bedeutung und Inanspruchnahme von Massenmedien.
Insbesondere das zuletzt genannte Kriterium stellt die Verbindung zum ZweiStufen-Fluss der Kommunikation her. Auch die Rovere-Studie bestätigt die überdurchschnittliche Inanspruchnahme von Massenmedien durch Meinungsführer. Die Gegenüberstellung lokal-kosmopolitisch korrespondiert mit entsprechenden Präferenzen für lokale bzw. regionale Medien einerseits und überregionale bzw. (inter-) nationale Medienangebote andererseits (vgl. auch Weimann 1994, S. 16). - Decatur Study: Eine der meistzitierten Arbeiten aus der Columbia-Schule ist neben der Wahlkampf-Studie aus dem Jahr 1940 die nach einer Stadt im Bundesstaat Illinois benannte Decatur-Studie, die in den Jahren 1945/46 durchgeführt wurde. In doppelter Hinsicht ist diese Studie von Bedeutung: Katz und Lazarsfeld ergänzen im Rahmen dieser Analyse die Methode der Selbsteinschätzung durch das Schneeballverfahren. Außerdem wurden vier verschiedene Entscheidungsfelder betrachtet: Kaufverhalten (Marketing), Mode, Politik und Kinobesuch. Ein weiteres Spezifikum, das sich insbesondere aus den untersuchten Bereichen ableiten lässt, ist eine Konzentration der Befragung auf Frauen im Alter ab 16 Jahren. Insgesamt wurden 800 Frauen zunächst mit Hilfe eines Zufallverfahrens ausgewählt und zu zwei ver-
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schiedenen Zeitpunkten, nämlich im Juli und August, interviewt. Während die Wahlkampf-Studie des Jahres 1940 eine überraschende Entdeckung machte und die Studie von Merton einen überwiegend theoretischen Beitrag leistete, sollte es im Rahmen der Decatur-Studie um die Frage gehen, wie sich persönlicher Einfluss im Alltag vollzieht, d.h. welche Bedeutung informelle Beziehungen für Entscheidungsfindungen haben. Abbildung 5.2
Identifikation von Ratgebern und Ratsuchern in der Decatur-Studie Ausgangsstichprobe = Informantensample
“THE DESIGNATORS” genannte Personen =
“DESIGNATEES” bestehend aus
“INFLUENCEES”
“INFLUENTIALS”
Personen, die die Informanten um Rat gebeten haben
Personen, die den Informanten einen Rat gegeben haben und deren Meinungen beeinflussten
Quelle: Katz/Lazarsfeld 1955, S. 150 und 346f. Beispielfragen: „Have you recently been asked your advice about what ...?“ „Compared with other women belonging to your circle of friends – are you more or less likely than any of them to be asked for your advice on ...?“
Der Pioniercharakter der Studie kann bspw. daran abgelesen werden, dass zum Zwecke der Identifikation von Meinungsführern und ihrer Gefolgschaft ein differenziertes Vorgehen praktiziert wurde: Verschiedene Quellen sollten Einflussnahme und Einflussstärke bestätigen. Der folgende Beispieltext verdeutlicht das grundsätzliche Anliegen sehr anschaulich. Ausgehend von einem Informanten-Sample werden sowohl die Selbsteinschätzung als auch die Fremdeinschätzung als Meinungsführer überprüft (vgl. Abbildung 5.2).
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Massenkommunikation und interpersonale Kommunikation
Die Identifikation von Meinungsführern im Rahmen der Decatur-Studie „With reference to the formation of judgments and opinions about public affairs and political life, we asked our respondents about three kinds of other people. We asked them to name (1) the people whom they believe to be trustworthy and knowledgeable about matters of public concern; (2) the people who actually influenced them in some specific change of opinion in a matter of current concern; and (3) the people with whom they most often talk over what they hear on the radio or read in the papers. In addition, from each woman in the sample we obtained extensive information about herself, including a self-rating of her own influentiality together with reports of recent specific occasions on which she claimed to have influenced others. [...] we shall take up each of these detecting devices in turn and briefly describe the relations between the people located by each of them and the women in our sample who named them. We want to investigate, in other words, the extent to which each of these three types of designated influentials are influential in fact, and the extent to which they are actually in close contact with our sample of women. We shall see that these three ways of going about the study of informal influence form a rough scale, although the dimensions of this scale remain somewhat unclear. From these designated influentials, we shall turn of the self-rated influential; that is, we shall analyze the adequacy of self-estimates of opinion leadership. And finally, we shall consider the meaning, and the usefulness, of each of the four criteria as bases for different approaches of the study of opinion leadership.“ (Katz/Lazarsfeld 1955, S. 139)
Auf diese Art und Weise konnten insgesamt 1.549 Fälle ermittelt werden, in denen es zu unterschiedlichen Formen der Einflussnahme gekommen sein sollte. Katz und Lazarsfeld beließen es nicht bei dieser Feststellung, sondern überprüften, ob diese Selbst- und Fremdeinschätzungen tatsächlich zutrafen. Zu diesem Zweck bemühten sie sich um ergänzende Befragungen der als Ratgeber oder Ratsuchende bezeichneten Personen. Aus diesem Grund wird auch von Schneeball-Interviews gesprochen. Die Richtung des Einflusses und das besprochene Thema sowie das Zutreffen der Selbsteinschätzungen sollten genauer überprüft werden. Allerdings konnten lediglich 634 Kontrollinterviews durchgeführt werden. Das Ergebnis dieser Überprüfungen war: 69% der Ratgeber (Influentials) und 64% der Empfänger von Ratschlägen (Influencees) bestätigten die Angaben Dritter. Wenngleich die geringe Zahl der Kontroll-Interviews kritisiert wurde, ist das Bemühen um eine präzise Beschreibung des Phänomens der Meinungsführerschaft erkennbar. Katz und Lazarsfeld zogen aus den vorgenommenen Kontrollen die
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Schlussfolgerung, dass die selbsternannten Meinungsführer als Grundlage für weitere Analysen dienen können. Aufgrund der Vielzahl der berücksichtigten Einflussbereiche wurden insgesamt 693 ‚self-detected‘ Meinungsführer berücksichtigt. Diese lassen sich unter Zugrundelegung von drei Dimensionen genauer differenzieren:
nach dem sozioökonomischen Status, nach der Position im Lebenszyklus und nach dem Ausmaß der sozialen Kontakte.
Aus der Vielzahl an Detailbefunden sollen hier nur wenige hervorgehoben werden: Lediglich im Bereich der Politik ist eine Konzentration von Meinungsführern in der oberen sozialen Schicht zu beobachten. In den übrigen Bereichen (Mode, Kaufverhalten, Kinobesuch) zeigte sich eine relative Gleichverteilung der Meinungsführer über alle sozialen Schichten. Nach Katz und Lazarsfeld verläuft die asymmetrische Beziehung zwischen Meinungsführern und ihrer Gefolgschaft im Allgemeinen horizontal, lediglich im Bereich der Politik lassen sich geringe vertikale Elemente identifizieren. Der Position im Lebenszyklus kommt bezüglich der Bereiche Kaufverhalten, Mode und Kinobesuch eine größere Bedeutung zu. Bezüglich Mode und Kino konzentrieren sich die Meinungsführer insbesondere in der Gruppe der jüngeren unverheirateten Frauen. Hinsichtlich der Geselligkeit (Ausmaß der sozialen Kontakte) ergab sich eine hohe Korrelation mit Meinungsführerschaft. Nichtgesellige Personen sind in der Regel auch nicht Meinungsführer. Für das Phänomen einer generellen Meinungsführerschaft sprachen nur wenige Hinweise. Meinungsführerschaft konzentriert sich in der Regel auf bestimmte Themenbereiche (monomorph). Hiermit korrespondiert eine selektive Inanspruchnahme der Inhalte der Massenmedien. Mit dem Hinweis auf die Bedeutung der Massenmedien wird verdeutlicht, dass die Kenntnisse in spezifischen Bereichen in den persönlichen Kontakten des Alltags praktisch werden. Angesichts der Alltäglichkeit des Phänomens mag die Bezugnahme auf die Aussage eines englischen Sozialtheoretikers in diesem Zusammenhang überraschen. Der umfassenden Bedeutung von Meinungsführerschaft ist wohl zuzuschreiben, dass Katz und Lazarsfeld ihrer Analyse ein Zitat von John Stuart Mill (1806-1873) voranstellten: „And what is a still greater novelty, the mass do not now take their opinions from dignitaries in Church or State, from ostensible leaders, or from books. Their thinking is done for them by men much like themselves, addressing them or speaking in their name, on the spur of the moment. [...].“ (Katz/Lazarfeld 1955) - Drug Study: Obwohl sich die Meinungsführerforschung um eine möglichst exakte Beschreibung des Einflusses in sozialen Gruppen bemühte, gelangte man im Rahmen der Analysen selten über die Betrachtung sogenannter Dyaden (= Paarverhältnis) hinaus. In dieser Hinsicht stellt die ‚Drug Study‘ eine methodische Erweiterung
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dar. Analysiert wird die Verbreitung eines neuen Medikaments unter den Ärzten verschiedener Städte. Soziometrische Verfahren dienen der Identifikation von Meinungsführern in den Netzwerken der Ärzteschaft. Im Gegensatz zu Repräsentativbefragungen strebte diese Untersuchungskonzeption eine Vollerhebung an, indem alle Ärzte einer Gemeinde bezüglich der Inanspruchnahme der medizinischen Innovation befragt wurden. Das Forschungsprojekt begann mit einer Pilotstudie im Jahr 1954.
Fragestellungen im Rahmen der ‚Drug Study‘ „Could you name the three or four physicians you meet most frequently on social occasions?“ „Who are the three or four physicians in your conversations with whom the subject of drug therapy most often comes up?“ „When you need added information or advice about questions of drug therapy, where do you usually turn?“ (Menzel/Katz 1955, S. 340)
In einer kleinen Gemeinde Neu-Englands ergab sich die Möglichkeit, die Verschreibepraxis eines neuen Medikaments zu analysieren; 33 der 40 praktizierenden Ärzte nahmen an dieser Untersuchung teil. Die Fragestellungen generierten Informationen, die sich in ein Soziogramm überführen ließen. Soziogramme beschreiben die Position einer Person innerhalb eines sozialen Netzwerks und lassen erkennen, welche Beziehungen innerhalb einer Gemeinschaft existieren. Zugleich ist eine inhaltliche Präzisierung dieser Relationen möglich. Erkennbar wird dies bereits an den verwandten Fragestellungen. Einige Beispiele aus der Pilotstudie sind in dem entsprechenden Textblock zusammengestellt. Schließlich wurde auch das Informationsverhalten der Ärzte analysiert, insbesondere die Inanspruchnahme von Fachzeitschriften und anderen medizinischen Informationsmaterialien. Sowohl die Pilot- als auch die Hauptstudie konnten die Befunde der Meinungsführerforschung weitgehend bestätigen. Eine wichtige Erweiterung ergab sich jedoch hinsichtlich der Zahl der ‚Steps‘, die eine Information durchläuft, bis sie ihr vorläufiges Ziel erreicht hat. Aus der Beobachtung, dass nicht nur die Meinungsführer von Kollegen konsultiert wurden, sondern selbst Kollegen nannten, die sie um Rat baten, resultierte der Vorschlag, von „multistep flow of communications“ (Menzel/Katz 1955, S. 343) auszugehen. Um wie viele Stufen es sich tatsächlich handelte, konnte lediglich angedeutet werden. Insgesamt aber lag die
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Schlussfolgerung nahe, dass viele Informationen die jeweilige Zielgruppe nicht auf direktem Weg erreichen. Sowohl die überdurchschnittliche Inanspruchnahme von Zeitschriften als auch die häufige Nennung als Ratgeber in medizinischen Angelegenheiten korrespondierte mit einer frühen Übernahme eines neuen Medikaments. Die ‚Drug Study‘ lieferte somit auch einen Beitrag zur Diffusionsforschung. Diese Forschungsrichtung untersucht, welche Faktoren die Ausbreitung einer Innovation begünstigen oder hemmen und überführt diesen Ablauf in allgemeine Gesetzmäßigkeiten. Die genannten Befunde sind von Coleman et al. wie in Abbildung 5.3 veranschaulicht worden. Abbildung 5.3
Merkmale der frühen Übernehmer einer medizinischen Innovation
Erhaltene Wahlen als Ratgeber und Verschreibung von Gammanym
Abonnierte (Fach-) Zeitschriften und Verschreibung von Gammanym 1,00
Gammanym verschreibende Ärzte (kumulierte Anteile)
Gammanym verschreibende Ärzte (kumulierte Anteile)
1,00
0,90
0,80
0,70
0,60
0,50
0,40
0,30
0,20
0,10
0,90
0,80
0,70
0,60
0,50
0,40
0,30
0,20
0,10
0,00
0,00
2 4 6 8 10 12 14 16 18 Monate nach der Freigabe von Gammanym Erhielt keine Wahl (N=61) Erhielt 1 bis 3 Wahlen (N=43) Erhielt 4 oder mehr Wahlen (N=21)
2
4
6
8
10
12
14
16
18
Monate nach der Freigabe von Gammanym Erhält 2 oder 3 (Fach-) Zeitschriften (N=27) Erhält 4 oder 5 (Fach-) Zeitschriften (N=52) Erhält 6 oder mehr (Fach-) Zeitschriften (N=46)
Anmerkung: Gammanym ist der Name des Medikaments.
Quelle: Coleman et al. 1966, S. 46 und 84 Für die späteren Übernehmer sind die Erfahrungen der innovationsbereiteren Ärzte von großer Bedeutung. Die frühe Verschreibepraxis, die den Forschern aufgrund
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einer erlaubten Einsichtnahme in die Rezeptunterlagen der lokalen Apotheken bekannt war, ist offenbar auch Ausdruck eines Erfahrungsreichtums. Diese Kompetenz korreliert zugleich mit dem Ausmaß der Integration eines Arztes in die lokale Gemeinschaft. Wenn beide Faktoren zusammenkommen, ist die Wahrscheinlichkeit einer frühen Übernahme und die Vorbildfunktion für andere Ärzte groß. Insofern darf in diesem Zusammenhang auf einen Kernsatz der Diffusionsforschung verwiesen werden: „Diffusion is a very social process.“ (Rogers 2003, S. 19) Kritik an der Drug Study kann vor allem dahingehend geübt werden, dass Coleman und die beteiligten Forscher sich selbst kein Bild von den Gemeinden machten: „I never saw the communities. It was one of those research projects that happens while you are busy with more important projects“ (Coleman, zitiert nach Van den Bulte/Lilien 2001, S. 1421) Darüber hinaus wurde eine mögliche Konfundierung mit Marketingeffekten nicht beachtet, obwohl die damalige Marketingstrategie des Pharmaunternehmens aggressiv ausgefallen sein soll. Van den Bulte und Lilien weisen darauf hin, dass die Effekte der sozialen Ansteckung bei einer Reanalyse des Datensatzes unter Berücksichtigung dieser Konfundierung nahezu verschwinden. Die damalige Betonung der sozialen Komponente im Diffusionsprozess erscheint somit fraglich (vgl.Van den Bulte/Lilien 2001). Die Darstellung ausgewählter Pionierstudien der Meinungsführerforschung verdeutlicht nichtsdestotrotz die Wiederentdeckung informeller Beziehungen und die Bedeutung des persönlichen Ratschlags von Personen, denen aus unterschiedlichen Gründen Anerkennung und Vertrauen entgegengebracht wird. Das Hauptaugenmerk wurde nicht den Medienangeboten selbst gewidmet. Zugleich illustriert die Breite der untersuchten Themen, dass ein alltägliches Phänomen vorliegt, das in vielen Situationen seinen Einfluss entfaltet. Die Pionierstudien erfüllen somit zunächst die wichtige Funktion der Erschließung eines vernachlässigten Forschungsfeldes. Die zur Beschreibung von Meinungsführern herangezogenen Merkmale sind nicht in allen Entscheidungsfeldern gleichermaßen relevant, deuten aber darauf hin, dass bestimmte Eigenschaften und Kenntnisse prädisponierend wirken und sich in sozialen Beziehungen verwirklichen. Diese Eigenschaften und Fähigkeiten lassen sich wie folgt klassifizieren:
Kompetenz, Erfahrung und Bildung Engagement und Interesse Soziale Integration und soziale Anerkennung.
Die Korrelation mit spezifischen Verhaltensweisen kommt hinzu: eine eher selektive Mediennutzung, Aktivitäten in Vereinen und Organisationen sowie ein generelles Interesse an politischen und sozialen Entwicklungen. Katz fasste diese Eigenschaften unter den berühmten ‚drei Ws‘ zusammen. Wer man ist, was man weiß und wen
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man kennt (Katz 1957, S. 73). Es ist immer noch relevant was die Wege des Einflusses sind. Mit dem Internet werden diese nur verzweigter und länger. Sie stellen eine neue Herausforderung dar, der ‚man‘ sich stellen muss. Die Meinungsführerforschung ist heute ein fester Bestandteil der Kommunikationswissenschaft und baut auf den beschriebenen Pionierarbeiten auf. Am deutlichsten zeigt sich dies in der Kontinuität der Fragestellungen. Sowohl eine Beschreibung der beteiligten Personen als auch die Bestimmung ihrer Position und Relevanz im Rahmen eines mehrstufigen Kommunikationsprozesses steht im Vordergrund. Konkret geht es um die Frage, welche Bedeutung den Medienangeboten und welche Bedeutung den Meinungsführern für bestimmte Einstellungs- bzw. Verhaltensänderungen zukommt. In Verbindung damit ist vermehrt die Frage aufgeworfen worden, in welchen Fällen die Information und in welchen die Beeinflussung dominiert. Auf diese Unterscheidung wird Bezug genommen, wenn von der Relaisfunktion bzw. der Beeinflussungs- und Verstärkerfunktion der Meinungsführer gesprochen wird. 5.2 Erweiterungen und Modifikationen der ‚Zwei-Stufen-Fluss‘-Hypothese - Zur Relaisfunktion der Meinungsführer. Hinsichtlich der Informationsübertragungsfunktion der Meinungsführer lässt sich die Frage formulieren, ob die Aussagen der Massenkommunikation in den überwiegenden Fällen - quasi ereignis- und themenunabhängig - über das beschriebene zwei- oder mehrstufige Modell die Rezipienten erreichen. Um diese Frage zu beantworten, wird häufig auf Ergebnisse aus sogenannten ‚News Diffusion‘-Studien zurückgegriffen. Diese überprüfen, aus welcher Quelle die Bevölkerung zunächst von einem bestimmten Ereignis erfährt. Ein typisches Merkmal dieser Analysen ist die Konzentration auf Ereignisse mit einem hohen Nachrichtenwert. Als historisches Beispiel dient die nachfolgend wiedergegebene Darstellung eines fatalen Ereignisses der europäischen Geschichte.
Attentat auf Thronfolger Joseph Roth beschreibt in seinem Roman ‚Radetzkymarsch’, wie die Nachricht von einem angeblichen Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger eine Region, die 12 Meilen von der russischen Grenze entfernt lag, erreicht hat. „(...), daß man den Thronfolger der österreichisch-ungarischen Monarchie wahrscheinlich in Sarajevo erschossen habe. Reisende, die vor drei Stunden angekommen seien, hätten zuerst die Nachricht verbreitet. Dann sei ein
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Massenkommunikation und interpersonale Kommunikation verstümmeltes, chiffriertes Telegramm von der Statthalterei angelangt. Offenbar infolge des Gewitters sei der telegraphische Verkehr gestört, eine Rückfrage also bis jetzt unbeantwortet geblieben. Überdies sei heute Sonntag und nur wenig Personal in den Ämtern vorhanden. Die Aufregung in der Stadt und selbst in den Dörfern wachse aber ständig, und trotz des Gewitters ständen die Leute in den Gassen. Während der Kommissär hastig und flüsternd erzählte, hörte man aus den Räumen die schleifenden Schritte der Tanzenden, das helle Klirren der Gläser und von Zeit zu Zeit ein tiefes Gelächter der Männer. Chojnicki beschloß, zuerst ein paar seiner Gäste, die er für maßgebend, vorsichtig und noch nüchtern hielt, in einem abgesonderten Zimmer zu versammeln. Indem er allerhand Ausreden gebrauchte, brachte er den und jenen in den vorgesehenen Raum, stellte ihnen den Bezirkskommissär vor und berichtete. Zu den Eingeweihten gehörten der Oberst des Dragonerregiments, der Major des Jägerbataillons mit ihren Adjutanten, mehre von den Trägern berühmter Namen, und unter den Offizieren des Jägerbataillons Leutnant Trotta. Das Zimmer, in dem sie sich befanden, enthielt wenig Sitzgelegenheiten, so daß mehrere sich ringsum an die Wände lehnen mußten, einige sich ahnungslos und übermütig, bevor sie noch wußten, worum es sich handle, auf den Teppich setzten, mit gekreuzten Beinen.“ [...] ‚Die Nachricht ist nicht wahr’, sagte er, ‚sie ist halt nicht wahr. Es soll mir einer nachweisen, daß es wahr ist, blöde Lüge, dafür spricht schon allein das Wort >gerüchtweise< oder >wahrscheinlich< oder wie das politische Zeug heißt!’ ‚Auch ein Gerücht genügt!’ sagte Zoglauer. Hier mischte sich Herr von Babenhausen, Rittmeister der Reserve, in den Zwist. Er war angeheitert, fächelte sich mit dem Taschentuch, das er bald in den Ärmel steckte, bald wieder hervorzog. Er löste sich von der Wand, trat an den Tisch und kníff die Augen zusammen: ‚Meine Herren’, sagte er, ‚Bosnien ist weit von uns entfernt. Auf Gerüchte geben wir nix! Was mich betrifft, ich pfeif’ auf Gerüchte! Wann’s wahr is, werden wir’s eh früh genug erfahren!’“ (Roth 1981, S. 360)
Eine erste Zusammenfassung diesbezüglicher Ergebnisse legten Deutschmann und Danielson im Jahr 1960 vor. Über alle betrachteten Ereignisse (die Erkrankung Eisenhowers, die Explorer I-Expedition, Alaska wird US-Bundesstaat usw.) erwiesen sich die Medien als die erste Quelle der Information. Der mittlere Prozentwert über alle betrachteten Ereignisse lag bei 88%, wohingegen die interpersonale Kommunikation nur einen durchschnittlichen Wert von 12% erreichte. Während das Fernsehen in der Pionierphase der Meinungsführerforschung als relevantes Medium fehlte, wird bereits in dieser ersten Übersicht erkennbar, welche Bedeutung dieses audiovisuelle Medium besitzt. Wenn es um die Frage ging, aus welchem Medium man zuerst von einem Ereignis erfuhr, lag das Fernsehen im Vergleich zu Radio und Tageszeitung in nahezu allen Fällen an erster Stelle. Schon zu Beginn der 1960er
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Jahre wurden daher folgende Schlussfolgerungen formuliert (vgl. Deutschmann/Danielson 1960, S. 355): 1. 2. 3.
Informationen der Massenmedien erreichen die Rezipienten überwiegend direkt. Die Rezipienten nutzen die Informationen der Massenmedien als Gesprächsstoff. Meinungsführer können auf der Stufe des Gesprächs eine Relaisfunktion übernehmen. Hier kann der Informationsvorsprung von Meinungsführern wirksam werden.
Für diese Interpretation spricht, dass zwei Drittel der Befragten angaben, sich an entsprechenden Gesprächen beteiligt zu haben. Wenige Jahre später legten Hill und Bonjean weitere Untersuchungsergebnisse vor, unter anderem Befunde, die das Bekanntwerden des Attentats auf den amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy im Jahr 1963 verdeutlichten. Die Autoren kamen zu dem Ergebnis, dass 57,1% der Bevölkerung durch andere Personen von der Ermordung Kennedys erfuhren, 43% hörten es über die Medien. Im Falle dieses Ereignisses darf das Ergebnis nicht verwundern. Sehr schnell wird sich die durch Medien ausgelöste mit der durch Gespräche und Gerüchte43 initiierten Diffusionskurve überlagert haben. Im Vergleich mit früheren Vorkommnissen aber wird der Stellenwert der Massenkommunikation deutlich: Den Tod von Franklin D. Roosevelt nahmen im Jahr 1945 nur 12,6% der Bevölkerung über die Medien wahr, dagegen 87,4% aus Gesprächen. In beiden Fällen (Roosevelt und Kennedy) lag der Anteil der interpersonalen Kommunikation relativ hoch, wobei dies auch auf den Tageszeitpunkt des Ereignisses zurückgeführt werden kann. Hill und Bonjean gingen von folgenden Annahmen aus: 1. 2. 3. 4.
Das Verhältnis von Massenkommunikation und interpersonaler Kommunikation wird durch das Auftreten des Ereignisses im Tagesablauf beeinflusst. Die Bedeutung interpersonaler Kommunikation wächst mit dem Nachrichtenwert des Ereignisses. Die Verbreitungsgeschwindigkeit einer Nachricht nimmt mit ihrer Bedeutung zu. Sozioökonomische Unterschiede in der Nutzung der Medien verlieren im Falle von ‚major events‘ an Bedeutung (vgl. Hill/Bonjean 1964, S. 342).
Für das Zutreffen der Nachrichtenwert-Hypothese spricht, dass 97,8% der Amerikaner von der Enzyklika Papst Pauls VI. aus dem Jahr 1967 über die Medien er43
Zur Diffusion von Gerüchten siehe insbesondere die frühe Arbeit von Allport/Postman 1947 sowie Buckner 1965 und die empirische Analyse von Lauf 1990.
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fuhren, lediglich 2,2% nannten das Gespräch als erste Informationsquelle (vgl. Renckstorf 1970, S. 324). Renckstorf gelangt daher zu der folgenden Schlussfolgerung: „Für den Diffusionsprozeß (von wichtigen) Botschaften der Medien kann die TSF-Hypothese [TSF = Two Step Flow, Anm. d. Verf.)] (heute) keine praktische Relevanz mehr beanspruchen. Die Bedeutung interpersoneller Kommunikation kann - heute - nicht mehr im >Relaying< von Information gesehen werden.“ (Renckstorf 1970, S. 325) Zugleich muss die Anschlussfrage gestellt werden, ob die angeführten Studien generell dazu geeignet sind, die Hypothese vom Zwei-Stufen-Fluss der Kommunikation zu falsifizieren. Es sind insbesondere zwei Einwände, die hier genannt werden müssen: Die Zwei-Stufen-Fluss-Hypothese lässt sich nur im Falle einer strengen Orientierung am ursprünglichen Wortlaut als widerlegt betrachten, wenn Rezipienten Informationen direkt von den Massenmedien erhalten haben. Es geht aber um mehr als die Frage, wann verschiedene Bevölkerungsgruppen ein Ereignis erstmals zur Kenntnis nehmen. Die Konzentration der ‚News Diffusion‘-Studien auf bedeutende Geschehnisse marginalisiert zudem den Einfluss von Merkmalen, die gerade für das Phänomen der Meinungsführerschaft konstitutiv sind, bspw. das politische Interesse. Untersuchungen zur Verbreitung von Nachrichten sind seit den 1980er Jahren seltener geworden (siehe die Übersicht bei Rogers 2000, insb. S. 566). Die Annahmen von Hill und Bonjean (siehe oben) erfuhren insofern eine Ergänzung, als der Anteil der interpersonalen Kommunikation auch im Falle von Ereignissen mit geringer Bedeutung als hoch eingeschätzt wurde. Häufig handelte es sich um ad hocStudien, die infolge der Überraschung durch das jeweilige Ereignis im unmittelbaren Anschluss durchgeführt wurden und in der Regel auf sehr kleinen Stichproben beruhten. Darüber hinaus ist der Anlass in vielen Fällen mit persönlichen Schicksalen und dramatischen Ereignissen verbunden (zum Beispiel die Attentate auf den ehemaligen amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan am 30. März 1981 und auf Papst Johannes Paul II. am 13. Mai 1981 (vgl. den Überblick bei DeFleur 1987), die Challenger-Katastrophe (vgl. Kubey/Peluso 1990) oder die Terroranschläge am 11. September 2001 (vgl. Emmer u.a. 2002). Es ist dieser Ereignischarakter, der Rogers von einer „firehouse nature of news event diffusion research“ (Rogers 2000, S. 569) sprechen lässt. Ein relativ umfassendes Forschungsprogramm ist dagegen im Anschluss an die Ermordung des schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme initiiert worden. In zwölf Ländern fanden Befragungen statt, die die Verbreitung dieser Nachricht zu rekonstruieren versuchten. Die Untersuchung konnte weitgehend bestätigen, dass aufgrund der Bedeutung des Ereignisses die Diffusionsrate relativ hoch war. Der interpersonalen Kommunikation kam insbesondere in den skandinavischen Ländern eine größere Bedeutung zu, in den USA betrug der Wert 0%. Der Tageszeitpunkt des Ereignisses (später Freitagabend) begünstigte in einigen Ländern einen Vorsprung des Radios gegenüber anderen Quellen. In Deutschland bspw. nannten 46% der Befragten das
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Radio, 21% das Fernsehen und 9% die Tageszeitung. Auch die geografische Distanz des jeweiligen Landes zu dem Ereignisland Schweden war für die Diffusion der Nachricht bedeutsam. In den USA hatten innerhalb eines Zeitraums von 2 ½ Tagen nur 60% der Bevölkerung die Nachricht über unterschiedliche Quellen wahrgenommen, in Japan lag der Wert zwischen 80% und 90%. Somit macht sich hier auch ein unterschiedliches Interesse an internationalen Nachrichten bemerkbar (vgl. zusammenfassend zu diesen Ergebnissen Rosengren 1987). Die Kenntnisnahme des Attentats markiert allenfalls eine Momentaufnahme der tatsächlichen Kommunikation. Rosengren spricht von „post-learned activities“ (Rosengren 1987, S. 237) und zitiert zur Illustration aus einem Forschungsbericht, den Kepplinger u.a. auf der Basis der Analyse für Deutschland vorgelegt hatten: „Respondents did not only learn the facts. They reacted emotionally. They speculated about motives, looked for further information and engaged in conversation about the murder of Palme. Thus, the news had learning effects, emotional effects, intellectual effects and behavioural effects. Taken together these effects indicate that the rate of diffusion, described by a curve of diffusion, falls far behind an adequate picture of what really happened with the respondents who learned about the assassination.“ (zitiert nach Rosengren 1987, S. 237) Insgesamt zeigen die Ergebnisse der Diffusionsstudien, dass die interpersonale Kommunikation für die Vermittlung massenmedial verbreiteter Nachrichten nur eine geringe Bedeutung besitzt. Lediglich in den Ausnahmefällen herausragender Ereignisse kann die interpersonale Kommunikation annähernd den Anteil der Massenmedien am Diffusionsprozess erreichen (vgl. auch die Untersuchung von van der Voort et al. 1992). Mit Rogers lässt sich zusammenfassend feststellen: „What have we learned over the past five decades from news event diffusion research? The general picture that emerges is one of the mass media playing a key role in diffusing a news story. The media, especially the broadcast media, rather immediately reach certain members of the audience, who then, to a degree depending on the perceived salience of the news event, diffuse this news via interpersonal channels to their members of the public. The news event diffusion process varies, research shows, depending (1) on the perceived salience of the news event, and (2) its time-of-day and day-of-theweek, which determine the proportion of individuals at home or at work, and hence the proportion of interpersonal diffusion, and the speed of this process.“ (Rogers 2000, S. 572).
144 Abbildung 5.4
Massenkommunikation und interpersonale Kommunikation Modifiziertes Modell des Zwei-Stufen-Flusses der Kommunikation
1. Stufe Massenmedien
Meinungsführer
Meinungsführer 2. Stufe
Rezipient
Rezipient
Rezipient
Quelle: Renckstorf 1970, S. 325 - Zur Beeinflussungs- und Verstärkungsfunktion der Meinungsführer: Zunächst sei daran erinnert, dass Modelle in der Wissenschaft der Systematisierung und Orientierung dienen. Sie stellen in vereinfachter Form Sachverhalte oder Prozessabläufe dar. Zugleich dienen diese Vorgaben als Grundlage für Beobachtungen in der Wirklichkeit. Das Modell des Zwei-Stufen-Flusses der Kommunikation verdichtet Vorgänge, von denen die Pioniere dieser Forschungstradition wussten, dass sie durch ein Geben und Nehmen gekennzeichnet sind und häufig sehr alltägliche Aspekte behandeln. Eine sehr lineare bzw. chronologische Interpretation dieses Modells schränkt dessen Bedeutung ein. Dies gilt auch für die Beantwortung der Frage, wie sich unterschiedliche Formen der Beeinflussung realisieren. In diesem Zusammenhang wird insbesondere der Aspekt erörtert, wem die Initiative zur Entstehung dyadischer Einflussketten zugeschrieben werden muss. Gestützt auf die Ergebnisse zur Relaisfunktion der Meinungsführer präsentierte Troldahl ein ‚Two-Cycle-Flow‘-Modell, das zwei Zyklen der Beeinflussung und einen einstufigen Informationsfluss unterscheidet: Die Aussagen der Massenkommunikation erreichen in der Regel ohne Zwischenschaltung einer weiteren Vermittlungsinstanz die Rezipienten. Meinungsführung wird dann relevant, wenn diese Aussagen nach ergänzenden Erläuterungen verlangen bzw. beim jeweiligen Rezipienten ein Gefühl der Unsicherheit hinterlassen. Troldahl stützt sich in seinen Überlegungen insbesondere auf die Balance-Theorien. Diese Theorien unterstellen Personen ein Bedürfnis nach einem inneren Gleichgewicht. Wenn ein solches Un-
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gleichgewicht empfunden wird, dient die Aufnahme weiterer Informationen der Wiederherstellung bzw. Reduzierung dieser Inkonsistenz44. Troldahl schrieb hierzu: „However, the two-step-flow ist expected to operate only when a person is exposed to mass media content that is inconsistent with his present predispositions. In such cases, that person seeks his opinion leader. Opinion leaders are expected to seek out professional intermediaries for advice more often than followers will.“ (Troldahl 1966, S. 613) Das Zitat verdeutlicht zugleich die Integration des ‚multi-step-flow of communication‘ in das vorgeschlagene Modell. Nicht nur die ‚follower‘, sondern auch die Meinungsführer selbst wenden sich in bestimmten Situationen an Experten, die ihr Interesse nach präziseren Informationen befriedigen können. Da sich die ‚follower‘ in der Regel aber nicht direkt an Experten wenden, kommt der Informiertheit des Meinungsführers eine besondere Bedeutung zu: Seine Position im Netzwerk sozialer Beziehungen baut auf seinem Informationsvorsprung auf und diejenigen, die ihn konsultieren, messen seinen Status an dieser Erwartung. Die ‚follower‘ sind somit im Hinblick auf ihr Informationsverhalten eher inaktiv und setzen auf die Kompetenzen Dritter. Das Modell beschreibt eine Art Arbeitsteilung, die auf verschiedenen Ebenen anzusiedeln ist. Für den Meinungsführer ist das Urteil des Experten wichtig, für die ‚Gefolgschaft‘ das Urteil des Meinungsführers. Dieses anspruchsvolle Modell wurde im Rahmen einer kleineren empirischen Untersuchung analysiert. Die strenge Orientierung an den Modellannahmen führte dazu, dass die von Troldahl ausgewählte Ausgangsstichprobe im Zuge einer Beachtung der erforderlichen Bedingungen immer kleiner wurde. Die von ihm als Feldexperiment bezeichnete Untersuchung fand in der Nähe von Boston statt. Troldahl konnte auf zwei zusätzlichen Seiten einer landwirtschaftlichen Fachzeitschrift sechs Artikel mit Themen zur Pflanzenpflege platzieren. Darüber hinaus konnte er manipulieren, welche Abonnenten die Zeitung mit den zusätzlichen Artikeln und welche Abonnenten die normale Ausgabe der Zeitung erhielten. Damit standen ihm eine Experimental- und eine Kontrollgruppe zur Verfügung. Meinungsführer wurden mit Hilfe eines Selbsteinschätzungsverfahrens bestimmt und das Interesse am Thema vorab ermittelt. Die Konzentration auf die Abonnenten dieser Fachzeitschrift diente als hinreichende Gewissheit dafür, dass alle Untersuchungsteilnehmer von den Aussagen dieses Mediums erreicht wurden (einstufiger Informationsfluss). Eine geringe Ausschöpfungsquote im Rahmen der Nachhermessung (lediglich 55% beteiligten sich an der Vorher- und Nachhermessung) reduzierte den Stichprobenumfang deutlich. Hinzu kam, dass eine Überprüfung des Modells nur in solchen Fällen gewährleistet sein konnte, wo eine Dyade zwischen dem Meinungsführer und einem Mitglied seiner Gefolgschaft vorlag. Beide mussten die entsprechenden Artikel gelesen haben, damit es überhaupt zu einer potenziellen Nachfrage bzw. zur Beseitigung einer möglicherweise entstandenen Inkonsistenz kommen konnte. Letztlich stützte 44
Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 3.
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sich die Analyse von Troldahl auf 44 ‚opinion leader‘ und 44 ‚follower‘. Generell konnte festgestellt werden, dass überall dort, wo Gespräche über das jeweilige Thema stattgefunden hatten oder Ratschläge eingeholt wurden, häufiger eine positive Meinungsänderung auftrat. Aufgrund der geringen Fallzahl aber waren Aussagen bezüglich einer statistischen Signifikanz nicht möglich, so dass Troldahl zu der Schlussfolgerung gelangte: „This suggests that there was a trace of personal influence, but not enough to be detected reliably by the size and design of this study.“ (Troldahl 1966, S. 621) Insgesamt ist daher in erster Linie der theoretische Beitrag zu beachten, der mit einer Ausweitung des Grundmodells einher ging (vgl. die Zusammenfassung in Abbildung 5.5). In Zusammenarbeit mit van Dam führte Troldahl darüber hinaus eine kleinere Untersuchung zu Kommunikationsprozessen über „major topics in the news“ (Troldahl/van Dam 1965, S. 626) durch. Auf die methodischen Besonderheiten dieser Studie soll hier nicht näher eingegangen werden. Bezüglich der Bestimmung von Meinungsführern leistete die Analyse keinen innovativen Beitrag. Sie stützte sich auf vorliegende Operationalisierungen, bestärkte aber insbesondere die von Katz und Lazarsfeld beschriebene Vorstellung eines Gebens und Nehmens (siehe Abschnitt 5.1 in diesem Kapitel). Die Annahme, dass Meinungsführer eine Relaisfunktion zu den weniger aktiven Teilen der Bevölkerung übernehmen, wird insofern modifiziert und erweitert, als neben die ‚opinion givers‘ und ‚opinion askers‘ die Gruppe der ‚inactives‘ gestellt wird. Hinsichtlich Letzterer ergab sich ein niedriger sozioökonomischer Status, der einherging mit einem unterdurchschnittlichen Informationsniveau und einer geringen sozialen Integration. Sie repräsentierten 63% der Stichprobe, 20% wurden als ‚opinion givers‘ und 17% als ‚opinion askers‘ bezeichnet. Troldahl und van Dam schlussfolgerten, dass der weniger aktive Teil der Bevölkerung sich weitgehend dem Kommunikationsprozess entzieht, der mit dem ZweiStufen-Fluss-Konzept beschrieben wird. Realistischer sei die Unterscheidung von zwei Gruppen, die sich hinsichtlich bestimmter Themen durch ein gleichgerichtetes Interesse auszeichnen und ihre diesbezüglichen Meinungen austauschen. Hier übernehmen die Massenmedien die Initialfunktion für weitere Gespräche, während für den sozial eher isolierten Teil der Bevölkerung die Massenmedien die einzige Informationsquelle darstellen. Sie werden auch von den Meinungsführern nicht erreicht. Für den Meinungsaustausch zwischen den aktiveren Teilen der Bevölkerung wurde der Begriff ‚opinion sharing‘ vorgeschlagen. In ihrem Fazit stellten die Autoren fest: „At the level of influence studied, opinion giving on public-affairs topics seemed to be reciprocal to a great extent. It seemed to be opinion sharing rather than opinion giving.“ (Troldahl/van Dam 1965, S. 633) Wenngleich zwischen den ‚opinion givers‘, den ‚opinion askers‘ und den ‚inactives‘ eine Hierarchie bestehen bleibt, korrespondieren diese Befunde mit der Vorstellung einer horizontalen Meinungsführerschaft. Zugleich lassen sich diese Ergebnisse mit Beobachtungen der politischen Kommunikationsforschung verknüpfen, die unterschiedliche Formen des
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politischen Involvements beschrieben hat. Beispielhaft sei auf die Analysen von Milbrath und Goel verwiesen, die Gladiatoren mit hoher politischer Partizipation, Zuschauer, die unterschiedliche Formen der politischen Unterstützung einbringen und Apathische unterscheiden. Für letztere stellten die Autoren fest: „The apathetics don’t even watch the show.“ (Milbrath/Goel 1977, S. 11)45 Die Erweiterungen und Modifikationen können somit wie folgt zusammengefasst werden (vgl. Abbildung 5.5):
Das Zwei-Stufen-Fluss-Konzept wird kaum noch chronologisch interpretiert. Die Ausdifferenzierung des Modells vollzieht sich durch eine Erweiterung der zu berücksichtigenden Stufen von Information und Beeinflussung sowie durch eine Spezifizierung der Ratgeber- und Ratsucherseite. Diese Ausdifferenzierungen sind empirisch nicht gut untermauert. Meinungsführerschaft bleibt an die Erwartung eines überdurchschnittlichen Informationsverhaltens und Kenntnisstands gebunden.
Abbildung 5.5
Massenkommunikation und interpersonale Kommunikation: Modellannahmen im Überblick
?
Meinungsführer der Meinungsführer
Stimulus
Meinungsführer
Gefolgschaft One-Step-Flow Two-Step-Flow Multi-Step-Flow
Inaktive
Quelle: Eigene Erstellung 45
Auf das unterschiedliche Interesse an öffentlichen Angelegenheiten wird in Kapitel 9 noch detaillierter eingegangen.
148
Massenkommunikation und interpersonale Kommunikation
Ungeachtet dieser Ausdifferenzierung der Meinungsführerforschung spiegelt sich in der Literatur nach wie vor eine Präferenz für Einfachversionen der Zwei-StufenFluss-Hypothese wider. Dies gilt insbesondere für den Bereich des Marketing und der Werbung, aber auch für viele Untersuchungen auf dem Gebiet der sozialwissenschaftlichen Diffusionsforschung. Hier manifestiert sich sowohl der Einfluss eines ökonomischen Forschungsverständnisses als auch der Pragmatismus einer anwendungsbezogenen Forschung, die nur gelegentlich auf methodische Verfeinerungen zurückgreift. Die nachfolgenden Ausführungen stellen diese methodischen Aspekte in den Vordergrund. 5.3 Mehrdimensionale Konzepte und Netzwerkanalysen Für die Bestimmung von Meinungsführern sind im Wesentlichen drei Verfahren von Bedeutung, die auch miteinander kombiniert werden können: 1) Selbsteinschätzungsverfahren 2) Inklusion von Fremdeinschätzungen durch Befragung von Informanten-Samples und 3) soziometrische Verfahren und Netzwerkanalysen. Das gelegentlich genannte Verfahren der Beobachtung wird nur sehr selten praktiziert. Die Liste relativ einfacher Verfahren zur Ermittlung von Meinungsführern ist lang und die immer wiederkehrende Kritik bekannt: Ein Kommunikationsfluss wird unerstellt, aber nicht wirklich gemessen. Auch die Anzahl der Kriterien, die erfüllt sein müssen, um als Meinungsführer zu gelten, variiert von Untersuchung zu Untersuchung. Während in einigen Fällen zustimmende Aussagen zu einer oder zwei Fragen ausreichend sind, sind verschiedene Skalierungsverfahren entwickelt worden, zum Beispiel die ‚Self-Designating-Opinion-Leadership-Scale‘ von Rogers und Cartano, die sich aus sechs Einzelfragen zusammensetzt (Rogers/Cartano 1962, S. 439f.). In dieser Tradition der mehrdimensional konzipierten Selbsteinschätzungsverfahren steht auch ein Messinstrument, das vom Institut für Demoskopie Allensbach entwickelt wurde. Dieses Messinstrument wird näher erläutert, da es den Kerngedanken von Meinungsführung gut vermittelt. Die Messskala repräsentiert eine Neukombination von Aussagen, die in gleicher oder leicht modifizierter Form bereits in den 1950er Jahren in psychologischen und sozialpsychologischen Messinstrumenten Verwendung fanden (vgl. hierzu ausführlicher Jäckel 1990, S. 67ff.). Im Einzelnen werden folgende Merkmale miteinander kombiniert:
Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein Soziabilität, Gesprächsbereitschaft, Offenheit Soziale Anerkennung Die Bereitschaft, andere von der eigenen Meinung zu überzeugen Entscheidungsfreudigkeit Das subjektiv empfundene Gefühl, für andere als Vorbild zu dienen
Massenkommunikation und interpersonale Kommunikation
149
Führungsbereitschaft Aktivität
Umfangreiche methodische Überprüfungen resultierten in einer Skala, die das Merkmal ‚Persönlichkeitsstärke‘ messen sollte. Die mit Hilfe dieser Skala gewonnenen Informationen informieren sowohl über die Persönlichkeit an sich (Eigenschaften) als auch über ihre Wirkung nach außen. Warum der Begriff ‚Persönlichkeitsstärke‘ dem Begriff ‚Meinungsführer‘ vorgezogen wurde, begründete Elisabeth Noelle-Neumann (1916-2010) wie folgt: „Daß es Menschen mit mehr oder weniger Einfluß gibt, nicht wegen ihres Status, sondern einfach aufgrund ihrer Wesensart, das wissen wir aus der Alltagsbeobachtung. Aber was das eigentlich ist und wie man das bezeichnen soll, damit tun wir uns schwer. Von ‚Meinungsführern‘ möchten wir einstweilen nicht sprechen, weil sich dieser Begriff allzu rasch wieder verbindet mit der Vorstellung vom hohen sozioökonomischen Status. So sind wir bei dem Begriff ‚Persönlichkeitsstärke‘ geblieben.“ (Noelle-Neumann 1983, S. 8) Die Querverbindungen zur Meinungsführerforschung sind gleichwohl offensichtlich. Entsprechend wird die Skala auch interpretiert. Persönlichkeitsstärke gilt als eine generelle Anlage, die Meinungsführung wahrscheinlich macht. Meinungsführer kombinieren diese generelle Anlage mit einer Spezialisierung auf bestimmte Gebiete. Es geht nicht nur um persönlichen Einfluss, sondern auch um Führungskraft und Ausstrahlung. Man könnte auch sagen: Der Kerngedanke des MeinungsführerKonzepts wird durch damit korrelierende Merkmale ergänzt. Der Grundgedanke lässt sich anhand des folgenden Ablaufs veranschaulichen: aktive Menschen o großer Bekanntenkreis o Selbstbewusstsein o Ausstrahlung o Vorbild (siehe zum ursprünglichen Aufbau der Skala die Ausführungen bei Noelle-Neumann 1983). Weimann hat eine leicht modifizierte Version dieser Skala in einer israelischen Untersuchung getestet. Er stellte fest: „Die Menschen, die eine zentrale Position im Kommunikationsnetz einnehmen, sind eindeutig auch diejenigen, die ein hohes Maß an Persönlichkeitsstärke aufweisen [...].“ (Weimann 1992, S. 95) Nach seiner Auffassung misst die Skala nicht nur Persönlichkeitseigenschaften, sondern auch die gesellschaftliche Position der jeweiligen Person. Auch er betont die Verbindung zur Meinungsführerforschung, indem er auf einen Kriterienkatalog von Elihu Katz Bezug nimmt und der Skala ‚Persönlichkeitsstärke‘ diese Multidimensionalität bescheinigt: „Laut Katz müssen einflußreiche Personen drei Bedingungen erfüllen: (a) ‚wer man ist‘, oder die Personifizierung bestimmter Werte; (b) ‚was man weiß‘, oder die Kompetenz in bestimmten Bereichen; und (c) ‚wen man kennt‘, oder strategische soziale Plazierung. Die PS-Skala steht in Verbindung mit allen drei Bedingungen: die nach dieser Skala als einflußreich eingestuften Personen zeigten eine Kombination von persönlichen Merkmalen, Kompetenz und Positionierung im sozialen Netz.“ (Weimann 1992, S. 102) Schenk und Rössler haben diese Skala ebenfalls eingesetzt und nennen ihren Beitrag „The Rediscovery of Opinion Leaders. An App-
150
Massenkommunikation und interpersonale Kommunikation
lication of the Personality Strength Scale“ (Schenk/Rössler 1997). Zugleich verbinden sie die Skala mit den Möglichkeiten der modernen Netzwerkanalyse. Die Studie bestätigt das überdurchschnittliche Informationsverhalten der Meinungsführer sowie ihr damit einhergehendes Wissen über eine Vielzahl öffentlicher Angelegenheiten. Persönlichkeitsstärke steht insbesondere im positiven Zusammenhang mit der Größe des eigenen Netzwerks und der Häufigkeit interpersonaler Kommunikation über bestimmte Themen (vgl. Schenk/Rössler 1997, S. 17). Persönlichkeitsstarke Menschen sind resistenter gegenüber Umwelteinflüssen, wissen zugleich aber die öffentliche Meinung gut einzuschätzen (vgl. ebenda, S. 20ff.). Die Netzwerkanalyse hat jedoch nicht nur dazu beigetragen, bereits bekannte Befunde zu bestätigen, sondern auch den Blick auf neue und weniger vertraute Phänomene gelenkt. In diesem Zusammenhang ist insbesondere auf eine weitere Analyse von Weimann zu verweisen, die eine sehr detaillierte Beschreibung der interpersonalen Kommunikation in einem israelischen Kibbuz vermittelt. Die Besonderheit dieser Studie besteht nicht nur darin, soziale Beziehungen eines bestimmten Typs zu identifizieren, sondern den Aspekt der interpersonalen Kommunikation über die Gruppengrenzen hinaus zu erweitern. Weimann adaptiert zu diesem Zweck die von Granovetter eingeführte Unterscheidung von ‚strong ties‘ und ‚weak ties‘ (vgl. Granovetter 1973, S. 1360). Diese Differenzierung illustriert, dass die Beziehungen zu Freunden, Bekannten und Kollegen auch nach der Stärke bzw. Intensität und Regelmäßigkeit beurteilt werden können. Starke und intensive Verbindungen gehen in der Regel einher mit der Entwicklung eines homogenen Kommunikationsmilieus, in dem ein Großteil der Kommunikation auf Gemeinsamkeiten beruht. Die Wahrscheinlichkeit, dass aus dieser Gruppe heraus neue Impulse und Ideen entstehen, ist gering. Schwache Beziehungen hingegen führen dazu, dass man mit Erfahrungen, Einstellungen und Meinungen konfrontiert wird, die innerhalb eines homogenen Kommunikationsmilieus seltener oder nie thematisiert werden. Zugleich eröffnet sich damit eine Möglichkeit, Meinungsführerschaft über Gruppengrenzen hinweg analysieren zu können. Schwache Beziehungen werden insbesondere von Personen unterhalten, die in der Gruppe, der sie zugerechnet werden, eher eine randständige Position einnehmen. Sie erweitern den Wirkungsradius von Kommunikation. Weimann konnte nachweisen, dass die sogenannten Marginalen die Vorteile schwacher Beziehungen intensiver nutzen. Ihre Beziehungen innerhalb der Gruppe sind darüber hinaus eher durch Intransivität gekennzeichnet. Intransivität bedeutet: Wenn Person A mit Person B in Beziehung steht, und Person B mit Person C, dann muss Person A nicht mit Person C in Beziehung stehen. Weimann betrachtete den Kommunikationsfluss in verschiedenen sozialen Netzen und gab dazu mehrere Themen vor: Es ging um Gerüchte, um allgemeine Nachrichten und um Produktinformationen (vgl. hierzu ausführlich Weimann 1982, S. 766ff.).
Massenkommunikation und interpersonale Kommunikation
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Alle Mitglieder des Kibbuz wurden befragt und darauf aufbauend ein umfassendes Soziogramm erstellt, anhand dessen man sogenannte ‚Centrals‘ (Personen mit einer bedeutenden Position in einem sozialen Netzwerk) und ‚Marginals‘ (randständige Personen) ermitteln konnte. Aus den sehr detaillierten Darstellungen wird hier eine Ergebnisdarstellung herausgegriffen und näher kommentiert (vgl. Tabelle 5.1). Die Tabelle ist wie folgt aufgebaut: Im oberen Teil werden ausschließlich Intragruppenbeziehungen abgebildet, im unteren Teil die Intergruppenbeziehungen. Der linke Teil der Tabelle fasst Beziehungen zusammen, die von den ‚Centrals‘ ausgehen, der rechte Teil der Tabelle Kommunikation, die durch ‚Marginals‘ initiiert wird. Es handelt sich jeweils um Prozentzahlen, die wie folgt zu lesen sind: Der Wert 11,72 in der ersten Spalte bedeutet, dass 11,72% der Gespräche über ein Gerücht zwischen Personen stattgefunden haben, die als Meinungsführer bezeichnet werden können. Die unterste Zahl in der fünften Spalte bedeutet, dass 46,23% aller Gespräche zwischen randständigen Personen (‚marginals‘) über eine Verbraucherinformation geführt wurden. Wichtig ist hierbei, dass die Gesprächsteilnehmer unterschiedlichen Gruppen angehörten. Tabelle 5.1
Informationsfluss in einem sozialen Netzwerk von “Centrals“
Kommunikation ... Gerücht innerhalb der Gruppen
Nachrichten Produktinformation Gerücht
zwischen den Gruppen
Nachrichten Produktinformation
Item 1
C zu C C zu O C zu M 11.72 24.63 15.76
von “Marginals“ Insg. von C 52.11
M zu M M zu O M zu C 2.17 5.72 4.41
Insg. von M 12.30
2
9.83
22.76
16.72
49.31
3.59
6.76
3.82
14.17
1
4.81
39.73
24.57
69.11
2.28
5.23
3.18
10.69
2
5.01
26.24
26.11
57.36
2.86
3.61
1.72
8.19
1
8.12
41.31
28.88
78.31
2.16
3.52
2.13
7.81
2
12.78
46.82
17.87
77.47
2.67
2.54
3.01
8.22
1
2.32
5.67
3.74
11.73
36.16
8.22
3.93
48.31
2
2.19
6.85
4.12
13.16
35.53
10.63
5.76
51.92
1
4.31
5.62
4.89
14.82
49.03
9.83
3.50
62.36
2
3.62
6.84
5.65
16.11
52.37
7.23
7.11
66.71
1
5.62
6.39
3.61
15.62
48.31
12.86
4.28
65.45
2
4.13
5.88
2.37
12.38
46.23
18.80
6.79
71.82
Anmerkung: C=Centrals, O=Others, M=Marginals.
Quelle: Weimann 1982, S. 768
152
Massenkommunikation und interpersonale Kommunikation
Hier soll insbesondere auf folgende Ergebnisse hingewiesen werden:
‚Centrals‘ üben Einfluss auf den Informationsfluss innerhalb der Gruppe aus. ‚Marginals‘ sind hingegen insbesondere für den Informationsfluss zwischen Gruppen zuständig. Würde es diese schwachen Relationen nicht geben, käme ein Austausch von Meinungen über Gruppengrenzen hinweg kaum zustande. Zugleich würden sich die potenziellen Einflussbereiche der Meinungsführer nur auf die engere Gefolgschaft reduzieren. Innerhalb der Gruppen findet zwischen den ‚marginals‘ kaum ein Informationsaustausch statt. Aber: „[T]he ‚marginals‘ serve as the importers of new information, [...].“ (Weimann 1982, S. 769) Die Kommunikation innerhalb der Gruppen wird nicht durch einen Informationsaustausch von Meinungsführern zu Meinungsführern dominiert. Die Ergebnisse zeigen, dass innerhalb der Gruppen die Informationen von den Meinungsführern zu den übrigen Gruppenmitgliedern fließen, wobei der Austausch mit der engeren Gefolgschaft (‚others‘) häufiger stattfindet als mit den ‚marginals‘. Über Gruppengrenzen hinweg findet zwischen ‚marginals‘ und ‚centrals‘ ebenso ein geringer Informationsaustausch statt, der in einigen Fällen dennoch über dem entsprechenden Informationsaustausch innerhalb der Gruppen liegt (vgl. die vorletzte Spalte von Tabelle 5.1).
Abbildung 5.6
Informationsfluss in einem sozialen Netzwerk Gruppe 1
MASSENMEDIEN
Gruppe 2
Meinungsführer
Meinungsführer
übrige Mitglieder
übrige Mitglieder
Marginale
MASSENMEDIEN
Marginale
Intragruppenbe ziehungen
Brückenfunktion
Quelle: Eigene Erstellung (in Anlehnung an Granovetter 1973 und Weimann 1982)
Massenkommunikation und interpersonale Kommunikation
153
Nach Weimann sollte daher das ursprüngliche Konzept des Zwei-Stufen-Flusses der Kommunikation auch andere Informationsressourcen berücksichtigen: „[...] thus adding a new horizontal step: ‚marginal-to-marginal‘ intergroup bridges.“ (Weimann 1982, S. 769; vgl. Abbildung 5.6) Diese Ausdifferenzierung des Modells basiert auf einem umfangreichen und infolgedessen nicht leicht handhabbaren Instrument. Weimann verarbeitete 2.511 Nennungen von 270 Kibbuz-Mitgliedern, die 16 verschiedenen Gruppen zugeordnet wurden. Netzwerkanalysen dieser Art lassen sich in der Regel nur auf überschaubare Gruppen anwenden. Die Abbildung sozialer Beziehungen stößt an Grenzen, wenn räumliche oder thematische Eingrenzungen der Fragestellung auf einen bestimmten Personenkreis nicht möglich sind. Im Rahmen von Repräsentativbefragungen werden daher sogenannte ‚ego-zentrierte‘ Netzwerkverfahren eingesetzt. Der Befragte dient in diesem Falle als Informant über sein persönliches soziales Netzwerk. Er wird zum Beispiel gebeten, die Stärke der Beziehung zu anderen Personen zu benennen sowie weitere Merkmale (Alter, Geschlecht, Bildungsgrad, Beruf etc.) anzugeben. Mit Hilfe dieser ‚Netzwerk-Generatoren‘ sollen ‚individuelle Umwelten‘ beschrieben werden. Insbesondere Schenk hat diese Methode aufgegriffen und in mehreren Untersuchungen eingesetzt. Er ermittelte Informationen zur Größe von Netzwerken, zur Intensität der Beziehungen sowie zur Homogenität bzw. Heterogenität der jeweiligen sozialen Kontakte. Eine im Jahr 1990 durchgeführte Analyse behandelte bspw. die Übersiedlerproblematik im Zuge der deutsch-deutschen Wiedervereinigung. Es stand die Frage im Vordergrund, inwiefern die Meinungen innerhalb der sozialen Netze übereinstimmten oder divergierten. Schenk stellte fest, dass überwiegend homogene Netze vorliegen. Dabei scheint der allgemeinen Bildung eine zentrale Bedeutung für das Zustandekommen von Netzen zuzukommen: „Personen tendieren dazu, am ehesten mit Personen zu kommunizieren, die ihnen hinsichtlich sozialer oder politischer Merkmale ähnlich sind.“ (Schenk 1994, S. 151) Die Erstinformationen über das Thema ‚Wiedervereinigung‘ erhielt man fast ausschließlich über die Medien und diskutierte sie anschließend innerhalb verschiedener Gesprächskreise. Gemessen an den Aussagen der Befragten lag in sechs von zehn Fällen eine vollkommene Übereinstimmung der Meinungen vor. Eine teilweise Nachbefragung der genannten Personen führte jedoch lediglich zu einer mittleren Übereinstimmung mit den von ‚Ego‘ genannten Informationen. Auch hier werden noch einmal die Grenzen des methodischen Verfahrens sichtbar46. Für ein hierarchisches Verhältnis von Meinungsführern und ihrer Gefolgschaft findet Schenk in dieser Untersuchung nur wenige Belege. Nach seiner Auffassung lässt sich die Kommunikation über die untersuchten Ereignisse am besten wie folgt beschreiben: „Das wechselseitige Austauschen von Meinungen zu aktuellen politischen Themen, wie denen der deutsch-deutschen Wiedervereinigung, kennzeichnet am besten die inter46
Siehe auch die Ausführungen zur Decatur Study in Abschnitt 5.1 dieses Kapitels.
154
Massenkommunikation und interpersonale Kommunikation
personale Kommunikation in den Netzwerken des Alltags. Einseitige, asymmetrische Meinungsführung ist deutlich seltener.“ (Schenk 1994, S. 154) Die relativ hohe Homogenität der Netze weist nach Schenk darüber hinaus auf eine noch intakte Schutzschildfunktion der primären Milieus hin, die einen deutlichen Medieneinfluss begrenzen können (vgl. Schenk 1994, S. 156). In diesem Zusammenhang ist ein weiterer Vorschlag aus dem Feld der Netzwerkanalyse von Bedeutung. Nach Burt sollte man Meinungsführer treffender als Meinungsvermittler (‚opinion broker‘) bezeichnen. Sie transportieren Informationen über die sozialen Grenzen von Gruppen hinweg. Burt stützt sich in seinen theoretischen Überlegungen ebenfalls auf die Brückenfunktion, die Granovetter identifiziert hatte und Weimann zu entsprechenden Analysen inspirierte (siehe oben, ergänzend auch die Analyse von Roch 2005). Ihre Position kann eine randständige sein und wirkt stärker zwischen als innerhalb von Gruppen. Dies führt Burt auf Äquivalenzrelationen innerhalb der Gruppen zurück. Es existieren somit zwei Mechanismen, die einen Informationsfluss gewährleisten: Der Kontakt zwischen Meinungsvermittlern verschafft Zugang zu neuen Informationen, die dann innerhalb von Gruppen diffundieren (vgl. Burt 1999, insb. S. 46ff.). Auch hier könnte eine Schutzschildfunktion relevant werden. Rössler und Scharfenberg konnten am Beispiel der Kommunikation über zeitgenössische Musik zeigen, dass solche Brücken auch innerhalb von Schulklassen, z. B. innerhalb der Gruppe der Mädchen, beobachtet werden können (vgl. 2004, S. 508). In seinem Buch ‚Tipping Point‘ verwendet der Journalist und Autor Malcolm Gladwell mehrere der hier besprochenen Ideen und fasst diese zusammen. Das Gesetz der Wenigen bspw. umfasst Vermittler, Kenner und Verkäufer. Neben dem Verankerungsfaktor und der Macht der Umstände zählt auch er diese wenigen Einflussreichen zu den wesentlichen Impulsgebern sozialer Epidemien (vgl. Gladwell 2000). Duncan J. Watts und Peter Sheridan Dodds weisen darauf hin, dass der Begriff des Influentials meist zu ungenau benutzt wird und man diesen vorsichtiger anwenden sollte. So konnten sie mittels Simulationen zeigen, dass Influentials nur unter bestimmten und deutlich begrenzten Bedingungen wirklich Einflusskaskaden auslösen können. Unter diesen, eher als Ausnahmen auftretenden Optimalbedingungen, sind sie jedoch effektiver im Auslösen solcher Kaskaden als durchschnittliche Individuen. In den meisten Fällen sind allerdings leicht beeinflussbare Individuen bzw. die Nachahmungswilligsten unter den Nachahmungswilligen verantwortlich für das Entstehen solcher Einflusskaskaden. Diese bilden eine Art kritische Masse, die andere Individuen erst veranlassen, die Innovation ebenfalls zu übernehmen. Darüber hinaus ist die Struktur des Netzwerkes entscheidender für den erfolgreichen Verlauf der Diffusion als persönlicher Einfluss. Anstelle des klassischen Zwei-Stufen-FlussModells schlagen sie daher ein ‚network model of influence‘ vor, in dem der Einfluss über mehrere Schritte in alle Richtungen fließen kann. Die besondere Betonung der interpersonalen Kommunikation scheint also nicht gerechtfertigt zu sein, jeden-
Massenkommunikation und interpersonale Kommunikation
155
falls nicht, wenn sie generalisierend erfolgt, und muss kritisch hinterfragt werden. Es geht nicht um die Frage, ob es Influentials gibt, sondern unter welchen Bedingungen sie bedeutenden Einfluss auf wen ausüben können. Dass Watts und Dodds die nötigen Bedingungen als eher theoretische Ausnahmeerscheinungen ansehen und sogar soweit gehen zu sagen, dass vieles einfach auf Zufälle zurückführbar sei, dass also unter den seltenen optimalen Bedingungen im Grunde jeder, der gerade zur richtigen Zeit am richtigen Ort sei, eine große Kaskade auslösen könne, kann natürlich ebenso kritisch hinterfragt werden. „Nevertheless, anytime some notable social change is recognized [...] it is tempting to trace the phenomenon to the individuals who ‚started it‘ [...] Just because the outcome is striking, however, does not on its own imply that there is anything correspondingly special about the characteristics of the individuals involved [...]“ (Watts/Dodds 2007, S. 455). Die Anwendbarkeit und weitere Gültigkeit der Idee eines two-step-flow wird auch von W. Lance Bennett und Jarol B. Manheim in Frage gestellt. Sie interessieren sich dafür, ob die Umstände von damals mit den heutigen überhaupt vergleichbar sind. Die Nutzungsgewohnheiten der Rezipienten sind nicht mehr die gleichen wie damals, als das Paradigma formuliert wurde. So konnten viele der Nachfolgestudien auch keine konsistenten Ergebnisse liefern. Die Gesellschaft, die technische und individuelle Kommunikation haben sich seither stark gewandelt. So wurden die Daten gesammelt, als das Fernsehen noch relativ wenig verbreitet war, welches heutzutage als eine Hauptquelle für Informationen genutzt wird. Die Partizipation und Identifikation mit einzelnen Gruppen hat vergleichsweise stark abgenommen und durch die zunehmende Fragmentierung und Differenzierung der Medien wird nicht nur eine aktive Informationsaufnahme vereinfacht, sondern auch ein gezieltes Eingehen auf die unterschiedlichen Rezipienten. Das Ziel heißt heute die Botschaften direkt und ‚maßgeschneidert‘ zu den Individuen zu bringen, was durch Berücksichtigung der Vorlieben, Erwartungen und Interessen der einzelnen Rezipienten erreicht werden soll. Als Beispiel kann hier Amazon.com dienen. Hier wird auch deutlich, dass das für die gezielte Ansprache nötige Wissen in einer Welt der traditionellen Medien (‚Offline-Welt‘) im Vergleich schwerer, wenn nicht unmöglich zu erheben war. Was früher die Aufgabe der Interaktion in peer groups war, kann nun von Targeting oder Publikumsselektion übernommen werden. Bennett und Manheim zeichnen also eine Entwicklung von einem Zwei-Stufen- hin zu einem Ein-StufenFluss der Kommunikation. Der Trend gehe zu einer „lifestyle network society“ (2006, S. 216), in der Meinungsführer deutlich weniger wichtig sind. Neue Hardund Softwarelösungen ermöglichen und fördern eine Interaktion zwischen Technologie und Individuen und nicht mehr zwischen Gruppenmitgliedern untereinander. Zwar können auch die traditionellen Medien in beschränktem Umfang erfolgreich one-step-Kommunikation vollziehen, allerdings sind die Möglichkeiten im Rahmen neuer Medien, allen voran das Internet, augenscheinlich vielfältiger. Viele Beispiele stammen zwar aus dem kommerziellen Bereich, doch zeigt sich dieser gezielte one-
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Massenkommunikation und interpersonale Kommunikation
step-flow auch im politischen Kontext. Hier kann das Involvement durch gezielte Ansprache der Bedürfnisse und Erwartungen erhöht werden (vgl. Bennett/Manheim 2006). Diese zunehmende Bedeutung des Internet und der damit einhergehenden Veränderungen zeigen sich auch im Informationsverhalten. Zwar behalten die klassischen Medien ihre zentrale Stellung für den Mediennutzer. Doch das Internet wird bei der Suche nach Zusatzinformationen immer bedeutender und entwickelt sich hier zu einem Leitmedium (vgl. Kessler 2009, S. 66). Trotz zahlreicher Erweiterungen und Modifikationen werden somit auch im Bereich der Meinungsführerforschung immer wieder Hinweise auf die Pionierphase der Forschung erkennbar. Die Hauptaufgabe der wissenschaftlichen Beobachtung besteht nach wie vor darin, eine angemessene Rekonstruktion des Kommunikationsalltags zu vermitteln. Diese Zielsetzung wird die Meinungsführerforschung weiterhin bestimmen: „The opinion leaders concept, changed, modified, and remodified, is still a living, developing, and promising idea [...] The concept of the opinion leaders, born a half century ago, had its golden days, its challenges, and decline. It survived, mainly through growing sophistication and constant modifications.“ (Weimann 1994, S. 286; siehe auch Jäckel 2001) Angesichts einer Zunahme der Medienpräsenz im Alltag bleibt die unter anderem von Troldahl und van Dam aufgeworfene Frage virulent, wie hoch der Anteil der Bevölkerung ist, der in diese Kommunikationsnetze eingebunden ist. Für die zunehmende Durchdringung des Alltags durch Medienangebote ist mittlerweile der Begriff ‚Mediatisierung‘ geprägt worden47. Infolge dieser Dominanz der Medien ist zu fragen, ob Personen, die diese Gruppenintegration nicht aufweisen, in starkem Maße ihre Meinungen und Auffassungen von „virtuellen Meinungsführern“ (Merten 1994b, S. 317) übernehmen. Die Theorie der Meinungsführerschaft wäre dann nicht nur ein Beitrag zum Nachweis begrenzter Medieneffekte, sondern auch eine Theorie mit begrenzter Reichweite. Da diese virtuellen Meinungsführer aus den Medien selbst stammen, wird der Entdeckungszusammenhang der Two-Step-Flow-Hypothese – überspitzt formuliert – auf den Kopf gestellt. Wenn die einflussreichen Personen in den Medien das Wort führen, seien es Politiker oder Journalisten, dann ist von publizistischen Meinungsführern zu sprechen, die gegenüber allen nachfolgenden Einflussinstanzen zunächst einmal vorgeben, was es gegebenenfalls zu kommentieren, kritisieren, diskutieren gilt. Pfetsch konnte im Rahmen einer Analyse von Kommentaren in überregionalen Presserzeugnissen zeigen, dass es Meinungsführermedien gibt, die sich gegenseitig sehr intensiv wahrnehmen (vgl. Pfetsch u.a. 2004, S. 71). Damit bestätigt sich, dass der Journalismus sein eigenes und bestes Publikum ist (siehe hierzu auch die Arbeit von Reinemann 2003). Dort aber ist der Ursprung der Meinungsführerforschung nicht anzusiedeln. Gedacht wurde primär an den Informationsfluss in nichtprofessionalisierten Kontexten. 47
Siehe hierzu insbesondere die Ausführungen in Kapitel 8.
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Katz, Elihu; Lazarsfeld, Paul Felix (1962): Persönlicher Einfluß und Meinungsbildung. [Aus d. Amerik.]. Wien. Rogers, Everett M. (2000): Reflections on News Event Diffusion Research. In: Journalism & Mass Communication Quarterly 77, No. 3, S. 561-576. Schenk Michael (1984): Soziale Netzwerke und Kommunikation. Tübingen. (Heidelberger Sociologica, Band 20). Weimann, Gabriel (1994): The Influentials. People who Influence People. Albany.
6 Die Glaubwürdigkeit der Medien
6.1 Der Ursprung der Persuasionsforschung Vertrauen auf die Probe zu stellen ist eine bekannte soziale Erscheinung. In Verbindung mit Medienberichterstattung haben Experimente mit der Wahrheit eine lange Tradition. Versteckte Aprilscherze im Nachrichtenfluss des Alltags sind nur ein Beispiel für das Spiel mit symbolischen Ausdrucksformen, die überzeugend wirken wollen. Nach ihrer Entlarvung werden Rezipienten zumindest vorübergehend daran erinnert, dass ‚news and truth‘ auseinandergehalten werden müssen. Darüber hinaus ist aus Alltagserfahrungen bekannt, dass die Art und Weise, wie bestimmte Personen ihre Ansichten vertreten, nicht ohne Wirkung auf die Beurteilung ihrer Glaubwürdigkeit bleibt. Eine Person mag noch so kompetent sein – ohne diese Glaubwürdigkeit bleibt ihr Wirkungsradius begrenzt. Damit eine bestimmte Auffassung die Zustimmung und Anerkennung einer Vielzahl von Personen erfährt, ist die persönliche Artikulation dieser Meinungen nicht unbedingt erforderlich. Gelegentlich genügen auch Hinweise auf formale Kriterien (berufliche oder akademische Qualifikation) und/oder die konsequente Umsetzung einer Präsentationstechnik, die Sachverstand anzeigt. Nachfolgend werden zwei Artikel wiedergegeben: Der erste beschreibt ein Ereignis, der zweite korrigiert die Meldung (siehe zu weiteren Beispielen auch Sauter 1998).
‚Fliegende‘ Kuh versenkt japanisches Fischerboot „[...] Im Ochotskischen Meer bei der Insel Sachalin ist eine Kuh vom Himmel gefallen und hat beim Aufprall ein japanisches Fischerboot versenkt. Das geht aus einer vertraulichen Meldung der deutschen Botschaft in Moskau ans Auswärtige Amt hervor, von der die ‚Hamburger Morgenpost‘ (Montagausgabe) berichtete. Die Begebenheit wurde vom Moskauer Verkehrsreferenten der Vertretung als Beispiel für den desolaten Zustand der Flugsicherheit in Rußland geschildert. Dem Bericht zufolge hatten russische Soldaten eine Herde Kühe gestohlen und wollten sie mit einem Transportflugzeug wegschaffen – eine Art des Diebstahls, die in Sibirien offenbar nicht unüblich ist. Die Soldaten versäumten es jedoch, die Tiere im Flugzeug anzubinden. Als die Kühe begannen, im Bauch der Maschine unruhig zu werden, wurde auch das Flugzeug insta-
M. Jäckel, Medienwirkungen, DOI 10.1007/978-3-531-93191-3_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Die Glaubwürdigkeit der Medien bil, so daß die Besatzung keine andere Möglichkeit sah, als sie durch die große Heckklappe hinauszutreiben. Wie es der Zufall wollte, fiel eines der Tiere auf ein japanisches Fischerboot, das dem Aufprall nicht standhielt. Die Fischer wurden zwar unverletzt aus ihrer Not gerettet - anschließend aber festgenommen, weil man ihren Aussagen nicht glaubte. Daraufhin überprüften die russischen Behörden die Angaben und fanden heraus, daß sie stimmten.“ (N.N., 29.4.1997, S. 13)
Die Kuh, die eine Ente war „[...] Ein, zwei Tage lang hatten fliegende Kühe den Himmel im Fernen Osten bevölkert. Die Tiere seien von russischen Soldaten erst gestohlen, dann in einem Flugzeug verstaut und schließlich wieder abgeworfen worden, nachdem sie das Flugzeug mit ihrem ungebärdigen Benehmen ins Trudeln gebracht hätten. Eine von ihnen, so hieß es weiter, habe im Fallen gar ein japanisches Fischerboot getroffen und zum Kentern gebracht. Die Zeitungen ergötzten ihre Leser mit diesem ungewöhnlichen Himmelssturz, und auch das Fernsehen brachte die Nachricht unter die Zuschauer. Die Welt, an allerlei Überraschungen gewöhnt, staunt kurz auf. Aber wieder einmal war eine Meldung zu schön, um wahr zu sein. Schon bald war zu lesen und zu hören, daß die Mär von den fliegenden Kühen aus dem Reich der Erfindung kam und auf verschlungenen Wegen in die Medien geraten war. Die Grundidee stammte offenbar aus einem beliebten russischen Film, eine russische Zeitung hatte das Phänomen in der Rubrik ‚erfundene Begebenheiten‘ geschildert, und schließlich hatte sich das Ganze ins Internet verlaufen – und von da aus in die Deutsche Botschaft, die sie als ‚internes Kuriosum‘ verbreitete. Die fliegenden Kühe waren also in Wirklichkeit Zeitungsenten. Neue Nachforschungen haben eine andere Deutung wahrscheinlich gemacht: Es ist bekannt, daß Thomas von Aquin einmal von einem Freund mit dem Ausruf überrascht worden war: ‚Sieh‘ mal, da fliegen Ochsen.‘ Thomas, so wird berichtet, schaute sich daraufhin so lange überall am Himmel um, bis sich der Freund vor Lachen nicht mehr zu halten wußte. Und wie verhielt sich der heilige Thomas? Er sagte mit ernster Miene: ‚Bruder! Man muß leichter glauben, daß Ochsen fliegen, als daß ein christlicher Mund lüge.‘ So also wird es wohl gewesen sein. Da hat sich jemand einen Witz geleistet. Und alle, die reinen Herzens waren, haben daran geglaubt. Falls die Tiere in der schönen Geschichte um den heiligen Thomas wirklich Ochsen waren und nicht ebenfalls Zeitungsenten, läge hier auch eine Erklärung für das, was man inzwischen Medienrealität nennt: Eher glaubt man wohl, daß Kühe fliegen, als daß ein Journalistenmund lügt. Oder etwa nicht?“ (N.N., 7.5.1997, S. 12)
Die Glaubwürdigkeit der Medien
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Nicht immer waren es aufklärerische Impulse, die den Anlass zur Verbreitung entsprechender Nachrichten gaben. Der österreichische Ingenieur Arthur Schütz verband seine Experimente mit der Wahrheit jedoch mit diesem Anspruch. Ausgangspunkt seiner Aktivitäten war die Verärgerung über die Berichterstattung einer österreichischen Tageszeitung, die Naturereignisse, die sich in der Nähe von Wien ereignet haben sollen, beschrieb. In einer Diskussion mit Kollegen und Freunden wurde der sogenannte ‚Grubenhund‘ geboren, eine lose Folge von Artikeln, die mehr als eine schlichte Falschmeldung beinhalteten; sie sollten zugleich eine medienpädagogische Mission erfüllen. Explizit ging es um den Nachweis, dass die Wahrscheinlichkeit der Publikation eines Artikels steigt, wenn bestimmte Kriterien erfüllt sind. Schütz meinte: „Auf den Ton käme es an! Sobald ein Bericht im Gewande der Wissenschaft schillere und von einem gut klingenden Namen gezeichnet sei, so wie er den ausgefahrenen Gedankenbahnen des Publikums und der Mentalität des Blattes entspreche, werde er aufgenommen [...].“ (Schütz 1996, S. 39) Die mit dieser Äußerung verbundene Wette wurde von Schütz gewonnen. In der Folgezeit gelang es ihm zu einer Vielzahl vorwiegend technischer Themen Artikel zu platzieren, die mit der Wirklichkeit wenig gemeinsam hatten, aber in ihrer Machart überzeugend klangen und infolgedessen auch publiziert wurden (siehe zur Einordnung dieser Experimente auch Hömberg 1996 und Wagner 1996). Obwohl das Beispiel aus Österreich bereits einige Glaubwürdigkeitsfaktoren benennt, war es nicht diese Wette aus dem Jahr 1911, die heute in der Literatur als die Geburtsstunde der Glaubwürdigkeitsforschung genannt wird. Der Darstellung von Lowery und DeFleur zufolge erhielt die Persuasionsforschung ihre ersten Impulse durch ein dramatisches kriegerisches Ereignis. Es ereignete sich am 7. Dezember 1941. Die japanischen Luftstreitkräfte bombardierten an diesem Tag einen Stützpunkt der amerikanischen Marine im Pazifik: Pearl Harbor. Für die amerikanische Bevölkerung bedeutete dieser Überfall nicht nur eine Erschütterung ihres Sicherheitsgefühls, sondern auch die direkte Konfrontation mit den Konsequenzen des Zweiten Weltkriegs. „Turning citizens into soldiers“ (Lowery/DeFleur 1995, S. 136) wurde zu einer zentralen Aufgabe der amerikanischen Politik. Um die Motivation und Moral der Bevölkerung zu stärken, bediente sich die amerikanische Armee von Beginn an der Hilfe von Psychologen und Soziologen. Ein wichtiger Bestandteil in den Trainingsprogrammen der Armee spielten dabei Filme über den Ursprung und den bisherigen Verlauf des Zweiten Weltkriegs. Diese Filme wurden als die ‚Why We Fight‘-Filme bezeichnet. Die Zielsetzung dieses Programms umschrieb der amerikanische General George C. Marshall im Jahr 1942 gegenüber dem Filmproduzenten Frank Capra wie folgt: „Now Capra, I want to nail down with you a plan to make a series of documentary factual information films - the first in our history - that will explain to our boys why we are fighting and the principals for which we are fighting.“ (zitiert nach Lowery/DeFleur 1995, S. 138) Vier der daraufhin entstandenen
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sieben 50-minütigen Dokumentarfilme wurden in kommunikationswissenschaftlichen Experimenten eingesetzt. Sie waren Teil eines umfangreichen Forschungsprogramms, das unter dem Namen ‚American Soldier Series‘ bekannt wurde. Auf systematischem Wege sollte in Erfahrung gebracht werden, ob und wie Menschen in ihren Einstellungen und Bewertungen bestimmter Sachverhalte beeinflusst werden können und inwieweit diese Veränderungen verhaltensrelevant sind. Fixiert auf die Kategorien ‚Stimulus‘ und ‚Response‘ konnte in einer Vielzahl von Studien auch nachgewiesen werden, dass die kontrollierte Beeinflussung eines Informationsflusses zu unterschiedlichen Informationsniveaus führt. Dieses (erwartbare) Ergebnis belegten bspw. Versuchsreihen, die den Film ‚The Battle of Britain‘ einsetzten. Die Befragungen und Experimente fanden in Militärcamps und unter Ausschluss der Offiziere statt. Die zweimalige Befragung der Soldatengruppen wurde mit dem Hinweis auf eine Überarbeitung des Fragebogens gerechtfertigt. Zwischen dieser Vorher- und Nachherbefragung wurde einem Teil der Soldaten ein Film gezeigt, der sich mit einem Ereignis des Zweiten Weltkriegs auseinandersetzte. Es ging um den Angriff der deutschen Wehrmacht auf England. Die konsequente Umsetzung des experimentellen Verfahrens erbrachte den Nachweis, dass innerhalb der Filmgruppe der Kenntnisstand über den Erfolg bzw. Misserfolg dieser versuchten Invasion höher war als in der Kontrollgruppe, die den Film nicht präsentiert bekam. Die Kenntnis des Films führte darüber hinaus zu einem Einstellungswandel gegenüber bestimmten Ereignissen des Zweiten Weltkriegs. Je weiter sich aber die vermuteten Wirkungen von dem engeren Kontext des Films entfernten, desto geringer wurden die beobachteten Differenzen zwischen den Experimental- und Kontrollgruppen. Eine allgemeine Erhöhung der Motivation war ebenso wenig zu erkennen wie eine signifikante Einstellungsänderung gegenüber den britischen Alliierten. Nicht nur in dieser Hinsicht wurden Grenzen der Beeinflussung erkennbar. Je nach vorhandener Bildungsqualifikation variierte der beobachtbare Lernerfolg erheblich. Zugleich resultierten Meinungsänderungen aus sehr unterschiedlichem Informationsverhalten. Von „informed opinion“ (Hovland et al. 1949, S. 166) wurde dann gesprochen, wenn Personen mit hoher Bildungsqualifikation ihre Meinung aufgrund der Kenntnis sehr vieler Informationen änderten. Lag hingegen ‚uninformed bzw. misinformed opinion‘ vor (vgl. Hovland et al. 1949, S. 166ff. und S. 190ff.), genügten schon wenige Fakten, um eine Meinungsänderung zu bewirken. Dies galt insbesondere für Personen mit einem niedrigen Bildungsniveau. Im Rahmen der Suche nach den ‚Magic Keys of Persuasion‘ wies der Bildungsgrad auf Unterschiede in der Beeinflussbarkeit hin. Die Ermittlung dieser Faktoren wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in ausführlichen Forschungen fortgesetzt, insbesondere an der Yale University. Es sollte in Erfahrung gebracht werden, welchen Einfluss die jeweilige Struktur von Aussagen auf kognitive und emotionale Prozesse der Rezipienten hat.
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6.2 „Communication and Persuasion“. Das Forschungsprogramm der Hovland-Schule Zwischen den Jahren 1946 und 1961 gingen aus dem sogenannten ‚Yale Program of Research on Communication and Attitude Change‘ ca. 50 Experimente hervor. Im Zentrum des Interesses stand die Erforschung von Einstellungswandel. Der Psychologe Carl Hovland versammelte um sich ein Forschungsteam, das nach den Gesetzen der Beeinflussung suchte. Hovland selbst bezeichnete sein Arbeitsgebiet auch als ‚Wissenschaftliche Rhetorik‘ und knüpfte damit an eine antike Tradition an, die sich im Sinne Platons darum bemühte, den menschlichen Geist durch Worte zu gewinnen. Die Verbindung zur Massenkommunikationsforschung ergibt sich vor allem aus der Annahme, dass Kommunikation allgemein als Stimulus aufgefasst werden muss, der in der Lage ist, bestimmte Reaktionen bzw. Antworten auf Seiten der Menschen hervorzurufen. Trotz der Breite des Forschungsprogramms lassen sich einige Merkmale aufzeigen, die den experimentellen Charakter der durchgeführten Analysen unterstreichen:
Die den jeweiligen Versuchsteilnehmern präsentierten Aussagen wurden unter Berücksichtigung der Zielsetzung des Projekts konstruiert. Dabei handelte es sich entweder um Texte, mündliche Vorträge oder Filmdarbietungen. Experimentelle Manipulationen dienten einer eindeutigen Zurechenbarkeit von Wirkungen. Vorher- und Nachhermessungen rahmten den Versuchsablauf ein. Die Situation der Versuchsteilnehmer entsprach häufig einer „captive audience“ (Lowery/DeFleur 1995, S. 167): Wer an einem Versuch teilnahm, sollte diesen während der Durchführung nicht unterbrechen. Falls der Stimulus von einer Person präsentiert wurde, blieb es bei einer EinWeg-Kommunikation. Verständnisfragen waren nicht möglich, Diskussionen fanden nicht statt. Diese methodische Strenge implizierte einen Verzicht auf die Erörterung semantischer Probleme. Eine weitere Gemeinsamkeit resultierte aus der Erwartung einer Verhaltensrelevanz von Einstellungen und Meinungen. Meinungen (Opinions) wurden dabei als allgemeinere Stellungnahmen aufgefasst, Einstellungen (Attitudes) im engeren Sinne als Äußerungen, die sich auf Objekte, Personen, Gruppen oder Symbole beziehen.
Diese analytische Trennung ließ sich in der tatsächlichen Forschung selten realisieren. Hovland et al. waren sich der Tatsache bewusst, dass „it is impossible to draw a sharp distinction between the two.“ (Hovland et al. 1953, S. 7) Der nachfolgende Beispieltext gibt die Arbeitsdefinitionen wieder.
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Die Begriffe ‚Opinion‘ und ‚Attitude‘ der Hovland-Schule Definition ‚Opinion‘: „‚Opinion‘ will be used in a very general sense to describe interpretations, expectations, and evaluations – such as beliefs about the intentions of other people, anticipations concerning future events, and appraisals of the rewarding or punishing consequences of alternative courses of action. Operationally speaking, opinions are viewed as verbal ‚answers‘ that an individual gives in response to stimulus situations in which some general ‚question‘ is raised.“ (Hovland et al. 1953, S. 6) Definition ‚Attitude‘: „[...] while the term ‚opinion‘ will be used to designate a broad class of anticipations and expectations, the term ‚attitude‘ will be used exclusively for those implicit responses which are oriented toward approaching or avoiding a given object, person, group, or symbol. This may be interpreted as meaning that attitudes possess ‚drive value‘ [...].“ (Hovland et al. 1953, S. 7)
Damit es zur Übernahme oder Änderung von Meinungen bzw. Einstellungen kommt, müssen nach Auffassung Hovlands et al. drei Bedingungen erfüllt sein: 1. 2. 3.
Wahrnehmung: Wird die Aussage vollständig oder nur in Teilen wahrgenommen? Erfolgt die Wahrnehmung konzentriert oder eher beiläufig? Verständnis: Ist die Aussage nachvollziehbar oder zu kompliziert? Akzeptanz: Schließt man sich der Aussage an oder lehnt man sie ab?
Ob sich eine Veränderung im Sinne des präsentierten Stimulus ergibt, hänge davon ab, ob die Anreize zur Einstellungsänderung (‚incentives for change‘) größer seien als die Anreize für Einstellungskonstanz (‚incentives for stability‘): „We assume that acceptance is contingent upon incentives, and that in order to change an opinion it is necessary to create a greater incentive for making the new implicit response than for making the old one.“ (Hovland et al. 1953, S. 11) Während diese allgemeinen Annahmen Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Kommunikation (Akzeptanz) beschreiben, konzentrierte sich die Forschung auf den Stellenwert der den Kommunikationsprozess bestimmenden Elemente. Diesbezüglich wurden drei wichtige Bereiche unterschieden: 1. 2. 3.
Die Bedeutung des Kommunikators Die Bedeutung des Inhalts und der Präsentationsform Die Bedeutung von Persönlichkeits- und Situationsmerkmalen
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Die genannten Bereiche sollen anhand einiger Beispiele illustriert werden. - Die Bedeutung des Kommunikators: Bereits die Forschungen zu dem Film ‚The Battle of Britain‘ zeigten, dass die Einschätzung der Quelle (in diesem Falle des Films) einen maßgeblichen Einfluss auf die Meinungsänderung hatte. Jene, die den Film als Propaganda einstuften, zeigten nur geringe Meinungsänderungen in die vom Film intendierte Richtung. Jene, die den Film als einen Informationsbeitrag einstuften, ließen sich häufiger von den präsentierten Fakten überzeugen. Diesen Sachverhalt kann man auch systematisch beeinflussen. Hovland et. al. untersuchten daher den Effekt der Kombination identischer Informationen mit unterschiedlichen Quellen. In diesem Zusammenhang ging es insbesondere um die Überprüfung der Wirkung von zwei Faktoren: ‚expertness‘ und ‚trustworthiness‘. ‚Expertness‘ bezieht sich auf den Sachverstand bzw. auf die Erwartung, dass der Kommunikator berechtigte Behauptungen aufstellt; ‚trustworthiness‘ auf das Vertrauen in die Aufrichtigkeit des Kommunikators, also seine Intention, zu einem begründeten Urteil zu gelangen. Für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit sind diese Faktoren von zentraler Bedeutung (vgl. Hovland et al. 1953, S. 21). Die nachfolgende Abbildung fasst Beispiele aus diesem Forschungsbereich zusammen (vgl. Abbildung 6.1). Die Beispiele verdeutlichen die Vorgehensweise: Artikel mit identischem Inhalt werden sowohl Quellen mit hoher Glaubwürdigkeit als auch Quellen mit niedriger Glaubwürdigkeit zugeschrieben. Diese Zuordnung wurde nicht willkürlich vorgenommen. In einer Vorabbefragung sollten die Versuchsteilnehmer (Studenten) Zeitungen und andere Informationsquellen benennen, die sie als glaubwürdig einstufen. Forscher und Probanden wiesen diesbezüglich eine hohe Übereinstimmung auf. Das eigentliche Experiment verlangte von den Studenten das Lesen von vier Artikeln, die in einer Mappe zusammengestellt waren. Eine Gruppe erhielt Texte, die Quellen mit hoher Glaubwürdigkeit zugeschrieben wurden, eine zweite Gruppe die gleichen Texte mit Quellen, die auf eine niedrige Glaubwürdigkeit schließen lassen. Darüber hinaus gab es keine weiteren Unterschiede in dem präsentierten StimulusMaterial. Im unmittelbaren Anschluss an die Lektüre erfolgte erneut eine Befragung, die einer kriterienbezogenen Beurteilung der gelesenen Informationen diente. Diese Befragung wurde nach vier Wochen wiederholt, wobei jedoch auf eine erneute Präsentation der Artikelserie verzichtet wurde. In allen Fällen wurden die Texte, die mit Quellen hoher Glaubwürdigkeit versehen waren, besser beurteilt. Dies galt sowohl für die Fairness als auch für die Konsistenz der Argumentation. Eine Meinungsänderung im Sinne des im Artikel dominierenden Tenors wurde häufiger durch ‚high credibility sources‘ als durch ‚low credibility sources‘ ausgelöst (siehe zu den empirischen Befunden Hovland et al. 1953, S. 29f.).
166 Abbildung 6.1
Die Glaubwürdigkeit der Medien Die Glaubwürdigkeit des Kommunikators. Forschungsbeispiele „High Credibility“ Source
A. Antihistamine Drugs: Should the antihistamine drugs continue to be sold without a doctor's prescription?
New England Journal of Biology and Medicine
„Low Credibility“ Source Magazine A (A mass circulation monthly pictorial magazine)
B. Atomic Submarines: Can a practicable atomic-powered sub-marine be built at the present time?
Robert J. Oppenheimer
C. The Steel Shortage: Is the steel industry to blame for the current shortage of steel?
Writer A Bulletin of National Resources Planning Board
D. The Future of Movie Theaters: As a result of TV, will there be a decrease in the number of movie theaters in operation by 1955?
Pravda
(An antilabor, anti-New Deal, "rightist" newspaper columnist)
Writer B Fortune magazine (A woman movie-gossip columnist)
Quelle: Hovland et al. 1953, S. 28 Diese rasche Meinungsänderung, die im unmittelbaren Anschluss an die Experimente festgestellt wurde, konnte jedoch im Rahmen der erneuten Befragung nicht mehr beobachtet werden. Vier Wochen nach dem Experiment verschwand die Differenz zwischen den Quellen mit unterschiedlicher Glaubwürdigkeit. Dieses Phänomen erhielt den Namen ‚Sleeper-Effekt‘. Dieser Effekt war bereits im Zusammenhang mit Forschungen zu dem Film ‚The Battle of Britain‘ aufgetreten und verlangte nach einer Erklärung. Die Ergebnisse legten die Schlussfolgerung nahe, dass die ‚low credibility‘-Quelle nachträglich an Überzeugungskraft gewinnt. Wenn die Versuchsteilnehmer erneut nach ihrer Meinung zu einem bestimmten Thema gefragt werden, denken sie zunächst an die Aussage und nicht an die Quelle der Information. Hovland und Weiss lokalisieren die Ursache dieses Phänomens in der Befragungssituation selbst. Die Versuchsteilnehmer konnten sich auch Wochen nach dem Experiment noch an die Quelle erinnern, wenn sie ausdrücklich danach gefragt wurden. Aber sie werden zunächst nicht an die Quelle gedacht haben, wenn sie lediglich ihre Meinung bezüglich des Themas äußern sollten (vgl. insbesondere Hovland et al. 1953, S. 256). Capon und Hulbert haben den ‚Sleeper-Effekt‘ eingehend analysiert und zahlreiche methodische Defizite identifiziert. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass in der Regel eine positive Meinungsänderung vorliegen muss, die sich zugunsten der ‚low credibility‘-Quelle auswirkt. Der Versuch einer Definition lautet wie folgt: „A slee-
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per effect may be observed if an individual’s agreement with a persuasive communication is greater a long time after exposure to it than immediately there-after. Further, the final measure of agreement, when compared to the pre-measure, must show a shift in the advocated direction.“ (Capon/Hulbert 1973, S. 335) Der ‚SleeperEffekt‘ kann somit grafisch wie folgt veranschaulicht werden.
MEINUNGSÄNDERUNG (IN PROZENT)
Abbildung 6.2 24 22 20 18
Der Sleeper-Effekt
“High Credibility”
16 14 12 10 8 6
“Low Credibility”
4 2 0 Messung der Meinungsänderung im unmittelbaren Anschluss an das Experiment
Erneute Messung nach vier Wochen
ZEITINTERVALL
Quelle: Eigene Erstellung in Anlehnung an Hovland et al. 1953, S. 255 und Capon/Hulbert 1973, S. 335ff. Der ‚Sleeper-Effekt‘ kann infolgedessen wohl nicht als ‚Überschlafens-Effekt‘ (vgl. Noelle-Neumann 1994, S. 526) interpretiert werden, da die Quelle de facto nicht wirklich in Vergessenheit gerät und die inhaltlichen Argumente dominieren. Auch Merten bezweifelt die Existenz einer „Nachhall-Wirkung“ (Merten 1994b, S. 305). Bezüglich der Unterstellung einer Langzeitwirkung kritisiert er die mangelnde Berücksichtigung der zwischenzeitlich wahrgenommenen Informationen zu den einstellungsrelevanten Themen. Kritik kann darüber hinaus an der grafischen Darstellung geübt werden. Denn diese zeigt an, dass die ‚low credibility‘-Quelle im Falle einer erneuten Messung eine größere Meinungsänderung hervorruft als die ‚high credibility‘-Quelle.
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Die Glaubwürdigkeit einer Kommunikationsquelle macht inhaltliche Argumente keinesfalls bedeutungslos. Quelle und Inhalt (Wer und Was) wirken wechselseitig aufeinander. Darüber hinaus kann festgestellt werden:
Wenn eine Kommunikationsquelle als wenig glaubwürdig eingeschätzt wird, dann wird auch die Präsentation unfairer und verzerrter wahrgenommen bzw. eingeschätzt als im Falle einer Quelle mit hoher Glaubwürdigkeit. Quellen mit hoher Glaubwürdigkeit haben einen starken unmittelbaren Effekt auf Meinungsänderungen. Ob es sich nur um einen kurzfristigen Effekt handelt, ist umstritten (Kontroverse um ‚Sleeper-Effekt‘). Die Einschätzung der Glaubwürdigkeit einer Quelle erhöht die Bereitschaft, sich den darin präsentierten Schlussfolgerungen anzuschließen. Ob die Position eines Kommunikators als fair und unvoreingenommen wahrgenommen wird, ist von der Distanz zwischen Sender und Empfänger abhängig. Nähe führt eher zu völliger Übereinstimmung, geringe Distanz mündet in Assimilationseffekte (die Position des Kommunikators wird der eigenen ähnlich bezeichnet), größere Distanzen resultieren in der Wahrnehmung extremer Differenzen (Kontrasteffekt) (ausführlicher hierzu Hovland 1959).
- Inhalt und Präsentationsform: Der Hinweis auf die Faktoren ‚expertness‘ und ‚trustworthiness‘, aber auch die gerade beschriebenen Assimilations- und Kontrasteffekte weisen bereits auf die Bedeutung des Inhalts einer Aussage hin. Weitere Experimente sollten Aufschluss darüber geben, wie eine Aussage aufgebaut sein muss, damit Glaubwürdigkeit attestiert wird. Hovland et al. bemerkten hierzu: „Answering questions of this sort at present is much more of an art than a science [...].“ (1953, S. 99) Generalisierungen sind insofern schwierig, als in der Regel zwei Faktoren berücksichtigt werden müssen: „motivational factors“ und „learning factors“ (Hovland et al. 1953, S. 99). ‚Motivational factors‘ verweisen auf die Bereitschaft des Publikums, den Intentionen des Kommunikators zu folgen. Position und Kenntnisstand des Publikums zu dem jeweils behandelten Thema sind in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung. Wenn ein neues Thema behandelt wird, hat der Kommunikator die Chance, einen ‚leeren Platz‘ zu besetzen. Handelt es sich dagegen um ein Thema, das schon lange diskutiert wird und die Bevölkerung polarisiert, nimmt die Chance einer Meinungsänderung durch die gezielte Strukturierung der Aussagen ab. ‚Learning factors‘ resultieren aus der Logik und Stringenz der Argumentation, die ebenfalls nicht ohne Bezugnahme auf Merkmale des Publikums bestimmbar ist. Ob vorwiegend positiv, negativ oder ausgewogen argumentiert werden soll, ist von der Heterogenität des Publikums und dem Ausmaß der Übereinstimmung zwischen Sender und Empfängern abhängig. Wenn bspw. der Bildungsgrad des Publikums hoch ist, dürfte eine ausgewogene Argumentation im Sinne einer systematischen Gegenüberstellung von Positionen eher dem Erwartungshori-
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zont der Adressaten entsprechen. Insbesondere dieser Forschungszweig verdeutlicht die Orientierung der Hovland-Schule an den Regeln und Vorstellungen der Rhetorik. Gleichwohl lassen sich daraus auch Hinweise für Situationen ableiten, in denen Massenkommunikation typisch ist. Wenn in diesem Zusammenhang bspw. ‚Primacy‘- und ‚Recency‘-Effekte (vgl. Hovland et al. 1953, S. 121ff.) diskutiert werden, erfährt die Rangfolge von Argumenten besondere Aufmerksamkeit. In einem weiteren Sinne findet diese Fragestellung ihre Fortsetzung in Traditionen der Agenda Setting-Forschung48. Dort wird unter anderem die Frage analysiert, ob die Platzierung und der Umfang von Nachrichtenthemen einen Einfluss auf das Themenbewusstsein in der Bevölkerung nehmen. Nachrichten im Allgemeinen verfolgen das Ziel glaubwürdig zu wirken und setzen hierfür verschiedene Mittel ein. Die Verwendung von Augenzeugenberichten, Zitaten, genauen Angaben zu Zeit und Ort, meist mit einem dort persönlich anwesenden Reporter, oder auch einfach die Nennung von Zahlen, sollen als Hinweise für die Zuschauer dienen und das Publikum von der Richtigkeit der Meldungen überzeugen (vgl. Schönbach 2009, S. 55). Zudem weiß jeder Redner, wie hilfreich zuverlässige Informationen über das Publikum, zu dem er sprechen soll, sind. Im Falle der Massenkommunikation ist nicht auszuschließen, dass sich das Publikum aus Personen zusammensetzt, die man nicht als Rezipienten erwartet hätte. Der amerikanische Kommunikationswissenschaftler Joshua Meyrowitz hat sich ausführlich mit den Konsequenzen, die aus dieser Unbestimmtheit resultieren, beschäftigt49.
„Cool bleiben, nich kalt“ - ein Auszug aus dem letzten Interview mit dem Journalisten Hanns Joachim Friedrichs (1927-1995) „SPIEGEL: Hat es Sie gestört, daß man als Nachrichtenmoderator ständig den Tod präsentieren muss? Friedrichs: Nee, das hat mich nie gestört. Solche Skrupel sind mir fremd. Also, wer das nicht will, wer die Seele der Welt nicht zeigen will, in welcher Form auch immer, der wird als Journalist zeitlebens seine Schwierigkeiten haben. Aber ich hab’ es gemacht, und ich hab’ es fast ohne Bewegung gemacht, weil du das anders nämlich gar nicht machen kannst [...] Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, nicht in öffentliche Betroffenheit versinken, im Umgang mit Katastrophen cool bleiben, ohne kalt zu sein. Nur so schaffst du es, daß die Zuschauer dir vertrauen, dich zu einem Familienmitglied machen, dich jeden Abend einschalten und dir zuhören. 48 49
Siehe hierzu die Ausführungen in Kapitel 7. Siehe hierzu die Ausführungen in Kapitel 10.
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Die Glaubwürdigkeit der Medien SPIEGEL: Was macht einen Journalisten zum Nachrichtenonkel, was muß er können? Friedrichs: Ich habe mich nie als Nachrichtenonkel verstanden, sondern als Mensch, der mit am Eßtisch sitzt, der ein bißchen mehr weiß, weil er die Fähigkeit hat, unbefangen in die Welt zu gucken und das, was er entdeckt, so weiterzugeben, daß die Leute ihm glauben.“ (Leinemann/Schnibben 1995, S. 113f.)
- Persönlichkeits- und Situationsmerkmale: Im Einleitungsabschnitt dieses Kapitels ist bereits die Unterscheidung ‚informed/uninformed opinion‘ erwähnt worden. Intellektuelle Fähigkeiten werden diesbezüglich als wichtiger Faktor für Beeinflussbarkeit herausgestellt. Weitergehend wird vermutet, dass Personen mit hoher Bildung einer logischen Argumentationsführung eine zentrale Bedeutung zuschreiben, sich von einer unlogischen, irrelevanten oder gar falschen Argumentation dagegen kaum beeinflussen lassen. Diese Kritikfähigkeit wirkt als ein Schutz gegen Manipulationen. Insbesondere Janis konnte darüber hinaus nachweisen, dass Beeinflussbarkeit zunimmt, wenn bestimmte Persönlichkeitsmerkmale festzustellen sind: geringes Selbstwertgefühl, Schüchternheit, geringes Vertrauen in eigene Fähigkeiten (vgl. Lowery/DeFleur 1995, S. 181); kurzum: jene Merkmale, die Jahre später Eingang in das Konzept ‚Persönlichkeitsstärke‘ gefunden haben50. Diese Querverbindung lässt sich durch einige Hinweise zur Bedeutung von Situationsmerkmalen ergänzen. Hierzu zählen Überlegungen, die die Bereitschaft zur Meinungsänderung mit der jeweiligen Position in einer sozialen Gruppe verknüpfen. Personen, die eine Gruppenmitgliedschaft besonders hoch bewerten, zeigen Widerstand gegen Versuche, zentrale Gruppennormen und Werte in Frage zu stellen. Mehrere Gruppen von Pfadfindern wurden bspw. mit Auffassungen konfrontiert, die sich gegen die bislang praktizierten Unternehmungen richteten und die Vorzüge der modernen Stadt gegenüber Aktivitäten in der Natur hervorhoben. Diese sogenannte „counternorm communication“ (Hovland et al. 1953, S. 141) führte zu einem ‚Bumerang-Effekt‘ unter den „high valuation Scouts“ (Hovland et al. 1953, S. 141). Daraus folgt: Je stärker die Gruppennormen internalisiert sind, desto geringer sind die Chancen einer Meinungsänderung. Nicht immer aber erfolgt die Konfrontation mit solchen Auffassungen, wenn man sich innerhalb einer Gruppe befindet. Deren Schutzschildfunktion und die damit einhergehende Verpflichtung auf Normen kann je nach Situation unterschiedlich ausgeprägt sein. Veranschaulicht wurde dieser Aspekt unter anderem im Rahmen einer Untersuchung mit katholischen Studenten. Zum Einsatz kam ein Fragebogen, der verschiedene kritische Äußerungen zum Katholizismus enthielt. In diesem Experiment wurde die Gruppe in unterschiedlichem Ausmaß auf ihre Gemeinsamkeit des katholischen Glaubens hingewiesen. Dort, wo dies mehrfach und ausdrücklich geschah, fielen die kritischen Aussagen häufiger im 50
Siehe hierzu die Ausführungen in Kapitel 5.
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Sinne der katholischen Glaubenslehre aus (vgl. Hovland et al. 1953, S. 156). Indirekt nehmen somit Gruppennormen auch Einfluss auf die Glaubwürdigkeit eines Kommunikators einerseits und die Bereitschaft zur Nonkonformität andererseits.
„Communication and Persuasion: The Magic Keys“ „Propositions about communication stimuli – characteristics of the communicator, the content, and the structure of the communication – provide a basis for predicting the effects for the majority of cases within a specified audience. But, as is generally recognized, the same social pressures may be experienced in different ways by different people, and consequently the effects of a communication are partly dependent upon the characteristics of individual members of the audience. By taking account of personality predispositions as well as group affiliations, it should be possible to improve predictions concerning the way a given type of audience (or a given individual within the audience) will respond.“ (Hovland et al. 1953, S. 174)
Wenngleich hier nur auszugsweise auf die zahlreichen Detailanalysen dieses Forschungsprogramms eingegangen werden konnte (siehe zur Zielsetzung auch den vorangegangenen Beispieltext), musste immer wieder auf die begrenzte und in der Regel kurzfristige Meinungsänderung, die bestimmte Formen der Kommunikation auslösten, hingewiesen werden. Dort, wo langfristige Effekte behauptet wurden, relativierten methodische Probleme die Aussagekraft. Ob sich die in Experimenten gewonnenen Befunde auch auf natürliche Kommunikationssituationen übertragen lassen, bleibt ein weiterer Kritikpunkt. Dieser Aspekt ist auch im Zusammenhang mit der Kontroverse um die Verhaltensrelevanz von Meinungen und Einstellungen (sogenannte Attitude-Behavior-Debatte) zu sehen. Nimmt man die Verhaltensrelevanz als Maßstab, so muss der weiteren Entwicklung der Glaubwürdigkeitsforschung einerseits und Untersuchungen zum Einstellungs- und Meinungswandel andererseits eine eher geringe Aufmerksamkeit bezüglich dieser Wirkungen von Kommunikation attestiert werden. Dies gilt insbesondere für die Ausdehnung und Erweiterung der durch Hovland eingeleiteten Forschungsfragen auf das Feld der Massenkommunikation.
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6.3 Massenmedien und Glaubwürdigkeit: Die Weiterentwicklung der Forschung Einem Vorschlag Benteles folgend, lassen sich in der Glaubwürdigkeitsforschung zwei Forschungstraditionen unterscheiden: Die eine geht auf die Experimente Hovlands zurück und wird in der amerikanischen Literatur auch mit dem Begriff ‚Source credibility‘ umschrieben. Die zweite Tradition baut explizit auf der Glaubwürdigkeit von Massenmedien auf und resultiert aus der kontinuierlichen Beobachtung von Medienbewertungen. Ersteres stellt insbesondere die Prestigewirkung einzelner Kommunikatoren in den Vordergrund, während Letzteres die Glaubwürdigkeit von Medienangeboten auf unterschiedlichen Ebenen (generelle Vergleiche tagesaktueller Medien, Berücksichtigung geografischer und/oder thematischer Bezüge) analysiert (vgl. Bentele 1988, S. 408f.). Obwohl sich die Experimente der Yale-Gruppe um Hovland über viele Jahre erstreckten und eine Kontinuität der Fragestellung erkennen ließen, wurde diese Konstanz der Vorgehensweise in mehrfacher Hinsicht kritisiert: Zum einen wurde die geringe Berücksichtigung von Erfahrungen der Versuchsteilnehmer mit den ihnen präsentierten Informationsquellen bemängelt. In Anlehnung an die Unterscheidung von ‚Opinion‘ und ‚Attitude‘ ging es insbesondere um die Frage, ob sich relativ stabile Haltungen und Bewertungen bezüglich der Glaubwürdigkeit bestimmter Medien herausarbeiten lassen, die auch für die Beurteilung spezifischer Sachverhalte von hoher Relevanz sind. Zum anderen ist in der unzureichenden Berücksichtigung soziodemografischer Unterschiede der jeweiligen Publika ein Defizit gesehen worden (vgl. hierzu auch Bentele 1988, S. 410). Ein weiterer Kritikpunkt ergab sich aus dem weitgehenden Verzicht auf Definitionen, insbesondere des Begriffs ‚Glaubwürdigkeit‘. Die Orientierung an der Tradition der Rhetorik hatte durchaus dazu geführt, dass Glaubwürdigkeit als ein mehrdimensionales Konzept aufgefasst wurde: Wichtig ist sowohl der Charakter des Kommunikators als auch ein erkennbarer guter Wille sowie Kompetenz (vgl. hierzu auch Meyer 1974, S. 48). Diese Dimensionen standen als Behauptungen im Raum, die nicht einer eigenständigen Überprüfung unterzogen wurden. In methodischer Hinsicht wurde somit das Fehlen einer Reliabilitätsprüfung dieser Faktoren beklagt. Hierauf aufbauend versuchten Berlo et al. allgemeine Dimensionen zu ermitteln, die für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Kommunikationsquellen bedeutsam sind. Die in den 1960er Jahren durchgeführte Untersuchung verfolgte zwei Ziele: die Ermittlung relevanter Dimensionen, die Glaubwürdigkeit konstituieren und die Konstruktion eines Messinstruments, das als Bewertungsmaßstab für unterschiedlichste Informationsquellen zur Verfügung stehen kann (vgl. z. B. Berlo et al. 1970, S. 573). Auf der Basis umfangreicher Literaturrecherchen stellten die Autoren 128 Adjektivpaare in Form eines semantischen Differentials zusammen (z. B. ‚kind-cruel‘, ‚trained-untrained‘, ‚fast-slow‘). Sprachwissenschaftler überprüften die verwandten
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Adjektivpaare im Hinblick auf ihre Trennschärfe. Falls synonyme Adjektive identifiziert wurden, wurde das jeweils leichter verständliche Begriffspaar beibehalten. Auch diese detaillierte Vorgehensweise konnte nicht den Befund erschüttern, dass Ausgewogenheit und Kompetenz wichtige Faktoren für die Attribution von Glaubwürdigkeit sind. Berlo et al. nannten ihre Dimensionen ‚Qualification‘ und ‚Safety‘. Darüber hinaus wurde eine weitere Dimension ermittelt, die mit dem Begriff ‚Dynamism‘ bezeichnet wurde. Hiermit wird die Art und Weise, wie sich ein Kommunikator darstellt, beschrieben: Ist er eher aggressiv oder zurückhaltend, eher aktiv oder passiv, wirkt er energisch usw.? Die dieser Bündelung zugrunde liegenden Eigenschaften fanden Eingang in eine Studie von McCroskey und Jensen, die dieses Instrument auf die Ermittlung der Glaubwürdigkeit verschiedener Nachrichtenquellen in den Massenmedien übertrugen. Die von Berlo et al. vorgeschlagene Begrifflichkeit wurde jedoch nicht beibehalten. Die ermittelten Faktoren wurden wie folgt bezeichnet (vgl. McCroskey/ Jensen 1975, S. 174ff.): 1. 2. 3. 4. 5.
Kompetenz: Die verwandten Gegensatzpaare lauteten hier bspw.: qualifiziertunqualifiziert, zuverlässig-unzuverlässig, uninformiert-informiert. Charakter bzw. Persönlichkeit (Wesensart): Zu Grunde lagen Begriffspaare wie sympathisch-unsympathisch, eigennützig-uneigennützig. Freundlichkeit, Geselligkeit (Soziabilität): freundlich-unfreundlich, heitertraurig, sozial-unsozial sind die Eigenschaften, die dieser Begriff umfasst. Selbstbeherrschung (‚composure‘): Hier geht es um Merkmale wie Gefasstheit, Ruhe oder Anspannung. Nach-Außen-Gerichtetsein, Extravertiertheit (‚extroversion‘): Mut, Aggressivität und forsches Auftreten werden hiermit beschrieben.
Auf den ersten Blick vermitteln diese Befunde einen heterogenen Eindruck. Stellt man aber die Dimensionen, die Hovland et al., Berlo et al. und McCroskey/Jensen herausgearbeitet haben, nebeneinander, werden die Parallelen sichtbar. Sachverstand und Vertrauenswürdigkeit bleiben die zentralen Merkmale, die durch darstellerische Fähigkeiten und Persönlichkeitsmerkmale ergänzt werden (vgl. Abbildung 6.3). Wie erkennbar, konzentriert sich diese Forschungstradition auf die Ermittlung von ‚Source credibility‘-Faktoren. Im Hinblick auf die deutliche Ausweitung der Medienangebote wird zukünftig verstärkt zu fragen sein, ob diese spezifischen Beurteilungen von einer diffusen Skepsis überlagert werden, die der Vielzahl an Angeboten zuzuschreiben ist. Auf der Grundlage einer Literaturanalyse formulierte Bentele Anfang der 1990er Jahre folgende Erwartung: „Für das nächste Jahrzehnt ist eine deutliche Zunahme der Relevanz der Problematik ‚Medienglaubwürdigkeit‘ zu prognostizieren. Ursache wird die verschärfte Konkurrenz innerhalb des Medienmarktes sein, wobei nicht nur die Konkurrenz innerhalb des elektronischen Sektors,
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Die Glaubwürdigkeit der Medien
sondern verstärkt auch die Konkurrenz zwischen den Medien eine Rolle spielen wird.“ (Bentele 1996, S. 381) Bentele selbst ist dieser Prognose nicht nachgegangen, Kontroversen über die Qualität und die Intentionen von Medienangeboten bestätigen aber diese Erwartung. Berichte zur Lage des Fernsehens (vgl. Groebel u.a. 1995), Überlegungen zu einer ‚Stiftung Medientest‘ (vgl. Krotz 1996) sowie die Zunahme medienethischer Debatten (siehe die Beiträge in Funiok u.a. 1999, Karmasin 2002 sowie Schicha/Brosda 2010) sind Reaktionen auf eine verstärkte Kommerzialisierung des Mediensektors. Abbildung 6.3
Dimensionen von Glaubwürdigkeit
Dimensionen
Autoren Hovland et al.
Berlo et al.
McCroskey/Jensen
Sachverstand
Qualifikation
Kompetenz
Vertrauenswürdigkeit
Sicherheit
Charakter, Wesensart Geselligkeit Selbstbeherrschung
Dynamik
Extrovertiertheit
Quelle: Eigene Erstellung in Anlehnung an Hovland et al. 1953, Berlo et al. 1970, McCroskey/Jensen 1975 Orientiert man sich an einem Beeinflussungsmodell, das Petty und Cacioppo vorgelegt haben, dann wird infolge der gerade angesprochenen Konkurrenz eine Zunahme von Angeboten eintreten, die periphere Routen der Informationsverarbeitung auslösen. Die sogenannte „central route“ (Petty/Cacioppo 1986, S. 3) ist gekennzeichnet durch Logik, Rationalität und Sachverstand, die „peripheral route“ (Petty/Cacioppo 1986, S. 3) wird durch einzelne Elemente aktiviert, die vom eigentlichen Informationsgehalt ablenken und Veränderungen bewirken, die nicht notwendigerweise den Inhalten selbst zuzuschreiben sind51. Abbildung 6.4 integriert diese ‚Routes to Persuasion‘ in das Sender-Empfänger-Modell der Massenkommunikation. Die angedeutete Konkurrenz ist in einem allgemeineren Sinne Anlass für die Entstehung der zweiten Forschungstradition gewesen. Mit dem Jahr 1959 beginnt die Untersuchung der relativen Glaubwürdigkeit der Medien. Ausgangspunkt dieser Forschungsrichtung war die ‚Roper Polling Organization‘, die für das ‚Television Information Office‘ Umfragen in den Vereinigten Staaten durchführte. Der Begriff ‚relative Glaubwürdigkeit‘ leitet sich aus dem Versuch ab, die Glaubwürdigkeit der Medien im Hinblick auf dasselbe Ereignis/Thema zu ermitteln. Die Originalfrage 51
Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 8.
Die Glaubwürdigkeit der Medien
175
lautete wie folgt: „If you got conflicting or different reports of the same news story from radio, television, the magazines and the newspapers, which of the four versions would you be most inclined to believe - the one on radio or television or magazines or newspapers?“ (zitiert nach Meyer 1974, S. 49) Nach wiederholter Anwendung dieser Fragestellung verdichtete sich der Eindruck, dass das öffentliche Vertrauen in das Fernsehen wuchs, während die Tageszeitung und andere Medien Glaubwürdigkeitsverluste hinnehmen mussten. So sagten im Jahr 1959 noch 32% der amerikanischen Befragten, dass sie im Falle widersprüchlicher Meldungen über ein und dasselbe Ereignis der Tageszeitung glauben würden, dagegen nur 29% dem Fernsehen. Zwei Jahre später nannten nur noch 24% die Tageszeitung und 39% das Fernsehen. 23 Jahre später, nämlich im Jahr 1984, erhielt die Tageszeitung im Vergleich zu anderen Medien immer noch 24 von 100 Nennungen, das Fernsehen wurde aber mittlerweile von mehr als der Hälfte der amerikanischen Bevölkerung als das glaubwürdigste Medium eingeschätzt (vgl. Gaziano/McGrath 1986, S. 254). Abbildung 6.4
‚Routes to Persuasion‘. Eine Erweiterung des Modells von Petty und Cacioppo.
Central Route
Sachverstand Logik Rationalität
Beurteilung durch Rezipienten (abhängig von VorEinstellung, Vor-Wissen)
Medienberichterstattung
Peripheral Route
Emotionale Effekte Formebene
Quelle: Eigene Erstellung mit Ergänzungen (in Anlehnung an Petty/Cacioppo 1986, S. 1ff.)
176
Die Glaubwürdigkeit der Medien
Sehr schnell wurde erkennbar, dass der daraus abgeleitete Vertrauensverlust der Tageszeitung insbesondere von den elektronischen Medien gewinnbringend eingesetzt wurde. Dass eine einzige Frage diesen nachhaltigen Einfluss entfalten konnte, blieb nicht ohne Kritik. Meyer hat bereits in den 1970er Jahren die folgenden Einwände formuliert:
Die Frage simuliert eine Situation, ohne zu überprüfen, ob sie eingetroffen ist. Wenn die Frage wörtlich genommen wird, müssen mindestens drei Kriterien erfüllt sein: 1) Eine Situation, in der sich die Berichterstattung der Medien über ein und dasselbe Ereignis widerspricht, muss gelegentlich auftauchen. 2) Die betreffende Meldung muss in allen Medien wahrgenommen worden sein. 3) Die Erfahrungen mit unterschiedlichen Berichterstattungen zu einem Thema müssen in einem überschaubaren Zeitraum erfolgt sein. Da es neben den tagesaktuellen Medien auch Medienangebote mit anderen Publikationsrhythmen gibt (z. B. wöchentliche Nachrichtenmagazine), sei auch diese Bedingung unwahrscheinlich. Bereits aufgrund dieser Einwände wurde konstatiert: „Simply stated, the wording of the question alone renders the measurement of media credibility via Roper a hopeless task.“ (Meyer 1974, S. 49) Kritisiert wird des Weiteren die inhaltliche Indifferenz der Frage. Es wird nicht einmal gefragt, welches Thema Gegenstand der Kontroverse war. Hinzu kommt, dass die Nähe bzw. Distanz zu dem Ereignis (auch im geografischen Sinne) nicht berücksichtigt wird. Die Allgemeinheit der mit der Roper-Frage ermittelten Befunde muss ergänzt werden durch Informationen über die Medienpräferenzen der Bevölkerung. Wer bevorzugt das Fernsehen? Wer bevorzugt die Tageszeitung? Wer nutzt das gesamte Medienspektrum? Amerikanische Untersuchungen konnten bereits in den 1960er Jahren nachweisen, dass jene Personen, die der Tageszeitung eine hohe Glaubwürdigkeit attestierten, häufiger männlich und besser gebildet waren, einen höheren sozialen Status aufwiesen und in städtischen Regionen lebten. Zugleich konnte ein höherer Organisationsgrad festgestellt werden. Im Gegensatz dazu wurde der „television-most-credible type“ (Meyer 1974, S. 49) vorwiegend in der ‚working class‘ beobachtet. Unklar bleibt, welche Nachrichtenquelle der Rezipient mit dem Fernsehen, der Zeitung oder dem Radio konkret meint. Welches Medienangebot ist maßgebend für das Urteil, das in die Beantwortung der Roper-Frage einfließt? Ist es der allgemeine Eindruck eines Mediums? Ist es ein spezifischer Sender oder eine Sendung? Oder spielt ein bestimmter Moderator bzw. Journalist eine ausschlaggebende Rolle? Letzteres deutet auf mögliche Interaktionseffekte zwischen dem Kommunikator und dem Inhalt hin. Nach einem Bericht des bekannten US-amerikanischen Journalisten und Pulitzer-Preisträgers David
Die Glaubwürdigkeit der Medien
177
Halberstam (1934-2007) soll der amerikanische Präsident John F. Kennedy der ‚News Show‘ von Walter Cronkite (1916-2009)52 große Aufmerksamkeit entgegen gebracht haben: „Kennedy hielt das, was er da sah, für schrecklich wichtig. Vielleicht war das nicht die Realität. Möglicherweise war es noch nicht einmal guter Journalismus. Aber es war das, was das ganze Land für die Wirklichkeit hielt.“ (zitiert nach Weischenberg 1997, S. 19) So begründet diese Einwände auch sind: Sie unterschätzen die Möglichkeiten der Simulation von Grenzsituationen. Die Roper-Frage liefert durchaus Hinweise auf den Stellenwert der Medien als Informationsquellen. Die Tatsache, dass das Medium Fernsehen Ereignisse visualisieren kann, verleiht ihm ein höheres Maß an Authentizität. Die Roper-Frage gibt aufgrund ihrer Konzeption Einblicke in den Stellenwert der Medien in modernen Gesellschaften. In dieser Hinsicht bleibt sie ein relevanter Indikator, der nicht notwendigerweise Artefakte produziert. Im Folgenden sollen zwei Studien beschrieben werden, die der Kritik an der Roper-Frage Rechnung trugen und unterschiedliche Operationalisierungen des Konzepts ‚relative Glaubwürdigkeit‘ vornahmen. Gantz wollte bspw. überprüfen, ob die jeweils verwandte Fragestellung einen Einfluss auf die den Medien zugeschriebene Glaubwürdigkeit hat. Er verglich das Fernsehen und die Tageszeitung hinsichtlich lokaler bzw. regionaler und nationaler Nachrichten. Die Antworten der Befragten variierten je nach Präzisierung der Fragestellung: Wurde nur davon gesprochen, dass unterschiedliche Nachrichten zu ein und demselben Ereignis präsentiert wurden, nannten 39,4% das Fernsehen und 35,9% die lokale Tageszeitung als das Medium, dem sie am ehesten glauben würden. Wenn dagegen ausdrücklich von einem nationalen Nachrichtenereignis gesprochen wurde, stieg der Wert für eine landesweite Nachrichtensendung auf 50,6%, der Wert für die lokale Tageszeitung sank auf 25,4%. Diese Differenz von 25 Prozentpunkten reduzierte sich, wenn die Glaubwürdigkeit einer Nachricht mit nationalem Bezug einer lokalen Nachrichtensendung oder der lokalen Tageszeitung zugeschrieben werden sollte. Hier erhöhte sich der Wert für die lokale Tageszeitung auf 32,3%, der Wert für die Fernsehsendung reduzierte sich auf 44,8%. Im Falle eines lokalen Nachrichtenereignisses verteilten sich die Prozentanteile ähnlich. Diese Untersuchung zeigte somit, dass insbesondere die Bezugnahme auf nationale Nachrichtenereignisse die relative Glaubwürdigkeit des Fernsehens deutlich werden lässt. Trotz unterschiedlicher geografischer Bezüge bleibt das Fernsehen gleichwohl der Tageszeitung immer überlegen (vgl. Gantz 1981, insb. S. 163). Der besondere Stellenwert des Fernsehens in den USA ist hierfür sicherlich mit ausschlaggebend.
52
Ehemaliger‚Anchorman‘ der CBS-Sendung „Evening News“. Siehe auch die Ausführungen in Kapitel 8 und Kapitel 11.
178
Die Glaubwürdigkeit der Medien
In einer amerikanischen Untersuchung von Gaziano und McGrath wurde ein mehrdimensionales Glaubwürdigkeitskonzept, das bezüglich seiner Zielsetzung der Hovland-Tradition zuzuordnen ist, mit einem Intermedia-Vergleich verknüpft. Im Auftrag der ‚American Society of Newspaper Editors‘ (ASNE) wurde die Konkurrenz zwischen dem Fernsehen und der Tageszeitung erneut thematisiert. Es ging sowohl um die Frage, welche Einzelaspekte den Faktor ‚Glaubwürdigkeit‘ konstituieren als auch darum, wie stark die Bevölkerung zwischen Nachrichten in Tageszeitungen und Nachrichten in anderen Medien zu differenzieren weiß. In einem ersten Schritt wurden daher unabhängig voneinander die Glaubwürdigkeit des Fernsehens und der Tageszeitung bestimmt. Als Grundlage dienten Gegensatzpaare, die sich den in Abbildung 6.3 bereits genannten Faktoren zuordnen lassen. Berücksichtigt wurden zum Beispiel Kriterien wie Sachlichkeit, Verzerrung, Zuverlässigkeit, Respekt vor dem Privatleben, Rücksichtnahme auf die Interessen der Leserschaft bzw. Zuschauer, Berücksichtigung des Gemeinschaftsgedankens, Trennung von Nachricht und Meinung, Qualität der Reporter usw. Aus den erhaltenen Ablehnungen und Zustimmungen wurde ein Glaubwürdigkeitswert pro Person und Medium ermittelt. Unterschieden wurden schließlich drei Gruppen mit niedriger, mittlerer und hoher Glaubwürdigkeit in Bezug auf das jeweilige Medium. Eine Vergleichbarkeit dieser Beurteilungen sollte dadurch gewährleistet werden, dass die Befragten im Falle der Tageszeitung und des Fernsehens an Nachrichtenanbieter denken sollten, die ihnen sehr vertraut sind. Die Verknüpfung dieser Skalierung mit der klassischen RoperFrage ergab das in Tabelle 6.1 dargestellte Ergebnis. Das Fernsehen wird erwartungsgemäß dort am häufigsten genannt, wo diesem Medium auch eine hohe Glaubwürdigkeit attestiert wird (61%). Hervorzuheben ist darüber hinaus ein weiterer Befund: Unabhängig von der Einschätzung der Glaubwürdigkeit der Tageszeitung wird auch dort das Fernsehen von jedem Zweiten als das im Zweifelsfalle glaubwürdigere Medium eingestuft. Der allgemeine Stellenwert des Fernsehens wird durch diese Ergebnisse nochmals unterstrichen. Eine häufige Begründung für diese Einschätzungen lautete: „Seeing is believing“ (Gaziano/McGrath 1986, S. 456). Ein Befragter äußerte sich wie folgt: „‚You can see their eyes, you can tell if they’re lying‘.“ (Gaziano/McGrath 1986, S. 456) Für jene Personen, die der Tageszeitung eine hohe Glaubwürdigkeit bescheinigten, war insbesondere maßgebend, dass dort mehr Raum für das Detail und mehr Zeit für die Vorbereitung einer Nachricht vorhanden sei. Die Ermittlung der relativen Glaubwürdigkeit reduzierte sich in dieser Untersuchung nicht auf die Verwendung der Standardfrage. Es wurden zahlreiche weitere Situationen simuliert, in denen wiederum der geografische Bezug variiert wurde. Nur in einem Fall konnte die Tageszeitung das Fernsehen vom ersten Rangplatz verdrängen.
Die Glaubwürdigkeit der Medien Tabelle 6.1
179
Relative Glaubwürdigkeit und medienspezifische Glaubwürdigkeit
Believability (Glaubwürdigkeit): If you got conflicting or different reports of the same news story from radio, television, magazines, and newspapers, which of the four versions would you be the most inclined to believe the one on radio or television or magazines or newspapers? (Roper-Frage) Medienvergleiche Glaubwürdigkeitsindex (%)
Glaubwürdigkeitsindex (%)
Tageszeitung
Fernsehen
niedrig
hoch
niedrig
hoch
Fernsehen
49
51
46
61
Tageszeitungen
15
34
23
23
Zeitschriften
22
10
19
11
Radio
14
5
12
6
Quelle: Gaziano/McGrath 1986, S. 457 Es ging um die relative Glaubwürdigkeit der Medien im Falle einer lokalen Kontroverse. Dieses Ergebnis darf nicht überraschen, da ein national orientiertes Medium in der Regel keine großen Anstrengungen auf die Darstellung solcher Ereignisse legen wird. Allgemein konnte auch hier festgestellt werden, dass die relative Glaubwürdigkeit des Fernsehens mit der geografischen Distanz der Ereignisse ansteigt. Wenn nationale und internationale Nachrichten angesprochen werden, ist der Vorsprung des Fernsehens deutlich erkennbar (vgl. Gaziano/MacGrath 1986, S. 457f.). Dieses Instrument und eine Modifikation durch Meyer sind von West einer kritischen Methodenprüfung unterzogen worden (zu den Ergebnissen siehe West 1994). Auf ein wichtiges Argument wurde von Newhagen und Nass hingewiesen: Während im Falle der Bewertung der Glaubwürdigkeit einer Zeitung eher die Institution im Vordergrund steht, wird im Falle des Fernsehens eher der Eindruck von ‚on-camera personalities‘ beurteilt (siehe die empirischen Ergebnisse in Newhagen/Nass 1989, insb. S. 281). Nach Auffassung von Bentele ist das Thema ‚Medienglaubwürdigkeit‘ „nur innerhalb der amerikanischen Kommunikationswissenschaft ein eigener Forschungsschwerpunkt geworden, im deutschen Bereich steht diese Forschung - trotz einiger neuerer Aktivitäten - noch am Anfang.“ (Bentele 1996, S. 381) Obwohl die Erforschung der Glaubwürdigkeit der Medien sehr rasch nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs begann, sind die diesbezüglichen Befunde in der Regel über eine Vielzahl von Untersuchungen verstreut und eher Nebenprodukt einer Analyse anderer Themenfelder gewesen. Langfristige Aussagen über die Entwicklung der Glaubwürdigkeit der tagesaktuellen Medien sind auf der Grundlage der Langzeitstudie ‚Mas-
180
Die Glaubwürdigkeit der Medien
senkommunikation‘, die seit 1964 in regelmäßigen Abständen durchgeführt wurde, möglich. Von Beginn an sind in diesem Kontext Fragen gestellt worden, die einen allgemeinen Eindruck von Medienbewertungen vermitteln können. Drei Langzeitbeobachtungen liegen diesbezüglich vor (vgl. Tabelle 6.2). Die tagesaktuellen Medien Fernsehen, Hörfunk und Tageszeitung sollten bspw. dahingehend bewertet werden, ob sie ‚wahrheitsgetreu berichten und die Dinge immer so wiedergeben, wie sie wirklich sind‘. Die Ergebnisse zeigen, dass in dieser Hinsicht alle Medien Vertrauenseinbußen registrieren mussten - am deutlichsten das Fernsehen, am wenigsten die Tageszeitung. Die Ergebnisse, die mit Hilfe einer Objektivitätsskala ermittelt wurden, decken sich mit dieser Entwicklung. Der Vorsprung des Fernsehens gegenüber der Tageszeitung ist geringer geworden; zum Teil war dieser auch der Neuheit des Mediums zuzuschreiben. Der insgesamt zu beobachtende Rückgang der Zustimmungen spiegelt die bereits angedeuteten Folgen der wachsenden Medienkonkurrenz wider. Tabelle 6.2
Glaubwürdigkeit und Objektivität der Medien, 1964-1995 (Ergebnis für alte Bundesländer) 53 Dimension „Objektivität“ Statement „berichtet wahrheitsgetreu“
„Relative Glaubwürdigkeit“
Skalenpunkte 9 u. 10 der „Objektivitätsskala“
Alternativentscheidung zwischen den Medien
Fernsehen
Hörfunk
Tageszeitung
Fernsehen
Hörfunk
Tageszeitung
1964
47
45
32
51
41
31
-
-
-
1970
56
47
23
59
38
20
75
13
12
1974
43
38
22
49
31
20
70
13
14
1980
41
32
21
41
28
19
68
14
15
1985
27
25
18
33
24
17
62
17
21
1990
28
24
19
33
23
18
63
15
22
1995
20
19
20
20
15
15
56
15
31
Fernsehen
Hörfunk
Tageszeitung
Basis: jeweils weitestes Publikum der Medien, also Personen, die nach eigenen Angaben das jeweilige Medium zumindest selten nutzen. Quelle: Berg/Kiefer 1996, S. 252 (Langzeitstudie ‚Massenkommunikation') Seit 1970 wird neben der Wahrheitstreue und der Objektivität auch die relative Glaubwürdigkeit ermittelt. Im Jahr 1970, als die Frage erstmals gestellt wurde, ent53
In der Langzeitstudie ‚Massenkommunikation’ wurden diese Zahlen nur bis 1995 in dieser Form erhoben.
Die Glaubwürdigkeit der Medien
181
schieden sich drei von vier Befragten für das Fernsehen. Dieser Wert wurde seitdem nicht mehr erreicht. Gleichwohl waren auch im Jahr 1995 noch 56% der Befragten der Auffassung, dass im Falle widersprüchlicher Meldungen zu ein und demselben Ereignis am ehesten dem Fernsehen zu glauben wäre. Die Beurteilung des Hörfunks bleibt über die Jahre hinweg nahezu konstant; die Tageszeitung hingegen konnte in den 1990er Jahren ihre relative Position verbessern (1985: 21%, 1995: 31%). %). Ein positiveres Bild für die Tageszeitung spiegeln die Befunde des Zeitungsmonitors wider. Danach belief sich im Jahr 2004 der Prozentsatz der Personen, die die Zeitung als glaubwürdigstes Medium wahrnehmen, auf 43%, gefolgt von dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen mit 27%. Das private Fernsehen rangiert mit sechs Prozent sogar noch hinter dem öffentlich-rechtlichen Hörfunk mit zehn Prozent (vgl. Eidebenz 2008, S. 136). Dieser Unterschied zwischen öffentlichen-rechtlichen und privaten Anbietern zeigte sich auch in der ARD-Trend-Befragung aus dem Jahr 2008 und in den Ergebnissen der ARD/ZDF-Langzeitstudie Massenkommunikation aus dem Jahr 2010. Die höchste Nachrichtenkompetenz wird dem ‚Ersten‘ unterstellt, unabhängig von Alter, Geschlecht oder politischem Interesse. Die Nachrichtenangebote werden als besonders objektiv und kompetent angesehen. Dies sind entscheidende Komponenten der Glaubwürdigkeitsbewertung des Nachrichtenangebotes. Bei der Frage nach demselben Ereignis in unterschiedlichen Nachrichtensendungen würden 44% der Befragten der ‚Tagesschau‘ am ehesten glauben, verglichen mit 15% für ‚RTL aktuell‘ (vgl. Zubayr/Geese 2009). Dem Internet kommt zwar eine immer bedeutendere Rolle zu, jedoch sind sich rund 90% der Befragten sicher, dass vor allem das Fernsehen auch in Zukunft nicht an Bedeutung verlieren wird (vgl. Ridder/Engel 2010a, S. 533). Im Vergleich wird nämlich das Internet immer noch als deutlich weniger glaubwürdig und kompetent eingeschätzt als Fernsehen, Radio oder Tageszeitungen. Nichtsdestotrotz macht es der Tageszeitung Konkurrenz, wenn es um deren Kernkompetenz des Informierens geht. Dieses Nutzungsmotiv wird von 97% bei der Zeitung und 91% für das Internet genannt. Bei dem Motiv ‚sich informieren‘ liegt die Tageszeitung mit 32% - sogar nur um drei Prozentpunkte vor dem Internert - auf dem ersten Platz (vgl. Ridder/Engel 2010b, S. 540ff.). Entsprechend lässt sich eine Art Transfereffekt zwischen Medienformaten feststellen: die vertrauensvolle Nutzung der Onlineangebote eines als glaubwürdig eingeschätzten klassischen Massenmediums. Hier findet mithin ein sich selbstverstärkender Prozess statt. Denn ohne ein gewisses Vertrauen in die neuen Medien würden diese kaum als Informationsquellen genutzt werden und durch die zunehmende Nutzung entsteht wiederum eine breitere Akzeptanz. Das Defizit neuer Medien bezüglich ihrer Glaubwürdigkeit dürfte also auch mit ihrer relativen Neuartigkeit und damit noch mangelnden Erfahrungen zusammenhängen (vgl. Rußmann 2007, S. 128ff.; Bentele/Seideglanz 2005, S. 89). Wiederum hebt der Zeitungsmonitor für das Jahr 2010 die Zeitungen zwar als die glaubwürdigsten Medien hervor, doch können Internetangebote in der jüngeren Generation einen wachsenden Zuspruch verzeichnen
182
Die Glaubwürdigkeit der Medien
(vgl. ZMG 2010, S. 36f.). Sie erhofft sich von der Internetnutzung vor allem Denkanstöße und eine allgemeine Informiertheit, um ‚mitreden‘ zu können (vgl. Ridder/Engel 2010b, S 541). Die Indikatoren dieser Glaubwürdigkeitsforschung blieben auch in der Bundesrepublik Deutschland nicht ohne Kritik. Schon Anfang der 1990er Jahre war diesbezüglich folgendes zu lesen: „Insgesamt bleibt wohl festzuhalten, daß global das Medium betreffende Abfragen von Meinungen und Einstellungen heute weniger denn je aussagefähig sind, weil sie letztendlich eine Saldogröße sehr unterschiedlicher Befunde darstellen. Man wird darauf, zumal in einer Trendstudie [...], sicher auch in Zukunft nicht verzichten können, aber ebenso wenig auf weiter differenzierende Instrumente.“ (Berg/Kiefer 1992, S. 256) Eine stärkere Einbindung der Vielfalt des Medienspektrums wird regelmäßig eingefordert. Dazu zählt auch eine Berücksichtigung des Nachrichtenspektrums, dem Ereignischarakter zugeschrieben wird54. Die Begründung für die Einstellung der Frage nach der Glaubwürdigkeit im Rahmen der ARD/ZDF-Langzeitstudie Massenkommunikation bezieht sich auch auf die zunehmende Differenzierung und den damit verbundenen Zweifel, ob eine generalisierende Einschätzung in dieser Form noch sinnvoll ist (vgl. Engel/Best 2010, S. 4). In den USA wird die Frage nach dem Vertrauen in die Medien jedoch auch weiterhin gestellt. Der Trend zeigt seit Jahren deutlich nach unten (vgl. Abbildung 6.6). Laut einer Gallup-Umfrage genießen Zeitungen und TV-Nachrichten momentan die gleiche Vertrauenswürdigkeit wie Banken. Wird die Frage allgemein nach ‚News Media‘ gestellt, sind es immerhin noch 45%, die großes Vertrauen in die Medien haben (vgl. Morales 2010). Die zunehmende Diversifizierung, aber auch gleichzeitige Kombination neuer Medienangebote erschwert derartige Aussagen zunehmend. Allerdings ist diese Problematik nicht ganz neu. Schon 1988 zeigte sich, dass die Glaubwürdigkeitswerte von Einzelmedien oder bestimmten Formaten den allgemeinen Trends zuwiderlaufen können (vgl. Bentele 1988). Es gilt auch zu berücksichtigen, dass viele Medien nicht isoliert von anderen Medien rezipiert werden, während andere ganz gezielt für bestimmte Themengebiete aufgesucht werden. Gerade im Bereich der aktuellsten Meldungen aus Politik, Wirtschaft und Weltgeschehen beginnt sich bspw. das Internet als spezifisches Informationsmedium zu etablieren (vgl. Rußmann 2007, S. 116). Es bleibt also zu fragen, was in Zukunft als Objekt der Glaubwürdigkeitszuschreibung dienen wird. Betrachtungen wie klassische Medien versus neue Medien oder einzelne Fernsehmoderatoren versus Fernsehsender stellen sicherlich ein zu grobes Raster dar.
54
Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 8 und Kapitel 11.
Die Glaubwürdigkeit der Medien Abbildung 6.5
183
AmerikasVertrauen in Zeitungen und TV-Nachrichten
Quelle: Morales 2010 Die neunte Welle der ‚Massenkommunikations‘-Studie (vgl. Reitze/Ridder 2006)55 hat die in Tabelle 6.2 zusammengestellten Indikatoren nicht mehr in dieser Form berücksichtigt. An deren Stelle ist ein neues Messinstrument getreten: der Imagevergleich tagesaktueller Medien. Erstmals wurde im Jahr 2000 auch das Internet berücksichtigt (für die USA siehe hierzu auch Flanagin/Metzger 2000). Die nachfolgenden Ergebnisse beziehen sich auf Gesamtdeutschland. Die Attribute ‚sachlich‘, ‚glaubwürdig‘ und ‚kompetent‘ verteilen sich danach wie folgt (vgl. Tabelle 6.3): Bezüglich aller hier betrachteten Vergleiche lautet die Rangordnung: Fernsehen, Tageszeitung, Hörfunk, Internet. Trotz einer Zunahme medienkritischer Debatten und der regelmäßigen Entlarvung von Fehlberichterstattungen bzw. Manipulationen ist diese hohe Zustimmung erstaunlich. Gleichzeitig wird deutlich, dass parallel zu einer Veralltäglichung der Internetnutzung die Zuschreibung von Sachlichkeit, Glaubwürdigkeit und Kompetenz angestiegen ist. Die Anschlussfrage aber muss lauten, auf welchen (konkreten) Erfahrungen diese Urteile basieren. Grundsätzlich gilt für alle Evaluationen dieser Art, dass aus mehr oder weniger heterogenen Beobachtungen eine generalisierende Schlussfolgerung gezogen wird. Eine zurückhaltende Einstufung solcher Befunde ist geboten, weil Rezeptions- und Wahrnehmungseffekte nicht unterschätzt werden sollten, zumindest im Falle der Bewertung bestimmter Medienprodukte. So sank die Glaubwürdigkeit einer Zeitung, wenn das Format vom herkömmlichen in ein Tabloid-Format geändert wurde (vgl. Grabe et al.
55
Diese Befragung fand erstmals nicht face-to-face, sondern telefonisch statt.
184
Die Glaubwürdigkeit der Medien
2003). Rössler und Ognianova überprüften Transfereffekte, indem sie einen identischen Nachrichtenbeitrag in unterschiedliche Web-Umgebungen platzierten. Dort, wo eine „journalistische Identität“ simuliert wurde (z. B. Angebot einer Tageszeitung oder eines Fernsehsenders), wurde auch mehr Glaubwürdigkeit vermutet (vgl. Rössler/Ognianova 1999, S. 115ff.). Diese Hinweise belegen die neuen Herausforderungen einer wachsenden Medienkonkurrenz und -differenzierung. Unter der Überschrift ‚Credibility for the 21st Century‘ plädieren Metzger et al. daher für eine integrierte Vorgehensweise, also für eine Berücksichtigung von Kommunikator (Source), Botschaft (Message) und Medienglaubwürdigkeit (Media Credibility) (vgl. Metzger et al. 2003). Anwendung findet dieser Ansatz unter anderem bei Untersuchungen von Glaubwürdigkeitseinschätzungen von Webinhalten (vgl. Metzger 2007), aber auch im Falle speziellerer Analysen, z. B., wie Jugendliche die Glaubwürdigkeit verschiedener Quellen und Inhalte in einer digitalen Medienumgebung wahrnehmen und erfahren (vgl. Metzger/Flanagin 2008). Tabelle 6.3
Images der Medien im Direktvergleich der Jahre 2000 und 200556 BRD gesamt, Pers. ab 14.J., trifft am ehesten/an zweiter Stelle zu auf..., in Prozent
sachlich glaubwürdig kompetent
Fernsehen 2000 2005 68 66 70 66 74 71
Zeitung 2000 2005 69 64 62 62 59 55
Radio 2000 45 53 44
2005 44 49 43
Internet 2000 2005 18 26 14 22 22 31
Basis: Alle Befragten, 2005: n=4500; 2000: n=5017; jeweils gewichtet.
Quelle: Eigene Erstellung in Anlehnung an Reitze/Ridder 2006, S. 76 Durch die neuen Medien entsteht vermehrt eine gänzlich andere Medienumgebung, in der einzelne Medien nicht mehr isoliert von anderen rezipiert werden. Nachrichten werden zunehmend in der Umgebung von weiteren Kommentaren, z. B. Weblogs, wahrgenommen. Dieser Diffusionsprozess ist das Ergebnis einer Mischung aus klassischem Journalismus, Kolumnen und Blogs, wobei die offensichtliche und absichtliche Darstellung der eigenen Meinung je nach Format zunimmt. Journalisten betreiben ihrerseits zunehmend eigene Blogs und die Blog-Betreiber wiederum bemühen sich um einen professionelleren Auftritt. So stellt sich immer mehr die Frage, inwieweit sich diese Entwicklungen auf die Glaubwürdigkeit der Medien, vor allem der klassischen Anbieter, auswirken. Gerade Journalisten befürchten einen 56
Im Rahmen der ARD/ZDF-Online Studie 2003 wurden sogenannte „Offliner“, also Personen, die zum Zeitpunkt der Befragung keine Online-Angebote nutzten, nach Imageaspekten tagesaktueller Medien befragt. Diese Ergebnisse lassen sich mit den in Tabelle 6.3 zusammengefassten Befunden sowohl aufgrund der besonderen Zielgruppe als auch auf Grund einer anderen Skalierungstechnik nicht vergleichen (vgl. Gerhards/Mende 2003, S. 360). Seit der ARD/ZDF-Offline-Studie 2004 werden die Imageaspekte der Medien im Vergleich jedoch nicht mehr erhoben (vgl. Gerhards/Mende 2004).
Die Glaubwürdigkeit der Medien
185
zunehmenden Qualitäts- und Vertrauensverlust in Meldungen durch die zunehmende Bedeutung der ‚unprofessionellen‘, neuen Informationsdienste. Psychologisch betrachtet hängt die Beurteilung von Objekten stark von den angebotenen bzw. verfügbaren Vergleichsstandards ab. Kontexteffekte spielen also eine entscheidende Rolle bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Nachrichten. Diese ist gerade bei der Wahrnehmung von Medieninhalten wie Nachrichten eng verbunden mit den Vorstellungen eines idealtypischen Journalismus. Dieser soll Kriterien wie fair, vollständig, genau, ausgewogen, vertrauenswürdig usw. erfüllen. Mit der zunehmenden Bedeutung des Internets muss jedoch ein Umdenken, gerade bezüglich der Vertrauenswürdigkeit von Quellen, stattfinden. Nachrichten können eben nicht mehr nur über klassische Zeitungen, sondern auch digital und vermehrt via Suchmaschinen bezogen werden. So zeigen sich Hinweise, dass die Darstellung einer Website teilweise größeren Einfluss auf die Beurteilung der Glaubwürdigkeit haben kann als die genaue Identifizierung der Quelle. Unterschiedliche Quellen werden darüber hinaus bewusst zusammengeführt, da die teilweise umfangreiche Zusammenstellung verschiedener Meldungen und Meinungen eben auch zu den typischen BloggerAktivitäten zählt. Interessant ist also eine Betrachtung der Besonderheiten der Rezeption von ‚klassischen‘ Nachrichtenmeldungen in der Umgebung eines Blogs. Dieser könnte als eine Art Vergleichsmaßstab oder Vergleichsumgebung dienen. Vor allem, wenn der Blog als kontrastreicher, salienter Vergleichsstandard dient. Durch eine stark voreingenommene, unhöfliche und damit unprofessionelle Art und Weise des Schreibens betont die Umgebung des Blogs über einen Kontrasteffekt die relative Neutralität und Ausgewogenheit - also die idealtypische Darbietungsform der Nachrichten. Deren Glaubwürdigkeit wird insofern sogar gesteigert. Stellt sich der Blog sachkompetent und neutral dar, zeigt sich dieser Effekt deutlich weniger bis gar nicht. Der Leser scheint die beiden Formate also aktiv miteinander zu vergleichen, wenn die klassischen Normen des Journalismus durch den Blogger verletzt werden. Zeitungsjournalisten brauchen folglich auch die zunehmende Bedeutung der Blogs und anderer neuer Medienformate im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit der eigenen Meldungen weniger zu fürchten. Im Grunde profitieren sie sogar von der relativen Hervorhebung ihrer Qualitäten. Zu berücksichtigen ist allerdings die Erfahrung der Rezipienten mit Blogs. Studien zeigten, dass Personen, die bisher keine politischen Blogs gelesen hatten, deren Glaubwürdigkeit generell niedrig einschätzten. Regelmäßige Blogleser hingegen schätzten die Glaubwürdigkeit dieses Formates verglichen mit traditionellen Nachrichtenquellen sogar höher ein. Zukünftige Studien sollten also die Einbindung der Nachrichten in andere Formate als Moderatorvariable berücksichtigen, da die Beurteilung der Glaubwürdigkeit stark von Kontexteffekten, z. B. der Möglichkeit des Vergleichens, abhängig sein kann. Im Zuge der neuen Entwicklungen in der Medienlandschaft wird dies offensichtlich an Bedeutung gewinnen (vgl. Thorson et al. 2010).
186
Die Glaubwürdigkeit der Medien
Einen Sonderfall stellen Geschehnisse dar, die die Routine von Nachrichtenproduktion und -rezeption durchbrechen. Die Berichterstattung über dramatische Unfälle und damit einhergehende Risiken stellt ein gutes Beispiel dar. In solchen Situationen wird eine andere Form von Orientierung dominant, die sich von den Gewohnheiten des Alltags deutlich unterscheidet. Am Beispiel der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl haben Peters und Hennen illustriert, dass die Widersprüchlichkeit der Meldungen stärker wahrgenommen wird und eine höhere Sensibilität gegenüber unterschiedlichen Kommunikationsquellen zur Folge hat (vgl. Peters/ Hennen 1990, S. 311). Zugleich tendierten jene, die sich durch eine eindeutige Position gegenüber der Kernenergie (positiv oder negativ) auszeichneten, dazu, eine starke Beeinflussung oder Manipulation anderer Personen zu vermuten. Dieses auch als ‚Third Person‘-Effekt bezeichnete Phänomen beschreibt die Tendenz, die Wirkung der Medienberichterstattung auf andere höher einzuschätzen als auf sich selbst (vgl. Peters/Hennen 1990, S. 309). Interessant ist auch in diesem Falle der Entdeckungszusammenhang, der wieder in die Anfänge der Persuasionsforschung zurückführt. Folgt man der Darstellung Davisons, dem die Formulierung dieser Hypothese zugeschrieben wird, dann war es ein befreundeter Historiker, der ihn auf ein Ereignis des Zweiten Weltkriegs aufmerksam machte. Die japanische Armee hatte über einer pazifischen Inselgruppe Propagandamaterial abgeworfen, um insbesondere die afro-amerikanischen Soldaten gegen die weißen Offiziere der US-Armee aufzuwiegeln. Auf den Flugzetteln wurde behauptet, dass die Japaner keinen Krieg gegen den schwarzen Mann führen wollten und es daher klüger wäre, sich mit den Japanern zu verbünden. Die militärische Führung der US-Armee reagierte auf diese Propagandaaktion mit einem Abzug der Einheit von einem strategisch wichtigen Stützpunkt, obwohl sich nachträglich herausstellte, dass auch die schwarzen Soldaten die Absichten der Japaner durchschaut hatten. Die militärische Führung überschätzte somit offensichtlich die Beeinflussbarkeit der Untergebenen. Davison konnte für dieses Phänomen zunächst keine Erklärung vorweisen, versuchte sich dem im historischen Fallbeispiel beschriebenen Prozess aber systematisch zu nähern. Seine eigenen Experimente führten schließlich zu der folgenden allgemeinen Annahme: „In its broadest formulation, this hypothesis predicts that people will tend to overestimate the influence that mass communications have on the attitudes and behavior of others.“ (Davison 1983, S. 3) Mittlerweile sind die dieser Hypothese zugrunde liegenden Vergleichsprozesse vielfach, insbesondere auch in methodischer Hinsicht, analysiert worden (siehe hierzu Davison 1996, Perloff 1993, 2010). Offensichtlich neigen Menschen dazu, Beeinflussbarkeit von sich zu weisen. Diese Selbsteinschätzung bewahrt aber nicht notwendigerweise vor Fehlbeurteilungen. Ob ‚fliegende Kühe‘, ‚Grubenhunde‘ oder wirkliche Desinformation - die Dauerpräsenz der Medien hat den Eindruck verstärkt, dass der Zweifel an der Wahrheit zum Alltag der Kommunikation gehört. Luhmann hat die Folgen dieses Unsicherheitsfak-
Die Glaubwürdigkeit der Medien
187
tors wie folgt beschrieben: „Wir wehren uns mit einem Manipulationsverdacht, der aber nicht zu nennenswerten Konsequenzen führt, da das den Massenmedien entnommene Wissen sich wie von selbst zu einem selbstverstärkenden Gefüge zusammenschließt. Man wird alles Wissen mit dem Vorzeichen des Bezweifelbaren versehen - und trotzdem darauf aufbauen, daran anschließen müssen.“ (Luhmann 1996, S. 9f.) Glaubwürdigkeit bleibt letztlich eine Frage des Vertrauens – für Kontrollen fehlt häufig die Zeit. Dieser Grundtatbestand wird durch den Wandel des Trägermediums wohl kaum außer Kraft gesetzt.
Hovland, Carl I. et al. (1953): Communication and Persuasion. Psychological Studies of Opinion Change. New Haven, London. Lowery, Shearon A.; DeFleur, Melvin L. (1995): Milestones in Mass Communication Research. Media Effects. 3rd edition. New York. Kapitel 7 und Kapitel 8. Wirth, Werner (1999): Methodologische und konzeptionelle Aspekte der Glaubwürdigkeitsforschung, in: Rössler, Patrick; Wirth, Werner (Hrsg.): Glaubwürdigkeit im Internet. Fragestellungen, Modelle, empirische Befunde. München, S. 47-66.
7 Die Agenda-Setting-Forschung. Hauptaussagen und Weiterentwicklungen
7.1 Vor und nach Chapel Hill: Der Beginn der Agenda-Setting-Forschung Die vorangegangenen Ausführungen haben verdeutlicht, dass die Vorstellung von begrenzten Medieneffekten vielfach Unterstützung fand und zu Revisionen bzw. Ergänzungen des Stimulus-Response-Modells führte. ‚Limited Effects‘ ist hierfür eine geeignete Charakterisierung. Eine wichtige Einschränkung aber ergibt sich, wenn die zeitliche Dimension von Wirkungen berücksichtigt wird. Alle bislang behandelten Forschungstraditionen enthalten Hinweise auf die Möglichkeiten der Medien, kurzfristige Einstellungs- und Verhaltensänderungen hervorzurufen. Von Bedeutung ist bspw., wem bestimmte Informationen zugeschrieben werden (Glaubwürdigkeit des Kommunikators bzw. der Informationsquelle), ob diese Informationen durch wichtige Personen aus der unmittelbaren Umgebung bestätigt werden (Bedeutung von Meinungsführern) und ob die jeweiligen Empfänger einer Information eine hohe bzw. niedrige Entscheidungssouveränität aufweisen. Wenn man sich entlang dieser Argumentationsebene bewegt, wird die Wirkung der vermittelten Inhalte vorwiegend an dem Ausmaß ihrer Bestätigung oder Zurückweisung gemessen. Da der Prozess der Massenkommunikation aber in der Regel durch Medienangebote eingeleitet wird, liegt hier ein im Vergleich zur interpersonalen Kommunikation wesentlich größerer Einfluss auf das als relevant erachtete Themenspektrum vor. In vielen Fällen kommt den Medienangeboten die Funktion zu, das vorhandene Spektrum an Meinungen und Einstellungen zu einer Vielzahl von Themen vorzugeben. Diesen Sachverhalt greift die Agenda-Setting-Forschung auf. Für diese Forschungsrichtung ist anfangs die Fokussierung auf diesen Aspekt der Medienwirkung kennzeichnend. Die Frage, welche Themen in das Wahrnehmungsfeld des Publikums Eingang finden, lenkte die Aufmerksamkeit auf die Thematisierungsfunktion der Medien. Mit dieser Thematisierungsfunktion geht eine Strukturierungsleistung einher, die die soziale Wirklichkeit in einer bestimmten Art und Weise erfahrbar macht. Diese Funktion und damit einhergehende Probleme hat insbesondere der amerikanische Publizist Walter Lippmann (1889-1974) analysiert, der immer wieder zitiert wird, wenn es um Hinweise auf den Ursprung dieser Fragestellung geht. Unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs hatte er im Jahr 1922 sein Buch ‚Public Opinion‘ veröffentlicht. Das erste Kapitel des Einleitungsteils wurde in der deutschen Übersetzung mit „Äußere Welt und innere Vorstellungen“ (Lippmann 1990 [zuerst 1922], S. 9) überschrieben. Das amerikanische Original ist in seiner Aussagekraft diesbezüglich weM. Jäckel, Medienwirkungen, DOI 10.1007/978-3-531-93191-3_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Die Agenda-Setting-Forschung
sentlich pointierter: „The World Outside and the Pictures in Our Heads.“ (zitiert nach McCombs/Reynolds 2002, S. 2) Lippmann beschrieb in sehr anschaulicher Form, dass Wirklichkeitsvorstellungen vom Zugang bzw. Nicht-Zugang zu bestimmten Informationen abhängig sein können. Zugleich vermittelte er unbequeme Einsichten in Routinen der Informationsverarbeitung. Medien erweitern den Blick auf die Welt, sie können aber nicht die Nähe der unmittelbaren Erfahrung ersetzen. Lippmann schrieb: „Die einzige Empfindung, die jemand anlässlich eines Ereignisses haben kann, das er nicht selbst miterlebt, ist die Empfindung, die von seiner geistigen Vorstellung dieses Ereignisses ausgeht.“ (Lippmann 1990 [zuerst 1922], S. 16) In allen Fällen, in denen Erfahrungen durch Medien vermittelt werden, erfolgt eine Konfrontation mit Pseudoumwelten (vgl. ebenda, S. 17). Darin enthalten ist sowohl ein Hinweis auf Manipulationsgefahren als auch die Einsicht in die Grenzen unmittelbarer Wahrnehmung. Die Presse war für Lippmann das Medium, anhand dessen er das fiktive Element der öffentlichen Meinung 57 zu bestimmen versuchte. Obwohl es somit um mehr als Thematisierungsfunktionen geht (siehe auch die Beispieltexte), sah man in dieser Analyse eine Perspektive angelegt, die die Wirkung der Medien auch auf dieser Ebene ansiedelte.
Unmittelbare und mittelbare Erfahrungen. Walter Lippmann „Denn die reale Umgebung ist insgesamt zu groß, zu komplex und auch zu fließend, um direkt erfaßt zu werden. Wir sind nicht so ausgerüstet, daß wir es mit so viel Subtilität, mit so großer Vielfalt, mit so vielen Verwandlungen und Kombinationen aufnehmen könnten. Obgleich wir in dieser Umwelt handeln müssen, müssen wir sie erst in einfacherem Modell rekonstruieren, ehe wir damit umgehen können. Um die Welt zu durchwandern, müssen die Menschen Karten von dieser Welt haben.“ (1990 [zuerst 1922], S. 18) „[...] wohin die Analyse der Natur der Nachrichten und die wirtschaftliche Basis des Journalismus eher zu zeigen scheinen, daß die Zeitungen notwendig und unvermeidlich den mangelhaften Aufbau der öffentlichen Meinung widerspiegeln und daher mehr oder weniger noch verstärken. Meine Schlußfolgerung besteht darin, daß die öffentlichen Meinungen für die Presse aufgebaut werden müssen, wenn sie gesund sein sollen, und nicht von der Presse, wie es heute vielfach der Fall ist.“ (1990 [zuerst 1922], S. 29) „[...] die Sprache ist keineswegs ein vollkommenes Transportmittel für Sinngehalte. Wörter werden wie Münzen hin und her gewendet, um heute diese 57
Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 9.
Die Agenda-Setting-Forschung
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Bilderfolge, morgen jene hervorzurufen. Es gibt keinerlei Gewißheit darüber, ob dasselbe Wort im Kopf des Lesers genau denselben Gedanken beschwören wird wie im Kopf des Reporters. Wenn jede Tatsache und jede Beziehung eine einmalige Bezeichnung trüge und wenn jedermann dasselbe darunter verstünde, wäre es theoretisch möglich, sich ohne Mißverständnisse miteinander zu verständigen.“ (1990 [zuerst 1922], S. 51)
Bleibt man bei einer engen Auslegung der Agenda-Setting-Hypothese, dann illustriert der häufig zitierte Satz von Bernard Cohen die Hauptannahme dieser Forschungstradition. Im Jahr 1963 stellte er bezüglich der Presse fest: „[...] the press is significantly more than a purveyor of information. It may not be successful much of the time in telling people what to think, but it is stunningly successful in telling its readers what to think about.“ (Cohen 1963, S. 13) Medien nehmen danach einen Einfluss auf die Inhalte, mit denen die Rezipienten sich auseinandersetzen. Deshalb wird im Zusammenhang mit Agenda-Setting auch von den kognitiven Effekten der Massenkommunikation gesprochen (vgl. Schenk 2007, S. 432). Ob sich die darin geäußerte Begrenzung des Medieneinflusses in der weiteren Forschung bestätigen ließ, wird am Ende dieses Kapitels noch einmal zu fragen sein. Nur selten konnte diese selbst auferlegte Begrenzung eingehalten werden. Dass die Medien mit ihren Angeboten den Rahmen bestimmen, innerhalb dessen sich zahlreiche Anschlusskommunikationen vollziehen, blieb unbestritten und die Fixierung auf politische Kommunikation in diesem Kontext dominierend. Das Interesse an diesen Medienangeboten umschrieben Lang und Lang im Jahr 1959 wie folgt: „All news that bears on political activity and beliefs - and not only campaign speeches and campaign propaganda - is somehow relevant to the vote. Not only during the campaign, but also in the periods between, the mass media provide perspectives, shape images of candidates and parties, help highlight issues around which a campaign will develop, and define the unique atmosphere and areas of sensitivity which mark any particular campaign.“ (Lang/Lang 1959, S. 226) Obwohl der Begriff ‚Agenda-Setting‘ erst Ende der 1960er Jahre eingeführt wurde, war diese theoretische Idee somit bereits mehrfach skizziert worden. Die empirische Umsetzung dieses Gedankens wurde insbesondere von Forschern mit einem journalistischen Hintergrund als Herausforderung angesehen (vgl. hierzu auch Eichhorn 1995, S. 12). Die sogenannte ‚Chapel Hill‘-Studie repräsentiert in diesem Zusammenhang eine kleine Pionierarbeit mit großer Wirkung. Auf welche Weise der Nachweis zu erbringen versucht wurde, dass die Rangordnung der Themen in den Medien einen Einfluss auf die Bedeutung der Themen in den Köpfen der Menschen hat, soll im Folgenden beschrieben werden. Unter ‚Agenda‘ kann dabei allgemein eine Liste von Themen, Streitfragen und Ereignissen verstanden werden, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in eine „hierarchy of importance“ (Rogers/Dearing 1988, S. 565) gebracht werden können.
192
Die Agenda-Setting-Forschung
Es kam also darauf an, die Agenda der Medien und die Agenda des Publikums miteinander zu vergleichen. In beiden Fällen ging es zunächst um die Ermittlung von Rangordnungen, deren Übereinstimmung im Anschluss überprüft werden musste. Wenn diese Rangordnungen kongruent sind, liegen Indizien dafür vor, dass die Massenmedien einen Beitrag zur Strukturierung der Realität für das Publikum leisten. Die Agenda-Setting-Hypothese behauptet nach der Pionierstudie von McCombs und Shaw: „While the mass media may have little influence on the direction or intensity of attitudes, it is hypothesized that the mass media set the agenda for each political campaign, influencing the salience of attitudes towards the political issues.“ (McCombs/Shaw 1972, S. 177) Um diesen Nachweis zu erbringen, wurden die Themenprioritäten einer Bevölkerungsgruppe untersucht, von der angenommen werden darf, dass sie sich besonders empfänglich für Medieneinflüsse zeigen wird: eine Gruppe noch unentschiedener bzw. unentschlossener Wähler in der Endphase des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfs des Jahres 1968. Dieser enge Zuschnitt auf eine kleine Gruppe von Wählern (die Stichprobengröße betrug n=100) bedarf einer ergänzenden Erläuterung: Die ‚Chapel Hill‘-Studie kann zwar keine Repräsentativität für sich in Anspruch nehmen. Die Konzentration auf unentschlossene Wähler und deren Agenda vermag jedoch Hinweise zu geben, ob für die Bevölkerung insgesamt ein Agenda-Setting-Effekt zu erwarten ist. Wenn selbst die noch unentschlossenen Wähler nicht auf die Rangordnung der Themen reagieren, dann werden jene, die in ihrer Wahlentscheidung ohnehin schon festgelegt sind, dieser Rangordnung noch weniger folgen. Die selektive Wahrnehmung und die Resistenz gegenüber verschiedenen Formen der Beeinflussung müssten in den Gruppen mit einer festen Parteipräferenz niedriger sein. Die ‚People’s Choice‘-Studie konnte diese Annahme bspw. unterstützen58. Der Nachweis für die Hypothese wird dort gesucht, wo die Wahrscheinlichkeit eines Medieneinflusses am größten ist. Die Untersuchung fand in dem Ort Chapel Hill in North Carolina statt. Die noch unentschlossenen Wähler hatte man über entsprechende Filterfragen identifiziert. Zur Ermittlung der Themenagenda des Publikums diente die folgende Frage: „What are you most concerned about these days? That is, regardless of what politicians say, what are the two or three main things which you think the government should concentrate on doing something about?“ (McCombs/Shaw 1972, S. 178) Die Inhaltsanalyse der politischen Informationsquellen konzentrierte sich auf die hauptsächlich in Anspruch genommenen Medienangebote. Die Aufmachung und Präsentation der Themen (‚major items‘ und ‚minor items‘) wurde berücksichtigt und mit der Themenagenda des Publikums verglichen.
58
Siehe hierzu die Ausführungen in Kapitel 5.
Die Agenda-Setting-Forschung Tabelle 7.1
193
Rangkorrelation von Medienagenda und Publikumsagenda, differenziert nach Bedeutung der Themen und Themenbezug. Wichtige Themen (Major Items)
Weniger wichtige Themen (Minor Items)
Alle Nachrichten (All News)
Nachrichten zur eigenen Partei (News Own Party)
Alle Nachrichten (All News)
Nachrichten zur eigenen Partei (News Own Party)
.89 .80 .89
.79 .40 .25
.97 .88 .78
.85 .98 -.53
Wähler (D) Wähler (R) Wähler (W)
.84 .59 .82
.74 .88 .76
.95 .84 .79
.83 .69 .00
Wähler (D) Wähler (R) Wähler (W)
.83 .50 .78
.83 .00 .80
.81 .57 .86
.71 .40 .76
.64 .66 .48
.73 .63 -.33
Genutztes Medium
New York Times Wähler (D) Wähler (R) Wähler (W) Durham Morning Herald
CBS
NBC Wähler (D) .57 .76 Wähler (R) .27 .13 Wähler (W) .84 .21 (D) = Demokraten; (R) = Republikaner; (W) = Kandidat Wallace
Quelle: McCombs/Shaw 1972, S. 181 Die Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Der statistische Zusammenhang zwischen der Medienagenda und der Publikumsagenda erwies sich in den meisten Fällen als sehr hoch. Da die Untersuchung in der Endphase eines Wahlkampfs stattfand, dürfte dieser Zusammenhang nicht weiter überraschend sein. Kognitive Effekte sind von größerer Bedeutung als die selektive Wahrnehmung. Obwohl die untersuchte Bevölkerungsgruppe noch unentschlossen hinsichtlich der Wahlentscheidung war, kannte man zumindest die Parteineigung. Wenn die Theorie der selektiven Wahrnehmung zutrifft, dann muss die Korre-
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Die Agenda-Setting-Forschung lation zwischen der Medienagenda und der Publikumsagenda im Falle der Nachrichten, die die bevorzugte Partei betreffen (‚news own party‘), größer sein als im Falle der Berücksichtigung aller Nachrichten (‚all news‘). Für eine fehlende Evidenz der Schutzschildfunktion der selektiven Wahrnehmung präsentieren McCombs und Shaw unter anderem die in der Tabelle zusammengefassten Befunde (vgl. Tabelle 7.1). Neben den Nachrichtensendungen der amerikanischen Fernsehanstalten CBS und NBC werden die überregionale Tageszeitung ‚New York Times‘ und eine Lokalzeitung berücksichtigt. In 18 von 24 Fällen ist die Korrelation zwischen der Themenrangordnung in den Medien und der Themenrangordnung des Wählers in der Kategorie ‚all news‘ höher als im Falle der Kategorie ‚news own party‘. Würden vor allem Artikel und Meldungen wahrgenommen, die die eigene Partei betreffen (selektive Wahrnehmung), hätten die Befunde in eine andere Richtung weisen müssen.
McCombs und Shaw bleiben in ihren Schlussfolgerungen zurückhaltend, sehen aber in den Resultaten einen Hinweis, der sich im Sinne der Agenda-Setting-Hypothese interpretieren lässt: „Yet the evidence in this study that voters tend to share the media’s composite definition of what is important strongly suggests the agenda-setting function of the mass media.“ (McCombs/Shaw 1972, S. 184) Die Interpretation der Befunde könnte noch zurückhaltender formuliert werden. Dafür spricht nicht so sehr die kleine Stichprobengröße, da es offensichtlich zunächst einmal um den Nachweis von Evidenzen, also naheliegenden Zusammenhängen, ging. Auch die überdurchschnittliche Aufmerksamkeit der Bevölkerung in der Endphase von Wahlkämpfen ist nicht das entscheidende Argument. Wichtiger ist Folgendes: Gerade die Korrelationskoeffizienten in den Spalten ‚news own party‘ sind häufig sehr hoch, so dass Zweifel an der Notwendigkeit der Konzentration auf eine Gruppe noch unentschlossener Wähler artikuliert werden müssen. Für den Fall, dass Unentschlossenheit mit einem sehr rationalen Informationsverhalten einhergeht, hätte in dieser Gruppe ein noch deutlicherer Agenda-Setting-Effekt erwartet werden müssen. Insgesamt aber wurde durch diese Untersuchung die Fragestellung definiert und ein Grundgerüst für die methodische Vorgehensweise präsentiert. Neun Jahre nach der Durchführung der ‚Chapel Hill‘-Studie konnten McCombs und Shaw bereits auf eine Vielzahl weiterer Studien zurückblicken und den Stellenwert der Agenda-Setting-Hypothese im Rahmen der Massenkommunikationsforschung genauer bestimmen. Es geht ihnen nicht um die Zurückweisung anderer Theorien, sondern um die Platzierung von Medieneffekten in einem mehrstufigen Wirkungsprozess, der insbesondere auch das Verhältnis von Medienaufmerksamkeit und öffentlicher Aufmerksamkeit (Politik, Bevölkerung) beachtet. Ein Systematisierungsvorschlag differenziert diesbezüglich ein Awareness-Modell, das die Medienwirkung auf der Ebene der Wahrnehmung lokalisiert und an unterschiedlichen Graden der Aufmerksamkeit festmacht. Diese Aufmerksamkeitsdifferenzen sind nicht
Die Agenda-Setting-Forschung
195
nur abhängig von Interesse und/oder Betroffenheit, sondern auch von dem Ausmaß der Hervorhebung des jeweiligen Themas. In jedem Falle wird angenommen, dass die Medienberichterstattung Einfluss auf die Beurteilung der Wichtigkeit von Themen nimmt (sogenanntes Salience-Modell). Damit zusammenhängend ist schließlich eine Hierarchisierung der relevanten Themen zu erwarten. Dieses Prioritäten-Modell geht von der Erwartung aus, dass Medienagenda und Publikumsagenda in einer engen inhaltlichen und somit auch statistischen Beziehung stehen. Agenda-Setting bedeutet demzufolge zunächst Thematisierung, aber zugleich auch Strukturierung von Themen (vgl. hierzu auch die Hinweise bei Schenk 2007, S. 449f.). Die Berichterstattung unterscheidet sich in Präsentation und Persistenz der Themen. Diese Gewichtung wird von den Rezipienten wahrgenommen und als Indikator für die gesellschaftliche Relevanz in die eigene Bewertung integriert (vgl. Rössler 2005, S. 11f.). Während sich ein Teil der bisherigen Forschung in der Regel direkt mit Fragen der Meinungs- oder Einstellungsänderung auseinandersetzte, wird mit dem Blick auf die Themenagenden die Ausgangsbasis potenzieller Veränderungen beschrieben. Medienwirkung wird im Sinne einer Aufeinanderfolge mehrerer Schritte verstanden. Lowery und DeFleur haben dies wie folgt beschrieben: „First, the media provoked among its audiences an awareness of the issues. Second, it provided a body of information to the members of that audience. Third, this information provided the basis for attitude formation or change on the part of those who acquired it. And fourth, the attitudes shaped behavior among those involved in the sequence.“ (Lowery/DeFleur 1995, S. 275) Auf der Basis von Sekundäranalysen hatte Funkhouser im Jahr 1973 einen Beitrag zu „The Issues of the Sixties“ vorgelegt. Diese Längsschnittbetrachtung führte drei Quellen zusammen und versuchte Faktoren zu benennen, die die öffentliche Meinung beeinflussen. Drei Indikatorenbündel werden kombiniert: 1) Ergebnisse zur sogenannten Gallup-Frage, die in regelmäßigen Abständen nach ‚the most important problem facing the nation‘ fragte und damit einen Einblick in die öffentliche Meinung vermittelt; 2) Ergebnisse von Inhaltsanalysen der Nachrichtenmagazine ‚Times‘, ‚Newsweek‘ und ‚U.S News and World Report‘; 3) Statistische Indikatoren zur Entwicklung gesellschaftlicher Phänomene. Für die USA konnte auf dieser Basis eine hohe Korrelation zwischen der Medienagenda und der Publikumsagenda nachgewiesen werden (vgl. Funkhouser 1973, S. 62ff.). Für McCombs ist insbesondere die geringe Korrelation mit den Indikatoren auffallend, die die Realität abzubilden versuchen, wie sie ist (z. B. Ausmaß der Kriminalität, Scheidungsraten usw.). Diese Realität scheint einen geringeren Einfluss auf die Publikumsagenda zu nehmen als die Medienagenda, die mit dieser Realität nicht immer übereinstimmt (vgl. McCombs/Reynolds 2002, S. 5f.). Wenngleich Funkhousers Analyse ebenfalls als explorative Studie bezeichnet wird, erfährt Lippmanns Auffassung über die Funktion der Medien durch diesen Befund ebenfalls Unterstützung. Die Frage, wie es zu der Entstehung bestimmter Medienagenden kommt, ist damit jedoch noch nicht
196
Die Agenda-Setting-Forschung
hinreichend beantwortet. Auf theoretischer Ebene lassen sich viele Zusammenhänge vorstellen (vgl. Eichhorn 1995, S. 27). In den meisten Fällen aber wird die Wahrscheinlichkeit, dass etwa die Publikumsagenda einen wirksamen Einfluss auf die Medienagenda nimmt, nicht bestätigt werden. Ist dies der Fall, so ist es Teilen des Publikums gelungen, ihre Interessen so zu artikulieren, dass ihnen ein Nachrichtenwert zugeschrieben wird. Dearing und Rogers unterscheiden drei Hauptagenden, die im Rahmen des Agenda-Setting-Prozesses wirksam werden können: ‚Media Agenda‘, ‚Public Agenda‘ und ‚Policy Agenda‘. Auf der Ebene der Messung gilt es dabei zu beachten, dass für jede Agenda Indikatoren vorhanden sind, die gleichwohl von unterschiedlicher Güte sind bzw. sein können:
Media Agenda: Grundlage der Messung sind inhaltsanalytische Verfahren, die insbesondere quantitative Aspekte der Berichterstattung erfassen. Anzahl und Umfang der Berichterstattung in Presse, Fernsehen oder Hörfunk sowie eine damit verbundene Strukturierung des Inhalts werden vorgenommen. Public Agenda: Welche Themen die Bevölkerung als wichtig betrachtet, wird in der Regel im Rahmen von Umfragen ermittelt. Die Gallup-Frage ermittelt bspw. die wichtigsten Probleme eines Landes und schließt daraus auf die relative Bedeutung der Thematik. Policy Agenda: Die Analyse von Parlamentsdebatten hinsichtlich Inhalt und Dauer, verabschiedete Gesetze und Budgetverteilungen sind nur einige Beispiele aus dem Indikatorenspektrum, das Schlussfolgerungen auf die politische Agenda gestattet. Zugleich ist die Messung dieser Agenda weniger standardisiert. Real-World-Indikatoren: Hier handelt es sich um Versuche der exakten Abbildung der Wirklichkeit. Das weite Feld der amtlichen Statistik sowie zahlreiche darüber hinaus gehende Berichtssysteme informieren über den Zustand der Umwelt, das Gesundheitsverhalten der Bevölkerung, das Ausmaß der Kriminalität, die wirtschaftliche Entwicklung usw.
Abbildung 7.1 fasst zusammen, wie diese Agenden beeinflusst werden und zusammenwirken können. Die Agenden beschreiben verschiedene Relevanzhierarchien. Mit anderen Worten: Welche Themen werden in den Medien, der Öffentlichkeit und in der Politik zu bestimmten Zeitpunkten als bedeutsam und wichtig erachtet? Decken sich diese Rangordnungen mit der Wichtigkeit, die diesen Phänomenen in der ‚real world‘ zukommt? Existiert eine Ungleichheit des Einflusses, die auf unterschiedliche Formen der politischen Partizipation und Artikulation zurückzuführen ist? Dies sind nur einige Fragen, die sich aus Abbildung 7.1 ableiten lassen. Die Querverbindungen zu anderen Forschungstraditionen und Disziplinen sind erkennbar. Das Thema, das die Agenda-Setting-Forschung selbst gesetzt hat, bietet insofern viele Anschlussmöglichkeiten. Im Folgenden soll daher die Agenda-Setting-
Die Agenda-Setting-Forschung
197
Forschung im engeren Sinne im Vordergrund stehen. Es sollen Ergebnisse und Probleme dieser Tradition zusammengefasst werden, die sich in erster Linie mit dem Zusammenhang von Medienagenda und Publikumsagenda auseinandergesetzt haben.
Gatekeeper, einflussreiche Medien und spektakuläre Nachrichtenereignisse
Abbildung 7.1
Media Agenda, Public Agenda und Policy Agenda
Persönliche Erfahrungen und interpersonale Kommunikation unter Eliten und anderen Personen
Media Agenda
Public Agenda
Policy Agenda
“Real World” Indikatoren zur Bedeutung des Agenda-Themas bzw. Ereignisses
Quelle: Eigene Erstellung in Anlehnung an Dearing/Rogers 1996, S. 5 7.2 Die Agenda-Setting-Forschung im Überblick: Methoden, Fragestellungen, Ergebnisse Seit der Pionierarbeit von McCombs und Shaw ist eine Vielzahl empirischer Studien erschienen, die sich der Agenda-Setting-Forschung verpflichtet fühlen. Jenseits der Orientierung an der Grundfragestellung sind diese Studien häufig unterschiedlich konzipiert, insbesondere im Hinblick auf die methodische Vorgehensweise. Im Folgenden soll dieser Aspekt im Vordergrund stehen. Querschnitt- oder Längsschnittanalyse: Selbst der kurzfristige Nachweis von Agenda-Setting-Effekten muss in Betracht ziehen, dass zwischen dem Ereignis, der
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Die Agenda-Setting-Forschung
Berichterstattung und der Wahrnehmung in der Bevölkerung eine zeitliche Differenz liegt. Die ‚Chapel Hill‘-Studie entsprach einer Querschnittsbefragung und konzentrierte sich auf die Ermittlung der Themenagenda zu einem bestimmten Zeitpunkt. Nur Plausibilitätsüberlegungen konnten rechtfertigen, dass der Einfluss der Medienagenda auf die Publikumsagenda größer ist als im umgekehrten Falle. Von einer Längsschnittanalyse wird gesprochen, wenn zu mehreren aufeinanderfolgenden Zeitpunkten eine Analyse mit gleichem oder ähnlichem thematischen Zuschnitt durchgeführt wird. Konzentriert sich die Inhaltsanalyse auf ein unverändertes Medienset (z. B. berücksichtigte Tageszeitungen) und die Befragung auf dieselben Personen, liegt der Sonderfall einer Panelanalyse vor. Da die Medienberichterstattung kontinuierlich erfolgt, können aber auch Längsschnittanalysen nur unter bestimmten Voraussetzungen einen Nullpunkt der Berichterstattung annehmen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn ein völlig neues Thema aufkommt, das weder die Politik, die Öffentlichkeit noch die Medien beschäftigt hat. Insbesondere unter solchen Bedingungen kann die Längsschnittbetrachtung Angaben zur Zeitspanne ermöglichen, die zwischen der Berichterstattung in den Medien und dem Eingang des Themas in die Publikumsagenda liegt. Gleichwohl bleiben diese zeitlichen Angaben sehr stark von dem methodischen Design abhängig. Die Heterogenität der Befunde ist in diesem Bereich auf die unterschiedlich großen Untersuchungsintervalle zurückzuführen. - Einfluss der Untersuchungsintervalle: Monatsweise durchgeführte Analysen schätzten das Intervall zwischen Berichterstattung (Medienagenda) und Resonanz in der Bevölkerung (Publikumsagenda) auf ein bis vier Monate; Studien, die über eine dichtere Datenreihe verfügten, auf ein bis zwei Wochen; experimentelle Untersuchungen (z. B. die Studien von Iyengar/Kinder 1987, siehe unten) glaubten AgendaSetting-Effekte bereits innerhalb weniger Tage nachweisen zu können. Eichhorn (1995, S. 29) unterscheidet bezüglich des Faktors ‚Zeit‘ drei Varianten, die hier durch Hinweise auf Beispiele ergänzt werden: 1) Kurzfristige Effekte liegen vor, wenn dem Thema im unmittelbaren Anschluss an die Berichterstattung eine hohe Bedeutung zugesprochen wird. Wenn bspw. eine wichtige politische Persönlichkeit zurücktritt, wird das Thema einige Tage hohe Aufmerksamkeit erfahren, aber bald auch eine Phase der Sättigung erreichen, in der die Themenstrukturierung erschöpft ist. 2) Langfristige Effekte liegen vor, wenn sich die Bedeutung des Themas erst nach einem gewissen Zeitraum erschließt und häufig erst nach Abschluss der Berichterstattung als wichtig eingeschätzt wird. Langwierige Verhandlungen über die Reform von Gesetzen können hier als Beispiel genannt werden. Nach der Verabschiedung wird die Relevanz erst erkannt. 3) Kumulative Effekte entstehen vor allem dann, wenn ein Thema über längere Zeit die Medienagenda bestimmt und von der Bevölkerung immer wieder wahrgenommen wird. Dies kann bspw. im Falle von Themen eintreten, die wiederholt auf die Tagesordnung gelangen, weil ähnliche oder
Die Agenda-Setting-Forschung
199
vergleichbare Ereignisse registriert werden (z. B. Umweltkatastrophen, militärische Konflikte). Der Grund für eine seltene Durchführung von Längsschnittanalysen liegt in dem erheblichen Arbeitsaufwand, der aus der kontinuierlichen Betrachtung der Medienangebote einerseits und der Bevölkerungsagenda andererseits resultiert. Häufig sind es auch Kostengründe, die solche Untersuchungen nicht realisierbar machen. Brosius und Kepplinger verglichen im Rahmen ihrer Studie die Nachrichtenangebote der großen westdeutschen Fernsehveranstalter und ergänzten diese Inhaltsanalyse durch Ergebnisse wöchentlich erfolgter Meinungsumfragen, die auch die Themenagenda des Publikums erfragten. Für Kernbereiche der Politik (Verteidigung, Umwelt, Arbeitsmarkt) konnten starke Agenda-Setting-Effekte nachgewiesen werden. Auch hier wird auf die Problematik der Erhebungszeitpunkte hingewiesen, zugleich konnte aber eine Variante des kumulativen Modells beobachtet werden. Nach den ermittelten Befunden gibt es Themen, zum Beispiel Arbeitslosigkeit, die eine hohe Reaktualisierungschance haben und auch dann eine hohe Priorität in der Publikumsagenda genießen, wenn die diesbezügliche Berichterstattung nachlässt. Im Falle des Themas ‚Umweltschutz‘ schwankte die Themenpriorität auf der Seite des Publikums in Abhängigkeit von der Behandlung des Themas in den Medien (vgl. zusammenfassend hierzu Brosius/Kepplinger 1990, insb. S. 193ff.). - Einfluss von Trigger Events: Die in Abbildung 7.1 angesprochenen spektakulären Ereignisse sind in besonderer Weise geeignet, ein öffentlich bislang kaum wahrgenommenes Thema sehr rasch zu einem zentralen Problem werden zu lassen. Dearing und Rogers zeigen auf, dass die Drogenproblematik zu einem Zeitpunkt die amerikanische Bevölkerung beschäftigte, als die Zahl der Drogentoten zurückging. Grund war ein prominentes Opfer, das auch auf politischer Ebene zur Einleitung von Kampagnen gegen den Drogenmissbrauch Anlass gab (zu weiteren Details siehe Dearing/Rogers 1996, S. 19ff.). Ähnlich verhielt es sich im Falle von AIDS. Diese Krankheit erreichte in den USA eine hohe Aufmerksamkeit, nachdem Personen des öffentlichen Lebens davon betroffen waren. Es sind somit häufig auslösende Ereignisse (trigger events) erforderlich, um zunächst die Aufmerksamkeit der Medien und sodann der nicht unmittelbar betroffenen Bevölkerung zu gewinnen. Personen, die das Problem aus ihrem näheren Umfeld kennen, bedürfen dieser ‚Hilfestellung‘ nicht. Häufig ist beobachtbar, dass durch ‚trigger events‘ ausgelöste Berichterstattungen von vergleichsweise kurzer Dauer sind, aber Nachhalleffekte in der Medienberichterstattung selbst hervorrufen. Berichte über Unfälle der unterschiedlichsten Art (Züge, Busse, Schiffe, Flugzeuge) bleiben selten ‚einmalig‘. Ein späteres, unter Umständen weniger dramatisches Ereignis verdankt seine Öffentlichkeit einem vorausgegangenen Fall. - Mikro- und Makroebene: Die meisten Agenda-Setting-Studien arbeiten mit aggregierten Daten, d.h. die auf der Grundlage von Inhaltsanalysen ermittelten Durch-
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Die Agenda-Setting-Forschung
schnittswerte bzw. Rangordnungen einerseits und die Rangordnung der Publikumsagenda andererseits gehen bereits in zusammengefasster Form in die Berechnung von Korrelationskoeffizienten ein. Diese Aggregatdaten beruhen zwar auf Individualdaten, der Vergleich der Rangordnungsprofile erfolgt jedoch nur selten auf dieser Mikroebene. Dies kann zu dem paradoxen Effekt führen, dass sich AgendaSetting-Phänomene auf der gesellschaftlichen Ebene beobachten lassen, aber auf der individuellen Ebene kaum in Erscheinung treten (vgl. hierzu auch Rössler 1997a, S. 119ff. und 132ff.). Diese Konstellation ist insbesondere zu erwarten, wenn die (statistische) Mischung aus in den Gesamt-Stichproben häufiger und seltener vorkommenden Themen in ‚Durchschnitts-Agenden‘ mündet und damit eine zentrale Tendenz erwartet wird, die für einzelne Rezipienten nicht notwendigerweise analog anzutreffen ist. Die hier skizzierte Problematik spiegelt sich auch in der sogenannten ‚Acapulco-Typology‘ wider. Der Name erklärt sich aus der ursprünglichen Präsentation dieser Typologie im Rahmen eines Kongresses der International Communication Association (ICA) in Acapulco, Mexiko. Diese unterscheidet zwei Dimensionen: Ermittlung der gesamten Agenda (oder mehrerer Themen) versus Fokussierung eines spezifischen Themas und die Messung der Reaktionen auf Aggregat- oder Individualebene (vgl. McCombs/Reynolds 2002, S. 6). - Cross-Lagged-Korrelationen: Mit der Untersuchungsanlage variieren die Möglichkeiten des Einsatzes statistischer Analyseverfahren. Im Falle der Querschnittsanalyse, die sich vorwiegend auf Aggregatdaten stützt, wird das Rangkorrelationsverfahren verwandt. Im Falle einer Panel-Analyse besteht sowohl die Möglichkeit der Berechnung von Korrelationskoeffizienten für einen Beobachtungszeitpunkt als auch die Ermittlung zeitversetzter Korrelationen. Hierfür steht der Begriff ‚CrossLagged‘-Korrelation. Anhand der nachfolgenden Darstellung sollen die Möglichkeiten dieses Verfahrens erläutert werden (vgl. Abbildung 7.2). Liegen Ergebnisse aus einem Medien- und einem Publikums-Panel vor, lassen sich im Falle von zwei Beobachtungszeitpunkten sechs verschiedene Korrelationskoeffizienten berechnen. Die Koeffizienten sind in Abbildung 7.2 mit den Buchstaben A bis F gekennzeichnet. A und B messen die Stabilität von Medien- und Publikumsagenden, C und D zeitpunktbezogene Agenda-Setting-Effekte, E und F zeitversetzte Effekte. Ist der Koeffizient F größer als der Koeffizient E, dann ist der Effekt der Medienagenda auf die Publikumsagenda größer als im umgekehrten Fall. Wie sich die Korrelationskoeffizienten C und D zueinander verhalten, ist von der Kontinuität der Berichterstattung und der interpersonalen Kommunikation abhängig. Variiert das Themenspektrum und dominieren kurzfristige Effekte, können beide Koeffizienten hoch sein. Wenn die Korrelation zwischen der Medienagenda zum Zeitpunkt 1 und der Medienagenda zum Zeitpunkt 2 hoch ist, ist allerdings zu erwarten, dass der Koeffizient D größer sein wird als der Koeffizient C. Dies würde einem kumulativen Effekt entsprechen, der aus einer regelmäßigen Berichterstattung über ein und dasselbe
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201
Thema resultiert. Diese Hinweise belegen, dass mit Hilfe dieses Verfahrens zusätzliche Kontrollmöglichkeiten hinsichtlich der beobachteten Wirkungsketten gegeben sind. Das Problem eines fehlenden Nullpunkts der Messung bleibt gleichwohl bestehen. Grundsätzlich lässt diese Vorgehensweise auch den Nachweis eines Effekts zu, der im Sinne lang anhaltender Wirkungen der Medienagenda interpretiert werden kann. Der Berichterstattung über den Reaktorunfall in Tschernobyl im Jahr 1986 folgte ein monatelanger Agenda-Setting-Effekt zu Gunsten des Themas ‚Energieversorgung‘, der auch nach einem Rückgang der Medienaufmerksamkeit fortbestand (vgl. Brosius/ Kepplinger 1990, S. 206f.). Abbildung 7.2
Medienagenda und Publikumsagenda. Das Verfahren der CrossLagged-Korrelation
ZEITPUNKT 1
ZEITPUNKT 2
A
Medienagenda 1
[...]
Medienagenda 2
F C
D E
Publikums -agenda 1
B
Publikumsagenda 2
Quelle: Eigene Erstellung Eine interessante Beobachtung hinsichtlich der Dynamik von Nachrichtenzyklen geht aus einer Analyse von Leskovic et al. (2009) hervor. Danach unterscheidet sich die ‚Lebenszeit‘ von Themen in klassischen Medienangeboten und Blogs59 signifi59
Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 12.
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kant. Wenn neue Meldungen in der sogenannten Blogosphäre auftauchen, werden sie dort über einen längeren Zeitraum erneut aufgegriffen und diskutiert. Von der Agenda einer Tageszeitung oder Nachrichtensendung werden sie bereits von neuen Nachrichten verdrängt. Die Nachrichtenberichterstattung nimmt in den klassischen Medien zwar einerseits schneller zu und erreicht letztlich größeren Umfang als in den Blogs, nimmt jedoch ebenso schnell wieder ab. Dagegen ist für Blogs ein langsamer Anstieg und ein noch langsamerer Rückgang typisch (vgl. Leskovec et al. 2009, S. 7f.). Die Nachrichten werden, bildlich gesprochen, also an die Blogs übergeben. Hier werden sie dann weiter und länger diskutiert bzw. verarbeitet, während die Nachrichten in den herkömmlichen Verbreitungsmedien sich bereits wieder anderen Ereignissen zuwenden. Die Anschlusskommunikation durch interpersonale Kommunikation findet also nicht mehr nur face-to-face, sondern auch blog-to-blog statt (vgl. zu weiteren Details Leskovec et al. 2009). - Die Einheit der Analyse und die Art der Präsentation: Medienagenda und Publikumsagenda werden in unterschiedlicher Detailliertheit ermittelt. Insofern unterscheiden sich die Studien hinsichtlich der Art und Weise, wie die Inhalte der Medien auf ein vertretbares Niveau reduziert und zusammengefasst werden (Inhaltsanalyse). Darüber hinaus sind Präsentationseffekte häufig schablonenhaft diskutiert worden. Die Pionierphase der Agenda-Setting-Forschung war insbesondere von der Idee inspiriert, dass die Presse in der Lage ist, die Agenda des Publikums zu bestimmen. Dem Fernsehen wurde noch in den 1970er Jahren eine nachrangige Funktion zugeschrieben, indem von einer ‚Spotlighting‘-Funktion gesprochen wurde (vgl. zusammenfassend Brosius 1994, S. 272ff.)60. Brosius weist zurecht darauf hin, dass neuere Studien zum einen starke Agenda-Setting-Effekte des Fernsehens nachgewiesen haben, zum anderen das veränderte Informationsverhalten der Bevölkerung eine Vorrangstellung der Presse nicht länger rechtfertigt. - Relevanz des Themas und Bezugsebene: Nicht nur die Regelmäßigkeit der Berichterstattung nimmt Einfluss auf die subjektiv empfundene Relevanz von Themen, sondern auch die Inhalte selbst, die in doppelter Hinsicht als nah oder fern erlebt werden können: persönliches Interesse bzw. Betroffenheit und geografische Distanz. An dieser Differenzierung orientiert sich auch die Unterscheidung unauffälliger bzw. alltäglicher und auffälliger bzw. ungewöhnlicher Ereignisse (‚unobtrusive‘ versus ‚obtrusive‘). Wird die geografische Dimension berücksichtigt, so dürfte im Falle einer Kombination herausragend/nah ein Agenda-Setting-Effekt der Medien von bereits vorliegenden direkten Beobachtungen bzw. Erfahrungen überlagert werden. Eichhorn bemerkt hierzu: „Je ‚näher‘ ein Thema einer Person durch direkte Beobachtung und direkte Betroffenheit wird, desto geringer der Einfluss der Medien 60
Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 11.
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[...]. Dagegen ersetzen die Medien bei einem ‚entfernteren‘ Thema die direkte Wahrnehmung und gewinnen auf diese Art und Weise größeren Einfluß.“ (Eichhorn 1995, S. 24) Mittelbarkeit geht dagegen häufig mit geografischer Distanz einher und stellt das prädestinierte Feld für Agenda-Setting-Effekte dar. Ein gutes Beispiel ist in diesem Zusammenhang die Einschätzung der Immigration als MIP (Most Important Problem) in US-amerikanischen Grenzstaaten und Nichtgrenzstaaten. Insgesamt zeigt sich deutlich, dass in den Grenzstaaten deutlich häufiger berichtet und die Problematik auch als wichtiger eingeschätzt wird. Kommt es allerdings zu einer starken Zunahme der Berichterstattung, wie bspw. infolge einer Reform, hat diese eine deutlich stärkere Wirkung auf die Public Agenda in den Nichtgrenzstaaten, als in den Grenzstaaten. Dies kann durch die Präsenz (Salience) der Thematik in den Nichtgrenzstaaten und durch das insgesamt schon erhöhte Grundaufmerksamkeitsniveau in den Grenzstaaten (Relevanz, Betroffenheit) erklärt werden. Der Aufstieg des Themas Immigration in der (überregionalen) Medienagenda kann also die regionalen Unterschiede, aufgrund von Betroffenheit und Auffälligkeit (Obtrusiveness), ausgleichen. Dieser starke Zusammenhang zwischen Media und Public Agenda bleibt darüber hinaus auch nach einer Kontrolle relevanter Real World-Indikatoren signifikant. Hierzu zählen bspw. der relative Ausländeranteil, Strukturwandel in der Immigrantenpopulation und Kriminalstatistiken (vgl. Dunaway et al. 2010).61 - Ermittlung der Publikumsagenda: Aus den Ergebnissen zur Meinungsführerforschung kann die Schlussfolgerung abgeleitet werden, dass der Informationsstand in der Bevölkerung unterschiedlich ist. Insofern wird im Rahmen der AgendaSetting-Forschung zwischen der Wahrnehmung (‚Awareness‘) und der Vertrautheit mit einem Thema (‚Salience‘) unterschieden. Die bereits erwähnte Gallup-Frage ermittelt die Thementransparenz zunächst auf einer allgemeinen Ebene (‚What are the most important problems facing our country today?‘). Ob und in welchem Ausmaß kognitive Effekte der Massenkommunikation vorliegen, wird unter anderem mittels Vorgabe unterschiedlicher Beurteilungsebenen ermittelt: 1) die individuelle Ebene: Messung der Themenkenntnis einzelner Personen. 2) die Kommunikationsebene: Überprüft wird, ob die individuelle Einschätzung sich mit den häufigsten Gesprächsthemen, die den Alltag dominieren, deckt. 3) die Erwartungsebene: Es soll antizipiert werden, welche Themen von anderen Personen bzw. Gruppen als wichtig eingestuft werden (vgl. zu den Methoden auch Schenk 2007, S. 453ff.). Somit eröffnen sich verschiedene Möglichkeiten, das Themenbewusstsein in der Bevölkerung abzufragen. Neben der klassischen Erhebungsweise wird auch immer häufiger gemeldet, was in den ‚social media‘ als MIP gehandelt wird. Dies kann bspw. über eine Beobachtung der sozialen Netzwerke oder über die Top Ten der „meist getwitterten Begriffe“ (Biermann 2010) erfolgen. Die jeweils ermittelte Themen61
vgl. hierzu auch die Ausführungen zu Naturkatastrophen und Spendenbereitschaft in Kapitel 8.
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transparenz korreliert mit weiteren Merkmalen der Rezipienten, zum Beispiel: Orientierungsbedürfnis (‚need for orientation‘), politisches Interesse, Kommunikationsbereitschaft im Allgemeinen. Auch hier werden Parallelen zur Meinungsführertheorie erkennbar. Bei der Erfassung der Thematisierungseffekte auf der individuellen Ebene stellen diese Moderatorvariablen eine methodische Herausforderung dar. Die Media Agenda somit als wirklich ausschlaggebend für die konkrete persönliche Themengewichtung zu betrachten, ist eine sehr voraussetzungsvolle Annahme (vgl. Rössler 2005, S. 12). Die Agenda-Setting-Forschung lässt sich mithin dadurch kennzeichnen, dass das ‚What to think about‘ eine differenzierte Betrachtung erfahren hat. Die Wirkung von Medienangeboten lässt sich mit dem Hinweis auf Wahrnehmung und Aufmerksamkeit nicht erschöpfend beschreiben. Brosius hat vorgeschlagen, Agenda-Setting als eine erste Stufe in mehrstufigen Medienwirkungsketten zu betrachten. Diese Empfehlung deckt sich mit den Vorstellungen der Pioniere dieser Forschungsrichtung. Die Wirkungskette beginnt mit Wahrnehmungen und Gewichtungen von Themen und endet unter Umständen mit Einstellungs- und Verhaltensänderungen (vgl. Brosius 1994, S. 280). Auch Brettschneider kommt im Rahmen eines Forschungsüberblicks zu dem Ergebnis: „Massenmedien können [...], indem sie beeinflussen, worüber wir nachdenken, zumindest in bestimmten Situationen auch beeinflussen, was wir denken.“ (Brettschneider 1994, S. 226) Insofern nehmen Appelle zu, die anstelle der Konkurrenz verschiedener Perspektiven eine sinnvolle Kombination von Forschungstraditionen favorisieren. Bevor auf eine Weiterentwicklung der Agenda-Setting-Hypothese eingegangen wird, soll zunächst eine empirische Studie präsentiert werden, die zwar das wichtige Kriterium der Längsschnittanalyse nicht erfüllt, ansonsten jedoch eine sehr differenzierte methodische Vorgehensweise praktiziert hat. Erbring, Goldenberg und Miller beschäftigten sich in ihrer Untersuchung ‚Front-Page News and Real-World Cues: A New Look at Agenda-Setting by the Media‘ mit der Frage, welchen Einfluss die Massenmedien auf die Wahrnehmung und Beurteilung bestimmter Probleme haben. Die Berichterstattung zu einem Thema wird zunächst als ein auslösender Stimulus betrachtet, aber durch weitere Indikatoren ergänzt, um die Wirkung angemessen abschätzen zu können. In der Studie standen drei Datenquellen zur Verfügung, die individuenbezogen zusammengeführt werden konnten:
Ergebnisse einer Umfrage aus dem Jahr 1974 (‚National Election Study‘): In dieser Umfrage wurde mit der klassischen Agenda-Setting-Frage (GallupFrage) gearbeitet. Analyse von Tageszeitungen in den Erhebungsgebieten der Umfrage (Titelseiten von 94 Tageszeitungen): Die Auswahl der Tageszeitungen erfolgte unter Berücksichtigung des Informationsverhaltens der Befragten. Um einen Agenda-
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Setting-Effekt ermitteln zu können, betrachtete man auch die Berichterstattung im Vorfeld der Befragung. Etwa 8.900 Artikel (‚Stories‘) wurden erfasst. Statistische Indikatoren (Kontextdaten) zu den Gebieten, in denen die Umfrage stattfand (z. B. Arbeitslosenquote, Kriminalitätsrate).
Die Autoren verfügten somit über ähnliche Indikatoren wie Funkhouser zu Beginn der 1970er Jahre. Dieses umfangreiche Forschungsprojekt vermittelte insofern einen ‚new look‘, als es auf Interaktionseffekte zwischen der Berichterstattung in den Medien und einer diesbezüglichen Empfänglichkeit der Bevölkerung hinwies. Wenn das Medienthema auch unmittelbar erfahrbar war, verstärkten die Medien eine bereits vorhandene Aufmerksamkeit gegenüber dem Problem; Arbeitslosigkeit ist als Beispiel zu nennen. Daneben konnten Themen von allgemeinerem Interesse identifiziert werden, die solche Effekte nicht auslösten. Nach Erbring et al. ist zum Beispiel das Thema ‚Vertrauen in die Regierung‘ ein genuines Medienthema. Möglichkeiten der direkten Beobachtung und Wahrnehmbarkeit fehlen weitgehend. Man ist auf die Berichterstattung in den Medien angewiesen (vgl. Erbring et al. 1980, insb. S. 31ff.). Dieser Befund bestätigt die schon angedeutete Wechselwirkung zwischen der Nähe bzw. Distanz und Mittelbarkeit bzw. Unmittelbarkeit des Themas. Nur dann, wenn eine überdurchschnittliche Mediennutzung vorliegt, kann eine fehlende Betroffenheit durch die Medienberichterstattung kompensiert werden. Schenk spricht in diesem Zusammenhang von Nutzungswirkungen (vgl. Schenk 2007, S. 507). Eine Längsschnittanalyse, die sowohl inhaltlich interessante Ergebnisse als auch zentrale methodische Probleme verdeutlicht, legte McCombs gemeinsam mit Zhu vor. Betrachtet wird der Zeitraum von 1954 bis 1994 für die USA. Ausgangspunkt dieser Longitudinalstudie sind mehrere Überlegungen, die in drei Hypothesen zusammengefasst werden. Diese sollen an dieser Stelle in einer etwas allgemeineren Form Erwähnung finden: 1) Aufgrund eines allgemeinen Anstiegs des Bildungsniveaus wird auch ein Anstieg der ‚Public Agenda‘ erwartet. Gemeint ist damit eine Zunahme der als relevant eingestuften Themen zu einem bestimmten Zeitpunkt (‚issues‘ im quantitativen Sinne, also: Wie viele Themen werden genannt?). 2) Es wird des Weiteren vermutet, dass sich das Themenspektrum insgesamt ausdifferenziert hat und die Wahrscheinlichkeit der Identifizierung weniger ‚major issues‘ zurückgeht. 3) Die Zeit, die ein bestimmtes Thema auf der ‚Public Agenda‘ verweilt, verkürzt sich im betrachteten Zeitraum. Die Überprüfung dieser Hypothesen erfordert methodische Sorgfalt einerseits und theoretische Festlegungen andererseits: Die Gallup-Frage „What do you think is the most important problem facing this country today?“ wurde seit 1939 kontinuierlich eingesetzt, allerdings basierte die Stichprobenziehung anfänglich auf einem Quotenverfahren, das zu Verzerrungen führte (weitere Einzelheiten bei McCombs/Zhu 1995, S. 499). Daher beginnt die betrachtete Zeitreihe in den 1950er Jahren. Alle Hypothesen erfordern eine Antwort auf die Frage: „What is an issue?“ Je differenzierter die Themenliste, desto wahrscheinli-
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cher wird insbesondere eine Bestätigung von Hypothese 2 und Hypothese 3. Die Themenliste umfasste 179 Kategorien, die 18 Hauptkategorien zugeordnet wurden. Diese waren dann Basis der Längsschnittbetrachtung. Die Oberkategorie „Money“ umfasste bspw. Einzelthemen wie „Food prices“, „Savings and Loans“ oder „Gasoline Price“ (vgl. ebenda, S. 518). Schließlich musste ein Schwellenwert festgelegt werden, der überschritten sein musste, um ein Thema als Teil der ‚Public Agenda‘ zu betrachten. In Anlehnung an eine Untersuchung von Neuman (1990, S. 169, Table 1) wurden alle Themen beachtet, die in den Umfragen mehr als zehn Prozent der Nennungen erhielten. Das zentrale Ergebnis dieser Untersuchung lautete: Während sich kein signifikanter Anstieg der Summe als relevant erachteter Themen zeigt, nimmt die Varianz der Themen zu, insbesondere aber steigt der Themenwechsel im Zeitablauf an. Der Zeitraum, in dem ein Thema die öffentliche Agenda dominiert, verkürzt sich. McCombs und Zhu reflektieren ihre Ergebnisse kritisch und gelangen zu der Schlussfolgerung: „The public agenda has been transformed from an era where one or two overriding issues dominated to the current stage where many voices compete for attention. This issue competition, in the absence of significant expansion of carrying capacity, leads to a faster rate of issue turnover on the public agenda.“ (1995, S. 517) 7.3 Der Priming-Effekt McCombs und Zhu beenden ihren Beitrag mit dem Hinweis, dass Fragen der ‚issue volatility‘ angesichts einer zu erwartenden TV-Kanalkapazität von über 500 die Agenda Setting-Forschung vor neue methodische Probleme stellen werde (vgl. ebenda, S. 518). Jedenfalls dürfte es schwierig werden, den Agenda-Setting-Effekt nur auf der kognitiven Ebene zu verankern. In der englischsprachigen Literatur hat sich daher die Unterscheidung von ‚First Level‘ und ‚Second Level‘ Agenda-Setting durchgesetzt. Ersteres bezieht sich auf die Objekte und Inhalte. Hier stellt sich die Frage nach dem Einfluss der Themengewichtung und -salienz. Letzteres fokussiert auf den Einfluss konkreter Attribute und Eigenschaften der Objekte oder Personen. Interessant ist hier vor allem die Art und Weise, wie diese präsentiert werden (vgl. Wu/Coleman 2009; Shah et al. 2009). Neben der Vielfaltsproblematik bleibt die ebenfalls von McCombs angedeutete Mehrstufigkeit und die von Brosius bezeichnete Kettenwirkung erklärungsbedürftig. Weaver hat Letzteres am Beispiel der politischen Kommunikation wie folgt erläutert: „For voters with a high need for orientation about politics, mass media do more than merely reinforce. In fact, mass media may teach these voters the issues and topics to use in evaluating certain candidates and parties.“ (Weaver 1977, S. 117) Der Begriff ‚Priming‘ nimmt auf diese Feststellung Bezug und will illustrieren, dass etwas an die erste Stelle gerückt wird und dadurch eine besondere Wichtigkeit
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erfährt. Es handelt sich mithin um eine unbewusste Aktivierung von Denkstrukturen. Über diese Voraktivierung werden entsprechende Schemata leichter zugänglich. Wird bestimmten Ereignissen bzw. Themen eine hohe Medienpriorität zuteil, resultiert daraus in der Summe für die Bevölkerung ein Bewertungsraster mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Iyengar und Kinder haben diesen Effekt experimentell überprüft. Der Grundgedanke nimmt Bezug auf kognitionspsychologische Erkenntnisse, wonach zur Beurteilung von Sachverhalten oder Personen nicht alle verfügbaren Informationen herangezogen werden, sondern vor allem solche, die gerade verfügbar sind. Diese Verfügbarkeit kann durch die Berichterstattung der Medien beeinflusst werden. Dominieren dort bspw. wirtschaftspolitische Themen, werden Bewertungen von Politikern in stärkerem Maße unter Berücksichtigung dieser Informationsangebote erfolgen. Diese Annahme impliziert, dass die Medien zugleich die Bewertungsmaßstäbe bzw. die Grundlagen von Bewertungen verändern können, indem sie von sich aus die Themenschwerpunkte variieren. Diese theoretischen Voraussetzungen bilden die Grundlage für empirische Untersuchungen, in denen systematische Manipulationen der Bewertungsgrundlagen vorgenommen werden. Stichwortartig lässt sich die Vorgehensweise wie folgt skizzieren: Nach dem Zufallsverfahren werden Experimental- und Kontrollgruppen gebildet, denen Nachrichtensendungen präsentiert werden. Die Inhalte selbst werden von den Versuchsleitern nicht manipuliert, sondern nur die Länge bzw. die Anzahl der Beiträge zu bestimmten Themen. Eine Gruppe sieht zum Beispiel nur Nachrichtensendungen mit Schwerpunkten auf dem Gebiet ‚Inflationsbekämpfung‘; eine andere Gruppe sieht Nachrichtenbeiträge mit einem Fokus auf sicherheitspolitischen Aspekten. Die Versuchsteilnehmer werden im Anschluss an die Rezeption der Nachrichtensendungen darum gebeten, sowohl die spezifische Kompetenz von bestimmten Politikern bezüglich einzelner Politikbereiche als auch die generelle Kompetenz von Politikern einzuschätzen. In der Regel wurden den Versuchsteilnehmern mehrere Filme gezeigt, so dass sich der gesamte Versuch häufig über eine Woche erstreckte. 24 Stunden nach dem Sehen des letzten Nachrichtenfilms fanden die Nachhermessungen statt. Je höher die Korrelation zwischen einer spezifischen Beurteilung (‚problem performance‘) und einer allgemeinen Beurteilung (‚overall performance‘) ist, desto stärker geht das spezifische Urteil in die Gesamtbewertung von Personen oder Sachverhalten ein. Vergleiche dieses Zusammenhangs zwischen Experimental- und Kontrollgruppe werden im Falle einer positiven Differenz als ‚Priming-Effekt‘ bezeichnet (vgl. Iyengar/Kinder 1987, S. 65ff.). Diese Vorgehensweise soll an einem Beispiel erläutert werden, das Ergebnisse mehrerer Experimentalreihen zusammenfasst. Zu bewerten war jeweils die Kompetenz des amerikanischen Präsidenten (vgl. Tabelle 7.2). Der Inhalt von Tabelle 7.2 soll in Ergänzung zu dem angefügten Originalkommentar kurz erläutert werden: Im Rahmen von Experiment 1 wurden der Experimentalgruppe Nachrichtensendungen präsentiert, in denen insbesondere ver-
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teidigungspolitische Themen behandelt wurden. Die Effekte einer systematischen Manipulation lassen sich in der Spalte ‚TV Coverage‘ ablesen. Der Koeffizient .62 ist wie folgt zu lesen: Wenn die spezifische Bewertung des amerikanischen Präsidenten auf einer vorgegebenen Skala um einen Skalenpunkt ansteigt, dann nimmt die Gesamtbewertung (‚overall performance‘) um den Wert 0,62 zu. Ein Wert von 1 würde bedeuten, dass eine perfekte positive Korrelation zwischen der spezifischen Bewertung und der allgemeinen Bewertung vorliegt. Die Differenz zwischen der Experimentalgruppe (.62) und der Kontrollgruppe (.27) ist signifikant und wird im Sinne des ‚Priming-Effekts‘ interpretiert. In einer weiteren Versuchsreihe wurde sowohl mit einem verteidigungspolitischen Thema als auch mit dem Thema ‚Inflation‘ operiert. Auch hier wurden ‚Priming-Effekte‘ beobachtet. Bezüglich des Themas ‚unemployment‘ ist darauf hinzuweisen, dass innerhalb der Kontrollgruppe kein nennenswerter Zusammenhang zwischen den gesehenen Inhalten und den sich daran anschließenden Bewertungen zu erkennen war. Schließlich zeigt Experiment 9, dass im Falle des Themas ‚Arbeitslosigkeit‘ kein ‚Priming-Effekt‘ erzeugt werden konnte. Iyengar und Kinder begründen diese Ausnahme damit, dass zum Zeitpunkt der Durchführung dieses Experiments in Amerika eine tiefe Rezession herrschte und eine experimentelle Manipulation nicht zu einer Neuordnung von Bewertungsmaßstäben führte. Offensichtlich waren die Erfahrungen in der ‚real world‘ bereits so offensichtlich, dass experimentell keine weitere Verstärkung erzielt werden konnte. Für Iyengar und Kinder unterstützen diese Experimentalbefunde die Annahme, dass Fernsehnachrichten in der Lage sind, die Bewertungsstandards von Zuschauern zu verändern. Die formale Bildung und das politische Involvement konnten ‚Priming-Effekte‘ kaum verhindern, die Parteiidentifikation erwies sich hingegen als eine intervenierende Variable. Versuchsteilnehmer, die sich mit der Demokratischen Partei identifizierten, zeigten Reaktionen im Sinne des ‚Priming-Effekts‘ insbesondere in den Bereichen Umwelt und Bürgerrechte, Anhänger der Republikanischen Partei in den Bereichen Inflation, Rüstungskontrolle und Verteidigung. Prädispositionen wirken in diesem Sinne verstärkend. Warum aber werden im Falle des ‚Priming‘ die ansonsten häufig trennscharfen Variablen ‚Bildung‘ und ‚politisches Interesse‘ zu Faktoren, die letztlich nicht differenzierend wirken? Die Antwort von Iyengar und Kinder ist zweistufig angelegt. Während Agenda-Setting die Frage betrifft, ob und inwieweit Medienangebote in der Lage sind, die Aufmerksamkeit der Leser, Hörer oder Zuschauer auf bestimmte Nachrichten zu lenken (‚awareness‘), thematisiert ‚Priming‘ einen weiteren Schritt. Bezogen auf den Bereich der Fernsehnachrichten werden sich die politisch involvierten Zuschauer weniger von den Schwerpunktsetzungen der jeweiligen Fernsehnachrichtensendung beeinflussen lassen. Misst man nur diesen Effekt, werden eine hohe formale Bildung und ein überdurchschnittliches politisches Interesse mit einer geringen Beeinflussbarkeit einhergehen. Werden aber politisch involvierte Personen darum gebeten, die
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gesehenen Inhalte als Grundlage der Beurteilung von Personen oder Sachverhalten heranzuziehen, dominiert deren Neigung, Kompetenzbelange besonders herauszustellen. Daraus folgern Iyengar und Kinder: „In short, the involved tend to be less susceptible to priming because they are less likely to be swayed by the day-to-day focus of television news, and more susceptible to priming by virtue of their greater inclination toward performance-based evaluation. Because involvement cuts both ways, the attentive and the disengaged end up equally - and acutely - vulnerable to priming.“ (Iyengar/Kinder 1987, S. 96) Tabelle 7.2
Priming-Effekte im Falle der Bewertung des amerikanischen Präsidenten
Experiment
Problem
Keine TVHervorhebung (Baseline)
TVHervorhebung (Primed)
Differenz: Primed Baseline
1
Verteidigung
.27
.62
.35***
2
Verteidigung
.26
.72
.46***
2
Inflation
-.01
.37
.38**
9
Arbeitslosigkeit
.69
.73
.04*
* p < .25; ** p < .05; *** p < .01 Erläuterungen im Original zu Experiment 1: „Consider for example the findings from experiment 1. Among participants in experiment 1 whose newscasts contained no stories about defense a one point improvement in ratings of Carter’s handling of defense (between fair and good, for example) was associated with about a one-quarter point (.27: the baseline condition) improvement in evaluations of his general job performance. Among viewers exposed to defense stories, in contrast, the impact of ratings of the president’s performance on defense was more than twice as great. For viewers who were primed with defense, a one point improvement in their assessment of Carter’s performance on defense produced nearly a two-thirds of a point improvement in their evaluations of his general job performance (.62: the primed condition).“ (Iyengar/Kinder 1987, S. 66)
Quelle: Iyengar/Kinder 1987, S. 67 Der von Iyengar und Kinder analysierte Grundgedanke lässt sich auch auf den Alltag der Nachrichtenpräsentation und -rezeption übertragen. Die kontinuierliche Beobachtung der Medienberichterstattung und der Bevölkerungsmeinung kann im Sinne eines permanent stattfindenden natürlichen Experiments interpretiert werden. Seit 1987 stellt der sogenannte ‚Media Monitor‘ 62 in den Vereinigten Staaten Zeitreihen zu verschiedenen Fragestellungen bereit. So kann man bspw. den Anteil posi62
Eine solche Form der Dauerbeobachtung der Medienberichterstattung ist auch in Deutschland eingerichtet worden. Für entsprechende Medienanalysen des Medien Tenor-Institut siehe die Informationen unter www.medien-tenor.de.
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tiver Aussagen über den amerikanischen Präsidenten in den Abendnachrichten von CBS, NBC und ABC mit Ergebnissen aus Meinungsumfragen zusammenführen, die die Zufriedenheit mit der Amtsführung des amerikanischen Präsidenten ermitteln. Auf diesem Weg erhält man erste Hinweise zu der Frage, wie sehr die Popularität des amerikanischen Präsidenten von diesen Bewertungen in den Medien abhängen kann (siehe hierzu das Beispiel bei Noelle-Neumann 2003, S.634ff.). Gleichwohl handelt es sich hierbei nur um bivariate Korrelationen, die eine zurückhaltende Interpretation erfordern. Von einem „‚powerful‘ natural experiment“ sprechen Iyengar und Simon (1997, S. 249) in Bezug auf die Ereignisse im Umfeld des zweiten Golfkrieges. Für den Zeitraum von April 1990 bis März 1991 wird gezeigt, wie sich die Wahrnehmung bestimmter Themen im Zuge des Aufkommens einer Krise verändert. Im April 1990 ergab die Frage nach den ‚most important problems‘ folgende Reihenfolge: An erster Stelle rangierte für die amerikanische Bevölkerung die Drogenproblematik und die Kriminalität, an zweiter Stelle die ökonomische Situation und an dritter Stelle das Haushaltsdefizit. Mehr als 50% der Amerikaner nannten diese Themen. Ab August 1990 widmeten sich die Fernsehnachrichten verstärkt der Krise zwischen dem Irak und Kuwait. Parallel dazu verschob sich allmählich die ‚issue salience‘ der Bevölkerung. Im November 1990 hatte der Golf-Konflikt bereits den ersten Rangplatz eingenommen und die Ökonomie auf den zweiten Platz verdrängt, das Thema ‚Drogen und Kriminalität‘ rangierte auf Platz vier. Iyengar und Simon sprechen in diesem Zusammenhang von einem hydraulischen Muster, das die Auf- und Abwärtsbewegungen im Rahmen der Themenagenda illustriert (vgl. Iyengar/Simon 1997, S. 252). Abbildung 7.3 illustriert diesen Sachverhalt. Kaum, dass die militärische Auseinandersetzung beendet war, verschwand der Golfkrieg von der Themenagenda und die Ökonomie rückte an die erste Stelle. Diese Fluktuationen in der Berichterstattung blieben nicht ohne Einfluss auf die Bewertung des amerikanischen Präsidenten. Auch in diesem Falle konnte die ‚Priming‘-Hypothese bestätigt werden. Die Dominanz der außenpolitischen Berichterstattung führte dazu, dass diese im Vergleich zu ökonomischen Aspekten einen größeren Stellenwert für die Bewertung des Präsidenten erhielt. Die Popularität des amerikanischen Präsidenten profitierte von der positiven Bewertung der Außenpolitik. Ergänzend wird diese Wirkung auch Präsentationsformen in den Nachrichten zugeschrieben. Jüngeren Datums sind verschiedene Untersuchungen, die sich mit medialen Ereignissen und Auftritten im Zusammenhang mit dem ‚War on Terror‘ beschäftigen. Als Beispiel sei hier auf eine Analyse der politischen Rhetorik der BushAdministration verwiesen. Laut Foyle sollte die besondere Betonung bzw. Hervorhebung der Gefahr, die von Massenvernichtungswaffen ausgeht, in der Öffentlichkeit einen Priming-Effekt erzielen, über die Public Agenda somit die öffentliche Meinung beeinflussen (vgl. Foyle 2004). Darüber hinaus beschäftigen sich immer mehr Studien mit der Frage, wie Priming gezielt durch politische Akteure eingesetzt werden kann. So können sie durch Fernsehdebatten die Aufmerksamkeit auf The-
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mengebiete lenken, die dann von den Wählern als positive Beurteilungskriterien herangezogen werden (vgl. Maurer 2010, S. 72ff.). Abbildung 7.3
Der Einfluss der Golf-Berichterstattung auf die Wahrnehmung von Problemen
Prozentualer Anteil der erwähnten Problemfelder (Gallup-Frage)/ durchschnittl. Minuten pro Monat
50 40 30 20 10 0 Apr
Mai
Jun
Jul
Aug Sep Okt
Nov Dez Jan Feb Mär
1990
1991 Wirtschaft Haushaltsdefizit Drogen/Kriminalität Bezug zum Golf/Kriegsfurcht TV-Nachrichten (in Min.)
Quelle: Iyengar/Simon 1997, S. 253 und eigene Ergänzungen Unter dem Stichwort ‚Framing‘ versteht man schließlich die Einbettung der Berichterstattung in einen bestimmten Interpretationsrahmen, also die Darstellung in Abhängigkeit von einer Bezugsgröße. Sie dienen der Strukturierung von Informationen und beeinflussen so deren Interpretation. Iyengar und Simon illustrierten, dass eine an Episoden orientierte Berichterstattung die öffentliche Unterstützung für eine militärische Lösung dieses Konfliktes erhöhte. Die Berichterstattung war gekennzeichnet durch die Erläuterung der Vorbereitung, Durchführung und Umsetzung militärischer Operationen in dieser Krisenregion. 63 Nach Iyengar und Simon wurden den Zuschauern wenige Informationen über den Hintergrund des Konfliktes 63
Bewusstes ‚Framing‘ lässt sich auch am Beispiel des dritten Golfkrieges im Frühjahr 2003 aufzeigen. So wurden z. B. die Interventionsarmeen von der US-Administration durchgehend als ‚coalition forces‘ und die irakischen Fejadhin-Kämpfer als ‚death squads‘ bezeichnet. Diese Begriffe wurden dann in der Medienberichterstattung häufig übernommen (siehe hierzu Szukala 2003).
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und Möglichkeiten einer diplomatischen Lösung präsentiert. Für sie steht außer Frage, dass das Fernsehen einen wesentlichen Einfluss auf die öffentliche Meinung nimmt: „As Walter Lippmann noted nearly seventy years ago, we tend to know little about ‚what is happening, why it happened and what ought to happen‘. But in modern times we do have ‚pictures in our heads‘, courtesy of ABC, CBS, CNN, and NBC.“ (Iyengar/Simon 1997, S. 256) Iyengar unterscheidet episodisches und thematisches Framing. Während die episodische Variante auf das Fallbeispiel, den Einzelfall, das Ereignis setzt, dominiert im Falle der zweiten Variante die Einordnung eines oder mehrerer Ereignisse in größere, daher in der Regel auch abstraktere Zusammenhänge. Daraus resultieren unterschiedliche Verantwortungszuschreibungen für ein Problem und dessen Lösung: hier der einzelne Akteur oder eine bestimmte Institution, dort die Gesellschaft (vgl. ausführlich zu der Beurteilung von FramingEffekten den Beitrag von Scheufele 2004, zur Genese des Paradigmas Wicks 2005 sowie das Schwerpunktheft des Journal of Communication 2007). Auch hierzu finden sich im Zuge des erwähnten ‚War on Terror‘ neuere Beispiele. So verglichen Kolmer und Semetko das Framing des Irak-Krieges während der ersten Monate des Krieges. Hierzu analysierten sie die bedeutendsten Abendnachrichten in den USA, Deutschland, Südafrika, der Tschechischen Republik und dem Vereinten Königreich, ebenso die des Al-Jazeera Netzwerkes in Katar. Der Fokus lag bei allen zwar deutlich auf den militärischen Operationen, allerdings zeigten sich Differenzen bei anderen Themengebieten. Durch die zuvor geführten politischen und öffentlichen Diskussionen rahmten die Länder den Krieg auf unterschiedliche Weise. Jene, die den Krieg nicht unterstützten, berichteten sehr viel häufiger über politische Aspekte. Positive Bewertungen der Alliierten fanden sich verstärkt auf der Seite der Vereinigten Staaten, die hier mit großem Abstand führten. Der nationale politische Kontext bildet also einen wichtigen Einflussfaktor bezüglich der Einbettung der Kriegsberichterstattung (vgl. 2009).64 Die soeben zitierte Schlussfolgerung von Iyengar und Simon will offensichtlich noch einmal auf eine Medienlogik hinweisen, der sich auch die Öffentlichkeit nicht entziehen kann. Das Ziel ‚Aktualität‘ führt zu einer Institutionalisierung dieses Wandels. Nachrichten geraten in den Vordergrund und verschwinden wieder, sie werden ausgeblendet oder an Positionen platziert, die eine Wahrnehmung unwahrscheinlicher machen. Teile der Öffentlichkeit haben selbst Wege gefunden, um auf diese ungleichgewichtige Behandlung von Themen hinzuweisen. In den USA existiert seit den 1970er Jahren das ‚Project Censored‘, das in regelmäßigen Aufrufen um die Benennung von Themen bittet, die nach Auffassung der Vorschlagenden eine ungenügende Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erfahren haben. Diese Idee 64
Das Handbuch „Kriegs- und Krisenberichterstattung“ bietet weitere Einblicke in diese Thematik. So der CNN-Effekt und weitere Auswirkungen auf die Politik, die Visualisierung von Krieg und der Umgang mit versuchter Instrumentalisierung (vgl. Löffelholz u.a. 2008).
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ist auch in der Bundesrepublik Deutschland aufgegriffen worden und firmiert unter dem Namen „Initiative Nachrichtenaufklärung“ (vgl. Ludes u.a. 1997, insb. S. 154)65. Gelegentlich bemühen sich die Medien selbst um den Aufbau einer ‚Erinnerungskultur‘ (siehe die Beiträge in Wilke 1999, S. 227ff.). Wenn Nachrichtenmagazine, wie vor einigen Jahren die ‚Tagesthemen‘ der ARD, auf ‚Vergessene Konflikte‘ hinweisen, ist dies ein weiteres Beispiel. Diese exemplarisch genannten Fälle verdeutlichen zugleich, dass es unterschiedliche Möglichkeiten des ‚AgendaBuilding‘66 gibt. Der Alltagskommunikation wird diesbezüglich in der Regel nur ein geringer Einfluss zugeschrieben. 7.4 Agenda-Setting und Anschlusskommunikation In einem anderen Zusammenhang ist der folgende Satz formuliert worden: „Interaktive Kommunikation und ‚Massenkommunikation‘ beziehen sich aufeinander und partizipieren aneinander: Man spricht über das Fernsehen, und das Fernsehen spricht, worüber man spricht.“ (Schmidt 1994a, S. 65) Diese Feststellung impliziert keine Gleichgewichtigkeit der beteiligten Kommunikationspartner. Gleichwohl werden die Medien nicht dauerhaft in der Lage sein, die Alltagskommunikation der Menschen durch Themen zu dominieren, die mit der Realität des Lebens kaum oder wenig zu tun haben. In diesem Kommunikationszyklus bleibt die Wahrscheinlichkeit groß, dass Medienthemen auch Eingang in die Alltagskommunikation finden. Wenngleich der amerikanische Soziologe Richard Sennett in Bezug auf das Fernsehen von einem elektronisch befestigten Schweigen gesprochen hat (vgl. Sennett 1983, S. 319), weiß eine darauf bezogene Forschung mittlerweile von zahlreichen Formen der ‚inneren Rede‘ zu berichten (siehe zu diesem Begriff Charlton/Klemm 1998, S. 713ff.). Obwohl viele Medieninformationen in einer kommunikationsarmen Situation wahrgenommen werden, ergeben sich vielfältige Möglichkeiten der Bezugnahme in anderen Zusammenhängen. Die Agenda-Setting-Funktion der Massenmedien kann sich hier im Erkennen von Gemeinsamkeiten, aber auch in der Wahrnehmung von Differenzen widerspiegeln. Hierzu sollen einige Beispiele genannt werden:
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Kepplinger und Martin (1986) untersuchten mit Hilfe des Verfahrens der verdeckten, teilnehmenden Beobachtung, welche Bedeutung der Hinweis auf Themen, die in den Massenmedien behandelt wurden, für die Alltagskommunikation hat. Man beobachtete Gespräche auf öffentlichen Plätzen, in der Universität, in Gaststätten und auch im privaten Bereich. Ein wichtiger Befund dieser Siehe auch die Website http://www.nachrichtenaufklaerung.de. Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 8 und Kapitel 9.
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Die Agenda-Setting-Forschung Untersuchung lautet: Medienthemen wirken integrierend. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Medienthema Anschlussmöglichkeiten für viele Teilnehmer eröffnet, ist groß. Je geringer die Gesprächsintensität war, desto stärker war zu beobachten, dass Themen der Massenmedien herangezogen wurden, um die Diskussion zu beleben. Diese Funktion mag auch darin begründet sein, dass in der Öffentlichkeit seltener über persönliche und unmittelbar relevante Aspekte gesprochen wird und der Vorteil der Massenmedien aus der allgemeinen Bedeutung des Themas resultiert (vgl. Kepplinger/Martin 1986). Alltagsgespräche über Medienereignisse hat Angela Keppler einer detaillierten Analyse unterzogen. Sie konzentrierte sich im Rahmen ihrer Studie auf die Rezeptionssituation in Familien und versuchte, die Gespräche der Familienmitglieder in einer relativ unverfälschten Situation zu beobachten. Medienangebote erweisen sich auch hier als „Katalysator familiärer Interaktionen“ (Keppler 1994a, S. 220). Aus der systematischen Analyse von ca. 100 Stunden Tonbandaufnahmen ergaben sich unter anderem zwei Grundformen der Einbettung von Medienthemen: Entweder finden Medienthemen Eingang in ein Gespräch, dessen Entstehung nicht den Medien selbst zuzuschreiben ist, oder die Diskussionen zeichnen sich durch einen unmittelbaren Medienbezug aus, indem über Nachrichten, Filme, Schauspieler usw. gesprochen wird. Medienbeiträge tragen dazu bei, dass Sichtweisen von etwas ausgebildet werden, „[...] wovon die Familie möglicherweise noch keine, sei es überhaupt kompatible, sei es überhaupt gemeinsame Sichtweise hat. In der Mannigfaltigkeit ihrer Erzeugnisse tragen die Medien einen prinzipiell unüberschaubaren Gesprächs- und Erfahrungsstoff in den Gesichtskreis der Familie hinein. Ausgehend vom Temperament und den Kenntnissen ihrer Angehörigen wählt die Familie hieraus vielfältige Themen einer auf vielfache Weise rekonstruktiven Unterhaltung aus, mit denen sie ihr eigenes Selbstverständnis so bereichert und umbildet, wie es ihr als zeitgemäßes Weltverständnis passend erscheint [...] Das Weltverständnis heutiger Familien (und generell: vergesellschafteter Individuen) ist dort, wo es über einen recht begrenzten Nahbereich hinausgeht, im Herzen medial, d.h. über die wiederholte und wiederholende Aneignung massenmedialer Darbietungen von Welt vermittelt.“ (Keppler 1994a, S. 252) Alltagsferne Erfahrungen schaffen somit eine Grundlage für „Fernerfahrungen im Nahbereich“ (Keppler 1994a, S. 264). Im Rahmen der internationalen PISA-Studie 2000 wurde ebenfalls das Thema ‚Alltagsgespräche‘ von 15-jährigen Schülern im Familienkreis auf breiter Basis erfasst. Heranwachsende wurden danach gefragt, wie häufig sich ihre Eltern in der Regel wöchentlich Zeit nehmen, um mit ihnen einfach nur zu reden oder zu diskutieren. Der Inhalt wurde zwar nicht explizit erfasst, aber die Häufigkeit ist vor dem Hintergrund der Beobachtungen von Keppler durchaus von Bedeutung. Als Möglichkeiten der Antwort wurden auf einer Fünfer-Skala die Kategorien „nie oder fast nie“, „ein paar Mal im Jahr“, „etwa einmal im
Die Agenda-Setting-Forschung
67
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Monat“, „mehrmals im Monat“ und „mehrmals in der Woche“ vorgegeben (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2002, S. 249). Erstaunlicherweise gaben nur rund 41% der 15-Jährigen an, dass ihre Eltern mehrmals in der Woche ‚einfach nur mit ihnen reden“; demgegenüber antworteten etwa 15% auf diese Frage, dass ihre Eltern höchstens ein paar Mal pro Jahr mit ihnen reden würden. Im internationalen Vergleich, etwa zu südeuropäischen Ländern, haben Alltagsgespräche im Familienkontext in Deutschland einen vergleichsweise geringen Stellenwert. Italienische Schüler gaben zu 86% an, dass ihre Eltern mehrmals in der Woche ‚einfach nur mit ihnen reden‘; mit 3,5% ist der Anteil derjenigen, deren Eltern dies sehr selten tun (wenige Male im Jahr bzw. nie oder kaum), sehr gering (eigene Auswertungen der PISA-Daten 2000).67 Überdies stellte die PISA-Studie aber auch konkret darauf ab, die Häufigkeit von gemeinsamen Mahlzeiten („Tischgesprächen“) im Familienumfeld der betrachteten Schüler zu erfassen. Die Frage lautete: „Wie oft kommt es im Allgemeinen vor, dass deine Eltern gemeinsam mit dir am Tisch sitzen und zu Mittag oder Abend essen?“ (Deutsches PISA-Konsortium 2002, S. 249). Gemeinsame Mahlzeiten scheinen demnach nach wie vor einen festen Platz im Alltagsleben deutscher Familienhaushalte einzunehmen. Auf die oben genannte Frage antworteten rund 80% aller befragten 15-Jährigen, dass sich ihre Eltern mehrmals in der Woche Zeit nehmen, um gemeinsam mit ihnen zu essen. In südeuropäischen Ländern, wo das gemeinsame Einnehmen einer Mahlzeit traditionell noch stärker sozial verankert sein dürfte als in Deutschland, lagen die jeweiligen Anteilswerte noch deutlich höher, in Italien etwa bei 93, in Frankreich bei 89% (eigene Auswertungen der PISA-Daten 2000). Vor allem mit Gesprächen über Fernsehnachrichten hat sich Denise Sommer beschäftigt. Eine der Forschungsfragen war, wie man sich mithilfe der Anschlusskommunikation den zugrundeliegenden allgemeinen Prozessen der Nachrichtenrezeption nähern kann. Dabei zeigte sich, dass die Kommunikation individuell verschieden ist und unter den Einflüssen der jeweiligen Lebenswelten steht. Der Einfluss persönlicher Relevanz konnte also erneut bestätigt werden. Die Medienwirkung selbst wird durch die Gespräche verändert, wobei sich diese wiederum an Nachrichtenfaktoren ausrichten. Nachrichtenwerte bestimmten auch den Wert einer Meldung für die Folgegespräche. Somit wird vor allem über kontroverse Meldungen, deren Hintergründe und potenzielle Erklärungen gesprochen. Ein interessanter Aspekt ist die durch Anschlusskommunikation erhöhte Erinnerungsleistung. Dieser Effekt basiert auf der ausführlicheren Verarbeitung einer Thematik in Gruppengesprächen. Außerdem scheint der Wunsch nach gegenseitiger Bestätigung in solchen Gesprächen größer zu sein Die Berechnungen wurden mit Hilfe von "interactive database selection" auf der Homepage der OECD durchgeführt (vgl. http://pisaweb.acer.edu.au/oecd/oecd_pisa_data_s2.php, Stand 31.07.2007).
216
Die Agenda-Setting-Forschung als der Wunsch, einen Gesprächspartner zu überzeugen. Letztere Gesprächsformen traten seltener auf und resultierten oft eher in einer beidseitigen Mäßigung der Einstellungen. Zusammenfassend stellt also Anschlusskommunikation auf der Verhaltensebene selbst eine Medienwirkung dar, wobei die Kommunikation subjektiv geprägt ist und wiederum die Medienwirkung auf anderen Ebenen beeinflussen kann (vgl. Sommer 2010, S. 227ff.). Eine unterstützende und verstärkende Funktion von Medienangeboten wird insbesondere dort beobachtet, wo es um soziale Krisenphänomene geht. Die Darstellung der Studie von Erbring et al. hat bereits gezeigt, dass im Falle von persönlicher Betroffenheit das Thema ‚Arbeitslosigkeit‘ auf zwei Ebenen wahrgenommen wird: mediatisiert und persönlich bzw. im sozialen Umfeld. Weaver et al. konnten in einer Untersuchung zum Thema ‚Drogenmissbrauch‘ feststellen: Je häufiger persönliche Gespräche über dieses Thema geführt wurden, desto höher wurde die Bedeutsamkeit dieses Themas im persönlichen Umfeld und in der Gesellschaft insgesamt eingestuft. Die Medienberichterstattung wirkte nicht nur auslösend, sondern auch unterstützend. Darüber hinaus ergaben sich Hinweise auf eine Brückenfunktion der informellen Kommunikation. Diese ist in der Lage, eine thematische Auseinandersetzung auch dort auszulösen, wo keine unmittelbare Betroffenheit vorliegt. Ein durch gegensätzliche Meinungen gekennzeichnetes Thema führt zu kontroversen Diskussionen und involviert auch nicht unmittelbar Betroffene. Unter bestimmten Bedingungen kann interpersonale Kommunikation demzufolge dem Phänomen der selektiven Wahrnehmung entgegenwirken (vgl. Weaver et al. 1992, insb. S. 862ff.). Eine Studie von Wanta und Wu untersuchte darüber hinaus, inwieweit interpersonale Kommunikation in der Lage ist, eine von der Intensität der Medienberichterstattung dominierte Agenda mit Informationen über „non-media Issues“ (Wanta/Wu 1992, S. 848) zu beeinflussen. Insbesondere Personen, die häufig an Diskussionen teilnehmen, sind sich der Ungleichgewichtigkeit der Medienberichterstattung bewusst. In solchen Fällen gilt: „Interpersonal communication here enhances the salience of issues other than those covered by the media.“ (Wanta/Wu 1992, S. 854)
Unter bestimmten Bedingungen kann es somit auch der interpersonalen Kommunikation gelingen, einen Einfluss auf Thematisierungsprozesse zu nehmen. Die Einführung eines weiteren Begriffs mag als Tribut an diese Einflussmöglichkeit interpretiert werden. Mit ‚Agenda Melding‘ wollten Shaw et al. (1999) verdeutlichen, dass Medien- und interpersonale Kommunikation an der Wahrnehmung öffentlich relevanter Themen mitwirken. Agenda Melding fokussiert auf die Agenden von Gruppen. Es geht um die Frage, wie sich die Agenda eines Individuums verändert und mit der allgemeinen, geteilten Agenda verschmilzt, wenn es sich einer Gruppe anschließt. Der Gruppenanschluss erfolgt mithin durch die Übernahme der
Die Agenda-Setting-Forschung
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Gruppenagenda, auch wenn die Individuen durchaus unterschiedliche Hintergründe aufweisen (vgl. Ragas/Roberts 2009). Yang und Stone untersuchten daher im Rahmen einer Telefonbefragung, ob diejenigen, die in ihrem Informationsverhalten vorwiegend an den Massenmedien orientiert sind, eine andere Agenda aufweisen als jene, die ihre Informationen zu öffentlich relevanten Themen eher aus Gesprächen mit anderen erhalten. Die wichtigsten Fragestellungen in diesem Zusammenhang lauteten: „Some people rely on the mass media such as television, radio, magazines and newspapers for their news and public affairs information. Others rely more on friends and family members. Which do you rely on most for news and public affairs information: mass media or friends or family?” sowie: „About what percentage of your news and public affairs information do you get from: friends and family; the mass media?” (Yang/Stone 2003, S. 62) Im Hinblick auf die Public Agenda wurden zwischen der “interpersonal group” und der “media-reliant group” keine signifikanten Unterschiede festgestellt. Die Schlussfolgerung der Autoren lässt sich mit den mehrstufigen Wirkungsmodellen, die McCombs, Brosius und Weaver (siehe oben) bereits vorgeschlagen haben, in Einklang bringen. „This study suggests that two-step flow about news and public affairs is a powerful influence in setting public agendas: [...].“ (Yang/Stone 2003, S. 71) Überraschend ist im vorliegenden Fall, dass die Agenden sich kaum unterscheiden. Angesichts einer Stichprobengröße von n=408 sollte man aber vorerst von einer möglichen Wirkungskonstellation ausgehen. Idealtypisch lassen sich nach diesen Ausführungen das Zusammenwirken von Massen- und interpersonaler Kommunikation im Kontext der Agenda SettingTradition wie folgt veranschaulichen. Abbildung 7.4
Agenda Setting: die Rolle von Massen- und interpersonaler Kommunikation Agenda Setting vorwiegend durch ... Interpersonale Kommunikation Ja Ja
Massenkommunikation
Nein
Quelle: Eigene Erstellung
„Doppelte Dosis“ vs. „competing message“
Nein Medienagenda beeinflusst Public Agenda
Interpersonale Kommuni- Keine Wahrnehmung kation beeinflusst Public öffentlicher KommunikaAgenda tion
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Die Agenda-Setting-Forschung
Die vorangegangenen Ausführungen haben darüber hinaus gezeigt, dass die Thematisierungsleistungen der Medien auf verschiedenen Ebenen praktisch werden können. Dass in diesem Zusammenhang häufig von den Medien gesprochen wird, ist jedoch eine Generalisierung, die mit der Differenzierung des Medienangebots konfrontiert werden muss. In Zukunft wird verstärkt die Differenzierung innerhalb eines Mediums als auch die Wechselwirkung zwischen verschiedenen Medien berücksichtigt werden müssen. Der Begriff ‚Intermedia-Agenda-Setting‘ beschreibt diese Notwendigkeit treffend. Es geht um die Identifikation von Medienangeboten, die innerhalb des Mediensystems orientierende oder auch tonangebende Funktionen (Stichwort: Meinungsführermedien) übernehmen. So weisen Weischenberg u.a. darauf hin, dass neben der Recherche, ob selbst durchgeführt oder von anderen Institutionen übernommen, die Leitmedien die wichtigste Informationsquelle der Journalisten darstellen (vgl. Weischenberg u.a. 2006, S. 121). Es existiert zwar kein einheitliches Konzept der Leitmedien, jedoch herrscht ein gewisser Grundkonsens vor. So findet sich oft der Hinweis, dass sie zwar zu den Massenmedien, aber eben zu der Subgruppe der Qualitätsmedien gehören und dass sie vor allem unter den Journalisten selbst ein hohes Ansehen genießen. Oder sie zeichnen sich durch starke Verbreitung und Nutzung durch die Rezipienten und/oder der Medienakteure selbst aus. Die normative Positionierung, vor allem bezüglich der politischen Themen, ist ebenso ein charakteristisches Merkmal. Diese äußert sich unter anderem auch in einer bestimmten und bekannten Grundhaltung der Redaktion. Entlang dieser bekannten redaktionellen Linie treffen sie ihre Entscheidungen und Auswahlen. Hierdurch erbringen sie eine effiziente Beobachtungsleistung und reduzieren Komplexität. Die redaktionelle Linie ist bekannt. Aufgrund ihrer Vorreiterrolle innerhalb der medialen Massenkommunikation werden sie von anderen Medien beachtet. Ihre Agenden sowie ihre Deutungen werden oft übernommen und so fungieren sie letztlich als „Leuchttürme“ (Jarren/Vogel 2009, S. 89) im gesellschaftlichen Diskurs (vgl. Jarren/Vogel 2009; Weischenberg 2006). Die im Jahr 2005 am häufigsten von Journalisten genutzten Printmedien waren die ‚Süddeutsche Zeitung‘, gefolgt von dem ‚Spiegel‘ und der ‚Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘. Bei den Fernsehnachrichten dominierten die öffentlich-rechtlichen Angebote, mit der ‚Tagesschau‘, den ‚Tagesthemen‘ und dem ‚heute journal‘ auf den ersten Plätzen (vgl. Weischenberg et al. 2006, S. 134f.). Diese Funktionen und Leistungen können gegebenenfalls auf der Ebene der Medienagenda selbst im Sinne von Wirkungskaskaden beschrieben werden. So erleichtern die Leitmedien aufgrund ihrer zentralen Stellung die Anschlusskommunikation.68 Bspw. kommentieren Blogs gerne dortige Themen und Deutungen und betten sie in weitere Kontexte ein. Diese Selbstreferenz erleichtert außerdem dem Publikum den Anschluss an Bekanntes und so auch die Kommunikation mit anderen 68
Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 12.
Die Agenda-Setting-Forschung
219
Rezipienten. Im Zuge einer raschen Ausbreitung des Internets und einer Permanenz der Nachrichtenproduktion mehren sich darüber hinaus ohnehin die Querverweise innerhalb der Medienberichterstattung. Eine Übersicht und Verknüpfung der relevanten Faktoren kann Abbildung 7.5 entnommen werden. Trotz einer nach wie vor vorhandenen Fixierung auf die politische Kommunikation, die auch aus Abbildung 7.5 ersichtlich ist, eröffnen sich viele Fragestellungen und Hinweise auf mögliche Kettenreaktionen. Der Bereich der nichtpolitischen Information hat im Zuge einer Deregulierung von Mediensystemen zwar an Bedeutung gewonnen. Ebenso haben mediale Aufwertungstechniken dazu geführt, Themen eine Relevanz zuzuschreiben, die sie aus sich heraus nicht besitzen. Die Reaktionen des Publikums können – in Anlehnung an Albert O. Hirschman – dann als nicht veränderbare Tatsache (als eine Minimalform von ‚loyalty‘), als Artikulation von Widerspruch (‚voice‘) oder als Abwanderung (‚exit‘) auftreten (vgl. Jäckel 2004). Abbildung 7.5
Der Entstehungsprozess von Agenden im Überblick
Verhandlungen im politischen System Investigativer Journalismus
Agenda-Building, Öffentlichkeitsarbeit IntermediaAgenda-Setting
Politische Partizipation
POLITISCHE INSTANZEN Agenda 1… 2… 3… 4…
“Dialog mit den Bürgern” PUBLIKUM
MASSENMEDIEN Agenda 1… 2… 3… 4…
Agenda-Setting Resonanz des Publikums
Quelle: Rössler 1997b, S. 82 und eigene Ergänzungen
Agenda 1… 2… 3… 4…
Interpersonale Kommunikation
220
Die Agenda-Setting-Forschung
Dennoch werden Agenda-Setting-Studien auch in Zukunft einen Kernbereich von Themen identifizieren, der von der Mehrzahl der Bevölkerung als ‚most important‘ eingestuft wird. Zusammenfassend können jedenfalls folgende Schlussfolgerungen formuliert werden: 1.
2.
3.
Es gibt Themen, die ihre Aufmerksamkeit dem plötzlichen und unerwarteten Eintreten verdanken. Sie drängen sich unaufgefordert an die erste Stelle, weil sie dramatisch und eben nicht alltäglich sind. Die Wahrscheinlichkeit der Verankerung eines Themas im öffentlichen Bewusstsein ist höher, wenn es zu regelmäßigen Reaktualisierungen kommt. Die Vergessensrate ist beträchtlich. Wenn sich ein Thema in den Vordergrund drängt, muss ein anderes in den Hintergrund weichen. Das ist auch eine Konsequenz der Vermehrung des Angebotes bei unveränderter Knappheit der Aufmerksamkeit. „Issue attention cycles“ bleiben strukturell ähnlich, verlaufen aber schneller. Angesichts einer zunehmenden Konkurrenz um attraktive Themen beobachten sich die Medien verstärkt gegenseitig. Man hofft, von der Popularität des Themas ebenfalls profitieren zu können. Schließlich wird es auch in anderen Medien „durchgereicht“. Dabei beeinflusst auch die Themenpräsentation und die Art, wie ein Thema gerahmt wird, die Entscheidungen in anderen Systemen.
Zugleich nehmen die Beobachter zu, die miteinander konkurrierende Beschreibungen der Wirklichkeit anbieten: „[…] the classic function of journalism to sort out a true and reliable account of the day’s events is being undermined. It is being displaced by the continuous news cycle, the growing power of sources over reporters, varying standards of journalism, and a fascination with inexpensive, polarizing argument. The press is also increasingly fixated on finding the ‚big story‘ that will temporarily reassemble the now-fragmented mass audience.“ (Kovach/Rosenstiel 1999, S. 5) Eine Sensibilität gegenüber der Wirklichkeit der Medien bleibt also in jedem Falle ein wirksames Schutzschild.
Dearing, James W.; Rogers, Everett M. (1996): Agenda-Setting. Thousand Oaks usw. (Communication Concepts, 6). Maurer, Marcus (2010): Agenda-setting. Baden-Baden. McCombs, Maxwell E.; Shaw, Donald L. (1972): The Agenda-Setting Function of Mass Media, in: The Public Opinion Quarterly 36, S. 176-187.
8 Die Wirklichkeit der Medien
8.1 Massenmedien und Realitätsvorstellungen Die Diskussion über das Wirkungspotenzial von Massenmedien wird sowohl unter Bezug auf Nutzungshäufigkeiten geführt (quantitative Dimension) als auch mit Blick auf die jeweils präsentierten Inhalte (qualitative Dimension), die in die Einschätzung der Nutzungsfolgen einfließen. Im Vorwort zu der in den 1950er Jahren entstandenen Studie ‚Television and the Child‘ wird als Grund für die Durchführung dieser Untersuchung unter anderem genannt: „Some [...] thought that viewing could help young children, make their homes more attractive, expand their horizons, stimulate new interests, and provide a new basis of contact between the generations.“ (Hetherington 1958, V) Der Hinweis auf eine neue Basis des Kontakts zwischen den Generationen erlaubt verschiedene Interpretationen: Medienangebote lassen sich in diesem Sinne als Vermittler von Interessen beschreiben. Sie können als Angebote begriffen werden, die Einblicke in andere Lebenswelten gestatten, oder als Wirklichkeitsbeschreibungen, die aus sich heraus eine eigene Qualität entfalten und die Wahrnehmung und Beurteilung der so beschriebenen Realität beeinflussen. Letzteres impliziert Vorwürfe wie Manipulation, Verzerrung oder Beförderung von Stereotypen. Hierauf nimmt auch das nächste Beispiel Bezug, das aus einem anderen Beobachtungsfeld stammt. Inwieweit solche Verzerrungen etwa als zutreffende Beschreibungen der Wirklichkeit wahrgenommen werden, wird unter Berücksichtigung medienspezifischer Darstellungsformen und Selektionskompetenzen der Rezipienten diskutiert. Auf die Frage, wie er sich informiere, antwortete der ehemalige ‚Anchorman‘ des amerikanischen Fernsehsenders CBS, Walter Cronkite, wie folgt: „TV-News sind für mich allenfalls eine Zugabe. Ich lese sehr aufmerksam die ‚New York Times‘ und das ‚Wall Street Journal‘ plus einige andere Blätter. Das Fernsehen kann eine gute Zeitung nicht ersetzen, es ist zu oberflächlich. Was bieten die schon an? Komprimierte Kurzmeldungen, Schlagzeilen, die sogenannten ‚soundbites‘. Kaum Subtilität, keine Nuancen. Ich beneide die Kollegen nicht, die in diesem Umfeld arbeiten müssen.“ (Cronkite 1999, S. 40) Auch wenn dieser amerikanische Eindruck nicht generalisiert werden darf – er lenkt den Blick auf verschiedene Selektionsebenen, die für die Beurteilung der Wahrnehmung einer medienvermittelten Darstellung von Bedeutung sind. Wird die Ebene dieser einleitenden Beispiele verlassen und die theoretische Behandlung dieses Phänomens betrachtet, können zwei Arten von Theorien identifiziert werden: Theorien, die einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den MeM. Jäckel, Medienwirkungen, DOI 10.1007/978-3-531-93191-3_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
222
Die Wirklichkeit der Medien
dienangeboten einerseits und den Wirklichkeitsvorstellungen der Menschen andererseits behaupten, und solche, die Übereinstimmungen in der Wahrnehmung von Medienangeboten problematisieren bzw. für unwahrscheinlich halten. Was für wirklich gehalten wird, beruhe auf beobachterabhängigen Interpretationen und erfordere daher einen behutsamen Umgang mit objektiven Realitätsvorstellungen. Als ein Journalist gebeten wurde, seine Auffassung zum Thema „Stimmt unsere Politikberichterstattung noch?“ zu erläutern, begann er sogleich mit dem Hinweis auf implizite Unterstellungen, die der Titel in sich berge. Alleine das kleine Wörtchen „stimmen“ vermittele eine zu eindeutige Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem (vgl. Löffelholz 1990, S. 11). Wenngleich im Alltag durchaus noch ein unbefangener Umgang mit dem Begriff ‚Wirklichkeit‘ zu beobachten ist, gerät man dennoch immer wieder rasch an die Grenzen dieser vermeintlichen Gewissheit. Zum Stand der Debatte bemerkte Schmidt: „Kaum einer spricht heute noch unbefangen von ‚der Wirklichkeit‘, die objektiv erkannt und dargestellt wird, und eine Fülle Vorsicht signalisierender Vokabeln von ‚Selektion‘ und ‚Konstitution‘ bis ‚Interpretation‘ ist im Gebrauch, wobei diese Debatte wesentlich inspiriert wird vom kommunikationswissenschaftlichen Disput über sogenannte Medienrealität(en).“ (2002, S. 17) Dass die Medien auf ihre Art und Weise eine Ordnung in die täglich wiederkehrende Vielfalt von Ereignissen und Handlungen bringen, ist ein Befund, der unter Bezugnahme auf die bereits dargestellte Agenda-Setting-Theorie69 untermauert werden kann. Voraussetzung dafür bleibt in diesem Fall eine hohe Übereinstimmung der Medienagenda und der Publikumsagenda. Wenn diese Themenrangordnungen in einem engen Zusammenhang stehen und die Medienberichterstattung als Ursache der Übereinstimmung identifiziert werden kann, ist - unabhängig von möglichen Verzerrungen und Manipulationen - eine Dominanz der medienvermittelten Wahrnehmung zu konstatieren. Zugleich suggeriert eine solche Ursache-Wirkungs-Kette eine hohe Kongruenz der Wahrnehmung dieser Medienangebote. Das führt zu der von Winfried Schulz als ptolemäische Antwort bezeichneten Perspektive der Kommunikationsforschung. Theorien, die sich an dieser Auffassung orientieren, sind nach Schulz durch die folgende Gemeinsamkeit gekennzeichnet: „Da die Medien ein hochgradig strukturiertes und oft verzerrtes Bild der Wirklichkeit präsentieren und da die Menschen ihr Verhalten - wenigstens teilweise - an diesem Bild der Wirklichkeit ausrichten, haben die Massenmedien einen starken Einfluß auf das Individuum und auf die Gesellschaft insgesamt.“ (Schulz 1989, S. 140) Die ‚Spiegel‘Metapher (= Bild der Wirklichkeit) impliziert in diesem Zusammenhang nicht die Behauptung einer unverzerrten Wiedergabe der Wirklichkeit. Sie unterstellt eine hohe Bedeutung der Massenmedien für die Wahrnehmung der Nah- und Fernwelt, attestiert diesen Beobachtungsinstrumenten aber keine Repräsentativität. In Bezug auf Informationsangebote bemerkte Hofstätter bereits 1966: „In Wirklichkeit bevor69
Siehe hierzu die Ausführungen in Kapitel 7.
Die Wirklichkeit der Medien
223
zugen Presse und Rundfunk bei der von ihnen getroffenen Auswahl selbstverständlich die seltenen Ereignisse; sie verhalten sich dabei anti-repräsentativ.“ (zitiert nach Merten 1977, S. 210) Die hier vermittelte Gewissheit über die Logik der Medienauswahl beschreibt ein Selektionsprogramm, das die amerikanische Historikerin Barbara Tuchman als das ‚Tuchmansche Gesetz‘ beschrieben hat. Im Vorwort zu ihrem historischen Roman ‚Der ferne Spiegel‘ heißt es: „Nach der täglichen Zeitungslektüre erwartet man, sich in einer Welt von Streiks, Verbrechen, Machtmißbrauch, Stromausfällen, Wasserrohrbrüchen, entgleisten Zügen, geschlossenen Schulen, Straßenräubern, Drogenabhängigen, Neonazis und Sexualverbrechern wiederzufinden. Tatsächlich aber ist es so, daß man an glücklichen Tagen immer noch abends nach Hause kommen kann, ohne mehr als einem oder zweien solcher Dinge ausgesetzt gewesen zu sein. Das hat mich dazu gebracht, das ‚Tuchmansche Gesetz‘ zu formulieren: Allein die Tatsache der Berichterstattung vervielfältigt die äußerliche Bedeutung irgendeines bedauerlichen Ereignisses um das Fünf- bis Zehnfache (oder um irgendeine Zahl, die der Leser einsetzen mag).“ (Tuchman 1982, S. 15) Auch wenn dieses Gesetz nicht sehr exakt formuliert ist, lenkt es den Blick auf den geringen Nachrichtenwert alltäglicher Ereignisse. Mit dem Begriff ‚Nachrichtenwert‘ ist eine theoretische Tradition benannt, die sich mit der Frage beschäftigt: „Warum berichten die Massenmedien über dieses und nicht über jenes Ereignis?“ (Kepplinger 1989, S. 3) Nach Kepplinger zeichnen sich diesbezügliche Forschungen dadurch aus, dass sie von einer Wechselbeziehung zwischen den objektiven Eigenschaften von Ereignissen und journalistischen Berufsnormen ausgehen. Amerikanische Lehrbücher für Journalisten enthielten schon sehr früh eine Art KochbuchListe, die im Prozess der Nachrichtenentstehung über Relevanz bzw. NichtRelevanz mitentscheiden sollten. Unter Bezugnahme auf eine Analyse von Warren aus dem Jahr 193470 nennt Schulz die folgenden Kriterien: „Neuigkeit, Nähe, Tragweite, Prominenz, Dramatik, Kuriosität, Konflikt, Sex, Gefühle, Fortschritt.“ (Schulz 2009, S. 389) Bei Ruß-Mohl finden sich mit den Oberbegriffen Zeit, Nähe, Status, Dynamik, Valenz und Identifikation ähnliche Auswahlkriterien, ergänzt noch durch den pragmatischen Aspekt der visuellen Umsetzbarkeit (vgl. Ruß-Mohl 2010, S. 107ff.). Basierend auf einer Inhaltsanalyse der Berichterstattung über außenpolitische Ereignisse haben Galtung und Ruge eine Liste von Nachrichtenfaktoren zusammengestellt, die der Abbildung zu entnehmen sind (vgl. Abbildung 8.1).
70
Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 1.
Überraschendes (Unvorhersehbares, Seltenes) hat die größte Chance, zur Nachricht zu werden, allerdings nur dann, wenn es im Rahmen der Erwartungen überraschend ist.
F6: Überraschung (Unvorhersehbarkeit, Seltenheit)
Nachrichtenfaktoren
Je mehr ein Ereignis mit vorhandenen Vorstellungen und Erwartungen übereinstimmt, desto eher wird es zur Nachricht.
F5: Konsonanz (Erwartung, Wünschbarkeit)
Je größer die Tragweite eines Ereignisses, je mehr es persönliche Betroffenheit auslöst, desto eher wird es zur Nachricht.
F4: Bedeutsamkeit (kulturelle Nähe, Betroffenheit, Relevanz)
Je eindeutiger und überschaubarer ein Ereignis ist, desto eher wird es zur Nachricht.
F3: Eindeutigkeit
Es gibt einen bestimmten Schwellenwert der Auffälligkeit, den ein Ereignis überschreiten muss, damit es registriert wird.
F2: Schwellenfaktor (absolute Intensität, Intensitätszunahme)
Quelle: Galtung/Ruge 1965, insb. S. 65 und 68 sowie Schulz 2009, S. 391
Ein Ereignis, das bereits als Nachricht definiert ist, hat eine hohe Chance, von den Medien auch weiterhin beachtet zu werden.
F7: Kontinuität
.Der Schwellenwert für die Beachtung eines Ereignisses ist niedriger, wenn es zur Ausbalancierung und Variation des gesamten Nachrichtenbildes beiträgt.
F8: Variation
Ereignisse, die Elite-Nationen betreffen (wirtschaftlich oder militärisch mächtige Nationen) haben einen überproportional hohen Nachrichtenwert.
F9: Bezug auf Elite-Nation
Entsprechendes gilt für Elite-Personen, d.h. Prominente und/oder mächtige, einflussreiche Personen.
F1: Frequenz Je mehr der zeitliche Ablauf eines Ereignisses der Erscheinungsperiodik der Medien entspricht, desto wahrscheinlicher wird das Ereignis zur Nachricht
Abbildung 8.1
F10: Bezug auf Elite-Personen
Je stärker ein Ereignis personalisiert ist, sich im Handeln oder Schicksal von Personen darstellt, desto eher wird es zur Nachricht.
Je ‚negativer’ ein Ereignis, je mehr es auf Konflikt, Kontroverse, Aggression, Zerstörung oder Tod bezogen ist, desto stärker wird es von den Medien beachtet.
F12: Negativismus
Nachrichtenfaktoren nach Galtung und Ruge
F11: Personalisierung
Abbildung 8.1
224 Die Wirklichkeit der Medien
Nachrichtenfaktoren nach Galtung und Ruge
Die Wirklichkeit der Medien
225
Während die Faktoren 9 (Bezug auf Elite-Nation) und 10 (Bezug auf Elite-Personen) der Spezifik der Analyse zuzuschreiben sind, können die übrigen Kriterien als allgemeine Selektionsprogramme bezeichnet werden, die Einfluss auf die Arbeit von Journalisten und Redakteuren nehmen, z. B.: Personalisierung, Kontinuität des Ereignisses, Bedeutsamkeit, Eindeutigkeit, Negativismus. Weitergehend lassen sich endogene Faktoren von exogenen Faktoren unterscheiden. Während im ersten Fall das Ereignis selbst die Auswahlchance bestimmt und gegebenenfalls nachrichtengerecht aufbereitet wird, beschreibt der zweite Fall Umfeldeinflüsse, die bspw. durch eine Redaktionslinie oder ökonomische Notwendigkeiten (Orientierung an bestimmten Zielgruppen) verursacht werden (vgl. hierzu auch Schulz 2008, S. 88ff.). So weisen Weischenberg u.a. auch darauf hin, dass sich Journalisten Vorstellungen darüber machen, wer ihr Publikum ist: welche Grundeinstellung es bspw. besitzt, wie es politisch orientiert und interessiert ist. Darüber hinaus stellt sich auch die Frage des eigenen Rollenverständnisses. Sehen sich amerikanische Journalisten sehr der ‚Watchdog-Rolle‘ verpflichtet, herrscht bei den deutschen Kollegen ein erklärendes und informierendes Selbstverständnis vor (vgl. 2006, S. 157ff.; 117f.). Da sich Phänomene der Wirklichkeit demzufolge in unterschiedlichem Ausmaß als relevant erweisen, gelingt es Ausschnitten der Wirklichkeit durch eine ‚Schleuse‘ zu gelangen. Bevor Journalisten eine vermittelnde Funktion zwischen Ereignissen und dem Publikum übernehmen, steuern sie demzufolge den Informationsfluss, indem sie Prioritäten setzen. Der Begriff ‚Gatekeeper‘ soll diesen Sachverhalt beschreiben71. Zu fragen ist in diesem Zusammenhang, ob diese Auswahlvorgänge ausschließlich persönlicher Art sind. Bspw. hat eine Studie von White aus dem Jahr 1950 die individuellen Vorlieben eines Nachrichtenredakteurs in das Zentrum des Entscheidungsmodells gestellt. Die Studie vermittelte zunächst den Eindruck, dass insbesondere subjektive Urteile und Vorurteile einen maßgeblichen Einfluss auf die Nachrichtengebung haben (vgl. hierzu Kepplinger 1989, S. 9). Neben der Betonung des subjektiven Urteils wies der Nachrichtenredakteur einer kleinen amerikanischen Zeitung aber auch auf die redaktionelle Linie hin, um seine Auswahlkriterien zu begründen. Insofern fließen personenbezogene Faktoren und journalistische Berufsnormen in den Selektionsprozess ein. Hinzu kommen Faktoren, die der Auswahl selbst Grenzen setzen bzw. Rahmenbedingungen vorgeben - beginnend mit dem für einen bestimmten Themenbereich vorgesehenen Raum (Länge eines Artikels, Dauer eines Beitrags) bis hin zu unvorhersehbaren Ereigniskonstellationen, die ein Nachdenken über mögliche Alternativen erübrigen. Schließlich bemüht man sich, die Interessen der Rezipienten zu antizipieren und der Erwartungshaltung der Kollegenschaft zu entsprechen. Weniger offensichtlich, aber von wachsender Bedeutung, scheinen direkte und subtile Einflussnahmen auf die Entstehung von Presse- und 71
Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 5.
226
Die Wirklichkeit der Medien
Rundfunkerzeugnissen zu sein, die in Verbindung mit einer fortschreitenden Medienkonzentration gesehen werden. Nachfolgend werden zwei Artikelauszüge wiedergegeben, die beschreiben, wie sich in dem von Rupert Murdoch aufgebauten Medienkonzern solche Eingriffe und Korrekturen vollzogen haben sollen.
„Raffzüge eines Medienmoguls“ „[...] Nach Rupert Murdochs Geheimnis wird noch gefahndet. Biographen haben ihn als Medienkrämer ohne Seele beschrieben; Pressekritiker weisen ihn als machtsüchtigen Konzernchef mit Weltbeherrschungsphantasien aus. Die Kritiker jedoch werden leiser, wofür Murdoch mit einem einfachen Rezept sorgt: Er kauft sie, respektive ihre Zeitung oder ihren Sender, und entläßt die Unbotmäßigen, seien sie nun Chefredakteur in London, Kolumnist in New York oder Korrespondent in Sydney. Wann immer er eine halbe Stunde Zeit hat, so wird kolportiert, läßt sich Murdoch drei seiner Zeitungen geben. Wenig später verlassen drei Faxe das Haus, und drei Chefredakteure an diesem oder einem anderen Ende der Welt werden etwas blaß um die Nase. [...].“ (Hanfeld 1998, S. 47)
Qualitätszeitungen und Nachrichtenwerte im Wandel „Changing Times“ „[...] Im vergangenen Jahrzehnt haben sich Englands Qualitätszeitungen, auch broadsheets genannt, enorm gewandelt. [...] Festzumachen ist der Trend jedenfalls am leichtesten an der Person von Rupert Murdoch. Noch in den zwanziger Jahren war es üblich, daß die Times manche Artikel auf altgriechisch druckte, in der Gewißheit, daß ein Großteil der Leserschaft das zu schätzen wisse. Heute beginnt die politische Berichterstattung oft erst auf Seite vier. Die Schwesterzeitung Sunday Times wiederum veröffentlicht gerade ungeniert die wiederaufgelegte DianaBiographie von Andrew Morton und hat zwei Gesellschaftskolumnen, eine im politischen Teil, eine in der bunten Lifestyle-Beilage. Das war einmal ganz anders. Als der Times-Reporter Michael Leapman 1977 beim Tod Elvis Presleys der Zentralredaktion vorschlug, nach Memphis zu fahren, wurde er beschieden: ‚Sorry, not a Times story.‘ Die Kriterien sollten sich, für Leapman und seine Zeitung, ein paar Jahre später gründlich ändern. Nur ‚zwei Monate nachdem Murdoch die Times übernommen hatte – es war das
Die Wirklichkeit der Medien
227
Jahr 1981, in dem Bob Marley starb – wurde ich nach Jamaika beordert und fand dort noch zwei weitere Times-Kollegen vor‘.“ (Schönburg 1997, S. 63)
In Bezug auf ‚Gatekeeping‘ sind infolgedessen verschiedene Ebenen der Entscheidung zu beachten. Nach Shoemaker und Reese lassen sich mindestens fünf solcher Ebenen identifizieren: 1. 2.
3. 4. 5.
‚individual‘: Die Auswahl der Nachrichten ist von den Vorlieben, Abneigungen und dem beruflichen Hintergrund der Journalisten abhängig. ‚media routines‘: Der Nachrichtenwert wird anhand praktischer Kriterien, wie der richtigen Länge des Beitrags, guter Bilder, der Neuigkeit, der Dramatik usw. bestimmt. Solche Routinen konstituieren die Arbeitsumgebung der Medienfachleute und können einschränkende Wirkungen entfalten. ‚organization‘: Die Strukturen und Richtlinien, die Anzahl an Auslandsbüros, Budget-Beschränkungen, Leitlinien des Herausgebers usw. haben einen Einfluss auf die Entscheidungen der Journalisten. ‚extramedia‘: Die Quellen, Leserschaft, Werbepartner, wirtschaftliche Kräfte, Interessengruppen oder Regierungen können die Nachrichtenauswahl indirekt mitbestimmen. ‚ideological‘: Die Normen und Werte, der weiter gefasste kulturelle Hintergrund führt dazu, dass bestimmte Teile der Welt in den ausgewählten Nachrichten unter- und andere überrepräsentiert sind. (vgl. Shoemaker 1991, S. 32ff.; Shoemaker/Reese 1996, S. 63ff.)
Die klassischen Gatekeeper-Studien charakterisiert Kepplinger daraufhin auch wie folgt: Die Nachrichtenauswahl ist als Wirkungsprozess verstehbar, „in dem die Ereignisse als Ursachen, die Selektionsentscheidungen als intervenierende Variablen und die Beiträge als Wirkungen betrachtet werden.“ (Kepplinger 1989, S. 9) Die intervenierenden Variablen sind mit dem alleinigen Hinweis auf individuelle Vorlieben von Redakteuren also nur unvollständig beschrieben. Der Wandel des Journalismus wird nicht hinreichend transparent, wenn nur diese Entscheidungsebene fokussiert wird. In dem von Weischenberg aufgestellten heuristischen ‚Zwiebelmodell‘ finden sich verschiedene Faktoren, die bestimmen, was Journalismus ist und welche Wirklichkeitsentwürfe er produziert. Die vier Ebenen der Normen-, Struktursowie Funktions- und Rollenkontexte umgeben - bildlich gesprochen - die Journalisten und beeinflussen sie in ihren Tätigkeiten (vgl. Löffelholz 2004, S. 49ff.). Seitens der Redaktionen stellt sich beispielweise ein Wandel innerhalb des Strukturkontextes ein. Die traditionelle Organisation im deutschsprachigen Raum sah eine horizontale Arbeitsteilung verschiedener Abteilungen vor. Dem anglo-amerikanischen Beispiel folgend werden diese nunmehr immer stärker zusammengeführt. Durch die vermehrte Integration der verschiedenen Vertriebswege, wie Print und Online, im
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Die Wirklichkeit der Medien
Rahmen von Newsroom-Konzepten verwischen die Grenzen zwischen den einzelnen Ressorts. Für das Politikressort nimmt Blöbaum bspw. an, dass es durch die zunehmende Themenvermischung und die verstärkte Publikumsausrichtung sich nicht länger auf seine besondere Stellung verlassen kann. Es muss immer mehr auch mit anderen Themen konkurrieren (vgl. Blöbaum 2008, S. 125ff.). Weischenberg stellt bspw. fest, dass das System ‚Journalismus‘ an den Rändern immer mehr ausfranst (vgl. Weischenberg 1999, S. 43). Diese Entwicklung erscheint als die Konsequenz neuer Geschäftsbedingungen, die in Anlehnung an Blöbaum wie folgt stichwortartig benannt werden können (vgl. ausführlich hierzu Blöbaum 2000):
Das journalistische Denken konkurriert zunehmend mit einem marketingorientierten Denken in Redaktionen, die sich in Profitcenter umwandeln. Damit nimmt auch die Marktorientierung zu Lasten einer Staatsbürgerorientierung zu. In Verbindung damit werden Inhalte nicht mehr ausschließlich selbst erstellt, sondern von ‚Providern‘ zugeliefert. Zugleich nimmt die Differenzierung der Redaktionsstruktur zu, aber auch die parallele Übernahme von (Produkt-)Managementaufgaben durch Journalisten. Die unmittelbare Recherche reduziert sich zugunsten der bereits vermittelten Recherche durch Agenturen bzw. andere Medienanbieter. Die damit verbundene Standardisierung verringert nach Blöbaum „die publizistische Vielfalt. Die Nutzung vorhandener Information verstärkt sich zu Lasten neu gewonnener Informationen.“ (2000, S. 136) Im langfristigen Vergleich ist der Zeitaufwand für Recherche zurückgegangen. Während 1993 (n=1498) noch ein Durchschnittswert von 140 Minuten ermittelt wurde, sank dieser im Jahr 2005 (n=1536) auf 117 Minuten. Ebenso, so die Ergebnisse der ‚Journalismus in Deutschland II‘Studie, blieb im Jahr 2005 weniger Zeit für die Auswahl eingehenden Informationsmaterials (1993: 49 Minuten, 2005: 33 Minuten) (vgl. Weischenberg u.a. 2006, S. 80). Strategischer Journalismus, der außerhalb des Zeitungs-, Hörfunk- und Fernsehjournalismus angesiedelt ist und direkt oder indirekt die Agenda der Medien zu beeinflussen versucht, nimmt zu. Hier ist insbesondere das expandierende Feld der Öffentlichkeitsarbeit zu nennen. Bezüglich der Vereinigten Staaten stellte Ruß-Mohl 1999 fest: „In den USA gab es zu Beginn der 90er Jahre schätzungsweise 162.000 PR-Praktiker, aber – einer allerdings konservativen Schätzung zufolge – nur 122.000 Journalisten. Die PR-Leute vermehren sich weiterhin; im Jahr 2000 sollen es bereits 197.000 sein.“ (1999, S. 164) Es wird überlegt, ob dies eine parasitäre Beziehung sei und wer in diesem Kontext das Futtertier abgebe (vgl. ebenda, S. 163). Exakte Daten über die Veränderung dieser Relation liegen nicht vor. Eine Schätzung des Department of Labor ging im Jahr 2009 von ca. 46.000 Reportern und Korrespondenten aus, für den Bereich Public Relations Specialists wurden rund 243.000 angegeben. Probleme
Die Wirklichkeit der Medien
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der Zuordnung ergeben sich zum Beispiel bei der Berücksichtigung von freien Journalisten und Teilzeitkräften. Gleiches dürfte für Deutschland zutreffen. Hier deuten die verfügbaren Zahlen noch auf ein Übergewicht der Journalisten gegenüber den PR-Leuten hin.72 Die daran anschließende Frage nach der ‚journalistischen Qualität‘ begleitet die gesamte Geschichte der Massenmedien (vgl. Wilke 2003, S. 35ff.), wurde jedoch oft auf Reichweitenzahlen, Einschaltquoten und Auflagenzahlen reduziert. In jüngster Zeit wird verstärkt versucht, vorhandene Ansätze zu bündeln und die ‚Qualität‘ als Kategorie in eine Theorie des Journalismus einzuführen (vgl. Bucher/Altmeppen 2003). In einem um die Ebene der Rezipienten erweiterten Zwiebelmodell kann Qualität und Qualitätssicherung dann sowohl auf die oben beschriebenen Kontexte als auch auf die Rezipienten bezogen werden (vgl. Fabris 2004, S. 394). Qualität an sich ist hier ein weiter Begriff, der je nach Medium, Zielgruppe, Genre, Quelle und journalistischem Selbstverständnis differenziert verstanden werden muss. Für die Qualitätssicherung wird eine journalistische Infrastruktur - wie Qualifizierung der Mitarbeiter, Journalistenpreise, Selbstkontrolle und -beobachtung, media watchdogs - als zentral angesehen (vgl. ebenda, S. 397f.). Bucher stellt diesbezüglich fest: „Qualitäten sind keine Eigenschaften der Gegenstände, denen sie zugesprochen werden, sondern Beobachterkonstrukte. [...] Jeder Beobachter fällt zunächst sein eigenes Qualitätsurteil auf der Basis seiner Position, seiner Perspektive, seiner Interessen und seiner Standards.“ (Bucher 2003, S. 12) Dementsprechend müsse dann auch zwischen der Perspektive der Medienmacher und der Perspektive der Rezipienten unterschieden werden.
Kurt Imhof über das ‚Jahrbuch 2010 Qualität der Medien‘ „Der Fokus unserer Bemühungen ist die vergleichende Messung der Qualitätsveränderungen in allen Gattungen der Informationsmedien, also in Presse, Radio, Fernsehen und Internet. [...] Qualität ist in der Vermischung von Unterhaltung und Information durch die Gratiskultur zum Pudding geworden. [...] Es geht um die Prinzipien der Universalität, Ausgewogenheit, Objektivität und Relevanz. Im Vergleich über die Zeit und in der Zeit lassen sich die Unterschiede in der Erfüllung dieser Prinzipien durchaus messen. [...]
72
Siehe für die USA: http://www.bls.gov/oes/current/oes273022.htm, für Deutschland: http://www.prjournal.de/redaktion-aktuell/themen-der-zeit/1406-der-pr-markt-in-deutschland-zahlen-datenfakten.html.
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Die Wirklichkeit der Medien Uns geht es nicht um Kontrolle, die ist unmöglich. Vielmehr soll eine verstärkte Auseinandersetzung über den unabdingbaren Service public, den die Medien bieten, stattfinden. [...] Nur so kann das Qualitätsbewusstsein beim Publikum wie bei den Medienmachern geschärft werden.“ (Stadler 2010, S. 28) „Das Ziel dieses Jahrbuchs ist die Stärkung des Qualitätsbewusstseins gegenüber den Medien auf Seiten des Publikums wie auf Seiten der Journalisten, des Verlagsmanagements und der Verleger. Um diesen Zweck zu erfüllen, soll dieses Jahrbuch allen Interessierten dienen, die sich mit der Entwicklung der Medien, der Medieninhalte, der Wechselwirkungen zwischen Medien und Politik sowie zwischen Medien und Wirtschaft auseinandersetzen.“ (Imhof 2010, S. 7)
Mit diesen Hinweisen wird die Relevanz von Ereignissen für den Alltag der Nachrichtenproduktion gleichwohl nicht außer Kraft gesetzt. Diesbezüglich kann auf eine weitere Diskussion verwiesen werden, die das Vorhandensein natürlicher Auswahlkriterien thematisiert. Die Behauptung, dass ein Ereignis so wichtig gewesen ist, dass darüber zu berichten war, gehört nach Kepplinger in diesen Begründungskontext. Er sieht darin eine Scheinerklärung, weil nach seiner Auffassung immer eine soziale Rechtfertigung von Nachrichtenauswahlen vorliegt (vgl. Kepplinger 1989, S. 10). Konventionen in der Nachrichtenselektion werden häufig mit dem Argument begründet, „daß die Ereignisse, über die Journalisten berichten, unabhängig von der Berichterstattung vorgegeben sind.“ (Kepplinger 1989, S. 10) Mit dem Hinweis auf sogenannte Pseudo-Ereignisse wird dieser Argumentation entgegengehalten, dass Ereignisse inszeniert werden, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Wahlparteitage, Kongresse, Pressekonferenzen und andere Großveranstaltungen werden in diesem Zusammenhang als Beispiele angeführt. Man könnte auch sagen: Die Akteure des politischen und gesellschaftlichen Lebens suchen nach Möglichkeiten der Aufmerksamkeitsbindung und orientieren sich im Zuge dessen vermehrt an Kriterien, die den Selektionsregeln des Journalismus nahe kommen. Dieses Phänomen berührt wiederum das Verhältnis von Öffentlichkeitsarbeit und Journalismus. Was Beachtung findet, ist bekannt. Dementsprechend werden die Plattformen ausgestaltet, auf denen Präsentationen stattfinden. Nach Auffassung von Bentele hat der Urheber des Begriffs ‚Pseudo-Ereignisse‘ (nämlich Daniel Boorstin)73 einen wichtigen Aspekt nicht betont. Boorstin habe zwar auf den Aspekt des Arrangements, der Dramatisierung und der damit verbundenen hohen Kosten hingewiesen (vgl. Boorstin 1964, insb. S. 69ff.). Gleichwohl habe er nicht auf das entscheidende Kriterium aufmerksam gemacht: „die Tatsache nämlich, daß diese Ereignisse einzig und allein aus dem Grund produziert werden, um Medienberichterstattung zu evo73
Siehe zusätzlich auch die Ausführungen zu Walter Lippmann in Kapitel 7.
Die Wirklichkeit der Medien
231
zieren.“ (Bentele 1993, S. 123). Diese Kritik scheint nur bedingt angebracht, da Boorstin selbst immer wieder auf Beispiele der bewusst herbeigeführten medialen Inszenierung zurückgreift, um ‚Pseudo-Ereignisse‘ zu charakterisieren. York Kautt hat sich unter anderem mit den weiteren Implikationen dieses Begriffs und seiner Beziehung zu ‚Image‘ ausführlich auseinandergesetzt (vgl. Kautt 2008, S. 21ff.). Die hervorgerufenen Medienphänomene sind dabei deutlich beobachtbar. Hans Leyendecker bemerkte angesichts des ‚Mainstream-Journalismus‘, dass mittlerweile mehr mit Eriegnissen, die eigentlich irrelevant sind, Schlagzeilen gemacht werden. Journalisten müssten sich auf die Suche nach wichtigen Dingen machen. Wo die „gesamte Meute“74 versammelt ist, geschieht nicht automatisch auch etwas Wichtiges.
War früher alles besser? Auszüge aus einem Streitgespräch zwischen Jürgen Leinemann (‚Der Spiegel’), Maximilian Popp (Henri-Nannen-Schüler) und Sebastian Turner (‚Scholz & Friends’) „POPP: Früher war alles besser? LEINEMANN: Früher war nicht alles besser, vieles war nur anders mies. Aber das hat uns wenigstens noch aufgeregt. Was ich zunehmend vermisse, ist Leidenschaft. Journalisten, die sich einlassen auf das, was passiert, die sich davon berühren lassen. Für mich enthält eine Gedichtzeile von Peter Rühmkopf eine Wegweisung: ‚Bleib erschütterbar und widersteh.’ Ein Reporter muss Nähe schaffen, zugleich aber Distanz wahren. Und er muss den Mut haben, zu sagen: Diesen Hype mache ich nicht mit. SEBASTIAN TURNER: Die Zahl der Medien ist in den letzten Jahren enorm gewachsen und mit ihr der Konkurrenzdruck. Die Angst, ein Thema zu verpassen, einen Trend zu verschlafen, ist allgegenwärtig. Da fällt es den Journalisten schwer, zu sagen: Da mache ich nicht mit. LEINEMANN: 60 bis 70 Prozent der Politik-Berichterstattung beruhen auf Pseudoereignissen. Der eine Politiker macht eine Reise, der andere redet dummes Zeug – daraus ergibt sich doch noch lange keine Nachricht. Das Wettrennen um Exklusivität nimmt groteske Formen an: Jeder Referentenentwurf wird zu einem Scoop aufgebauscht. In der ‚Bild’ steht freilich nichts 74
Entnommen aus einem Interview von 2007 mit Hans Leyendecker. Das Interview kann angehört werden unter http://literaturcafe.de
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Die Wirklichkeit der Medien von einem Referentenentwurf, stattdessen kreischt Diekmann: Die Regierung plant! POPP: Die Hysterie führt zu einer besonderen Art von journalistischer Kreativität: Wenn etwa über die Gesundheitsreform diskutiert wird, weiß man schon vor dem Gespräch mit den Protagonisten, dass die Schlagzeile ‚Streit in der Koalition spitzt sich zu’ berechtigt sein wird. Am nächsten Tag folgen neue Stellungnahmen, Forderungen der Fraktionen, Machtworte – also das, was Heribert Prantl treffend als ‚Kikeriki-Journalismus’ beschreibt. TURNER: Dabei ist Streit zwischen den Parteien kaum wirksam. [...] Aufsehen erregt allenfalls Streit innerhalb der Parteien. ‚Friendly fire’, Schüsse auf die eigene Jagdgesellschaft. LEINEMANN: Der absurdeste Trend ist die Vorausberichterstattung. Auch er resultiert aus der Wahnvorstellung, um jeden Preis vor den anderen auf dem Markt sein zu müssen. Am besten platziere ich also in der Woche vor Ostern die erste Weihnachtsgeschichte. Ich sehe das auch beim ‚Spiegel’. Wir berichten heute vorausdenkend weniger über das, was ist, als über das, was kommen wird. Wir schreiben lange Geschichten über den kommenden CDUParteitag, aber was dann dort wirklich passiert, interessiert offenbar niemanden mehr. Die Vorausberichterstattung schluckt die Ereignisse.“ (Medium Magazin, Dezember 2006, S. 24-25)
Handelt es sich um konflikthaltige Situationen, unterstellt Kepplinger eine Strategie, die er mit dem Begriff ‚instrumentelle Aktualisierung‘ bezeichnet. Insbesondere kontroverse Situationen führen dazu, dass die politischen Präferenzen der Journalisten Einfluss auf die Wahrnehmung und Bewertung entsprechender Ereignisse und Themen nehmen. Diese Form der selektiven Wahrnehmung führe dazu, dass bestimmten Aspekten besondere Aufmerksamkeit zukommt. Deren Auswahl werde sehr stark von der eigenen Konfliktsicht geleitet (vgl. Kepplinger 1989, S. 12 sowie Kepplinger 1998, S. 114ff.)75. Weitergehend wird durch solche Publikationsstrategien die Wirkung einer Berichterstattung wiederum zum Gegenstand von Publikationen. Insofern wird deutlich, dass eine Fixierung auf das klassische Paradigma der Medienwirkungsforschung, wonach die Wirkungen einem Stimulus folgen, ergänzt werden muss. Kepplinger plädiert für ein zirkuläres Modell, in welches zugleich verschiedene 75
An anderer Stelle hat Kepplinger bezüglich der Berichterstattung in Krisensituationen oder parallel zu Skandalen folgende Auffassung vertreten: „Die Wahrheit [...] geht während des Skandals in einer Welle krass übertriebener oder gänzlich falscher Darstellungen unter. Die Oberhand gewinnt sie erst, wenn der Skandal zu Ende und die Flut der anklagenden Berichte verebbt ist.“ (Kepplinger 2001, S. 14) Diese Einschätzung korrespondiert mit den Befunden, die Hecker am Beispiel der Ölplattform Brent Spar vorgelegt hat (vgl. Hecker 1997, S. 119ff.).
Die Wirklichkeit der Medien
233
Ereignisformen integriert werden. Die folgende Abbildung gibt dieses Modell wieder und ermöglicht einen differenzierten Blick auf das Verhältnis von Realität und daran orientierter Medienberichterstattung (vgl. Abbildung 8.2). Abbildung 8.2
Ereignisse, Berichterstattung und Publikationsfolgen. Das Modell von Kepplinger
P
A
PE1
K
P
PF
PEi ME1 MEi GE1 GEi
A: Akteur GE: Genuines Ereignis ME: Mediatisiertes Ereignis PE: Pseudo-Ereignis K: Kommunikation P: Publikation PF: Publikationsfolgen
Quelle: Kepplinger 1989, S. 14 Dieses integrierte Modell enthält mit seiner Betonung der Publikationsfolgen nur einen allgemeinen Hinweis auf die Wahrnehmung der Medienwirklichkeit durch das Publikum. Von größerer Bedeutung ist die in dem Modell enthaltene Ereignistypologie, die durch eine zeitliche Komponente erweitert wird. Es wird angenommen, dass auch genuine Ereignisse und Pseudo-Ereignisse zu mediatisierten Ereignissen werden können. Bevor hierzu einige Beispiele genannt werden, sollen die Begriffe kurz erläutert werden (vgl. Kepplinger 1989, S. 13):
Unter genuinen Ereignissen werden solche Ereignisse verstanden, die sich unabhängig von der Berichterstattung der Massenmedien ereignet haben. Hierzu zählen insbesondere natürliche Ereignisse wie Unfälle, Erdbeben, Flutkatastrophen, Todesfälle usw. Pseudo-Ereignisse sind inszenierte Ereignisse. Sie werden herbeigeführt, um eine Berichterstattung darüber wahrscheinlich zu machen. Pressekonferenzen
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Die Wirklichkeit der Medien haben zwar eine wichtige Informationsfunktion, sie können aber auch instrumentalisiert werden im Sinne einer gezielten Öffentlichkeitsarbeit. Demonstrationen dienen der Artikulation eines begründeten politischen Interesses, sie können aber darüber hinaus oder ausschließlich ein Mittel zur Aufmerksamkeitserzeugung sein. Mediatisierte Ereignisse nehmen aufgrund einer zu erwartenden Berichterstattung eine bestimmte Form an, die sie als mediengerecht erscheinen lassen. Ihr ursprünglicher Anlass ist nicht das zu erwartende Medieninteresse, aber die Wahrscheinlichkeit der Anwesenheit von Beobachtern (Journalisten) verändert die Rahmenbedingungen.
Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf eine Typologie von Bentele, die natürliche Ereignisse (Wetter, Erdbeben, Vulkanausbrüche), soziale Ereignisse (Gipfeltreffen, Parteitage, Sportveranstaltungen) und inszenierte Medienereignisse (Pressekonferenzen, Einweihungen, Kulturveranstaltungen) unterscheidet (vgl. Bentele 1993, S. 124f.). Besonderes Interesse erfahren jene Ereignisse, die entweder zum Zwecke des ‚Issue-Managements‘ eingesetzt werden oder zunächst genuinen Charakter hatten, dann aber zunehmend mediatisiert wurden. Wahlkämpfe werden häufig als Beispiel für mediatisierte Ereignisse angeführt, da sie - gelegentlich auch gegen den Willen der Hauptprotagonisten - zu einem großen Teil über Medien geführt werden. Parallel zu dieser Mediatisierung der Politik verändert sich die Wahrnehmung politischen Handelns durch Journalisten und Rezipienten. In Bezug auf die USA hat Patterson von einer Dominanz des ‚Game‘-Schemas gegenüber dem ‚Policy‘-Schema gesprochen. Eine Analyse der Titelseiten der ‚New York Times‘ für den Zeitraum von 1960 bis 1992 zeigt, dass die Berichterstattung über den Wahlkampf vermehrt die strategischen Elemente betont hat und die politischen Inhalte (‚Issues‘) in den Hintergrund traten (vgl. Patterson 1993, S. 74). Darüber hinaus gibt es zahlreiche genuine Ereignisse, die aufgrund einer eingetretenen Medienresonanz zu mediatisierten Ereignissen werden. Spektakuläre Beispiele haben in der jüngeren Vergangenheit zugenommen, wie etwa der Prozess gegen den ehemaligen amerikanischen Football-Star O. J. Simpson. Während der Strafprozess in den Jahren 1994 und 1995 eine hohe Medienaufmerksamkeit erfuhr und nach Auffassung verschiedener Beobachter amerikanische Fernsehgeschichte geschrieben hat (vgl. beispielhaft Hesse 1995, S. 13), wurde dem im Anschluss an den Freispruch im Oktober 1995 angestrengten Zivilprozess gegen Simpson eine wesentlich geringere Aufmerksamkeit entgegengebracht. Dies veranlasste die ‚Frankfurter Allgemeine Zeitung‘, von einer „Vendetta ohne Fernsehen“ (Rademacher 1996, S. 10) zu sprechen. Solche Aufmerksamkeitszyklen sind typisch, weil die wiederholte Kommentierung desselben Sachverhalts nur in solchen Fällen einen Nachrichtenwert behält, in denen neue und unbekannte Fakten auftreten. Das gilt bspw. auch für die ClintonLewinsky-Affäre, die in den Jahren 1998 und 1999 eine neue Variante des Enthül-
Die Wirklichkeit der Medien
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lungsjournalismus offenbarte (siehe hierzu ausführlich auch Meyrowitz 2002, insb. S. 154ff.). Eine gänzlich andere Problematik ist damit verbunden, dass es teilweise gar nicht mehr die professionellen Medien sind, die Nachrichten aufspüren oder zuerst von ihnen berichten. Die Beispiele der Terroranschläge in Mumbai im Jahr 2008 und der Notlandung eines Flugzeugs im Hudson River 2009 sind wohl nur die bekanntesten, in denen Dienste wie Twitter die Nachrichten als erste in Umlauf brachten. Gerade in letzterem Fall ging ein großer Teil der klassischen Berichterstattung nicht dem Ereignis selbst nach, sondern zum Beispiel der Frage, was das neue Format Twitter für Nachrichtendienste herkömmlicher Prägung bedeuten könnte (vgl. Kessler 2009; Schraven 2008). Der dpa-Chefredakteur Wilm Herlyn äußerte sich ebenfalls kritisch über die Situation der klassischen Nachrichtendienste, da es immer schwieriger würde, mit Nachrichten Geld zu verdienen. Häufig traue man sich einfach nicht, Meldungen auszulassen. Nachrichten würden heutzutage oft „zu schmutzig ins Blatt“ (Keil/Kilz 2009) gehen. Obwohl somit der Eindruck entstehen muss, dass sich die Wirklichkeit der Medien schon auf der Ebene der Entstehung von Berichterstattungen einer eindeutigen Nachvollziehbarkeit entzieht, sind die beschriebenen Theorien und Modelle dieser Zielsetzung verpflichtet. Kepplinger vertritt bspw. folgende Auffassung: Aus dem ‚Inzweifelziehen‘ der Realität müsse resultieren, dass auch eine darauf bezogene Berichterstattung nicht miteinander verglichen werden kann (vgl. Kepplinger 1989, S. 14). Der gerade angedeutete Zweifel an der Realität führt zu einer mit der ptolemäischen Antwort konkurrierenden Auffassung: die kopernikanische Antwort. Mit Kopernikus (1473-1543) verbindet man den Durchbruch zu einem offeneren, dynamischeren Weltbild. In Bezug auf die Bedeutung der Massenmedien soll dieser Hinweis verdeutlichen, dass ein noch differenzierteres Bild der Wirklichkeit gezeichnet wird. Die kopernikanische Antwort sieht Medien als aktive Elemente in einem Prozess, der zur Entstehung von Wirklichkeitsvorstellungen führt. „Ihre Aufgabe besteht darin, die Stimuli und Ereignisse in der sozialen Umwelt zu selektieren, zu verarbeiten, zu interpretieren. Auf diese Weise nehmen sie teil am kollektiven Bemühen, eine Realität zu konstruieren und diese – durch Veröffentlichung – allgemein zugänglich zu machen, so daß eine gemeinsame Basis für soziales Handeln entsteht [...].“ (Schulz 1989, S. 142) Die bereits beschriebenen Theorien lassen sich wohl weitgehend auch dieser Auffassung zuordnen. Insoweit entstehen Zuordnungsprobleme, die Schulz auch selbst thematisiert (vgl. Schulz 1989, S. 146). Noch am deutlichsten werden die Unterschiede erkennbar, wenn man die bisherigen Auffassungen mit den Annahmen des Konstruktivismus76 kontrastiert (siehe umfassend hierzu Schmidt 2000). So hat bspw. Luhmann darauf hingewiesen, dass bereits die 76
Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 3.
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Die Wirklichkeit der Medien
Formulierung ‚Verzerrung durch die Massenmedien‘ eine „[...] objektiv zugängliche, konstruktionsfrei erkennbare Realität“ (Luhmann 1996, S. 20) unterstellt.
Das Schicksal von Hilfsorganisationen „Es gibt eine zynische Formel im Nachrichtengeschäft: Je mehr Tote, desto wichtiger ist eine Katastrophe. Relevanz ist gleich Opferzahl geteilt durch Entfernung. Für die Spendenbereitschaft der Deutschen gilt das gleiche. Die großen Wohlfahrtsverbände und Hilfsorganisationen erwarten daher für ihre Spendenbilanz ein dickes Minus im Vergleich zum Vorjahr – es gab 2006 keine großen Naturkatastrophen, jedenfalls nicht in den Schlagzeilen und in den Fernsehnachrichten, keinen Tsunami und keine Elbeflut.“ (Trenkamp 2006, S. 18) „Die meisten Menschen werden unmittelbar nach einer Katastrophe sogar mit bloßen Händen von Nachbarn aus den Trümmern geborgen. [...] Aus Angst um ihre Karriere trauen sich nicht alle entsandten Helfer, vor der Zentrale in Deutschland zuzugeben, wenn sie überflüssig sind. Schließlich wirbt die Organisation mit ihrer Arbeit im Krisengebiet. [...] Sie müssen innerhalb von 48 Stunden nach einem Unglück die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gewonnen haben, um Spenden zu bekommen. [...] Schließlich wird die Konkurrenz um Spenden und öffentliche Zuschüsse immer härter.“ (Raupp 2009, S. 1) Macht der Medien: Medienberichterstattung vs. Spendenaufkommen
Quelle: www.mediatenor.de; Basis: 666 Berichte zu Tsunami und 66 Berichte zum Erdbeben in Pakistan in sieben deutschen Nachrichtensendungen.
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Daraus kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass man sich permanent in einer trügerischen Gewissheit über das, was die Realität ausmacht, befindet. So formuliert Schmidt bspw.: „Medienangebote lassen sich aus vielen Gründen nicht als Abbilder von Wirklichkeit bestimmen, sondern als Angebote an kognitive und kommunikative Systeme, unter ihren jeweiligen Systembedingungen Wirklichkeitskonstruktionen in Gang zu setzen. Werden diese Angebote nicht genutzt, ‚transportieren‘ Medienangebote gar nichts. Werden sie genutzt, geschieht dies je systemspezifisch.“ (Schmidt 1994b, S. 16) Der Grund hierfür ist jedoch nicht überraschend: Wahrnehmung lässt sich nicht delegieren, weil damit immer ein individueller Vorgang verbunden ist. Konstruktionen der Beobachter bilden die Basis von Kognitionen und nicht die exakte Wahrnehmung einer Realität, die an sich besteht. Erkanntes ist untrennbar mit dem Erkennenden verbunden. Beschreibungen der Realität wären somit immer auch Selbstbeschreibungen (vgl. Pörksen 2004, S. 338). Entscheidender ist die Frage, ob sich trotz dieser Vielzahl individueller Vorgänge Gemeinsamkeiten hinsichtlich des daraus resultierenden Verständnisses von Wirklichkeit ergeben können. McQuail hat darauf hingewiesen, dass „[...] many media genres are understood by most of their receivers most of the time in predictable ways and much meaning is denotational and unambigious.“ (McQuail 2000, S. 485) Trotz einer erwartbaren Vielfalt von Wahrnehmungsmöglichkeiten ergeben sich offensichtlich Kernbereiche, die sich durch ein gemeinsames Verständnis auszeichnen. Indem Massenmedien zu einer Selbstbeobachtung moderner Gesellschaften beitragen (vgl. hierzu insbesondere die systemtheoretischen Ansätze der Journalismusforschung und die Darstellung bei Scholl/Weischenberg 1998, S. 76), beteiligen sie sich in stärkerem Maße, als es Einzelpersonen tun können, an einer Bereitstellung von Wissen über unterschiedliche Bereiche der Wirklichkeit. Schmidt betont in diesem Zusammenhang wiederum: „Fernsehen macht die Komplexität sozialer Erfahrungen überschaubar und suggeriert, auch funktional differenzierte Gesellschaften seien noch ‚einheitlich beobachtbar‘.“ (Schmidt 1994b, S. 17) Diese Einheitlichkeit der Beobachtung kann jedoch nur dann entstehen, wenn man sich bereitwillig dieser Form von Beobachtung anschließt und diese als zutreffend einstuft. Würden solche Anschlüsse dominieren, ginge die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen einer sozialen und einer Medienwirklichkeit verloren. Im Rahmen einer sogenannten postmodernen Medientheorie (vgl. hierzu auch die Darstellung bei Keppler 1994b, S. 11ff.) wird in diesem Zusammenhang gelegentlich auf das Höhlengleichnis von Platon (427-347 v.Chr.) Bezug genommen. In diesem Gleichnis werden die Menschen als Wesen beschrieben, die nicht in der Lage sind („von Kindheit an gefesselt an Leib und Schenkeln“), die wirkliche Welt zu sehen. Stattdessen nehmen sie die durch einen Feuerschein vermittelten Schatten (Umrisse) von Gegenständen als die Wirklichkeit wahr. Die Übertragung dieses Gleichnisses auf die Moderne hätte zur Konsequenz, dass sich die „alte Verfassung einer Wirklichkeit auf[löse], die dem Menschen Widerstand leiste und von ihm verlange, in pro-
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duktiver Erfahrung angeeignet zu werden.“ (Keppler 1994b, S. 13) Wäre dies eine adäquate Beschreibung der Verhältnisse, müsste in der Tat von einer kollektiven Programmierung von Denk- und Verhaltensweisen ausgegangen werden. In Erweiterung eines Modells von Whetmore (1991) schlägt Weimann (2000, S. 11) eine Unterscheidung von drei Ebenen vor: die Realität, die konstruierte mediatisierte Realität und die wahrgenommene mediatisierte Realität. Die Art und Weise, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen, ergibt sich somit aus einem Mixtum mehrerer Selektionsschritte, wobei Weimann mit Mills von einer Zunahme von ‚second hand‘-Welten ausgeht: „The first rule for understanding the human condition is that men live in second-hand worlds. They are aware of much more than they have personally experienced, and their own experience is always indirect. […] Their images of the world, and of themselves, are given to them by crowds of witnesses they have never met and never shall meet.“ (Mills 1967, S. 405f.) Das Modell lässt sich wie folgt darstellen: Abbildung 8.3
Drei Realitäten – Das ‚Double Cone‘-Modell von Weimann
Quelle: Eigene Erstellung nach Weimann 2000, S. 11
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Letztlich geht es in allen dargestellten ‚Realitäts‘-Theorien um die Beurteilung eines Kräfteverhältnisses, und letztlich immer auch um eine Einschätzung der Publikumsaktivität77. Auch für diesen Bereich der Medienwirkungsforschung gilt, dass jede Generalisierung eine de facto vorhandene soziale Differenzierung vernachlässigt, die mit unterschiedlichen Kompetenzen einhergeht. So findet sich auch bei de Beer eine äußerst umfangreiche Liste mit potenziellen Einflussfaktoren (vgl. de Beer 2004, S. 189f.). Sehr eindeutig vorgetragene Auffassungen erfreuen sich gleichwohl einer größeren Popularität. Diese müssen deshalb nicht ohne Berechtigung sein, aber eine nähere Betrachtung ihrer Annahmen und vorgelegten empirischen Belege führt zu Enttäuschungen über die zunächst vermittelte Klarheit einer Ursache-WirkungsBeziehung. Im Folgenden soll eine Theorietradition beschrieben werden, auf die der gerade beschriebene Eindruck zutrifft. Sie beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Medienwirklichkeit und sozialer Wirklichkeit und stellt das Medium Fernsehen in den Mittelpunkt der Darstellung. In Verbindung damit kann zugleich illustriert werden, welche Probleme entstehen, wenn eine Verknüpfung von Medienangeboten und Beschreibungen der Wirklichkeit, wie sie von Rezipienten wiedergegeben werden, vorgenommen werden soll. 8.2 Der ‚Cultivation of Beliefs‘-Ansatz. Darstellung und Kritik Legt man die Unterscheidung ptolemäisch/kopernikanisch zu Grunde, ist die im Folgenden zu skizzierende Forschungstradition eher der ersten Perspektive zuzuordnen. Die Initialzündung für dieses Forschungsprogramm wurde durch eine öffentliche Debatte über die sozialen Folgen von Gewaltdarstellungen im amerikanischen Fernsehen ausgelöst. Im Jahr 1967 erhielt der amerikanische Kommunikationswissenschaftler George Gerbner (1919-2005) und sein Forschungsteam den Auftrag, die Gewaltdarstellungen im amerikanischen Fernsehen zu untersuchen. Während man sich zunächst vorwiegend mit diesem Teil der Medienwirklichkeit beschäftigte, erweiterte sich das beobachtete Themenspektrum insofern, als auch die Reaktionen des Publikums systematisch integriert wurden. Die nachfolgende Darstellung orientiert sich an diesen Etappen und beginnt zunächst mit einer zusammenfassenden Übersicht der sogenannten ‚Message System Analysis‘. Daran anschließend werden die Grundzüge der Kultivierungsthese skizziert sowie die Erweiterung dieses Konzepts, die in erster Linie aus dem Versuch einer systematischen Integration vorgetragener Einwände und Kritikpunkte resultierte. - Message System Analysis: Bis zum Jahr 1980 wurde in regelmäßigen Abständen ein Gewaltprofil (‚Violence Profile‘) des amerikanischen Fernsehprogramms er77
Siehe hierzu die Ausführungen in Kapitel 3.
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stellt. Ursprünglich begann dieses auch als ‚Cultural Indicators Project‘ bezeichnete Unternehmen mit einem Auftrag der ‚National Commission on the Causes and Prevention of Violence‘. Es sollte analysiert werden, welche Bilder der Wirklichkeit das amerikanische Fernsehen seinen Zuschauern präsentiert. Die weitere Forschung wurde durch zahlreiche amerikanische Institutionen unterstützt (vgl. Gerbner et al. 1994, S. 22) und resultierte in einem umfangreichen Datenbestand, der Informationen über Programme und darin präsentierte Charaktere bereithält. Hinsichtlich der Auswahlmethode ist bspw. zu lesen: „The Violence Index is based on the analysis of week-long samples of prime-time and weekend-daytime network dramatic programming broadcast from 1967 through 1979.“ (Gerbner et al. 1980, S. 11) Das praktizierte Auswahlverfahren ist nach Auffassung von Burdach als „mehr oder weniger willkürlich“ (Burdach 1987, S. 349) zu bezeichnen. Diesen methodischen Einwänden wird in der Regel mit Hinweisen auf die allgemeine Zielsetzung dieser Forschung begegnet. Für Gerbner ist das Fernsehen das zentrale Medium der modernen Kultur und entfaltet aufgrund seiner Omnipräsenz einen kumulativen Effekt auf die Wahrnehmung der Welt. Wenn es, so seine These, einen gemeinsamen Faktor gibt, der die Sozialisation der Menschen begleitet, dann ist es das Fernsehen. Diese entschiedene Auffassung wird gegen Einwände vorgetragen, die einen detaillierten Nachweis von Ursache und Wirkung verlangen. Die im Beispieltext wiedergegebenen Zitate verdeutlichen die Sichtweise Gerbners eindrucksvoll.
Die Bedeutung des Fernsehens. George Gerbner „Television is the central and most pervasive mass medium in American culture and it plays a distinctive and historically unprecedented role. Other media are accessible to the individual (usually at the point of literacy and mobility) only after the socializing functions of home and family life have begun. In the case of television, however, the individual is introduced virtually at birth into its powerful flow of messages and images. The television set has become a key member of the family, the one who tells most of the stories most of the time. Its massive flow of stories showing what things are, how things work, and what to do about them has become the common socializer of our times. These stories form a coherent if mythical ‚world‘ in every home. Television dominates the symbolic environment of modern life.“ (Gerbner et al. 1980, S. 14) „Television is a centralized system of storytelling. Its drama, commercials, news, and other programs bring a relatively coherent system of images and messages into every home. That system cultivates from infancy the predispositions and preferences that used to be acquired from other ‚primary‘
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sources and that are so important in research on other media. Transcending historic barriers of literacy and mobility, television has become the primary common source of socialization and everyday information (mostly in the form of entertainment) of otherwise heterogeneous populations. Many of those who now live with television have never before been part of a shared national culture. Television provides, perhaps for the first time since preindustrial religion, a daily ritual that elites share with many other publics. The heart of the analogy of television and religion, and the similarity of their social functions, lies in the continual repetition of patterns (myths, ideologies, ‚facts‘, relationships, etc.) that serve to define the world and legitimize the social order.“ (Gerbner et al. 1994, S. 18)
Wenn dem Fernsehen der Stellenwert eines ‚centralized system of storytelling‘ zugeschrieben wird, kann es eine bestimmte Sicht der Wirklichkeit in den Vordergrund drängen und durch kontinuierliche Wiederholung bestimmte Eindrücke dauerhaft beeinflussen. Die Herausarbeitung dieser ‚Messages‘ erfordert eine systematische Verarbeitung des präsentierten Bildmaterials. Im Falle der Gewaltanalysen wurde zwar der Anspruch erhoben, die Fernsehwelt umfassend abzubilden, de facto operierte man in der Regel mit sehr weit gefassten Kategorien, die ebenfalls nicht ohne Kritik blieben (vgl. Burdach 1987, S. 348ff.). Zusammengefasst werden darunter unterschiedliche Formen physischer Gewalt, wobei bspw. Beschimpfungen oder androhende Gesten nicht hinzugerechnet wurden. Wichtig ist vor allem, dass sich die Ermittlung von Gewalt nicht auf bestimmte Programmgattungen konzentrierte, sondern bspw. auch Angebote, die in einem humoristischen Rahmen standen, in die Analysen mit einbezogen wurden. Um Missverständnisse auszuschließen, wird hier die Definition aus einer Originalquelle wiedergegeben: „[...] we define violence as the overt expression of physical force (with or without a weapon, against self or others) compelling action against one’s will on pain of being hurt and/or killed or threatened to be so victimized as part of the plot. Idle threats, verbal abuse, or gestures without credible violent consequences are not coded as violence. However, ‚accidental‘ and ‚natural‘ violence (always purposeful dramatic actions that do victimize certain characters) are, of course, included. A violent act that fits the definition is recorded, whatever the context. This definition includes violence that occurs in a fantasy or ‚humorous‘ context as well as violence presented in a realistic or ‚serious‘ context. There is substantial evidence that fantasy and comedy are effective forms in which to convey serious lessons [...]. Thus eliminating fantasy or comic violence, as well as violence of an ‚accidental‘ nature, would be a major analytical error.“ (Gerbner et al. 1980, S. 11f.) Die regelmäßig publizierten Indikatoren reichten von ‚programs with violence‘ über die Zahl der Gewalthandlungen (‚number of violent acts‘) bis hin zur Ermittlung eines ‚Violence Index‘. Um als Programm klassifiziert zu werden, das Gewalt enthält, genügte eine einzige Szene, die den Kriterien der oben genannten Definition
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Die Wirklichkeit der Medien
entsprach. Die Tabelle 8.1 gibt die Ergebnisse für den Beobachtungszeitraum von 1967 bis 1985 wieder. Grundlage ist das Prime Time-Programm des amerikanischen Fernsehens. Tabelle 8.1 kann entnommen werden, dass die Zahl der analysierten Programme bis Ende der 1970er Jahre etwa doppelt so hoch war als in der Phase danach. Tabelle 8.1
Gewalt als Bestandteil des amerikanischen Fernsehprogramms
Prime Time Programs Samples (100%) Programs analyzed Leading characters analyzed Prevalence Programs with violence (% P) Rate Number of violent acts Rate per program (R/P) Rate per hour (R/H) Roles (% Leading characters) Involved in violence (% V) Involved in killing (% K) Violence Index (VI): VI = (%P)+2(R/H)+ 2(R/P)+%V+%K
67-68
69-70
71-72
73-74*
75-76*
77-78
1979
N 121 340 % 75.2 N 549 4.5 5.2 % 64.4 17.4
N 125 350 % 66.4 N 434 3.5 3.9 % 49.4 9.4
N 122 386 % 73.8 N 533 4.4 4.8 % 53.9 13.5
N 177 609 % 67.8 N 919 5.2 5.3 % 53.7 16.9
N 195 603 % 72.3 N 1058 5.4 5.9 % 58.5 13.3
N 131 401 % 70.2 N 656 5.0 5.2 % 53.4 8.5
N 64 218 % 70.3 N 344 5.4 5.7 % 53.7 6.9
176.4
140.0
159.4
159.3
166.7
152.5
153.0
* The figures for 1973-74 include a spring 1975 sample and those for 1975-76 include a 1976 sample
Prime Time Programs Samples (100%) Programs analyzed Leading characters analyzed Prevalence Programs with violence (%P) Rate Number of violent acts Rate per program (R/P) Rate per hour (R/H) Roles (% Leading characters) Involved in violence (% V) Involved in killing (% K) Violence Index: VI = (%P)+2(R/H)+ 2(R/P)+%V+%K
1980
1981
1982
1983
1984
1985
Total
N 64 229 % 73.4 N 336 5.2 5.7 % 50.7 4.8
N 65 216 % 80.0 N 343 5.3 5.9 % 50.0 5.6
N 77 247 % 63.6 N 278 3.6 4.6 % 48.2 6.5
N 63 195 % 73.0 N 280 4.4 4.8 % 53.3 9.7
N 65 221 % 78.5 N 415 6.4 6.9 % 63.3 12.7
N 67 217 % 79.1 N 421 6.3 6.8 % 58.5 11.1
N 1336 4232 % 71.9 N 6566 4.9 5.4 % 54.9 11.5
150.7
158.0
134.7
154.4
181.1
174.9
158.9
Quelle: Signorielli 1990, S. 93
Die Wirklichkeit der Medien
243
Der Anteil der Programme, die Gewaltszenen enthielten, schwankt erheblich. Im Jahr 1982 wurde der niedrigste Anteilswert (63,6%) ermittelt, der höchste Wert wird im Jahr 1981 erreicht (80,0%). Ebenso schwankt die Zahl der Handlungen, die als gewaltsam klassifiziert wurden: 1983 waren es bspw. 280, 1984 415. Von besonderer Bedeutung ist die Analyse der Hauptdarsteller (‚leading characters‘). Über den gesamten Beobachtungszeitraum zeigte sich, dass in etwas mehr als 50% aller Fälle die Hauptdarsteller in Gewalthandlungen involviert waren. In Bezug auf Handlungen mit Todesfolge lag der Durchschnittswert bei 11,5%. Auch in diesem Fall ist die zu beobachtende Streuung erheblich. Vehemente Kritik hat der ‚Violence Index‘ erfahren, der nach Burdach „eine völlig unzulässige Zusammenfassung von heterogenen Kennwerten [darstellt], die dem sprichwörtlichen Zusammenzählen von Äpfeln und Birnen gleichkommt.“ (Burdach 1987, S. 350) Der Index resultiert aus der Addition verschiedener Kennwerte. Dabei überrascht, dass gerade die Auftretenshäufigkeit von Gewalthandlungen gleich zweifach doppelt gewichtet wird, dagegen die Handlungen der Hauptdarsteller, und insbesondere Handlungen mit dramatischem Ende (‚involved in killing‘), ungewichtet in den Index eingehen. In Bezug auf Letzteres könnte auch gefragt werden: Für welche Bevölkerungsgruppen – folgt man der ‚Welt‘ des Fernsehens – besteht ein besonderes Risiko, Opfer einer Gewalthandlung oder eines Verbrechens zu werden? Diese Analyse von Täter-Opfer-Relationen soll ebenfalls an einem empirischen Beispiel erläutert werden. Tabelle 8.2 berücksichtigt eine Differenzierung nach männlichen und weiblichen Darstellern sowie das Alter, die Klassenzugehörigkeit und den Charakter des jeweiligen Protagonisten. Die angegebenen Zahlen lassen sich nicht als Wahrscheinlichkeiten interpretieren, sondern resultieren aus der Ermittlung von Relationen. Zum besseren Verständnis sei zunächst ein fiktives Beispiel vorangestellt: Angenommen, die Ergebnisse der Inhaltsanalyse ermitteln 32 Täter im Alter von 20 bis 30 Jahren, zugleich aber auch 18 Opfer von Gewalthandlungen, die ebenfalls dieser Altersgruppe angehören. Setzt man die Zahl der Täter und die Zahl der Opfer aus dieser Altersgruppe ins Verhältnis, resultiert daraus ein Wert von 1.77. Der positive Wert drückt aus, dass in der betreffenden Gruppe die Zahl derjenigen, die anderen Gewalt zufügen, die Zahl derjenigen, die Gewalt erleiden müssen, übersteigt. Da aus der Bestimmung des Verhältnisses absoluter Zahlen kein negativer Wert resultieren kann, bedarf die Verwendung der Vorzeichen einer zusätzlichen Erklärung. Ein positives Vorzeichen bedeutet grundsätzlich, dass die Zahl der Täter höher ist als die Zahl der Opfer. Ein negatives Vorzeichen zeigt, dass in der betreffenden Gruppe mehr Opfer als Täter zu beobachten sind. Für die Ermittlung der Verhältniszahlen resultiert daraus, dass jeweils die größere Zahl in den Zähler des Bruches gesetzt wird, die kleinere Zahl in den Nenner. Das Vorzeichen gibt immer nur den ergänzenden Hinweis auf eine Überzahl von Opfern (-) oder Tätern (+). Schließlich muss-
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Die Wirklichkeit der Medien
te noch eine Regelung für Sonderfälle gefunden werden: Taucht bspw. der Wert 0.00 auf, sind in der betreffenden Gruppe weder Täter noch Opfer identifiziert worden; -0.00 weist darauf hin, dass keiner der Täter das jeweilige Merkmal erfüllte, aber unter den Opfern Darsteller zu finden waren, auf die dies zutraf; +0.00 bedeutet schließlich, dass der oder die Täter das Merkmalsprofil aufwiesen, aber keines der Opfer aus der entsprechenden Gruppe kam. Tabelle 8.2
Groups All characters Social age Children-adolescents Young adults Settled adults Old Class Clearly upper class Mixed: indeterminate Clearly lower Character type "Good" (heroes) Mixed type "Bad" (villains) * p d .05
Täter-Opfer-Relationen im amerikanischen Fernsehprogramm (Zeitraum 1967-1975) Männliche Charaktere ViolentKillerN killed victim ratio ratio 2010 - 1.19 + 1.97
weibliche Charaktere ViolentKillerN victim killed ratio ratio 605 - 1.32 1.00
188 431 1068 81
- 1.83 - 1.21 - 1.15 + 1.03
+0.00 + 3.07 + 1.98 - 2.00
77 209 267 22
- 1.39 - 1.67 1.00 - 2.25
0.00* + 1.29 1.00 - 0.00*
196
- 1.28
+ 1.15
70
- 1.64
+ 1.33
1744
- 1.19
+ 2.36
517
- 1.26
1.00
70
- 1.11
- 1.33
18
- 2.67
- 0.00*
928 432 291
- 1.26 - 1.31 - 1.03
+ 3.47 + 1.09 + 1.80
314 156 41
- 1.56 - 1.37 + 1.14
- 6.00 1.00 + 2.00
Quelle: Zusammengestellt nach Gerbner/Gross 1976, S. 199 Tabelle 8.2 kann somit bspw. Folgendes entnommen werden: Junge Erwachsene werden im amerikanischen Fernsehprogramm häufiger als Täter dargestellt (+3.07). Unter den älteren Frauen ist die Gefahr, Opfer einer Gewalthandlung zu werden, größer (siehe den Wert -2.25 in der Spalte ‚Violent-victim ratio‘). Weibliche Mitglieder der ‚lower class‘ sind ebenfalls häufiger Opfer von Gewalthandlungen (2.67). Unter den positiv dargestellten Charakteren (‚Good‘) finden sich häufiger weibliche Opfer (-6.00). Diese, über die Medien vermittelte Wirklichkeit, galt es zu beschreiben, um Anhaltspunkte für den Einfluss des Fernsehens auf die Wahrnehmung der Wirklichkeit zu erhalten. Für den Zeitraum 1993 bis 2001 hat Signorielli erneut das Prime TimeProgramm analysiert und festgestellt: „The percentage of programs with violence
Die Wirklichkeit der Medien
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remained stable between the spring of 1993 and the fall of 2001 [...].“ (2003, S. 47) Die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Gewalt in den Medien‘ sieht die Wirkungskette mit einer detaillierten Beschreibung unterschiedlich verzerrter Realitätswahrnehmungen aber nicht abgeschlossen78. Es ist vielmehr die damit einher gehende Vorstellung, dass sich moderne Gesellschaften viel zumuten und parallel dazu Verantwortung zunehmend individualisiert wird. Wenn die Zunahme entsprechender Angebote ein typisches Bild (bzw. Relationen) von Opfern und Tätern vermittelt, dann mag in bestimmten Fällen auch über diese kognitive Ebene hinaus ein Verhalten kultiviert werden, das in seinen Wirkungen eben nicht individuell bleibt. Ein dramatischer Einzelfall genügt, um den Verdacht zu erhärten, dass diese Angebote nicht wirkungsneutral sein können. Angesichts der Ungewissheit über die Vielzahl der zusammenwirkenden Faktoren wird dann für eine Einschränkung der Selbstbestimmung entsprechender Rezeptionspräferenzen von Gewalt verherrlichenden Angeboten der unterschiedlichsten Art plädiert. Diese Forderungen erklären sich aus der Notwendigkeit abstrakter Regelungen, die sich an ungünstigen (persönlichen) Konstellationen orientieren müssen und die Chancen auf kontinuierliches Lernen entsprechend medial übersteigerter Handlungsweisen dadurch zu reduzieren hoffen. Auch das Forschungsprogramm der ‚Annenberg School of Communication‘ ist - wie bereits angedeutet - aus einer öffentlichen Debatte hervorgegangen und hat eine spezifische Perspektive auf die Wirkung eines Mediums, des Fernsehens, etabliert. Obwohl die Message System Analysis sehr unterschiedliche Darstellungen von Gewalt zusammenfasste, gaben diese medienvermittelten Beobachtungen Anlass zu weitergehenden Fragestellungen, die zur eigentlichen Kultivierungsanalyse überleiteten: Wenn sich bestimmte Bevölkerungsgruppen nur in der Rolle des Opfers wahrnehmen (z. B. ältere Frauen oder Frauen aus der Unterschicht, vgl. Tabelle 8.2), kann deren Wahrnehmung der Welt dann von großer Zuversicht gekennzeichnet sein bzw. lassen sich Hinweise finden, dass sie ihre Umwelt als bedrohlich wahrnehmen? Diese Überlegung führt zum zweiten Baustein dieses Forschungsprogramms. - Kultivierungsanalyse: Da das Fernsehen als eine die amerikanische Kultur dominierende Instanz bezeichnet wurde, lag es nahe, das Themenspektrum nicht auf den Bereich der Gewaltdarstellungen zu begrenzen. Seit Mitte der 1970er Jahre wurden vermehrt auch bestimmte Altersstereotype, Darstellungen bestimmter Berufsgruppen, des Familienlebens usw. analysiert. Kultivierung, so wurde immer wieder behauptet, sei mehr als bloße Verstärkung bestimmter Prädispositionen (vgl. Gerbner et al. 1994, S. 24). Es sei die Folge einer Entwicklung, die am ehesten als ein 78
Zu dem umfassenden Forschungsgebiet, das sich mit der Thematik ‚Wirkungen von Gewaltdarstellungen in den Medien‘ beschäftigt, siehe die knappe Zusammenfassung bei Winterhoff-Spurk 2004, S. 123ff. und Kunczik/Zipfel 2006 sowie die Ausführungen unter Punkt 4 von Kapitel 8.
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Die Wirklichkeit der Medien
„gravitational process“ (Gerbner et al. 1994, S. 24) verstanden werden müsse. Alle Mitglieder einer Gesellschaft werden von dieser Entwicklung erfasst, gleichwohl in unterschiedlichem Ausmaß. Hier endlich wird Differenzierung erkennbar, die jedoch durch eine einfache Umsetzung realisiert wird. Das Ausmaß der Fernsehnutzung wurde zu einer zentralen Variable, die eine Kultivierung von Meinungen und Einstellungen der Bevölkerung bestätigen sollte. Wenn Menschen die Fernsehangebote regelmäßig und überdurchschnittlich lang nutzen, dann ist nach allem bislang Gesagten eine Internalisierung dieser Wirklichkeitsvorstellungen sehr wahrscheinlich. Aus diesem Grund hat die Gruppe der Vielseher eine besondere Aufmerksamkeit erfahren. Gerade dort muss sich das Fernsehen als „the central and most pervasive mass medium in American culture“ (Gerbner et al. 1980, S. 14) erweisen. Dieser Zielsetzung folgend, wurde eine Reihe von Kultivierungs-Indikatoren entwickelt, die in Bevölkerungsumfragen eingesetzt wurden. Die jeweils erhaltenen Antworten wurden nach dem Ausmaß der Fernsehnutzung differenziert, wobei sich die Interpretation letztlich auf eine Prozentpunktdifferenz konzentrierte, die die Bezeichnung ‚Kultivierungsdifferential‘ erhielt. Diese Differenz resultierte aus der Subtraktion der Anteilswerte von Viel- und Wenigsehern. Die insbesondere von Hirsch vorgetragene Kritik (vgl. Hirsch 1980, 1981), nach der ein exakter Nachweis eines Kultivierungseffekts die Berücksichtigung der Nichtseher erforderlich mache, wurde mit dem Hinweis zurückgewiesen, dass es nur sehr wenige Nichtseher gibt und diese in demografischer Hinsicht auch eine sehr uneinheitliche Gruppe darstellen (vgl. Gerbner et al. 1994, S. 22; für Deutschland die Arbeit von Sicking 1998). Grundsätzlich lässt sich eine Vielzahl von Indikatoren heranziehen, um einen Kultivierungseffekt nachzuweisen. Im Folgenden sollen einige häufig verwandte Fragestellungen sinngemäß wiedergegeben werden:
Sind Sie der Auffassung, dass man den Menschen vertrauen kann? Wie hoch ist der Anteil der Menschen, die in Amerika für die Einhaltung von Recht und Ordnung sorgen? Wie hoch schätzen Sie die Gefahr ein, selbst Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden? Haben Sie zum Schutz gegen Verbrechen neue Schlösser an Fenster und Türen anbringen lassen?
Einstellungen zu politischen und sozialen Themen kamen hinzu, wobei diese inhaltliche Ausdehnung der Perspektive nur noch gelegentlich durch entsprechende Inhaltsanalysen begleitet wurde. Insofern arbeitete man hinsichtlich der ‚Fernsehantwort‘ mit einer Unterstellung bzw. Gleichsetzung: Die Äußerungen der Vielseher entsprechen einer Reaktion auf die „potential lessons of the television world“ (Gerbner et al. 1994, S. 22).
Die Wirklichkeit der Medien
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Nach Gerbner ist eine Wirkung von Medienbotschaften auf das öffentliche Bewusstsein dann nachgewiesen, wenn sich die Antworten der Viel- und Wenigseher signifikant unterscheiden. Im Ergebnis wird den Vielsehern nachgesagt, dass sie ihre Umwelt ängstlicher wahrnehmen und misstrauischer sind. Hierfür wurde der Begriff ‚scary world‘ geprägt. Mit anderen Worten: Menschen, die sich regelmäßig und dauerhaft dem amerikanischen Fernsehangebot aussetzen, entwickeln ein Bild der Wirklichkeit, das sich in weiten Teilen mit den Schwerpunktsetzungen der Fernsehberichterstattung (und sei sie noch so fiktiv) deckt. In der nachfolgenden Tabelle 8.3 werden ausschnitthaft einige Ergebnisse aus dieser Kultivierungsanalyse präsentiert. Die linke Spalte der Tabelle enthält fünf verschiedene Indikatoren, für die jeweils das Ausmaß der Zustimmung durch Wenigseher (%L), das Kultivierungsdifferential (CD) und der Koeffizient Gamma (g) angegeben werden. Das Kultivierungsdifferential resultiert aus der Differenz der Angaben von Viel- und Wenigsehern. Tabelle 8.3
Kultivierungseffekte der Fernsehnutzung Controlling for Age Overall
Percent overestimating chances of involvement in violence Percent agreeing that women are more likely to be victims of crime Percent saying their neighborhoods are only somewhat safe or not safe at all
Percent saying that fear of crime is a very serious problem
18-29
30-54
Education over 55
no college
some college
%L
71
76
68
71
76
63
CD
+10
+14
+9
+4
+7
+9
g
.14***
.28***
.11**
.07*
.13***
.10*
%L
72
73
70
77
70
76
CD
+10
+6
+10
+10
+12
+7
g
.18***
.11***
.18***
.22***
.20***
.06
%L
55
49
53
65
58
49
CD
+11
+11
+12
+9
+10
+9
g
.10***
.09**
.06*
.07***
.07*
%L
20
16
31
24
13
.09*** 17
CD
+9
+11
+11
+1
+8
+5
g
.12***
.21***
.12***
-.01
.11***
.09*
%L
94
93
96
94
96
91
CD
+4
+4
+3
+4
+3
+5
g .30*** .27*** .27** Anmerkung: Datenbasis = 1979 Opinion Research Corporation Survey
.38***
.28***
.22**
Percent agreeing that crime is rising
Quelle: Gerbner et al. 1980, S. 21
248
Die Wirklichkeit der Medien
Das Kriterium ‚Vielsehen‘ ist in der Regel dann erfüllt, wenn jemand täglich mehr als vier Stunden fernsieht. Eine durchschnittliche Sehdauer entsprach einem Zeitraum von zwei bis vier Stunden und Wenigseher sahen weniger als zwei Stunden fern. Diese Einteilung wurde nicht durchgängig praktiziert, sondern gelegentlich von der Verteilung der Bevölkerung über die vorgegebene Sehdauer-Skala abhängig gemacht. Neben den Insgesamt-Ergebnissen werden Differenzierungen hinsichtlich des Alters und der formalen Bildung vorgenommen. Die in Tabelle 8.3 präsentierten Ergebnisse bestätigen die von Gerbner et al. getroffenen Annahmen. Nur in wenigen Fällen führt eine zusätzliche soziodemografische Differenzierung der Antworten zu einer deutlichen Verringerung des Kultivierungsdifferentials. Der Korrelationskoeffizient Gamma tendiert allerdings dazu, statistische Beziehungen zu überschätzen. Die Tabelle ist darüber hinaus unvollständig, da sie die Anteilswerte für die Durchschnittsseher nicht beinhaltet. In der Zusammenfassung des neunten Gewaltprofils aus dem Jahr 1978 wird bspw. eine Tabelle wiedergegeben, die sowohl die Wenig- als auch die Durchschnitts- und Vielseher ausweist. Hier kann festgestellt werden, dass die Durchschnittsseher in einigen soziodemografischen Untergruppen höhere Anteilswerte aufweisen als die Wenig- und die Vielseher (vgl. Gerbner et al. 1978, S. 200). Als Indikator diente die Frage nach persönlichen Schutzmaßnahmen an Fenstern und Türen des Hauses/der Wohnung. Insofern zeigt sich nicht durchgängig, dass mit dem Anstieg der Sehdauer auch der Kultivierungseffekt zunimmt. Schließlich durfte der Einwand nicht ausbleiben, dass eine in ihrer Grundstruktur einfache Ursache-Wirkungs-Kette einer Scheinkorrelation entspricht. Der Kritik, dass es neben dem Fernsehen auch andere Möglichkeiten der Umweltwahrnehmung gibt, wurde mit statistischen Kontrollrechnungen begegnet (Partialkorrelationen), wie überhaupt Infragestellungen dadurch entkräftet werden sollten, dass man das jeweils beschriebene Defizit in die theoretische Konzeption zu integrieren versuchte. Das soll im Folgenden gezeigt werden. - Erweiterung der Kultivierungsperspektive: Wenn es eine direkte und positive Beziehung zwischen dem Ausmaß der Fernsehnutzung einerseits und dem Auftreten bestimmter Kultivierungseffekte andererseits gibt und sich diese Beziehung in allen betrachteten Gruppen bestätigt, liegt ein Plausibilitätsnachweis für den hohen Stellenwert der Fernsehwirklichkeit vor. Diesen Fall illustriert in Abbildung 8.4 Variante A. Dort werden verschiedene Modelle von Kultivierung zusammengefasst (vgl. Abbildung 8.4). Variante B, C und D illustrieren dagegen Fälle, in denen diese eindeutige Beziehung aufgrund veränderter Konstellationen nicht beobachtet werden kann. Der Begriff ‚Mainstreaming‘ soll verdeutlichen, dass im Zuge eines Anstiegs der Fernsehnutzung eine Konvergenz von Auffassungen zu beobachten ist. Es handelt sich mithin um die relativen Gemeinsamkeiten in geteilten Bedeutungen und Werten, die sich insbesondere bei Vielsehern kultivieren (vgl. Morgan et al. 2009, S. 41f.). Den deutlichsten Niederschlag findet diese Variante in Modell D: Während
Die Wirklichkeit der Medien
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sich die Wenigseher sehr deutlich unterscheiden, sind die Vielseher einer Meinung. Hierzu kann ein fiktives Beispiel konstruiert werden: Katholiken und Protestanten, die wenig fernsehen, unterscheiden sich deutlich in ihrer Beurteilung des Zölibats; die Vielseher aus den jeweiligen Konfessionen äußern sich dagegen ähnlich. Morgan et al. geben hier weitere Beispiele, wie regionale, politische oder bildungstechnische Differenzen, die alle durch Mainstreaming weniger Einfluss ausüben sollen (vgl. ebenda). Diese ‚Mainstreaming‘-Hypothese impliziert, dass das Fernsehen bezüglich der jeweiligen Frage/Thematik eine Meinung transportiert, die zu einer Einebnung vormals bestehender Einstellungsunterschiede beiträgt. Diese Aussage erfordert den inhaltsanalytischen Nachweis, dass die von Fernsehangeboten bevorzugt vermittelte Auffassung tatsächlich zwischen zwei Extremen anzusiedeln ist. Im Falle der ‚Scary World‘-Perspektive scheint dies noch am ehesten möglich zu sein. Abbildung 8.4
Verschiedene Modelle von Kultivierungseffekten
TVViewing ACROSS-THE-BOARD CULTIVATION
TVViewing MAINSTREAMING
Quelle: Gerbner et al. 1994, S. 29
TVViewing MAINSTREAMING
TVViewing RESONANCE
TVViewing MAINSTREAMING
TVViewing NO RELATIONSHIP
250
Die Wirklichkeit der Medien
So konnte man unter Berücksichtigung des sogenannten ‚Mean World Index‘ zeigen, dass trotz unterschiedlicher formaler Bildungsvoraussetzungen die Vielseher in den jeweiligen Gruppen ähnlichere Auffassungen äußerten als die jeweiligen Wenigseher (vgl. Gerbner et al. 1994, S. 30). Der Begriff ‚Mean‘ ist im Sinne von gemein bzw. hinterlistig zu verstehen. Dies geht auch aus den zugrunde liegenden Indikatoren hervor, die in dem Textkasten zusammengefasst werden. Die Modelle B und C beschreiben dagegen Situationen, in denen eine der beiden Vergleichsgruppen unabhängig vom Ausmaß der Fernsehnutzung eine stets konstante Einstellung äußert und sich die andere Gruppe im Zuge des Anstiegs der Fernsehnutzung dieser Auffassung annähert. In beiden Fällen müsste verdeutlicht werden, dass die Programmangebote des Fernsehens eine Sichtweise vermitteln, die sehr nahe an den Einstellungen der Gruppe ist, die sich unverändert zeigt. Umgekehrt könnte man auch sagen: Diese Gruppen zeigen sich resistent gegenüber jeglicher Form der Fernsehbeeinflussung. Die Modelle lassen also einen erheblichen Interpretationsspielraum zu. Dies gilt auch für Modell E, das einen Sonderfall darstellt. ‚Resonance‘ soll zum Ausdruck bringen, dass dort, wo sich die Umweltbedingungen und die Fernsehwelt ergänzen, eine ‚doppelte Dosis‘ verarbeitet werden muss. Die Fernsehwelt bestätigt sozusagen unmittelbare Umwelterfahrungen und trägt letztlich doch zu einer Verstärkung bereits vorhandener Dispositionen bei. Gerbner et al. präsentieren bspw. Befunde, wonach die Bewohner von Stadtzentren, insbesondere von ‚high crime centers‘, in stärkerem Maße Angst vor Kriminalität äußern als die Bewohner von Vororten (vgl. Gerbner et al. 1980, insb. S. 16 und 20).79
Mean World Index „1. Would you say that most of the time people try to be helpful, or that they are mostly just looking out for themselves? 2. Do you think that most people would try to take advantage of you if they got a chance, or would they try to be fair? 3. Generally speaking, would you say that most people can be trusted or that you can’t be too careful in dealing with people?” (Signorielli/Morgan 1996, S. 121)
79
Weitere empirische Befunde zur Kultivierungsthese finden sich in Gerbner et al. 2002, S.55. Dort wird auf der Basis amerikanischer Umfragedaten der Jahre 1994,1996 und 1998 der Zusammenhang zwischen Fernsehnutzung und politischer Selbsteinschätzung analysiert.
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Wenngleich sich die von Gerbner und seinem Forschungsteam an der ‚Annenberg School of Communication‘ vertretene Sichtweise des Fernsehens großer Popularität erfreut, ist doch ein deutliches Missverhältnis zwischen den dem Medium zugeschriebenen Einflüssen und den präsentierten empirischen Ergebnissen zu konstatieren. Die skizzierte Fragestellung bleibt dennoch interessant und aktuell (vgl. insbesondere das Schwerpunktheft des European Journal of Communication Research, Heft 3/2004, van den Bulck 2004 sowie Signorielli 2005), weil ein Prozess, der mittlerweile häufig mit dem Begriff ‚Mediatisierung‘ beschrieben wird, zunimmt (vgl. Krotz 2001) - die Verschmelzung von Medienwirklichkeiten und sozialen Wirklichkeiten. Die Aktualität lässt sich beispielhaft an weiteren Studien verdeutlichen:
80
Im Rahmen des Ernährungsberichts 2004 wurde der Darstellung und Rezeption von ernährungsrelevanten Themen/Sendungen im Fernsehen ein umfassendes Kapitel gewidmet, das sich auf entsprechende Analysen eines Forscherteams an der Universität Erfurt stützt. Dabei wird unter anderem ein SollErnährungskreis, wie er sich aus den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung ergibt, mit einem „Fernseh-Ernährungskreis“ kontrastiert, der aus einer Inhaltsanalyse eines Programmtags des deutschen Fernsehens resultiert. Einem Soll von 17% Obst entspricht bspw. ein „Fernseh“-Anteil von acht Prozent, einem Soll von 26% Gemüse ein „Fernseh“-Ist von elf Prozent (vgl. zur methodischen Vorgehensweise und zu weiteren Resultaten Rössler u.a. 2004, insb. S. 359ff.). Ebenso konnte gezeigt werden, dass eine Zunahme der Fernsehdauer mit einer geringen Wertschätzung gesunderhaltender Ernährung korreliert (vgl. ebenda, S. 380). In einer US-amerikanischen Untersuchung konnten ähnliche Zusammenhänge beobachtet werden. Eltern, die ihre Kinder zu einer gesunden Ernährung anhalten, kämpfen danach „an uphill battle against television producers and advertisers.“ (Harrison 2005, S. 130) Auch hier steht die Kultivierungstheorie Pate. Die Analyse endet mit dem Satz: „In a world where children are constantly exposed to media misinformation, a medialiterate child is a healthier child.“ (ebenda, S. 130) Das Ernährungsbeispiel ist in den Bereich der genrespezifischen Kultivierung einzuordnen. Der einleitend erwähnte ‚CSI-Effekt‘80 ist dafür ein weiteres Indiz. Die Vorliebe für bestimmte Berufe kann durch die Präferenz bestimmter Programminhalte verstärkt oder sogar durch spezifische Angebote hervorgerufen werden. Die mediale Darstellung von Berufen ist daher ein weiteres Feld für Mediatisierungen. Osterland konnte bereits 1970 feststellen, dass in 12,6% aller Kinofilme (n=2281) der Jahre 1949 bis 1964 der Beruf zum Hauptthema, in 9,5% zum Nebenthema gemacht wurde (vgl. Osterland 1970, S. 78). Bereits Siehe hierzu die Ausführungen im Einleitungs-Kapitel.
252
Die Wirklichkeit der Medien Andrew Abbott beschäftigte sich mit der Wahrnehmung des beruflichen Status. Vor allem für Fachkräfte zeigte sich, dass die Wahrnehmung in der öffentlichen Sphäre eine andere ist als in der fachlichen, also unter Kollegen. Hier spielen objektive Indikatoren eine wesentlich größere Rolle. Das Fernsehen dagegen stelle die Berufe so dar, „wie Amerika sie sehen möchte“ (1981, S. 829; Übers. d. Verf.) und bringe auf diese Weise den Kindern den Status der Berufe bei. In einer im Jahr 2005 vorgelegten Analyse stellte Krüger fest: „Ähnlich wie für andere Lebensbereiche trägt das Fernsehen durch Auswahl und Gestaltung der gezeigten Berufe im Rahmen von Informations- und Unterhaltungsangeboten dazu bei, dass bestimmte Vorstellungsbilder von der Berufswelt entstehen und sich verbreiten können.“ (2005, S. 21) So taucht das Berufsfeld „Ordnung und Sicherheit“ im Fernsehen mit einem Anteil von 17,3% auf, nach den Ergebnissen des Mikrozensus 2001 arbeiten in diesem Berufsfeld 3,7% der Beschäftigten; im Berufsfeld „Technik und Naturwissenschaften“ arbeiten 7,9% der Beschäftigten, in der Fernsehwelt sind es 0,8% (vgl. Krüger 2005, S. 133). Dennoch darf aus solchen empirischen Konstellationen kein Automatismus abgeleitet werden. Ein Nachfragemangel in bestimmten Berufen lässt sich nicht allein durch gezielte Imagepflege in einem unterhaltenden Rahmen beseitigen. Zwischen Gefallen an und Entscheidung für einen Beruf operieren weitere Institutionen und Auswahlinstanzen. Ähnliche Untersuchungen gibt es auch zu Altersdarstellungen. Ältere Menschen mit hoher Fernsehnutzung weisen ein negativeres Altersbild auf als solche, die weniger fernsehen. Die meisten Erhebungen dieser Art berücksichtigen jedoch nicht mögliche Drittvariablen. Die Stärke von Kultivierungseffekten ist bspw. abhängig von den eigenen Erfahrungen und den Vorinformationen (vgl. Mayer 2009, S. 124). In aktuellen und methodisch differenzierteren Erhebungen stellte sich heraus, dass ältere nicht häufiger als jüngere Menschen Angst vor Kriminalität verspüren und auch die eigene Wahrscheinlichkeit, einem Verbrechen zum Opfer zu fallen, nicht anders einschätzen. Der Unterschied liegt in dem insgesamt vorsichtigeren Verhalten. Inwieweit dieses mit dem tatsächlichen Rückgang des Risikos einer Viktimisierung zusammenhängt, bleibt jedoch offen (vgl. Greve 2004, S. 256ff.).
Letztlich lassen sich mit Hilfe von Inhaltsanalysen nur erste Hinweise auf Wirklichkeitskonstruktionen finden, die sich nur selten im Sinne einer 1:1-Abbildung im Denken und Handeln der Menschen niederschlagen. Darüber hinaus ist ein Kultivierungsdifferential ein nur oberflächlicher Indikator für Veränderungen, die sich im Zuge einer regelmäßigen Fernsehnutzung ergeben können. Der Begriff lebt mehr von seinem umfassenden Anspruch als von inhaltlichen Erläuterungen. Er unterstellt einen Zusammenhang zwischen der Nutzungsintensität und der Beeinflussungswahrscheinlichkeit. Bereits Burdach hielt dieser Auffassung entgegen, dass im Falle
Die Wirklichkeit der Medien
253
einer permanenten Nutzung des Fernsehens auch eine geringe programmspezifische Aufmerksamkeit gegeben sein könne (vgl. Burdach 1987, S. 362). Wahrscheinlich ist unter den heutigen Bedingungen das Ausmaß der Fernsehdauer nicht die entscheidende Variable, sondern die Tatsache, dass sich ein Großteil der Menschen mit den Bildern des Fernsehens konfrontiert sieht. Die Anwendung der von Gerbner präsentierten Forschungsperspektive könnte dann an Plausibilität und Überzeugungskraft gewinnen, wenn sie auf konkretere Fragestellungen angewandt wird (z. B. die Vermittlung der Berufsbilder von Wissenschaftlern oder Politikern). Eine interessante Wechselbeziehung zeigt sich bspw. zwischen der medialen Darstellung des organisierten Verbrechens und den realen Organisationen. Diego Gambetta weist darauf hin, dass der Beruf des ‚Gangsters‘ mit erheblichen Kommunikationsproblemen verbunden ist. Wer steht auf welcher Seite? Wie mache ich meine Position deutlich, ohne die Aufmerksamkeit der falschen Leute auf mich zu lenken? Ließen sich die Mafiafilme und -fernsehserien noch von dieser Welt inspirieren, bedient sich heute die Mafia selbst der dort verwendeten Symbole. Hier sozialisieren sich die Gangster quasi indirekt selbst über die Medien. Der berühmte Pferdekopf fand so bereits Eingang in die Realität (vgl. Kaube 2010a, S. 30; Gambetta 2009). Unter Bezugnahme auf die Clinton/Lewinsky-Affäre vermutet Ruß-Mohl darüber hinaus, dass „die eigentliche Aufklärungsarbeit beim breiten Publikum nicht vom seriösen Journalismus geleistet wird, sondern von den Seifenopern des Fernsehens.“ (1999, S. 173) Er erweitert das Angebotsspektrum des Weiteren auf die Kassenschlager des Hollywood-Kinos. Wenn die hier präsentierte Theorie in ihrer allgemeinen Form belassen wird, bietet sie zahlreiche Einfallstore für Kritik. Angesichts der Vielfalt der Medieninhalte kann man sich nicht auf einzelne negativ hervortretende Sozialisationsfaktoren beschränken. Knut Hickethier weist ebenfalls darauf hin, dass nicht nur die negativen Meldungen von Terroranschlägen und unheilbaren Krankheiten unser Bild der Wirklichkeit prägen. Einerseits konkurrieren sie mit der tatsächlichen Erfahrung der Lebensumwelten. Andererseits bieten Unterhaltungsformate und fiktionale Programme meist einen positiven Ausgang an und zeigen einen letztendlich glücklichen Menschen. „Die Nachrichten von der Schlechtigkeit der Welt werden von den Schilderungen der Möglichkeit eines langen, erfolgreichen und glücklichen Lebens konterkariert“ (Hickethier 2008, S. 372). Wenn die hier präsentierte Theorie in ihrer allgemeinen Form belassen wird, bietet sie zahlreiche Einfallstore für Kritik. 8.3 Die Mediatisierung der Wirklichkeit Die Diskrepanz zwischen Theorie und Empirie, die der Kultivierungsanalyse als Kritik mitgegeben werden muss, hat die Bekanntheit dieser Forschungsperspektive nicht gemindert. Das Gesamtangebot der Medien hinterlässt heute - wie bereits an-
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Die Wirklichkeit der Medien
gedeutet81 - zunehmend einen diffusen und in der Tendenz unbefriedigenden Gesamteindruck, der aus den Schattenseiten der Vervielfältigung audiovisueller Medienangebote resultiert. Unter dem Begriff der Mediatisierung kann ein Ansatz verstanden werden, der sich mit den Wirkungen der Medienkommunikation auf gesellschaftlichen Wandel beschäftigt. Von besonderem Interesse sind hier die Wechselbeziehungen mit dem medialen Wandel. Ähnlich wie Individualisierung und Globalisierung soll auch Mediatisierung ein die Moderne prägender Prozess sein (vgl. Hepp/Hartmann 2010, S. 9). Nach Kury und Obergfell-Fuchs hat bspw. die sehr emotionale Berichterstattung über Fälle sexuellen Kindesmissbrauchs mit Todesfolge zu Beginn der 1990er Jahre zu einer Verschärfung der Gesetzesbestimmungen geführt. Dass es sich um ein Delikt mit steigender Tendenz handele, wird aber durch die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik der letzten Jahrzehnte nicht bestätigt. Das Gegenteil war der Fall (vgl. Kury/Obergfell-Fuchs 2003, S. 12). Auch in den letzten Jahren nahmen gerade solche Verbrechen wie Raubdelikte, vorsätzliche Körperverletzungen und Straßenkriminalität ab (vgl. BKA 2009, S. 27). Eine Vielzahl von Befunden spricht zudem dafür, dass im Hinblick auf Phänomene wie Unsicherheit und Angst, Personen mit einem überdurchschnittlichen und regelmäßigen Fernsehkonsum in der Einschätzung der sozialen Wirklichkeit nicht von statistischen Wahrscheinlichkeiten geleitet werden, sondern gemäß einer Spiegelbild-Theorie der Medien reagieren. Im Rahmen einer kriminologischen Untersuchung wurde diese Differenz zwischen direkter Betroffenheit und persönlicher Einschätzung als irrational und paradox bezeichnet. So wurde unter anderem festgestellt: „[...] alte Frauen [haben] am meisten Angst vor Verbrechen, werden aber vergleichsweise selten Opfer einer Gewalttat; junge Männer, die statistisch gesehen am häufigsten einer Straftat zum Opfer fallen, fürchten sich dagegen am wenigsten.“ (N.N. 1995, S. 10) Tatsächlich ist die Mordrate in den USA von 1991 bis zum Jahr 2000 sogar um 44 Prozent zurückgegangen. Wobei dieser Trend in unterschiedlichem Ausmaß alle regionalen und demografischen Gruppen betraf (vgl. Lane 2009). Ein weiteres interessantes Beispiel für einen den Ängsten widersprechender RealWorld-Indikator sind die ebenfalls zurückgegangenen Kriminalitätsraten in vielen, allgemein als gefährlich wahrgenommenen ‚border cities‘ in den USA, und vor allem deren hohes Ranking in der Liste der sichersten Städte. So rangierte El Paso im Jahr 2009 auf Platz zwei und San Diego auf dem sechsten Platz (vgl. Connolly 2010). Neuere Ergebnisse bestätigen aber nur noch eingeschränkt dieses ‚Kriminalitäts-Furcht-Paradox‘: Während mit zunehmendem Alter die Furcht eher ansteigt, zeigen sich im Falle jüngerer Frauen ebenfalls häufig Antizipationen von Gefahren (vgl. Kury/Obergfell-Fuchs 2003, S. 15f.). Ein Grund für diese Diskrepanz könnte sicherlich darin liegen, dass junge Männer ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten zum Widerstand weitaus höher einschätzen als ältere Menschen. Aber neben diesem 81
Siehe hierzu die Ausführungen in Kapitel 6.
Die Wirklichkeit der Medien
255
durchaus naheliegenden Hinweis wird der Wirkungsfaktor ‚Angebote der Massenmedien‘ im Sinne einer Verstärkungstheorie mitverantwortlich gemacht. Warr stellt bezüglich der USA fest, dass das Unsicherheitsgefühl der amerikanischen Bevölkerung über Jahrzehnte hinweg von einer relativen Stabilität gekennzeichnet war. „This relative invariance over time may surprise those who are accustomed to frequent media claims about ‚skyrocketing‘ fear in the United States.“ (Warr 2002, S. 1278) Auf die Frage, ob man in der eigenen Wohngegend vor einem allein unternommenen nächtlichen Spaziergang Angst hätte, antwortete die amerikanische Bevölkerung bis zur Jahrtausendwende ungefähr zu 55 bis 60% mit ‚Ja‘. Für die Jahre danach bis 2004 schwanken die Werte um einen Wert von 66%. Der Peak liegt mit 69% im Jahr 2001. Die Erklärung dürfte offensichtlich sein. Die Werte für die Furcht, einem terroristischen Akt zum Opfer zu fallen, liegen für dieses Jahr angesichts des 11. September 2001 entsprechend auch deutlich höher als normal (59%). Mittlerweile ist dieses Phänomen wieder zurückgegangen, die Zustimmungen schwanken wieder um jenen Wert, der vor diesem tragischen Ereignis in der Regel registriert wurde (ca. 39%) (vgl. Saad 2004; 2010). Der hypothetische Charakter der Fragestellungen blieb nicht ohne Kritik (z. B. nachts, alleine, Spaziergang). Entsprechend stellte Warr auch fest: „What Americans believe about crime in their country is not necessarily what they believe about crime in their own neighborhoods [...].” (1995, S. 302) Insgesamt sollte die Wahl der Indikatoren für Furcht vor gewalttätigen Übergriffen oder Kriminalität immer sorgfältig betrachtet werden. So zeigte sich, dass die Gründung von Nachbarschaftswachen zur Verbrechensprävention weniger durch tatsächliche Bedrohungen, sondern eher durch tiefer liegende Sorgen motiviert ist. Arbeitslosigkeit, Immobilienpreise und die moralische Sozialisation der Kinder sind hier entscheidende Faktoren (vgl. Carrabine et al. 2009, S. 224; Bauman 2008, S. 21). Zwar zeigen sich im internationalen Vergleich ähnliche Befunde zum Ausstrahlungseffekt der TV-Welt auf die Wahrnehmung der realen Welt (vgl. Hetsroni/Tukachinsky 2006, S. 134), doch eben auch interkulturelle Unterschiede in der Bedeutung von Verbrechen und Wohnumgebung. Selbst Zeichen in der Nachbarschaft, wie zerbrochene Scheiben und verfallene Bauten, zeigen keine eindeutige Beziehung zu Kriminalitäts-Furcht, sondern konnten unterschiedlich gedeutet werden oder wurden als Anzeichen für je andere Verbrechensrisiken interpretiert. Furcht vor Verbrechen kann sowohl auf soziale als auch psychologische, ökonomische oder politische Ebenen zurückgehen und damit ganz unterschiedliche Ängste ausdrücken (vgl. Farrall et al. 2009, S. 157ff.). Nicht nur aus diesem Grund sollte man mit Bagatellisierungen vorsichtig sein, sondern auch wegen der immer wieder beobachtbaren Beeinflussbarkeit der öffentlichen Meinung durch spektakuläre Ereignisse. Langzeitbeobachtungen des Instituts für Demoskopie Allensbach verdeutlichen einen Befund, der ein Auseinanderklaffen von Selbstwahrnehmung und Fremdeinschätzung illustriert. Während kriminelle Straftaten nach Auffassung der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland
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Die Wirklichkeit der Medien
deutlich zugenommen haben, wirkt sich diese Gesamteinschätzung in der Summe nicht negativ auf das persönliche Sicherheitsgefühl aus. Auf die Frage „Uns interessiert einmal, wie sicher sich die Menschen fühlen, wie sehr sie glauben, von irgendwelchen Verbrechen gefährdet zu sein. Wie ist das bei Ihnen, wie sicher fühlen Sie sich vor Verbrechen?” antworteten 1992 32% der Befragten mit „Ich fühle mich weitgehend sicher”, 1996 waren es sogar 37% (vgl. Köcher 1996, S. 5). Die für diese Zunahme des subjektiven Sicherheitsgefühls gegebene Erklärung siedelt die Wirkung der Medien (nicht nur des Fernsehens) auf einer anderen Ebene an, die der Schlussfolgerung von Warr (siehe oben) ähnlich ist: „Untersuchungen aus den Vereinigten Staaten belegen, dass Personen mit intensivem Medienkonsum, insbesondere mit hoher Fernsehnutzung, die Häufigkeit vieler Delikte massiv überschätzen, und zwar der Delikte, die weit überproportional Themen von Medienberichten und Filmen sind. Die Berichterstattung eines Teils der Medien über Verbrechen ist exzessiv und steht oft in keiner Relation zur Häufigkeit der Verbrechen; dasselbe gilt für die Häufigkeit von Verbrechen in Spielfilmen und Serien. Die Bevölkerung ist in wachsendem Maße mit Berichten über Verbrechen konfrontiert, die in ihrem persönlichen Umfeld nicht oder außerordentlich selten vorkommen.“ (Köcher 1996, S. 5)82 Diese Erklärung knüpft offensichtlich an das ‚Tuchmansche Gesetz‘ an, das zu Beginn dieses Kapitels bereits erwähnt wurde. Ergänzend kann darauf hingewiesen werden, dass in diesem Falle die Kultivierungsthese nicht vollständig in Anspruch genommen wird. Die Medienwirklichkeit steht im Widerspruch zu unmittelbaren Umwelterfahrungen in der Nahwelt, erfährt aber als Vermittlung der Fernwelt Zustimmung. Harald Kania empfiehlt daher auch eine differenzierte Betrachtung der Wirklichkeitsebenen in Bezug auf die Kriminalitätsvorstellungen. Die erste Wirklichkeitsebene wäre hier die kriminalstatistische Wirklichkeit, die zweite die tatsächlich verübte, also die „wirkliche Kriminalitätswirklichkeit“ (Kania 2004, S. 40). Von dieser zweiten Ebene sind manche direkt betroffen oder nehmen sie in ihrer unmittelbaren Erfahrungswelt wahr. Die dritte Ebene wären die subjektiven Vorstellungen, also die „Kriminalität in unseren Köpfen“ (Kania 2004, S. 141). Die kriminologische Forschung konnte zeigen, dass ein hoher Fernsehkonsum, ebenso ein niedriges Bildungsniveau, mit einer erwarteten Häufung bestimmter Kriminaldelikte einhergeht. Wenigseher nahmen an, dass der Tatbestand der Körperverletzung zwischen 1993 und 2003 um 46,9% zugenommen habe, Vielseher um 54,7% (vgl. ausführlicher hierzu Pfeiffer u.a. 2004, S. 420f.). Das Angstsyndrom wird häufig dort verortet, wo sich eine einseitige Konzentration auf audiovisuelle Angebote vorfinden lässt. Schulz hat bereits im Jahr 1986 von einem VielseherSyndrom gesprochen und damit auf Eigenschaften und Einstellungen verwiesen, die 82
Das Phänomen ‚Angst‘ wird regelmäßig mit Hilfe demoskopischer Instrumente beobachtet, aber nicht regelmäßig mit dem Ausmaß der Fernsehnutzung in Verbindung gebracht. Es ist nicht zu erwarten, dass sich an der hier beschriebenen Korrelation eine wesentliche Veränderung ergeben hat.
Die Wirklichkeit der Medien
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insbesondere von dieser Gruppe vertreten werden (vgl. Schulz 1986, insb. S. 769). Danach bestätigten Vielseher häufiger als die übrigen Befragten, dass sie unglücklich sind, ihr Leben als sinnlos empfinden, sich einsam fühlen, zu Pessimismus neigen und das Leben insgesamt viel stärker von Zufällen abhängig sehen. Hinzu kommt eine Fortschrittsangst. Nach den Ergebnissen der 1986 vorgelegten Studie stimmten 56% der Aussage zu: „Heutzutage verändert sich alles so schnell, dass man kaum folgen kann.“ (Schulz 1986, S. 769) Der Vergleichswert für Wenigseher betrug 34%, Personen mit einer durchschnittlichen Fernsehnutzung stimmten dieser Aussage zu 46% zu (vgl. Schulz 1986, S. 769). Auch in einer 1997 vorgelegten Studie bestätigten sich diese Charakterisierungen. Die nachfolgende Tabelle 8.4 fasst die Ergebnisse, differenziert nach Wenig- und Vielsehern, zusammen. Tabelle 8.4
Lebensauffassungen von Vielsehern83 Fatalistisch-pessimistische Lebensauffassungen der Vielseher
Frage: Ich lese Ihnen jetzt verschiedene Aussagen vor. Bitte sagen Sie mir jeweils, ob Sie dieser Aussage zustimmen oder nicht zustimmen.
„Stimme zu" in % Wenigseher
Vielseher
Im Leben hängt das meiste vom Zufall ab
15
23
Eigentlich hat man wenig Einfluß auf sein eigenes Schicksal
22
32
Heutzutage verändert sich alles so schnell, daß man kaum folgen kann
39
51
Es gibt mehr Schlechtes und Trauriges als Schönes und Erfreuliches in der Welt
27
34
Um im Leben voranzukommen, braucht man vor allem Glück und gute Beziehungen
53
64
Quelle: Schulz 1997, S. 97 Die geäußerten Lebensauffassungen gehen einher mit einer hohen Wertschätzung des Fernsehens, die Schulz unter Bezugnahme auf publizistische Funktionen dieses Mediums verdeutlicht. Dass das Fernsehen eine Orientierungshilfe leistet, den Erfahrungsreichtum erweitert, anregende Angebote bereithält und auch für Entspannung und Ablenkung sorgt, äußern Vielseher durchgängig häufiger als Wenigseher (vgl. Schulz 1997, S. 97). Vermutlich bündeln sich in solchen Beobachtungen ebenfalls die Resultate zirkulärer Wirkungsketten. Spezifische Lebenssituationen (z. B. 83
Neuere Analysen auf der Basis dieser Indikatoren liegen nicht in publizierter Form vor.
258
Die Wirklichkeit der Medien
Einsamkeit, geringes Freizeitangebot) und/oder persönliche Merkmale (z. B. unterdurchschnittliches Bildungsniveau, geringe berufliche Qualifikation) erhöhen die Wahrscheinlichkeit dieser Fernsehaffinität (vgl. zu den Merkmalen von Vielsehern auch die Analyse von Buß/Simon 1998). Ein Ergebnis aus Brasilien untermauert den von Schulz erwähnten Orientierungseffekt. Dort sind ‚novelas‘ äußerst beliebte Formate. Frauen, die diese regelmäßig verfolgen, zeigen eine deutlich niedrigere Geburtenrate oder bekommen gar keine Kinder mehr. In diesen ‚novelas‘ wird die durchschnittliche Familie nämlich deutlich kleiner dargestellt als es der brasilianischen Realität (noch) entspricht. Weibliche Hauptdarsteller haben zumeist gar keine und, wenn überhaupt, nur ein Kind. Frauen mit einem geringeren sozio-ökonomischen Status scheinen dieses Familienmodell leichter zu übernehmen, zumindest ist dort der Effekt am stärksten (vgl. La Ferrara et al. 2008). Vielsehen schafft somit günstige Voraussetzungen für ein Zurückdrängen unmittelbarer Erfahrungen, an deren Stelle sich eine unterschiedlich stark mediatisierte Erfahrung setzt. In mehreren Studien konnte auch gezeigt werden, dass für Vielseher viele der aus dem Fernsehen stammenden Images leichter zugänglich sind. Für weitere Faktoren konnte in Meta-Analysen in den meisten Fällen ein klarer moderierender Einfluss jedoch nicht gezeigt werden (vgl. Morgan 2009, S. 79f.). Die Frage nach den genauen kognitiven Prozessen und dem Einfluss der Lebenskontexte bleibt also auch weiterhin offen. In den über 5000 Studien zu der Thematik finden sich zu den meisten Variablen keine konsistenten Befunde (vgl. Röser 2005, S. 83f.). Es stellt sich die Frage, für wen welche Formate wie viel Relevanz besitzen und wie sie in den jeweiligen Alltag integriert werden. Hetsroni und Tukachinsky weisen außerdem darauf hin, dass bisher keine ausreichende Aufmerksamkeit der Frage gewidmet wurde, inwieweit die TV-Zuschauer die TV-Welt überhaupt richtig einschätzen. Vereinfacht postuliert die Kultivierungshypothese ja eine Einschätzung der Vorkommnisse in der realen Welt entsprechend den Charakteristika der TV-Welt. Bei einer verzerrten Wahrnehmung der TVRealität und deren Übertragung auf die reale Welt könnte dementsprechend nicht mehr von einer Kultivierung im engeren Sinne gesprochen werden. Ausgehend von der Frage, wie die Fernsehwelt und wie die reale Welt eingeschätzt wird, unterscheiden sie fünf Gruppen von Zuschauern. Um eine bessere Generalisierbarkeit ihrer Ergebnisse zu ermöglichen, nahmen Hetsroni und Tukachinsky den geschätzten Anteil alter Menschen als weiteren Indikator auf. Ein Zusammenhang zwischen TV-Konsum und der Einschätzung des Anteils Älterer an der Bevölkerung konnte schon mehrfach konsistent gezeigt werden und bietet somit eine sinnvolle Erweiterung und Kontrolle. Die einzelnen Kombinationen zeigen sich überaus stabil. So wird jemand, der in die Kategorie ‚overcultivation‘ fällt, bei der Einschätzung der Gewaltverbrechen, auch bei der Frage nach dem Anteil alter Menschen, dort eingeordnet. Der Zusammenhang zwi-
Die Wirklichkeit der Medien
259
schen dem Umfang des TV-Konsums und einer Kultivierung konnte also erneut gezeigt werden. Jedoch auf viel differenzierte Weise, wie aus Tabelle 8.5 ersichtlich ist. Dieser Zusammenhang bleibt auch nach einer Kontrolle demografischer Variablen und des Konsums weiterer Medien über die verschiedenen Inhalte hinweg bestehen. Selbst bei einer Untergliederung nach absolutem TV-Konsum, Serien- oder Nachrichtenkonsum und einer Kontrolle der Zeitungsnutzung bleibt die Hierarchie der Gruppen unverändert. Tabelle 8.5
Zuschauergruppen nach Einschätzung der TV- und realen Welt
Gruppe overcultivation
Einschätzung der
TVKonsum
TV-Welt
realen Welt
verzerrt
verzerrt Replika der TV-Welt
Vielseher
double distortion
korrekt
verzerrt Unterscheidung TV/Real
Oberes Mittel
simple cultivation
korrekt
verzerrt keine Unterscheidung TV/Real
Oberes Mittel
simple no cultivaton
korrekt
korrekt
Unteres Mittel
distorted no cultivation
verzerrt
korrekt
Wenigseher
Quelle: Eigene Erstellung in Anlehnung an Hetsroni/Tukachinsky 2006 Dass gerade die Vielseher zu einer verzerrten Einschätzung der realen Welt tendieren, wurde bereits besprochen. Zum einen verfügen sie über mehr zugängliche Informationen, zum anderen könnten nur noch besonders extreme Beispiele aus der großen Menge an konsumierten Inhalten hervorstechen und zur Bewertung herangezogen werden. Interessant ist auch der Befund, dass Wenigseher zu einer verzerrten Einschätzung der TV-Welt neigen. Eine Erklärungsmöglichkeit wäre analog ein Mangel an Informationen, um die TV-Realität einschätzen zu können, der sich einfach aus dem geringeren Konsum des Mediums ergibt. Für beide Gruppen könnte außerdem die anhaltende Kritik von Politikern, religiösen Gruppen und manchen Wissenschaftlern an der zu häufigen Darstellung von Gewalt und der Auslassung gewisser Gruppierungen in der Film- und Fernsehwelt als Anhaltspunkt dienen. Allgemein ist der Befund festzuhalten, dass Nachrichtenprogramme einen, wenn auch geringfügig größeren Einfluss auf die Einschätzung der Kriminalitätsraten haben. Dies konnte auch in anderen Studien mehrfach gezeigt werden. Die oft als Kritik angebrachte Fokussierung vieler Studien auf fiktive Abendprogramme erhält
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Die Wirklichkeit der Medien
hier neue Impulse.84 Gerade bei den Vielsehern stellt sich außerdem die Frage, inwieweit es zu ‚Resonanz‘-Effekten kommt. Wächst jemand bspw. in einer kriminellen Gegend auf und erfährt durch die TV-Welt hierin eine Bestätigung und Erweiterung der schon gemachten Erfahrungen, könnten sich die beiden Einschätzungen gegenseitig in Richtung Verzerrung bestärken (vgl. Hetsroni/Tukachinsky 2006). Der Aspekt einer Erweiterung der Erfahrungswelt geht zunehmend mit Einblicken in Lebensbereiche einher, die im privaten Umfeld des Nahbereichs beheimatet zu sein scheinen. Darauf hat Angela Keppler in ihrer Analyse der Konversation in Familien hingewiesen. Sie spricht davon, dass sich das Fernsehen zu einem Medium entwickelt, in dem eine „artifizielle[.] Fortführung der Normalität“ stattfindet und alltägliche Existenzen nach einer „außeralltägliche[n] Bestätigung“ suchen (vgl. Keppler 1994b, S. 8). Sehr persönliche Angelegenheiten werden unpersönlich und durch entsprechende Rahmungen in ein Kollektivspektakel transformiert. Was den einen als konsequenter Zugriff auf die Vielfalt des Lebens erscheint, empfinden andere (mehrheitlich) als peinliche Überschreitung von Umgangsformen und Persönlichkeitsrechten. Diese Angebotsformen des Fernsehens, die von sich selbst behaupten, die Realität widerzuspiegeln (‚Reality-TV‘), sind Bestandteil einer Programmentwicklung, die den Namen ‚Affektfernsehen‘ zur Folge hatte. Als konstitutive Elemente lassen sich mit Bente und Fromm ‚Personalisierung‘, ‚Authentizität‘, ‚Intimisierung‘ und ‚Emotionalisierung‘ nennen:
84
Personalisierung: Die Darstellung ist auf das Einzelschicksal, auf die unmittelbar betroffene Einzelperson zentriert. Allgemeines tritt hinter dem Individuellen zurück. Der Moderator bietet als konstantes soziales Element Möglichkeiten zur emotionalen Bindung. Authentizität: Die wahren Geschichten der unprominenten Personen werden je nach Sendekonzept entweder von diesen selbst erzählt oder mit diesen als Darstellern vor der Kamera inszeniert. Intimisierung: Vormals eindeutig im privaten Bereich liegende persönliche Belange und Aspekte zwischenmenschlicher Beziehungen werden zum öffentlichen Thema. Emotionalisierung: Die Sendungen betonen den emotionalen Aspekt der Geschichten, das persönliche Erleben und Empfinden, weniger die Sachaspekte. Die Gesprächsführung der Moderatoren und formale Angebotsweisen unterstützen diese Tendenz.“ (Bente/Fromm 1998, S. 614)
Dehm und Storll konnten ebenfalls zeigen, dass Menschen deutlich zwischen gespielter, fiktionaler und realer Gewalt unterscheiden. Auch hier zeigten sich deutlichere Effekte bei in den Nachrichten gezeigten Gewaltakten und Katastrophen (vgl. 2010, S. 427).
Die Wirklichkeit der Medien
261
‚Authentizität‘ scheint indes allgemein zu einem unverzichtbaren Attribut von Selbstdarstellungen einerseits und zu einer populären Legitimationsformel andererseits zu werden. Zumindest beobachtet man in Folge einer Expansion diesbezüglicher Angebote auch einen inflationären Gebrauch des Begriffs in unterschiedlichsten Zusammenhängen. Der nachfolgende Textauszug aus der Süddeutschen Zeitung kommentiert diesen Bedeutungswandel unter der Überschrift ‚Sei du, du, du!‘.
Authentizität: Zur Popularität eines Begriffs „[...] Authentizität. Das Wort, ohne das offenbar keine Talkshow, keine Wettervorhersage und keine Sportsendung moderiert werden kann. Manche Wörter sind datierbar: Vor dreißig Jahren kam kaum einer ohne ‚gesellschaftliche Relevanz’ durchs Leben, vor zwanzig Jahren musste man ‚emanzipiert’ sein und vor zehn Jahren ‚betroffen’. Authentizität ist eine Art Reste-Essen aus all diesen öffentlich zur Schau gestellten Befindlichkeiten, mit einem Unterschied: Sie lässt sich nicht in den Medien darstellen. Genauso gut könnte man sich ganz fest vornehmen, nicht an braune Bären zu denken. Das Wort ist ein Konstrukt, ein verlogenes und großkotziges dazu. [...] Authentisch heißt ‚echt’, ‚maßgeblich’, das griechische Wort ‚authéntes’ bedeutet ‚Urheber’, aber auch ‚Mörder’. Positiv war dieser Begriff nicht. Die antiken Redner forderten zwar das sogenannte ‚vir-bonus-Ideal’ (‚vir bonus’: der moralisch ehrenhafte Mann), aber sonst verspürte keiner den Drang, vom Gegenüber zu erfahren, ‚wie du wirklich bist, nun sag doch mal’. Diese grenzenlose Gefühlsinkontinenz entwickelte sich erst langsam im 19.Jahrhundert und wird seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts massiv pervertiert. Jetzt hat das unaussprechliche Wort auch das Medien-Massenpublikum erreicht – und seitdem ist die Frage ‚Hat der Mensch einen verborgenen IchKern?’, ähnlich wie Steinobst oder Kuckucksuhren, zu einer wichtigen Sozial- und Medienfrage geworden. [...] Für Medienpromis heißt das: den Satz ‚Nur wenn ich authentisch bin, bin ich gut’ auswendig lernen und fehlerfrei in die Kamera strahlen. Wer diese Regel beherrscht, hat ausgesorgt. [...].“ (Wilkens 2000, S. 19)
Inszenierungen des Alltags nehmen somit zu, die sich episoden-, aber dauerhaft den Höhen und Tiefen des Lebens widmen. Das Fernsehen ist Teil der modernen Lebenswelt und spiegelt diese wider, ergänzt durch medienspezifische Pointierungen und Verzerrungen. Es vermittelt damit auch Vorstellungen davon, wie auf oder in bestimmten Situationen reagiert werden sollte oder könnte. Hochschild (1990) spricht von „Gefühlsnormen“ (S. 73), Winterhoff-Spurk befürchtet angesichts der Zunahme solcher Angebote eine Verflachung der Gefühle (vgl. 2004, S. 82ff.).
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Die regelmäßige Präsenz dieser Angebote (z. B. in Form von Daily Soaps) gewährleistet Verlässlichkeit auf vielen Ebenen: für Programmanbieter, für die Werbewirtschaft und für die Zuschauer. Zugleich entstehen Märkte für Themen und Moden, die aufgrund dieser Verbündung mit dem Alltag zu einem Teil des öffentlichen Lebens werden. Diese gegenseitige Durchdringung von Angeboten und Wirklichkeiten ist ein wesentlicher Grund für die Karriere des Begriffs ‚Mediengesellschaft‘. Parallel dazu verändert sich die Wahrnehmung und die Vorstellung von ‚Öffentlichkeit‘. Der Bedeutung und dem Wandel dieses Begriffs widmet sich das folgende Kapitel.
Keppler, Angela (1994): Wirklicher als die Wirklichkeit? Das neue Realitätsprinzip der Fernsehunterhaltung. Frankfurt am Main. Morgan, Michael; Shanahan, James (1997): Two Decades of Cultivation Research: An Appraisal and Meta-Analysis, in: Burleson, Brant R. (Ed.): Communication Yearbook 20. Thousand Oaks usw., S. 1-45. Hetsroni, Amir; Tukachinsky, Riva H. (2006): Televison-World Estimates, Real-World Estimates, and Television Viewing: A New Scheme of Cultivation. In: Journal of Communication, No. 56. S. 133-156.
9 Öffentlichkeit, öffentliche Meinung und die Bedeutung der Medien
9.1 Öffentlichkeit und öffentliche Meinung. Begriffliche Vorbemerkungen Obgleich der Begriff ‚Öffentlichkeit‘ eine lange theoriegeschichtliche Tradition aufweisen kann, wurde über das damit bezeichnete Phänomen in der jüngeren Vergangenheit eine intensive publizistische und wissenschaftliche Auseinandersetzung geführt (vgl. die Beiträge in Neidhardt 1994). Ein konstitutives Merkmal von Öffentlichkeit ist, dass das dortige Sprechen und Handeln wahrgenommen bzw. beobachtet werden kann. In der Regel geht man von einem Publikum aus, das sich aber nicht notwendigerweise als solches konstituieren muss. Bereits ein ‚Sich-in-dieÖffentlichkeit-begeben‘ wird mit einer Überschreitung der Grenzen des privaten Bereichs assoziiert. Öffentlichkeit ist nicht an die Ortsgebundenheit von Akteuren und Zuschauern gekoppelt, sondern wird durch die Zwischenschaltung von Massenmedien einem dispersen Publikum zugänglich gemacht. Darauf ist in den Kapiteln 1 und 2 dieser Einführung schon hingewiesen worden. Die Aussagen der Massenkommunikation sind - entsprechend der Definition von Maletzke - immer öffentlich. Bevor audiovisuelle Medien diesen Bereich dominierten, war es die Erfindung der Druckerpresse, die langfristig zu einem Strukturwandel der Öffentlichkeit beitrug und diese mit Meinungen konfrontierte, die für sich ebenfalls das Attribut ‚öffentlich‘ reklamierten. Zaret hat dies an einer ausführlichen Analyse der Entwicklung der öffentlichen Meinung im England des 17. Jahrhunderts veranschaulicht. Wer das Privileg der freien Rede im englischen Parlament in Anspruch nahm, sprach nicht zum englischen Volk, sondern zu Parlamentariern, die sich hinter verschlossenen Türen versammelten. Auch die Möglichkeit, das eigene Anliegen in das Zentrum der Politik zu stellen, konnte nur in Form einer Petition geschehen, die nicht veröffentlicht werden durfte. Im Vorfeld des englischen Bürgerkriegs wurden immer häufiger Verstöße gegen diese Petitionsregel beobachtet. Sie schlugen sich unter anderem darin nieder, dass das eigene Anliegen auch im Namen einer Vielzahl anderer Menschen vorgetragen wurde, ohne diese explizit zu benennen. Zugleich zirkulierten die Petitionen in der Öffentlichkeit und verletzten das Gebot der Schweigepflicht. Petitionen wurden gedruckt, um damit Druck auszuüben (vgl. hierzu ausführlich Zaret 1996). Man berief sich auf ein Publikum, das gar nicht anwesend war und erweiterte damit den Bereich der politischen Öffentlichkeit (vgl. auch Kaube 1996, S. N5). Bereits durch diese Entwicklung dürfte das Ideal des politischen Räsonnements mit dem Problem der Integration divergierender Interessen, die sich dem Gemeinwohl verpflichtet fühlen, konfrontiert worden sein. WennM. Jäckel, Medienwirkungen, DOI 10.1007/978-3-531-93191-3_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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gleich das nachfolgende Zitat in einem anderen Kontext verwandt wurde, lässt es sich auch auf diesen Sachverhalt übertragen: „Was vor vielen berichtet und besprochen wird, ist in empirischem Sinne gewiß öffentlich. Aber nicht alles, was öffentlich wird, ist res publica.“ (Rucht 1994, S. 162) Ungeachtet der Tatsache, dass die politischen Trägerschichten nicht die Gesellschaft, sondern die bestehende Herrschaftsordnung repräsentierten, musste die Zunahme publizistischer Äußerungen als ein weiteres Feld der Politik erkannt werden, dass sich durch Begrenzungen der Informationsfreiheit (Zensur) nicht neutralisieren ließ. Obgleich der Begriff ‚öffentlich‘ im Zuge der Entwicklung eines modernen Staatsrechts allmählich auch die Bedeutung von ‚staatlich‘ erhielt, konkurrierte diese Auffassung mit aufklärerischen und vernunftorientierten Interpretationen. Die damit einher gehende Betonung der politischen Vernunft und die gleichzeitig beobachtbare Idealisierung des Ringens um politische Entscheidungen sah in den Möglichkeiten einer mediengestützten Vervielfältigung von Informationen eine allmähliche Öffnung der politischen Arena. Diese Vorstellung, die im Folgenden am Beispiel der Analyse von Habermas erläutert werden soll, musste sehr bald zur Kenntnis nehmen, dass eine mehr und mehr von Massenmedien dominierte Öffentlichkeit das Kriterium der Publizität in den Vordergrund stellt. In Bezug auf großräumige moderne Gesellschaften könne man, so Schelsky, nicht mehr bezweifeln, dass die Möglichkeiten der Kommunikation den Organisationen und Institutionen vorwiegend zur Aufrechterhaltung der gegenseitigen Kontakte dienen: „Dabei geht es gar nicht mehr nur um ‚öffentliche Meinung‘, sondern die Organisationen leben, ja sichern sich selbst erst durch publizistische Äußerung; [...] Soziologisch ausgedrückt: ‚Kommunikation‘ in der modernen Gesellschaftsverfassung ist vor allem Publizität. Alle gesellschaftlichen Bedürfnisse und Funktionen der modernen Großorganisationen leben primär im Medium der Publizität und Publizistik. Man kann daher die Illusion der ‚öffentlichen Meinung‘ im bildungsbürgerlichen Sinne ruhig aufgeben, die sachliche Aufgabe der Publizistik ist sozial viel wichtiger: Publizität ist das Blut, das durch alle Adern der modernen Sozialorganisation pulst und in ihrem Kreislauf diese am Leben erhält.“ (Schelsky 1975, S. 171) Öffentlichkeit und Medien erfahren hier eine Gleichsetzung, die von einer regulativen Idee der öffentlichen Meinung wenig hinterlässt. Die Entstehung und der Wandel dieser Idee sollen daher zunächst skizziert werden. 9.2 Strukturwandel der Öffentlichkeit. Die Analyse von Habermas Im Vorwort zu der erstmals im Jahr 1962 erschienenen Studie ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit‘ betont Habermas bereits zu Beginn, dass die Aufgabe seiner Untersuchung die Analyse des Typus „bürgerliche Öffentlichkeit“ (Habermas 1990, S. 51) ist. Diese Festlegung soll die Existenz anderer Trägerschichten nicht leugnen, son-
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dern die Verbindung zwischen der Emanzipation des Bürgertums und dem Aufkommen des Begriffs ‚öffentlich‘ hervorheben. Das Ziel seiner Ausführungen ist die institutionen- und ideengeschichtliche Untersuchung von Entstehung und Funktion der bürgerlichen Öffentlichkeit, um hierdurch unter anderem die Bedingungen eines ‚herrschaftsfreien Diskurses‘ untersuchen zu können (vgl. Müller-Doohm 2008, S. 99). Öffentlichkeit ist ein Wirkungskreis der bürgerlichen Gesellschaft (vgl. Habermas 1990, S. 56). Die Mehrfachverwendung des Begriffs ‚öffentlich‘ verdeutlicht Habermas an verschiedenen Beispielen: „‚Öffentlich‘ nennen wir Veranstaltungen, wenn sie, im Gegensatz zu geschlossenen Gesellschaften, allen zugänglich sind - so wie wir von öffentlichen Plätzen sprechen oder von öffentlichen Häusern. Aber schon die Rede von ‚öffentlichen Gebäuden‘ meint nicht nur deren allgemeine Zugänglichkeit; sie müssen nicht einmal für den öffentlichen Verkehr freigegeben sein; sie beherbergen einfach Einrichtungen des Staates und sind als solche öffentlich. Der Staat ist die ‚öffentliche Gewalt‘.“ (Habermas 1990, S. 54f.) Eine Formulierung wie ‚öffentlicher Empfang‘ weist auf den Repräsentationscharakter hin, der mit Veranstaltungen dieser Art assoziiert wird. Dessen Ausweitung führt allmählich zu einer Veränderung des im Mittelalter und in der Frühphase des Absolutismus dominierenden Typus der repräsentativen Öffentlichkeit, in der nur diejenigen, die herrschen, in der Öffentlichkeit auch etwas repräsentieren können. Wenn in diesem Zusammenhang von einem Gegensatz öffentlich/privat gesprochen wird, ist der „Ausschluß von der Sphäre des Staatsapparats“ (Habermas 1990, S. 66) gemeint. Eine Frühform der bürgerlichen Öffentlichkeit entsteht, in dem sich Privatleute zu einem Publikum versammeln. Dieser Austausch von Erfahrungen und Meinungen, der sich zunächst vorwiegend an literarischen Werken orientiert, nimmt allmählich Einfluss auf das Verhalten im öffentlichen Bereich. Diese Anlässe illustrieren die Anfänge einer Institutionalisierung der publikumsbezogenen Privatheit. Dass das Kriterium der Öffentlichkeit noch nicht hinreichend erfüllt ist, lässt sich an architektonischen Veränderungen der Häuser des englischen Landadels und des aufstrebenden Bürgertums verdeutlichen. Neben Räumlichkeiten, die alleine den Privatleuten zur Verfügung standen, zum Beispiel das Familienzimmer oder Wohnzimmer, wurden Empfangszimmer oder Salons geschaffen, „in denen sich die Privatleute zum Publikum versammeln.“ (Habermas 1990, S. 109) Somit ging „die Linie zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit [...] mitten durchs Haus. Die Privatleute treten aus der Intimität ihres Wohnzimmers in die Öffentlichkeit des Salons hinaus [...].“ (Habermas 1990, S. 109). Diese kleineren Versammlungen überschreiten im Verlaufe des 18. Jahrhunderts immer häufiger die Grenzen des Privaten und konstituieren eine Arena, die sich zunächst im Umfeld von Theater, Museum und Konzert Begegnungsmöglichkeiten schafft. Die soziale Herkunft dieser Publika ist bürgerlich. Die zunächst noch literarisch vermittelte Intimität eines Empfangszimmers verwandelt sich allmählich in ein öffentliches Räsonnement. Was im Privaten gelesen wird,
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findet in öffentlichen Diskussionen seine Fortsetzung. Begleitet wird diese Veränderung durch eine erkennbare Ausweitung des Angebots an Tageszeitungen und Wochenzeitschriften. Ihr Umsatz verdoppelte sich bspw. in England innerhalb eines Vierteljahrhunderts (ausgehend von 1750). Insbesondere über diese Medien ging der „Erfahrungszusammenhang der publikumsbezogenen Privatheit auch in die politische Öffentlichkeit ein.“ (Habermas 1990, S. 116) Dem Staat als Sphäre der öffentlichen Gewalt tritt allmählich eine vom Bürgertum dominierte Gesellschaft gegenüber, die unterschiedlichste Anliegen artikuliert. Träger dieser Öffentlichkeit ist somit ein Publikum, das sich in Salons, Clubs und in der bürgerlichen Presse Foren schafft und zu politischer Geltung gelangt. Das hier beschriebene Ideal lässt die politische aus einer literarischen Öffentlichkeit entstehen. Das Ergebnis dieses sozialen Wandels gibt Abbildung 9.1 wieder. Abbildung 9.1
Vereinfachter Grundriss der bürgerlichen Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert Staat Sphäre der öffentlichen Gewalt
Repräsentation
Herrschaft Streben nach politischer Geltung Politische Öffentlichkeit = Forum der bürgerlichen Gesellschaft
literarische Öffentlichkeit
Warenverkehr, Produktion, Reproduktion und Familie
Privaträume als Versammlungsorte (publikumsbezogene Privatheit)
Bürgerliche Gesellschaft
Quelle: Eigene Erstellung in Anlehnung an Habermas 1990, S. 89
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Das einleitend erwähnte Beispiel England wird auch von Habermas als Modellfall analysiert. Hier zeichnet sich insbesondere gegen Ende des 18. Jahrhunderts ab, dass die Presse das räsonierende Publikum als Appellationsinstanz instrumentalisiert. Die öffentliche Meinung wird für die eigenen Ideen in Anspruch genommen. Aber auch Staatsmänner wissen die neue Situation für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. So wird der Geist bestimmter Parteien über Pamphlete und Journale zu einem „public spirit“ (Habermas 1990, S. 125). Der Zugang zu den Parlamentsdebatten, der sich den Journalisten in England seit dem Jahr 1772 mehr und mehr öffnete (vgl. Esser 1999, S. 206), beendete das Zeitalter der Politik als geschlossene Veranstaltung. Die Tagespresse - etwa die Londoner ‚Times‘ - eroberte den politischen Raum. Die Zahl der politischen Vereine nahm zu und immer häufiger wurden sogenannte ‚Public meetings‘ abgehalten.85 Nach Habermas hat sich diese Form des politischen Räsonnements gegen Ende des 19. Jahrhunderts soweit organisiert, „daß es in der Rolle eines permanenten kritischen Kommentators die Exklusivität des Parlaments definitiv aufgebrochen und sich zum offiziell bestellten Diskussionspartner der Abgeordneten entwickelt hat.“ (Habermas 1990, S. 132) In dieser Skizze der regulativen Idee von Öffentlichkeit vermischen sich empirische und normative Elemente. Diese Kritik hat immer wieder zu der Frage geführt, ob die Idee oder eine sich dieser Idee verpflichtende Praxis überwiege (vgl. hierzu auch Gerhards/Neidhardt 1991, S. 33, sowie Gerhards 1997). Hieraus resultiert auch die Anschlussfrage, ob die von Habermas herausgestellte Emanzipation des Bürgertums einen geeigneten Ausgangspunkt für die Diagnose eines sozialen Wandels darstellen kann. Emanzipation realisiert sich danach als das bewusste Heraustreten aus dem Kreislauf von Produktion, Konsum und Reproduktion (vgl. hierzu auch Koselleck 1973, S. 41). Aus der Verknüpfung des Erfahrungszusammenhangs der publikumsbezogenen Privatheit mit der politischen Öffentlichkeit (vgl. Habermas 1990, S. 116) ist zu erklären, warum das (Ideal-)Ergebnis des von Habermas beschriebenen Emanzipationsprozesses nunmehr mit einer Entwicklung kontrastiert wird, die in der prägnanten Aussage „Vom kulturräsonierenden zum kulturkonsumierenden Publikum“ (Habermas 1990, S. 248) zusammengefasst wird. Damit soll zunächst Folgendes veranschaulicht werden: Im Zuge einer Ausdehnung des Pressewesens gewinnt diese nicht nur den Status eines Forums der politischen Öffentlichkeit, sondern verstärkt zugleich eine Tendenz, die das Heraustreten aus der Privatsphäre wieder verringert und den Rückzug in die häusliche Privatsphäre begünstigt. Infolgedessen ist eine Tendenz zur konsumtiven Haltung erkennbar, die den gerade entstandenen öffentlichen Kommunikationsraum in Einzelteile zerfallen lässt 85
Mit der historischen Entwicklung der Selbstorganisation im Zusammenhang mit der medialen Formierung beschäftigt sich u. a. Requate (2009). Die Entwicklung der Medien im 19. Jahrhundert unterstützte durch die zunehmende kommunikative Vernetzung die Entstehung der Zivilgesellschaft.
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und die politische Öffentlichkeit in eine Vielzahl vereinzelter Rezeptionsakte verwandelt. Allein die Zuordnung dieser Tätigkeit in den allmählich entstehenden Bereich der Freizeit, der sich von der dominierenden Arbeitswelt zu emanzipieren beginnt, sei bereits ein Ausdruck des apolitischen Charakters dieses Vorgangs: „Die Freizeitbeschäftigungen des kulturell konsumierenden Publikums finden [...] selbst in einem sozialen Klima statt, ohne daß sie irgend in Diskussionen eine Fortsetzung zu finden brauchten: mit der privaten Form der Aneignung entfällt auch die öffentliche Kommunikation über das Angeeignete.“ (Habermas 1990, S. 252) Dieser Wandel vollzieht sich nicht abrupt, erfährt aber in einer erkennbaren Kommerzialisierung der Massenpresse ein mit dieser Mentalität korrespondierendes Format. Die Ausbreitung der Massenmedien und der Beginn des Fernsehzeitalters haben im Weiteren dazu geführt, dass das öffentliche Räsonnement, das vormals auch außerhalb der Medien stattfand, nun innerhalb der Medien einen festen Platz erhält. Selbst Kommunikation werde nun verwaltet, organisiert und produziert: „[...] professionelle Dialoge vom Katheder, Podiumsdiskussionen, round table shows - das Räsonnement der Privatleute wird zur Programmnummer der Stars in Funk und Fernsehen, wird kassenreif zur Ausgabe von Eintrittskarten, gewinnt Warenform auch noch da, wo auf Tagungen sich jedermann ‚beteiligen‘ kann.“ (Habermas 1990, S. 253) Zugleich wird von Habermas eine Entwicklung beschrieben, die das Aufkommen der Massenmedien - seien es zunächst Zeitschriften, später der Hörfunk und das Fernsehen - mit einer Aufwertung des Privaten in Verbindung bringt. Ein „Donct talk back“ (Habermas 1990, S. 261) wird charakteristisch für die Rezeption und die Öffentlichkeit verliert ihre wichtige Funktion der Artikulation eines politischen Willens. Es kommt allenfalls noch zu einem Austausch von Geschmäckern und Neigungen (vgl. Habermas 1990, S. 261). Der Strukturwandel der Öffentlichkeit zeigt sich vor allem in einer Umkehrung des Verhältnisses von öffentlich und privat: „Öffentlichkeit wird zur Sphäre der Veröffentlichung privater Lebensgeschichten, sei es, daß die zufälligen Schicksale des sogenannten kleinen Mannes oder die planmäßig aufgebauter Stars Publizität erlangen, sei es, daß die öffentlich relevanten Entwicklungen und Entscheidungen ins private Kostüm gekleidet und durch Personalisierung bis zur Unkenntlichkeit entstellt werden.“ (Habermas 1990, S. 262) Unter diesen Bedingungen kehrt das Private in doppelter Hinsicht zurück: als bevorzugte Rahmung für Themen und als Ort der Auseinandersetzung mit den präsentierten Inhalten. Insofern erscheint Habermas die Vorstellung einer öffentlichen Meinung als Fiktion. Man könnte überspitzt formulieren: Das Publikum verlässt die Arena der politischen Öffentlichkeit und übernimmt die passive Rolle des Zuschauers oder Zuhörers. Es verzichtet auf die ‚Eingabe‘ von Auffassungen in jenen Bereich, der maßgeblich an der Entstehung öffentlicher Meinungen beteiligt ist und ein weites Publikum erreichen kann. Die formelle, institutionell autorisierte Meinung erfährt ihre Legitimation nicht aus dem Räsonnement einer (bürgerlichen)
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Öffentlichkeit. Stattdessen entfaltet sich eine Form von Publizität, die auch Schelsky mit seinem Hinweis auf die ‚Illusion der öffentlichen Meinung‘ (siehe oben) beschrieben hat. Habermas drückt diese Entwicklung wie folgt aus: „Diese formellen Meinungen lassen sich auf angebbare Institutionen zurückführen; sie sind offiziell oder offiziös als Verlautbarungen, Bekanntmachungen, Erklärungen, Reden usw. autorisiert. Dabei handelt es sich in erster Linie um Meinungen, die in einem verhältnismäßig engen Kreislauf über die Masse der Bevölkerung hinweg zwischen der großen politischen Presse, der räsonierenden Publizistik überhaupt, und den beratenden, beeinflussenden, beschließenden Organen mit politischen oder politisch relevanten Kompetenzen (Kabinett, Regierungskommissionen, Verwaltungsgremien, Parlamentsausschüssen, Parteivorständen, Verbandskomitees, Konzernverwaltungen, Gewerkschaftssekretariaten usw.) zirkulieren. Obwohl diese quasiöffentlichen Meinungen an ein breites Publikum adressiert sein können, erfüllen sie nicht die Bedingungen eines öffentlichen Räsonnements nach liberalem Modell. Sie sind als institutionell autorisierte Meinungen stets privilegiert und erreichen keine wechselseitige Korrespondenz mit der nichtorganisierten Masse des ‚Publikums‘.“ (Habermas 1990, S. 356) Revisionen dieses Modells der bürgerlichen Öffentlichkeit sind zwischenzeitlich vorgenommen worden. In der Neuauflage des Buches ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit‘ wird bspw. der Vorwurf einer „Überstilisierung der bürgerlichen Öffentlichkeit“ (Habermas 1990, S. 15) und die damit einhergehende Vernachlässigung anderer Arenen und Trägerschichten einer politischen Öffentlichkeit einleitend diskutiert. Habermas’ Studie orientiert sich an idealtypischen Unterscheidungen, zu denen neben Öffentlichkeit versus Privatheit die Trennung von Staat und Gesellschaft zählt. Bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts war erkennbar, dass sich eine stärkere Verschränkung von Staat und Ökonomie abzeichnete. Darüber hinaus entwickelten sich sozialstaatliche Massendemokratien, in denen Interessen zunehmend auf Verbandsebene gebündelt wurden. Insofern kann von einer Vergesellschaftung des Staates gesprochen werden. Für den vorliegenden Zusammenhang ist die Revision der Publikumsauffassung wichtiger, die sich ursprünglich noch an Adornos Theorie der Massenkultur86 orientiert hatte. Habermas gesteht ein: „Kurzum, meine Diagnose einer geradlinigen Entwicklung vom politisch aktiven zum privatistischen, ‚vom kulturräsonierenden zum kulturkonsumierenden Publikum‘ greift zu kurz. Die Resistenzfähigkeit und vor allem das kritische Potential eines in seinen kulturellen Gewohnheiten aus Klassenschranken hervortretenden, pluralistischen, nach innen weit differenzierten Massenpublikums habe ich seinerzeit zu pessimistisch beurteilt. Mit dem ambivalenten Durchlässigwerden der Grenzen zwischen Trivial- und Hochkultur und einer ‚neuen Intimität zwischen Kultur und Politik‘, die ebenso zweideutig ist und Information an Unterhaltung nicht bloß assimiliert, haben sich 86
Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 3.
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auch die Maßstäbe der Beurteilung selber verändert.“ (Habermas 1990, S. 30) Diese Revision impliziert einen differenzierteren Blick auf die politische Kultur und verschiedene Formen der politischen Partizipation (siehe auch die Ausführungen von Schultz 2003, S. 131ff.). An der ursprünglichen Forderung, dass der liberale Rechtsstaat sich an dem Gebot einer politisch fungierenden Öffentlichkeit orientieren muss, hält Habermas fest und setzt auf die Produktivkraft des Diskurses (vgl. Habermas 1990, S. 33). In einer Demokratie müsse jeder normative Geltungsanspruch einer Begründungspflicht unterzogen werden. Zugleich wird damit die Notwendigkeit einer politisch funktionierenden Öffentlichkeit unterstrichen, die sich als Gegenpol zu einer von Massenmedien beherrschten Öffentlichkeit bewähren muss. Eine Demokratie sei nur dann ideal, wenn sie die Einrichtung ihres gesellschaftlichen Lebens selbst in die Hand nimmt. Die öffentliche Meinung werde verzerrt, wenn sich verschiedene Formen der politischen Entfremdung der Bürger vom politischen Prozess verstärken (vgl. Habermas 1990, S. 43) und Öffentlichkeit sich auf eine vermachtete Arena reduziert, in der eine manipulative Publizität die kritische verdränge und das Publikum der Privatleute nur „zum Zweck der Akklamation“ (Müller-Doohm 2008, S. 100) einbezogen werde. Worauf sich eine solche Begründungspflicht stützt, scheint jedoch neuerdings wieder fraglich, besonders dann, wenn die politische Kultur mit Prominenz aus Film, Musik oder Sport im Abendprogramm zusammenfindet. Bolz formuliert dies besonders drastisch: „Berühmtheiten dürfen Schwachsinn äußern, ohne damit störend aufzufallen.“ (Bolz 2004, S. 17) In Talkrooms scheine alles erlaubt und jeder, der sich in das ‚Celebrity-Design‘ einfügt, willkommen. Die moderne Streitkultur hat sich nach Bolz längst in Talk aufgelöst. An die Stelle des Diskurses trete der Klatsch und die Kritik werde kurzerhand durch Moralisierung ersetzt (vgl. Bolz 2004, S.16ff. und die Analyse von Schultz 2003). Ähnlich las sich auch eine Reaktion auf die Meldung, dass Sabine Christiansen ihre politische Talkshow beenden werde. Unter der Überschrift ‚Wie eine Unpolitische Politik machte‘ wurde der Weggang mit dem Zerreißen eines Netzwerks verglichen: „[...] es fällt eine Institution, ein außerparlamentarisches Forum […] Was bleibt, wenn Sabine Christiansen vom Bildschirm verschwindet? Ein leerer Salon, ein leerer Stuhl, eine leere Stelle. [...] Der Satz von Friedrich Merz: ‚Diese Sendung bestimmt die politische Agenda in Deutschland mittlerweile mehr als der Bundestag.‘ Die Partys, die Umarmungen, das Bussi-Bussi, die Gesten engen persönlichen Umgangs mit ihren Dauergästen nach der Show, von dem die Zuschauer nichts wissen, den aber jeder erahnen konnte, je länger er dem sonntäglichen Ritual beiwohnte.“ (Hanfeld 2007, S. 3) Nach Schultz könnten politische Diskussionsrunden zwar durchaus einen Beitrag zur allgemeinen politischen Kommunikation beitragen, jedoch sei ihr Gehalt in besonderem Maße von den Charakteristika des Formats, der argumentativen Substanz und dem Dialog der Teilnehmer abhängig. Nichtsdestotrotz sind sie neben Parlaments-
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debatten, Pressekritiken und ähnlichen Formen und Formaten ein Teil der politischen Kultur (vgl. Schultz 2006, S. 316ff.)
Polit-Talkshows und ihre Zukunft „Fragt ,man Felix Schmidt [Produzent von ‚Talk im Turm‘ mit Erich Böhme (1930-2009), Anm. d. Verf.], was er von politischen Talkshows im deutschen Fernsehen hält, sagt er: ‚Ich schaue sie mir kaum noch an. Das Format hat sich komplett überlebt.’ Sein Urteil wiegt schwer. Schließlich hat Schmidt das Genre erfunden. [...] Nun ermüden Schmidt ‚die immergleichen Statements der Politiker, die man schon zigmal gehört hat‘. Mit dem Urteil steht er nicht allein. Der Medienwissenschaftler Lutz Hachmeister sieht es genauso: ‚Die politischen Talkshows im deutschen Fernsehen sind in der Krise’. [...] Hinter vorgehaltener Hand räumen sogar ARD-Hierarchien ein, dass es um die politischen Plauderrunden nicht gut bestellt ist." (vgl. Renner 2008)
9.3 Öffentlichkeit und öffentliche Meinung. Die Theorie von Luhmann Mit der Bezugnahme auf Luhmanns Theorie der öffentlichen Meinung kehrt in der vorliegenden Darstellung eine Perspektive zurück, die unter dem Stichwort ‚Konstruktivismus‘ bereits kurz skizziert wurde 87. Dieser Perspektivenwechsel schlägt sich in einer völlig anderen Auseinandersetzung mit dem Phänomen ‚Öffentlichkeit‘ nieder. Luhmann geht zunächst von der Beobachtung aus, dass in modernen Massendemokratien tagtäglich eine Vielzahl an Informationen bereitgestellt wird, die ein unmittelbares Beobachten der Umwelt ersetzen. Berichte über Ereignisse, Meldungen etc. sind allesamt Veröffentlichungen von Themen, die in einer bestimmten Form Beobachtungen von Beobachtern bereitstellen. Dieser Beobachtungsmechanismus kann sich über viele Ebenen erstrecken. Der Journalist beobachtet bspw. die Politik, die Politik beobachtet die Politik oder blickt auf ein anderes System, zum Beispiel die Wirtschaft. Nur selten sind solche Beobachtungen von Unmittelbarkeit gekennzeichnet. Insofern ist die Veröffentlichung von Meinungen ein wichtiger Bestandteil der Öffentlichkeit als solcher. Schon das angedeutete Beispiel mag den Eindruck vermitteln, dass es hier nicht um Ideale geht, die mit dem Begriff ‚Öffentlichkeit‘ assoziiert werden. Es mag sein, dass dort auch räsoniert wird, aber diese Funktionszuschreibung ist für Luhmann bereits Teil einer Forderung an die Öffentlichkeit, sich selbst als Mittel der Durch87
Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 3 und Kapitel 8.
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setzung von Vernunft zu verstehen (vgl. Luhmann 1996, S. 186). Er gesteht ein, dass sich durch die Erweiterung des Zugangs zu insbesondere politischen Informationen die Vorstellung von einer öffentlichen Meinung entwickeln konnte, die zur „Letztinstanz der Beurteilung politischer Angelegenheiten“ (Luhmann 1996, S. 187) wird. Für seine Fragestellung aber ist entscheidend, wie bestimmt werden kann, was zur Öffentlichkeit gehört und was nicht. Welche Phänomene werden dort zugelassen und was ist ein Ausschlusskriterium? Bereits diese Fragen lassen erkennen, dass es um das Problem der Offenheit geht. Öffentlichkeit konstituiert sich über ein unbestimmtes Themenspektrum. Hier ist der Kern des Phänomens zu finden: „Öffentlichkeit ist mithin ein allgemeines gesellschaftliches Reflexionsmedium, das die Unüberschreitbarkeit von Grenzen und, dadurch inspiriert, das Beobachten von Beobachtungen registriert.“ (Luhmann 1996, S. 187) Während in der Habermas’schen Konzeption die Herstellung von Öffentlichkeit und die politische Funktion derselben im Vordergrund steht, betont Luhmann insbesondere die Thematisierungsfunktion. Öffentlichkeit kann aufgrund der angedeuteten Offenheit nicht als System gedacht werden, das klare Grenzen hat, sondern im Gegenteil als „gesellschaftsinterne Umwelt der gesellschaftlichen Teilsysteme“ (Luhmann 1996, S. 184). Diesen Gedanken soll Abbildung 9.2 veranschaulichen. Von einem heimlichen Souverän oder einer Urteilsinstanz ist diese theoretische Sichtweise weit entfernt. Öffentlichkeit wird zudem nicht auf ein Spiegelbild der Wirklichkeit in verschiedenen Teilsystemen der Gesellschaft reduziert88. Öffentliche Meinung ist nicht die Meinung einer Vielzahl von Individuen und entspricht auch nicht dem, was im Bewusstsein der Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt faktisch vor sich geht. Jeder Versuch, Einstellungen und Meinungen als entscheidende Referenz zu betrachten, müsse zu dem Ergebnis kommen, dass man es stets mit einem latenten Phänomen zu tun habe (siehe auch den folgenden Beispieltext). Diese Ereignisse im weiteren Sinne sind von verschwindender Dauer (vgl. Stichweh 2007, S. 249). Stattdessen schlägt er vor, öffentliche Meinung als auf das „Sozialsystem der Gesellschaft“ (Luhmann 1990, S. 172) bezogen zu betrachten, weil hier Auffassungen und Meinungen, mithin Sinn, in Form von Kommunikation transparent gemacht wird. Jede Bezugnahme auf das, was sich gerade in dem Bewusstsein einzelner oder vieler Menschen vollzieht, führe zu einem „unbeschreiblichen Chaos gleichzeitiger Verschiedenheit.“ (Luhmann 1990, S. 172) Das Besondere der öffentlichen Meinung bestehe gerade darin, dass sie ein „Kommunikationsnetz ohne Anschlußzwang“ (Luhmann 1990, S. 172) repräsentiere, das durch konkrete Handlungen der Menschen nicht unmittelbar betroffen werde: „Ob man liest, fernsieht, Radio hört oder nicht und was man auswählt, bleibt dem Einzelnen freige88
Baecker sieht die Öffentlichkeit ebenfalls nicht als System. Sie ist seiner Ansicht nach „eine Beobachtungsformel der Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft“ (Baecker 1996, S. 99). Dabei oszilliert Öffentlichkeit immer wieder zwischen Selbst- und Fremdreferenz hin und her. (siehe hierzu ausführlich Baecker 1996, S. 100)
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stellt, ohne daß dies die Vorstellungen über öffentliche Meinung beeinträchtigte. Es braucht daher auch nicht zu erstaunen, daß Effekte der öffentlichen Kommunikation [...] als Orientierungsverluste der Individuen beobachtet werden können.“ (Luhmann 1990, S. 173) Abbildung 9.2
Öffentlichkeit als gesellschaftsinterne Umwelt der gesellschaftlichen Teilsysteme
Beobachtung Massenmedien
Öffentlichkeit
Politik
Recht
Ökonomie
Kunst
Beobachtung Quelle: Eigene Erstellung in Anlehnung an Luhmann 1996, S. 184ff.
Latente Öffentlichkeit als paradoxes Konstrukt „Viel mehr als früher verstehen wir Menschen als Individuen. Viel mehr als früher ist uns klar, wie intransparent das Einzelbewußtsein für sich selber ist und wie wenig von einer Meinung aus festgelegt ist, wie der Einzelne in den jeweils auf ihn zukommenden Situationen reagieren wird. [...] Man kann sich zwar vorstellen, daß es eine geringere Bandbreite von Einstellungen zu bestimmten Themen gibt. Aber auch hier ist deren Invarianz über Zeit hinweg
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Öffentlichkeit, öffentliche Meinung und die Bedeutung der Medien und deren Kontextunabhängigkeit eine fragwürdige Unterstellung, und auch hier stießen wir auf das Problem, wann es denn vorkommt und wovon es abhängt, daß bestimmte Einstellungen zu einem bestimmten Zeitpunkt von einer großen Zahl von Personen aktualisiert werden. Offenbar setzt dies Kommunikation voraus, kann also nur über eine strukturelle Kopplung sozialer und psychischer Systeme realisiert werden. Würde man auf Einstellungen bzw. Meinungen im Sinne einer psychischen Disposition abstellen, käme man nach all dem auf das merkwürdige, wenn nicht paradoxe Konstrukt einer stets latenten Öffentlichkeit. Und man müßte zugeben, daß es keine Operationen gibt, mit denen dieses Paradox aufgelöst und Öffentlichkeit psychisch zu Tage gefördert werden könnte. [...] Die Kommunikation wäre viel zu langsam, um die Meinungen vieler zu einem bestimmten Zeitpunkt sichtbar zu machen.“ (Luhmann 1992b, S. 77f.)
Dass es dennoch zu Anschlüssen an diese Formen der öffentlichen Kommunikation kommt, veranschaulicht nach Luhmann die eigentliche Bedeutung der öffentlichen Meinung. Sie ist nicht nur das Resultat öffentlicher Kommunikation, sondern ist zugleich eine Voraussetzung für weitere Kommunikationen, die sich darauf beziehen. Die öffentliche Meinung wird selbst zu einem Medium, „in dem durch laufende Kommunikation Formen abgebildet und wieder aufgelöst werden.“ (Luhmann 1990, S. 174) Die Begriffe Medium und Form bedürfen daher einer kurzen Erläuterung. Betrachtet man bspw. die Sprache als ein Medium, dann ist ein Satz die sinnvolle Verknüpfung von Worten. Diese Verknüpfung entspricht einer „Selektion im Bereich eines Mediums“ (Luhmann 1997, S. 196), die in einer Form resultiert. Die Wörter sind Elemente der Sprache, die miteinander verbunden werden (vgl. Luhmann 1997, S. 198). Wenn man öffentliche Meinung als ein Medium betrachtet, muss auch hier die Unterscheidung zwischen Element und Verknüpfung (Luhmann spricht von loser und strikter Kopplung der Elemente) identifiziert werden. Diese Bestimmung aber stellt das Kernproblem dar. Individuelle Meinungen entsprechen den losen Elementen, die für sich nicht adäquat abgebildet werden können, weil die Bewusstseinszustände einer Vielzahl von Menschen nicht transparent genug sind. Damit öffentliche Meinung eine Form erhält, ist der Weg über die Aggregation der individuellen Elemente somit nicht realistisch und durchführbar. Stattdessen wird nach einem verbindenden Faktor gesucht, welcher den Fortbestand des Mediums ‚öffentliche Meinung‘ sicherstellt: die Aufmerksamkeit der Individuen. Die faktische Übereinstimmung von vielen individuellen Meinungen ist damit aber ebenfalls nicht gewährleistet. Dennoch wird von einer ‚öffentlichen Meinung‘ gesprochen und es gibt darüber hinaus eine „öffentliche Kommunikation, die auf dieser Fiktion beruht und durch sie in Gang gehalten wird.“ (Luhmann 1990, S. 175) Das macht die Unbestimmtheit des Mediums ‚öffentliche Meinung‘ aus. Verbreitungsmedien (Massenmedien) können in dieser Situation Orientierung verschaffen: „Presse und Funk sind die Formgeber dieses Mediums.“ (Luhmann 1990, S. 176) Diese Formge-
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ber binden die Aufmerksamkeit des Publikums und arbeiten nach bestimmten Regeln. Luhmann nennt diesbezüglich zum Beispiel die folgenden Aspekte:
Es muss immer wieder etwas Neues berichtet werden. Presse und Funk erzeugen Diskontinuität. Ein wirksamer und dauerhafter Kontrast zum Alltagsleben soll hergestellt werden. Diese organisierte Differenz illustriert Luhmann mit der Unterscheidung von Lebensrhythmik und Nachrichtenrhythmik. Aus dieser Differenz leitet sich die temporale Struktur der öffentlichen Meinung ab. Nicht nur, dass Themen eine Karriere haben und von unterschiedlichen Aufmerksamkeitszyklen leben. Die Offenheit des Mediums garantiert ein unbegrenztes Nachrichtenspektrum. Sehr anschaulich wird dies mit dem folgenden Zitat verdeutlicht: „Wenn am Sonntag nichts passiert, hat man statt dessen Sport. Die Autounfälle des Tages werden registriert, um sie eventuell bringen zu können. Zentralereignisse der Politik wie Wahlen oder Gipfelkonferenzen werden vorher und nachher behandelt. Zeit wird damit reflexiv, indem die Neuigkeit darin besteht, daß man melden kann, daß man noch nicht weiß, worin sie besteht.“ (Luhmann 1990, S. 177)
Alles kann somit öffentlich werden, aber gerade diese unspezifische Beschreibung ist dem Medium und den Formgebern immanent. Die öffentliche Meinung ist somit Medium und Form zugleich, weil hier jede Endgültigkeit im Sinne einer klaren Fixierbarkeit fehlt. Wer gehört werden will, muss gleichwohl dem Medium der öffentlichen Meinung Themen anbieten und sich auf die dominierenden Formgebungen einstellen. So bermerkte Pierre Bourdieu: „Wer heutzutage noch glaubt, daß es ausreicht zu demonstrieren, ohne an das Fernsehen zu denken, läuft Gefahr, sein Ziel zu verfehlen“ (vgl. 1998, S. 29). Entscheidend ist jedoch, dass immer dann, wenn von öffentlicher Meinung gesprochen wird, gleichzeitig die Mittelbarkeit der Beobachtungen bedacht werden muss: Was öffentlich kommuniziert wird, dient als Orientierung. Luhmann spricht sogar von dem Spiegel der öffentlichen Meinung, der eine Orientierungsfunktion übernimmt. In Bezug auf das Verhalten von Politikern heißt es zum Beispiel: „Die Politiker sehen gerade nicht durch diesen Spiegel hindurch auf das, was wirkliche Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt wirklich denken. Sie sehen nur sich selbst und andere Politiker sich vor dem Spiegel für den Spiegel bewegen.“ (Luhmann 1992b, S. 84) Die öffentliche Meinung wird damit zur systeminternen Umwelt der politischen Organisationen und Akteure. Für den Zuschauer dagegen wird eine Illusion der Direktwahrnehmung erzeugt, obwohl es sich um eine Realität zweiter Ordnung handelt. Da der Wechsel zum Programm gehört, wird zugleich der Eindruck von Aktualität verstärkt. Die Formgeber (die Massenmedien), aber auch die Nutzer sind offen für Dinge, die da kommen werden: „Jede Sendung verspricht eine weitere Sendung. Nie geht es dabei um die Repräsentation der Welt, wie sie im
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Augenblick ist.“ (Luhmann 1996, S. 26) Diese nüchterne und desillusionierende Beschreibung kennt keine Ideale. Eher bleibt ein ambivalenter Eindruck zurück, der einerseits durch einen umfassenden Manipulationsverdacht gekennzeichnet werden kann und andererseits durch die Latenz und Fluktuation des Faktors ‚Öffentlichkeit‘. In Luhmanns Theorie spielt die individuelle Lebenswelt und das Bewusstsein des Einzelnen eine nachgeordnete Rolle. An Gesellschaft, als Gesamtheit der Kommunikation, hat man als psychisches System nur über Kommunikation teil. Der Fokus liegt eher auf Mechanismen zur Ermöglichung von Anschlusskommunikation. Dass der Verlauf der Medienevolution einen Einfluss auf die Kommunikationsmöglichkeiten hat, zeigt sich sowohl bei Luhmann als auch Habermas deutlich. Letzterer betont aber vor allem, wie sich Entwicklungen auf die Lebenswelten der Kommunizierenden auswirken und bezieht die Bewusstseinsstrukturen mit in seine Betrachtungen ein. Öffentlichkeit besteht somit auch aus sich versammelnden, räsonierenden Menschen. Ein Versuch der Zusammenführung der Theorien endet denn auch mit dem Vorschlag einer Arbeitsteilung: „Luhmann für die Medien, Habermas für den Diskurs“ (Kock 2010, S. 94.). Dank der teilweisen Überschneidungen bei gleichzeitig unterschiedlicher Schwerpunktsetzung könnte, laut Daniel Kock, also Habermas’ Theorie die Systemtheorie Luhmanns durch die Hinzufügung eines Querschnitts durch die Systemebenen sinnvoll ergänzen (vgl. Kock 2010). Während Luhmann der Aufmerksamkeit von Individuen wenig Erklärungskraft zuschreibt, kommt dieser in der Theorie von Noelle-Neumann eine zentrale Bedeutung zu. 9.4 Öffentliche Meinung und soziale Kontrolle. Die Theorie der Schweigespirale Noelle-Neumann (1916-2010) erforschte viele Jahrzehnte das Phänomen ‚öffentliche Meinung‘ und hat im Zuge dieser ‚Spurensuche‘ eine Vielzahl von Befunden ermitteln können. Diese beginnt in der Antike und reicht bis in die unmittelbare Gegenwart (vgl. Noelle-Neumann 2009, S. 427ff.). Ein Suchkriterium ist dabei die Ausschau nach Urteilsinstanzen gewesen, die das Denken und Handeln der Menschen insbesondere in öffentlichen Situationen bestimmen oder beeinflussen können. Wenn bspw. der griechische Philosoph Sokrates (470-399 v.Chr.) von einer Macht ungeschriebener Gesetze spricht, wird auf die Existenz psychologischer Wirkungspotenziale hingewiesen, die sich nicht ohne weiteres personifizieren lassen, aber dennoch als Faktoren der öffentlichen Meinung von Relevanz sind. In Ergänzung zu geschriebenen Gesetzen existiert offensichtlich eine anonyme Urteilsinstanz, die nicht weniger gefürchtet wird als das auf dokumentierten Vorschriften beruhende Recht. Die Vermeidung von Sanktionen, das Erringen von Sympathie und sozialer Anerkennung erscheint vielmehr als eine anthropologische Konstante,
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die das Handeln der Menschen in unterschiedlichsten Situationen auszeichnet. Wenn öffentliche Meinung von dem französischen Sozialtheoretiker Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) als etwas bezeichnet wird, vor dem man sich in Acht nehmen muss, wird die regulierende Kraft dieser Urteilsinstanz durch die Vorwegnahme möglicher Reaktionen anderer Personen praktisch. In diesem Sinne sorgt öffentliche Meinung für soziale Kontrolle und gewährleistet die Verpflichtung der Gesellschaftsmitglieder auf gemeinsame Überzeugungen. Indem das unbequeme Urteil zurückgehalten wird, erweist sich diese Schutzfunktion letztlich als ein Feind des Individuums.
Nachruf auf Elisabeth Noelle-Neumann „Her scientific achievements were quickly recognized beyond the borders of her native country [...] Thanks to her regular publications in international journals, she influenced the developments of public opinion research around the world. Without doubt, her greatest and most lasting achievement is the theory of the spiral of silence, first published in 1972 in the Journal of Communication[…] and which subsequently became one of the most frequently debated and cited theories in the entire field of communication studies.” (Petersen et al. 2010, S. 151) „Sie war eine der beherrschenden Frauengestalten der ersten fünfzig Jahre der Bundesrepublik Deutschland. Da sie nie ein Amt und auch kein Mandat hatte, war sie unabhängig von der demokratischen Willens- und Karrierebildung sowie von der Gunst des Volkes. Bekannt war sie stets, anerkannt und angesehen ebenso, aber niemals sonderlich beliebt." (Hefty 2010) „Als ‚Pythia vom Bodensee’ wurde Elisabeth Noelle-Neumann bezeichnet – denn Allensbach liegt am Bodensee. Dort gründete sie zusammen mit ihrem Mann Erich Peter Neumann im Jahr 1947 das bekannteste Meinungsforschungsinstitut in Deutschland. [...] Für ihre Arbeit wurde Noelle-Neumann mit mehreren Preisen geehrt. Zuletzt erhielt sie 1999 den Hanns-MartinSchleyer-Preis. Im Jahr 1976 wurde ihr das Große Bundesverdienstkreuz verliehen.“ (N.N. 2010)
Orientiert man sich an Immanuel Kants (1724-1804) Definition von ‚Aufklärung‘, dann konkurriert der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit mit der soeben skizzierten Verpflichtung. Das Zeitalter der Aufklärung steht für die Emanzipation von Fremdbestimmungen, für die Betonung des selbstbewussten Individuums und des verantwortungsvollen (politischen) Urteils. Der bereits dargestellte Aufstieg des Bürgertums und die Überschreitung der privaten
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Grenzen sind dieser Perspektive verwandt. Wenngleich sich hier eine Betonung der Freiheit des Individuums erkennen lässt, bleibt die Urteilsfähigkeit doch an Wissen und Verantwortungsbewusstsein gekoppelt. Insofern spricht Noelle-Neumann bezüglich dieser Tradition von einem Elitekonzept (vgl. Noelle-Neumann 2009, S. 431ff.). Diesem wird das Integrationskonzept gegenüber gestellt, das seine Relevanz aus der sozialen Natur des Menschen ableiten kann. Das demokratische Ideal einer ungehinderten politischen Beteiligung wird in dieser Gegenüberstellung mit den Realitäten konfrontiert. Auch dort, wo man die Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen ausdrücklich anstrebt, müssen die Konsequenzen für die Entstehung individueller Urteile bedacht werden. Als sich der französische Aristokrat Alexis de Tocqueville (1805-1859) mit der Entwicklung der Demokratie in Amerika beschäftigte, stellte er fest: „Die Unabhängigkeit des einzelnen kann größer oder geringer sein; sie kann nicht unbegrenzt sein.“ (Tocqueville 1976 [zuerst 1835/1840], S. 493) Für Tocqueville ergab sich daraus unter anderem die Frage, wie in einer Gesellschaft, die durch die Gleichheit gesellschaftlicher Bedingungen geprägt ist, geistige Autoritäten Gehör und Anerkennung erfahren können. Indem Tocqueville das aristokratische und demokratische Zeitalter miteinander vergleicht, schildert er das dieser Frage zugrunde liegende Legitimationsproblem: „Herrscht gesellschaftliche Ungleichheit und Verschiedenheit der Menschen, so gibt es einige sehr gebildete, hochgelehrte und durch ihren Verstand sehr einflußreiche einzelne und eine sehr unwissende und überaus beschränkte Menge. Die Menschen aristokratischer Zeiten sind also von Natur geneigt, sich in ihren Ansichten durch die überlegene Vernunft eines Menschen oder einer Klasse leiten zu lassen, während sie geringe Bereitschaft zeigen, die Unfehlbarkeit der Masse anzuerkennen. Im Zeitalter der Gleichheit geschieht das Gegenteil. Je mehr sich die Unterschiede zwischen den Bürgern ausgleichen und je ähnlicher sie einander werden, umso weniger ist jeder geneigt, einem bestimmten Manne oder einer bestimmten Klasse blind zu glauben. Die Bereitschaft, an die Masse zu glauben, nimmt zu, und mehr und mehr lenkt die öffentliche Meinung die Welt.“ (Tocqueville 1976, [zuerst 1835/1840], S. 493f.) Infolge dessen wird die Gleichheit zum Konkurrenten des individuellen Urteils. Eine neue moralische Autorität, die sich durch den Hinweis auf eine Zählmehrheit oder die Auffassungen der größten Zahl legitimiert, gewinnt an Bedeutung. Diese paradoxe Folge eines Demokratisierungsprozesses verdeutlicht, dass der Mensch im Zuge des Erlangens seiner geistigen Freiheit Gefahr laufen kann, sich anonymen Massen anzuschließen, die in Gestalt einer Tyrannei der Mehrheit die gerade erlangte Freiheit durch eine neue Form von Gleichheit begrenzen können. Letztlich bleibt die Freiheit des Individuums ein wichtiges Korrektiv dieses Beeinflussungsvorgangs. Eine Orientierung an dem Ideal des mündigen und vernünftigen Individuums führt aber nicht in das Zentrum der Funktionsweise von öffentlicher Meinung. Nach Noelle-Neumann muss man die Aufmerksamkeit einer „unbefangenen Beschäftigung mit der sozialen Natur des Menschen“ (Noelle-Neumann
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2009, S. 435) widmen. Entscheidender sei die Frage, wie standfest sich das individuelle Urteil in unterschiedlichen Situationen erweist. Wer ist in der Lage, sein Urteil auch gegen Widerstreben anderer aufrecht zu erhalten und wer gibt dieser Form des sozialen Drucks nach? Die Erforschung konformer Verhaltensweisen ist für die Formulierung der Theorie der Schweigespirale daher ein zentraler Baustein. Insbesondere die Konformitätsexperimente von Solomon Asch (1955) und Stanley Milgram (1974) haben Noelle-Neumann in ihrer Auffassung bestärkt, dass sich Menschen unter Bedingungen sozialen Drucks von ihren individuellen Auffassungen lösen und einer Mehrheitsmeinung anschließen. Obwohl eine objektive Differenz zwischen einer physikalischen und einer sozialen Realität offensichtlich ist, verhalten sich Menschen opportunistisch. Auf den folgenden Seiten werden Auszüge aus den Experimenten von Asch und Milgram kurz erläutert. Dieser Opportunismus kann Ausdruck eines strategischen Verhaltens sein. Für Noelle-Neumann spiegelt sich darin aber eine „Vorbedingung für die Existenzfähigkeit von Gemeinwesen“ (Noelle-Neumann 2009, S. 435) wider. In diesem Phänomen manifestiert sich eine Isolationsfurcht als Resultat der sozialen Natur des Menschen, die zugleich einen wesentlichen Kern des Integrationskonzepts transparent macht. Im Weiteren sollen dann wichtige Bausteine dieser Theorie beschrieben werden. Daran anschließend werden diesbezügliche Weiterentwicklungen und kritische Einwände zusammengefasst.
Das Linienexperiment von Solomon Asch
X
A
B
C
Anmerkung: Die Aufgabe der Versuchspersonen bestand darin, aus den Vergleichslinien A, B und C jene zu nennen, die genauso lang ist wie die Standardlinie X. Erläuterung: „In diesem Experiment führte Asch einen Konflikt herbei zwischen dem Wissen seiner Versuchspersonen um die physikalische Realität und der ‚sozialen Realität’, wie sie durch die Gruppe repräsentiert wird. Diese Konfliktsitua-
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Öffentlichkeit, öffentliche Meinung und die Bedeutung der Medien tion erreichte er durch eine kontrollierte Manipulation der experimentellen Bedingung [...].“: [Neben der echten Versuchsperson sind alle weiteren im Untersuchungsraum anwesenden Personen Verbündete des Versuchsleiters (Anm. d. Verf.)]. „Diese wissen zwar, daß die von Ihnen abgegebenen Urteile manchmal falsch sind, sie richten sich aber ausschließlich nach den Vorgaben des Versuchsleiters, der damit erreichen möchte, daß die Gruppe einen sanften Druck auf die einzelne ‚echte’ Versuchsperson ausübt. Und das gelingt auch. Insgesamt richteten sich 35 Prozent der echten Versuchspersonen nach den falschen Beurteilungen der Gruppe – das ist zwar nicht die Mehrheit, doch eine beträchtliche Minderheit. Wie in früheren Experimenten verhielten sich Versuchspersonen konform, obwohl keinerlei Zwang auf sie ausgeübt wurde und keine Belohnungen für konformes Verhalten zu erwarten waren.“ (Schwartz 1988, S. 177) Quelle: Schwartz 1988, S. 176ff.
Das Autoritäts-Experiment von Stanley Milgram
Erläuterung: Das Experiment sollte, so Milgram gegenüber seinen Versuchspersonen, die Auswirkung von Bestrafung auf das Lernverhalten untersuchen. Die Versuchsperson übernimmt immer die Rolle des ‚Lehrers‘, die im Falle eines Fehlers des ‚Schülers‘ einen Elektroschock versetzen soll. Die ‚Schüler‘ sind keine wirklichen Versuchspersonen, sondern Mitarbeiter Milgrams. Mit der Zunahme von Fehlern soll auch das Strafausmaß gesteigert werden. „Milgram brachte seine Versuchspersonen in eine Situation, in der sie zwischen zwei einander widersprechenden Anforderungen entscheiden mußten: der Aufforderung durch den Schüler, das Experiment zu beenden, und
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der Aufforderung des Versuchsleiters, das Experiment fortzusetzen. Beiden Aufforderungen konnten die Versuchspersonen nicht gleichzeitig gehorchen, also mußten sie sich entscheiden zwischen dem moralischen Anspruch, einen anderen Menschen nicht zu verletzen und der Tendenz, jenen Menschen zu gehorchen, die sie als Autorität anerkannten. Es schien keine Rolle zu spielen, daß die Autoritätsfigur in dieser Situation keinerlei Möglichkeit hatte, wirklichen Druck hinter ihre Aufforderung zu setzen, noch spielte es eine Rolle, daß die Versuchspersonen über das, was sie da taten, offenbar entsetzt waren - sie machen dennoch weiter.“ (Schwartz 1988, S. 188) Quelle: Schwartz 1988, S. 183ff.
Die Theorie der Schweigespirale: Opportunismus muss nicht notwendigerweise mit Schweigen einhergehen. Dass Noelle-Neumann dennoch von einer ‚Schweigespirale‘ spricht, erklärt sich aus der Bedeutung, die dem Reden und Schweigen in öffentlichen Situationen zukommt. Es handelt sich um einen Prozess, dessen Verlauf durch die Artikulationsbereitschaft der Menschen bestimmt wird. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, von welchen Umweltbedingungen der Einzelne ausgeht, d.h. welches Meinungsklima er zu registrieren glaubt. Der Kerngedanke, der mit dem Begriff ‚Schweigespirale‘ beschrieben werden soll, ist von Noelle-Neumann wie folgt charakterisiert worden: „Menschen wollen sich nicht isolieren, beobachten pausenlos ihre Umwelt, können aufs Feinste registrieren, was zu-, was abnimmt. Wer sieht, daß seine Meinung zunimmt, ist gestärkt, redet öffentlich, läßt die Vorsicht fallen. Wer sieht, daß seine Meinung an Boden verliert, verfällt in Schweigen. Indem die einen laut reden, öffentlich zu sehen sind, wirken sie stärker als sie wirklich sind, die anderen schwächer, als sie wirklich sind. Es ergibt sich eine optische oder akustische Täuschung für die wirklichen Mehrheits-, die wirklichen Stärkeverhältnisse, und so stecken die einen andere zum Reden an, die anderen zum Schweigen, bis schließlich die eine Auffassung ganz untergehen kann. Im Begriff Schweigespirale liegt die Bewegung, das sich Ausbreitende, gegen das man nicht ankommen kann.“ (Noelle-Neumann 1980, S. XIII) Diese Kurzbeschreibung enthält bereits wesentliche Bestandteile der Theorie:
Verhalten in öffentlichen Situationen: Man will die Öffentlichkeit nicht als Bedrohung empfinden. Minderheiten vermeiden den Konflikt und unterstützen durch den Verzicht auf Artikulation der eigenen Meinung das Auseinanderklaffen der tatsächlichen Kräfteverhältnisse von Meinungsfeldern. Die Mehrheit dominiert das öffentliche Meinungsklima und erfährt aufgrund dessen wachsenden Zuspruch. Fähigkeit zur Umweltwahrnehmung: Nach Noelle-Neumann sind die Menschen mit einem ‚quasi-statistischen Wahrnehmungsorgan‘ ausgestattet und können die Meinungsverteilung zu verschiedenen Themen sehr gut registrieren. Diese
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Öffentlichkeit, öffentliche Meinung und die Bedeutung der Medien Fähigkeit zur Umweltwahrnehmung ist nicht nur auf die Wahrnehmung des unmittelbaren Umfelds beschränkt, sondern erstreckt sich auf Grund des Vorhandenseins der Massenmedien auch auf eine nicht direkt wahrnehmbare Öffentlichkeit. Dynamischer Prozess: Aufgrund einer positiven Korrelation von wahrgenommener Mehrheitsmeinung und Redebereitschaft ist öffentliche Meinung Ursache und Folge bestimmter Umweltwahrnehmungen. Wer auf Kommunikation verzichtet, kann auch nicht auf öffentliche Resonanz hoffen. Isolationsfurcht begünstigt und verstärkt die Redebereitschaft von Mehrheiten.
Um ein Meinungsklima angemessen beurteilen zu können, stehen den Menschen zwei Quellen der Umweltwahrnehmung zur Verfügung. Neben die direkte Umweltwahrnehmung tritt die medienvermittelte Wahrnehmung, die in erster Linie Informationen zu der Frage bereitstellt, wie die Mehrheit der Bevölkerung bestimmte Phänomene beurteilt. Obwohl sich die öffentliche Meinung somit aus direkten und indirekten Beobachtungen ableiten lässt, sind die über Massenmedien vermittelten Meinungen von größerer Bedeutung, weil sie ein disperses Publikum erreichen. Die Wirkungsmöglichkeiten der Massenmedien steigen insbesondere an, wenn sich die Medieninhalte durch eine gleichgerichtete Tendenz auszeichnen. In diesem Falle wird auch von einer Konsonanz der Medienberichterstattung gesprochen. Aufgrund dieser Ungleichgewichtigkeit der direkten und indirekten Beobachtungen bzw. Erfahrungen folgt: Jede Form einer selektiven Aufmerksamkeit oder nicht-repräsentativen Abbildung von Meinungsverteilungen erhöht die Wahrscheinlichkeit von Fehleinschätzungen, die auch ein ‚quasi-statistisches Wahrnehmungsorgan‘ nicht korrigieren kann. Wer in diesem Fall den Standpunkt vertritt, der auch in den Massenmedien dominiert, erhält zusätzliche Argumentationshilfen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich Prozesse beobachten lassen, wie sie von der Theorie der Schweigespirale beschrieben werden, steigt, wenn bestimmte Randbedingungen gegeben sind:
Die Meinungen und Einstellungen der Bevölkerung müssen sich im Fluss befinden. Dies ist in der Regel etwa im Rahmen von Wahlkämpfen der Fall. Die Meinungen und Einstellungen der Bevölkerung müssen sich auf einen Bereich beziehen, der kontrovers diskutiert wird. Die Massenmedien müssen als indirekte Quelle der Umweltwahrnehmung eine identifizierbare Position einnehmen.
Aus den genannten Gründen ist die Beobachtung von Wahlkämpfen ein begehrtes Untersuchungsfeld. Insbesondere Mitläufereffekte in Richtung des erwarteten Wahlsiegers wurden im Sinne der Schweigespirale interpretiert. Das Phänomen des ‚LastMinute-Swing‘, das Lazarsfeld u.a. bereits in der Pionierstudie ‚The People’s Choi-
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ce‘ untersucht hatten und mit dem sogenannten Bandwagon-Effekt89 erklärten, wird von Noelle-Neumann im Sinne einer Angst vor Isolation interpretiert. Während im Wahljahr 1965 die CDU/CSU von einem solchen Effekt profitierte, war es im Jahr 1972 die SPD. Für Noelle-Neumann ist es jedoch weniger entscheidend, dass man im sprichwörtlichen Sinne der Kapelle des Siegers hinterherläuft (Bandwagon), sondern aus Angst vor Isolation eher dem Sieger und nicht dem vermeintlichen Verlierer die Stimme gibt. Noelle-Neumann schreibt hierzu: „Die Schweigespirale ist nicht identisch mit dem bekannten Bandwagon Effect, der besagt, die Menschen würden ‚dem Wagen mit der Musikkapelle nachlaufen‘, weil jeder, so wird dieser ‚Mitläufereffekt‘ erklärt, auf der Seite des Siegers stehen wolle. Richtig ist, daß beides – Bandwagon Effect und Schweigespirale – Reaktionen auf die Umweltbeobachtung sind, welches Lager stärker wird und welches schwächer. Der Unterschied ist: Beim Bandwagon Effect winkt eine Belohnung, nämlich die, auf der Seite des Siegers zu sein. Die Schweigespirale wird dagegen von Furcht vor Bestrafung in Gang gesetzt, von der Furcht, isoliert, ausgestoßen zu werden.“ (Noelle-Neumann 2009, S. 440) Diese Einschätzung kann aber auch als eine deutliche Überschätzung der Isolationsfurcht interpretiert werden. Es wird eine Überbetonung der sozialen Natur des Menschen erkennbar. Ungeachtet dessen ist für die Einschätzung von Sieg und Niederlage die öffentliche Bekenntnisbereitschaft der beteiligten Akteure entscheidend. Wer öffentlich gesehen und gehört wird, nimmt Einfluss auf das Kräfteverhältnis, das sich letztlich in der Umweltwahrnehmung der Bevölkerung niederschlägt. Das Tragen von Abzeichen, Plakate, Aufkleber usw. zählen ebenfalls zu den öffentlichen Ausdrucksformen. Gleichwohl behauptet Noelle-Neumann, dass es bestimmte Situationen geben kann, in denen selbst diese öffentliche Bekenntnisbereitschaft von einem entgegengesetzten Medientenor in ihren Wirkungen begrenzt werden kann. Für diese Konstellation ist der Begriff ‚doppeltes Meinungsklima‘ geprägt worden. Im Wahljahr 1976 fand keine Entwicklung statt, die im Sinne der Schweigespirale interpretiert werden kann. Orientiert man sich an den Wahlabsichten der Bevölkerung, so lieferten sich CDU/CSU und SPD bzw. FDP ein Kopf-an-KopfRennen. Die Parteien waren in der Öffentlichkeit präsent, es wurde für die eigenen Überzeugungen geworben, ein besonderes Engagement einer bestimmten Partei war nicht zu erkennen. In dieser ausgeglichenen Situation konnte sich eine im Sinne der Schweigespirale beschreibbare Dynamik nicht entwickeln. Den knappen Sieg von SPD und FDP führte Noelle-Neumann auf das Medienklima zurück, das sich nach ihrer Auffassung zu ungunsten der CDU/CSU entwickelt hatte. Ihre Erklärung lautete: „Doppeltes Meinungsklima: dieses faszinierende Phänomen [...] kann nur entstehen unter ganz besonderen Umständen, nur dann, wenn das Meinungsklima der Bevölkerung und die vorherrschende Meinung unter Journalisten auseinander fal89
Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 5.
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len.“ (Noelle-Neumann 1996, S. 243) Um nachzuweisen, dass die Fehleinschätzung des Kräfteverhältnisses der Parteien den Massenmedien angelastet werden muss, wurden beide Quellen der Umweltbeobachtung miteinander verglichen: die Beobachtungen in der Nahwelt (eigene Umwelt) und die Beobachtungen, die das Fernsehen von den Parteien angeboten hat. So zeigte sich zum Beispiel, dass häufige Zuschauer politischer Fernsehsendungen im März 1976 noch zu 47% einen Wahlsieg der CDU/CSU erwarteten, vier Monate später, im Juli 1976, nur noch 34%. Umgekehrt verhielt es sich für die SPD/FDP: März 1976 32%, Juli 1976 42%. Ein ähnlicher Verlauf konnte bei Personen, die in diesem Zeitraum selten oder nie politische Fernsehsendungen sahen, nicht beobachtet werden. Daraus zog NoelleNeumann unter anderem die Schlussfolgerung: „Nur diejenigen, die die Umwelt mit den Augen des Fernsehens häufiger beobachtet hatten, hatten den Klimawechsel wahrgenommen, diejenigen, die ohne die Fernsehaugen ihre Umwelt beobachtet hatten, hatten nichts vom Klimawechsel bemerkt [...].“ (Noelle-Neumann 1996, S. 232) Zur Untermauerung dieser Argumentation wurde nachzuweisen versucht, dass die ‚Fernsehaugen‘ den Wahlkampf so vermittelten, als sei eine bestimmte Partei der wahrscheinliche Wahlsieger. Eine Umfrage unter Journalisten ergab, dass diese sich in ihren Siegeserwartungen deutlich von der Mehrheit der Bevölkerung unterschieden. 76% der befragten Journalisten erwarteten im Juli 1976 einen Sieg von SPD und FDP, dagegen nur 33% der erwachsenen Bevölkerung. Auch die Wahlabsichten zwischen Journalisten und Bevölkerung unterschieden sich deutlich: 79% der Journalisten wollten SPD oder FDP ihre Stimme geben, dagegen nur 50% der erwachsenen Bevölkerung. Das zum Zwecke dieses Nachweises nur 100 Journalisten befragt wurden, war gleichwohl Gegenstand der Kritik. Die These vom doppelten Meinungsklima hat in jedem Falle zu weiteren Analysen geführt, die sich angesichts der medienpolitischen Brisanz des Befunds zu einer längeren Kontroverse verdichtet haben (vgl. zusammenfassend hierzu Kepplinger 1980 und Merten 1982). Sonck und Loosveldt untersuchten bspw. die Auswirkung der Veröffentlichung von Umfrageergebnissen auf die persönliche Meinung und die Wahrnehmung und Einschätzung der öffentlichen Meinung. In der experimentellen Panel-Studie wurden auch individuelle Variablen, wie Meinungsstärke und politisches Interesse, berücksichtigt. Dank des Designs konnte darüber hinaus die Dauerhaftigkeit der möglichen Effekte untersucht werden. Die Themen der Befragungen waren politischer Natur, die Intensität der Berichterstattung variierte. Kurzfristig zeigte sich, dass sich Experimentalund Kontrollgruppe in der Einschätzung der öffentlichen Meinung zwar gering, aber signifikant unterschieden. Langfristig konnte dieser Effekt ebenfalls beobachtet werden. Die persönliche Meinung wurde durch die Umfrageergebnisse jedoch nicht beeinflusst (vgl. Sonck/Loosveldt 2010). In Untersuchungen, die in Weißrussland durchgeführt wurden, konnte andererseits gezeigt werden, dass die Schweigespirale ein wichtiges politisches Instrument zur Erhaltung von Kontrolle über die öffentli-
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chen Meinung darstellen kann und von Politikern auch dementsprechend eingesetzt wird (vgl. Manaev et al. 2010).
Eine Interpretation des ‚doppelten Meinungsklimas‘ „Wenn wir also davon ausgehen - und ich habe zu Beginn gesagt, daß ich davon ausgehe -, daß das Handeln von Rundfunk- und Fernsehjournalisten kausal ist für das politische Meinungsklima, dann schließt sich daran die von uns ernsthaft zu diskutierende Frage [...], was die Konsequenzen sind. Wenn wie im Herbst 1976 durch wenige Hunderttausend Stimmen der Wahlausgang in die eine oder andere Richtung entschieden wird, wenn weiter ein erheblicher Teil der Wähler [...] bis kurz vor dem Wahltag unentschieden ist, wenn schließlich [...] ein nicht unwesentlicher Teil dieser bis kurz vor dem Wahltag unentschiedenen Wähler aufgrund des äußeren Meinungsklimas ihre Entscheidung treffen, dann ist es für den Wahlausgang zumindest von mitkausaler Bedeutung, ob und in welchem Umfang die Fernsehanstalten das Meinungsklima in der einen oder anderen Richtung beeinflussen. Dann muß die Frage gestellt werden, ob wir diesen Einfluß als eine unvermeidbare Konsequenz der Kommunikationsgesellschaft zu akzeptieren haben. [...] Niemand kann die politischen Parteien daran hindern, diese Frage zu stellen. [...] Ihnen sind zweifellos die Arbeiten von Karl Deutsch geläufig. [...] Und er hat die, nach meiner Auffassung zutreffende [...] These aufgestellt, daß wesentliche Machtzentren dort liegen, wo die Kommunikationsprozesse zusammenlaufen, die Nervenknoten, von denen die Gesamtgesellschaft erhalten wird. [...] Es ist deshalb überhaupt keine Frage, daß diejenigen, die den Kommunikationsprozeß und die Kommunikationsinhalte wesentlich beeinflussen, deshalb de facto Machtträger sind - ob sie das nun wollen oder nicht; sie können daran gar nicht vorbei.“ (Kurt Biedenkopf, Generalsekretär der CDU, 1977, zitiert nach Kaase 1989, S. 98)
Die Theorie Noelle-Neumanns hatte zugleich medienpolitische Folgen. Die Forderung des damaligen Generalsekretärs der CDU, Kurt Biedenkopf (siehe Beispieltext), spiegelt sehr deutlich wider, dass Aussagen über die Bedeutung eines bestimmten Medientenors nicht nur als ein wissenschaftliches Ergebnis wahrgenommen werden. Die ‚Indienstnahme‘ empirischer Befunde für politische Einschätzungen soll hier nicht weiter kommentiert werden. Insgesamt erscheint die theoretische Konstruktion der Schweigespirale überzeugender als die vorgelegten empirischen Befunde, die immer wieder Anlass zu Kritik gaben. Ungeachtet dieses Sachverhalts kann man bezüglich der Erforschung der öffentlichen Meinung einen Kriterienkatalog bereitstellen, der als Orientierungsrahmen verwandt werden kann:
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Öffentlichkeit, öffentliche Meinung und die Bedeutung der Medien Im Rahmen einer Repräsentativbefragung ist die individuelle Meinung der Bevölkerung zu dem jeweiligen Thema zu ermitteln. In Ergänzung zu der Ermittlung des individuellen Meinungsklimas ist eine Einschätzung des Meinungsklimas in der Gesellschaft zu erheben. Die Befragten sollen also eine Einschätzung der Mehrheitsmeinung abgeben. Die Entwicklung einer Kontroverse muss beobachtet werden. Nach NoelleNeumann kommt es darauf an, dass man stets erkennt, welche Gruppierung bzw. welche Partei in einer öffentlichen und kontroversen, zudem moralische Aspekte berührenden Diskussion stärker oder schwächer wird. Zur Ermittlung von Redebereitschaft einerseits und Isolationsfurcht bzw. Schweigetendenz andererseits ist die Simulation öffentlicher Situationen erforderlich. Dies macht den Einsatz entsprechender demoskopischer Instrumente notwendig. Es muss überprüft werden, ob von dem untersuchten Thema tatsächlich eine moralisierende bzw. emotionalisierende Wirkung ausgeht. Wenn dies nicht der Fall ist, greifen auch die von Noelle-Neumann als wichtig erachteten Gesetze der menschlichen Natur nicht. Wenn bestimmte Themen keinen Druck entfalten können, sind sie auch nicht in der Lage, Konformität zu forcieren. Der Medientenor ist zu ermitteln. Noelle-Neumann stellt die Frage: „Welche Seite unterstützen die einflußreichen Medien?“ (Noelle-Neumann 1996, S. 297) Eigentlich müsste es heißen: Welche Medien bzw. welche Medieninhalte entfalten einen größeren Einfluss auf die Redebereitschaft derjenigen, die sich in ihren Argumenten positiv unterstützt sehen und damit eher zum Reden und nicht zum Schweigen angehalten werden?
Dieser Kriterienkatalog erforderte die Entwicklung von Messinstrumenten, die in der Lage sind, das Verhalten in öffentlichen Situationen abzubilden. Daneben mussten Indikatoren gefunden werden, die in adäquater Weise die Wahrnehmung von Meinungsentwicklungen widerspiegeln können. Gerade hinsichtlich der Erprobung demoskopischer Messinstrumente haben Noelle-Neumann und das von ihr geleitete Institut für Demoskopie Allensbach seit Ende der 1940er Jahre stets Experimentierfreude gezeigt. Zur Wahrnehmung des Meinungsklimas wurde bspw. ein dreistufiges Konzept entwickelt: 1. Erfragung der eigenen Meinung des Befragten, 2. Ermittlung des gegenwärtigen Meinungsklimas (Wie denken die meisten Leute über das Thema ... ?), 3. Ermittlung der zukünftigen Mehrheitsmeinung (Wie wird die Mehrheit wohl in einem Jahr über das Thema ... denken?). Dieses Instrumentarium diente der Feststellung der Feldstärke von Meinungen (vgl. Noelle-Neumann 1980, S. 27, sowie Noelle-Neumann 1996, S. 23ff.). Angesichts des Stellenwerts von Redebereitschaft bzw. Isolationsfurcht kommt der Entwicklung von Instrumenten, die öffentliche Kommunikationsbereitschaft anzeigen können, eine besondere Bedeutung zu. Hervorzuheben ist der sogenannte Eisen-
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bahn-Test, der das Redeverhalten in kleinen Öffentlichkeiten, die sich über einen begrenzten Zeitraum zusammenfinden, messen soll. Als Befragter im Rahmen eines demoskopischen Interviews wird man in die Situation einer Eisenbahnfahrt versetzt, in der ein Mitreisender seine Meinung zu einem bestimmten Thema äußert. An dieser Stelle wird ein kontroverses Thema platziert, von dem angenommen werden kann, dass es zu unterschiedlichen Auffassungen in der Bevölkerung geführt hat. Für das Ausmaß der Redebereitschaft ist nun entscheidend, ob der Befragte sich in dieser Situation gerne mit seinem Gegenüber unterhalten möchte oder darauf keinen großen Wert legt. Die Antworten auf diese Frage lassen sich dann mit der persönlichen Meinung des Befragten in Verbindung bringen und gestatten möglicherweise Rückschlüsse auf das Phänomen der Isolationsfurcht einerseits oder der verstärkten Redebereitschaft andererseits. Dass längere Eisenbahnfahrten (im Fragetext wurde häufig von einer fünfstündigen Eisenbahnfahrt gesprochen) eine eher seltene und ungewöhnliche Begebenheit sind, hat Noelle-Neumann in späteren Arbeiten als eine häufiger geäußerte Klage bezeichnet (vgl. Noelle-Neumann 1996, S. 317). Als Alternative wurde bspw. eine fünfstündige Busreise vorgeschlagen, die auf einem Rastplatz unterbrochen wird und Anlass zu Gesprächen gibt. Eine weitere Simulation von Redebereitschaft erprobten bspw. Donsbach und Stevenson. Sie simulierten im Interview eine Situation, in der ein Fernsehreporter Fragen zu heiklen Themen stellte. Der Befragte hatte dann anzugeben, ob er bereit ist, sich zu diesen Themen zu äußern oder nicht (vgl. Donsbach/Stevenson 1986). Eine weitere Variante präsentierte Neuwirth, der die Redebereitschaft wie folgt ermittelte: „Now I would like you to imagine that you were at a party where the people begin to say things against [...]. How likely is it that you would enter the conversation [...].“ (2000, S. 159) Basis ist eine empirische Untersuchung, die bereits 1982 in Mexiko durchgeführt wurde. Petrič und Pinter testeten die Schweigespirale in einer slowenischen Untersuchung und wählten als Vorgabe unter anderem: „Imagine a company of unknown people (e.g. in a waiting room ...)“ (2002, S. 51) Grundsätzlich versucht diese Kontroverse eine Antwort auf die Frage zu finden, ob die kurzfristige Konfrontation mit einem bestimmten Meinungsklima eine valide Messung von Artikulationsbereitschaft sein kann (vgl. auch die Meta-Analyse von Glynn/Park 1997). Für Noelle-Neumanns Theorie ist wichtig, dass auf ein enges Verständnis von Reden und Schweigen verzichtet wird. Wenn man sich lediglich an der Bereitschaft zur verbalen Artikulation von Meinungen orientiert, reduziert man das mannigfaltige Beobachtungsfeld der sozialen Wirklichkeit. Jede Form der öffentlichen Präsentation kann Einfluss auf die Wahrnehmung der Feldstärken bestimmter Meinungen und Einstellungen nehmen. Reden heißt somit im weiteren Sinne: Sichtbarmachen der eigenen Auffassung, Schweigen bedeutet hingegen Rückzug aus dem öffentlichen Raum. Eigentlich wollte Noelle-Neumann nach Abschluss ihrer Dissertation im Jahr 1939 nichts mehr mit ‚öffentlicher Meinung‘ zu tun haben (vgl. Noelle-Neumann 2006, S. 245). Dieser Rückzug war, wie die Ausführungen verdeutlicht haben, nur
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vorübergehend. Als sie am 9. Dezember 1965 ihre öffentliche Antrittsvorlesung an der Universität Mainz hielt, hatte sie das Thema wieder eingeholt. Der Titel lautete: ‚Öffentliche Meinung und soziale Kontrolle‘ (vgl. Noelle 1966). - Reden und Schweigen. Kontroversen um die Theorie der Schweigespirale: Als Donsbach im Jahr 1987 einen Überblicksbeitrag zur Theorie der Schweigespirale vorlegte, wies er in seinem abschließenden Kapitel auf zwei Bereiche hin, die zukünftig besondere Aufmerksamkeit erfahren sollten: „1. die Klärung der jeweiligen ‚Wirkungsanteil‘ von Massenmedien, anonymer Öffentlichkeit und Bezugsgruppen für Umweltwahrnehmung und Isolationsfurcht des Individuums und 2. die Klärung der soziologischen und psychologischen Komponenten des Meinungsklimas.“ (Donsbach 1987, S. 340) Der erste Hinweis bezieht sich auf die Bestimmung des Medientenors und die Reaktionen der Öffentlichkeit. Die Unterscheidung psychologischer und soziologischer Komponenten des Meinungsklimas ist auf das Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft gerichtet und auf den Stellenwert unterschiedlicher Meinungsfraktionen für die Urteilsbildung. Da sich weder die Struktur moderner Gesellschaften noch die Struktur moderner Mediensysteme als homogen darstellen, öffnet sich jede Theorie, die in diesen Bereichen eine einheitliche Beobachtbarkeit unterstellt, der Kritik. Welche Konstellationen sich hinsichtlich des Zusammenhangs von Medientenor und Bevölkerungsmeinung ergeben können, soll kurz erläutert werden. Dabei wird jeweils nach konsonant/dissonant differenziert:
Medientenor konsonant/Bevölkerungsmeinung konsonant: Medientenor und Bevölkerungsmeinung stehen im Einklang. Aufgrund eines einheitlichen Meinungsklimas kann es bezüglich des relevanten Themas keine Kontroverse geben, für die Entwicklung einer Schweigespirale werden keine Impulse gegeben. Medientenor konsonant/Bevölkerungsmeinung dissonant: Wenn sich der Medientenor hinsichtlich eines Themas als homogen erweist, die Bevölkerung aber kontrovers über dieses Thema diskutiert, kann das Wirkungspotenzial der Massenmedien gering und die direkte Umweltwahrnehmung entscheidend sein. Wenn sich aus dieser Konstellation hingegen eine ‚Schweigespirale‘ entwickelt, hat die Redebereitschaft derjenigen zugenommen, die mit dem in den Medien dominierenden Tenor übereinstimmen. Medientenor dissonant/Bevölkerungsmeinung konsonant: Wenn durch die Angebote der Massenmedien unterschiedliche ‚Meinungsfelder‘ bedient werden, die Bevölkerungsmeinung sich aber dennoch homogen darstellt, gleicht sich der Einfluss des Medientenors auf die Redebereitschaft aus. Es ist aber durchaus möglich, dass sich ‚einflussreiche Medien‘ durchsetzen. Medientenor dissonant/Bevölkerungsmeinung dissonant: Eine unterschiedliche Medienberichterstattung und eine kontroverse Bevölkerungsmeinung können
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zwar ebenfalls Ausgangspunkt für die Entstehung einer ‚Schweigespirale‘ sein. Zunächst würde man aber Pluralismus konstatieren. Jede der hier zum Zwecke der Veranschaulichung konstruierten Kombinationen ließe sich weiter differenzieren und unterstreicht die Notwendigkeit, die von der Theorie vorgegebene Abstraktion durch empirische Detailanalysen zu untermauern. Dies gilt sowohl für Aussagen hinsichtlich des Medientenors als auch bezüglich der Bedeutung individueller und perzipierter Meinungen für die Redebereitschaft. Hinsichtlich des zuletzt genannten Aspekts sollen im Folgenden zwei Untersuchungen exemplarisch kommentiert werden. Scherer überprüfte in einer umfangreichen Untersuchung des Faktors ‚Redebereitschaft‘, wie homogen dieses Merkmal in der Bevölkerung verteilt ist. Bereits Noelle-Neumann hatte darauf hingewiesen, dass die Redebereiten keine homogene Gruppe darstellen. Redebereitschaft kann insofern als eine kontinuierliche Variable aufgefasst werden. Im Hinblick auf die bereits dargestellte Theorie der Meinungsführerschaft wäre es auch nicht überzeugend davon auszugehen, dass die jeweils perzipierte Mehrheitsmeinung bei allen Personen identische Reaktionen auslöst. Gerade Meinungsführer müssen in diesem Prozess eine bedeutende Funktion einnehmen. Daneben hatte Noelle-Neumann bereits auf das Phänomen der ‚Avantgarde‘ und des ‚harten Kerns‘ hingewiesen. Für beide Gruppen ist wichtig, dass sie sich nicht von der öffentlichen Meinung beeinflussen lassen. Während die Avantgarde Pionierfunktionen übernehmen kann und zukunftsorientiert ist, gilt der harte Kern als rigide und an vergangenen Auffassungen orientiert oder einer „äußerst fernen Zukunft zugewandt“ (Noelle-Neumann 1996, S. 248). Um diesen unterschiedlichen Reaktionen gerecht zu werden, führte Scherer den Begriff ‚Involvement‘ ein und versuchte die subjektive Relevanz des jeweiligen Themas über dieses Konstrukt zu bündeln (vgl. Scherer 1992, S. 107f.). Involvement repräsentiert die Identifikation mit einem Thema. Je stärker das erkennbare Engagement, desto geringer ist die Tendenz bzw. Bereitschaft, sich anderen Meinungen anzuschließen. Zur Illustration dieser Annahme wurde ein moralisches und emotionalisiertes Thema herangezogen: die Volkszählung 1987. Die Redebereitschaft wurde mit Hilfe des Eisenbahn-Tests ermittelt. Bereits dieser Test verdeutlichte, dass die Redebereitschaft derjenigen, die sich einer Minderheit zugehörig fühlten, größer war als die Redebereitschaft jener, die sich mit der Mehrheit in Einklang sahen. Jene Gruppe, die sich weder der Mehrheit noch der Minderheit zuordnen und somit ihre eigene Position in dem relevanten Kommunikationsraum nicht bestimmen konnte, war die am wenigsten redebereite Gruppe. Man könnte auch sagen: Aufgrund innerer Widersprüche ist diese Gruppe in ihrer Kommunikationsbereitschaft blockiert. Grundsätzlich nimmt die Redebereitschaft zu, wenn man sich in Übereinstimmung mit Freunden und Bekannten (Bezugsgruppe) befindet. Den entscheidenden Einfluss aber schreibt Scherer dem Ausmaß des Involvements mit dem Thema Volkszählung zu. Gerade Minderheiten, die
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sich durch ein hohes Involvement auszeichnen, zeichnen sich durch die größte Redebereitschaft aus. Daher wird von einem Missionarseffekt gesprochen, der dem Schweigespiraleffekt entgegenwirkt (vgl. Scherer 1992, S. 120f.) Schweigen ist vor allem dann beobachtbar, wenn sich Menschen von dem Thema nicht betroffen fühlen. Dies führt zu einer Situation, in der schweigende Mehrheiten einer lauten Minderheit gegenüberstehen. Insofern legt die Studie von Scherer nahe, zukünftig das Phänomen der Schweigespirale auch im Gesamtkontext der politischen Partizipation zu verankern. Mit der Bedeutung der Bezugsgruppenmeinung für die öffentliche Redebereitschaft hat sich insbesondere eine Untersuchung von Fuchs u.a. beschäftigt. Es sollte überprüft werden, ob eine Vernachlässigung der Bezugsgruppen im Hinblick auf die öffentliche Kommunikationsbereitschaft gerechtfertigt ist. Gerade eine Beschäftigung mit der Bezugsgruppentheorie kann zu dem Ergebnis führen, dass die unmittelbare Umgebung, also jene Menschen, mit denen man täglich Kontakt hat, einen größeren Einfluss auf das Verhalten in öffentlichen Situationen nimmt als ein anonymes Phänomen, das als öffentliche Meinung bezeichnet wird. Mit anderen Worten: Warum sollte eine unbestimmte Öffentlichkeit so bestimmend sein? Die Studie orientierte sich an den von der Theorie der Schweigespirale vorgegebenen Kriterien und wandte diese auf das Thema ‚Asylantenproblematik‘ an. In einem ersten Schritt wurde der Nachweis erbracht, dass der Einfluss anonymer Öffentlichkeiten auf die Redebereitschaft zu vernachlässigen ist. Weder die Übereinstimmung noch die Abweichung von einer perzipierten veröffentlichten Meinung nahmen einen signifikanten Einfluss auf diesen Faktor. Während Noelle-Neumann die Bezugsgruppenmeinung als eine nicht-adäquate Operationalisierung von öffentlicher Meinung betrachtet, versuchten Fuchs u.a. die Bedeutung dieser perzipierten Bezugsgruppenmeinung für die Kommunikationsbereitschaft zu überprüfen. Ihre Begründung dafür lautete wie folgt: „Im Einklang mit sozialpsychologischen Theorien [...] kann man vermuten, daß die Isolationsangst besonders bei konkreten Bezugsgruppen eine relevante Größe darstellt, weniger bei abstrakten Kollektiven, wie dies die Massenmedien oder die Bevölkerung insgesamt darstellen.“ (Fuchs u.a. 1992, S. 291) Diese Annahme wurde durch die empirischen Befunde bestätigt. Die Redebereitschaft der Konsonanten, also jener, die sich durch eine Übereinstimmung ihrer Meinung mit der perzipierten Bezugsgruppenmeinung auszeichnen, ist deutlich größer als diejenige der Dissonanten. Ähnliche Befunde zur Redebereitschaft in abstrakten Kollektiven zeigten sich auch in späteren experimentellen Studien. In computervermittelten Situationen ist diese im Vergleich zu Face-to-Face-Kommunikationen deutlich größer. Die Kommunikationsform wirkt als Moderatorvariable und kann im Fall der über Computer laufenden Diskussion den Effekt der Isolationsfurcht mindern. Außerdem scheint die größere Anonymität einen entscheidenden Einfluss auf die Redebereitschaft zu haben. Darüber hinaus zeigte sich, dass in der computervermittelten Bedingung Sta-
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tusdifferenzen deutlich reduziert wurden (equalization effect) und der Einfluss der Mitglieder gleichmäßiger verteilt war. Die allgemeine Partizipation war demgemäß auch höher. Den bei der Face-to-Face-Kommunikation auftretenden dysfunktionalen sozialpsychologischen Effekten könnte man somit auch gezielt durch den Einsatz von Computern entgegenwirken. Derartige Kommunikationsformen könnten nach diesen Befunden ein effektives Forum für Informationssammlung und freie Diskussionen darstellen, da das berücksichtigte Meinungsspektrum ansteigen kann (vgl. Ho/McLeod 2008). Ein wesentlicher Teil der Kritik wurde außerdem an der Validität demoskopischer Instrumente geübt, insbesondere am Eisenbahn-Test. Um die Relevanz konkreter Bezugsgruppen zu unterstreichen, bemerkten Fuchs u.a.: „Konsens oder Dissens erscheinen im Rahmen dieser flüchtigen Begegnung als folgenlos: Man steigt sowieso bald wieder aus und sieht sich nicht wieder.“ (Fuchs u.a. 1992, S. 294) Diese Hervorhebung fügt sich ein in den Nachweis von ‚mediating factors‘90, die den direkten Einfluss der Massenmedien begrenzen können. Neuwirth et al. haben außerdem auch darauf hingewiesen, dass in den bisherigen Untersuchungen eine zu geringe Differenzierung und Spezifizierung des Phänomens stattfand. So kann durchaus zwischen situations-, themen- und auf persönlichkeitsbasierten Faktoren unterschieden werden. Besonders der Einfluss internalisierter Normen, die Ausprägungsstärke der eigenen Meinung und auch die Verwendung von Vermeidungsstrategien, wie Lügen oder neutrale Kommentare, wurden vernachlässigt. In einer Untersuchung fanden sie heraus, dass ‚communication apprehension‘ (ins Deutsche am ehesten mit ‚Kommunikationsfurcht‘ übersetzbar) sogar der robusteste Prädiktor für Redebereitschaft ist. Isolationsfurcht ist nach einer Kontrolle für situations- und persönlichkeitsbezogener communication apprehension allerdings signifikant mit Vermeidungskommunikation korreliert. Die Stärke der eigenen Meinung kann hier jedoch moderierend einwirken und die Verwendung solcher Strategien unwahrscheinlicher werden lassen. Auch die weiteren Befunde deuten darauf hin, dass die oft verwendeten Messungen der Isolationsfurcht zwar eine hohe Konstruktvalidität aufweisen mögen, man damit aber den Einfluss weiterer Variablen unterschätzen könnte. Isolationsfurcht scheint nur ein Faktor unter anderen zu sein, der zu dem Phänomen der Schweigespirale führen kann. Gerade die Betrachtung situationaler Faktoren bedarf noch weiterer Untersuchungen. Außerdem fokussierten die meisten Untersuchungen auf die Redebereitschaft, wo es doch gerade um das Verfallen in Schweigen geht. Die eigene Meinung nicht zu äußern, kann sich in Schweigen als auch in Vermeidungsstrategien manifestieren. Ältere Messungen erscheinen diesbezüglich unvollständig. Die Bedeutung sozialer Konformität auf der Mikroebene könnte damit ebenso unterschätzt worden sein (vgl. Neuwirth et al. 2007). Ähnliche Überlegungen und Ergebnisse zu verschiedenen Einflussfaktoren und Gründen fin90
Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 3.
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den sich auch bei Scherer und Tiele (2008, S. 107ff.). Bisher wurde außerdem die Möglichkeit internationaler Vergleiche zur Hypothesenprüfung nur selten eingesetzt. Es finde sich nämlich Hinweise auf international verschiedene Gründe für einen Mangel an Redebereitschaft. In kollektivistischen und individualistischen Gesellschaften finden sich andere Muster der Meinungsäußerung unter Berücksichtigung der Meinung der Mehrheit. In kollektivistischen Ländern kommt bspw. der Erhaltung von Harmonie und Konformität eine größere Bedeutung zu als in individualistischen (vgl. Huang 2005). Abbildung 9.3
Öffentliche Meinung als Resultat von Redebereitschaft
Konkrete Bezugsgruppen als Öffentlichkeiten
2 Ko Di nso sso na na nz nz 3
1 kontroverses Thema
Persönliche Relevanz des Themas
Medientenor als Repräsentant einer anonymen Öffentlichkeit t0
t1
Redebereitschaft des Individuums
nz na so anz n Ko isson 3 D
t2
... Zeitachse
1 = Die Pfeile sollen veranschaulichen, dass die Medienberichterstattung einen größeren Einfluss auf die Diskussion in Bezugsgruppen nehmen wird als umgekehrt. 2 = Der Doppelpfeil soll verdeutlichen, dass die Redebereitschaft des Individuums immer in konkreten Öffentlichkeiten praktisch wird. 3 = Konsonanz erhöht, Dissonanz mindert die Redebereitschaft.
Quelle: Eigene Erstellung Insgesamt ergeben diese Einwände keine völlig neue Theorie. Der Kern der Theorie der Schweigespirale ist ein sozialpsychologisches Verhaltensmodell, das nicht eine Gesellschaft der Individuen unterstellt, sondern Individuen, die sich der Tatsache der
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Gesellschaft bewusst sind. Abbildung 9.3 fasst die vorangegangenen Ausführungen zusammen. 9.5 Die Fragmentierung der Öffentlichkeit. Konsequenzen der Medienentwicklung Die Darstellung der Theorien von Habermas, Luhmann und Noelle-Neumann sollte verdeutlichen, dass Öffentlichkeit in unterschiedlichem Maße zu einer relevanten Bezugsgröße gesellschaftlichen Handelns werden kann. Allen Theorien ist gemeinsam, dass sie sich der Unschärfe des zu analysierenden Phänomens bewusst sind, die Präsenz in diesem öffentlichen Raum aber für unverzichtbar halten. Zugleich wird auf eine im engeren Sinne inhaltliche Bestimmung von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung verzichtet, weil sich die Konstitutionsregeln einerseits und die Wirkungsmechanismen andererseits nicht an den Spezifika eines bestimmten Themas orientieren. Wohl auch deshalb bevorzugen Gerhards und Neidhardt ein systemtheoretisches Modell, in dem Öffentlichkeit als ein wichtiger Teil funktional differenzierter Gesellschaften angesehen wird. Sie erscheint als Kommunikationssystem, das als primäres Ziel die Herstellung von Allgemeinheit und Vermittlung verfolgt und sich durch Meinungsaustausch konstituiert. An diesem dürfen alle Mitglieder einer Gesellschaft auch potenziell teilhaben, unabhängig von Status oder Expertentum (vgl. Gerhards/Neidhardt 1990, S. 11ff.). Diese hiermit zugeschriebene Relevanz lässt sich an einem Drei-Ebenen-Modell erläutern (vgl. Gerhards/Neidhardt 1991, S. 49ff.):
Ebene 1: Einfacher Typ von Kommunikationsprozessen, der durch das mehr oder weniger zufällige Zusammentreffen von zwei oder mehr Akteuren zustande kommt und episodenhaft bleibt, weil es sich (häufig) um flüchtige Begegnungen handelt. Luhmann spricht diesbezüglich auch von einer Kommunikation au trottoir. Es kommt nicht zu einer Ausbildung dauerhafter Strukturen. Ebene 2: Veranstaltungen, die thematische Vorgaben machen und organisatorisch-inhaltliche Differenzierungen aufweisen: Programme, Redner, Leiter, Auditorium usw. Ein unterstellbares Themeninteresse reduziert die Zufälligkeit der Teilnahme, freie Zugänglichkeit variiert in Abhängigkeit vom Organisationstypus (offene/geschlossene Veranstaltungen, Eintrittsgeld usw.). Ebene 3: Die Konstitution von Öffentlichkeit ist nicht an die Anwesenheit der Beteiligten gebunden, sondern an die prinzipielle Offenheit des Übertragungsbzw. Vermittlungsmediums. Die Massenmedien ermöglichen die Erreichbarkeit eines dispersen Publikums.
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Die höchste Leistungsfähigkeit im Hinblick auf Informationssammlung, -verarbeitung und -anwendung ist in diesem Modell der dritten Ebene zuzuordnen. Daraus ergibt sich auch ein besonderer Stellenwert der damit potenziell möglichen Öffentlichkeit: Diese stellt ein „intermediäres System [dar], dessen politische Funktion in der Aufnahme (Input) und Verarbeitung (Throughput) bestimmter Themen und Meinungen sowie in der Vermittlung der aus dieser Verarbeitung entstehenden öffentlichen Meinungen (Output) einerseits an die Bürger, andererseits an das politische System besteht.“ (Gerhards/Neidhardt 1991, S. 34f.) Die Öffentlichkeit ist somit Empfänger, Verarbeiter und Vermittler von Meinungen. Entscheidend ist, dass die angebotenen Themen Anschlusskommunikationen auslösen (siehe Beispieltext). Immer dann, wenn dies geschieht, breiten sich diese Aussagen „in eine unübersehbare Umwelt“ (Gerhards/Neidhardt 1991, S. 45) aus. Letzteres erfordert die Zwischenschaltung von Massenmedien, da diese aus einer Kommunikation unter Anwesenden auch eine Kommunikation mit Abwesenden macht. Sobald sich dieser Austausch auf sehr spezifische Informationen bzw. Fachwissen konzentriert, ergeben sich Konsequenzen für die jeweils adäquate Ansprache des Zielpublikums. Wenn Politiker zueinander sprechen (z. B. in Ausschüssen, Gremien) oder Experten bestimmte Sachprobleme in Kommissionen analysieren, geschieht dies in der Regel nicht-öffentlich. Wenn die dort erarbeiteten Ergebnisse der Öffentlichkeit präsentiert werden, ergibt sich die Notwendigkeit einer Transformationsleistung sehr komplexer Sachverhalte auf nachvollziehbare Ergebnisse. Je nach Wissensstand der Bevölkerung kann dies als Unterforderung oder Überforderung erlebt werden. In jedem Falle meinen Gerhards und Neidhardt, dass diese Notwendigkeit der Laienkommunikation zu einem Kernbestandteil jeder Form öffentlicher Kommunikation gehören muss: „Journalisten, Pressesprecher, Public-Relation-Profis sind in den Expertenrollen des Öffentlichkeitssystems auf diese Art Kommunikation spezialisiert. Wer die Laienorientierung des Öffentlichkeitssystems nicht beachtet, kommt nicht an.“ (Gerhards/Neidhardt 1991, S. 46f.) Die Konsequenz aus Offenheit und Laienorientierung bleibt nicht ohne Folgen für die Art und Weise der Informationspräsentation. Dieser Aspekt ist unter verschiedenen Vorzeichen diskutiert worden. Münch hat bspw. mit seiner Unterscheidung von öffentlicher und nichtöffentlicher Makrokommunikation auf die Konsequenzen von Darstellungszwängen hingewiesen. Wenn ausschließlich im öffentlichen Raum agiert wird, ist die Dominanz von Darstellerrollen unausweichlich. Öffentliche Kommunikation, so Münch, „benötigt darüber hinaus einen breit gefächerten und tief gestaffelten Unterbau der nichtöffentlichen Kommunikation, in der die Kontrahenten der öffentlichen Kommunikation unmittelbar in das Gespräch miteinander kommen können.“ (Münch 1995, S. 104f.) Wenn jedes Wort kalkuliert und jede Äußerung die Reaktion eines anonymen Publikums antizipiert, wird Verständigung erschwert. Mit anderen Worten: Wenn nur Laienkommunikation betrieben wird, können auch nur laienhafte Ergebnisse das Resultat sein. In diese Argumenta-
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tion fügt sich eine weitere Kritik, die auf einen nicht-intendierten Effekt der gerade beschriebenen Transformationsleistung hinweist: Entpolitisierung.
Fernsehen – eine Schule sozialer Intelligenz? „Im Medium von Tratsch und Klatsch beobachten wir die soziale Komplexität unserer Welt und trainieren so unsere soziale Geschicklichkeit. Wer hat was mit wem? Statt also, wie es die Vertreter der Gutenberg-Galaxis ganz selbstverständlich unterstellen, die Massen zu verblöden, funktioniert Fernsehen als Schule der sozialen Intelligenz. Was soll ich glauben? Was kann ich hoffen? Was darf ich begehren? Die Antworten darauf gibt die gute Unterhaltung in den Massenmedien, die uns mit einem Set von Überzeugungen und Wünschen versorgen. Das ist der praktische Humanismus des Fernsehens. Es leistet konkrete Lebenshilfe bei der Flucht aus der Komplexität. Vorm Fernseher und im Kino haben wir gelernt, was uns keine Schule und kein Elternhaus beibringen konnte: So also geht man mit Frauen um; so funktioniert die Welt; das ist Glück! Das war und ist die Welt der Stars, die Geburt der großen Gefühle von Ruhm und Ehre – und natürlich der demokratische Mythos des Erfolgs. Was man von Film und Fernsehen derart lernen kann, nennen Anthropologen ‚behavioral literacy’“ (Bolz 2004, S. 18f.)
Der darin enthaltene Vorwurf zielt auch auf eine mangelnde Vermittlungsleistung der Massenmedien, insbesondere des Fernsehens (siehe hierzu insbesondere Saxer 2007, S. 51ff.). Dahrendorf hatte den Massenmedien die wichtige Funktion einer Gelenkstelle zwischen aktiver und passiver Öffentlichkeit zugeschrieben (vgl. Dahrendorf 1986, S. 59 und 64), da sich niemals große Teile der Gesellschaft politisch aktiv an der Lösung von Problemen beteiligt haben. Wenn dies die Zielgruppe von Laienkommunikation ist, dann hat sich nach Oberreuter Folgendes ereignet: „Die Ausbreitung des Fernsehens hat die Menschen nur ‚anpolitisiert‘; sie hat sie nicht adäquat informiert und interessiert. Diese Tendenz auf Seiten der Rezipienten läuft konträr zur politischen Wirklichkeit, in der zur Bewältigung der Probleme immer mehr Rationalität und Kompetenz verlangt wird.“ (Oberreuter 1987, S. 83) Die Reduktion auf typische Medienformate (Pressekonferenzen, händeschüttelnde Politiker usw.) und zeitliche Restriktionen (Dauer des Beitrags, Länge der Sendung) spiegeln ein verkürztes Bild von Politik wider, welches der Komplexität dieses Handlungsfeldes nicht gerecht wird. Insbesondere Personen, die ihre politischen Informationen vorwiegend aus dem Fernsehen erhalten, entwickeln infolge dessen ein negativeres Bild von der Politik als jene, die sich (auch) auf andere Informationsquellen, zum Beispiel die Tageszeitung, stützen. Dieser Sachverhalt, der auch mit dem einpräg-
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samen Begriff ‚Videomalaise‘ (Holtz-Bacha 1989) beschrieben wurde, mag eine nur unzureichende Beschreibung der Ursachen wiedergeben - als öffentlichkeitswirksam hat er sich allemal erwiesen. Im Zuge einer Öffnung des Massenkommunikationssystems in der Bundesrepublik Deutschland und einer damit einher gehenden Vermehrung der Unterhaltungsoptionen wurde zum Beispiel auch die Überlegung eingebracht, ob nicht der Begriff ‚Unterhaltungsmalaise‘ eine adäquatere Erklärung beinhalte. Holtz-Bacha hat diesbezüglich die folgende Erläuterung gegeben: „[D]ie Vorliebe für unterhaltende Medienangebote steht im Zusammenhang mit bestimmten soziodemographischen Faktoren (Bildung, politisches Interesse) und verbindet sich mit einer Abkehr von der Politik. Oder noch einfacher: Je mehr Unterhaltung genutzt wird, je unterhaltsamer die Politik präsentiert wird, desto größer ist die Chance zu einer Abkehr von der Politik.“ (Holtz-Bacha 1994, S. 190) Dieser Befund wurde kürzlich bestätigt. Politische TV-Debatten werden immer legerer und ‚unterhaltsamer‘ geführt und erhöhen dadurch zwar das Interesse an dem Format. Dem Vertrauen in die Politik ist es hingegen abträglich (vgl. Mutz/Reeves 2005). Umgekehrt dürfte es nicht unwahrscheinlich sein, dass gerade eine unterhaltsamere Präsentation von Politik diese für Publikumsschichten geöffnet hat, die sich diesen Themenbereichen vormals nur mangels Alternativen zugewendet haben. Diese Entwicklung kann einer Transformationsleistung zugeschrieben werden, die sich nicht an einer strengen Trennung von Information und Unterhaltung orientiert hat. Folgt man den Analysen von Ludes, dann kann entlang der Dimensionen Information und Unterhaltung eine zentrale Trennungslinie durch moderne Öffentlichkeiten gezogen werden. Die damit einher gehende Spaltung sei bereits in den 1980er Jahren eingeleitet worden und habe sich in einem neuen Typus von „Infotainment-Öffentlichkeit“ (Ludes 1993, S. 80) manifestiert. Noch weiter gehen Überlegungen, die eine Fragmentierung des Publikums und die zunehmende Entstehung von Teil-Öffentlichkeiten prognostizieren. Parallel zu einer weiteren Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften vollziehe sich eine Ausdifferenzierung der Medienangebote, mit der Konsequenz, dass die Offenheit der Kommunikationsangebote infolge einer gezielten Inanspruchnahme einen nur noch begrenzten Wirkungsradius erfahre. Schulz spricht zum Beispiel von „einer Aufspaltung in eine Vielzahl gegeneinander abgeschotteter Teil- und Unterforen.“ (Schulz 1993, S. 24) Der empirische Nachweis dieser ‚Spaltungstheorie(n)‘ ist noch zu leisten91. Jenseits der dort artikulierten und ausgetauschten spezifischen Interessen bleibt den Massenmedien nach wie vor die Aufgabe vorbehalten, Öffentlichkeit für Themen herzustellen, die mal diese, mal jene soziale Großgruppen betreffen. Letztlich entscheidet eine darauf bezogene Anschlusskommunikation darüber, ob Massenmedien ihren Integrationsauftrag erfüllen können oder nicht. Angesichts der Unbe91
Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 12.
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stimmtheit der Entwicklung in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens kommt diesem Auftrag und der damit verbundenen Notwendigkeit von Selektionen eine wachsende Bedeutung zu. Trotz einer Zunahme der Anbieter und einer gelegentlich beunruhigenden Ausweitung des Themenspektrums haben moderne Gesellschaften noch nicht den Sinn für Aspekte verloren, die von allgemeiner Bedeutung sind. Dort, wo sich das Spezifische als Allgemeines ausgibt, ist die Reaktion der öffentlichen Meinung gewiss. Es ist nicht nur die Vermischung von Formaten, die eine Herausforderung für die Differenzierung von Öffentlichkeit und Privatsphäre darstellt, sondern auch die zunehmende Verwischung der Grenzen. Die Trennung von Situationsdefinitionen wird immer schwieriger. Vorder- und Hinterbühne können teilweise nicht mehr klar voneinander abgegrenzt werden. Am Beispiel der Web Cam-Nutzung zeigt sich dieses Phänomen relativ deutlich. Klaus Neumann-Braun hat sich mit der Frage der Grenzziehung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit im Rahmen dieser Kommunikation beschäftigt. Vor allem die Frage nach den persönlichen Handlungspraktiken im alltäglichen Leben erscheint hier aufschlussreich. Im Zuge der Datenschutzdebatten wird vor allem das Eindringen des Staates oder wirtschaftlicher Unternehmen in die Privatsphäre des einzelnen Menschen betont. Im Falle mancher Formen der Überwachung und Datensammlung wird dieses scheinbar gar nicht mit Argwohn betrachtet. Hier kann schon von einer „freundlichen (!) Übernahme der Privatheit durch die Massenmedien und Konsumgüterindustrie“ (Neumann-Braun 2000, S. 200) gesprochen werden. Im Falle der privaten Web Cams erfolgt wiederum eine Präsentation der Privatsphäre im öffentlichen Raum. Anhand von Interviews wird jedoch deutlich, dass die Betreiber solcher Web Cam-Angebote, entgegen der allgemeinen Meinung, sehr wohl eine genaue Vorstellung davon haben, wo für sie die Grenzen verlaufen. Diese werden außerdem bewusst kontrolliert und mithilfe bestimmter Routinen überwacht. Die Bewertungsmaßstäbe, was ‚deplatziert‘, was privat bleiben sollte, und was gezeigt werden kann und muss, haben sich nur gewandelt. Es zählt vor allem die Authentizität (vgl. ebenda, S. 206). Ähnlich bemerkt auch Richard Sennett, dass die Vorstellung, man habe sich in der Öffentlichkeit anders zu benehmen als zu Hause, für viele Jugendliche heute nicht mehr so ausgeprägt sei. Viele Jugendliche schaffen sich über soziale Netzwerke im Internet auch erst ihren sozialen Raum (vgl. Meyer 2010). Darüber hinaus verfügen aber auch viele der Web Cam-Betreiber über gute Medienkenntnisse und setzen diese Art der Kommunikation bewusst ein, um das persönliche Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit auszutarieren. So können sie einerseits durch die Besonderheiten des Mediums der zunehmenden Virtualisierung und Anonymität entgegenwirken. Die alte Lebensweise wird somit in die neue Medienwelt übertragen. Andererseits können sie durch bewusste Regieführung die Rezeption steuern. Bei gleichzeitiger Distanzwahrung und abstrakter Präsentation in der Öffentlichkeit bleibt somit ein größeres Ausmaß an kommunika-
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tiver Nähe und ein direkterer Austausch möglich. Die technischen Möglichkeiten werden bewusst genutzt und kombiniert, um die globalen Entkopplungsprozesse in einen lokalen, persönlich relevanten Referenzrahmen einbetten zu können. Das Festhalten an einem dichotomen, starren Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit scheint somit nicht weiter sinnvoll. Es handelt sich eher um ein komplexes Verschränkungsverhältnis. So kann im Rahmen solcher Medienformate, wie Big Brother oder Klatschpresseartikel, von einer Privatisierung der Öffentlichkeit gesprochen werden, im Rahmen der gerade besprochenen Verhaltensmuster eher von einer öffentlichen Präsentation der Privatheit (vgl. Neumann-Braun 2000). Die Permanenz der Auseinandersetzung mit Normalitätsvorstellungen ist ebenfalls Teil dieser Entwicklung, vor allem die Befürchtung von Normerosionen. Allerdings zeigten sich bei einer groß angelegten Studie zum Thema Tabus und Medien interessante Nuancen. Gerade im Falle von Themen, die Zugehörigkeitsgefühle und den Austausch über individuelle Probleme betreffen, nutzen Männer von 16 bis 30 Jahren das Internet häufiger als Frauen. Die Nutzung des Internet aufgrund der Anonymität bei gleichzeitiger Distanzüberschreitung bietet sich hier an. Was als Tabu betrachtet wird und wie Tabuverletzungen wahrgenommen werden, ist deutlich alters- und geschlechtsabhängig. Die jüngeren Altersgruppen zeigen insgesamt eine geringere Neigung zur Tabuisierung. Die Differenz ist gerade bei den Oberkategorien Gewalt und Sexualität stark ausgeprägt. Im Allgemeinen ist das Bewusstsein für Tabus sowie deren Verletzung aber durchaus auch in den jüngeren Altersgruppen vorhanden, über gewisse Themen wird im Internet und auch privat nicht gesprochen. Von einer allgemein befürchteten Enttabuisierung kann folglich nicht gesprochen werden. Festzuhalten ist jedoch, dass das Internet auch bewusst als Möglichkeit genutzt wird, um über teilweise sehr persönliche Probleme zu reden bzw. zu schreiben. Gerade die jüngeren Generationen sehen es nicht als Tabubruch an, sich über Themen wie Familien- oder Beziehungsprobleme, Krankheiten oder psychische Probleme auszutauschen (vgl. Dehm/Storll 2010). Diese zunehmende Verschränkung und Verwischung der Grenzen sorgt also in vielfacher Weise für neue soziale Phänomene. Für Politiker ist bspw. der Verlust der Unterscheidung von Vorder- und Hinterbühne problematisch. Sie müssen ständig in den Medien präsent sein, um überhaupt in der Politik sein zu können. So bedeutet laut Manuel Castells heutzutage Politik zu einem großen Teil auch Medienpolitik. Die Gefahr besteht natürlich in einer ‚Auskehrung‘ des Privaten an die Öffentlichkeit. Der gezielte Einsatz von Skandalen in der Politik ist nur eine der zunehmend auftretenden Folgeerscheinungen. Kontrolliertes Gatekeeping ist nahezu unmöglich. Politiker müssen besondere Aufmerksamkeit darauf verwenden, wie sie sich wann und wo äußern. Irgendjemand kann immer in der Menge stehen und ein unüberlegt formuliertes Zitat in die Weiten des Internets diffundieren lassen. Das Beobachtungsverhältnis von Staat und Bürger könnte sich somit auch in eine neue Richtung entwickeln. In der Form von ‚grass-roots movements‘ manifestieren sich die beson-
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deren Kommunikationsstrukturen. Der public space setzt sich folglich aus den klassischen Massenmedien und der neuen Form der ‚mass-selfcommunication‘ zusammen. Das Internet als neues Medium mit besonderen Eigenschaften entwickelt sich zu einem essenziellen Werkzeug und Instrument im Kampf um Aufmerksamkeit und Einfluss im öffentlichen Raum (vgl. Castells 2009). Neue Technologien evozieren also gleichsam neue Situationsdefinitionen. Sie sorgen des Weiteren für eine Verlagerung von Diskussionsschwerpunkten. Früher saß vor allem das Medium Fernsehen auf der Anklagebank, wenn es um das Zeigen des Unzulässigen ging oder die Erosion der öffentlichen Moral. Die Dynamik der Kommunikationsgesellschaft wurde hier durch die systematische Erzeugung des Ungewöhnlichen in Gang gehalten. Bestätigt wurde: Es liegt im Wesen der Neugier, dass sie vor nichts halt macht. Heute verschiebt sich die Debatte aber vermehrt auf Beobachtung von Personen, oder noch enger gefasst: Daten über Personen. Das Prinzip des Panoptikums bspw., bei dem schon die Chance darauf ausreicht, überwacht und beobachtet zu werden, um sein Verhalten danach auszurichten, findet seine Entsprechung in modernen Formen der Kommunikation, bei denen man nie vollständig sicher sein kann, wer private Informationen wann liest - und ob nicht bspw. ein technischer Algorithmus Sachverhalte in Zusammenhang zu bringen und Konsequenzen zu ziehen vermag, die der Nutzer unmöglich antizipieren kann. Seit das Internet hinzugekommen ist, hat sich die Diskussion um die Privatsphäre also nicht nur verstärkt, sondern auch andere Schwerpunkte hervorgebracht. Die Gesellschaft wird nicht nur kontrolliert, sie soll sich auch selbst kontrollieren. Zugleich hat diese Diskussion die Medienkompetenzförderung erneut auf den Plan gerufen. Man sollte also darauf achten, dass man noch etwas zu verheimlichen hat. Meine Privatsphäre besteht somit aus Dingen, die ich an der in der Gewissheit mitteilte, dass sie dies wissen dürfen und den Dingen, die ich nicht mitteile. Das Zurückhalten von Informationen oder sogar die ‚Lüge‘ sind bestimmte Formen des Informationsmanagement und der Imagepflege. Für manche Positionen gehören sie sogar zu dem erwarteten Rollenhandeln dazu. Man denke hier nur an den Diplomaten, der sich in doppelsinniger Weise ‚diplomatisch‘ zu verhalten hat. Doch um Beispiele zu finden, muss man gar nicht das politische Feld betreten, es bietet sich nur in besonderem Maße an. „Jede soziale Situation hat insofern im buchstäblichen oder übertragenen Sinne eine Hinterbühne. [...] Ob die Kameras an sind oder aus, ändert gar nichts an der Existenz von Hinterbühnen und daran, dass vorn vor Publikum mindestens eine Seite Theater spielt.“ (Kaube 2010b, S. 65)
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Öffentlichkeit, öffentliche Meinung und die Bedeutung der Medien
Bentele, Günter; Haller, Michael (Hrsg) (1997): Aktuelle Entstehung von Öffentlichkeit. Akteure-Strukturen-Veränderungen. Konstanz. (Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Band 24). Neidhardt, Friedhelm (Hrsg) (1994): Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen. (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 34). Opladen. Price, Vincent (1992): Public Opinion. Newbury Park usw. Saxer, Ulrich (2007): Politik als Unterhaltung. Zum Wandel politischer Öffentlichkeit in der Mediengesellschaft. Konstanz.
10 Das Medium und die Botschaft: die Bedeutung des Verbreitungsmediums
10.1 Das Medium ist die Botschaft. Anmerkungen zu McLuhan Wer die alltägliche Kommunikation über Medien sorgfältig verfolgt, stellt fest, dass dort häufig undifferenzierte Urteile dominieren. Trotz einer Vielzahl gedruckter und audiovisueller Angebote neigt man dazu, den Medien eine Verantwortung für bestimmte Entwicklungen zuzuschreiben. Kaum jemand wird dabei an das Medium an sich denken, sondern einen diffusen Gesamteindruck artikulieren, der aus der Kenntnis bestimmter Angebote resultiert. Die viel zitierte Aussage des kanadischen Kommunikationswissenschaftlers Marshall McLuhan (1911-1980) verdankt ihre Formulierung einer anderen Sichtweise: „The Medium is the Message“ meint, dass dem jeweils verwandten Kommunikationsmittel eine zentrale Bedeutung bezüglich der Wirkung der jeweiligen Aussagen zukommt. Da solche Feststellungen sehr rasch den Charakter eines Slogans annehmen, bleibt die Einordnung als merkwürdige Behauptung nicht aus. Zugleich lenkt diese Beurteilung vom Kern des Problems ab. Im Folgenden sollen Theorien im Vordergrund stehen, die die Bedeutung des Mediums über die Bedeutung des Inhalts stellen und damit eine andere Antwort auf die Frage „Was machen die Medien mit den Menschen?“ geben. Obwohl auch in diesen Fällen eine medienzentrierte Sichtweise erkennbar ist, orientieren sich die Antworten weniger an der Wirkung spezifischer Stimuli. Bevor diese Differenz am Beispiel der Theorien von Meyrowitz und Postman verdeutlicht wird, sollen McLuhans Vorstellungen kurz erläutert werden.
Ein Jubilar des Jahres 2011 - Marshall McLuhan „Was ist der Anlass? 100. Geburtstag (21.Juli). Wer war das noch mal? Medientheoretiker und Schlagwortgeber (‚Das Medium ist die Botschaft’). Ist der überhaupt noch zeitgemäß? Mal bei Wikileaks nachfragen. Was muss ich von ihm gelesen haben? ‚Understanding Media’. Wo ist die Party?
M. Jäckel, Medienwirkungen, DOI 10.1007/978-3-531-93191-3_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Das Medium und die Botschaft: die Bedeutung des Verbreitungsmediums Die Universität in McLuhans Geburtsstadt Edmonton feiert das ganze Jahr über. Oder einfach in den Marshall-McLuhan-Salon in der kanadischen Botschaft in Berlin gehen! Mit welcher Anekdote kann ich dort punkten? Im ‚Stadtneurotiker’ holt Woody Allen den echten McLuhan zu Hilfe, um einen Dummschwätzer in der Kinoschlange zum Schweigen zu bringen.” (N.N. 2011, S. 22)
Als sich Umberto Eco mit McLuhans Theorie auseinandersetzte, bemängelte er insbesondere deren Vieldeutigkeit, die eine eindeutig identifizierbare Kommunikationstheorie vermissen lasse und in einer undifferenzierten Verwendung des Begriffs ‚Medium‘ ihre entscheidende Schwäche zeige. Dieses Unbehagen wird unter anderem wie folgt illustriert: „In Wirklichkeit leidet die ganze Theorie McLuhans an einer Reihe von Unklarheiten, die für einen Kommunikationstheoretiker sehr gravierend sind, da sie die Unterschiede zwischen Kanal und Code und Botschaft verwischen. Zu sagen, sowohl die Straße wie die gesprochene Sprache seien Medien, heißt einen Kanal mit einem Code vermengen. Zu sagen, sowohl die euklidische Geometrie wie die Kleidung seien Medien, heißt einen Code (Art und Weise, die Erfahrung zu formalisieren) auf die gleiche Stufe zu stellen wie eine Botschaft (eine Art und Weise, mit Hilfe von Kleiderkonventionen etwas auszudrücken, einen Inhalt zu übermitteln).“ (Eco 1985, S. 260) Die Kritik beschreibt den Preis einer Theorie, die umfassend sein und die Veränderung der Welt mit dem Aufkommen neuer Medien in Verbindung bringen möchte. McLuhan denkt dabei nicht nur an Medien, die der Informationsübertagung dienen. Die Erläuterung der Aussage ‚Das Medium ist die Botschaft‘ beginnt mit einem Hinweis auf die Folgen der Automation im technischen Bereich. Ob eine Maschine nun „Cornflakes oder Cadillacs produziert“ (McLuhan 1968a, S. 13), sei für die daraus resultierenden Veränderungen der menschlichen Arbeit „vollkommen gleichgültig“ (McLuhan 1968a, S. 13). Diese Entschiedenheit provoziert selbstverständlich Kritik. Lässt man aber diese provokatorischen Absichten beiseite, dann soll mit dem Satz ‚Das Medium ist die Botschaft‘ insbesondere Folgendes ausgedrückt werden: „[...] daß die persönlichen und sozialen Auswirkungen jedes Mediums – das heißt jeder ‚Ausweitung unserer eigenen Person‘ – sich aus dem neuen Maßstab ergeben, der durch jede Ausweitung unserer eigenen Person oder durch jede neue Technik eingeführt wird.“ (McLuhan 1968a, S. 13).
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Mit oder ohne Ton? „I liked them [the movies] in the way that everyone else did – as diversions, as animated wallpaper, as fluff. No matter how beautiful or hypnotic the images sometimes were, they never satisfied me as powerfully as words did. Too much was given, I felt, not enough was left to the viewer’s imagination, and the paradox was that the closer movies came to simulating reality, the worse they failed at representing the world – which is in us as much as it is around us. That was why I had always instinctively preferred black-and-white pictures to color pictures, silent films to talkies. Cinema was a visual language, a way of telling stories by projecting images onto a two-dimensional screen. The addition of sound and color had created the illusion of a third dimension, but at the same time it had robbed the images of their purity. They no longer had to do all the work, and instead of turning film into the perfect hybrid medium, the best of all possible worlds, sound and color had weakened the language they were supposed to enhance.” (Auster 2002, S. 14)
Aber was bedeutet in diesem Zusammenhang die Formulierung „Ausweitung unserer eigenen Person“? Es kann nur bedeuten, dass neue Technologien Körper und Sinne erweitern. Die Kamera lässt sich bspw. als eine Erweiterung des Auges und das Radio als eine Erweiterung des Ohrs interpretieren (vgl. Macrone 1996, S. 242). Wahrnehmung ist somit das Resultat des Zusammenspiels der Sinne und jede neue (Medien-)Technik erzeugt neue Wahrnehmungsmuster. Wenn diese Medien zu Bestandteilen des Alltags werden, verändern sie nicht nur das Wahrnehmungsspektrum, sondern auch die Art und Weise, wie wir uns in unterschiedlichsten Situationen verhalten. Eine sehr anschauliche Beschreibung dieses Grundanliegens der MediumTheorien findet sich im Roman ‚The Book of Illusions‘ von Paul Auster (siehe Beispieltext). Je perfekter das Kino die Realität zu simulieren versuchte, desto enttäuschender wird bei Auster das Resultat beurteilt. Ein weiteres Beispiel könnte die Differenz zwischen einem Roman und seiner Verfilmung sein. Während des Lesens, so Iser, sei es gerade die Undeutlichkeit des Vorstellungsbildes, die uns zu Kompositionsaktivitäten veranlasse. Optische Genauigkeit führe zu einer Verarmung auf dieser Empfindungsebene (vgl. Iser 1990, S. 225). Oder wie der Filmregisseur David Cronenberg es einmal ausdrückte: „I don’t think that any book is filmable unless you shoot the pages of the book itself“ (zitiert nach Baldassarre 1992). Dieser Effekt – das sei hier ergänzt - setzt wohl voraus, dass beide Varianten bekannt sind. Ebenso werden aber schauspielerische Darstellungen selten einheitlich wahrgenommen, unabhängig davon, ob der Roman(-held) nun bekannt ist oder nicht. Diese Einwände
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berühren bereits die Stringenz der Argumentation im Kontext der Medium-Theorien, die noch zu erörtern sein wird (siehe unten). Die angedeutete Wechselwirkung von Medium und Wahrnehmung lässt sich anhand einer Periodisierung der Menschheitsgeschichte illustrieren, wie sie von McLuhan vorgelegt wurde. In seinem Modell unterscheidet er drei wichtige Perioden, die durch verschiedene Zustände des Bewusstseins und verschiedene Formen der sozialen Organisation gekennzeichnet werden können:
Die Phase der mündlichen Überlieferung: In dieser Gesellschaft, die auch als orale Gesellschaft bezeichnet wird, dominiert eine geschlossene Wahrnehmung der Umwelt. Informationsaufnahme ist in der Regel das Resultat unmittelbarer Wahrnehmung, die sich aufgrund der eingeschränkten geografischen Mobilität durch eine hohe Homogenität auszeichnet. Die Mitglieder dieser Gesellschaften sind in starkem Maße voneinander abhängig; Individualität kann sich kaum entfalten, Auge und Ohr sind die wichtigsten Sinnesorgane. Erinnerung ist (fast) ausschließlich auf das Gedächtnis angewiesen, Speichermedien fehlen weitgehend. Die Phase des Schreibens und Druckens: Mit der Erfindung der Schrift und der Entwicklung von Drucktechniken entstehen nicht nur neue Formen der raumübergreifenden Mitteilung, sondern auch neue Formen des Denkens: das systematische Nachdenken, die Introspektion, die Abstraktion. Mit der Erfindung der Drucktechnik werden neue Möglichkeiten der Speicherung von Informationen bereitgestellt, zugleich erfährt das körpergebundene Gedächtnis eine zusätzliche Unterstützung und Entlastung. Indem Erfahrungen dokumentiert werden, werden zudem die Voraussetzungen für einen rationaleren Umgang mit der Welt geschaffen und die Grundlagen für die Entfaltung des Individualismus gelegt. Die Phase der Elektronik: Die Elektronik führt zur konsequentesten Erweiterung unserer Sinnesorgane. Für das elektronische Zeitalter gilt, dass sich eine neue Unmittelbarkeit in einem globalen Kontext ergibt. Medien übernehmen die Funktion elektronischer Sensoren und verstärken das Gefühl der Gleichzeitigkeit. Die Metapher des ‚globalen Dorfes‘ beschreibt eine Verdichtung von Raum und Zeit, mit der Konsequenz, dass sich alles für alle zur gleichen Zeit ereignet (vgl. McLuhan 1968b, insbesondere S. 40f. und 51ff.).
Diese Einteilung der Geschichte beschreibt die Auswirkung von Kommunikationstechnologien (Medien) auf die Formen der menschlichen Kommunikation, ohne auf die spezifischen Inhalte der Kommunikation einzugehen. Auch die meisten neueren Untersuchungen und Ansätze zu dem Thema beschäftigen sich mit solchen Übergängen von einem dominierenden Medium zu einem anderen. Die zunehmende Bedeutung von Netzwerken als besondere Kommunikationsform oder der Einfluss
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mobiler elektronischer Medien auf die Strukturierung unseres Alltags und die soziale Integration sind hier nur wenige Beispiele. Um die Effekte der Medien erklären zu können, wird auch hier oft der Fokus nicht auf den Inhalt gelegt. Die Charakteristika und Potenziale eines jeden Mediums sind Gegenstand der Untersuchungen. Laut Meyrowitz sollte die Frage dementsprechend also lauten, was ein Medium auszeichnet und von anderen unterscheidet. Dabei sind vor allem physikalische, soziale und psychologische Besonderheiten der Medien zu beachten (vgl. Meyrowitz 2009, S. 518ff.). Im weiteren Sinne ist das die allgemeine Zielsetzung, die Medium-Theorien miteinander verbindet. Meyrowitz hat diese einmal wie folgt veranschaulicht: „[...] wenn wir uns in der öffentlichen wie der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit vor allem auf den Inhalt von Kommunikationen konzentrieren, gleicht das dem hypothetischen Versuch, die Bedeutung des Automobils zu verstehen, indem man ignoriert, daß es ein neues Transportmittel gibt, und sich statt dessen auf eine detaillierte Untersuchung der Namen und Gesichter von Passagieren konzentriert.“ (Meyrowitz 1990a, S. 56) Während die Phase des Schreibens und Druckens das lineare Denken und eine lineare Welt hervorgebracht haben, die sich entlang der Kategorien Ursache und Wirkung strukturiert hat, führt das im elektronischen Zeitalter dominierende Medium Fernsehen zu einem Verlust dieser Weltsicht. Diese Feststellung hat etwas mit McLuhans Unterscheidung von ‚heißen‘ und ‚kühlen‘ Medien zu tun. Das Grundprinzip, das diese Unterscheidung möglich macht, wird wie folgt beschrieben: „Ein ‚heißes‘ Medium ist eines, daß nur einen der Sinne allein erweitert, und zwar bis etwas ‚detailreich‘ ist. Detailreichtum ist der Zustand, viele Daten oder Einzelheiten aufzuweisen. Eine Fotografie ist optisch ‚detailreich‘. Eine Karikatur ist ‚detailarm‘, und zwar einfach, weil wenig optisches Informationsmaterial zur Verfügung steht. Das Telefon ist ein kühles Medium oder ein detailarmes, weil das Ohr nur eine dürftige Summe von Informationen bekommt. Und die Sprache ist ein kühles, in geringem Maße definiertes Medium, weil so wenig geboten wird und so viel vom Zuhörer ergänzt werden muß.“ (McLuhan 1968a, S. 29) ‚Kühle‘ Medien präsentieren somit keine fertigen Produkte, sondern verlangen vom jeweiligen Rezipienten eine Ergänzung der detailarmen Informationen. ‚Heiße‘ Medien präsentieren detailreiche Informationen und erfordern infolgedessen nur einen geringen Grad an persönlicher Beteiligung: „Jedes heiße Medium läßt weniger persönliche Beteiligung zu als ein kühles, wie ja eine Vorlesung weniger zum Mitmachen anregt als ein Seminar und ein Buch weniger als ein Zwiegespräch.“ (McLuhan 1968a, S. 30) Die Informationsstruktur ist so dicht, dass der Benutzer vereinnahmt wird. Ein ‚kühles‘ Medium ist dagegen durch Lücken in seiner Informationsstruktur gekennzeichnet, die Präzision ist geringer. Gerade deshalb verlangt es nach der Vervollständigung durch das Publikum und begünstigt eine andere Form der Rezeption. Das Medium ist detailarm, erscheint aber dennoch als untrennbare Einheit. Im Falle des Fernsehens sind alle Informationen in einem Augenblick präsent und nicht - wie bspw. im Falle des Bu-
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ches - linear angeordnet. Eco spricht in diesem Zusammenhang von einer „Art Totalität und Gleichzeitigkeit aller vorhandenen Daten.“ (Eco 1985, S. 255)
Film und Fernsehen. Ein Vergleich von McLuhan „Die Aussageweise des Fernsehbildes hat mit dem Film oder Foto nichts gemeinsam, es sei denn, daß es wie diese eine nicht-verbale Gestalt oder Konfiguration der Formen zeigt. Beim Fernsehen ist der Zuschauer Bildschirm. Er wird mit Lichtimpulsen beschossen, die James Joyce die ‚Attacke der leichten (Light = leicht und Licht) Kavallerie’ nannte, die seine ‚Seelenhaut mit >unterbewußten< Ahnungen’ erfüllte. Das Fernsehbild ist visuell gesehen datenarm. Das Fernsehbild ist keine Einzelaufnahme. Es ist nicht Fotografie in irgendeinem Sinne, sondern es tastet pausenlos Konturen von Dingen mit einem Abtastsystem ab. Das so entstandene plastische Profil erscheint bei Durchlicht, nicht bei Auflicht, und ein solches Bild hat viel eher die Eigenschaften der Plastik oder des Bildsymbols als die der Abbildung. Das Fernsehbild bietet dem Beschauer etwa 3 000 000 Punkte pro Sekunde. Davon nimmt er nur ein paar Dutzend in jedem Augenblick auf, um sich daraus ein Bild zu machen. Das Filmbild bietet einige weitere Millionen Daten pro Sekunde, und der Beschauer muß die Einzelheiten nicht so drastisch einschränken, um sich einen Eindruck zu machen. Er ist im Gegenteil eher geneigt, das ganze Bild in einem Paket entgegenzunehmen. Der Beschauer des Fernsehmosaiks hingegen gestaltet mit der technischen Bildkontrolle unbewußt die Punkte zu einem abstrakten Kunstwerk nach dem Muster von Seurat oder Rouault um. Wenn jemand fragen sollte, ob sich das alles ändern würde, wenn die Technik die Charakteristik des Fernsehbildes auf die Stufe des Filmbildes bringen würde, könnte man ihm nur mit der Gegenfrage kommen: ‚Können wir eine Karikatur durch Licht- und Schatteneffekte oder perspektivische Darstellung ändern?’ Die Antwort lautet ‚ja’, nur wäre das keine Karikatur mehr. ‚Verbessertes’ Fernsehen wäre kein Fernsehen mehr. Das Fernsehbild ist jetzt ein mosaikartiges Maschennetz von hellen und dunklen Punkten, was ein Filmbild nie ist, auch wenn die Qualität des Filmbildes sehr schlecht sein sollte.“ (McLuhan 1968a, S. 341f.)
Da McLuhan den Film als ein ‚heißes‘ und das Fernsehen als ein ‚kühles‘ Medium bezeichnet, verliert das Argument einer andersartigen Rezeption gleichwohl an Überzeugungskraft. Die Begründungen, die McLuhan diesbezüglich vorgelegt hat, waren immer wieder Anlass für ironische Kommentare (vgl. hierzu bspw. Macrone 1996, S. 244), weil die Differenz in einem sehr technischen Sinne begründet wird.
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Seine Erläuterungen sollen hier ohne weitere Kommentierung wiedergegeben werden (siehe Beispieltext). Lässt man diese Fragen der Zuordnung einmal außer Acht, ist die Unterscheidung heiß/kühl als solche nicht leicht nachvollziehbar. Sie soll wohl verdeutlichen, dass jedes Medium unabhängig vom Inhalt bestimmte Wahrnehmungsmechanismen in Gang setzt. Die folgenden Beispiele illustrieren diesen Aspekt:
Nach Auffassung McLuhans hat sich der Augenabstand der Kinder von der gedruckten Seite seit der Einführung des Fernsehens verändert. Die bebilderten Comic-Strips hätten diese Veränderung der Wahrnehmung bereits eingeleitet. Seit das Fernsehen existiere, werde dieser Prozess beschleunigt und führe dazu, dass man vergebens auch Gedrucktes mit gesamtpersönlicher Beteiligung lesen möchte: „Sie bringen dem Druck alle ihre Sinne entgegen, und der Buchdruck weist sie ab. Der Buchdruck verlangt das losgelöste, nackte Sehvermögen, nicht alle Sinnesorgane gemeinsam.“ (McLuhan 1968a, S. 336) In bewusster Absetzung von einer Medienforschung, die die Bedeutung des Fernsehens für das politische Leben an der Dauer der Fernsehnutzung und den Inhalten der Debatten ablesen möchte, zitiert McLuhan die Analyse eines britischen Journalisten, der die Auftritte von Nixon und Kennedy im amerikanischen Fernsehen im Sinne seiner Theorie interpretierte. Nixon habe danach in einem detailarmen Medium detailreich zu wirken versucht. Während Kennedys zurückhaltendes Auftreten die Wahrnehmung seiner ganzen Persönlichkeit begünstigt habe, glich Nixon „mit seiner raffinierten Weitschweifigkeit mehr dem Eisenbahn-Juristen [...], der Pachtverträge abschließt, die nicht im Interesse der Kleinstadtbürger sind.“ (McLuhan 1968a, S. 359) In einem ‚heißen Medium‘, zum Beispiel dem Hörfunk, ist eine solche Form der Präsentation nicht möglich. Dort würden Schweigen und Zurückhaltung als negative Eigenschaften interpretiert. Das ‚kühle‘ Medium Fernsehen dagegen gewinne an Überzeugungskraft, wenn man die Lücken in der Informationsstruktur nicht durch ein übertriebenes Agieren zu füllen versuche. Insofern sei das Fernsehen auch ein „schüchterne[r] Riese“ (McLuhan 1968a, S. 336), in dem sich ‚heiße Eisen‘ nicht in geeigneter Weise behandeln lassen.
Kennedys Alter Ego – ein Nachruf auf Theodore C. Sorensen (19282010) „Theodore C. Sorensen, one of the last links to John F. Kennedy’s administration, a writer and counselor who did much to shape the president’s narrative, image and legacy, died [...] He [Richard M. Nixon] said Mr. Sorensen
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Das Medium und die Botschaft: die Bedeutung des Verbreitungsmediums had ‘a rare gift’: the knack of finding phrases that penetrated the American psyche. He was best known for working with Kennedy on passages of soaring rhetoric, including the 1961 inaugural address proclaiming that ‘the torch has been passed to a new generation of Americans’ and challenging citizens: ‘Ask not what your country can do for you, ask what you can do for your country.’ Mr. Sorensen drew on the Bible, the Gettysburg Address and the words of Thomas Jefferson and Winston Churchill as he helped hone and polish that speech. [...] He held the title of special counsel, but Washington reporters of the era labeled him the president’s ‘intellectual alter ago’ and ‘a lobe of Kennedy’s mind.’ Mr. Sorensen called these exaggerations, but they were rooted in some truth. [...] Mr. Sorensen was proudest of a work written in haste, under crushing pressure. In October 1962, when he was 34 years old, he drafted a letter from Kennedy to the Soviet leader, Nikita Khrushchev, which helped end the Cuban missile crisis." (Weiner 2010, S. A1)
Ob es letztlich an diesen ‚Lücken in der Informationsstruktur‘ gelegen hat, lässt sich empirisch wohl kaum belegen. Den knappen Wahlausgang des Jahres 1960 kommentierte Harvey Wheeler im Magazin ‚Newsweek‘ wie folgt: „The Presidential election of 1960 was so close that many commentators, including Robert Kennedy, stated that Senator Kennedy’s victory was ;determined‘ by the television debates. But an election as close as that one was can be said to have been ;determined‘ by almost everything that happened. Almost any change – a change in weather, a change in economic conditions, a change in American prestige abroad, a change in Khrushchev’s tactics, a change in the reactions of minority groups – any change even though small might have brought different electoral results.“ (Wheeler 1962, S. 14) Die Ergebnisse der ‚Presidential Debates‘ sind in Tabelle 10.1 zusammengefasst. In neueren Untersuchungen konnte allerdings gezeigt werden, dass allein das Darstellungsformat der politischen Debatten schon einen Unterschied in der Bewertung von Kandidaten ausmachen kann. Durch bestimmte Schnitttechniken und den Einsatz von Split-Screens wird eine Einschätzung aufgrund charakterlicher Eigenschaften und der eigenen Parteineigung befördert. Der Ausgang solcher Debatten geht zu einem großen Teil nicht nur auf die inhaltlichen Aspekte, also Debatteneffekte, sondern eben auch auf Medieneffekte zurück (vgl. Cho 2009, S. 391ff.; sowie allgemein Kepplinger 2009). Den durch Bilder vermittelten Eindrücken wurde ja bereits in der Theorie McLuhans eine enorme Wirkungskraft zugesprochen. Den Erfolg seiner Substitutionsthese, wonach altes Denken durch neue Formen der Wahrnehmung ersetzt werde, konnte McLuhan zu seinen Lebzeiten (1911-1980) nicht mehr beobachten. Eco hält eine Integrationsthese für wahrscheinlicher. Das lineare Denken, so Eco, finde auch noch innerhalb des Fernsehens statt, „das ja an der Quelle noch in Gutenbergischen Dimensionen konzipiert, organisiert und programmiert wird [...].“ (Eco 1985, S. 257)
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Fernsehdebatten und Wahlausgang. Das Beispiel USA92
Tabelle 10.1 Wahljahr
Zahl der Debatten
1960
4
1976
3
1980
1
1992
3
2000
3
2004
3
2008
3
Kandidaten
Stimmenanteil vor der ersten Debatte
Richard Nixon John Kennedy Jimmy Carter Gerald Ford Jimmy Carter Ronald Reagan Bill Clinton George H.W. Bush Al Gore George W. Bush Gerorge W. Bush John Kerry Barack Obama John McCain
47% 46% 51% 36% 45% 42% 51% 33% 46% 44% 52% 44% 48% 45%
Stimmenanteil nach der letzten Wahlergebnis Debatte 48% 49% 49% 44% 43% 46% 44% 35% 40% 51% 48% 49% 52% 42%
49,5% 49,7% 50,0% 48,0% 41,0% 50,5% 42,9% 37,1% 48,3% 47,8% 50,6% 48,1% 52,9% 45,7%
Quelle: USA Today - Friday, October 15, 2004, www.cnn.com und www.gallup.com Ergänzend müsste man hinzufügen, dass die These einer völligen Vereinnahmung durch das Medium mit unterschiedlichen Formen der Inanspruchnahme desselben konkurriert. Und wenn das Publikum gefragt wird, wie es ihm ergangen ist, muss es eine Form der Erklärung praktizieren, die ohne eine ordnende Gedankenführung kaum möglich sein wird. Man wechselt sozusagen in ein anderes Medium, um dem vermeintlich Detailarmen Detailreichtum zu verleihen. Das Hauptproblem der Medium-Theorien ist der Enthusiasmus, der dieser Flexibilität des Publikums wenig Beachtung schenkt. Die neueren technologischen Entwicklungen haben nichtsdestotrotz zu einer Wiederentdeckung der Medium-Theorien geführt. Der McLuhansche Ansatz wird hierbei gerne mit anderen erweitert. Meyrowitz schlägt unter anderem die Verknüpfung von McLuhan mit Erving Goffman (1922-1982) vor. Dieser beschreibe treffend die Verhaltensänderungen je nach Situation, vernachlässige allerdings völlig den Einfluss von Medien auf soziale Interaktionen und Situationsdefinitionen. Außerdem liege sein Fokus deutlich auf Face-to-Face-Interaktionen. McLuhan hingegen gehe auf soziale Situationen und Rollen wenig ein. Das soziale Umfeld als ‚Medium‘ werde in diesem Sinne außer Acht gelassen. Hier sieht Meyrowitz klare An92
Weitere Informationen auf der Seite des U.S. Census Bureau unter: www.census.gov/hhes/www/ socdemo/voting/index.html und www.electionstudies.org
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knüpfungspunkte, um mithilfe beider Ansätze eine fruchtbare Theorie über die Art, wie Medien das alltägliche Verhalten beeinflussen können, zu entwickeln (vgl. Meyrowitz 2001, S. 17f.). Bezüglich des Internets und der mobiler Technologien wird immer häufiger die Frage gestellt, wie sich die Verfügbarkeit solcher Schnittstellen auf soziale Situationen, und damit Strukturen, auswirken kann. Hier scheint auch eine weitere Verfeinerung in Mikro- und Makroebene sinnvoll. Erstere bezieht sich auf die Nutzung eines Mediums in bestimmten Situationen, zu einem bestimmten Zweck. Letztere auf größere Zusammenhänge, wie die allgemeine Verbreitung eines neuen Mediums (vgl. Meyrowitz 2009, S. 522ff.). Die möglichen Veränderungen des Medium-Effektes durch inhaltliche Modulationen, Rezeption und Produktionsvariablen werden jedoch weiterhin wenig beachtet (vgl. ebenda, S. 529f.). Es sind auch Weiterentwicklungen mithilfe der Wahrnehmungspsychologie denkbar. Hier ist vor allem das Affordanzkonzept zu nennen. Es bietet Möglichkeiten, die technologischen Besonderheiten und deren Effekt zu berücksichtigen, ohne dabei einem Technikdeterminismus verfallen zu müssen. Affordanz meint die Handlungsmöglichkeiten, die ein Objekt anbietet, seinen Angebotscharakter (vgl. Zillien 2008, S. 162f.). Wir erfassen im Alltagsleben weniger die besonderen Merkmale eines Gegenstandes als eben seine Affordanzen. Diese können noch in direkt wahrnehmbare, versteckte und falsch wahrgenommene unterschieden werden. In der tatsächlichen Verwendung der Objekte durch den aktiv gedachten Nutzer verschwimmt die Grenze zwischen Person und Umwelt. Es kommt zu einer Ausweitung des Körpers durch die Objekte. Dies erinnert an die vorherigen Ausführungen zu der Kamera als Erweiterung des Auges. Im Bereich der Medien ist also gerade die Beziehung zwischen Nutzer und ‚technologischem Artefakt‘ interessant. Als Beispiel wären hier moderne Informationstechnologien im Gegensatz zu Papier und Print oder die Effekte neuer Software auf die Art und Weise, wie Präsentationen gehalten werden, zu nennen. Die Nutzung des Mobiltelefons wurde ebenfalls schon entsprechend des Konzeptes untersucht und verdeutlicht auch die Unterscheidung in versteckte oder falsch wahrgenommene Affordanzen (vgl. Zillien 2008, S. 165ff.). Gerade Software als solche wirft immer mehr die Frage auf, inwiefern sie die Nutzung des Computers, des Internets und verschiedener Plattformen strukturiert. Manche Affordanzen werden hier eindeutig sein und klare Vorgaben machen. Andere könnten verändert werden, was jedoch meist unterlassen wird (bspw. Standardeinstellungen), und wieder andere Nutzungsmöglichkeiten waren oft gar nicht intendiert. Die Interaktionsmöglichkeiten, auch zwischen Entwickler und Nutzer, die ein besonderes Merkmal vieler neuer Medien darstellen, stellen also neue Herausforderungen dar. Intendierte und wahrgenommene Affordanzen müssen sich nicht decken, entscheiden aber zu einem Großteil, welchen Effekt das Medium selbst hat (vgl. Schmidt 2009, S. 62ff.). McLuhans Ideen werden hier also in Form von neuen Handlungsoptionen aufgenommen, aber durch einen aktiven Nutzer und eine Wechselwirkung zwischen ihm und dem Artefakt ergänzt.
Das Medium und die Botschaft: die Bedeutung des Verbreitungsmediums
311
Mit verschiedenen Medienkonzepten hat sich auch Krämer auseinandergesetzt. Ansätze, wie das Botenkonzept oder das postalische Prinzip, nehmen eine Neutralität oder Transparenz des Mediums als Mittler an. Medien sind nicht autonom und werden auch nicht bewusst wahrgenommen. Sie erlauben die Übermittlung durch ihre Selbstneutralisierung. Erweiterungen dieser Konzepte beziehen jedoch auch die Eigenheiten der Medien mit ein. Es bleiben quasi unintendierte Spuren zurück (vgl. Krämer 2008, S. 68ff.; 83ff.). Andere Ansätze sehen Medien wiederum als reine Instrumente. Hier kritisiert Krämer, dass die weiteren Dimensionen der Medien außer Acht gelassen werden. Schließlich habe man es mit vielen Phänomenen zu tun, die es ohne Medien gar nicht gäbe. Durch Videotechnik oder allgemein die Kamera würden Erfahrungen zugelassen, die ohne diese Medien gar nicht möglich wären. Damit bewirken Medien weit mehr als eine reine Leistungssteigerung oder Verbesserung des menschlichen Körpers (vgl. Krämer 2009, S. 84 ff.). Festzuhalten wäre also, dass eine Erweiterung der Betrachtungsweise notwendig ist und auch allgemein versucht wird. Ausgangspunkt der Erweiterungen stellen meist die genannten Hauptkritikpunkte dar. Diese sind bei McLuhan die teilweise zu technikdeterministische Auslegung, die Vernachlässigung der aktiven Verhaltensoptionen des Publikums sowie dessen Flexibilität in der Nutzung. Dieser letzte Punkt gilt auch für die ‚Fernseh-Gesellschaft‘ von Meyrowitz, noch mehr aber für die medienökologischen Ausführungen, die Postman vorgelegt hat. 10.2
Die ‚Fernseh-Gesellschaft‘. Die Theorie von Meyrowitz
Meyrowitz’ theoretischer Entwurf wird als situativer Ansatz bezeichnet, weil er eine soziologische Theorie über situationsabhängiges Verhalten mit der Medium-Theorie McLuhans verknüpft. Die folgende Aussage illustriert die Zielsetzung seiner Analyse: „Die elektronischen Medien haben die Bedeutung von Ort und Zeit für die zwischenmenschliche Interaktion total verändert.“ (Meyrowitz 1990a, S. 10f.) Es soll verdeutlicht werden, wie sich das Vorhandensein elektronischer Medien auf die Antizipation von Verhaltenserwartungen und tatsächliches Verhalten auswirkt. Im Sinne McLuhans werden elektronische Medien als Erweiterungen unserer Sinnesorgane bezeichnet. Eine entscheidende Folge dieser Erweiterung besteht in der Vermischung vormals getrennter Erfahrungs- und Informationswelten. Vor dem Aufkommen elektronischer Medien sei eine klare Identifikation verschiedener Lebensbereiche möglich gewesen, die sich insbesondere durch eine Ortsgebundenheit der Erfahrung auszeichneten und zur Herausbildung unterschiedlicher sozialer Identitäten und sozialer Rollen beigetragen haben. In historischer Perspektive haben Lese- und Schreibfähigkeit sowie Schulbildung einen maßgeblichen Anteil an der Strukturierung der sozialen Welt gehabt. Elektronische Medien aber sind nunmehr in der Lage, „viele verschiedene Klassen von Menschen am selben ‚Ort‘“ (Meyrowitz 1990a,
312
Das Medium und die Botschaft: die Bedeutung des Verbreitungsmediums
S. 31) zu versammeln und schaffen damit eine neue „Situations-Geographie“ (Meyrowitz 1990a, S. 31)93. Die neue Situations-Geografie lässt sich an zahlreichen Beispielen veranschaulichen: Meyrowitz illustriert diesen Gedanken an dem Modell eines großen Hauses, in welchem plötzlich alle Wände verschwinden und ehemals getrennte Situationen und Lebensbereiche für alle Anwesenden zugänglich werden. Das heißt: Jede Form der Abschottung oder des Ausschlusses von Beobachtern impliziert Möglichkeiten der Informationskontrolle. Unter Bezugnahme auf die Arbeiten von Harold Adams Innis (1894-1952) beschreibt Meyrowitz, wie sich die Möglichkeiten der Informationskontrolle in Abhängigkeit von den jeweils vorhandenen Medien gestalten. Dabei spielt die Mobilität bzw. Flexibilität eine zentrale Rolle: Stein als Informationsträger (z. B. steinerne Hieroglyphen) war ein eher stationäres Kommunikationsmittel mit geringer räumlicher Beweglichkeit und in kleinen, stabilen Gesellschaften vorzufinden. Die Erfindung der Druckerpresse führte dagegen langfristig zu einem Aufbrechen des Monopols der Kirche über religiöse Informationen (vgl. Meyrowitz 1990a, S. 47f.). Je größer der Wahrnehmungsradius von Informationen wird (durch Vervielfältigung, durch Förderung von Lese- und Schreibfähigkeit usw.), desto schwieriger wird es, Kommunikation in Grenzen zu halten. Insofern deuten Veränderungen des Kommunikationsrahmens immer auch sozialen Wandel an. Die Situations-Geografie lässt sich aber auch anhand sehr alltäglicher Ereignisse beschreiben. Wenn ein und derselbe Sachverhalt, der normalerweise verschiedenen Gruppen an verschiedenen Orten erklärt wird, nunmehr den verschiedenen Publika an einem Ort erklärt werden soll, tritt das Problem auf, dass die typischen Ausdrucksformen und Erklärungen, die für eine Kommunikation mit Zielgruppe A geeignet sind, Zielgruppe B in Erstaunen versetzen können. Wenn man Freunden gegenüber die Eindrücke eines gerade gesehenen Films schildert, werden andere Schwerpunkte gesetzt als im Falle einer Diskussion mit Schülern. Wenn diese Möglichkeiten der Trennung von Situationen nicht mehr gegeben sind, stehen die jeweiligen Kommunikatoren vor neuen Herausforderungen. Das zuletzt genannte Beispiel enthält bereits Hinweise auf situationsspezifisches Verhalten, dessen Relevanz für die angedeuteten neuen Herausforderungen kurz skizziert werden soll. Meyrowitz veranschaulicht diesen Aspekt, indem er auf eine Variante der soziologischen Rollentheorie Bezug nimmt, die er Situationismus nennt. Er orientiert sich dabei vorwiegend an der Theorie des amerikanischen Soziologen Erving Goffman. Von ihm wird die Behauptung übernommen, dass eine Konstante unseres Verhaltens eine situationsspezifische Ausrichtung der jeweiligen Darstellung ist. Wie wir uns in bestimmten Situationen verhalten, hänge maßgeblich davon ab, wer Zugang zu den dort präsentierten Informationen hat. Es gibt Vorstellungen von einem situationsadäquaten Verhalten, die in einer Vielzahl von sozialen 93
Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit diesem Ansatz siehe auch den Beitrag von Kirby 1988.
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Rollen eine grobe Struktur erfahren und auf unterschiedlichen Bühnen praktisch werden. Goffman präsentiert eine Spielart der Rollentheorie, die dramaturgische und strategische Fähigkeiten der jeweiligen Darsteller in den Vordergrund stellt (vgl. Goffman 1983). Situationen werden durch Erwartungen strukturiert und sind von dem Bemühen der Akteure getragen, diese Erwartungen zu erfüllen. Viele Situationen des Alltags können ihre Stabilität darauf zurückführen. Zugleich würde aber eine permanente Aufrechterhaltung dieser Erwartungsstabilität das alltägliche Handeln erheblich belasten. Es muss Situationen geben, in denen man von diesen Erwartungen entlastet ist. Wenn an der schon angedeuteten dramaturgischen Terminologie festgehalten wird, dann muss es neben der Vorderbühne, auf der die Präsentation stattfindet, auch eine Hinterbühne geben, die der Probe, aber auch verschiedenen Formen der Entspannung dienen muss. Auf der Vorderbühne sind die Menschen der Beobachtung ausgesetzt, sie bemühen sich um eine idealisierte Selbstdarstellung und versuchen keine Unsicherheiten und Schwächen zu zeigen. Die Hinterbühne repräsentiert den nicht-öffentlichen Bereich. Immer dort, wo öffentliche und nicht-öffentliche Bereiche eng beieinander liegen, lässt sich dieser beschriebene Wechsel gut beobachten: das Verhalten von Verkäufern in Einkaufsstätten, das Verhalten des Personals in öffentlichen Einrichtungen, die freundliche Bedienung in einem Restaurant. In allen Bereichen besteht die Möglichkeit des Rückzugs aus dem Wahrnehmungsfeld des Publikums. Ein Beispiel: „Wenn die Kellner [...] aus dem Gastraum in die Küche gehen, überqueren sie eine unsichtbare Linie. In der Küche sind die Kellner auf einem Territorium, das vor dem Publikum verborgen ist und das sie mit anderen teilen, die dieselben oder ähnliche Rollen gegenüber dem Publikum einnehmen.“ (Meyrowitz 1990a, S. 74) Eine klare Trennung der Publika vermittelt den Darstellern die Sicherheit, „daß diejenigen, vor denen er eine seiner Rollen spielt, nicht die gleichen sind, vor denen er in anderer Umgebung eine andere Rolle spielt.“ (Goffman 1983, S. 46) Meyrowitz konzentriert sich auf die Frage, welche Konsequenzen aus einem Verlust dieser Sicherheit resultieren können. Warum die Medium-Theorie und der Situationismus in dieser Hinsicht hilfreiche Theorien sind, begründet er wie folgt: „Die Situationisten sagen etwas darüber aus, wie unsere spezifischen Handlungen und Worte geprägt werden durch unser Wissen darüber, wer Zugang zu ihnen hat, und die Medium-Theoretiker sind der Ansicht, daß neue Medien solche Zugangsmuster verändern.“ (Meyrowitz 1990a, S. 82) Im Einzelnen lassen sich die folgenden Veränderungen beobachten:
Durch elektronische Medien verändern sich - wie bereits angedeutet - die Zugangsmuster zu Informationen und zu dem Verhalten anderer Menschen. Neue Erfahrungen mischen sich mit alten Erfahrungen.
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Das Medium und die Botschaft: die Bedeutung des Verbreitungsmediums Die Existenz neuer Medien führt zu einer veränderten Situations-Geografie, gleichzeitig lassen sich aber weiterhin Elemente beobachten, die sich mit der zwischenmenschlichen Interaktion vergleichen lassen. Insofern werden alte Verhaltensweisen nicht durchgängig durch völlig neue Verhaltensweisen ersetzt. Wenn in einer alltäglichen Situation ein Vertreter einen Hausbesuch macht, prüft er zum Beispiel vorher, ob seine Krawatte richtig sitzt. Wenn wir eine für uns wichtige Person anrufen, räuspern wir sehr häufig vor dem eigentlich beginnenden Telefonat. Ebenso prüft der Nachrichtensprecher oder Moderator einer Sendung noch kurz vor dem Beginn der Übertragung, ob bspw. an Hemd und Krawatte alles in Ordnung ist. Beobachtungen dieses Rituals sind teilweise schon Bestandteil der Nachrichtensendung geworden. Wenn sich das Verhalten danach richtet, wer mich sehen und hören kann, führt gerade Medienbeobachtung zu spezifischen Verhaltensänderungen, die aus der Besonderheit der Situation resultieren. Meyrowitz stellt fest: „Fernsehen ist etwa vergleichbar damit, Menschen durch einen Einwegspiegel in einer Situation zu beobachten, in der alle Beteiligten wissen, daß sie von Millionen von Menschen in isolierten Quadern beobachtet werden; Radio zu hören ist, wie Menschen durch eine Tür oder Wand zu lauschen, die sich bewußt sind, daß sie ‚abgehört‘ werden.“ (Meyrowitz 1990a, S. 91) Die Vermischung ehemals getrennter Situationen erschwert nicht nur eine angemessene Ansprache des Publikums (Zielgruppenkonflikte), es begünstigt auch die Entstehung eines Verhaltens im ‚mittleren Bereich‘. Dies ist zunächst darauf zurückzuführen, dass die Trennungslinie zwischen dem Bereich der Bühne und dem Hintergrund unschärfer wird und infolge dessen „Proberaum verloren geht“ (Meyrowitz 1990a, S. 108). Je mehr sich die Akteure an die Beobachtung durch die Augen der elektronischen Medien gewöhnen, desto häufiger treten Situationen ein, in denen die Trennung zwischen dem öffentlichen und nicht-öffentlichen Bereich verschwindet. Man bemüht sich weiterhin um das Verbergen von Informationen, die nicht für das Publikum bestimmt sind. Die Dauerbeobachtung kann jedoch dazu führen, dass sich das Verhalten in diesem ‚mittleren Bereich‘ gelegentlich mit dem Verhalten auf der Hinterbühne vermischt. Dies tritt insbesondere ein, wenn lange Live-Übertragungen stattfinden. Hierzu nennt Meyrowitz ein anschauliches Beispiel: „[...] bekamen die Zuschauer bei einer Fernseh-Sondersendung über Präsident Carter und das Weiße Haus mit, wie Jimmy Carter dem ägyptischen Präsidenten Anwar el Sadat mitteilte, es werde sich um eine lange Konferenz handeln und Sadat möge doch vielleicht zuerst die Toilette aufsuchen.“ (Meyrowitz 1990a, S. 111) Daraus folgt: „Je länger und genauer Menschen beobachtet werden, entweder persönlich oder per Kamera und Mikrofon, desto mehr wird ihr Verhalten von seinen Symbolen und ‚zur Schau getragenen‘ Einstellungen ‚freigelegt‘.“ (Meyrowitz 1990a, S. 111) Zugleich wird diese Bühne zum Ort der Inszenie-
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rung privater Lebensverhältnisse für die Öffentlichkeit. Dazu zählt bspw., dass Politiker über ihr Familienleben Auskunft geben. Die Wirkungen dieser neuen Situations-Geografie erschöpfen sich nicht in einer amüsanten Zurkenntnisnahme der neuen Notwendigkeiten öffentlichen Verhaltens. Elektronische Medien nehmen Anteil an einer Veränderung der Vorstellung von sozialen Rollen, indem sie bisherige Muster der Lebensführung mit ungewohnten Lebensstilen konfrontieren. Zugleich informieren die Medien über das ganze Leben und leisten einen Beitrag zur Vermischung ehemals getrennter Sozialisationsphasen (siehe auch Abschnitt 10.3). Diese Konvergenz von Lebenswelten wird begleitet von einer nachlassenden Exklusivität bestimmter Wissensbereiche. Die neuen Einblicke sind von einer Oberflächlichkeit gekennzeichnet, die eine Homogenisierung von Informationsniveaus begünstigen können. Der Beitrag des Fernsehens zeigt sich nach Meyrowitz bspw. darin, dass im Falle der Nutzung dieses Mediums viel häufiger in Interessensgebieten gewildert wird, die ansonsten kaum interessieren (vgl. Meyrowitz 1990a, S. 169). Dass jemand ein Buch liest, das ihn nicht interessiert, ist unwahrscheinlicher. Meyrowitz widerspricht insofern auch Vorstellungen, die dem Fernsehen eine Fragmentierung des Publikums anlasten. Er räumt zwar ein, dass durch Kabelfernsehen und Videorekorder das Spektrum der Wahlmöglichkeiten erweitert wurde. Aber er hält es für unwahrscheinlich, „daß wir als Ergebnis all dessen zu demselben getrennten System des Diskurses zurückkehren werden, das es in der von Printmedien dominierten Kultur gab.“ (Meyrowitz 1990a, S. 179f.) Die Fernseh-Gesellschaft sei in weitaus stärkerem Maße mit der Vermischung von öffentlichem und privatem Raum konfrontiert, was sich in besonderer Weise in der Nachrichtenauswahl unter den Bedingungen einer wachsenden Informationskonkurrenz abzeichne: „Was früher zum Hintergrund-Bereich des Lebens zählte, wird heute als ‚Nachricht‘ präsentiert.“ (Meyrowitz 1990a, S. 228) Anschlusskommunikationen über diese Themen lassen sich nicht verhindern und bestimmen den Alltag von MedienGesellschaften mit. Die Visualisierung von Informationen verlangt von den Akteuren neue Kompetenzen, die heute mit Begriffen wie ‚fernsehgerecht‘ oder ‚telegen‘ umschrieben werden können. Welche Eigenschaften und Fähigkeiten müssen vorliegen, damit auf der Fernsehbühne erfolgreich agiert werden kann? Meyrowitz beantwortet diese Frage anhand der Geschichte des amerikanischen Präsidentenamts. Über die großen Präsidenten der Vereinigten Staaten wird zum Beispiel Folgendes berichtet: „Die Größe und Stärke früherer Präsidenten machten sie zu imposanten Figuren - aber nur auf Entfernung. Auf großen weißen Pferden müssen sie wie Götter ausgesehen haben; bei näherer Betrachtung gab es zahlreiche Beweise für ihre Sterblichkeit. Washington hatte tiefe Pockennarben und ein schlecht sitzendes Gebiß. Der von Sommersprossen übersäte Jefferson war
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Das Medium und die Botschaft: die Bedeutung des Verbreitungsmediums im William und Mary College zum ‚reizlosesten‘ Studenten gewählt worden. Lincoln ging ‚gebeugt und watschelnd‘ und war so häßlich, daß er selbst über seine äußere Erscheinung Witze riß. Theodore Roosevelt ‚schielte, war kurzsichtig‘ und hatte ein ‚Pferdegebiß‘. Von ihrer äußeren Erscheinung her wären viele unserer früher ‚großen‘ Präsidenten nicht geeignet für die FernsehPolitik.“ (Meyrowitz 1990b, S. 168) In einem weiteren Sinne will diese ohne Beschönigungen vorgetragene Skizze die Folgen einer permanenten Sichtbarkeit vor Augen führen. Sie mündet in eine Desillusionierung über die Qualitäten von Führungspersonen und in eine Demontage öffentlicher Rollen. Die Dauerbeobachtung erschwert die Wahrung von Distanz und zieht Politiker auf das „Niveau des Durchschnittsmenschen“ (Meyrowitz 1990b, S. 147) herab. Unter den Bedingungen einer völligen Offenheit kann das Ideal einer starken Persönlichkeit kaum noch aufrecht erhalten werden.
Meyrowitz beschreibt mit Hilfe einer Vielzahl von Beispielen die Konsequenzen einer veränderten Umweltwahrnehmung. Die über weite Teile sehr informative und interessante Darstellung neigt gelegentlich zu weit reichenden Schlussfolgerungen, die sich in „verblüffenden Parallelen“ (Meyrowitz 1990b, S. 230) niederschlagen. Dazu gehört bspw., dass die Medienberichterstattung mit zum Entstehen einer Emanzipationsbewegung beigetragen hat, die „Rollen-Vermischungen“ (Meyrowitz 1990b, S. 44) zur Folge hatte. Insgesamt versucht die Theorie auf ihre Weise zu illustrieren, dass die ‚elektronischen Sinnesorgane‘ in Verbindung mit neuen Übertragungstechniken zu einer Vielzahl von Veränderungen in modernen Gesellschaften geführt haben. Die Theorie beschreibt nicht kurzfristige Wirkungen, sondern langfristige und kumulative Effekte. Sie lässt sich nicht als eine reine Medium-Theorie klassifizieren, weil das Medium mehr als die Botschaft ist. Es stellt Kommunikatoren und Rezipienten vor neue Herausforderungen. Für die einen verändert sich die Struktur der Bühne, für die anderen der Zugang zu Informationsgebieten. In einer jüngeren Publikation spricht Meyrowitz – in Anspielung an Meads Vorstellung eines generalisierten Anderen – von einem „generalisierten Anderswo“ (Meyrowitz 1998, S. 177) und verortet damit die Rolle der Medien in einem weltgesellschaftlichen Kontext (siehe hierzu auch Stichweh 2000). Die Kommunikationsumwelt erweitert sich, zugleich steigt aber auch das Bedürfnis nach Orientierung. Dieser Aspekt wird nunmehr behandelt.
Das Medium und die Botschaft: die Bedeutung des Verbreitungsmediums 10.3
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Medienökologie. Die Thesen von Postman
Obwohl die Auffassungen von Meyrowitz und Postman (1931-2003) in Teilen übereinstimmen, ist letztere öffentlichkeitswirksamer gewesen. Auch in den Arbeiten Postmans steht das Wechselverhältnis zwischen den Menschen und ihrer Kommunikationsumwelt im Zentrum. Seine Arbeiten wurden in Deutschland zu einer Zeit populär, als vermehrt die Folgen einer Zunahme von Medienangeboten diskutiert wurden. Konturen einer ‚Kommunikationsökologie‘ wurden erkennbar, die die zunehmende Mediatisierung des Alltags zum Anlass nahm, die Gleichgewichtsidee der Ökologie auf das Gesamtspektrum des Kommunikationsverhaltens zu übertragen (vgl. zusammenfassend Langenbucher/Fritz 1988, S. 256ff.). Diese Diskussion vermittelte häufig den Eindruck, dass es bereits eindeutige Lösungen für die als drängend empfundenen Probleme gab. Gefragt wurde bspw.: „Wie viele Programme erträgt ein Mensch“? Oder: „Befindet sich unsere gegenwärtige Kommunikationskultur in einem medienökologischen Gleichgewicht mit der Fähigkeit der Selbstregulation?“ (Langenbucher/Fritz 1988, S. 256f.) Der Begriff ‚Selbstregulation‘ deutet bereits daraufhin, dass es letztlich Aufgabe des Einzelnen bleibt, die für ihn optimale Kommunikationsumwelt zu bestimmen. Die Diskussion um die Etablierung der Medienpädagogik in Schulen ebenso wie zahlreiche außerschulische Initiativen zur Medienerziehung zeigen, dass sich diesbezüglich eine nicht nachlassende Nachfrage entwickelt hat, die gleichwohl bevormundende Programme zurückweist. Umso erstaunlicher ist es, dass gerade die Arbeiten von Postman eine so hohe Popularität erfahren haben. Dieser Erfolg ist wohl auch auf die Art der Präsentation zurückzuführen, die häufig essayistischen Charakter annimmt und die Kernaussagen unter Verwendung von einprägsamen Episoden (Postman bezeichnet sich auch als Geschichtenerzähler) vermittelt. Hierin sieht der amerikanische Kommunikationswissenschaftler ein probates Medium der Informationsvermittlung. In bewusster Orientierung an den Arbeiten Postmans stellten die Herausgeber eines Buches zum Stand der Medienökologie fest: „Die heutige Massenkommunikation mit ihrem Überangebot an eilfertiger Information suggeriert Einblick in die Wirklichkeit, behauptet, uns die Welt überschaubarer, die Wirklichkeit durchschaubarer zu machen. Ihre Angebotsweisen sind aber die der Verstellung, der ‚Als-ob’-Einsichten.“ (Fröhlich u.a. 1988, S. 8) Bevor sich Postman ausführlicher mit diesen ‚Als-ob‘-Einsichten auseinander setzte, hatte bereits seine These vom Verschwinden der Kindheit für Aufsehen gesorgt. Bereits in dieser Analyse zeigte sich, dass er die Entwicklung der Menschheitsgeschichte und die Unterscheidung verschiedener Lebensphasen unter fast ausschließlicher Fixierung auf die jeweils dominierende Medienkultur zu erklären versuchte. Die Behauptung, „daß sich das Verhalten, die Sprache, die Einstellungen und die Wünsche – und selbst die äußere Erscheinung – von Erwachsenen und Kindern immer weniger von einander unterscheiden“ (Postman 1983, S. 14), ist für ihn
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die Konsequenz aus dem Verschwinden vormals vorhandener Informationshierarchien. Kindheit wird von Postman an die Existenz von Geheimnissen geknüpft. Sobald Einblicke in alle Lebensbereiche gegeben werden, sei diese Differenz zur Erwachsenenwelt kaum noch vorhanden. Im Mittelalter konnte sich keine Vorstellung von Kindheit entfalten, weil Erfahrungswissen in der Regel auf Mündlichkeit beruhte. Der Lebensalltag unterstützte die Entstehung und Wahrnehmung der Differenz Kinder/Erwachsene nicht. Sobald die Sprache beherrscht wurde, war man in der Lage, die meisten Geschehnisse des Alltags nachzuvollziehen, zugleich hatten Kinder im Mittelalter „Zugang zu fast allen kulturell gebräuchlichen Verhaltensformen.“ (Postman 1983, S. 26) Folgt man seiner Medientheorie (vgl. hierzu auch Jäckel 1999, S. 118ff.), dann entstand im Zuge der Möglichkeiten, Wissen zu konservieren und zu dokumentieren, eine vorübergehende Barriere zwischen Kindheit und Erwachsenenwelt. Indem das Wissen einer Zeit in Büchern und anderen gedruckten Erzeugnissen zusammengefasst wurde, konnten langfristig Lerninhalte bereitgestellt werden, die es zunächst zu erwerben galt. War vormals kaum eine Informationshierarchie vorhanden, wurde im Zeitalter der Buchdruck-Kultur nunmehr eine Informationshierarchie aufgebaut. Diese Veränderung begünstigte nach Auffassung von Postman die Entstehung einer Kindheitsphase. Denn in dieser Kultur wurde es wichtig, Lesen und Schreiben zu lernen. Die Einsicht in diese Notwendigkeit entfaltete sich nicht unmittelbar und gleichmäßig in allen sozialen Großgruppen. Aber dort, wo die Notwendigkeit einer Lese- und Schreibfähigkeit besonders hoch eingeschätzt wurde, entwickelte sich auch sehr rasch Kindheit zu einer Institution (vgl. Postman 1983, insbesondere S. 49ff.). Schule und Erziehung konstituieren somit ein Wissensmonopol, das Kindheit und Erwachsenenwelt voneinander trennt. Die Hochphase der Kindheit sieht Postman daher insbesondere in der Zeit zwischen 1850 und 1950 erreicht. Zugleich entfalten sich in dieser Phase neue Technologien, die das Wissensmonopol unterlaufen. Meyrowitz und Postman lenken den Blick auf das Verschwinden von Informationsgrenzen und weisen den elektronischen Medien - in erster Linie dem Fernsehen - einen wesentlichen Anteil an dieser Veränderung zu. Die mittelalterlichen Verhältnisse kehren unter den Bedingungen einer modernen Kommunikationsumwelt zurück. Das moderne Medium Fernsehen repräsentiert für Postman eine „Technologie des freien Eintritts“ (Postman 1983, S. 100). Es lassen sich nach seiner Auffassung keine Schranken benennen, die den Zutritt entscheidend behindern: „In diesem Sinne ist Fernsehen das egalitäre Kommunikationsmedium schlechthin und übertrifft darin sogar noch die gesprochene Sprache.“ (Postman 1983, S. 100) Die Parallele zu Meyrowitz wird deutlich, wenn man dessen Beurteilung des Mediums Fernsehen hinzufügt: „Der neue, durch die Medien vermittelte verallgemeinerte Andere umgeht die persönlichen, sozialen und Familienbeziehungen und wird als neue Perspektive von Millionen anderer Menschen geteilt.“ (Meyrowitz 1990a, S. 254)
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Dass die jeweils dominierenden Medien auch in dieser Theorie als eine Erweiterung unserer Sinnesorgane interpretiert werden, lässt sich an der Qualität der Einsichten erläutern, die nach Postman im elektronischen Zeitalter dominieren. McLuhans Modell wird hier adaptiert. Jedes Medium fördere eine bestimmte Form des Diskurses, also bestimmte Anwendungsformen unserer intellektuellen Fähigkeiten. In mündlichen Kulturen dominiere das Erinnerungsvermögen, das dort aufgrund fehlender Speichermedien in besonderer Weise trainiert werde. Im Zeitalter der Buchdruck-Kultur dominiere die Erörterung: „In einer vom Buchdruck bestimmten Kultur zeichnet sich der öffentliche Diskurs in der Regel durch eine kohärente, geregelte Anordnung von Tatsachen und Gedanken aus. Das Publikum, an das er sich wendet, ist im Allgemeinen in der Lage, einen solchen Diskurs zu verarbeiten.“ (Postman 1985, S. 68f.) Die Buchdruck-Kultur ist demnach eine wortbestimmte Kultur. Dass diesem Zeitalter der Erörterung das „Zeitalter des Showbusiness“ (Postman 1985, S. 82) folgt, lässt diese Einteilung der Kommunikationsgeschichte jedoch als ungewöhnlich erscheinen. Auch die Bezeichnung „Guckguck-Welt“ (Postman 1985, S. 83) unterstreicht den populärwissenschaftlichen Charakter der Ausführungen. Für dieses Zeitalter ist nach Postman das Aufkommen einer anderen Form von Wahrnehmung charakteristisch, die nicht linear, sondern durch Gleichzeitigkeit gekennzeichnet ist. Auch diese Auffassung deckt sich mit den Beobachtungen McLuhans. Die Schriftkultur gerät unter Druck, weil sich die Gewöhnung an Bildkommunikation auch auf die Form der Wahrnehmung nicht-audiovisueller Medien überträgt. Flüchtiges Lesen nehme zu, ebenso die Tendenz, gedruckte Seiten als etwas Ganzes wahrzunehmen. Diese Sichtweise spiegelt sich auch in kultursoziologischen Betrachtungen des modernen Leseverhaltens wider. Der Soziologe Friedrich H. Tenbruck (1919-1994) schrieb bspw.: „Man braucht bloß an die Reisenden im Zug oder im Flugzeug zu denken, die mit einem Stoß [...] Journale anrücken, um sie binnen einiger Minuten - mit etwa vier Sekunden pro Seite - durchzublättern und das nach einer Pause der Langeweile zu wiederholen. Die Sucht nach der Folge beliebiger Bilder, die Unruhe der Augen, die an nichts zu haften vermögen, wenn es nicht gleich weitergeht - das ist die Lesegewohnheit des Fernsehens, der sich sogar die respektablen Zeitungen mit ihren Magazinen fügen müssen.“ (Tenbruck 1990, S. 63f.) Informationen werden registriert, aber nicht wirklich verarbeitet. Diese oberflächliche Wahrnehmung hat sich nach Postman bereits im 19. Jahrhundert abgezeichnet, als Kommunikation ‚transportiert‘ und eine schnelle Raumüberwindung möglich wurde. Die Reduzierung der zeitlichen Differenz zwischen einem Ereignis und einer darauf bezogenen Berichterstattung führte bspw. zum Aufkommen von „Bescheidwissen“ (Postman 1985, S. 91). Die folgende Einschätzung ist hierfür symptomatisch: „Für den Telegraphen bedeutete Intelligenz, von vielem ‚gehört zu haben‘, und nicht, es zu ‚verstehen‘.“ (Postman 1985, S. 91) Das Nachrichtenangebot wurde durch die Erfindungen des 19. Jahrhunderts nachhaltig verändert: „Noch
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zur Goethe-Zeit und weit über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus war die Übermittlung jeder Nachricht, jedes Textes an Verkehrswege gebunden. Ausnahmen von dieser Regel, die es gab, bleiben marginal.“ (Lübbe 1996, S. 134f.) Was mit der Überwindung natürlicher Hindernisse daran anschließend gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann (siehe hierzu anschaulich Abbildung 10.1), resultierte langfristig in einem immer dichter werdenden Nachrichtennetz, das der Verbreitung von Wort, Bild und Ton diente. Abbildung 10.1 Die Entstehung von Kommunikationsnetzen
Der Telegraf überquert den Missouri (1851).
Quelle: Flichy 1994, S. 72 Die dadurch ermöglichte Erweiterung des Wissens hat nach Postman die Wahrnehmung von Informationszusammenhängen nicht begünstigt, sondern die Beschäftigung mit immer neuen, eher unzusammenhängenden Informationsbestandteilen gefördert. Der Erfolg des Kreuzworträtsels sei Teil dieser Entwicklung. Ebenso leitete die Fotografie einen Prozess ein, der zu einer höheren Bedeutung des Bildes gegenüber dem Wort führte. Das Fernsehen wird schließlich als jenes Medium dargestellt, welches das Wechselspiel zwischen Bild und Augenblicklichkeit perfektioniert: „Denken kommt auf dem Bildschirm nicht gut an, das haben die
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Programmdirektoren schon vor langer Zeit herausgefunden. Es gibt dabei nicht viel zu sehen.“ (Postman 1985, S. 114)
„Substanz ist Mangelware“. Auszüge aus einem Interview mit dem ehemaligen CBS-Anchorman Walter Cronkite „[...] Cronkite: [...], daß eine Nation, die sich weitgehend über das Fernsehen informiert, nicht wirklich verstehen kann, was sich in dieser Welt entwickelt. Und es ist noch schlimmer geworden: noch mehr Werbung, noch mehr Banalität, weniger News. Folglich sind die Bürger außerstande, der politischen Debatte mit all ihren Facetten zu folgen. [...] Special: Eigentlich diskutierten nur noch Presse und Politiker ernsthaft über Politik, hat das ‚New York’-Magazin kürzlich notiert. Cronkite: Es ist so, wie ich es in meinem Buch geschrieben habe: Die Debatten von Präsidentschaftskandidaten sind zum Politik-Theater verkommen, eben weil zuvor alles abgesprochen wird, oft genug auch die Fragen. Wie viele Sekunden läßt das Fernsehen in den Nachrichten den Präsidentschaftskandidaten ununterbrochen reden? 1988 waren es 9,8 Sekunden, 1992 durchschnittlich 8,2 Sekunden. Substanz ist Mangelware. Tiefe? Vergessen wir’s. [...] Special: Oberflächlichkeit liegt überall im Trend – Ringkämpfe etwa verzeichnen höchste Einschaltquoten auf den Kabelkanälen. Cronkite: Übersehen wir nicht, daß Kabel auch mit seriösen Dokumentationen beachtliche Einschaltquoten erreicht, 2.3 Millionen Zuschauer. Das reicht den Großen natürlich nicht, die an 18, 19 Millionen Zuschauer denken. Aber es wäre ein Weg, ein denkbarer zumindest, den derzeit erkennbaren Zuschauerschwund zu stoppen. Sie trauen sich einfach nicht, ernste Produkte anzubieten, weil sie nicht Qualität, sondern die Einschaltquoten vor Augen haben. Also wird jede Menge Müll gesendet. Special: Hätten Sie da einen Vorschlag für die Müllabfuhr? Cronkite: Ich wäre bereit zu wetten, daß die Sender keine Verluste erlitten hätten, selbst bei den Einschaltquoten, wenn sie den journalistischen Ansprüchen treu geblieben wären. Ich bin sogar sicher, daß sie Zuwachsraten erzielen könnten. Nur: Keiner traut sich. Nachrichten aus dem Ausland, so heißt es immer wieder, interessieren niemanden. Verdammt noch mal, die Leute können sich doch nur dafür interessieren, wenn man ihnen interessanten Stoff anbietet, ihn also auch so aufbereitet, daß sie hinsehen. Aber das kostet Geld. [...].“ (Cronkite 1999, S. 40ff.)
Darüber hinaus übernimmt das Fernsehen die Funktion eines kollektiven Gedächtnisses. Postman wählt zwar nicht diese Formulierung, aber die Gegenwartszentriertheit dieses Mediums lässt sich auch in diesem Sinne interpretieren. Dieses Gedächt-
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nis ist nicht an der Vergangenheit orientiert, sondern lebt von der kontinuierlichen Erzeugung von Diskontinuität94. Der inflationäre Zuwachs an Informationsangeboten führt zu einer Entwertung der Inhalte und des Vorgangs als solchem.
Das Niveau des Fernsehens „WELT ONLINE: Die Tatsache, dass sich die Aufmerksamkeit der Zuschauer mit Abitur gleichmäßig auf das private und das öffentlich-rechtliche Fernsehen verteilt, zeigt offenbar, dass das Programm von ARD und ZDF Defizite hat. Womit können die Privaten punkten? Hagenah: Das Unterhaltungsangebot ist einfach besser. Erfolgreiche amerikanische Serien und innovativere Showformate findet man bei den Privaten. Insbesondere das ZDF kann froh sein, dass Frank Elstner ‚Wetten dass’ zu einer Zeit erfunden hat, als es noch keine private Konkurrenz gab. Ansonsten wäre seine Idee vielleicht bei RTL gelandet. […] Hagenah: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft beim Fernsehen eine große Lücke. Am Ende schauen die Menschen alles, auch wenn sie darüber meckern. WELT ONLINE: Wie sieht die Zukunft des Fernsehens aus: Müssen ARD und ZDF mehr auf Information und die privaten Sender mehr auf Unterhaltung setzen - oder müssen sie sich einander angleichen? Hagenah: Beide müssen zweigleisig fahren. Die öffentlich-rechtlichen Sender müssen ihre nachrichtliche Stärke ausspielen und ihre Unterhaltung optimieren – und die privaten müssen Nachrichten bringen, wo Nachrichten gefragt werden. […] WELT ONLINE: Können Sie sich vorstellen, dass eine Krimi-Soap wie Lenßen & Partner irgendwann auch in der ARD läuft? Hagenah: Warum nicht? Das Erste zeigt ja heute schon Soaps im Vorabendprogramm, es hat auch Telenovelas ausprobiert. Von den nachmittäglichen Talkshows, die ursprünglich im Privatfernsehen liefen, ganz zu schweigen.“ (vgl. Hildebrandt 2007)
Das Ergebnis sind technologische Zerstreuungen, die einen Orientierungsverlust mit sich bringen, da Beurteilungsmaßstäbe verloren gehen. Informationen werden in einem weiteren Sinne unbegreiflich. Dieser Kommunikationsumwelt wird angelastet, dass sie uns „an der Konstruktion von das Leben bereichernden Erzählungen hindert, indem sie unsere Aufmerksamkeit ablenkt und die Kräfte verzehrt, die wir dieser wichtigen Aufgabe widmen könnten.“ (Postman 1992, S. 62) Vor dem Hintergrund der hier zusammengefassten Argumente ist verständlich, dass eine solche 94
Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 9.
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Theorie nicht ohne Wirkung bleibt. Sie spiegelt amerikanische Erfahrungen wider, hat aber gerade auch in Deutschland vielfältige Resonanz erfahren. Dass die Argumente nach wie vor aktuell sind, kann man Äußerungen des bereits zitierten ehemaligen amerikanischen CBS-Anchorman Walter Cronkite entnehmen (siehe die Beispieltexte)95. Aber auch einem kritischen Artikel anlässlich der Frankfurter Buchmesse 2003, der einen zunehmenden Einfluss des Unterhaltungsfernsehens und der Boulevardpresse auf den Buchhandel befürchtete (vgl. Jessen 2003, S. 1). Obwohl in allen Medium-Theorien wenig von Inhalten die Rede ist, werden diesen sehr weit reichende Folgen zugeschrieben. Nimmt man die Zielsetzung einer Medienökologie ernst, dann fehlt eine angemessene Einbindung der Akzeptanzebene. Der in einem anderen Zusammenhang bereits angedeutete ‚third person-effect‘96 scheint auch hier nicht ohne Wirkung zu bleiben. Wenn man sich mit der Frage beschäftigt, was die Medien mit den Menschen machen, wird häufig zu wenig beachtet, was die Menschen mit den Medien machen. So konnte Marie Reynolds zeigen, dass Medien nicht immer den von vielen Medium-Theorien vorhergesagten Einfluss haben. Menschen auf Partnersuche ändern ihre Anforderungen und die eigene Darbietung in Kontaktanzeigen nicht - egal ob es sich um Zeitungen oder Internetangebote handelt. Was sich unterscheidet ist die Beschreibung des eigenen Aussehens: im Internet werden Bilder mitgeliefert. Manche Verhaltensweisen und Einstellungen scheinen also nahezu invariant gegenüber Medieneffekten zu sein (vgl. Reynolds 2010). Hier entscheidet der Mensch über die Message und was er mit dem Medium macht. Die undifferenzierte Perspektive auf das Publikum und die Betonung der Oberflächlichkeit von Medienangeboten führen in der Summe zu einem beunruhigenden Gesamtbild. Trotz allem Anregenden und Nachdenklichen, das diese Theorien vermitteln, wird die Fähigkeit der Menschen, mit knappen Gütern effektiv umzugehen, unterschätzt (siehe auch die Aussagen von Walter Cronkite). Die Fixierung auf das Medium Fernsehen führt des Weiteren dazu, dass die Kommunikationsumwelt nur partiell wahrgenommen wird. Die Dominanz dieses Mediums ist unbestritten, aber seine Beurteilung resultiert gerade aus dem Vergleich mit anderen Medien, die überdies nicht funktionslos geworden sind. Moderne Gesellschaften lassen sich auch aus dieser Perspektive sehr differenziert wahrnehmen und entlang unterschiedlicher Formen der Mediennutzung beschreiben. Man muss diesbezüglich neben erkennbaren Homogenisierungen immer auch Differenzierungen beachten. Dieser Aspekt wird im nachfolgenden Kapitel 11 noch einmal aufgegriffen.
95 96
Siehe hierzu auch die Hinweise und Ausführungen in Kapitel 6 und Kapitel 8. Siehe hierzu die Ausführungen in Kapitel 6.
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Hoikkala, Tommi et al. (1987): Wait a Minute, Mr. Postman! - Some Critical Remarks on Neil Postman’s Childhood Theory, in: Acta Sociologica 30, S. 87-99. McLuhan, Marshall (1968): Die Magischen Kanäle. »Understanding Media«. [Aus d. Amerik.]. Düsseldorf, Wien. Meyrowitz, Joshua (1990): Überall und nirgends dabei. Die Fernseh-Gesellschaft I. [Aus d. Amerik.]. Weinheim, Basel.
11 Die Wissenskluftforschung
11.1
Die Hypothese von der wachsenden Wissenskluft
Wenn Diskussionen über die Funktionen von Massenmedien in modernen Gesellschaften geführt werden, ist der Hinweis auf die politische Notwendigkeit der Informationsvermittlung ein zentrales Argument. Massenmedien gewährleisten durch ihre Arbeitsweise die Bereitstellung von Informationen und leisten einen Beitrag zur politischen Willensbildung. Das idealtypische Bild eines mündigen Bürgers ergänzt diese Sichtweise. Dieser informiert sich zum Zwecke begründeter Urteilsbildung umfassend und leistet dadurch seinen Beitrag zum Fortbestand einer informierten Öffentlichkeit. Dieser allgemeine Anspruch verpflichtet Geber und Nehmer auf ein gemeinsames Ziel. Es wird nicht die Frage gestellt, ob die Notwendigkeit dieser gleichgerichteten Handlungen von allen geteilt wird und die Bindung von Motivationen an dieses Programm (‚sich informieren‘) in der Bevölkerung gleichverteilt ist. Die sogenannte Wissenskluftforschung verdankt ihre Popularität der Infragestellung dieses Ideals (vgl. Horstmann 1991, S. 10). Gemessen an dem Erscheinungsdatum des für die Wissenskluftforschung zentralen Beitrags von Tichenor et al. ließ man die gerade formulierten Annahmen lange unangetastet. Zu diesem Ergebnis kann man aber nur dann gelangen, wenn eine systematische Ausblendung anderer Forschungstraditionen erfolgt. Sowohl die Meinungsführerforschung als auch die politische Partizipationsforschung hatten zum Zeitpunkt des Erscheinens des Beitrags ‚Mass Media Flow and Differential Growth in Knowledge‘ im Jahr 1970 bereits zahlreiche Befunde zusammengetragen, die unterschiedliche Informationsniveaus und Informationsbereitschaften einerseits und Abstufungen des politischen Involvements andererseits dokumentierten (vgl. zusammenfassend Weimann 1994, S. 159ff. und Milbrath/Goel 1977). Gegenüber diesen bereits bekannten Ungleichheiten erweitert die Wissensklufthypothese den Zusammenhang von Informationsangebot und Informationsnutzung insbesondere durch eine zeitliche Komponente. Darüber hinaus setzt sie einen Markstein für eine Forschungstradition, die die Erklärung unterschiedlicher Informationsniveaus in der Bevölkerung zum Ziel hat. In ihrer ursprünglichen Fassung lautet die Wissensklufthypothese wie folgt: „As the infusion of mass media information into a social system increases, segments of the population with higher socioeconomic status tend to acquire this information at a faster rate than the lower status segments, so that the gap in knowledge between these segments tends to increase rather than decrease.“ (Tichenor et al. 1970, S. 159f.)
M. Jäckel, Medienwirkungen, DOI 10.1007/978-3-531-93191-3_12, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Die Wissenskluftforschung
Der Anlass zur Formulierung dieser allgemeinen Hypothese resultierte aus der systematischen Zusammenführung verschiedener Einzelbefunde, deren Darstellung den Kern des Beitrags bildet. Als zentrale erklärende Variable erweist sich in allen Einzelfällen das formale Bildungsniveau der Bevölkerung. Bevor eine erste Systematisierung dieser Forschungstradition erfolgt, sollen die relevanten „four types of research“ (Tichenor et al. 1970, S. 159) kurz vorgestellt werden:
Die Wirkung von Informationskampagnen97 und die Diffusion von Nachrichten: Versuche, die Bevölkerung über die Bedeutung bestimmter Institutionen oder Programme zu informieren, führten immer wieder dazu, dass eher jene Personen erreicht wurden, die sich ohnehin für Themen dieser und anderer Art interessierten. Personen mit geringerer Bildung und ältere Menschen nahmen seltener Kenntnis von diesen Informationskampagnen. Interpretiert wird diese unterschiedliche Diffusion als Resultat eines Lerneffekts, der Einfluss auf das generelle Informationsbedürfnis nimmt. Tichenor et al. zitieren Hyman and Sheatsley mit den Worten: „As people learn more, their interest increases, and as their interest increases, they are impelled to learn more.“ (zitiert nach Tichenor et al. 1970, S. 161) Umgekehrt kommt eine Kommunikation mit jenen, die in Bezug auf die vermittelten Informationen noch als ein ‚leeres Gefäß‘ bezeichnet werden können, nicht zustande. Insofern illustrieren bereits diese Studien einen Zusammenhang zwischen drei Faktoren: allgemeines Bildungsniveau, Ausmaß der Mediennutzung und Spektrum der Interessen. Auf ähnliche Befunde in Zusammenhang mit Informationskampagnen und verwandten Formaten verweist auch Bonfadelli. Bildungshintergrund und andere personelle Faktoren, wie Interesse und Involvement, zeigten auch hier Einfluss auf die Entstehung und das Ausmaß von Wissensklüften (vgl. 2006, S. 637f; 646ff.). Auch in aktuelleren Untersuchungen konnten diese Effekte beobachtet werden. Politisch interessierte Menschen weisen bspw. einen höheren Informationsgewinn bei politischen Informationskampagnen auf als weniger interessierte Personen. Liegen bereits Differenzen in Form von Wissens- und Informationsklüften vor, könnte hier demnach ein sich selbstverstärkender Prozess angestoßen werden. Dies gilt einerseits für die wenig Informierten und Interessierten, auf der anderen Seite aber auch für die bereits Interessierten, wodurch die Spaltung zunimmt. Kampagnen könnten folglich oft Gefahr laufen, ihren eigentlichen Sinn und Zweck zu verfehlen (vgl. Nadeau et al. 2008, S. 231ff.; 237ff.).
97
Zur Wirkung von „Communication Campaigns“ siehe ausführlich Rogers/Storey 1987. Zu Wirkung und methodischer Herangehensweise siehe Coffman 2003 (anhand von Case Studies), sowie Bonfadelli/Friemel 2006.
M. Jäckel, Medienwirkungen, DOI 10.1007/978-3-531-93191-3_12, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Die Wissenskluftforschung
98
327
Zeitreihenanalysen zur Nachrichtendiffusion: Sowohl die Betrachtung kurzer als auch langer Diffusionszeiträume98 belegt, dass Personen mit überdurchschnittlicher formaler Bildung zu einem höheren Anteil die entsprechenden Informationen zur Kenntnis nehmen. Handelt es sich um Ereignisse von zentraler Bedeutung, spielt der Faktor Bildung kaum eine Rolle. Wenn aber Langzeitanalysen zu spezifischen Themen betrachtet werden, ist ein Effekt zwischen der kontinuierlichen Berichterstattung und dem formalen Bildungsniveau deutlich erkennbar. Obwohl es in dem betrachteten Zeitraum (1949-1965) zu einer Angleichung des allgemeinen Bildungsniveaus in der Bevölkerung der Vereinigten Staaten gekommen ist, steigt die Korrelation zwischen der Kenntnis bestimmter Themen und dem Bildungsniveau an. Wenngleich für den betrachteten Zeitraum keine Inhaltsanalysen des Medienangebots durchgeführt wurden, lagen indirekte Hinweise auf eine zunehmende Berichterstattung zu den analysierten Themen (Rauchen und Krebsrisiko, Möglichkeit einer Mondlandung, Positionierung von Satelliten im All) vor. Unterbrechung des Informationsflusses: Wenn die Wissensklufthypothese konsequent interpretiert wird, dann muss ein Rückgang der Informationsmenge vorübergehend zu einer Angleichung der Informationsniveaus in der Bevölkerung führen. Die systematische Überprüfung dieser Fragestellung ist mit vielen Problemen behaftet, auf die Tichenor et al. auch ausdrücklich hinweisen. Man kann allenfalls kurzfristige Effekte eines fehlenden Informationszuflusses registrieren, da sich Personen mit einem hohen Informationsbedürfnis sehr rasch nach alternativen Möglichkeiten der Informationsbeschaffung umsehen werden. Dennoch konnte ein Vergleich einer bestreikten mit einer nicht bestreikten Gemeinde entsprechende Tendenzen aufzeigen. Das vorübergehende Fehlen einer Tageszeitung reduzierte die Informationsdifferenz zwischen verschiedenen Bildungsgruppen in der bestreikten Gemeinde stärker als in der nicht bestreikten Gemeinde. Da keine Vorher-Nachher-Messungen stattfanden und zudem keine systematische Kontrolle relevanter soziodemografischer Merkmale erfolgte, konnte das Ergebnis lediglich als Hinweis interpretiert werden, das der Wissensklufthypothese nicht widersprach. Die Bedeutung der Publizität von Themen: Wenn sich Informationsniveaus dynamisch entwickeln und sich in zeitlicher Hinsicht die Differenz zwischen geringer und höher Gebildeten ausweitet, müsste im Falle neuer Themen mit einer noch geringen Publizität (Ausmaß der bisherigen Berichterstattung) die Informationsdifferenz zwischen verschiedenen Bildungsgruppen geringer ausfallen. Überprüft wurde diese Fragestellung mit Hilfe eines Lesetests. Den BeEine Verknüpfung mit der Diffusionsforschung (Ausbreitung von Innovationen) hat insbesondere Rogers praktiziert und in Bezug auf die Innovationsforschung in unterschiedlichen sozialen Systemen von einem „Communication Effects Gap“ (Rogers 2003, S. 457) gesprochen.
328
Die Wissenskluftforschung fragten wurden Artikel zu Themen präsentiert, die in der Vergangenheit eine unterschiedliche Aufmerksamkeit in der Berichterstattung erfahren hatten. Im Anschluss an die Lektüre der Artikel wurde das Verständnis des Inhaltes gemessen und mit dem Bildungsniveau korreliert (zu weiteren Details siehe Tichenor et al. 1970, S. 168f.). Im Großen und Ganzen bestätigte das Experiment, dass im Falle häufig publizierter Themen die Wissenskluft zwischen verschiedenen Bildungsgruppen ansteigt. Zwar fehlte auch in diesem Falle die systematische Berücksichtigung der zeitlichen Komponente, das Resultat gab jedoch keinen Anlass zur Korrektur der allgemeinen Hypothese.
Diese Ergebnisse kontrastierten das Ideal des mündigen Bürgers mit eher desillusionierenden Fakten. Tichenor et al. stellten fest: „At least for the subjects investigated here, the mass media seem to have a function similar to that of other social institutions: that of reinforcing or increasing existing inequities.“ (Tichenor et al. 1970, S. 170) Diese weit reichende Schlussfolgerung konnte häufig nicht mit eindeutigen empirischen Ergebnissen untermauert werden. So wahrscheinlich und naheliegend der formulierte Zusammenhang auch ist - dem in der Hypothese präsentierten Faktorenbündel wird immer nur partiell Rechnung getragen. Daher könnten Meta-Analysen besonders aufschlussreich sein. In einer der wenigen Arbeiten dieser Art wurde eindeutig der vorhergesagte Effekt des sozioökonomischen Status bestätigt. Auch für moderierende Variablen, wie Thematik oder Bezugsebene (international, lokal etc.), ließen sich signifikante Effekte aufzeigen. Negative Auswirkungen, wie die Verfestigung sozialer Ungleichheiten oder mangelnde Wirkung von Informationskampagnen, könnten also durchaus abgeschwächt werden. Auch die Gruppen mit niedrigerem sozioökonomischem Status können sich durchaus informieren und die Wissenskluft verringern. Die festgestellten Differenzen lagen bei politischen Themen nämlich deutlich über jenen bei gesundheitsbezogenen Fragen. Interessant ist weiterhin, dass die Wissenskluft als Phänomen ein „universal issue not limited to a particular society“ (Hwang/Jeong 2009, S. 524) zu sein scheint. Bezüglich der Publizität widersprachen die Befunde jedoch den oben aufgeführten Einzelstudien. Eine Prüfung der von Tichenor beschriebenen Publizitätseffekte (über die Zeit hinweg und der Vergleich hoher und niedriger Publizität) erwies sich als nicht signifikant (vgl. ebenda). Die Verknüpfung von Medienangebot und Mediennutzung beruht häufig auf Plausibilitätsüberlegungen, die sich im Sinne von Kontaktwahrscheinlichkeiten interpretieren lassen. Ob sich diese Kontaktwahrscheinlichkeiten durch die Inanspruchnahme des Mediums Fernsehen angleichen, wird im Jahr 1970 als eine wichtige Frage der zukünftigen Forschung angesehen. Die Formulierung der Wissensklufthypothese orientierte sich zunächst vorwiegend an der Nutzung von Tageszeitungen und anderen gedruckten Medien. Die Berücksichtigung dieses As-
Die Wissenskluftforschung
329
pekts schlägt sich auch in den fünf Faktoren nieder, die Tichenor et al. als relevante Erklärungsgrößen von Wissensklüften benennen:
Kommunikationsfertigkeiten (communication skills): Diese Fertigkeiten repräsentieren das Ergebnis von erfahrener und praktizierter Bildung. Betont wird insbesondere das Vorhandensein von Lese- und Verstehensfertigkeiten, die sich positiv auf die Nutzung von Informationen aus Politik und Wissenschaft auswirken. Das vorhandene Wissensniveau: Wissensklüfte sind das Resultat von Lerneffekten, die sich kumulativ auswirken. Die Mediennutzung spiegelt somit auch die Vorleistungen anderer Institutionen wider, insbesondere des Bildungswesens. Soziale Beziehungen: Mit der formalen Bildung gehen in der Regel auch unterschiedliche Interessenspektren einher, die interpersonale Kommunikation über unterschiedlichste Themen wahrscheinlich machen. Je höher die formale Bildung, desto häufiger kann die Einbindung in solche Diskussionsgruppen beobachtet werden. Insofern erfolgt ergänzend zur Mediennutzung ein zusätzlicher Informationszufluss. Selektive Mediennutzung: Je höher das allgemeine Bildungsniveau, desto wahrscheinlicher ist die gezielte Inanspruchnahme von Medienangeboten. Das Trägermedium der Information: Obwohl in der Erläuterung dieses Faktors kein Bezug auf die Differenz zwischen Fernsehen und Zeitung bzw. gedruckten Medien genommen wird, lässt sich daraus ableiten, dass gedruckte Medien eine Form der Berichterstattung praktizieren, die eher den Interessen und Neigungen von Personen mit einem höheren sozialen Status entgegenkommt. Insofern wird auch auf formaler Ebene ein Lerneffekt unterstützt, der zu den bereits genannten kumulativen Effekten beiträgt.
Da diese Pionierarbeit der Wissenskluftforschung an der University of Minnesota entstand, wurde auch von den Arbeiten der Minnesota-Gruppe gesprochen. Folgt man der Darstellung von Bonfadelli, dann werden für die Untersuchung entsprechender Ungleichheitsphänomene drei Dimensionen zugrunde gelegt: die sachliche Dimension bezieht sich auf das berücksichtigte Thema und repräsentiert die inhaltliche Komponente, die zeitliche Dimension weist auf die Notwendigkeit einer Längsschnittbetrachtung hin und die soziale Dimension lenkt den Blick auf unterschiedliche Formen der Inanspruchnahme von Medieninhalten, die Vor- oder Nachteile in anderen Feldern des sozialen Handelns mit sich bringen können (vgl. Bonfadelli 1987, S. 306)99. Entscheidender als diese Klassifikation aber ist eine 99
In einer aktualisierten Version spricht Bonfadelli von zeitlicher, sachlicher und sozialer Dynamik (vgl. Bonfadelli 2007, S.629f.)
330
Die Wissenskluftforschung
präzisere Bestimmung der zugrunde gelegten Differenzierungsebenen. Horstmann hat in einer umfangreichen Untersuchung der Wissenskluftforschung drei Bereiche vorgeschlagen, in denen eine exaktere Terminologie bzw. Abgrenzung erfolgen müsse. Konkret geht es um eine Differenzierung des Wissensbegriffs, der behandelten Themen und der in Anspruch genommenen Medien (vgl. Horstmann 1991, S. 29). 11.2
Aspekte der Entstehung von Wissensklüften
Die von Horstmann vorgeschlagenen Differenzierungsebenen sollen im Folgenden aufgegriffen werden, um ein besseres Verständnis der Prozesse zu erhalten, die zur Entstehung von Wissensklüften beitragen.
Differenzierung des Wissensbegriffs: Die Formulierung der Wissensklufthypothese resultierte aus der Beobachtung unterschiedlicher Kenntnisse in verschiedenen Themenbereichen. Die Beispiele, die Tichenor et al. zur Illustration ihrer Aussage heranzogen, entstammten sowohl dem Bereich unvorhersehbarer politischer Ereignisse (Stichwort: ‚News Diffusion‘) als auch wissenschaftlichtechnischer Entwicklungen. Schon diese Differenzierung lässt erwarten, dass das Ausmaß der jeweiligen Kenntnisse von der Breite und Vielfalt des Themas mitbestimmt wird. Singuläre politische Entscheidungen erfahren bspw. in der Regel keine lange andauernde Publizität und stellen nur eine begrenzte Informationsmenge bereit, die man sich aneignen kann. Letztlich aber werden viele Ereignisse und Entscheidungen auf eine Geschichte verweisen können. Diese enthält zusätzliche Hinweise, die für das Verständnis und die Einbindung eines Phänomens bzw. Sachverhalts relevant sind. Gerade auf dieser Ebene erweist sich die Unterscheidung von Fakten- und Strukturwissen als bedeutsam. Faktenwissen ist ergebnisorientiert, Strukturwissen hingegen prozessorientiert. Ein einfaches Beispiel für Faktenwissen aus dem Bereich der Politik könnte wie folgt lauten: „Welche politischen Parteien sind im Jahr 2009 in Deutschland zur Bundestagswahl angetreten?“ Weitergehende Faktenfragen könnten sich auf das Procedere des Wahlverfahrens beziehen (z. B. auf die Bedeutung von Erstund Zweitstimme). Je mehr aber der Bereich des Faktenwissens erweitert wird, desto stärker beziehen sich die Fragen auf „Entwicklungen, Ursachen und Konsequenzen, die mit Objekten bzw. Tatbeständen verbunden sind.“ (Horstmann 1991, S. 30) Während sich das Faktenwissen im Rahmen von Repräsentativbefragungen relativ leicht ermitteln lässt, erfordert die Erfassung des Strukturwissens differenziertere Indikatoren und gelegentlich den Einsatz offener Fragen. Grundsätzlich lassen sich zu den jeweiligen Themengebieten verschiedene Wissenstests konzipieren; die Situation der Befragung aber wird von den Betei-
Die Wissenskluftforschung
100
331
ligten in diesen Fällen als eine Prüfungssituation wahrgenommen und hohe Verweigerungsquoten sind wahrscheinlich. Von daher sind der Ermittlung von Wissensdifferenzen auf der Ebene der Operationalisierung Grenzen gesetzt. Insgesamt lässt sich schlussfolgern, dass im Falle der Konzentration auf einfache Faktenfragen die Wahrscheinlichkeit von Wissensklüften eher gering ist. Je detaillierter die Abfrage erfolgt, desto wahrscheinlicher ist, dass sich die Vertrautheit mit dem jeweiligen Phänomen in Wissensdifferenzen niederschlägt. Diese Unterschiede können sich in zeitlicher Hinsicht angleichen, wenn ein bestimmtes Thema eine hohe Publizität erfährt und der Anteil zusätzlicher neuer Informationen abnimmt (vgl. hierzu auch Viswanath/Finnegan 1996, S. 197f.). Die formale Bildung und der sozioökonomische Status führen auf der Ebene des Strukturwissens häufiger zu deutlicheren Differenzen in Bezug auf den Wissensstand in der Bevölkerung. Eine solche Feststellung entspricht den Erwartungen, wird aber gelegentlich auch als ein nicht sonderlich überraschender Befund bezeichnet. So liest man bspw. bei Hamm und Koller: „Daß Personen mit Abitur oder gar Universitätsdiplom im Laufe ihrer langen Ausbildung gelernt haben, sich Informationen schneller, leichter und tiefer anzueignen als andere, erscheint nicht mehr als recht und billig [...]“ (Hamm/Koller 1992, S. 223). Diese unmissverständliche Einschätzung kann auch als Hinweis auf die Notwendigkeit der Berücksichtigung weiterer Erklärungsfaktoren gelesen werden. Hierzu zählt die empfundene Relevanz des jeweiligen Themas. Die Relevanz der Themen: Die Minnesota-Gruppe wählte für ihre Untersuchungen häufig den Bezugsrahmen der Gemeinde (community) 100. Je heterogener eine Gemeinde ist, desto wahrscheinlicher ist das Auftreten von Konflikten. Diese wiederum sind Anlass für eine intensivere Auseinandersetzung mit bestimmten Themen. Immer dann, wenn es sich um für die Gemeinde wichtige Aspekte handelt, verringert sich die Wahrscheinlichkeit der Entstehung von Wissensklüften. Die Gleichverteilung des Wissens wird durch soziale Konflikte eher erhöht (vgl. hierzu Donohue et al. 1985, 1987). Zugleich wird in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass eine wirkliche Partizipation an Themen von öffentlicher Relevanz den Zugang zu sehr spezifischen Informationsquellen erfordert. Da nicht alles öffentlich ist, können auch hierdurch Informationsungleichheiten entstehen (vgl. Viswanath/Finnegan 1996, S. 207). Obwohl diese Tradition der Wissenskluftforschung somit eine Verankerung der Untersuchungen im lokalen Bereich nahelegt, wird die Diskussion insgesamt doch auf einer allgemeineren und damit in geografischer Hinsicht auch großräumigeren Ebene geführt. Ungeachtet dessen zeigt der Hinweis auf das KonSiehe hierzu auch die Analyse von Cho/McLeod (2007), die auf der Basis des „Social Capital Benchmark Survey 2000“ Wissensklufteffekte auf der Individual- und Gemeindeebene („community level“) differenzieren.
332
Die Wissenskluftforschung fliktpotenzial von Themen, dass sich hier eine nivellierende Wirkung auf Wissensdifferenzen entfalten kann. Relevanz kann die Dominanz des formalen Bildungsniveaus als Erklärungsfaktor reduzieren. Sofern sich diese Relevanz nur durch äußere Einflüsse ergibt, wird diese Nivellierung von Wissensunterschieden jedoch nicht dauerhaft sein. Die bereits angesprochene geografische Dimension lenkt die Aufmerksamkeit zugleich auf eine Unterscheidung, die von nahe liegenden und entfernten Themen spricht. ‚Nahe liegend‘ und ‚entfernt‘ kann sowohl im geografischen Sinne als auch im Sinne von Betroffenheit interpretiert werden. Beide Dimensionen (Relevanz und Distanz) lassen sich miteinander verknüpfen (vgl. Abbildung 11.1).
Die in Abbildung 11.1 genannten Beispiele sind jeweils aus der Sicht des Rezipienten zu interpretieren und müssen als durchschnittliche Perspektiven gelesen werden. Immer dann, wenn die Relevanz durch unterschiedliche Interessen überlagert wird, lassen sich die genannten Beispiele nicht generalisieren. Wer Mitglied eines Vereins ist, hält die Berichterstattung für wichtig, wer ein fremdes Land aus eigener Anschauung kennt, interessiert sich für die dortigen Entwicklungen. Dennoch wird das öffentliche Interesse an diesen Themen in erster Linie durch die empfundene Relevanz bestimmt. Das Problem der Generalisierbarkeit resultiert aus unterschiedlichen Bezugsebenen und Relevanzzonen. Diese Feststellung kann sich auf die wissenssoziologische Forschung berufen, der naheliegende Erklärungen für unterschiedliches Informationsverhalten entnommen werden können. Der Soziologe Alfred Schütz (1899-1959) hat mit Hilfe einer idealtypischen Unterscheidung illustriert, dass das Bedürfnis nach einer differenzierten Meinungsbildung ungleich verteilt ist. Während bspw. der Typus ‚Mann auf der Straße‘ Informationen, die außerhalb seiner Kontrolle liegen, als irrelevant einstuft, geht es dem ‚gut informierten Bürger‘ auch um Kenntnisse in Wissensbereichen, die ihn nicht unmittelbar betreffen, weil er ‚Informiert-sein‘ als Pflicht empfindet. Schließlich geht es dem Typus des ‚Experten‘ um Detailwissen in spezifischen Gebieten (vgl. Schütz 1972a, S. 85ff.). Somit illustriert diese Unterscheidung unterschiedliche Vorstellungen von Notwendigkeiten: „Dem Mann auf der Straße genügt es zu wissen, daß es Experten gibt, der informierte Bürger hingegen traut sich durchaus ein Urteil zu, ob jemand als kompetenter Experte zu gelten hat oder nicht.“ (Jäckel 1994, S. 21) Diese Orientierungen werden im Alltagshandeln praktisch und sind das Resultat von Sozialisationsprozessen, die eine Nähe bzw. Distanz zu verschiedenen Themenbereichen mit sich bringen. Darauf hat Schütz mit der Unterscheidung von Bekanntheitswissen und Vertrautheitswissen hingewiesen (vgl. Schütz 1972b, S. 55f.).
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333
Abbildung 11.1 ‚Nahe liegende‘ und ‚entfernte‘ Themen
DISTANZ nah
entfernt
niedrig
Vereinsjubiläum
Neuer Gouverneur in Kalifornien
hoch
Schließung öffentlicher Freizeiteinrichtungen
Internationale Währungskrise1
RELEVANZ
1) Die neue Währungskrise liegt dagegen nahe und wird unmittelbar erlebt. Hier zeigt sich, dass solche Kategorisierungen nicht endgültig sind und sich situativ wandeln können
Quelle: Eigene Erstellung Dennoch können diese Sozialisationseinflüsse durch die Omnipräsenz der Medienangebote in ihrer Bedeutung gemindert werden. Ansonsten wäre nicht erklärbar, wie es unter bestimmten Bedingungen zu einer Angleichung von zunächst deutlich erkennbaren Wissensdifferenzen gekommen ist. Wenn hinsichtlich eines bestimmten Themas kein Informationszuwachs zu verzeichnen ist, steigt die Wahrscheinlichkeit der gerade beschriebenen Angleichung. Die zunächst weniger Informierten, die im Sinne von Tichenor et al. Informationen weniger rasch aufnehmen, schließen gegenüber den frühen Übernehmern auf und tragen zu einer Einebnung der Wissenskluft bei. In diesem Zusammenhang wird auch von einem Deckeneffekt bzw. ‚Ceiling‘Effekt gesprochen. Dieser Effekt muss sich nicht notwendigerweise in einer Angleichung der Wissensdifferenzen niederschlagen. Es kann auch der Fall eintreten, dass der Kern der relevanten Informationen von einem Teil der Bevölkerung in einem relativ kurzen Zeitraum erfasst wird und weitergehende Informationen zu diesem Thema keinen Anstieg des Wissens mehr zur Folge haben.
334
Die Wissenskluftforschung
Abbildung 11.2 Wahrnehmung einer Informationskampagne zum Thema ‚radioaktive Strahlung‘ in verschiedenen Bildungsgruppen (Niederlande)
12 11 10 9
in %
8 7 6 5
Bildung
4
hoch
3 2
mittel
1 niedrig
0 15
17
19
21
23
25
27
START DER KAMPAGNE
29
31
33
35
37
39
41
43
45
Kalenderwoche
Quelle: Weenig/Midden 1997, S. 951 Im Rahmen einer niederländischen Untersuchung wurden bspw. mehrere Informationskampagnen in den Massenmedien analysiert und die Kenntnisnahme nach verschiedenen Bildungsgruppen differenziert. Abbildung 11.2 verdeutlicht die Nachrichten- bzw. Informationsdiffusion, die sich bezüglich einer Kampagne zum Thema ‚radioaktive Strahlung‘ zeigte. Die Bevölkerung mit einem niedrigen Bildungsniveau hat auch nach einer über 20-wöchigen Dauer der Kampagne gegenüber den übrigen Bildungsgruppen nicht ‚aufgeholt‘, der Abstand zu den mittleren und höheren Bildungsgruppen vergrößerte sich eher noch. Hingegen zeigte sich für die Bevölkerung mit hohem Bildungsniveau, dass dort sehr rasch ca. neun Prozent der Zielpopulation erreicht wurde und sich dieser Wert 16 Wochen später nur auf ca. zehn Prozent erhöht hatte. Lediglich die Bevölkerung mit einem mittleren Bildungsniveau konnte den Abstand zur gerade beschriebenen Gruppe im beobachteten Zeitraum verringern. Aus der Gesamtschau ihrer Ergebnisse leiten die Autoren eine Bestätigung der Wissensklufthypothese ab und stellen fest, „that gaps between education groups more likely develop as a result of a lower degree of attention among
Die Wissenskluftforschung
335
the lower educated than as a result of motivational or cognitive differences between the higher and lower educated.“ (Weenig/Midden 1997, S. 958) Von dieser Feststellung kann zum dritten Differenzierungskriterium übergeleitet werden.
Inanspruchnahme von Medienangeboten: Es war in erster Linie die unterschiedliche Nutzung gedruckter Medien, die den Anlass zur Formulierung der Wissensklufthypothese gegeben hatte. Mit dem Aufkommen des Fernsehens häuften sich Äußerungen, die diesem Medium die Fähigkeit einer Anpassung von Wissensniveaus (‚knowledge leveler‘) zuschrieben. Neuman nannte im Jahr 1976 mehrere Gründe, die für eine solche Nivellierung maßgebend sein können (vgl. Neuman 1976, S. 115f.): Das Fernsehen ist ein Medium, das von allen Bildungsgruppen in Anspruch genommen wird. Im Vergleich zu anderen Medien erweist sich die Bildung im Falle des Fernsehens als ein weniger trennscharfer Faktor. Mitglieder aus den unteren sozialen Schichten neigen dazu, ihr Informationsverhalten auf das Fernsehen zu konzentrieren. Im Falle der Fernsehnutzung dominieren Unterhaltungsmotive, im Falle der Nutzung anderer Medien häufiger Informationsmotive. Hinzu kommt der Faktor ‚Rezeptionssituation‘: „One thinks of the evening television audience as tired after a hard day’s work, staring blankly at their sets as news and entertainment come at them in a steady stream of words and images. It may be that the special attentiveness to political issues usually associated with higher levels of education simply does not come into play under such circumstances.“ (Neuman 1976, S. 116) Fernsehnutzung erfolgt eher nicht-selektiv und führt zu einer weniger bewussten Auswahl von Nachrichten. Im Falle der Zeitungslektüre kann der Leser die Informationsaufnahme steuern. Dies trifft für das Medium Fernsehen nicht zu, da die Reihenfolge der Nachrichtenbeiträge vorgegeben ist. Hierzu bemerkte Neuman: „Thus, the less politically oriented individual who would perhaps skip most of the more abstract national and international news stories in a newspaper, cannot skip over them in the same sense when they are presented in a newscast. Perhaps the less interested segment of the television audience mentally ‚tunes out‘ when a complex and abstract news story is being presented. Nonetheless, there would certainly seem to be less opportunity for such selectivity in the case of television.“ (Neuman 1976, S. 116)
Der hier angedeutete Medienvergleich konzentriert sich in erster Linie auf eine Gegenüberstellung von Fernsehen und Tageszeitung. Dem Fernsehen wird eher eine ‚Spotlight‘-Funktion zugeschrieben, die keine tiefergehende Informationsvermittlung ermöglicht. Während der Rezipient im Falle der Tageszeitung die Geschwindigkeit der Informationsaufnahme selbst bestimmen kann, ist im Falle des Fernse-
336
Die Wissenskluftforschung
hens eine Unterbrechung der Informationsaufnahme mit der Nicht-Wahrnehmung von Informationen verbunden. Insgesamt wird das Fernsehen deshalb als ein flüchtigeres Medium bezeichnet. Entscheidend dürfte sein, ob insgesamt eher homogene oder differenzierte Formen der Mediennutzung praktiziert werden. Wenn sich jemand ausschließlich auf die Informationen des Fernsehens konzentriert, gehen damit wahrscheinlich auch Präferenzen einher, die eine Unterhaltungsorientierung begünstigen. Denn die Erwartung, dass gerade in niedrigeren sozialen Schichten das Fernsehen das Wissen zu bestimmten Themen erhöhen konnte, wurde in amerikanischen Untersuchungen eher nicht bestätigt (vgl. die Hinweise bei Viswanath/Finnegan 1996, S. 201).101 Die bereits erwähnte Studie von Neuman konnte nachweisen, dass immer dann, wenn das Fernsehen Teil der Mediennutzung ist, Wissensdifferenzen seltener auf Bildungsdifferenzen zurückgeführt werden konnten (vgl. Neuman 1976, S. 122). Insgesamt mangelt es in diesem Bereich der Forschung aber an einer konsequenten Verknüpfung von Medieninhalten einerseits und Wissensniveaus andererseits. Im Vergleich zur Presse und den dort verwandten Informationsformaten wird die Wahrnehmung der Möglichkeiten audiovisueller Medien durch eine Überbetonung des Unterhaltungselements nicht angemessen thematisiert. Insofern kann Viswanath und Finnegan zugestimmt werden, wenn sie zu der Schlussfolgerung gelangen: „In summary, findings on channel influence and the knowledge gap are inconclusive and suggest needed areas of study.“ (1996, S. 202) Der Hinweis auf die Notwendigkeit der Einbindung von Medieninhalten macht bereits deutlich, dass es innerhalb der Wissenskluftforschung nach wie vor methodische Probleme zu bewältigen gibt. Schon in den 1980er Jahren hat Bonfadelli auf die insgesamt disparate Forschungslage hingewiesen und dafür vorwiegend methodische Defizite verantwortlich gemacht. Längsschnittanalysen sind selten, die Berichterstattung zu mehreren Themen in verschiedenen Medien wird in der Regel nur unzureichend oder gar nicht berücksichtigt, die Größe der Stichproben variiert erheblich usw. (vgl. Bonfadelli 1987, S. 313). Jeder Versuch einer ganzheitlichen Betrachtung des Phänomens muss aber in Betracht ziehen, dass sich die Sozialwissenschaften in einem dynamischen Beobachtungsfeld bewegen und die Berücksichtigung aller relevanten Faktoren enorme finanzielle und zeitliche Kapazitäten erfordert. Abbildung 11.3 soll einen Eindruck davon vermitteln, welche Notwendigkeiten aus einer Berücksichtigung aller relevanten Faktoren resultieren können. Die Dominanz kleinerer Untersuchungen wird angesichts dieses umfassenden Programms auch in Zukunft die Regel sein.
101
Zum Erfolg von Bildungsfernsehen bei Kindern in bestimmten Zusammenhängen siehe Fisch 2002.
Die Wissenskluftforschung
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Abbildung 11.3 Methodische Erfordernisse im Rahmen der Wissenskluftforschung Ermittlung von Quantität und Qualität der Berichterstattung in den jeweils relevanten Medien zu den jeweils relevanten Themen
Ermittlung der relevanten sozialstrukturellen Merkmale
Ermittlung des Informationsverhaltens der Bevölkerung/ Zielgruppen
Ermittlung des (Vor-)Wissens zu den relevanten Themen
Inhaltsanalyse Bestimmung der Komplexität des Themas
Soziodemografie Abbildung sozialer Ungleichheit Befragung unter Berücksichtigung quantitativer (Nutzungsdauer, Medienrepertoire) und qualitativer Aspekte (selektive/nicht-selektive Nutzung)
Indikatoren für Faktenwissen Indikatoren für Strukturwissen
Wie entwickelt sich der Wissensverlauf zu bestimmten Themen in der Bevölkerung?
t0
t1
tn ...
Quelle: Eigene Erstellung 11.3
Interessen und Notwendigkeiten: Defizittheorie versus Differenztheorie
Die Popularität der Wissensklufthypothese mag darauf zurückzuführen sein, dass sie den Massenmedien eine bestimmte Funktion in modernen Gesellschaften zuschreibt und regelmäßig den Nachweis erbringt, dass diese Funktion nicht optimal erfüllt wird. Ob es den Informationsangeboten der Massenmedien tatsächlich nicht gelingt, zu einer allgemeinen Erhöhung des Wissensstandes in der Bevölkerung beizutragen, darf mit einem Fragezeichen versehen werden. Letztlich aber muss die Problematik der Wissenskluftforschung auf die Relationen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen bzw. sozialen Schichten bezogen werden. Das schließt nicht aus, dass im Zuge einer kontinuierlichen Nutzung von Medienangeboten auch jene einen Informationszuwachs verzeichnen können, die nicht von einem spezifischen Informationsinteresse geleitet werden. Folgt man der Einschätzung von Bonfadelli, dann hat sich die Wissenskluftforschung im Laufe ihrer Entwicklung von ihrer normativen Fundierung etwas entfernt. Bereits 1987 stellte er fest: „In der anfänglichen Wissensklufthypothese orientierte man sich hauptsächlich an bestimmten Wissensbeständen und begriff die bestehenden Wissensunterschiede meist normativ als
338
Die Wissenskluftforschung
Defizite der Unterprivilegierten. Demgegenüber betont eine differenztheoretische Interpretation unterschiedliche Wissensverteilungen aufgrund je situativ verteilter unterschiedlicher Motivationen, entsprechende Informationsangebote zu nutzen und aufzunehmen. Nach ihr sind bestehende Wissensklüfte vor allem Resultat unterschiedlicher Motivation, Information aufzunehmen, und nicht fehlender oder mangelnder Nutzungskompetenzen.“ (Bonfadelli 1987, S. 312) Während die Defizittheorie somit vorwiegend auf ‚education-based gaps‘ aufbaut, führt die Differenztheorie die Bedeutung von „interest-based gaps“ (Viswanath/Finnegan 1996, S. 198) ein. Unter Bezugnahme auf die im vorangegangenen Kapitel beschriebenen Faktoren müsste man schlussfolgern: Es sind situationsspezifische Faktoren, die in Kombination mit der empfundenen Relevanz und dem persönlichen Interesse in der Lage sein können, die Bedeutung der sozialen Schichtzugehörigkeit bzw. der formalen Bildung zu überlagern und dem erwarteten Effekt einer wachsenden Wissenskluft entgegenwirken.102 Nach Kwak lassen sich die bisherigen Studien zum Zusammenhang von Bildung und Motivation im Kontext der Wissenskluftdebatte drei konkurrierenden Modellen zuordnen (vgl. Kwak 1999, S. 386ff.):
102
103
Causal Association-Modell: Im Rahmen dieses Ansatzes wird der sozioökonomische Status in der Regel über den Indikator ‚formales Bildungsniveau‘ operationalisiert und als Faktor betrachtet, der für die Erklärung von unterschiedlichen Motivationen von zentraler Bedeutung ist. Dabei wird gleichwohl nicht deterministisch argumentiert. Bereits Tichenor u.a. haben die Wechselwirkung von Bildung einerseits und Motivation andererseits betont 103. Rival Explanation-Modell: Rivalität bedeutet in diesem Zusammenhang, dass motivationale und bildungsbezogene Variablen „as competing sources of effects on knowledge acquisition“ (Kwak 1999, S. 387) interpretiert werden. Hier wird ausdrücklich betont, dass bspw. ein starkes themenbezogenes Involvement (auch im Sinne von Betroffenheit) einen unabhängigen und somit eigenständi-
In Bezug auf Informationskampagnen hat Mendelsohn 25 Jahre nach der Veröffentlichung des Aufsatzes „Some reasons why information campaigns fail“ von Hyman und Sheatsley (1947) die Frage gestellt, unter welchen Umständen diese trotzdem erfolgreich sein können. Seiner Ansicht nach ist der Misserfolg vieler Kampagnen weniger dem Publikum als den Kampagnenplanern selbst anzulasten. Mit sorgfältiger Problemanalyse, Formulierung von expliziten Zielen, Segmentierung nach Zielgruppen, Mitberücksichtigung von interpersonalen Kanälen und integrierter empirischer Evaluation könne die Wahrscheinlichkeit des Erfolgs von Informationskampagnen deutlich erhöht werden (vgl. Mendelsohn 1973, S. 52ff.). Darüber hinaus verdeutlicht der verstärkte Einsatz von Entertainment-EducationKonzepten, dass gerade auch unterhaltsamen Formaten Lerneffekte zugeschrieben werden können (vgl. den Überblick bei Singhal/Rogers 1999; Bergmann et al. 2010). Ein allgemeiner Überblick zu Entstehung und Geschichte des Info- und Edutainments findet sich bei Thussu 2007. Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 11.1. Grabe et al. (2000) haben die Knowledge GapHypothese experimentell überprüft.
Die Wissenskluftforschung
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gen Erklärungswert für beobachtbare Wissendifferenzen in der Bevölkerung bzw. der analysierten Zielgruppe hat. Motivation-Contingency-Modell: Dieses Modell unterstellt, dass es einen „main effect of education on knowledge acquisition“ (Kwak 1999, S. 388) gibt. Im Falle einer hohen Motivation aber wird erwartet, „that the effect of education on knowledge acquisition will be canceled out to a significant degree [...].“ (Kwak 1999, S. 388) Mit anderen Worten: Die normalerweise beobachtbare Differenz zwischen Gruppen mit unterschiedlichem sozio-ökonomischen Status (Bildung, Einkommen) verringert sich signifikant, wenn ein hohes Involvement gegeben ist. Offensichtlich impliziert diese Annahme aber auch, dass dort, wo der Bildungseffekt sich im Sinne eines Wissensvorsprungs niederschlägt, die Motivation keinen signifikanten weiteren Vorsprung entstehen lässt.
Die Trennschärfe dieser Modelle ist eher als niedrig zu bezeichnen. Abbildung 11.4 versucht die Differenzen grafisch zu veranschaulichen.
Wissensindex
hohe Bildung niedrige Bildung
X hohe
Bildung
X niedrige Bildung
geringe Motivation
Wissensindex
hohe Motivation
Wissensindex
Causal-Association-Modell geringe Motivation
hohe Motivation
Rival-Explanation-Modell geringe Motivation
hohe Motivation
Motivation-Contingency-Modell
Abbildung 11.4 Knowledge Gap-Modelle im Überblick Quelle: Eigene Erstellung in Anlehnung an Kwak 1999
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Die Wissenskluftforschung
In bewusster Orientierung an der ursprünglich von Tichenor et al. formulierten Hypothese lautete die 1977 eingeführte Differenzhypothese im Original zunächst wie folgt: „As the infusion of mass information into a social system increases, segments of the population motivated to acquire that information and/or for which that information is functional tend to acquire the information at a faster rate than those not motivated or for which it is not functional, so that the gap in knowledge between these segments tends to increase rather than decrease.“ (Ettema/Kline 1977, S. 188) Diese ‚Konkurrenz-Hypothese‘ hat in der Forschung eine gewisse Polarisierung begünstigt und die Neigung verstärkt, sich entweder auf die ursprüngliche oder die modifizierte Variante zu beziehen, obwohl sich die Favorisierung des MotivationContingency-Modells nicht auf einen überzeugenden statistischen Nachweis stützen konnte (vgl. Kwak 1999, S. 388). In diesem Zusammenhang blieb darüber hinaus die Frage nachrangig, ob Motivation bzw. Interesse als gegebene Größen betrachten werden können oder nicht doch ein naheliegender Zusammenhang zwischen der formalen Bildung und diesem Kriterium besteht. In diesem Sinne äußert sich auch Wirth, wenn er anstelle einer Entweder-oder-Konzeption für die Annahme sich gegenseitig verstärkender Faktoren (Motivation und Schulbildung) plädiert (vgl. Wirth 1997, S. 40). Anhänger der Differenzhypothese sehen ihre Auffassung insbesondere dann bestätigt, wenn sich die zu einem bestimmten Zeitpunkt gemessenen Wissensunterschiede im Zeitablauf nicht verändern und das Interesse an dem jeweiligen Thema nicht hinter die Erklärungskraft der formalen Bildung zurücktritt bzw. diese übertrumpft. Horstmann untersuchte bspw. den Wissenszuwachs zum Thema ‚Europawahl‘ mit Hilfe einer Panelanalyse und schrieb dem politischen Interesse eine zentrale Bedeutung für die zu beobachtenden Wissenszuwächse zu (vgl. Horstmann 1991, S. 146). Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass das Thema ‚Europa‘ (analysiert wurde die Europawahl 1984) insgesamt auf ein geringeres Interesse in der Bevölkerung stieß und der Kenntnisstand über das Europäische Parlament und andere Institutionen gering war. Daher ist zu fragen, inwiefern hier spezifische Interessen und Motivationen eine persönliche Relevanz des Themas begünstigen konnten mit dem Effekt einer verstärkten themenbezogenen Mediennutzung. Hierzu kann noch einmal auf die bereits zitierte Studie von Kwak Bezug genommen werden. Er präsentiert Befunde aus einer Studie zur USPräsidentschaftskampagne des Jahres 1992, in der unter anderem die Wechselwirkung zwischen Bildung, Kampagneninteresse und Mediennutzung untersucht wurde. Ein Ergebnis wird in Abbildung 11.5 wiedergegeben. Die oberste Linie verdeutlicht, dass der ‚Knowledge Score‘, ein Konstrukt zur Messung von vorhandenem Wissen bezüglich der Kampagne (zu Details siehe Kwak 1999, S. 407), im Falle hoher Bildung und hohem Interesse unbeeinflusst von dem Ausmaß der Zeitungsnutzung bleibt. Offensichtlich war hier von Anfang an ein hoher Kenntnisstand vorhanden, der durch ein Mehr an Lektüre nicht verändert
Die Wissenskluftforschung
341
wurde. Wenn geringe Bildung mit hohem Interesse einher geht, wirkt sich eine hohe Zeitungsnutzung positiv auf den Wissensstand aus (zweite Linie von oben). Damit verringert sich auch der Abstand zwischen diesen beiden Gruppen geringfügig.
Wissensindex
Abbildung 11.5 Einfluss der Zeitungsnutzung auf die Wissenskluft zwischen verschiedenen Bildungsgruppen 6
hohe Bildung / hohes Kampagneninteresse
5
niedrige Bildung / hohes Kampagneninteresse
4
hohe Bildung / niedriges Kampagneninteresse
3
niedrige Bildung / niedriges Kampagneninteresse
2
1
0
niedrige Aufmerksamkeit
hohe Aufmerksamkeit
104
Quelle: Kwak 1999, S. 402
Den deutlichsten Effekt aber zeigt der Vergleich der Bildungsgruppen mit niedrigem Kampagneninteresse. Hier führt eine hohe Zeitungsnutzung zu einer deutlichen Ausweitung der Wissenskluft, wenngleich auch ein auf Zeitungsnutzung zurückführbarer geringfügiger Wissenszuwachs in der Gruppe mit geringer Bildung und geringem Kampagneninteresse zu beobachten ist. Kwak interpretiert diese Befunde wie folgt: „[...] that one’s campaign interest modifies how newspaper reading influences the knowledge gap between high and low education groups. When one’s campaign interest is high, closer reading of newspaper news narrows the educationbased knowledge gap. On the other hand, when one’s campaign interest is low, newspaper reading further widens the knowledge gap between education groups.“ 104
Obwohl Kwak von „Newspaper News Attention“ spricht, darf Nutzung wohl unterstellt werden. Dem Index liegt die folgende Fragestellung zugrunde: „When you come across the following kinds of stories in the newspaper, how much attention do you pay to them? Here, 1 means little attention and 10 means very close attention. How much attention do you pay to: 1. International affairs? 2. National government and politics? 3. Local government and politics?“ (Kwak 1999, S. 408)
342
Die Wissenskluftforschung
(Kwak 1999, S. 403) Der Bildungseffekt ist somit nicht unumkehrbar, aber ein ‚rule out‘ ist wenig wahrscheinlich. Wirth weist in seiner Kritik der Differenzhypothese darauf hin, dass sowohl in der Studie von Horstmann als auch in früheren Arbeiten zur Differenzhypothese eine Konfundierung unterschiedlicher Konstrukte zu beobachten ist: Interesse wird nicht nur über Eigeninteresse ermittelt, sondern insbesondere auch an dem Ausmaß des kommunikativen Verhaltens gemessen. In der Differenzhypothese vermischen sich somit die Anteile der Massenkommunikation und der interpersonalen Kommunikation, wenn es um die Erklärung von beobachteten Wissensklüften geht (vgl. Wirth 1997, insb. S. 37). Obwohl insgesamt wenig für eine Gegenüberstellung dieser Hypothesen spricht und die Trennschärfe der diskutierten Modelle eher gering ist, ist die in den zurückliegenden Jahren wieder häufiger beobachtbare Bezugnahme auf die Wissenskluftforschung eher nicht von einer Kompromissabsicht getragen worden. Die Vorliebe für binär konzipierte Modelle steht in einem merkwürdigen Kontrast zu der Vielzahl und Vielfalt des Angebots. Unterscheidungen wie Modernisierungsgewinner und -verlierer oder ‚Haves‘ und ‚Have nots‘ illustrieren dies (vgl. zusammenfassend hierzu auch Jäckel 1996b). Als Beispiel kann folgendes Zitat angeführt werden, das sich auf die Folgen einer ungleichen Nutzung eines erweiterten Medienangebots bezieht. Es wurde von Schulz im Jahr 1990 formuliert und lautet wie folgt: „Die ‚Informationsreichen‘ werden gleichsam immer reicher, die ‚Informationsarmen‘ immer ärmer, zumindest wächst die Kluft zwischen diesen beiden Teilen der Gesellschaft. Es entsteht so etwas wie eine neue Klassengesellschaft mit einer ‚Informationselite‘ auf der einen Seite, die sich gut auskennt und zurechtfindet, und den ‚Informationsparias‘ auf der anderen Seite, die wenig wissen, aber von den Medien gut unterhalten werden.“ (Schulz 1990, S. 149)
Neue Klüfte und Überraschungen „Damit aber hat er einen Punkt getroffen, der auf der Entwicklungslinie der internetfähigen Computer tatsächlich historisch zu nennen ist. Das iPad ist der erste Rechner, bei dem nicht die verwirklichten Fortschritte in der Hardware-Entwicklung den Ausschlag für seinen Erfolg geben werden, sondern das Angebot an Software, also die Apps, die auf ihm laufen. Und diese Software, das ist jetzt schon absehbar, wird eher zum Konsum von Inhalten anregen als zu deren Produktion. Das iPad ist konzipiert als das perfekte Couchwerkzeug der Rezeption und als Fenster ins Internet. Man wird damit lesen, schauen, allenfalls chatten. Aber mutmaßlich keine Essays verfassen, sich nicht in der Blogosphäre vernetzen oder Software darauf entwickeln. Man soll es ja nicht einmal öffnen. Insofern ist das iPad eher eine Antenne für privilegierte Inhalte als ein Schweizer Messer für den Alltag im Web-
Die Wissenskluftforschung
343
dschungel. Darum muss man von nun an wohl von einer weiteren digitalen Spaltung sprechen, die das iPad versinnbildlicht. Nach der Trennung zwischen Vernetzten und Nicht-Vernetzten erkennt man nun die zwischen Konsumenten und Produzenten von Netz-Inhalten. Das iPad scheidet schon jetzt die Geister." (Graff 2010, S. 11) „Der digitale Graben, von dem in den vergangenen Jahren immer wieder die Rede war, scheint sich zu schließen. Wenn alle online sind, verwischt der Unterschied zwischen den Ureinwohnern und den Zugereisten des Netzes, den sogenannten digital natives und den digital immigrants. Väter organisieren ihre Freizeit mittlerweile ebenso über Facebook-Termine wie ihre Söhne, Kegelclubs verbreiten Ausflugsfotos genauso über Flickr wie Schulklassen, und auch die 140-Zeichen-Statusmeldungen bei Twitter gibt es inzwischen aus allen Altersgruppen. Doch der Trend ist ein trügerischer – denn an Wolfgang Grupps Analyse zum Wesen des Digitalen sieht man, dass der Graben sich nicht schließt, sondern verschiebt. ‚Twitter ist für mich einfach nur dumm und die Menschen, die das nutzen, sind für mich Idioten’, hatte Grupp gesagt und gefragt: ‚Haben die Menschen eigentlich nichts Besseres zu tun, als über belanglosen Kram zu schreiben? Wen interessiert das?’ Diese Frage ist zur zentralen Bruchstelle einer neuen Spaltung geworden: der Unterscheidung nämlich zwischen den aktiven Nutzern und den distanzierten Zuschauern des digitalen Publizierens.” (von Gehlen 2010, S. 13)
Diese Einschätzung bezieht sich zunächst auf den Bereich der klassischen Massenmedien, kann aber ohne weiteres auf neue Vermittlungswege von Informationen übertragen werden. So liest man bei Hindman: „Whereas the ‚knowledge gap‘ refers to a mass media effect, the ‚digital divide‘ hypothesis [...] suggests that information technologies would also be expected to have a ‚function similar to that of other social institutions: that of reinforcing or increasing existing inequities.‘“ (2000, S. 552)105 Das Schlagwort ‚Digital Divide‘106 beschreibt den Ursprung einer neuen Kluft, die auf den unterschiedlichen Zugang zu neuen Informations- und Kommunikationstechnologien zurückgeführt wird. Norris unterscheidet drei Bereiche, in denen diese Kluft festgestellt werden kann (vgl. Norris 2001, S. 4): 105
106
Global Divide: Gemeint sind Makrovergleiche auf der Ebene von Kontinenten bzw. Staaten. Verglichen wird bspw. der Internetzugang pro 1000 Einwohner in Afrika und Amerika. Social Divide: Bezugsebene des Vergleichs sind einzelne Staaten und die Kluft zwischen „information rich and poor“ (Norris 2001, S. 4). Das Zitat im Zitat verweist auf die Pionierarbeit von Tichenor u.a., die in Kapitel 11.1 dargestellt wurde. Für einen internationalen Überblick vgl. den UNESCO World Report 2005 ‚Towards Knowledge Societies‘.
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Die Wissenskluftforschung Democratic Divide: Hier geht es um den Nachweis von Partizipationsunterschieden im politischen Sinne. Wer nutzt neue Informations- und Kommunikationstechnologien für die Artikulation politischer Interessen und für aktives politisches Engagement?
Tabelle 11.1
Entwicklung der Onlinenutzung in Deutschland 1999 bis 2010
In % In Mio
19991 17,7 11,2
20001 28,6 18,3
20011 38,8 24,8
20021 44,1 28,3
20031 53,5 34,4
20041 55,3 35,7
In % In Mio
20051 57,9 37,5
20061 59,5 38,6
20071 62,7 40,8
20081 65,8 42,7
20091 67,1 40,8
20101 69,4 49,0
1) Gelegentliche Onlinenutzung. Basis: Bis 2006 Deutsche ab 14 Jahren (2009: n=1806, 2008: n=1802, 2007: n=1822, 2006: n=1820, 2005: n=1857, 2004: n=1810, 2003: n=1955, 2002: n =2293, 2001: n=2520, 2000: n=3514, 1999: n=5661). Ab 2010: Deutschsprachige Bevölkerung ab 14 Jahre (n=1804)
Quelle: Eigene Erstellung in Anlehnung an van Eimeren/Frees 2010a, S. 335 Die größte Nähe zur hier behandelten Thematik ist im Falle von Social Divide gegeben. Angesichts der raschen Diffusion neuer Technologien wird es aber wohl nicht mehr in erster Linie um defizitäre Erklärungen gehen, sondern um Differenzierungen der Aneignungsformen neuer Angebote. Compaine hat für die USA bereits vor zehn Jahren von einer historischen Debatte gesprochen und betont: „[...] the digital divide is less a crisis than a temporary and normal process.“ (2001, S. 326) Im Gesamtkontext der Diskussion um die sogenannte Informationsgesellschaft wird in Zukunft daher der Eigenverantwortung eine hohe Bedeutung zugeschrieben, die überall dort praktisch wird, wo es um den individuellen Zugriff auf Text- und Bildangebote der unterschiedlichsten Art geht. Die Entwicklung des Zugangs zu OnlineAngeboten in Deutschland ist in Tabelle 11.1 zusammengefasst. Entsprechend wird es immer wichtiger, die dichotome Unterteilung in On- und Offliner hin zu einer mehr oder weniger technikfokussierten Differenzierung der Internetnutzer zu entwickeln. So hängt die Verwendungsweise und Häufigkeit des Internets nicht nur von der technischen Ausstattung ab. Die allgemeine Einbettung des Mediums in den Alltag wird deutlich beeinflusst von den jeweiligen Medienkompetenzen. Hier zeigt sich eine „Second-Level Digital Divide“ (Marr/Zillien 2010, S. 269), für die „Electronic Literacy“ (ebenda) der entscheidende Faktor darstellt, also die allgemeinen Fertigkeiten bezüglich des Internets. Diese Kompetenzen können als aus technischen Bedienkompetenzen, internetbezogenem Wissen, Erfahrung und einer gewissen Computeraffinität der Umgebung zusammengesetzt modelliert werden (vgl. ebenda,
Die Wissenskluftforschung
345
S. 270). Die Gruppe der Nutzer stellt sich somit als sehr heterogen heraus, was sich widerspiegelt in verschiedenen Aneignungsprozessen und unterschiedlichen Bedarfs- und Interessensstrukturen. Darauf haben mehrere Typologien der Internetnutzer hingewiesen (vgl. exemplarisch Oehmichen/Schröter 2010). Die meisten Einteilungen der Mediennutzer in Mediengenerationen und die Betrachtung der daraus resultierenden Wissens- und Informationsunterschiede sind mittlerweile zu stark vereinfachend und werden der Realität nicht mehr gerecht. Die Art und Weise, wie sich die verschiedenen Altersgruppen mit den neuen Medien arrangieren und wie sie diese nutzen, folgt mitunter sehr heterogenen Strategien. So folgt auch die gebräuchliche Einteilung in Digital Natives und Immigrants keiner strikten Einteilung nach Lebensalter. Letztere zeichnen sich in erster Linie durch eine skeptischere, überlegtere Haltung dem Internet gegenüber aus. In zweiter Linie findet sich diese abnehmende Innovationsfreudigkeit, die vor allem daher zu rühren scheint, dass hier häufiger mit anderen, also bekannten Medien und Nutzungsweisen verglichen wird und seltener ein Vorteil in neuen Technologien mehr für einen selbst gesehen wird. Doch das beschleunigte Innovationstempo wird eben nicht nur von älteren Generationen wahrgenommen. Alle müssen sich arrangieren (vgl. Jäckel 2010b, S. 249ff.). Hierfür spricht auch, dass sich trotz der weitreichenden Veränderungen in der Medienlandschaft die Nutzungsgründe kaum verändert haben. In der langen Tradition der ARD/ZDF-Langzeitstudie Massenkommunikation haben sich die grundlegenden Bedürfnisse jedenfalls als sehr konstant erwiesen. Menschen suchen vor allem Informationen und Unterhaltung. Bspw. ist das zentrale Motiv für die Nutzung der Tageszeitung weiterhin Information, unabhängig von soziodemografischen Merkmalen. Zu bedenken ist darüber hinaus, dass das Internet zwar am deutlichsten an Bedeutung gewinnen konnte, aber bezüglich vieler Faktoren weiterhin hinter den anderen Medien liegt. So wird es bspw. weiterhin als insgesamt als am wenigsten glaubwürdig wahrgenommen. Der prozentuale Unterschied zwischen den Altersklassen und den Bildungsgruppen ist hingegen äußerst gering, wenn man das Informationsmotiv betrachtet, welches gleichzeitig auch den Hauptgrund für die Internetnutzung darstellt. Die Kluft zwischen den Mediengenerationen scheint auch hier differenzierter betrachtet werden zu müssen. Der größte Unterschied zeigt sich nämlich darin, dass die 14-29-Jährigen das Internet mit knappem Vorsprung vor der Information vor allem der Unterhaltung willen schätzen (vgl. Ridder/Engel 2010b, S. 538ff.). Den differenzierten Nutzungsmotiven und Einschätzungen der Medien, aber auch der Binnenvarianz zwischen den Mediengenerationen, ist also mehr Beachtung zu schenken, um die bestehenden Differenzen und ihre Auswirkungen besser verstehen zu können (vgl. Jäckel 2010b). Diese neuen Konstellationen von Angebot und Nutzung werden vermehrt als Individualisierungsprozesse interpretiert, die zu einer Pluralisierung der Medienrepertoires führen. Schreibt man diese Entwicklung fort, dann wird sich im Sinne der Differenzhypothese ein Defizit ergeben und aus der Sicht der Defizithypothese eine
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Die Wissenskluftforschung
Differenz. Wenn das Interesse an diesen Angeboten zu einer Notwendigkeit wird, nehmen Selbstverpflichtungen zu, die zugleich den Kern der Bindung an die Informationsgesellschaft beschreiben. Wirth stellte seiner Analyse einen Werbespruch der ‚Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘ voraus. Dieser lässt sich auch für den vorliegenden Zusammenhang adaptieren: „Unwissenheit ist freiwilliges Unglück.“ (zitiert nach Wirth 1997, S. 11) Dass auch dieser Werbeslogan vermutlich nicht einheitlich wahrgenommen wird, verdeutlicht noch einmal die Existenz unterschiedlicher Bezugsebenen, die letztlich auch eine Nähe bzw. Distanz zu den Inhalten veranschaulichen. Wenn die Erwartungen an Publika bzw. Nutzergruppen ohne Rücksprache mit der jeweiligen Trägerschicht formuliert werden, muss mit Enttäuschungen gerechnet werden. Die Zukunft der Kommunikation wird daher nicht nur durch Notwendigkeiten bestimmt, sondern auch von pragmatischen Entscheidungen der Rezipienten getragen werden. In diesem Zusammenhang stellt Marr auch fest, dass „zwischen dem Potential einer Technologie und seiner tatsächlichen Entfaltung eine beträchtliche Lücke klaffen kann.“ (Marr 2004, S. 90) Seiner Ansicht nach ist die Forschung zur digitalen Spaltung herausgefordert, tatsächliche Benachteilungen, die aus den Zugangsungleichheiten resultieren, in stärkerem Maße zu verdeutlichen (siehe hierzu ausführlich Marr 2004). Eine umfassende Sekundäranalyse der Allensbacher Computer- und Technikanalyse des Jahres 2004 konnte nachweisen, dass in der Gruppe der Internetnutzer – über Differenzen hinsichtlich der technologischen Ausstattung, der Kompetenzen im Umgang mit dem Internet und der schichtspezifischen Interessen hinaus – ein Statuseffekt existiert, der sich in unterschiedlichen Renditen der Internetverwendung widerspiegelt. Neben der Unterteilung in eine Zugangskluft (erste Ebene) und einer Nutzungskluft (zweite Ebene) kann somit auch eine ‚Rezeptionskluft‘ als dritte Stufe in ein differenzierteres Modell aufgenommen werden. Hierbei geht es vor allem um bildungsspezifische Unterschiede bezüglich der Selektion und Recherche von Informationen, da die Bewertung von Glaubwürdigkeit und Relevanz zunehmend schwieriger werden (vgl. Zillien 2009, insb. S. 98). Dieses Ergebnis steht im Einklang mit mehrstufigen Modellen, die Zugangsaspekte (Verfügbarkeit, Qualität des Zugriffs [z. B. Geschwindigkeit der Datenübertragung]), Medienkompetenzen (Umgang mit Hard- und Software) sowie Verwertungsfragen thematisieren (z. B. Verwendung von Informationen) (vgl. Wirth 1999, Kim/Kim 2001 sowie Selwyn 2004 und van Dijk 2005). Ebenso wird vermehrt die Auffassung artikuliert, dass Fertigkeiten im Bereich der Informationsbeschaffung (Wissen zweiter Ordnung) gegenüber Dingen, die man weiß und kennt (Wissen erster Ordnung) an Bedeutung gewinnen (vgl. zu dieser Unterscheidung Degele 2000). Die neuen Informtionstechnologien, allen voran das Internet, bieten nicht nur die Möglichkeiten der Überbrückung solcher Wissensklüfte, sondern eben auch die Gefahr sie zu vergrößern. Vielfach ist auch fraglich, ob die gefundenen Unterschiede überhaupt relevant sind für eine Verfestigung oder gar Entstehung von Unterschieden. Ebenso der allgemein formulierte Schluss von derartigen Differenzen auf
Die Wissenskluftforschung
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soziale Benachteiligungsprozesse. Um diese komplexen Fragen besser untersuchen zu können, müsste auch eine Diskussion stattfinden, welche Inhalte und mit ihnen zusammenhängende Nutzungs- und Rezeptionsunterschiede gesellschaftliche Bedeutung besitzen. Um auf das Zitat von Compaigne zurückzugreifen, erscheint die Spaltung außerdem als normaler Prozess in dem Sinne, dass er sich zwar auf der einen Stufe vermindern lässt, dafür jedoch auf der nächsten wieder aufs Neue in Gang gesetzt wird. Letztendlich ist entscheidend, ob die Nutzer imstande sind die Möglichkeiten in positiver Weise für sich zu nutzen (vgl. Zillien 2009, S. 98f., S. 275). Diese Erwartung lenkt den Blick auf die Zukunft. Denn neben der hier besprochenen Wissenskluft und digitalen Spaltung, nimmt noch eine andere Kluft zu. Wie Alois Hahn einmal bemerkte, besteht auch die Möglichkeit der bewusstseinsexternen Speicherung von Wissen und Informationen in sozialen Gedächtnissen. Mittels der neuen Medien wächst nicht nur die Anzahl solcher Speicher, sondern auch die Differenz zwischen dem, „was ein Einzelner wissen kann und dem, was virtuell als verfügbares Wissen zur Verfügung stünde“ (Hahn 2010, S. 27). Daraus folgt auch, dass es schon schwer ist, auf den zweiten und dritten Ebenen die Differenzen zu überbrücken. Aber wer gar keinen Zugang hat, könnte bald ganz den Anschluss verlieren. Abbildung 11.6 Digitale Spaltung: Dimensionen und Faktoren Technologie/Angebot Dimensionen
Nutzung Rezeption
Relevante Faktoren
- Bedienung - Informationsbezogen (Recherche, Elektronische Bewertung, Nutzung) Literalität/Kompetenz - Produktion von Inhalten - interaktiver Austausch Interesse, Involvement, Relevanz, Vorwissen, Bildung, Affinität des Person sozialen Umfelds InformationsKomplexität, Hintergrundwissen vs. /Wissenstyp Agendawissen Publizität, Berichterstattung vs. Informationsangebot Kampagne Bezugsebene (inter)national vs. lokal
Quelle: Eigene Erstellung in Anlehnung an Bonfadelli 2007
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Die Wissenskluftforschung
Die Untersuchung von Spaltungsphänomenen muss zusammenfassend also auf verschiedenen Stufen die technologischen Faktoren sowie die verschiedenen Nutzungsund Rezeptionsweisen berücksichtigen. Auf den Nutzer werden in Zukunft jedenfalls definitiv neue Herausforderungen zukommen. Das abschließende Kapitel geht auf diese und andere Prognosen zum Wandel von Medienangebot und Mediennutzung ein.
Bonfadelli, Heinz (1994): Die Wissenskluft-Perspektive. Massenmedien und gesellschaftliche Information. Konstanz. (Forschungsfeld Kommunikation, Band 5). Horstmann, Reinhold (1991): Medieneinflüsse auf politisches Wissen. Zur Tragfähigkeit der Wissenskluft-Hypothese. Wiesbaden. Viswanath, K.; Finnegan, John R. Jr. (1996): The Knowledge Gap Hypothesis: Twenty-Five Years Later, in: Burleson, Brant R. (Ed.): Communication Year-book 19. Thousand Oaks usw., S. 187-227.
12 Ein Blick in die Medienzukunft
Abschließend wird ein Blick in die Medienzukunft gewagt. Dabei wird durchgängig ein bestimmter Aufbau verfolgt: Ausgehend von bestimmten Beobachtungen oder Feststellungen bzw. Kommentaren werden verschiedene Trends und Entwicklungen eingeordnet. Dabei wird zum Teil erneut auf Ergebnisse der Forschung Bezug genommen, die in den vorangegangenen Kapiteln bereits behandelt wurden. Empirische Befunde dienen der Illustration, wenngleich sie angesichts der Dynamik der Medienentwicklung schnell überholt sein können. Beobachtung 1: „Man hatte ausgerechnet, daß es in fünfzig Jahren an den Universitäten nur noch Fahndungscomputer geben würde, solche also, die in den Mikrosystemen und Denkanlagen des gesamten Planeten aufzuspüren suchen wo, in welchem Winkel welchen Maschinengedächtnisses die Information steckt, die für die laufenden Forschungen jeweils gebraucht wird. [...] so entstand die Domäne [..] der Experten für Suchkunde [...].“(Lem 1985, S. 120f.) Ob der polnische Schriftsteller Stanislav Lem (1921-2006), der nach eigenen Angaben im Jahr 1953 mit futurologischen Arbeiten begann, wirklich ahnen konnte, dass die ‚Experten für Suchkunde‘ ein ‚Maschinenwesen‘ annehmen und das klassische Nachschlagen Konkurrenz durch eine bequeme Variante erfahren hat? Wie aus vielen in diesem Buch angeführten Beispielen ersichtlich wurde, sind es manchmal die im Nachhinein fast geringfügig erscheinenden Erfindungen und Veränderungen, die bedeutende Impulse setzen können. Dies erschwert eine Vorhersage der zukünftigen medialen Entwicklungen bereits ungemein, obwohl viele in frühen Phasen eines sich andeutenden Wandels gerne bereits von Revolutionen sprechen. Es liegt in der Natur von Revolutionen, nicht planbar zu sein, „[...] das Letzte, was es in einer Revolution gibt, ist gradliniger Fortschritt. Das Gegenteil ist zu erwarten: Turbulenzen, Instabilität, Rückschläge, viele Zufälle.“ (Toffler, zitiert nach Gersemann 2001, S. 59). Soll dennoch ein Blick in die Zukunft gewagt werden, gibt es verschiedene Verfahrensweisen, um solche Prognosen zu erarbeiten, z.B.: die reine Extrapolation des Bestehenden oder spekulative Trendhypothesen auf Basis der Gegenwart. Der Trend- und Zukunftsforscher John Naisbitt greift unter anderem auf letzteres Verfahren zurück: „My pictures of the future are not speculation or a reach into the unknown. They are based on an analysis of the present [...].“ (2006, S. XX) Luhmann sieht ein allgemeines Beschreibungsdefizit in ‚modernen‘ Gesellschaften, die Neues nur durch „Bestempelung des Alten“ (1992, S. 14) markieren können. Übertragen auf Progno-
M. Jäckel, Medienwirkungen, DOI 10.1007/978-3-531-93191-3_13, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Ein Blick in die Medienzukunft
sen kann die Frage nach der Zukunft dann nur lauten: „In welchen Formen präsentiert sich die Zukunft in der Gegenwart?“ (ebenda, S. 129). Eine andere beliebte Möglichkeit ist die Weitergabe der Frage an Experten, die auf der Grundlage ihres Erfahrungshintergrundes und der ihnen zur Verfügung stehenden Informationen Szenarien entwickeln. Mal werden solche Vorgehensweisen als Delphi-Methoden klassifiziert, mal geschieht es im Rahmen eines konventionellen Interviews. Zurzeit scheint hierbei das Jahr 2015 ein beliebtes Jahr für Medienprognosen zu sein. So fragte die Wochenzeitung ‚Die Zeit‘ die Intendantin des Westdeutschen Rundfunks Ende des Jahres 2006: „Frau Piel, wie sieht ein ganz normaler Fernsehtag im Jahre 2015 aus?“ Die Antwort lautete: „Ich gehe davon aus, dass die meisten Leute morgens immer noch Radio hören werden. Aber der Fernsehfreak geht morgens zuerst an seinen Computer, ruft die Nachrichten der letzten Nacht ab und wird, ohne hinzuschauen, eine Morgensendung laufen lassen. Beim Warten an der Haltestelle guckt er auf seinem Handy eine Soap, nicht länger als ein, zwei Minuten. Im Büro arbeitet er ausschließlich am Computer. Wahrscheinlich ist er Mitglied einer WebCommunity, mit der er erst einmal Kontakt aufnimmt. Fernsehen und Internet werden eins sein, übers Fernsehen der Zukunft zu reden heißt, übers Internet zu reden.“ (N.N. 2006, S. 39) Dazu passt, dass 93% der erwachsenen Bevölkerung damit rechnen, zukünftig Medien „jederzeit und überall“ (Ridder/Engel 2010a, S. 533) nutzen zu können. 71% gehen außerdem davon aus, dass es ein Gerät geben wird, das alle Medien vereinen könnte. Allerdings denken auch 77%, dass die Parallelnutzung als sichere zukünftige Entwicklung angesehen werden kann. Interessant ist hier, dass zwar eine solche erhöhte Flexibilität und auch Konvergenz der Medien erwartet wird, für die Einzelmedien Radio und Fernsehen aber kein wirklicher Bedeutungsverlust (91% bzw. 94%). Zugleich denken 95%, dass die Menschen auch in Zukunft Fernsehen am liebsten wie bisher konsumieren möchten: „zu Hause auf einem großen Bildschirm“ (ebenda, S. 533f.). Die neuen technischen Möglichkeiten werden also deutlich gesehen, aber ob man diese auch in einem entsprechenden Umfang nutzen wird und möchte, weiß man persönlich nicht einzuschätzen. Das solchen Prognosen zugrunde liegende Muster ist nicht unbekannt. Ähnliche Aussagen, formuliert vor dem Hintergrund einer bestimmten technologischen Entwicklungsstufe, haben das Aufkommen des Videorekorders oder das interaktive Fernsehen begleitet. Nunmehr wird eben ein ähnlicher Wandel mit den gegenwärtigen Neuerungen in Verbindung gebracht. Überlegungen zu den Auswirkungen einer zunehmenden Digitalisierung auf bspw. die Formen und Funktionen des Visuellen lesen sich entsprechend: „[...] die Gesellschaft des ‚Iconic Turn‘ [...] basiert auf dem Computer, auf der Digitalität und auf Techniken, die jeweils die kulturellen Klausuren überwinden.“ (Burda/Sloterdijk 2010, S. 91). Es scheint hierbei auch so etwas wie ein ehernes Gesetz der Medienentwicklung zu geben, ähnlich dem Rieplschen
Ein Blick in die Medienzukunft
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Gesetz107, das nach dem im Jahr 2004 verstorbenen Everett M. Rogers benannt werden könnte, der sich umfassend mit Diffusionsprozessen unterschiedlichster Art beschäftigt hat. Aus allmählich zunehmenden Ereignissen (Kaufentscheidungen, Ratschlägen, Nutzungen, unmittelbaren und mittelbaren Erfahrungen) entstehen neue (Makro-)Phänomene (z. B. Bezahlfernsehen, Online-Tauschbörsen oder Internet-TV). Symptomatisch für solche Entwicklungen ist wiederum die Feststellung: „Diffusion is a very social process.“ (Rogers 2003, S. 19) Hier soll behauptet werden, dass dieser „very social process“ nicht nur den typischen Verlauf der Übernahme von Neuerungen meint, den Pionieren also die frühen Übernehmer, sodann die frühe Mehrheit, die späte Mehrheit und die Nachzügler folgen (vgl. ausführlich hierzu Rogers 2003, S. 281), sondern auch die Kommunikation über Veränderungen einem Trägheitsgesetz unterliegt. Es wird nicht täglich über diese Veränderungen gesprochen, die Aufmerksamkeit wird punktuell darauf gelenkt. Zwischen diesen Beobachtungszeitpunkten liegt eine Vielzahl kleiner Ereignisse, die man von Tag zu Tag nicht als signifikante Veränderungen wahrnimmt. Daher erweisen sich viele Prognosen im Nachhinein als Bestätigungen von etwas, das gerade vergangen ist. Es wird beobachtet, dass die jüngere Generation sich vermehrt Videos im Internet ansieht oder herunterlädt und prognostiziert – wiederum für das Jahr 2015 - , dass die Zahl der Internet-TV-Nutzer auf 7,2 Millionen ansteigen wird (vgl. zu diesen Zahlen Nienhaus 2007, S. 27 sowie Projektgruppe ARD/ZDF-Multimedia 2007, S. 20f.). Im Jahr 2010 nutzen auch schon 23% der Internetnutzer in Deutschland das Internet „zumindest gelegentlich“ für „zeitversetztes Fernsehen“ (van Eimeren/Frees 2010a, S. 343) von Sendungen oder Ausschnitten aus diesen. Im Vergleich zu den Werten des Jahres 2007 stellt das mehr als eine Verdoppelung dar. Der Anstieg in der Nutzung solcher Onlineangebote geht fast vollständig auf die 14- bis 29-Jährigen zurück (vgl. van Eimeren/Frees 2010a; 2010b, S. 351). Dazu passt bspw. die Einschätzung des TV-Produzenten und Talkshow-Moderators Meyer-Burckhardt: „Reden wir von jüngeren Leuten, glaube ich an die Programmschiene nicht mehr. Da hat sich über den Generationssprung etwas strukturell verändert, nicht bloß konjunkturell. Es ist die erste Generation, für die nicht nur ein Produkt cool sein muss, sondern auch der Vertriebsweg. Musik runterladen ist ja nicht cool nur wegen der Musik, sondern der Weg selbst, auf dem sie zu meinem Sohn kommt, ist cool. Also wird Bezahlfernsehen eine Rolle spielen: Pay TV ist Community und damit cool.“ (N.N. 2006, S. 39) Letzteres wird in der Community wahrscheinlich sehr ambivalent eingestuft. Der gerade beschriebene Vorgang trifft auch – zumindest teilweise – auf Fortschreibungen von Entwicklungen zu, die seit Ende der 1980er Jahre durch internetbasierte Technologien und Medienangebote vorangetrieben werden. So wird in einem Video-Szenario des ‚Museum of Media History‘ das Jahr 1989 zum Ausgangspunkt einer Entwicklung genommen, die mit der Erfindung des WorldWideWeb 107
Siehe hierzu die Ausführungen in Kapitel 1.
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beginnt und mit dem Ende von Nachrichtenagenturen schließt, wesentlich gestützt auf Innovationen, die gegenwärtig mit Web 2.0, dem Internet der zweiten Generation, assoziiert werden. Eine Vielzahl von Nutzern gestaltet Informationen mit, tauscht sich darüber aus, kritisiert und kommentiert. Das Szenario endet im Jahr 2015 mit einer Mediensituation, in der Personalisierung das Bedürfnis aller ‚User‘ zu sein scheint108. Aufschlussreich kann in diesem Zusammenhang auch die Lektüre alter Prognosen sein. Im Jahr 1910 wurde ein Buch mit dem Titel ‚Die Welt in 100 Jahren‘ herausgegeben. Ein Beitrag von Robert Sloss spekuliert über etwas, das wir heute mobile Kommunikation nennen: „Überall ist man in Verbindung mit allem und jedem. Jeder kann jeden sehen, den er will, sich mit jedem unterhalten.“ (Sloss 2010 [zuerst 1910], S. 43). Das dies mithilfe des drahtlosen „Telephon in der Westentasche“, oder allgemeiner ausgedrückt: mittels „Empfänger“ (ebenda, S. 35f.) geschehen soll, der weit mehr kann als bloße Telefonie, mag stellenweise in Sachen Treffsicherheit überraschen. Die Annahme, dass die ständige Verbundenheit und Erreichbarkeit auch individuell durchweg positiv erlebt wird, scheint sich wiederum nur sehr bedingt bestätigt zu haben. Dieser große Bedarf an Prognosen über die Zukunft der Kommunikation ist ein zuverlässiger Indikator für Umbruchphasen in modernen Gesellschaften. Darauf ist in den vorangegangenen Ausführungen mehrfach hingewiesen worden, wenngleich die Nutzung von Medienangeboten nicht im Vordergrund dieser Einführung stand. Die Vervielfältigung des Angebots, die Ausweitung der Distributionswege, die zunehmende Präsenz von Medien im Alltag (z. B. Bildschirme und Multimediapräsentationen auf Bahnhöfen und Flugplätzen, in Einkaufsstraßen und U-Bahn-Stationen), die Zunahme von Mitwirkungs- und Mitgestaltungsoptionen stellt die Bestimmung von Medienwirkungen vor neue Herausforderungen, weil sich der Stimulus weder zeitlich noch räumlich eindeutig fixieren lässt, gelegentlich auch die Bestimmung der Quelle (des Senders) Probleme bereitet. Beobachtung 2: „Always-On wird zu Always-In-Touch [...] Man geht nicht mehr ins Internet, man ist einfach im Internet.“109 Medienzeit war einmal im Wesentlichen ein Teil der Freizeit. Durch die Weiterentwicklung der Distributionskanäle ist die Diskussion um die Verfügbarkeit und Omnipräsenz der Medien in ein neues Stadium eingetreten. Die „Arbeit wird ‚freizeitähnlicher‘, Freizeit wird ‚arbeitsähnlicher‘.“ (vgl. Lüdtke 2001, S. 26) Neue Technologien werden in den Alltag integriert und die Art und Weise ihrer Aneignung gibt 108 109
Der Film ist abrufbar unter htttp//:media.aperto.de/google_epic2015_de/html. Entnommen aus der GO SMART Studie 2012, durchgeführt von tns infratest und Trend Büro im Auftrag von Google und der otto group.
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Medienentwicklern wichtige Hinweise auf neue Bedürfnisse. Diese parallel verlaufenden Entwicklungen verstärken sich teilweise wechselseitig und lassen sich entlang von vier Dimensionen, die bereits in der Einleitung erwähnt wurden, beschreiben:
räumlich: Hierzu zählt die oben angedeutete Verfügbarkeit und Präsenz von Medienangeboten an einer Vielzahl öffentlicher Plätze (bspw. WLAN Hot Spots). Zugleich wird durch neue Informations- und Kommunikationstechnologien ein weites Feld an Gelegenheitsstrukturen aufgebaut und die Anwesenheit an bestimmten Orten entbehrlich gemacht. Dies impliziert zudem eine größere zeitliche Flexibilität. zeitlich: Die zeitliche Flexibilität ist somit insbesondere ein Ergebnis von Angebotsausweitungen und damit verbundenen Abruf- und Speicherungsmöglichkeiten. sachlich/inhaltlich: Wenn sich die Wege und Plattformen zur Verbreitung von Medienangeboten vergrößern, wird auch das Themenspektrum umfassender. Diskussionen über die Zulässigkeit von Berichterstattungen nehmen zu. Immer häufiger wird der Bürger in der modernen Gesellschaft mit Fragen konfrontiert, die er sich eigentlich gar nicht stellen wollte. sozial: Medien können als ‚gefräßig‘ bezeichnet werden, weil sie – der Abwechslung bzw. Diskontinuität verpflichtet – gesellschaftliche Trends und Modeerscheinungen gerne aufgreifen, damit Vielfalt dokumentieren und gleichsam den Eindruck einer wachsenden Diversifizierung der Gesellschaft nachhaltig verstärken.
Diese zunehmende Präsenz der Medien und ihre möglichen Auswirkungen werden bevorzugt am Beispiel des Internets dargestellt, vor allem mit Blick auf Kinder und Jugendliche. Mit sieben Jahren haben die Kinder in Schweden und Dänemark zum ersten Mal Kontakt mit dem Internet und führen damit auch die europäische Rangliste an. Die deutschen Kinder folgen mit neun Jahren. Im Alltag gehen die neun bis 16-jährigen europäischen Kinder mit zwei Geräten ins Internet, bei einigen handelt es sich dabei schon um mobile Zweitgeräte. In den nordischen Ländern verfügen die Kinder allgemein über einen, wenn auch geringen, Vorsprung bzgl. eines eigenen Internetzugangs und der Nutzung, was auch mit größeren Fertigkeiten in diesem Bereich einhergehen soll (vgl. Livingstone et al. 2011, S. 21ff.; 131; MPFS 2010). Über diese zunehmende Präsenz des Internets und allgemein der Medien verändert sich die Jugendphase. Treumann u.a. gehen davon aus, dass sich durch die Omnipräsenz der Medien zu dem Einfluss direkter Bezugsgruppen nun verstärkt jener der Medien gesellt. Der Einfluss medialer Vorbilder werde somit relativ zunehmen. Über die veränderte Medienhandlung habe diese auch Auswirkungen auf die Freizeitgestaltung, Alltagskultur oder den Konsum der Jugendlichen (2007, S. 21). Ge-
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rade das Internet nimmt einen zentralen Stellenwert im Leben vieler Jugendlicher ein. Insbesondere social web-Angebote nehmen rasch und stetig an Bedeutung zu. Vor allem die hier gegebenen kommunikativen Möglichkeiten und die Erleichterung der Kontaktpflege zu - in jeglicher Hinsicht - entfernteren Bekannten werden genutzt (vgl. Hasebrink/Lampert 2011, S. 6). Fast die Hälfte der Onlinezeit wird auf Kommunikation verwendet und nach der JIM-Studie 2010 nutzen auch 70% der Jugendlichen solche Plattformen regelmäßig (vgl. MPFS 2010 S. 30). Für viele Jugendliche ist das Internet also eine willkommene und mittlerweile alltägliche Möglichkeit, um in Kontakt zu bleiben. Aber auch der starke Anstieg der Angabe, aus Gewohnheit das Internet zu nutzen, unabhängig von Alter und Geschlecht, scheint dafür zu sprechen, dass aufgrund der steigenden Alltäglichkeit des Internetgebrauchs ein Zustand des ‚Always-In-Touch‘ ebenso immer gewöhnlicher werden kann. Auch hier stellt sich also die Frage, inwieweit die technischen Potenziale auch ausgeschöpft werden. „Am Ende des 20. Jahrhunderts ist mit PC, Handy und E-Mail eine mobile Kommunikation erfunden, dank der man überall erreichbar ist, angerufen werden kann oder selbst anruft und im Flugzeug E-Mails beantwortet.“ (Burda 2010, S. 80). Auch hier muss das Faktische oder Mögliche nicht mit dem Gewollten übereinstimmen. Eher ist es ein Schwanken zwischen Wollen und Müssen. Zugleich steht die Medienforschung vor neuen Herausforderungen. Für die tagesaktuellen Medien lassen sich noch sinnvolle zeitbezogene Nutzungswerte angeben. Für viele Tätigkeiten im Internet ist eine Frage nach ähnlichen Werten (Nutzungsdauer, Zeit online) wenig aussagekräftig und sinnvoll. Vor allem MessengerProgramme und viele andere auf Kommunikation abzielende Angebote laufen eher in einem Zustand des ‚Always-On‘ nebenher und begleiten unbemerkt andere Aktivitäten. Via Push-Funktionen oder ähnlichen Signalgebern melden sie sich unaufgefordert und stören gegebenenfalls andere Abläufe, wenn eine neue Nachricht eingegangen ist (vgl. Ridder/Engel 2010a, S. 530). In der Summe ergibt sich ein ambivalentes Beurteilungsraster, weil sich trotz der Vervielfältigung von Informations- und Unterhaltungsmöglichkeiten, die gerne auch als Reaktion auf das Bedürfnis nach Konsumentensouveränität dargestellt werden, der Eindruck verfestigt, dass die Wahrnehmung dieser Angebote zunehmend unkonzentriert und flüchtig erfolgt, darüber hinaus aber trotz vieler Selektionshilfen von Zufällen lebt und insgesamt ein hohes Maß an kognitiver Energie bindet. Man kann diesen Angeboten ausweichen, aber bereits das Bemühen um Verzicht ist eine Reaktion auf Botschaften unterschiedlichster Art, die sich unaufgefordert in den Vordergrund drängen. Es ist ein deutliches Zeichen für die Eroberung des öffentlichen und privaten Raums durch Medienangebote. Der klassische Mediensektor kann sich dabei nicht auf seinen bisherigen Strategien ausruhen. Er muss reagieren und sich an dem Kampf um Aufmerksamkeit beteiligen. Ein Mehr an Kommunikation ist daher nicht ein primär von Mediennutzern geäußerter Bedarf, sondern das Ergebnis einer Wettbewerbssituation, die sehr
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der Entwicklung auf den Werbemärkten ähnelt. Die nachlassende Wirksamkeit der eingesetzten Stimuli führt nicht zu einer Reduktion, sondern zu noch höheren Investitionen um die Gunst des Kunden. Dieses Inflationsphänomen ähnelt des Weiteren einer Beobachtung, die Boorstin Anfang der 1960er Jahre bezüglich der Kategorie ‚Pseudo-Ereignisse‘110 machte: „[...] erzeugen Pseudo-Ereignisse nach geometrischen Regeln andere Pseudo-Ereignisse. Sie beherrschen unser Bewußtsein ganz einfach deshalb, weil sie mehr und mehr zunehmen.“ (1964, S. 70f.) In diesem gewaltigen Rauschen Wirkungen auf Ursachen zurückführen zu können, ist eine besondere Herausforderung. McQuail hat einmal den Versuch unternommen, Medienwirkungen durch eine Kombination der Dimensionen ‚Intentionalität‘ und ‚Zeit‘ zu systematisieren. Es geht dabei um die Identifikation von geplanten/nicht geplanten bzw. kurzfristigen/langfristigen Effekten. Einen Ausschnitt aus dieser Typologie gibt Abbildung 12.1 wieder. Abbildung 12.1 Medieneffekte unter Berücksichtigung der Dimensionen ‚Intentionalität‘ und ‚Zeit‘ INTENTIONALITÄT geplant
X
Medienkampagnen
X Verbreitung von Nachrichten
Agenda-Setting X
ZEIT
Wissensverteilung in der X Bevölkerung
kurzfristig
langfristig
individuelle X Reaktionen (Nachahmung) kollektive X Reaktionen (Angst, Panik)
X Sozialisation
X Wertewandel
nicht geplant
Quelle: In Anlehnung an McQuail 2005, S. 468 Die berücksichtigten Dimensionen scheinen auf den ersten Blick eine eindeutige Zuordnung von Wirkungsphänomenen zu gewährleisten: Individuelle Reaktionen, z. 110
Siehe zu diesem Begriff auch die Ausführungen in Kapitel 8.
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B. die Imitation eines bestimmten Lebensstils, waren zunächst nicht beabsichtigt und verlieren mit der Zeit an Reiz, kollektive Reaktionen erfolgen häufig unkoordiniert, spontan und verlieren rasch an Impulsivität; Wertewandel dagegen kann wohl kaum ausschließlich als ein nicht-intendierter Effekt bezeichnet werden. Ebenso kann man die unterschiedliche Wissensverteilung in der Bevölkerung nicht nur als eine Absicht der Medienberichterstattung einordnen und Agenda-Setting als Medienanbietern zuzuweisende Intention klassifizieren. Auch wenn Boorstin von geometrischen Regeln spricht, ist die Entscheidung, ob Pseudo-Ereignisse geplant oder nicht geplant sind, ohne Kenntnis des jeweiligen Kontexts schwer zu entscheiden. Wenn es bspw. mit Hilfe einer inszenierten Veranstaltung gelingt, Medienberichterstattung hervorzurufen, können rasch zirkuläre Effekte entstehen, die sich nicht im Sinne des Urhebers entwickeln. Etwas ursprünglich Geplantes entwickelt sich zu etwas Unkalkulierbarem. Angesichts der skizzierten Medienentwicklung ist wohl eher zu erwarten, dass sich diese Zuordnungsproblematik nicht verringern wird, in einer Phase des Umbruchs der gesamten Medienarchitektur aber zunächst mit einer Zunahme ungeplanter Effekte und Überraschungen zu rechnen ist. So bestätigt sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts in noch deutlicherer Weise die Notwendigkeit mehrstufiger Wirkungsmodelle. Im Jahr 1960 schrieb Klapper: „Mass communication ordinarily does not serve as a necessary and sufficient cause of audience effects, but rather functions among and through a nexus of mediating factors and influences, [but] there are certain residual situations in which mass communication seems to produce direct effects […].” (S. 8) In diesem Umfeld wollen Anbieter – wie bereits angedeutet – weiterhin auch Außeralltägliches präsentieren. Sie erzeugen damit beim Publikum Spaß- und Unmutseffekte, Zustimmung und Ablehnung, Ablenkung und Fatalismus. Beobachtung 3: „Casting-Shows, Szene-Partys und ihr mediales Umfeld bringen eine sich permanent regenerierende Klasse von Prominenten auf Zeit hervor, die meistens schnell wieder verschwinden und durch andere ersetzt werden.“ (Pörksen/Krischke 2010b, S. 20) Moderne Gesellschaften werden mit der Existenz von Hierarchien vielfach konfrontiert. Auch das soziale Feld der Prominenz wird davon durch eine Zunahme von Inflationsopfern tangiert. Als Andy Warhol sein Bonmot, in der Zukunft werde „jeder fünfzehn Minuten berühmt sein“ (zitiert nach Gay 2008, S. 515), formulierte, war ihm sicherlich nicht bewusst, dass der Ehrgeiz von Medienschaffenden daraus eine sehr volatile Branche werden ließ. Pörksen und Krischke sprechen bereits von einer ‚Casting-Gesellschaft‘, die ohne Zweifel nicht den Status einer ‚nächsten Gesellschaft‘ (Baecker 2007) erreichen wird, aber als Sonderfall einer Parallelgesellschaft Vergnügen stiften soll, aber zugleich Unbehagen zurücklässt. Garantierten
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früher ‚Daily Soaps‘ noch hohe Einschaltquoten und Zuschauerbindung, erfahren sie nunmehr selbst im übertragenen Sinne die Macht des gesprochenen Wortes. Auf Schulhöfen wird nicht mehr die letzte Folge der Lieblingssendung besprochen, sondern sich über diverse Kandidaten von Shows ausgetauscht (vgl. Seiler 2011, S. 23), die auf den Betrachter wie inszenierte Assessment-Center wirken. Die Vorlieben der Zuschauer haben sich scheinbar gewandelt, und so haben nun andere Formate Konjunktur. Die Bindung von Aufmerksamkeit ist das Erfolgskriterium für Kommunikatoren und Anbieter. Shows wie ‚Das Supertalent‘ bedienen sich hierbei neuer, stark verdichteter Methoden und Tricks. Einerseits beruhen diese Shows auf dem „uralten Prinzip der Freak-Show“, andererseits sind sie ein „Showkonzentrat“ (Niggemeier 2010, S. 33). Durch den Zusammenschnitt vieler verschiedener Casting-Termine, nachträglich eingefügter Einblendungen von dramatisierenden Animationen und Soundeffekten steht die fertige Sendung nur noch in einem diffusen Zusammenhang mit den tatsächlichen Ereignissen. Bisweilen werden einzelne Ereignisse aus jeglichem Kontext gerissen und an anderer Stelle hinzugefügt. Im Kampf um Aufmerksamkeit wird auf Unterhaltung gesetzt. Die Realität wird nunmehr zu einem „Rohstoff, der fast beliebig modelliert werden kann.“ (ebenda) Die überdurchschnittlichen Einschaltquoten sprechen scheinbar für die Wirksamkeit dieser Vorgehensweise. Auf Kritik wird gerne auch damit reagiert, dass es sich ja um bloße Unterhaltung handele und der Zuschauer auch gar kein genaues Abbild der Wirklichkeit fordere oder sich dafür interessiere. Aus einer Verwechslung von Realität und Fiktion, gerade in den unscharfen Übergängen, wurde eine Vermischung nach Prinzip. Man darf daher die berechtigte Frage stellen, wann dieses Prinzip systematisch auf andere Formate übergreift. Aus den früher sogenannten ‚Dokusoaps‘ ist mittlerweile ‚Scripted Reality‘ geworden und im Vorspann zu einer bekannten Nachrichtensendung liegt New York „auf der anderen Seite einer Meerenge bei Madrid. Den ganzen langweiligen Atlantik [...]“ (ebenda) hat man einfach herausgeschnitten. Im Zuge des Kampfes um Aufmerksamkeit seitens der Anbieter scheint es folglich immer wichtiger geworden zu sein, auch selbst verstärkt Aufmerksamkeit walten zu lassen. Die Unterscheidung von Realität und Fiktion wird immer undeutlicher und die Anforderungen zur richtigen Beurteilung seitens der Rezipienten wachsen kontinuierlich. Hinzu kommen die wachsenden Optionen, die sich fortwährend ‚erneuernde‘ Vielfalt des Angebots und die manchmal hektischen Darstellungsformen in den neuen Medien. Laut dem Filmwissenschaftler David Bordwell gehen der schnellere Schnitt, die ständig bewegte Kamera und andere für gegenwärtige visuelle Formate charakteristische Techniken unter anderem darauf zurück, dass man sich mit der Zunahme der Fernsehausstrahlung von Filmen vermehrt Sorgen um die Aufmerksamkeit der Zuschauer machte. Man ging davon aus, dass der durchschnittliche Fernsehzuschauer anderenfalls leicht abgelenkt werden könnte (vgl. Bordwell 2006, S. 150). Jedoch stellt Aufmerksamkeit, vor allem in Form der sogenannten ‚Aufmerksamkeitsspannen‘, bis heute ein schwieriges Forschungsfeld dar (vgl. Zewman
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2010, S. 581f.). Entsprechende empirische Belege sind nicht immer eindeutig zu interpretieren. Der kognitive Aufwand bzw. das Involvement, also unterschiedlich intensive Informationsverarbeitungsprozesse, müssen berücksichtigt werden. Bereits Peter Vorderer hat im Zusammenhang mit Fernsehrezeption auf entsprechende Probleme hingewiesen (vgl. Vorderer 1992). Unterbrochen wird der Kampf um Anerkennung durch Ereignisse, die Dayan und Katz als ‚media events‘ bezeichnet haben. Diese lokalisieren sie insbesondere im Medium Fernsehen und meinen damit ein „[...] new narrative genre that employs the unique potential of the electronic media to command attention universally and simultaneously in order to tell a primordial story about current affairs. These are events that hang a halo over the television set and transform the viewing experience.“ (Dayan/Katz 1996, S. 1) Der Alltag wird unterbrochen, weil der Anlass der Berichterstattung gewissermaßen als Einladung zur vorübergehenden Abkehr von Gewohnheiten dient. Dieses Phänomen tritt ein, wenn bedeutende, im Vorfeld oder im Nachhinein als historisch deklarierte Ereignisse stattfinden (z.B. Mondlandung, Krönungen, große Sportereignisse, dramatische Konflikte). Sie synchronisieren für einen überschaubaren Zeitraum die Aufmerksamkeit einer Vielzahl von Menschen und die Aufmerksamkeit einer Vielzahl von Medienberichterstattern. Vielfalt wird durch Gemeinsamkeit ersetzt, die Live-Berichterstattung erzeugt das Gefühl einer Teilhabe an der Weltgemeinschaft (im positiven und negativen Sinne). Wenngleich auch diese ‚media events‘ zu einem Bestandteil der Medienkonkurrenz geworden sind (Stichworte: exklusive Bilder, Sonderreportagen), sind sie ein Kontrastpunkt zur Normalität und den Routinen des Medienalltags. Diesen Effekt hat Katz wie folgt beschrieben: „With the rapid multiplication of channels, television has all but ceased to function as a shared public space. Except for occasional media events, the nation no longer gathers together.“ (1996, S. 22) Neben solche Effekte und Phänomene auf der Anbieterseite scheint inzwischen aber auch eine Individualisierung des Kampfes um Aufmerksamkeit getreten zu sein. Die Popularität vereinzelter YouTube-Beiträge ist hierfür ebenso ein Beleg wie die scheinbare Mühelosigkeit, mit der sich immer wieder Kandidaten für diverse Casting-Shows finden lassen. In der ‚Casting-Gesellschaft‘ ist die mediale Spiegelung Voraussetzung des möglichen Erfolgs und die Selbstdarstellung wird zu einem der wichtigsten Anliegen. Denn, so Pörksen und Krischke, eine „etwas unheimliche Zahl von Menschen bereitet sich akribisch und mit aller Raffinesse auf den großen Auftritt und den unendlich verführerischen Moment des Gesehen-Werdens vor [...].“ (Pörksen/Krischke 2010a, S. 8f.) Dabei ist es gleichgültig, ob die große Bühne der eigene Blog oder eine entsprechende Fernsehshow ist: „Die mediengerechte Selbstdarstellung und der Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit sind längst Alltag geworden [...].“ (ebenda, S. 9) Die Fragen der Imagepflege und öffentlich ansprechenden Präsentation beschäftigt nicht mehr nur die Prominenz im engeren Sinne. Der Wunsch nach öffentlicher Präsenz wird zu einem engagiert verfolgten Ziel. Das
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Neue an dieser Entwicklung ist weniger die Inszenierung und der Kampf um Aufmerksamkeit, sondern die allgemeine Ausweitung dieser Muster. Pörksen und Krischke unterscheiden hier dementsprechend auch die klassischen ‚Status- und Leistungsprominenten‘ von den ‚Medienprominenten‘ bis hin zu den ‚Netzprominenten‘. Bei dieser Einteilung nimmt der Zusammenhang zwischen Bekanntheit, Leistung, Status und Kompetenz immer weiter ab, um bei den ‚Netzprominenten‘ eigentlich gar nicht mehr zu bestehen. Gegenläufig verhält es sich mit der schieren Anzahl der in eine Kategorie fallenden Personen (vgl. Pörksen/Krischke 2010b, S. 17). Hier wird jedoch auch ersichtlich, dass in dem Millionen-Publikum eben auch Millionen sitzen, die selbst gerne vor einem Millionen-Publikum stehen würden. „Das Ziel einer Casting-Show ist eine Casting-Show“ (ebenda, S. 20) – wodurch alle gewinnen, nur nicht der Gewinner der Show selbst. Da in diesen Nachahmungsprogrammen Devianz, Neid und Argwohn nicht fehlen dürfen, findet eine darauf spezialisierte Beobachtung ebenso zahlreiche Anlässe für bunte und vermischte Nachrichten. Prominenz wird dadurch demokratisiert. Ebenso ist das klassische Feld der Prominenz ausgeweitet worden. Kämpfe um die Grenze zwischen Vorder- und Hinterbühne und Klagen von Prominenten, die um ihre Privatsphäre bangen, sind kein wirklich neues Phänomen. Greta Garbo bspw. machte aus der Geheimhaltung ihres Privatlebens eines ihrer Markenzeichen (vgl. Gundle 2008, S. 174). In dem Oscar-preisgekrönten Film ‚The King’s Speech‘ sagt König George V. am Rande eines Fototermins während einer Radioübertragung: „This devilish device [radio] will change everything... In the past, all a King had to do was look respectable in uniform and not fall off his horse. Now we must invade people’s homes and ingratiate ourselves with them. This family is reduced to those lowest, basest of all creatures...we’ve become...actors!“ – ein weiterer Beleg für die These von Meyrowitz, wonach neue Situationsgeografien neue Informationsumwelten hervorbringen.111 Aber es betrifft in zunehmendem Maße auch die politische Prominenz, weil im Zuge der Ausweitung der politischen Arena der Schutz der Immunität in besonderer Weise herausgefordert wird. Wenn anlässlich der Diskussion um die Veröffentlichung geheimer Dokumente durch die Organisation WikiLeaks festgestellt wurde: „Staaten haben keine Privatsphäre, sie haben Geheimnisse.“ (Rieger 2010, S. 29), wird gleichsam auch angedeutet, dass öffentlich zugängliche Informationen nicht notwendigerweise auch bedeutungsvoll, wichtig oder gar zutreffend sein müssen. Der Reiz, Formen der Arkanpolitik und der Geheimdiplomatie zu entlarven, hat heute in stärkerem Maße Formen des Wettbewerbs angenommen. Der Unmut auf der Seite der Beobachteten existiert seit den Anfängen des Journalismus (vgl. Jäckel 2005, S. 300ff.). Während des amerikanischen Bürgerkrieges beschwerte sich der Überlieferung nach General William T. Sherman über die Reporter, die in seinem Lager auf der Jagd nach Meldungen waren und 111
Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 10.
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Gerüchte als Tatsachen verkauften: „I hate newspapermen. They come into camp and pick up their camp rumors and print them as facts. I regard them as spies, which, in truth, they are.“112
Kissinger’s Leak und historische WikiLeaks-Vorläufer „[...] im vertrauten Gespräch stimmte Kissinger in Nixons Lästereien über die Deutschen ein [...]. Nixon bezichtigte Brandt, ‚ein bisschen dumm’ zu sein und Kissinger pflichtet dem bei: ‚Dumm und faul – und er trinkt’. Bahr nannte Kissinger gegenüber dem amerikanischen Botschafter in Bonn einen ‚oily guy‘. Diese Invektiven drangen aber erst viel später nach außen, ihr Schaden war dann nur noch gering, denn längst waren die beiden Rivalen Bahr und Kissinger zu Freunden geworden." (Hoeres 2010, S. N4) „[...] das Jahr 1699. Zwei Kuriere der Thurn- und Taxisschen Ordinari-Post [...] werden beide von Wegelagerern angehalten, die sich mit Waffengewalt der Depeschen bemächtigen wollen. In den Felleisen der Kuriere finden die Bösewichter genau das, worauf sie es abgesehen haben: eine geheime, wohl zwischen zwei Diplomaten oder Regierungsbeamten geführte Korrespondenz [...] zum politischen Geschehen in Europa [...]. Wer aber ist dieser Auftraggeber? Was will er mit den geraubten Depeschen? Er will sie veröffentlichen! Vollständig und ohne Veränderung lässt er sie, Brief für Brief und Antwort für Antwort, in einer eigens zu diesem Zwecke eingerichteten Zeitschrift abdrucken [...]. Kenner der Branche wissen [...], dass die Briefe nicht wirklich geraubt sind, sondern dass dies nur eine ‚Einkleidung’ ist, um die Zeitschrift besser zu verkaufen. [...] Das Blatt wird ein Erfolg [...]“ (Nagel 2010).
Im Ergebnis haben diese Entwicklungen nicht zu einer Verstärkung des Vertrauens in das Handeln politischer Akteure geführt. Im Gegenteil: Mit der Abnahme des Vertrauens steigt der Wunsch nach privaten oder skandalösen Geschichten, oder eben vermeintlichen Enthüllungen. Ein Mangel an Interesse und fehlende klassische Prominenz werden dann durch entsprechend gestaltete Meldungen kompensiert (Weiß/Groebel 2002, S. 220f.). In den 1990er Jahren wurde die allgemeine Faustregel, dass mit zunehmender Unübersichtlichkeit der Verhältnisse die Berichterstattung ebenfalls intimer werden müsse, zur Handlungsmaxime: „Von innen ist das stahlharte Gehäuse der Gesellschaft plakatiert: mit schönen Gesichtern und pikanten Geschichten.“ (Assheuer, zitiert nach Weiß/Groebel 2002, S. 220). In Zeiten des Internets scheint selbst diese Selektion der Informationen nicht mehr stattzufinden. 112
Entnommen aus der PBS-Dokumentation ‚The Civil War‘ von Ken Burns aus dem Jahr 1990.
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In der ‚Onlinewelt‘ herrscht nach Jaron Lanier die Idee vor, dass Informationen Wahrheiten seien und damit auch eine rein quantitative Zunahme an verfügbaren Informationen die Menschen freier mache (vgl. Lanier 2011, S. 69). Somit wird alles veröffentlicht, was interessieren könnte und sollte - oder auch nicht. Angesichts dieser Entwicklungen könnte man Mertons Bemerkung, „the institution of science makes scepticism a virtue.“ (Merton 1938, S. 334), auch auf den Bereich der Mediennutzung im Sinne einer Empfehlung übertragen. Mit dem in diversen Formen zunehmendem Kampf um Aufmerksamkeit steigt auch die Herausforderung zu entscheiden, was und wem man diese schenken sollte. Jedenfalls kann Christian Morgenstern (1871-1914) und sein Gedicht ‚Der Zeitungsleser‘ auch im Jahr 2011 noch zitiert werden: „‚Unendlich viel geschah just da ich Mensch gewesen.‘ Und was geschah von dir? ‚Von mir? Das, was geschah, zu – lesen.‘“ Beobachtung 4: „Der Mensch kann schwimmen.“ (Winterhoff-Spurk 1994, S. 211) Die zunehmende Verbreitung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, vor allem des Internets, wird heute zwar unter anderen Vorzeichen als in den 1990er Jahren diskutiert (von Ungleichheiten des Zugangs zu Ungleichheiten der Nutzung), aber ein Argument hält sich beharrlich: die Überforderung durch die Informations-‚Flut‘. Die Zunahme von Bildern, Texten, bebilderten Texten und audiovisuellem Material mindert die Wertschätzung von Vielfalt und entwertet damit auch die Bedeutung dieser Informationen. Richard Münch sah in diesem Zusammenhang folgende Parallele: „Die moderne Gesellschaft wird in Zukunft ebenso Strategien zur Bewältigung von Wortinflationen erarbeiten müssen, wie sie Strategien zur Bewältigung von Geldinflationen entwickelt hat.“ (Münch 1995, S. 36) Auch manche Ausführungen Simmels über das bedrückende Gefühl angesichts einer Unzahl von Kulturangeboten ließen sich problemlos auf das erweiterte Medienangebot übertragen (vgl. Simmel 2000 [zuerst 1916], S. 191). In einer Analyse des Begriffs ‚Informationsgesellschaft‘ hieß es bereits 1982: „[...] Voices have multiplied but not ears.“ (Klapp 1982, S. 64) Vieles scheint aber gerade deswegen als problematisch wahrgenommen zu werden, weil es vorwiegend aus der Perspektive der Kompatibilität mit Vorhandenem betrachtet wird. Steven Johnson schlägt darum eine interessante Herangehensweise vor. Man solle sich die Situation einmal unter
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anderen, oder gar umgekehrten Vorzeichen vorstellen. Wäre das Buch nach dem Computerspiel erfunden worden, würde man sich, so seine provokante These, heute vielleicht Sorgen um die dreidimensionale Vorstellungskraft der Kinder machen (vgl. Johnson 2006, S. 33). Die Auswirkungen des schnellen Bedeutungszuwachses des Internets bewertet er dementsprechend auch positiv. Das Internet stelle uns nämlich vor drei kognitiv anregende Herausforderungen: 1) Aufforderung zur Teilnahme; 2) Meisterung neuer Schnittstellen und 3) neuer Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme und -pflege (vgl. ebenda, S. 125f.). Diese positiven Effekte können aber der Anfang neuer ‚Aufmerksamkeitsfallen‘ werden. Am Beispiel der ‚Paradoxie der Bewertungsportale‘ lässt sich dies exemplarisch zeigen. Zur Entscheidungshilfe bei größeren Anschaffungen, Urlaubsreisen oder ähnlichen Situationen wird mittlerweile fast schon selbstverständlich auf Erfahrungsberichte anderer Nutzer und Käufer zurückgegriffen, vorzugsweise auf Bewertungsportalen. Man erhält so zwar einerseits viele weitere Informationen, kann Eindrücke, Impressionen, über Bedenkliches und Vorteilhaftes lesen und gegebenenfalls sogar verschiedene Produkte miteinander vergleichen, doch wirklich leichter fällt damit die Entscheidungsfindung meist nicht. Eher wird das Anforderungsniveau erhöht. Durch die Vielzahl zusätzlicher Informationen fühlt man sich zwar einerseits besser informiert und somit mächtiger in der Entscheidungssituation. Doch weiß man mitunter nicht mehr, welche der Merkmale und technischen Details nun für den eigenen Bedarf entscheidend sind und welchen Informationen und Wertungen man wie viel Vertrauen entgegenbringen kann. Lanier formulierte dieses Dilemma wie folgt: „Ein Problem besteht darin, daß Informationen in ozeanischem Ausmaß nicht nur Dinge klären und Menschen ermächtigen können; sie können ebenso gut verwirren und aus der Bahn werfen, selbst wenn sie richtig sind.“ (2011, S. 72) Für die Nutzer wird somit die Zweckbindung von Informationen zu einer Herausforderung. Angesichts der Dominanz einer Argumentation, die mit der Vervielfachung von Angeboten deren Entwertung steigen sieht, wird gerade der Glaubwürdigkeit und dem Vertrauen eine große Bedeutung zukommen. Diese Feststellung ist auch Bestandteil einer provozierenden These, die der Philosoph Mittelstraß den euphorischen Begleithymen für die Informationsgesellschaft entgegen hält: „Die Chancen für eine neue Dummheit stehen nicht schlecht.“ (Mittelstraß 1996, S. 535) Die Frage ist also, inwieweit man mit den Informationen und neuen Optionen effektiv und effizient umgehen kann, inwieweit man befähigt ist, diese für sich zu nutzen. In den Fokus rückt daher erneut die Medienkompetenz. Noch mehr als bisher kommt es auf das „richtige Maß zwischen Teilnahme und Zwang, Nachahmung und Distinktion, Information und Ignoranz“ (Jäckel/Fröhlich 2011 (im Erscheinen)) an. Mit dem Begriff der Medienkompetenz ist mithin nicht bloß technische Fertigkeit und Übung im Umgang mit Medien gemeint, sondern ein differenzierter Umgang mit den Herausforderungen der Menge und die Herausbildung von zufriedenstellenden Aneignungsstrategien von Inhalten (vgl. hierzu allgemein Jäckel/Fröhlich 2011).
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Die Vorstellung, dass die neuen Informationswelten ein „paradiesisches Reich des Wissens ohne mühsame Lernprozesse“ (Mittelstraß 1996, S. 536) darstellen werden, sei trügerisch. Die dazu nötigen Kompetenzen müssen wohl erst erarbeitet werden. Die Wahrung einer angemessenen Balance zwischen „Originalwissen“ und „Wissen darüber, wie man sich Originalwissen verschaffen könnte“ (Schulze 1994, S. 339), ist jedenfalls angesichts der stetig wachsenden und immer zugänglicheren Datenbanken, Archive und Dokumentationen nicht einfach. In Informationsgesellschaften treten „an die Stelle eigener Wissensbildungskompetenzen Verarbeitungskompetenzen und das Vertrauen darauf, daß die Information ‚stimmt‘. Es macht wenig Sinn, vor dem Bildschirm den Skeptiker zu spielen. Informationen muß man vertrauen, wenn man das über die Information transportierte Wissen nicht prüfen kann.“ (Mittelstraß 1996, S. 536) Unter den mit den neuen technologischen Entwicklungen einhergehenden Formen der Wissensordnung stellt Wikipedia ein besonders aufschlussreiches Beispiel dar. Durch die damit gegebenen Besonderheiten bezüglich Generierung, Organisation und vor allem Distribution von Wissen wird es immer schwieriger, dieses exklusiv zu halten. Mit einer Erweiterung des Informationsangebots geht auch ein Verlust an Exklusivität einher. Dies spiegelt sich in verschiedenen Bereichen wider. Originelle Ideen treffen auf ein besonders kritisches Umfeld und es bedarf besonderer Energien, um sich argumentativ durchzusetzen. Ideen wird kaum Zeit für Entfaltung gelassen. Sie gehen stattdessen auf in einer Vielzahl von Kommentaren, Gegenreden und -entwürfen. Auch das ist eine Form der Fragmentierung des Wissens, weil dem Original seine Exklusivität abhanden kommt und Aufmerksamkeit diffundiert. Im Umgang mit Informationen wird es also hinsichtlich der gegenwärtigen und zukünftigen Entwicklungen darauf ankommen, inwieweit entsprechende Medienkompetenzen entwickelt und gefördert werden können. In der Flut von Informationen bedarf es der sinnvollen Bewertung, Selektion und Verwertung von Informationen, um nicht dem Gefühl der Überforderung anheim zu fallen. Wenn die „Antwort der Psychologie auf Postmans [...] Befürchtung ‚Wir ertrinken‘ [...]: Der Mensch kann schwimmen.“ (Winterhoff-Spurk 1994, S. 211) ist, dann sollte noch hinzugefügt werden: Aber auch das will gelernt sein. Beobachtung 5: „Die Qualitätsanforderungen an die öffentliche Kommunikation ziehen sich seit der Aufklärung durch die ganze Moderne hindurch, rechtfertigen bis heute die Freiheiten der Medien und lassen sich auf einen präzisen Kanon bringen: Es geht um die Prinzipien der Universalität, Ausgewogenheit, Objektivität und Relevanz.“ (Imhof, zitiert nach Stadler 2010, S. 28) Gerade der investigative Journalismus orientiert sich an dem Leitbild intensiver und zeitraubender Recherchen, er wägt Informationen sorgfältig ab, bedient sich dazu
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geeigneter Hilfsmittel und vermittelt damit an das Publikum den Anspruch von Ausgewogenheit und Objektivität. Journalistische Berichterstattung verfolgt hier auch die Funktion der Unterstützung und Orientierung angesichts der Informationsflut und will dadurch durchaus auch beim ‚Schwimmen lernen‘ helfen. Tatsächlich ist das Hauptnutzungsmotiv der Tageszeitung auch ‚sich informieren‘, und zwar unabhängig von soziodemografischen Merkmalen. Allerdings holt genau hier auch das Internet als neues Informationsmedium auf (vgl. Ridder/Engel 2010b, S. 538). Das Internet wird im Direktvergleich mit den anderen Medien auch zunehmend als anspruchsvoll und informativ eingeschätzt. Bezüglich Merkmalen wie Aktualität liegt es deutlich vor der Tageszeitung und hinsichtlich der Vielseitigkeit wird es nur noch von dem Fernsehen übertroffen (vgl. ebenda, S. 540ff.). Insgesamt zeigt sich, dass Internetnutzung sehr unterschiedliche Dinge umfassen kann und Angebote in Anspruch genommen werden, deren Nutzung zunächst gar nicht intendiert war. So konsultiert man häufig eben auch Seiten von Medienanbietern. Das Internet ist aus diesem Grund eine Plattform, die die Konvergenz der Medien vorantreibt. Die klassischen Medien nutzen diese weiteren Verbreitungswege und stellen zusätzlich immer mehr Angebote online zur Verfügung. Die Internetnutzer, vor allem die Jüngeren, erwarten dies mittlerweile überdies. Trotz der Bedeutungszunahme des Internets erfolgt ein Großteil der Informationsnutzung immer noch über die traditionellen Empfangswege. Die gedankliche Assoziation zwischen Medieninhalten und entsprechenden Endgeräten scheint also auch weiterhin stark zu sein. Die Sorge einer Verdrängung der klassischen Medien durch das Internet scheint also eher in Richtung einer Komplementarität und Konvergenz korrigiert werden zu müssen. Das Internet konkurriert zwar stellenweise im Sinne einer Substitution bezüglich der zeitlichen Dimension mit den anderen Medien, kann gleichzeitig aber auch dazu dienen, über komplementäre Nischennutzung deren traditionelle Medieninhalte weiter zu verbreiten und orts- und zeitunabhängiger zugänglich zu machen (vgl. Ridder/Engel 2010a, S. 524ff.). Die Konditionen, unter denen diese Formen des Zugriffs auf Informationen möglich sind, werden gegenwärtig noch in sehr unterschiedlichen Kombinationen realisiert (Preis- und Mengenvariationen, kostenlose und kostenpflichtige Elemente). Es stellt sich somit nicht nur die Frage, wie man mit der neuen Quantität der Informationen umgehen soll, sondern auch, woher und zu welchem Preis man sie erhält. Warum die Zugänglichkeit und Verfügbarkeit von Informationen gegeben ist, wird von den Endnutzern in der Regel nicht kontinuierlich hinterfragt, sondern als Normalität im Prozess kontinuierlicher Nachrichtenflüsse wahrgenommen. Falschmeldungen, versuchte Manipulationen und Einflussnahmen auf die Berichterstattung sind Teil des Informationsalltags und beeinflussen das Image des Journalismus. Auch hier richten sich viele Hoffnungen auf das Internet (vgl. Stalder 2011, S. 104).
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Entsprechend konnten auch politische Blogs oder andere nachrichtenorientierte, unabhängige Angebote im Internet auf sich aufmerksam machen. Nachrichten werden nicht mehr alleine über ein Medium rezipiert, sie werden vermehrt in einen weiteren Kontext eingebunden. Darüber hinaus werden die Kommentierungen interessierender Meldungen als weiterführende Information genutzt.113 Das Internet bietet außerdem die Möglichkeit einer gezielten Informationssuche. Damit mag der Gegensatz zwischen der Partikularisierung des Wissens und der ‚technologischen‘ Integration (vgl. Mittelstraß 1996, S. 537) weiterhin ein Problem sein. Aber in dem Recherchieren selbst entdecken Rezipienten eine neue Qualität im Umgang mit Informationen, Medienplattformen eröffnen über ihre Suchfunktionen ein mehr oder minder umfassendes Wissensgebiet. Das Gefühl, sich etwas selbst zu erschließen, wird dadurch gesteigert, wenngleich die Transparenz der im Hintergrund ablaufenden Suchregeln zumeist nicht gegeben ist. Aber das gilt im Grunde genommen auch für den klassischen Journalismus. Zudem wird die Möglichkeit genutzt, sich selbst aktiv an der Produktion von Inhalten zu beteiligen (vgl. Ridder/Engel 2010a, S. 531). Dies kann über private Blogs geschehen oder teilweise auch über Phänomene wie ‚Bürgerjournalismus‘. Aber Hierarchiebildungen sind auch hier erkennbar. Blogcharts werden zu einer Art Hitliste von Aufmerksamkeit. Sie ersetzen die traditionellen Medien nicht, sondern stehen in regem Austausch mit ihnen. Die Mehrzahl hingegen erweist sich als ergänzender und begleitender Voice-Kanal. Daher bleibt der Journalismus, in welchen Konstellationen auch immer, aufgrund seiner Möglichkeiten der Aufbereitung und Hintergrundrecherche als professionelle Instanz bedeutend (siehe auch Stalder 2011, S. 104). Beobachtung 6: „Die Analyse [...] zeigt, dass selbst auf YouTube die beliebtesten Inhalte nicht nutzergeneriert sind.“ (Stipp 2009, S. 230) Definiert man sekundäre Leistungsrollen als „Art aktivistischer Alternative zu reiner Publikumsrolle“ (Stichweh 2005, S. 35), dann kann man viele der gerade beschriebenen Phänomene als solche begreifen. Rudolf Stichweh geht hier von dem dualen Konzept von Leistungsrolle und Publikumsrolle aus und zeigt auf, dass sekundäre Leistungsrollen zwar als ‚Selbsthilfe‘ organisiert, aber nicht obligatorisch gestaltet sind und sich somit auch durch ihre Instabilität auszeichnen. Da in den sekundären Leistungsrollen das Verhalten der Träger primärer Leistungsrollen bis zu einem gewissen Grad simuliert wird, was sich an dem Beispiel des Journalismus gut zeigen lässt, bedarf es entsprechend auch eines Publikums. Allerdings sind sie aufgrund der aufgeführten Eigenschaften in geringerem Umfang in der Lage, Kompetenzbereiche 113
Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 6.
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zu etablieren und Loyalität zu generieren. Das Publikum neigt entsprechend dazu, sich schneller wieder abzuwenden, um sich dafür erneut den primären Leistungsrollenträgern zuzuwenden. Wobei hier vergleichsweise geringere Probleme als Auslöser einer Abwanderung ausreichen (vgl. Stichweh 2005, S. 35ff.). Trotz dieser Schwierigkeiten scheinen solche aktivistischen Alternativen aber genügend Anreize zu bieten, um vermehrt als Option erkannt und ergriffen zu werden. Als Gründe für die Wahrnehmung einer sekundären Leistungsrolle nennt Stichweh vor allem die wahrgenommene Direktheit der Handlungs- und Einflussmöglichkeiten, die über den Beobachterstatus hinausgeht. Angesichts der abstrakten Funktionssysteme erhofft man sich so die Etablierung einer korrigierenden Instanz (vgl. ebenda, sowie S. 85f.). Im Vergleich hierzu sieht Stichweh die Optionen Exit und Voice also als eher indirekte Kanalisierungen an. Die Verwendung dieser Begriffe lässt eine Nähe zu den Überlegungen Albert O. Hirschmans erkennen. Er ging allgemein davon aus, dass Verbraucher (im hiesigen Fall die Rezipienten) grundsätzlich zwischen zwei Reaktionsformen auf Unzufriedenheit und Enttäuschung wählen können: Zum einen die Möglichkeit der Abwanderung (Exit), zum anderen die Option Widerspruch (Voice), die „von privaten Mängelrügen [...] bis zur Beteiligung an öffentlichen Aktionen im Interesse der Allgemeinheit reichen.“ (Hirschman 1988, S. 72; allgemein Hirschman 1970, Kapitel 2 und 3) Es ist offensichtlich, dass es sich hier um aktive Reaktionen handelt. Hirschman schließt zwar bei Voice auch Formen des kleineren Protestes ausdrücklich mit ein, geht im Weiteren aber hauptsächlich von einem Übergang zu öffentlichen Aktivitäten aus (vgl. Hirschman 1988). Im Hinblick auf die Mediennutzung scheint es jedoch sinnvoller zu sein, von einer differenzierteren Abstufung der Phänomene auszugehen. Für die Exit-Option lässt sich am Beispiel der Fernsehnichtnutzer gut zeigen, dass es sich hier um unterschiedliche Grade der Nichtnutzung handelt. So sind die generellen Nichtfernseher eine kleine Gruppe, die man mit modernen Asketen vergleichen könnte. Darüber hinaus gibt es aber auch gemäßigtere Ausstiegsformen, wie die Einführung eines fernsehfreien Tages als eine Art ‚Insel‘ in der Mediennutzung. Auch Voice kann sich in sehr unterschiedlicher Form ausdrücken. Aus der Summe der Medienangebote treten immer wieder kontroverse Fälle hervor. Meistens wird daraus entstehende Medienkritik auch in das tägliche Medienangebot selbst übernommen. Die Medien kanalisieren die Kritik an ihnen also selbst durch Integration. Das Publikum hat nun die Wahl, ob es diese ‚Selbstkontrolle‘ annimmt und die Kritikerposition quasi den Medien überträgt (vgl. Jäckel 2008, S. 181ff.); Schulze veranlasste diese Delegation zu der Metapher, dass der Kunde bzw. das Publikum „sein Zepter dem Hofnarren“ (1995, S. 372) übergebe. Das Zepter impliziert dabei, dass es eigentlich die Macht hat, entscheidende Eingriffe in die Medienlandschaft vorzunehmen. Dies führte teilweise zu einer Idealisierung der Publikumssouveränität, wie bei Bourdieu, der die Einschaltquoten als „das göttliche Gericht“ (Bourdieu 1998, S. 36) bezeichnete. Allerdings scheint es angesichts der vielen verschiedenen Interessen, Enttäuschungsgründe,
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Geschmäcker und der je spezifischen Mischung aus Kritik und Indifferenz schwer vorstellbar, dass sich das Publikum dauerhaft organisieren kann. Diese höhere Komplexität in der Äußerung von Widerspruch sah Hirschman bereits und verwies auf die oft nötige institutionelle Unterstützung (vgl. Hirschman 1970, S. 77). Hier sieht man nun, dass die Kategorien Hirschmans mit den sekundären Leistungsrollen von Stichweh einige Überschneidungspunkte aufweisen, sich also nicht ausschließen. Die bezüglich der Medienkritik als Voice-Option in Frage kommenden Organisationsformen, wie Publikumsverbände, weisen ähnliche Merkmale und damit Probleme auf. Tatsächlich sind solche Gruppierungen in Deutschland wenig einflussreich und fokussieren meist auch auf einzelne Thematiken bzw. vertreten bestimmte ideologische Standpunkte. Voice tritt somit zumeist als ‚Begleitrauschen‘ auf, das sich angesichts der Medienvielfalt eher in ‚Gelegenheitsreaktionen‘ äußert (vgl. Jäckel 2008, S. 188ff.). Die meisten deutschen Internetnutzer empfinden die Möglichkeit eines kommunikativen Zugangs zu der Öffentlichkeit über partizipative Angebote und eigene Publikationen auch als ‚gar nicht interessant‘ (59%), nur sieben Prozent wählen hier ‚sehr interessant‘ als für sie zutreffend (vgl. Busemann/Gscheidle 2010, S. 360); obwohl gerade über das Internet eine Vernetzung des (dispersen) Publikums und somit seine Organisation einfacher möglich sein sollte. Teilweise zeigt sich eine solche Entwicklung auch bereits bei Bewertungsportalen, die mithilfe einer Vielzahl gesammelter privater Rezensionen und Kritiken die Markttransparenz erhöhen wollen (vgl. Neuberger/Quandt 2010, S. 68). Auch der Gedanke des wirkungsvollen Feedback spielt hier eine wichtige Rolle. Die Voice-Option beinhaltet schließlich immer noch die Hoffnung, dass man etwas bewirken könne. Da mittlerweile auch jeder ohne größeren Aufwand im Internet selbst publizieren kann, mehren sich auch die Personen, die davon Gebrauch machen. Die Diskussion über den aktiven Konsumenten im Feld der Medienrezeption, die im Kontext des Nutzen- und Belohnungsansatzes anzusiedeln ist, wird daher vermehrt durch eine Diskussion über neue „Produktionsöffentlichkeiten“ überlagert. Dieser Begriff, der auf Kluge und Negt (1972, S. 35ff.) zurückgeht, wird von Baecker über den Bereich von Politik und Herrschaft „auf alles, was kommentierbar ist, auf die Gesellschaft insgesamt“ (Baecker 2004, S. 7) ausgedehnt. Das Web 2.0, im besonderen Weblogs (vgl. als allgemeinen Überblick Franzmann 2009), stellen zu einer Vielzahl von Themen eine Art Online-Tagebuch bereit, das durch weitergehende Hinweise zu anderen Informationsquellen ergänzt werden kann. Der klassische Journalismus greift mittlerweile auch vermehrt auf solche privaten Angebote zurück, bspw. um die Einbindung von Augenzeugenberichten schneller realisieren zu können. Solche Formen der Artikulation seitens des Publikums scheinen auch an Bedeutung zu gewinnen (vgl. Neuberger/Quandt 2010, S. 68f.). Allerdings ist hier ebenfalls eine Differenzierung angebracht. So werden die Gründe und Ausformungen der Partizipation unterschiedlich ausfallen. Strebt der eine aus Enttäuschung und Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Berichterstattung die Übernahme einer sekundären Leistungsrolle an, hat der
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andere vielleicht keine solchen semiprofessionellen Ambitionen und möchte sich nur ungezwungen austauschen, wohingegen mancher ohne derartige Intentionen vielleicht dennoch zu einer gefragten Figur der Online-Kommunikation wurde. Für eine solche Unterscheidung sprechen auch Befunde, wonach organisierte Blogs und Nutzerplattformen höhere Reichweiten besitzen als die klassischen social networkPlattformen, die zumeist auch Themen von geringerem Nachrichtenwert behandeln (vgl. ebenda).
Eine rechtliche Frage für den Stadtrat in Lake Oswego: Wer ist ein Journalist - wer nicht? „Recently, a media and government work group drew up a potential model policy defining who is a journalist, and therefore allowed to attend closeddoor city council meetings - called executive sessions [...]The issue came up two years ago when Mark Bunster, who writes as Torrid Joe for the political blog Loaded Orygun, tried to attend an executive session. Unsure whether a blogger would mind the state’s no-reporting rule, the city council, which has changed since this occasion, asked Bunster to leave. They said his lack of institutional affiliation made it impossible to penalize him if he failed to respect or understand the law. [...]To address non-traditional media, there is a two-part test. First, it must be organized and regularly publishing, broadcasting or transmitting news that reports on local government. Second, it must be “institutionalized” and committed to uphold the law regarding executive session. Institutionalized is defined to mean that an entity must have multiple personnel, must have names and contact information of personnel readily available and has a process for correcting errors.“ (Randall 2010)
Nichtsdestotrotz erhoffen sich einige durch die erleichterten Voice-Optionen eine Belebung der medialen Sphäre. Dem Publikum könne weltweit eine größere Bandbreite an Meinungen und Sichtweisen zugänglich gemacht werden. Auch hier findet von manchen Seiten eine Verklärung der Möglichkeiten statt, wenn von Idealbildern des journalistisch tätigen Bürgers oder einer von den Nutzern geführten Neuerfindung des Journalismus gesprochen wird (vgl. Flew 2009, S. 988f.). Unbestreitbar ist jedoch, dass die Abgrenzung des professionellen Journalismus schwieriger wird. Knight sieht hier vor allem die Kriterien des normgeleiteten Arbeitens und etablierte Qualitätsstandards als entscheidend an (vgl. Knight 2008, S. 123). Überschneidungen der sekundären Leistungsrollen mit den verschiedenen Voice-Abstufungen scheinen also gerade im Bereich der informations- und nachrichtenorientierten Onlinekommunikation zu interessanten Phänomenen zu führen. Die mögliche Band-
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breite reicht hier von Rezensionen und privaten Blogs bis hin zu OnlineJournalismus. Beobachtung 7: „There’s No Such Thing as a Free Lunch.“ (Friedman 1975) Engagement ist also ungleich verteilt. Das kann in Leistungsgesellschaften auch gar nicht anders sein. Hier gilt immer noch die Vorstellung, dass, wenn man auf Märkten erfolgreich sein möchte, etwas investiert werden muss. Gegen eine ausufernde ‚Free‘-Mentalität wird eben immer wieder auch vorgebracht, dass nichts wirklich umsonst sein kann. Das ‚Free Lunch‘-Beispiel des amerikanischen Ökonomen und Nobelpreisträgers Milton Friedman (1912-2006) steht aus diesem Grund auch am Anfang weniger Ausführungen zu den Leitmedien der Zukunft, also zur Zukunft der Anbieterseite. Die Taktfrequenzen des heutigen Journalismus, der keinen wirklichen Redaktionsschluss mehr kennt, der Kampf um die Werbeeinnahmen und die sinkenden Verkaufsauflagen werfen viele Fragen auf (vgl. Röper 2010). Gibt es auch zukünftig noch Leitmedien, wie steht es um den Qualitätsjournalismus und wie wird sich der Journalismus als Institution entwickeln? In den Vereinigten Staaten von Amerika ist der Druck auf die Print-Medien besonders ausgeprägt und viele berufen sich auf dortige Verhältnisse als mahnendes Beispiel für die möglichen Entwicklungen in der Medienlandschaft Deutschlands und anderer europäischer Länder. Stephan Ruß-Mohl hat eine ausführliche Analyse der US-amerikanischen Situation vorgenommen und verschiedene langfristige Entwicklungstrends herausgearbeitet. So fand ein stetiger Auflagenrückgang zusammen mit einer vermehrten Abwanderung der Leserschaft in das Internet statt. Dementsprechend haben die Anbieter hinsichtlich der Finanzierung mit rückläufigen Werbeeinnahmen und nachlassender Zahlungsbereitschaft seitens der Kunden zu kämpfen. Ebenfalls im Rückgang begriffen sind die Redaktionsgröße und die den Medien zugeschriebene Glaubwürdigkeit (vgl. Ruß-Mohl 2009a, 22ff.). Die Einsparungsversuche bei den Lohnkosten führten zu sogenannten ‚Redaktionspools‘ oder Kooperationszusammenschlüssen (vgl. Röper 2010, S. 218f.). Das wachsende Glaubwürdigkeitsdefizit stellt für die klassischen Printmedien ein besonderes Problem dar, denn die Leser beziehen sich in dieser Einschätzung auf die Gesamtheit der Angebote. Es wird also nur geringfügig in Betracht gezogen, um was für eine Zeitung es sich bspw. handelt. „Das ist im Grunde eine gänzlich unverdiente, schallende Ohrfeige für alle Redaktionen, die sich redlich um Seriosität bemühen.“ (Ruß-Mohl 2009a, S. 27) Das Internet spielt in dieser Entwicklung eine entscheidende Rolle. Die kostenlose Verfügbarkeit von Informationen stellt eine zentrale Idee des Internets dar. Viele Nutzer erwarten daher auch eine entsprechende Bereitstellung von Nachrichten. Diese werden heute nicht mehr nur über die klassischen Medien bezogen, sondern vermehrt über Suchmaschinen und Nachrichtenportale. Gerade in der jüngeren
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Generation konnte sich das Internet als wichtige Informationsquelle etablieren (vgl. van Eimeren/Ridder 2011, S. 9f.; mindline media 2008). Besonders NachrichtenBlogs werden hier vor allem als Konkurrenten der Zeitungen diskutiert. Ursprünglich waren Weblogs gedacht als „Log- bzw. Tagebücher im Internet, die sich überwiegend einer Person oder einem Thema widmen und die regelmäßig aktualisiert werden.“ (Franzmann 2009, S. 9). Obwohl man sie im Jahr 2011 nicht mehr als neu bezeichnen kann, stieg die Popularität mit kostengünstigen Zugriffs- und Verbreitungstechnologien. Damit wurde es prinzipiell jedem möglich, ohne größeren Aufwand etwas im Internet zu publizieren. Mittlerweile ist dazu nicht einmal mehr der Zugriff auf einen Computer von Nöten. Die genaue Anzahl der Weblogs kann zwar nur schwer geschätzt werden, jedoch kann man auf verschiedene etablierte Blog-Suchmaschinen zurückgreifen, auf denen wenigstens Zahlen für registrierte Angebote erhältlich sind. Bei einem der größten US-amerikanischen Dienste dieser Art hat sich die Zahl der Weblogs von den Jahren 2006 bis 2008 mehr als verdreifacht auf 184 Millionen (vgl. Neuberger/Quandt 2010, S: 63; Franzmann 2009, S. 9f.). Auch eine Beschränkung auf politische Blogs zeigt, dass die traditionellen Nachrichtenanbieter „das Monopol auf Nachrichten, das sie jahrhundertelang besaßen, verloren haben.“ (Burda 2010, S. 166) Wie schon gezeigt wurde, spielen diverse Web 2.0-Dienste gerade im Bereich der Breaking News114 und Augenzeugenberichte eine wichtige Rolle115 und werden hier immer häufiger von den etablierten Nachrichtenangeboten selbst einbezogen. Seitens des Publikums werden besonders die Aktualität und angenommene Unabhängigkeit der Internetangebote geschätzt und stellen einen entscheidenden Vorteil dieser dar (vgl. Ridder/Engel 2010b, S. 524ff.). Die Redaktionen der Tageszeitungen haben hier im Bereich der Printangebote aufgrund der typischen Erscheinungszyklen keinen besonderen Spielraum. Sie reagierten daher mit der Bereitstellung ihres Angebots auf eigenen Websites. Durch den Ausbau der Online-Angebote sollen einerseits die sinkenden Einnahmen des Printgeschäftes kompensiert werden und andererseits die Leser mittels bereitgestellter Diskussionsforen und ähnlichen Partizipationsangeboten gebunden werden (vgl. Ruß-Mohl 2009b, S. 266ff.). Die Abwanderung des Publikums soll umgelenkt werden in eine Abwanderung von dem bisherigen Format, nicht von dem Anbieter als solchem. Mittlerweile gehört bspw. der vielfache Hinweis auf diese Plattformen zu den Standardsätzen jeder Nachrichtensendung im Fernsehen. Die Neuorientierung und Anpassung an den Wandel des Informationsverhaltens fällt formalen Organisationen in der Regel nicht leicht. Aber diese Strategien scheinen nicht nur unausweichlich, sondern sie werden auch goutiert. Es zeigt sich, dass die traditionellen Kanäle immer noch die Hauptquelle für Informationen dar114
Breaking News sind Meldungen, die aufgrund ihrer besonderen Wichtigkeit dazu geeignet sind, den gewohnten Nachrichtenzyklus und die obligate Berichterstattung zu unterbrechen. 115 Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 6.
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stellen und Onlinenachrichten von den meisten ihrer Nutzer eindeutig als komplementäre Angebote zu eben diesen gesehen werden (vgl. van Eimeren/Ridder 2011, S. 10). Als Zweitquelle werden Zusatzangebote im Internet konsultiert. In Anlehnung an Neuberger und Quandt können die möglichen Konstellationen entlang eines Beziehungsdreiecks betrachtet werden, das professionelle, partizipative und technische Anbieter verbindet. Sollten die einzelnen Anbieter hier identische Angebote vorzuweisen haben und somit gewissermaßen austauschbar sein, treten sie aufgrund dieser ‚Identität‘ in Konkurrenz zueinander. Ein anderer Fall wäre die ‚Integration‘, bspw. durch Einbeziehung von Leserreportern, und schließlich ‚Komplementarität‘. In diesem Fall ergänzen sich zum Beispiel Blogger und Journalisten. Dies kann von der einfachen wechselseitigen Bezugnahme und Kommentierung bis zur Bereitstellung weiterführender Informationen oder gar gezielten Überwachung und Kritik mittels sogenannter ‚Watchblogs‘ geschehen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang unter anderem die Möglichkeit der Anschlusskommunikation (vgl. Neuberger/Quandt 2010, S. 71f.). Hier verstärkt sich auch der Eindruck, dass Medienangebote nicht mehr im Sinne fertiger Produkte wahrgenommen werden, sondern als auslösende Impulsgeber, dem ‚Ausschläge‘ in unterschiedlicher Intensität folgen. Eigner hat Weblogs daher als ein „Oszillationsmedium“ (2003, S. 122) bezeichnet. Die Motivationen, sich an solchen Formen des Austauschs zu beteiligen, sind vielfältig und – aus hier bereits erörterten Gründen – unterschiedlich intensiv. Zudem kann nicht jeder Weblog in Anspruch nehmen, ein kritisches Korrektiv zur veröffentlichten Meinung zu sein. Es ist auch berechtigt zu fragen, ob die meisten überhaupt diesen Anspruch an sich selbst stellen. In der Diskussion über Blogs und ihre Auswirkungen auf den Journalismus wird eher selten auf die Blogs selbst Bezug genommen. Dies mag gleichzeitig Ursache und Folge der Tatsache sein, dass es wenig repräsentatives Datenmaterial zu den Motivationen, Intentionen und Anschauungen der Blogger gibt. Angesichts des ihnen zugeschriebenen Bedrohungspotenzials wären hier weitere Untersuchungen wünschenswert. Die wenigen verfügbaren Analysen weisen jedoch in eine eindeutige Richtung und entsprechen sich in den erhobenen Anteilswerten so deutlich, dass sie wenigstens als Hinweis dienen können. Unbestritten ist, dass die überwältigende Mehrheit der Blogger dieser Tätigkeit zum Zweck der Selbstdarstellung nachgeht und nicht zur Informations- oder Meinungsverbreitung. Die große Mehrheit schreibt einfach gerne und möchte eigene Ideen und Erlebnisse dokumentieren, was auch der ursprünglichen Idee der Blogs entspricht (vgl. Franzmann 2009, S. 14). Weniger als die Hälfte gibt an, politische Themen kommentieren zu wollen, und gerade einmal ein Drittel möchte das eigene Wissen, auf einem meist speziellen Themengebiet, anderen zugänglich machen. Untersuchungen, die gezielt den journalistischen Aspekt integrierten, ergaben, dass immerhin 35% Themen aufgreifen möchten, die in den traditionellen Medien zu wenig behandelt würden. Daher sehen auch die wenigsten die breite Öffentlichkeit, also ein Massenpublikum, als ihre Leserschaft an. Etwas mehr als die Hälfte denkt
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dabei an Gleichgesinnte, etwas weniger sehen ihre Freunde und Bekannte als Zielgruppe und 34% möchten die Gesamtheit der Internetnutzer erreichen. Das spiegelt sich eindeutig in den behandelten Themenspektren wider. Das eigene Leben und persönliche Erfahrungen stehen im Vordergrund. Gerade einmal elf Prozent widmen sich politischer Themen und fünf Prozent aktuellen Nachrichten und Ereignissen. Normen und Standards des traditionellen Journalismus als solche werden in ihrer Bedeutung ernst genommen. Immerhin geben ein Drittel der Blog-Betreiber an, ihre Meldungen zu prüfen, Quellen anzugeben und manche bemühen sich auch um nachträgliche Fehlerkorrekturen. Die meisten dieser Daten beziehen sich allerdings auf die Vereinigten Staaten (vgl. Neuberger u.a. 2007, S. 102ff.; allgemein Franzmann 2009). Für Deutschland stellt sich die Situation aufgrund der weniger entwickelten Blogkultur etwas anders dar. Auffallend ist, dass ein großer Teil der Blogger einen journalistischen Hintergrund aufweist. Ungefähr 40% verfügen über entsprechende Berufserfahrung (vgl. ebenda, S. 106). Viele jener Blogs, die als einflussreich und wichtig angesehen werden können, weisen auch einen solchen Hintergrund auf und wurden von professionellen Journalisten gegründet. Der Journalist wird somit zu einer personalisierten Marke. Diese Hinweise belegen, dass qualitativ hochwertige Angebote nicht zu ersetzen sind. Die meisten Blogger nehmen selbst wieder eine Publikumsrolle ein. Sie kommentieren Nachrichten und weisen auf weitere Informationen hin. In vielen Fällen besteht somit eine Abhängigkeit von den traditionellen Medien, wie sich leicht an den Verlinkungen und Quellenangaben der meisten Blogs empirisch zeigen lässt. Hier wird also hauptsächlich eine Plattform für Anschlusskommunikation bereitgestellt. Journalisten nutzen sie daher auch zur Aufspürung relevanter Themengebiete (vgl. Neuberger u.a. 2007, S. 109) und sehen sie als Indikatoren für die Interessen der Leserschaft. Doch die Blogbetreiber sind meist nicht in der Lage und auch nicht daran interessiert, „kontinuierlich, thematisch universell und aktuell zu berichten, und vor allem nicht zu recherchieren.“ (ebenda, S. 110). Entscheidend wird folglich sein, inwieweit und wie schnell sich der Journalismus auf die neuen Gegebenheiten und Herausforderungen einstellen kann. Dies betrifft bspw. die Leistungsrollen und die Arbeitsteilung innerhalb des Journalismus. Wurde anfänglich der professionelle Online-Journalismus eher belächelt und als Einstiegsbereich angesehen, etablieren sich Online-Redaktionen nunmehr als eigenständige Abteilungen. Dortige Mitarbeiter sind in der Regel auch jünger und verfügen überdurchschnittlich oft über Hochschulabschlüsse. In den meisten Fällen werden derartige Redaktionen jedoch weiterhin als Unterabteilungen geführt. Darüber hinaus gibt es viele Journalisten, die sowohl auf klassischem und auf digitalem Vertriebswege publizieren (vgl. Neuberger/Quandt 2010, S. 63f.). Hier zeigt sich eine weitere Form von Komplementarität. Dennoch wäre es naiv, die ökonomischen Engpässe und davon ausgehende Effekte zu bagatellisieren. Von Lobeshymnen alleine ist noch niemand satt geworden. Schon jetzt verfügen viele Zeitungen nicht mehr über eine eigene Redaktion. Wenn diese bestehen, werden meist im Bereich
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der Auslandskorrespondenten Einsparungen vorgenommen. Gerade größere Verleger geben Lokalredaktionen auf und insgesamt wurde vermehrt auf Leiharbeiter und flexiblere Beschäftigungsverhältnisse ausgewichen, um die Kosten zu senken (Röper 2010, S. 218f.). Wenn die Verschlankung von Redaktionen Recherchen außerhalb von Redaktionsräumen selten werden lassen, wenn die unbearbeitete Übernahme von Agenturmeldungen zunimmt und Suchalgorithmen an die Stelle von Investigation treten, kann der Begriff Qualitätsjournalismus zu einem Euphemismus mutieren. Aus der besonderen Struktur des Internets ergeben sich jedoch auch Vorteile, die Redaktionen nutzen und auch Leserinnen und Leser in Anspruch nehmen, weil eine größere Informationstiefe realisiert werden kann und weitergehende Verknüpfungen und Bezugnahmen hergestellt werden (vgl. Neuberger/Quandt 2010). RußMohl sieht in der New York Times ein Vorzeigebeispiel. Die Internetseite sei vielfältig, transparent gestaltet und diverse Chancen, wie die Einbindung der Leser oder das erleichterte Publizieren in anderen Sprachen, wären erkannt und für sich genutzt worden. Auf die Frage, ob man sich zukünftig eine Welt ohne die New York Times vorstellen müsse, antwortet er dementsprechend auch entschieden mit ‚Nein‘. Durch das Internet-Angebot sei es im Gegenteil sogar gelungen, auch im Online-Bereich eine Rolle als Leitmedium einzunehmen (vgl. Ruß-Mohl 2009b, S. 267ff.274). Ohne neue Verwertungsketten (Online-Werbung, Apps für Mobilgeräte, kostenpflichtige Archive zur Generierung von Long Tail-Effekten116 usw.) aber werden die finanziellen Spielräume immer enger. Die Entwicklung in den kommenden Jahren wird auch verdeutlichen, was der modernen Gesellschaft guter Journalismus noch wert ist. Marie-Luise Kiefer hat in einer ausführlichen Analyse deutlich festgestellt: „Eine mediale Querfinanzierung des Journalismus aus dem Werbemarkt wird offenbar immer schwieriger.“ (2011, S. 5).
Die Zukunft der Zeitungen - Ein Interview mit Bertelsmann-Chef Hartmut Ostrowski „Ostrowski: Die Journalisten sind uns wichtig. Man muss aber sagen, dass die Digitalisierung der Medien die Rahmenbedingungen des Journalismus verändert hat. Da muss man die Arbeitsprozesse entsprechend anpassen, und das haben wir auch von unseren Journalisten verlangt. Frage: Die Digitalisierung verändert auch die Mediennutzung der Menschen. Glauben Sie an die Zukunft der Zeitung?
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Mit Long Tail-Effekten ist die Finanzierung eines Online-Angebots über eine Vielzahl von Nischenprodukten gemeint.
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Ein Blick in die Medienzukunft Ostrowski: Ich bin überzeugt, dass starke Medienmarken überleben werden. Marken werden den Menschen Orientierung geben in der riesigen Datenmenge im Internet. Diese Marken werden auch mobil auf neuen Geräten genutzt werden. Ob wir dann noch Tageszeitungen haben, die an jedem Tag erscheinen, das weiß ich nicht. Auch nicht, ob das dann überhaupt noch Zeitung heißt. Aber wenn man gute Inhalte bringt, die man interessant und einzigartig gestaltet, dann wird man gute Geschäfte damit machen, dann werden die Menschen diese Medien begeistert nutzen und dann wird Qualitätsjournalismus eine gute Zukunft haben. [...] Frage: Random House ist die größte Buchgruppe der Welt. Ist das Buch noch das Medium, auf das Sie setzen? Ostrowski: Ich bin sicher, dass es auch in vielen Jahren noch gedruckte Bücher geben wird. Durch die neuen Geräte gibt es zudem viele Möglichkeiten für neue digitale Formate. [...] Frage: Aber die Autoren könnten sich durch die neuen technischen Möglichkeiten von Verlagen unabhängig machen. Ostrowski: Das Verlagsgeschäft besteht nicht nur aus Druck und Vertrieb. Bei den meisten Titeln ist es so, dass unsere Verleger und Lektoren intensiv mit den Autoren am Buch arbeiten. Auch das Marketing spielt eine Rolle. Es hat auch in der Vergangenheit immer wieder Versuche gegeben, Bücher selbst zu verlegen, das war in der Breite nicht sehr erfolgreich. Die Konzentration auf die großen Marken wird auch bei den neuen Medien eher zunehmen.“ (Beise/Hirz 2010, S. 28)
Nach wie vor wird die Auffassung vertreten, dass angesichts der Informationsfülle, die täglich gesichtet, bewertet und überprüft werden muss, Journalisten ihre Gatekeeper-Position in einem positiven Sinne wahrnehmen müssen. Das zeigt sich unter anderem an einem Problem, das aus dem Feld der klassischen Verbreitungsmedien bekannt ist: die Notwendigkeit von Meta-Medien. Die ‚Suchmaschine‘ des Fernsehzuschauers ist ein Programmguide, der Internetnutzer verlässt sich im Allgemeinen auf ‚Google‘ oder Konkurrenten, der Weblog-Nutzer im Speziellen benötigt RSS Feeds (RSS = Radio Syndication Feeds, Nutzer werden automatisch auf interessante neue Inhalte hingewiesen) oder spezielle Blog-Suchmaschinen, die ihm die Nutzung und Orientierung erleichtern. Die traditionellen Medien stellen zwar nicht mehr die „zentrale Filterinstanz, die jede Nachricht passiert haben muss“ (Neuberger/Quandt 2010, S. 62), dar, übernehmen dafür jedoch umso mehr die Rolle von solchen Orientierungshelfern und ‚Lotsen‘. Eine pluralistische Gesellschaft und eine Zunahme der Informationsfülle machen einen qualitativen, professionellen Journalismus zu einer notwendigen Institution (vgl. Ruß-Mohl 2009a, S. 257). Nur professionelle Redaktionen haben auf Dauer die Möglichkeit, Fortbestand und Qualität der diversen Nachrichten-Angebote sicherzustellen und entsprechende Prüfungen und Gewichtungen
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der Inhalte durchzuführen. Die Anforderungen und das Tempo sind allerdings gestiegen und durch die zunehmende wechselseitige Beobachtung, die sich auf Senderund Empfängerebene vollzieht, wird die Themenauswahl voraussetzungsreicher. Dirk Baecker hat einmal festgestellt: Massenmedien „bewegen sich in [einem] turbulenten Feld des Themen-, Tonfall- und Meinungswechsels. Sie tun es nach eigenen Kriterien, sie tun es unter scharfer Beobachtung ihrer eigenen Marktseite, d. h. ihrer Konkurrenten im selben Medium und in Nachbarmedien (jede Redaktion fragt sich laufend, mit welchen Angeboten andere Redaktionen, welche Erfolge und Mißerfolge beim Publikum haben), und sie tun es mit einer ständig hochgradig irritierbaren Aufmerksamkeit für das, was die schweigenden Mehrheiten für interessant halten und was nicht.“ (Baecker 2004, S. 9) Diese Asymmetrie zwischen Anbietern und Nachfragern wird weiterhin eine treibende Kraft dieser Medienentwicklung bleiben. Beobachtung 8: „Even though one might wish to explore all the variables before selecting one product from among many, often people ‚satisfice‘ rather than maximize their information.“ (Neuman 1981, S. 96) Diese Feststellung aus dem Jahr 1981 soll verdeutlichen, dass Akteure in ihren zweckgerichteten Handlungen die Ökonomie quasi noch einmal walten lassen. Der Entscheidungsaufwand wird an den Folgekosten orientiert, man entscheidet auch nicht ständig neu, sondern orientiert sich an aus subjektiver Sicht bewährten Heuristiken. Meta-Medien sind daher Hilfsmittel, die das Gefühl des Zeitgewinns vermitteln. Letzteres ließe sich als eine weitere Daueraufgabe der Informationsgesellschaft beschreiben. Mediennutzung erschöpft sich nicht in Auswahl und Rezeption. Die Zeit, die auf Informationsrecherche verwandt wird zuungunsten der Zeit, die mit der Lektüre von Informationen verbracht wird, steigt bspw. an. Während das Wissen zweiter Ordnung perfektioniert wird, leidet das Wissen erster Ordnung117. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts prognostizierte Renan, dass die Menschen in Zukunft nicht mehr lesen, sondern nur noch nachschlagen werden (vgl. Renan 1890). Jedenfalls beschreibt das folgende Zitat von Hampaté Bas eher das Gegenteil der Informationsgesellschaft, die sich immer mehr unseres Alltags bemächtigt: „[W]enn in Afrika ein alter Mann stirbt, dann ist dies so, als würde eine ‚Bibliothek niederbrennen‘ [...].“ (zitiert nach Augé 1994, S. 15). Heute sind solche symbolischen Bibliotheken in Form virtueller Datenbanken mittels Suchmaschinen allgemein zugänglich. Aufgrund der technischen Entwicklungen sind sie außerdem global vernetzt und dramatisch angewachsen. Als Folge hat die Mediennutzung erster Ordnung, also das Lesen, Hören und Sehen im klassischen Sinne, zugunsten der Mediennutzung zweiter 117
Siehe zu dieser Unterscheidung auch die Ausführungen am Ende von Kapitel 11.
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Ordnung abgenommen. Diese besteht hauptsächlich aus der Organisation der Daten, also Prüfen und Löschen, aus Bewertung und Verlinkung, Browserwartung, Strukturierung und Wartung von Dateisystemen und ähnlichen eher technischen Tätigkeiten. Betrachtet man die Zeit, die auf verschiedene Internetanwendungen verwandt wird, sieht man auch deutlich, dass solche Tätigkeiten deutlich vor dem eigentlichen Lesen von Nachrichten liegt und dass die Differenz zwischen der Nutzung erster und zweiter Ordnung bei den 14-29-Jährigen sogar noch weiter ansteigt (vgl. Ridder/Engel 2010a, S. 531). Man könnte sich hier im weiteren Sinne auch wieder an Postman erinnern, der das Missverhältnis von ‚Bescheid wissen‘ und ‚gehört haben‘ im Gegensatz zu ‚Verstehen‘ bemängelte (Postman 1985, S. 91). Eine genauere Beurteilung ist allerdings schwierig, da bislang nur wenige detaillierte Analysen des Nutzungsprozesses von Internetangeboten vorliegen. Im Allgemeinen kann eine Übertragung von drei zentralen Wissensbedürfnissen angenommen werden. Dieses ist erstens ein grobes Überblickswissen, das vor allem über das eher offene, ungerichtete ‚Browsing‘ erlangt wird, zweitens das Bedürfnis nach Orientierungswissen, um sich Meinungen und Urteile bilden zu können, dem stärker durch gerichtetes Suchen nachgegangen wird, und schließlich das Aktionswissen, mit dessen Hilfe gezielt Handlungen durchgeführt werden sollen. Folglich dominieren hier auch das gezielte Suchen und Gewichten von Informationen. Schweiger schlägt daher ein Ablaufmodell für die Betrachtung von Websitebesuchen vor, in dem sich Rezeption und Selektion abwechseln (vgl. Schweiger 2010, S. 196f.). Ähnlich angelegt ist auch das Clickstream-Modell von Wirth und Brecht, in dem, von einem Selektionsziel ausgehend, eine Orientierung vorgenommen wird, um sich anschließend gezielt durch die Angebote navigieren und die gewünschten Informationen auffinden zu können. Beide Modelle machen deutlich, dass eine Vorselektion, bspw. über grobes ‚Textscannen‘, stattfindet und erst im Anschluss daran eine wirkliche Aufnahme und Nutzung der Inhalte erfolgt. Da auf diese Selektionsvorgänge mittels entsprechender Überschriften, mit Bildern oder der Platzierung eines Links am Anfang einer Linkliste Einfluss genommen werden kann, wird deutlich, dass in den Angeboten selbst immer häufiger Hinweise enthalten sind, die ein Ablenkungspotenzial enthalten. Statt zu Ende zu lesen, was man gerade begonnen hat, springt man zu anderen Seiten. Damit wird jedoch selten die gesamte Website auch tatsächlich wahrgenommen (vgl. Schweiger 2010, S: 197ff.). Daher wird zunehmend analysiert, was genau die Mediennutzung als solche beeinflusst und wie geeignete Strategien aussehen könnten, die ein effektives Navigieren durch die ständig anwachsende Informationsmenge unter gleichzeitig möglichst objektiver Berücksichtigung der Alternativen ermöglichen. Daniel Bell (1919-2011) beschrieb im Jahr 1973 die Konturen der nachindustriellen Gesellschaft mittels neu entstehender Knappheitsformen, die paradoxerweise aus der Zunahme der Ressource Information hervorgingen (vgl. Bell 1976, S. 352ff.). Man könnte darin einen weiteren Beleg für die Beobachtung sehen, dass
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Knappheitsbewusstsein Hand in Hand mit Alternativenreichtum geht (vgl. Hahn 1987, S. 122). Daher kann auch die Informationsgesellschaft durch die zunehmende ‚Produktion‘ von Informationen Knappheiten nicht beseitigen. Bell sah diese insbesondere in drei Bereichen (vgl. Bell 1976, S. 353ff.):
Informationskosten: Ein Mehr an Information erfordert ein Mehr an Selektionsleistungen, will der Nutzer nicht zu einem Opfer von Inflationen werden. In diesem Zusammenhang sah Bell nicht eine schwindende, sondern eine wachsende Bedeutung des Journalismus bzw. der Journalisten, die in unterschiedlichsten Spezialgebieten „mehr und mehr als Vermittler und Übersetzer fungieren“ (Bell 1976, S. 354). Mit anderen Worten: In einer funktional differenzierten Gesellschaft sind bestimmte Arbeitsteilungen unerlässlich. Darauf ist in der Diskussion von Leistungsrollen und der Zukunft des Qualitätsjournalismus bereits hingewiesen worden (siehe oben). Koordinationskosten: Die Informationsgesellschaft ist gekennzeichnet durch ein Spiel zwischen Personen, weil ein wachsendes Bedürfnis nach Partizipation einen Anstieg von Interaktionen mit sich bringt. Diese wiederum müssen aufeinander abgestimmt werden. Was Bell für den Bereich der Politik konstatierte, dürfte auch für andere Entscheidungsfelder zutreffend sein. Je mehr sich der Kreis der Beteiligten ausweitet, desto schwieriger werden die Aushandlungsprozesse: „So löst das erhöhte Mitspracherecht paradoxerweise meist nur das Gefühl einer größeren Frustration aus.“ (Bell 1976, S. 355) Für die Zahl der Interaktionen stellte er ebenso deutlich fest: „Entweder man begnügt sich mit oberflächlichen Beziehungen oder man stößt an eine ‚obere Grenze‘ des zu bewältigenden Ausmaßes von Interaktionen.“ (ebenda, S. 355) Trotz der prinzipiellen Erreichbarkeit und der unendlichen Möglichkeiten, die vernetzte Technologien eröffnen, scheint hier die ‚Small Worlds‘-These von Milgram (small worlds = alle Menschen kennen jeden Menschen „um sechs Ecken herum“, vgl. Milgram 1967) ebenso Unterstützung zu erfahren. Zeitkosten: In der Informationsgesellschaft steigt das Bedürfnis nach produktiver Zeitverwendung. Nicht nur die Anhäufung von Konsumgütern aus dem Dienstleistungsbereich (z. B. Fernseher, Computer) bindet Zeit, auch die Instandhaltung bindet zeitliche und/oder finanzielle Ressourcen. Die Vielfalt der Angebote führt zu einer verstärkten Suche nach zeitsparenden Strategien. Diese Behauptung wurde bereits vor Bell durch Staffan B. Linder (1931-2000) ausführlich erörtert (vgl. Linder 1970). Für beide wird „Zeit zu einem wichtigen Faktor bei der Verteilung der einzelnen Tätigkeiten und der Mensch durch den Grenznutzen zum Sklaven der Zeitmessung.“ (Bell 1976, S. 360)
Von diesen Kosten wird insbesondere eine durch elektronische Medien vernetzte Gesellschaft nicht verschont bleiben. Das Prinzip, nach dem sich diese Gesellschaft
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organisiert, ist aber bspw. für David Weinberger viel entscheidender: Er sieht in einer digitalen Unordnung eine neue Macht entstehen, die sich in einer Abkehr von klassischen Ordnungsprinzipien manifestiert: Bibliotheken, Zeitungen, Nachschlagewerke. Seine These lautet: „As we invent new principles of organization that make sense in a world of knowledge freed from physical constraints, information doesn’t just want to be free. It wants to be miscellaneous.” (2007, S. 7) Tatsächlich zeichnen sich die meisten online verfügbaren Nachlagewerke und Datenbanken durch ihre Vielfältigkeit und Breite aus, es wird ja geradezu der Anspruch erhoben, prinzipiell alles verfügbar zu haben oder machen zu können. Ob es sich nur um ein Übergangsphänomen handelt oder um eine Veränderung, die von Dauer ist, entscheiden wohl vor allem die dadurch entstehenden Kosten auf Akteurs- und Organisationsebene. Es gibt nicht wenige empirische Indizien, die diesen Dauerkonflikt um Optionen, Zeit und Geld als weniger dramatisch erscheinen lassen. Es geht damit auch um die Frage, ob Homo Oeconomicus-Eigenschaften im Feld der Mediennutzung beobachtbar sind. Trotz der vielfach erwarteten Abkehr von herkömmlichen Institutionen im Medienbereich und des häufig erwarteten Bedeutungsverlusts der klassischen Sender-Empfänger-Beziehung bleibt die Massenkommunikation durchaus von zentraler Bedeutung, weil dieser Kommunikationstypus auch in Zukunft für die alltägliche Informationsaufnahme und die Befriedigung unterschiedlichster Unterhaltungsbedürfnisse vorrangig sein wird. So passt die magische Zahl 7, die Bell als Grenzwert für die Informationsbits, die ein einzelner auf einmal verarbeiten kann, nennt (vgl. Bell 1976, S. 354), zwar nicht exakt auf Grenzwerte in anderen Bereichen, eine Institutionalisierung von Dauerselektionen findet aber offenbar nicht statt:
Die empirische Beobachtung bestätigt, dass Vielfalt gewünscht, aber Dauerselektion aus allen vorhandenen Optionen nicht stattfindet. Der ‚relevant set‘ bleibt überschaubar. Dies gilt sowohl für den Hörfunk, dessen Nutzungsabfrage sich im Rahmen der Media-Analyse im Jahr 2009 auf 350 Sender erstreckte und für die Gesamtbevölkerung einen Wert von 1,5 ermittelte (Nutzung gestern), für die letzten 14 Tage einen Wert von 4,2 (vgl. Media Perspektiven 2010, S. 81), aber auch für die Zeitung. In den meisten Fällen begnügen sich die Leser mit der lokalen oder regionalen Abonnementzeitung. Ende der 1990er Jahre betrug der Anteil der Deutschen, die an einem Durchschnittstag in zwei oder mehr Tageszeitungen lasen, 15% (vgl. Meyen 2004, S. 194). Die Zahl der Zeitungsleser und Abonnementen hat in den letzten Jahren stetig abgenommen. Damit dürfte sich auch der Wert kaum in eine positive Richtung entwickelt haben. Für das Fernsehen ist unter anderem die sogenannte ‚Zehn-Sender-Regel‘ aufgestellt worden. Gemeint ist die Anzahl der alltäglich relevanten TV-Sender (vgl. Gerhards/Klingler 2007, S. 300, gestützt auf Auswertungen von IP
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Deutschland). Bestimmte Programme haben also von vorneherein eine höhere Auswahlchance. Beisch und Engel konnten zeigen, dass 63% der Zuschauer ihre TV-Nutzung mit nicht mehr als drei Sendern bestreiten, 82% mit sechs Sendern (vgl. Beisch/Engel 2006, S. 375). Im Jahre 2009 fielen auf ‚Das Erste‘, ‚ZDF‘, die ‚Dritten Programme‘, ‚SAT.1‘ und ‚RTL‘ die jeweils höchsten Anteile am Fernsehkonsum, wobei sie zusammen schon einen Gesamtanteil von fast 65% ausmachten (vgl. Media Perspektiven 2010, S. 77). Auch für die Zukunft geht die große Mehrheit davon aus, dass ungeachtet der zunehmenden Marktfragmentierung nur einige wenige Angebote wirklich von Relevanz sein werden (vgl. Engel/Mai 2010, S. 565). Dies bestätigt sich auch bei der Betrachtung der Internetnutzung von Kindern und Jugendlichen. Das ‚relevant set‘ der 6-16-Jährigen umfasst durchschnittlich 5,9 Websites. Wobei hier noch einmal ein primäres und ein sekundäres ‚relevant set‘ unterschieden werden kann. Ersteres zeichnet sich durch einen hohen emotionalen Nutzen aus, diese Websites werden eigentlich ständig aufgesucht und ausgiebig genutzt. Das sekundäre ‚relevant set‘ bietet eher pragmatischen Nutzen, bspw. durch informative Inhalte. Solche Websites werden seltener, aber dafür gezielt aufgesucht, die Nutzungsdauer ist eher kurz (vgl. Schneider/Warth 2010, S. 474f.). Die Kenntnis der Situation und der Rahmenbedingungen ist somit offensichtlich ein Aspekt, der ökonomische Überlegungen in Gang setzt und spezifische Formen der Nutzenmaximierung nahe legt. Daher ist dem folgenden Vorschlag von Zintl zuzustimmen: „Die Figur des homo oeconomicus sollte nicht als Behauptung über die Eigenschaften von Menschen im Allgemeinen wahrgenommen werden, sondern als Behauptung über ihre Handlungsweisen in bestimmten Situationen. Die Frage ist dann nicht, ob der Mensch so ist, sondern vielmehr, in welchen Situationen er sich verhält, als sei er so.“ (1989, S. 60f.) Der Aufwand, der in eine Entscheidungsfindung investiert wird, orientiert sich an den Folgekosten einer nicht-optimalen Entscheidung. Diese Folgekosten dürften in der Praxis der Mediennutzung kurzfristig hoch, aber ebenso kurzfristig wirksam sein, da die Folgen einer nicht-optimalen Entscheidung unter Umständen schon im Zuge der Nutzung korrigiert werden können. Bei der Internetnutzung dürfte es sich im Allgemeinen eher um low cost-Situationen handeln. Die Auswahl kann sehr schnell rückgängig gemacht oder durch Aufruf einer anderen Website erweitert werden. Ohnehin ist die Internetnutzung als solche schon durch einen umfangreichen Selektionsprozess charakterisiert. Anders als im Falle bspw. der Zeitungsrezeption fallen zudem auch Kosten weniger ins Gewicht. Ein Schließen der Internetseite fällt leichter als das Weglegen der gekauften Zeitung (vgl. Schweiger 2010, S. 193f.). Für diese Niedrigkostensituationen (low cost) gilt, dass auch mit idiosynkratischen Verhaltensweisen gerechnet werden muss. So konnte gezeigt werden, dass Persönlichkeitseigenschaften Einfluss auf die Wahl des bevorzugten Fernsehgenres haben. Insbe-
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Ein Blick in die Medienzukunft sondere hohe Neurotizismus-Werte stellen sich als wichtiger Faktor dar. Diesem Typ zugeordnete Personen widmen bspw. Talkshows und Daily Soaps deutlich mehr Aufmerksamkeit, wohingegen extravertierte Personen RealityFormate bevorzugen (vgl. Shim/Paul 2007, S. 296ff.). Die jeweilige Gefühlslage kann darüber hinaus mal ein stärkeres Bedürfnis nach Komödien, mal ein stärkeres Bedürfnis nach Tragödien auslösen (vgl. Oliver/Bartsch 2010 und Zillmann/Bryant 1985). Für die Wahrnehmung von Online-Angeboten lassen sich hinsichtlich des Informationshaushalts noch weitere Konzentrationsprozesse beobachten. Im Feld der Internetrecherche ist die steuernde Funktion von Gatekeepern (z. B. Suchmaschinen) sehr ausgeprägt (vgl. Machill/Welp 2003). Die Anwendungen der E-Mail-Kommunikation und der Suchmaschinen stellen dabei die mit großem Abstand meist verwandten Dienste im Internet dar. Das gezielte selbständige Suchen nach bestimmten Angeboten wird nur etwas mehr als halb so häufig wie diese genutzt, dicht gefolgt von dem „einfach so im Internet surfen“ (vgl. van Eimeren/Frees 2010a, S. 338). Bestimmte Informationsalternativen werden auf diese Weise gar nicht mehr in Betracht gezogen, da sie einfach nicht wahrgenommen werden (vgl. Schweiger 2010, S. 192). Hier findet mithin eine Vorselektion von dritter Stelle statt. Bucher stellte bspw. im Jahr 2005 fest: „Die 50 populärsten Webangebote ziehen 25 Prozent des gesamten Datenverkehrs auf sich.“ (2005, S. 83) Die ARD/ZDF-Onlinestudie stellte für das Jahr 2006 fest, dass 63% der Nutzer „das Angebot ihres Providers vollkommen genügt und weitere Angebote uninteressant sind“ (van Eimeren/Frees 2006, S. 407); 2002 waren es 59% (vgl. ebenda). Im Jahr 2010 gaben entsprechend über die Hälfte der Internetnutzer an, dass sie selbst auch kaum noch neue Seiten suchen würden, da sie ihrer Meinung nach die für sie interessanten schon gefunden hätten (vgl. van Eimeren/Frees 2010a, S. 338).
Im Großen und Ganzen dürfte die Strategie des Zuschauers auf für ihn hinreichendem Wissen und seinem Informationsbedürfnis beruhen. Ob 30, 70 oder 100 Programme – der Grenznutzen schlägt sich zunächst einmal in einer ‚rationality of avoiding choice‘ (Collins 1993) nieder. Man will nicht ständig überlegen und auswählen, sondern lässt sich - nicht ausschließlich, aber gerne - auf Überraschungen ein. Bereits in seiner 1979 erschienenen Dissertation hat Werner Müller eine medienökonomische Feststellung getroffen, die dieses Überraschungsmoment gut begründet: „Eine zu eingehende Information über eine TV-Produktion z. B. bezüglich des Handlungsablaufs, der Darbietungsform usw. könnte manchen Sendungen beim späteren Anschauen einen Teil ihres Reizes nehmen und damit zu einer Nutzeneinbuße führen.“ (Müller 1979, S. 162) Fernsehnutzung ist nicht immer selektiv und zielgerichtet, sondern häufig auch ein etwas längerer Abschied von Programmen, die einen mal mehr, mal weniger interessieren. Das intentionale Element steht in einem
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reziproken Verhältnis zur mit dieser Aktivität verbrachten Zeit. Auch hier stellen die genannten Niedrigkostenüberlegungen eine entscheidende Situationsvariable dar. Geht man von einem derartigen Abwägen des erwarteten Nutzens und der Kosten aus, kann man letztere noch einmal unterscheiden in Kosten, die durch das Suchen, Selektieren und die Rezeption an sich entstehen, und solche, die durch Unterlassen der Rezeption bzw. deren Meidung entstehen würden. Diese Differenzierung ist unter anderem auf die Frage angewandt worden, wie Zuschauer auf Fernsehwerbung reagieren (vgl. Schweiger 2010, S. 191ff.). Abbildung 12.2 Mediennutzung als Thema der Karikaturisten
Quelle: Karikatur links aus Sempé 1972, S. 70f., rechts entnommen aus einem Beitrag von Krieg 1993, S. B4 Trotz einer Zunahme von Konvergenzen auf technischer Ebene, die sich unter anderem in einer „integrative[n] Verwendung verschiedener Medientypen“ (Burkart/Hömberg 1997, S. 78) niederschlagen, nämlich statischer (Text, Graphik) und dynamischer Elemente (Video- und Tonsequenzen), wird eine grundlegende Abkehr von den herkömmlichen Distributionswegen also nicht erwartet. Mittelfristig werden sich neue Muster der Mediennutzung herausbilden, „in denen verschiedenen medialen Angeboten ein unterschiedlicher Stellenwert im Informationshaushalt der Rezi-
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pienten zukommt.“ (ebenda, S. 79) Die Zunahme der Medienangebote löst somit keinen Automatismus der Umverteilung von zeitlichen Ressourcen und inhaltlichen Präferenzen aus. Auch McQuail stellte bezüglich audiovisueller Medien fest: „[...] most audience attention in most countries remains fixed on a small number of general interest channels, and there is a good deal of overlap of audiences, with much sharing of popular content items.“ (McQuail 1997, S. 138) Die Fernsehnutzung, wie sie Sempé skizzierte, und die (versöhnlich wirkende) Darstellung eines Publikums, das trotz unterschiedlicher Programmnutzungen noch vereint ist (siehe die nachfolgenden Karikaturen), beschreiben unterschiedliche Formen von Individualisierung und Integration, die moderne Gesellschaften auf Grund ihrer Lebenslagen und Lebensstile hervorbringen. Die rechts platzierte Karikatur lässt eine an Individualbedürfnissen orientierte Angebotsstrategie erkennen, also eine Art „customized mass media“-Strategie (Coy 2003, S. 288). Sie wurde bereits 1993 publiziert und verdeutlicht damit noch einmal die Trägheit von Medienentwicklungen, wie sie zu Beginn dieses Kapitels beschrieben wurde. Beobachtung 9: „In Sprache, Sitte, politischer Verfassung und Religionslehren, Literatur und Technik ist die Arbeit unzähliger Generationen niedergelegt, als gegenständlich gewordener Geist, von dem jeder nimmt, so viel er will oder kann, den aber überhaupt kein einzelner ausschöpfen könnte.“ (Simmel 1900, S. 99) Angesichts der besprochenen Trends und Entwicklungen, angefangen von der allgemeinen Bereitstellung und Verfügbarkeit von Informationen bis zu den Anforderungen an die Anbieter und die Wahl seitens der Rezipienten, stellt sich natürlich die Frage, was eigentlich gewählt wird, über was gesprochen wird und woran man sich dann noch erinnert. Die Thematisierungsfunktion der Medien wurde in Kapitel 7 ausführlich dargestellt. Zu erörtern wäre nun noch, wie das Auf und Ab in den Themenhierarchien sich mit der Idee des sozialen Gedächtnisses verknüpfen lässt. In einem weiteren Sinne ist dieses Konzept bereits in Georg Simmels Unterscheidung von objektiver und subjektiver Kultur angelegt. Durch eine Vergegenständlichung, also Objektivierung, werden gedankliche Inhalte und letztlich eben Kultur aufbewahrt, akkumuliert und damit zugänglich gemacht. Es ist ersichtlich, dass sich dieser Fundus aus einer ganzen Gesellschaft und damit jedem einzelnen Mitglied dieser speist. Aus dieser Differenz der subjektiven Kultur der Individuen und objektiver Kultur der Gesellschaft entsteht laut Simmel nun auch die Möglichkeit, dass sich beide mit unterschiedlicher Geschwindigkeit weiterentwickeln (vgl. Simmel 1990, 99ff.). Wird nun davon ausgegangen, dass die Massenmedien Anschlusskommunikation mittels ihrer Thematisierungsfunktion ermöglichen und darüber hinaus durch
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ihre Charakteristika auch eine integrierende Funktion einnehmen, wird ersichtlich, dass sie auf solche gespeicherte, objektivierte Ebenen Einfluss nehmen. Das Hinzukommen neuer Medien hat auf der Seite der Anbieter zu einer weiteren Dynamisierung der temporalen Struktur von Nachrichtenzyklen geführt. Die Online-Nachrichten und allgemein Inhalte im Internet zeichnen sich aufgrund ihrer hohen Aktualität auch durch Volatilität aus. Durch die Einbeziehung von usergenerated content, also bspw. Augenzeugenberichten, in Echtzeit, wird dies noch verstärkt. Angesichts der Vielzahl von Faktoren, die die Themenwahl und das Ausmaß der Aufmerksamkeit, die ein Thema generiert, im Zeitverlauf bestimmen, steht gerade die Erforschung solcher Themenentwicklungen im Internet noch am Anfang. Yang und Leskovec haben bei der Untersuchung solcher Verläufe typische Muster herausstellen können. So werden bspw. Meldungen, die zuerst von Nachrichtenagenturen gebracht werden, im Nachhinein auch länger diskutiert. Viele der klassischen Medien haben Verträge mit solchen Diensten und allgemein wird sich stark an ihnen orientiert. Ein Prozess des ‚Durchfließens‘ (percolation) von Nachrichtenagenturen über Tageszeitungen zu professionellen Bloggern und schließlich in die gesamte Internet-Sphäre lässt sich hier nachvollziehen. Bei einem anderen typischen Muster wird eine Meldung vergleichsweise spät von Blogs aufgenommen, was zu einem zweiten, aber niedrigeren ‚peak‘ in der Aufmerksamkeit führt, wodurch das Thema jedoch auch deutlich länger beachtet wird (vgl. eingehender Yang/Leskovec 2011).118 Da das soziale Gedächtnis durch Kommunikation aufgebaut und erweitert wird, dürfte es folglich auch einen Unterschied machen, von welchen Medien die Inhalte ausgehen und wie dementsprechend ihre Diskussion verlief. Durch die neuen Technologien bilden sich neue Formen der Wissensordnung aus mit Folgen für Organisation und Distribution (vgl. Schneider 2006, S. 91). Die Massenmedien stellen hierbei ein funktionales Äquivalent zu früheren Formen der Tradierung und Speicherung mittels Riten, Erzählungen oder bibliothekarischen Archiven dar. Die Speichermöglichkeiten dieser Technologien, vor allem des Internets, erlauben eine zeitnahe, wenn nicht sofortige Speicherung und Verfügbarmachung gerade gesendeter Inhalte. Auf Vergangenes wird durch solche „Gedächtnis entlastende Sonderleistungen“ (Holl 2003, S. 165) leichter zurückzugreifen sein, es wird ‚sichtbarer‘ und damit ‚näher‘. Daher mag auch die berühmte Angst kommen, dass Dinge, die einmal ihren Weg in das Internet gefunden haben, dort auch für immer verbleiben werden. Die Archivierung erfolgt nun nicht mehr, wie in früheren Gesellschaften, an zentralen, meist exklusiven Orten wie Klöstern oder universitären Bibliotheken, sondern zusätzlich an unterschiedlichsten und dispersen, teilweise auch privaten Speicherorten. Da das soziale Gedächtnis auch Identifikationsmuster über Aufbau und Legitimation von Identitäten bereitstellt, Anschlussfähigkeit sicherstellen soll und gleichsam durch medienvermittelte Erfahrungen und andere soziale Prozesse aufgebaut 118
Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 7.
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wird, greifen hier die technologischen und sozialen Entwicklungen deutlich ineinander (vgl. Holl 2003, S. 162f., 351). Ein solches Speichern und Verfügbarmachen von Inhalten, die mittlerweile von Büchern und Zeitungen bis Blogbeiträgen und Webcam-Filmen reichen, wird differenzierende Auswirkungen auf das ‚Erinnern‘ haben. So könnte sich ein eher unspezifisches, alltagsnahes „Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft“ (Welzer 2008, S. 14) ausbilden, das einem hochspezialisierten, organisierten wissenschaftlichen und einem kulturellen Gedächtnis gegenübersteht (vgl. ebenda). Mit letzterem wird im Allgemeinen jenes angesprochen, das hier auch im weiteren Sinne im Vordergrund stand (vgl. Assmann 1988, S. 15). Die derzeitigen Untersuchungen zeigen, dass massenmedial vermittelte Themen unter den Rezipienten länger im Gespräch bleiben, nicht jedoch, ob sie sich auch im Gedächtnis verankern und hierüber auch die Wahrnehmung und Bewertung neuer Themen beeinflussen. Eine weitere Differenzierung könnte sich hier nach gruppenspezifischen Auswahlkriterien herausbilden. Blogs und Foren differenzieren sich nach Interesse, Relevanz und Betroffenheit aus und generell zwingt die rein quantitative Zunahme an verfügbaren Informationen zu Verzicht; das angebotene ‚Gedächtnismaterial‘ ist bereits durch viele Filter gegangen. Daher wird ein Großteil schon im Voraus ‚vergessen‘ (vgl. Jäckel 2010c, S. 230). Zugleich entwickeln Nutzer ihre eigenen Repositorien. Die Bibliothek, so Strohschneider, sammelte an und schuf ein Ordnungssystem, sie war und ist eine „Ordnungsform für das Angehäufte.“ (2010, S. 18) Die Bezeichnung ‚Privatbibliothek‘ bekommt nunmehr eine erweiterte Bedeutung: So wird es zwar einerseits immer einfacher, Ereignisse festzuhalten und abzuspeichern, doch durch den gefüllten Datenspeicher stöbert man eher ungern. Stapelbildungen finden nicht nur in Regalen und auf Schreibtischen statt, sondern – und deshalb zunächst unscheinbarer – auf Festplatten und anderen Speichermedien. Unordnung steigert daher das selektive Wiederfinden und Erinnern. Das gilt vor allem auch für das Aufbewahren von Erinnerungen an Personen und Orte. Die digitale Fotografie erlaubt bspw. einen fahrlässigeren Umgang mit Bildmotiven, auch, weil ein nachträgliches Perfektionieren von Schnellschüssen möglich ist. Ob, wie Hoch in seinem Beitrag zu Fotoalben und Digitalkameras behauptet, an die Kinder nichts mehr übergeben werden kann, wird auch von Entlastungsangeboten, die der Markt offeriert, abhängen. Kalenderanbieter reagieren auf dieses ‚analoge‘ Dokumentationsbedürfnis ebenso wie die Druckindustrie mit Stationen, die flexible Formen des Bildabzugs ermöglichen.
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Von Fotoalben und Digitalkameras – „Für immer und doch so vergänglich“ „Für die Alten, die im Krieg alles verloren hatten, waren diese Alben die einzig gesicherte Beziehung zur Vergangenheit und an jenen Nachmittagen entstand beim Durchblättern der Seiten noch einmal die Geschichte neu, wurde in der Erinnerung das lebendig, was auf den Fotos erstarrt und wie tot wirkte. [...] Wo früher noch Tagebücher oder Briefe eine Brücke in die Vergangenheit schlugen, sind heute nur Bilder übriggeblieben. Im verzweifelten Kampf gegen das Verrinnen der Zeit werden überall und in allen Augenblicken Handys und Digitalkameras gezückt [...] Viele Menschen sitzen auf einem digitalen Durcheinander, das sie sich vornehmen, irgendwann einmal zu ordnen. [...] Viele Bilder bleiben im digitalen Nichts. [...] Für die Bewahrung und die Weitergabe der eigenen Geschichte aber hat das fatale Folgen. Es gibt nichts mehr, was den Kindern übergeben werden kann.“ (Hoch 2011, S. 18)
Der weitere Aufbau und die neuen Organisationsformen des sozialen Gedächtnisses sind somit überaus voraussetzungsvoll. Eine Selektion der potenziell zu erinnernden Inhalte erfolgt, betrachtet man nur die medienvermittelte Gedächtnisgenese, sowohl auf Seiten der massenmedialen Anbieter als auch auf Seiten der Rezipienten, die im Zuge der Anschlusskommunikation selbst eine aktive Rolle in der Gedächtnisbildung einnehmen. Durch internetbasierte Diskussionen wird hier ein alltagsnahes Kurzzeitgedächtnis etabliert, dessen Inhalte eventuell durch weitere Objektivierung Eingang in längerfristige Gedächtnisformen finden. Es ist hier also fraglich, ob es zu einer Fragmentierung auch des sozialen Gedächtnisses kommt oder einfach zu einer Pluralisierung der Beiträge. So oder so wächst es weiterhin an und der einzelne steht vor der Wahl, auf was er zurückgreifen möchte, an was er sich erinnern will. Denn, wie Simmel anmerkte, steigt zwar die Leistung des Einzelnen in diesen Gesamtbesitz an Wissen und Erkenntnissen hinauf, „aber dieser nicht zu jedem Element hinab.“ (Simmel 1900, S. 104) Beobachtung 10: „We all grow old, even the coolest among us, and there’s not a whole lot we can do about it. [...] Yes, much of what divides us now is technology.” (Tugend 2009, S. B5) Gerade im Bereich der technologischen Neuerungen wird davon ausgegangen, dass sich der Umgang mit diesen als ein Generationenproblem beschreiben lässt. Die Gegenüberstellung von ‚Digital Natives‘ und ‚Digital Immigrants‘ oder die Be-
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zeichnung älterer Mediengenerationen als ‚Silver Surfer‘ unterstellt homogene Mediennutzungsformen. Jedenfalls wird das unterschiedliche Ausmaß der Innovationsbereitschaft im Falle solcher Clusterbildungen eher unterschätzt. In jüngster Zeit erhalten gerade auch die älteren Generationen wegen dieser Binnendifferenzierung auch vermehrt Aufmerksamkeit. So werden innerhalb dieser sehr wohl verschiedene Nachfragen nach bestimmten Programmen und Spartenangeboten gestellt (vgl. Gerhards/Klingler 2011). Die Formulierung der Hauptzielgruppe als Personen zwischen 18 und 49 Jahren wird daher ebenfalls zunehmend in Frage gestellt (vgl. Stipp 2009, S. 231). Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Generation ‚50 plus‘ plötzlich nicht mehr zu den aktiven Mediennutzern zählen soll. Hierüber könnten auch weitere Zeitbudgetanalysen Aufschluss liefern. Die Aufteilung des knappen Gutes Zeit auf verschiedene Medientechnologien und -inhalte vollzieht auch in den älteren Generationen ähnliche Entwicklungen wie in den jüngeren, wenn auch (noch) in geringerem Umfang. Differenzierungs- und Fragmentierungsprozesse lassen sich auch hier feststellen. Für die genaue Erfassung solcher Prozesse wäre allerdings die Verständigung auf relevante Variablen notwendig, um auch langfristige Trends nachvollziehbar festhalten zu können.
Grey Hopper und Silver Surfer - Die ältere Generation „[...] die Schar der über 50-Jährigen - immerhin knapp 30 Millionen Menschen in Deutschland - ist keineswegs die homogene und handliche Konsumentengruppe, die Werbung und Marketing gerne hätten. Differenzierte Zielgruppenmodelle versuchen derzeit, der vielgestaltige[n] Altersgruppe besser gerecht zu werden. [...] Die ältere Generation hat sich endlich einen Platz in den Köpfen der Marktforscher erkämpft. ‚Die jetzigen lassen sich nicht mehr aufgrund ihrer Altersstruktur clustern. Vielmehr geht es hier um das gefühlte Alter, das sich in den letzten Jahren stark verjüngt hat’, sagt Trendforscher Christian Rauch. Nicht das Geburtsjahr zähle, sondern spezifische Ansprüche und Bedürfnisse, die sich am persönlichen Empfinden orientieren.“ (Dettmar 2011, S. bin)
Angesichts beschleunigter Innovationszyklen und zunehmender Differenzierungen in der Medienlandschaft auf inhaltlicher wie technologischer Ebene muss den Unterschieden auch innerhalb solcher ‚Mediengenerationen‘ mehr Beachtung geschenkt werden. ‚Digital Natives‘ ist eher als Sammelbezeichnung zu sehen für Generationen, die sich durch einen vergleichbaren Umgang mit Technologien und Innovationen auszeichnen. Bei ihnen steht das Agieren im Vordergrund, sie sind aufgeschlossener gegenüber Neuerungen. Unter ‚Digital Immigrants‘ wäre dementsprechend
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eher eine skeptische Generation, ebenfalls nicht zwangsläufig im Sinne von Alterskohorten, zu sehen, die sich durch eine eher zögernde Haltung gegenüber Neuem auszeichnet. Für sie ist das Reagieren typischer als das Agieren. Angesichts des permanenten Hinzukommens neuer Nutzungsoptionen entwickeln sich in immer engerer Aufeinanderfolge Formen von mehr oder weniger virtuosem Umgang mit diesen Angeboten, die jene, die gerade einmal davon überzeugt waren, einigermaßen den Überblick gewonnen zu haben, nur in Erstaunen versetzen können. Hartmut Rosa hat dies in zugespitzter Form im Rahmen seiner Beschleunigungsanalysen wie folgt formuliert: „[…] dass das Tempo dieses Wandels sich von einer intergenerationalen Veränderungsgeschwindigkeit in der Frühmoderne über eine Phase annähernder Synchronisation mit der Generationenfolge in der ‚klassischen Moderne‘ zu einem in der Spätmoderne tendenziell intragenerational gewordenen Tempo gesteigert hat." (Rosa 2005, S. 178) Mit anderen Worten: Erst waren es die Enkel, die gegenüber ihren Großeltern eine Veränderung wahrnahmen, dann die Kinder gegenüber ihren Eltern und nun zum Beispiel die älteren Kinder gegenüber den jüngeren Kindern. Das Tempo wird also auch deutlich, wenn sich ältere Geschwister mit ihren jüngeren Geschwistern, Vorgesetzte mit ihren Mitarbeitern, Mitarbeiter mit Berufserfahrung mit Neueinsteigern, ältere mit jüngeren Studierendengenerationen usw. vergleichen. Die Frage lautet also, ab wann davon gesprochen werden kann, dass die Art und Weise der Mediennutzung sich in einer Längsschnittperspektive als eine andere erweist. Das Tempo ist nicht nur atemberaubend für die ältere Generation, sondern für viele, die irgendwann nun einmal zu den älteren Generationen gehören werden. Längsschnittanalysen werden in Zukunft auch darüber informieren, wann auf die Bremse getreten wird. Zugleich neigt jede Kohorte dazu, sich mit den Verhältnissen zu arrangieren. Man lässt sich dabei insbesondere von jenen Medien inspirieren, die in der prägenden Phase des Umgangs mit neuen Technologien dominant waren. Hier wird also die These vertreten, dass in verschiedenen Altersgenerationen unterschiedliche Formen von Entschleunigungsoasen zu beobachten sind. Das ist dann keineswegs mit Kulturpessimismus gleichzusetzen, sondern stellt eine fast natürliche Reaktion auf das Gefühl dar, nicht mehr Herr über die eigene Lebensgestaltung und Zeitverwendung zu sein (vgl. ausführlich hierzu Jäckel 2010b). Vor gut 100 Jahren hatte der amerikanische Soziologe Charles Horton Cooley in seinem Werk ‚Social Organization‘ die Revolutionen im Feld der Kommunikation als „has made a new world for us“ (1962 [zuerst 1909], S. 65) charakterisiert. Die neue Epoche, von der er sprach, ist mittlerweile nicht Teil der Geschichte, sondern eher unspektakulärer Hintergrund eines Alltags, in dem immer wieder neue Technologien den Ton angeben. Die kluge und doch unscheinbare Beobachtung „[...] without expression thought cannot live“ (Cooley 1922, S. 94) hat mittlerweile offenbar sehr viele Menschen inspiriert. Von daher klingt die alte Weisheit „Reden ist
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Silber, Schweigen ist Gold“ heute wie ein Appell an den berühmten Dritten, der als Sozialfigur viele Lasten dieser Welt tragen muss. Alle reden von ihm, aber keiner kennt ihn.
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Sachregister119
Acapulco-Typologie 200 Affektfernsehen 260 Affordanzkonzept 310 Agenda Melding 216 Agenda-Building 213 Agenda-Setting 189, 191f., 194, 196ff., 202ff., 208, 213, 220, 222, 356 -Second Level 206 Alltagskommunikation 213 American Soldier Series 162 Anschlusskommunikation 44, 191, 213, 294, 296, 315 Attitude 163f., 171f. Aufklärung 52, 277 Aufschreibesysteme 41 Authentizität 19, 113f., 177, 260, 261, 297 Autoritäts-Experiment (Stanley Milgram) 280 Avantgarde 289 Bandwagon-Effekt 23, 283 Barsebäck-Panik 120 Beeinflussbarkeit 116, 162, 170, 186, 209, 255 Bezahlfernsehen 351 Bezugsgruppe 288f. Bezugsgruppenmeinung 290 Bildkommunikation 319 119
Das Sachregister ergänzt das Inhalts-, Abbildungs- und Tabellenverzeichnis. Es konzentriert sich auf den Nachweis zentraler Begriffe. Da Begriffe wie ‚Wirkung‘, ‚Massenkommunikation‘ und ‚Kommunikation‘ sehr häufig auftauchen, werden nur die wichtigsten Passagen aufgeführt.
Buchdruck 35, 45, 47f., 52, 55, 307, 318f. Buchdruck-Kultur 318f. Bumerang-Effekt 85, 170 Bürgerliche Öffentlichkeit 264 Captive audience 163 Ceiling-Effekt 333 Chapel Hill-Studie 189, 191, 194, 198 Communication Effects Gap 327 Cosmopolitans 132 Cross-Lagged-Korrelationen 200 CSI-Effekt 24 Cultivation of Beliefs (siehe Kultivierungsanalyse) 239, 245, 247, 253 Cultural Studies 105 Customized mass media 382 Decatur Study 132, 153 Defizittheorie 337f. Differenztheorie 337f. Digital Divide 343 Doppeltes Meinungsklima. 283 Double Cone-Modell 238 Drug Study 135f. Dynamisch-transaktionaler Ansatz 95 Eisenbahn-Test 287, 291 Ent-fernte Kommunikation 65f. Entpolitisierung 295 EPS-Kurve 37 Ereignistypologien 233 Expertness 165 Externer Wissensspeicher 347 Faktenwissen 330 Fernsehbühne 315 Fernsehen 20, 40, 74, 88, 102f., 108, 140, 143, 160, 175f., 183, 196, 202, 212f., 221, 234, 237, 239f., 245, 248f., 251f., 257, 260, 261, 268, 284, 295, 305f., 314f., 318,
M. Jäckel, Medienwirkungen, DOI 10.1007/978-3-531-93191-3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
430
320f., 323, 328f., 335, 350, 358, 378 Fernseh-Gesellschaft 311, 315, 324 Film 75, 162, 165, 312 Fireside chats 120 Framing 211 Freizeit 26, 27, 43, 102, 268 Gallup-Frage 195f., 203f. Gatekeeper 130, 225, 227 Gefühlsnormen 261 Generalisiertes Anderswo 316 Gerücht 110, 140f., 150f. Gewalt in den Medien 245 Glaubwürdigkeit 30, 88, 107, 113, 159, 165f., 168, 171ff. , 183, 187, 189, 362 Glaubwürdigkeit der Medien 30, 159, 174, 179 Globales Dorf 304 Gruppenzugehörigkeit 85 Harter Kern 289 Heiße Medien 305 Höhlengleichnis 237 Homo Oeconomicus 378 Hörfunk 35, 40, 43, 55, 58, 71, 74, 108, 118, 128, 180f., 183, 196, 228, 268, 307, 378 Hovland-Schule 163f., 169 Hypermedien 41 Images der Medien 184 Inactives 146 Informationsgesellschaft 344, 361, 375, 377 Informationshierarchien 49, 318 Informationskampagnen 334, 338 Informationskontrolle 312 Informationsrevolutionen 42f. Informed opinion 162 Infotainment-Öffentlichkeit 296 Instrumentelle Aktualisierung 232
Sachregister
Interaktion 61, 63ff., 73, 77, 96, 214, 311, 314, 377 Intermedia-Agenda-Setting 218 Internet 17, 75, 160, 183, 187, 219, 346, 350, 352 Internet-TV 351 Interpersonale Kommunikation 30, 61, 121, 140, 143, 147, 154, 202, 216, 217, 329 Inter-Transaktionen 97f. Intra-Transaktionen 97f. Invasion from Mars 123 Involvement 98, 147, 208, 289, 325, 338f. Isolationsfurcht 279, 282f., 286, 288 Journalismus 57, 156, 177, 190, 227ff., 230, 232, 253, 377 Kindheit 237, 317 Kino 37, 40, 55, 58f., 75, 102, 135, 253, 295, 303 Klatsch 270, 295 Knappheit(en) 220, 376 Knappheitsbewusstsein 377 Knowledge leveler 335 Kognitive Dissonanz 86, 113 Kommunikation 26, 30, 33ff., 42, 52f., 60ff., 70, 73, 74, 76ff., 83ff., 99, 101, 121, 122, 125ff., 140ff., 147, 150ff., 157, 163f., 171, 186, 189, 191, 200, 206, 213, 216, 217, 219, 264, 268, 272, 274, 282, 293, 294, 301, 304, 312, 319f., 326, 329, 342, 346, 348f., 351f. Kommunikationsfertigkeiten (communication skills) 329 Kommunikationsökologie 317 Kommunikator 85f., 90, 96f., 164, 165ff., 171ff., 176, 184, 189 Komplementarität 39f. Konformität 286 Konstruktivismus 95, 99f., 235
Sachregister
Konvergenz von Lebenswelten 315 Kriminalitäts-Furcht-Paradox 254 Kritische Theorie 101 Kühle Medien 305 Kultivierungsanalyse 245, 247, 253 Kultivierungsdifferential 246f. Kulturindustrie 102ff. Kulturkonsumierendes Publikum 267, 269 Kulturräsonierendes Publikum 269 Kylie-Effekt 23 Laienkommunikation 294f. Lasswell-Formel 79f. Last-Minute-Swing 282 Learning factors 168 Leitmedien 218, 369 Lesen 40, 49ff., 55, 74f., 165, 303, 318f. Lesepublikum 50 Limited effects 79, 129 Linienexperiment (Solomon Asch) 279 Locals 131f. Luther-Effekt 24 Mainstreaming 248f. Makrokommunikation -nichtöffentlich 294 -öffentlich 294 Masse 78, 127 Massengesellschaft 70f., 78 Massenkommunikation 25, 27, 30, 44, 47, 59, 61, 63, 66ff., 73ff., 81, 85, 96, 125, 139, 141, 144, 147, 169, 171, 174, 180, 189, 191, 203, 213, 263, 317, 342, 378 Massenkommunikationsforschung 56, 163, 194 Massenkultur 102, 104, 269 Massenmedien 25, 27, 29, 36ff., 42, 53, 58ff., 63, 70, 75, 77, 87, 100ff., 117, 120f., 127f., 132, 135, 141ff.,
431
146, 172f., 187, 192, 204, 213, 217, 221ff., 229, 233, 235, 237, 255, 263f., 268, 270, 274f., 282, 284, 288, 290ff., 295f., 325, 334, 337, 343, 348 Mathematisches Kommunikationsmodell 66 Mean World Index 250 Media Agenda (auch Medienagenda) 193, 194, 195, 197f., 200ff., 218, 222 Media Monitor 209 Mediating Factors 83f., 291, 356 Mediatisierung 156, 234, 251, 253, 317 Medien 18, 20, 23, 27, 29ff., 33ff., 38f., 40, 43, 45ff., 56ff., 60, 63, 68, 69, 70, 74f., 77, 87, 90, 92f., 96, 101, 103, 105f., 108, 131f., 140ff., 153, 156, 160, 172ff., 183ff., 189ff., 205ff., 213ff., 218, 222, 228, 231, 234ff., 244ff., 253ff., 256, 261ff., 266, 268, 286, 288, 301ff., 311, 312ff., 323, 328ff., 335, 336, 342, 352f., 377, 382 -erster Ordnung 69 -primäre 68 -sekundäre 68 -tertiäre 68 -zweiter Ordnung 69 Mediendifferenzierung 36, 183 Medieneffekte 98, 101, 156, 355 Medienentwicklung 18, 31, 33, 42, 54, 293, 349f., 356, 375, 382 Mediengesellschaft 20, 25, 27f., 262, 300 Medienkonkurrenz 39, 180, 184, 358 -Komplementarität 40 -Substitution 39, 308, 364 Mediennutzung 26f., 30, 39, 40, 44, 59, 74, 92f., 96, 105, 138, 205,
432
323, 326, 328f., 336, 340, 348, 378f., 381 Medienökologie 317, 323 Medientenor 283, 286, 288 Medienvielfalt 367 Medienwandel 17 Medienwirkungsforschung 18, 28, 29, 34, 58, 59, 77, 80, 83, 86, 101, 106, 121, 125, 232, 239 Medium-Theorien 303ff., 309, 311, 313, 316, 323 Meinungsführer(schaft) 30, 126, 127, 128, 129, 130ff., 135f., 139, 141, 144ff., 154ff., 289 -Beeinflussungs- und Verstärkungsfunktion der 139, 144 -Messung von 136, 148 -monomorphe 131 -polymorphe 131 -Relaisfunktion der 139 -virtuelle 156 Meinungsführermedien 156, 218 Meinungsklima 281ff., 285ff. Menge 36, 73, 278, 321 Message System Analysis 239, 245 Meta-Medien 374 Mikro-Makro-Puzzle 40 Missionarseffekt 290 Motivational factors 168 Multistep flow of communication 136 Nachindustrielle Gesellschaft 376 Nachrichtenwert(-faktoren) 57, 139, 141, 196, 215, 223, 226f., 234, 368 Network model of influence 154 Netzwerkanalyse 150, 154 News Diffusion 139, 142, 330 Niedrigkostensituationen 379 Nutzungswirkungen 89, 91 Objektivität der Medien 180
Sachregister
Öffentliche Meinung 272, 276, 288, 292 Öffentlichkeit 25, 30, 33, 52, 53, 59, 73, 196, 198f., 212, 214, 262ff., 271ff., 281ff., 288, 290, 293, 294ff., 300, 315, 325 -Drei-Ebenen-Modell 293 -oszillierende 272 -paradoxes Konstrukt 273 Onlinenutzung 344 Opinion 111, 145, 148f., 164, 172, 187, 189, 220, 247, 300 Opinion askers 146 Opinion broker 154 Opinion givers 146 Opinion sharing 146 Oprah’s Pick 23 Oszillationsmedium 371 Overcultivation 258 Palmer-Effekt 24 Parasoziale Interaktion 64 Persönlichkeitsstärke 149, 170 Persuasionsforschung 59, 159, 161, 186 Policy Agenda 196f. Primacy-Effekt 169 Priming-Effekt 206ff. Privatheit 53, 265, 267, 269 Produktionsöffentlichkeiten 367 Project Censored 212 Pseudo-Ereignisse 230, 233, 355, 356 Pseudoumwelten 190 Public Agenda (auch Publikumsagenda) 196f., 203, 205f., 210, 217 Publikumsaktivität 85, 91, 239 Publizität 26, 49, 264, 268, 327, 330 Recency-Effekt 169 Redebereitschaft 282, 286, 288, 289, 290, 292
Sachregister
Reiz-Reaktions-Modell (siehe auch Stimulus-Response-Modell) 29, 76 Relative Glaubwürdigkeit 179, 180 Relevant set 378 Repräsentation 275 Resonance 250 Rezipient 19, 20, 31, 64, 76f., 83f., 86, 88ff., 96ff., 105, 116, 118, 126, 139, 141f., 144, 159, 162, 169, 176, 191, 200, 204, 221, 225, 229, 234, 239, 295, 305, 316, 332, 335, 346, 382 Rieplsches Gesetz 351 Rollentheorie 312 Roper-Frage 176ff. Rovere Study 130 Rückkopplung 67f., 77 Rundfunk 53, 71, 128, 223, 285, 350 Scary world 247, 249 Schriftkultur 319 Schweigespirale 276, 279, 281ff., 292 Schwellenwert 121, 206 Second hand-Welten 238 Selective exposure 84 Selective perception 84 Selective retention 84 Situationismus 312f. Situations-Geografie 312, 314f. Sleeper-Effekt 166f. Small Worlds 377 Soziale Kontrolle 276f., 288 Soziales Gedächtnis 45f., 383 Sozialisationsphasen 315 Soziometrie 136, 148 Spektakuläre Medienwirkungen 107, 115 Spotlight-Funktion 202, 335
433
Stimulus-Response-Modell 76f., 80, 83, 85ff., 95, 98, 111, 116, 122, 189 Strong ties 150 Strukturwissen 330 Substitution 39 Teil-Öffentlichkeiten 296 Thematisierungsfunktion der Medien 189 The-more-the-more-Regel 39 Third Person-Effekt 186, 323 Transaktion 96 Trigger Events 199 Trustworthiness 165, 168 Tuchmansche Gesetz 223, 256 Two-Cycle-Flow-Modell 144 Tyrannei der Mehrheit 278 Umweltwahrnehmung 127, 248, 281ff., 288, 316 Unterhaltungsfernsehen 323 Uses and Gratifications 90, 92 Verbreitungsmedien 23, 33, 40, 274, 374 Videomalaise 296 Vielsehen 248, 258 Vielseher 246, 248ff., 256f. Violence Index 240ff. Wahrnehmungsmuster 303 War Bond Days 119 War of the Worlds 107f., 110ff. Weak ties 150 Web 2.0 352, 367 Webcam 384 Web-Community 350 Weblogs 367 Werther effect 24 Widerspenstiges Publikum 83, 91 Wirklichkeit der Medien 220f., 235 -Kopernikanische Antwort 235 -Ptolemäische Antwort 222, 235 -Sicherheitsgefühl 256
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Wirkungen 29f., 55, 76, 86, 91, 96ff., 108, 122, 128, 162f., 171, 189, 201, 227, 232, 245, 283, 315, 316 Wissen erster Ordnung 346, 375 Wissen zweiter Ordnung 346, 375 Wissenschaftliche Rhetorik 163 Wissenskluftforschung 325 -Causal Association-Modell 338 -Motivation-Contingency-Modell 339 -Rival Explanation-Modell 338 Wissensklufthypothese 325, 327f., 330, 334ff. WorldWideWeb 351
Sachregister
Zehn-Sender-Regel 378 Zeitbudget 40 Zeitung(en), Zeitungswesen (auch Presse) 17f., 23ff., 37, 49, 50, 53, 56ff., 74f., 102f., 117, 120, 128, 145, 160, 165, 176, 179, 183, 190f., 196, 202, 221ff., 234, 261, 266, 267, 269, 274f., 319, 321, 329, 336, 346, 378 Zirkulationsmodell der Kommunikation 66 Zwei-Stufen-Fluss der Kommunikation 129, 132, 142 Zwiebelmodell 227, 229