Jedes literarische Werk steht und fällt mit der Glaubwürdigkeit seiner Figuren. Auf dieser Grundlage entwickelt Lajos E...
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Jedes literarische Werk steht und fällt mit der Glaubwürdigkeit seiner Figuren. Auf dieser Grundlage entwickelt Lajos Egri seine Schritt-für-Schritt-Anleitung wie man starke Charaktere schafft und originelle Ideen gewinnt, die zu überzeugender Handlung führen. So entstehen gute Stücke, Drehbücher, Kurzgeschichten und Romane. Lajos Egri arbeitete als Journalist und freier Schriftsteller. Er gründete die Egri School of Writing und schrieb sein heute als Klassiker angesehenes Buch The Art of Dramatic Writing, das in 17 Sprachen übersetzt wurde. Lajos Egri wird von Theater-, Hörspiel-, Drehbuch- und Romanautoren in aller Welt geschätzt. Seine Bücher werden an vielen Universitäten wie Harvard, Yale, Princeton, Stanford und New York University eingesetzt. „Spannend zu Lesen, wie selten ein Fachbuch!"
Lajos Egri
Literarisches Schreiben Starke Charaktere Originelle Ideen Überzeugende Handlung
Aus dem Amerikanischen von Kirsten Richers
Autorenhaus Verlag
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich.
© 1965, 1993 Lajos Egri Published by Arrangement with Kensington Publishing Corp.,'New York Originalausgabe: The Art of Creative Writing Citadel Press 1995 Cover-Design, Layout und Satz: Sigrid Pomaska Deutsche Erstausgabe ISBN 3-932909-68-2 © 2002 Autorenhaus-Verlag Karmeliterweg 116, 13465 Berlin Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags. Die Verwendung in elektronischen Medien oder in Seminaren, Vorträgen etc. ist verboten. Umwelthinweis: Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt. Printed in Germany
1 SCHREIBEN FÜR DIE EWIGKEIT
7
2 ORIGINALITÄT
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3 EMOTION: DIE QUELLE DER LESERBINDUNG
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4 WICHTIG SEIN IST WICHTIG
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5 DIE ENTWICKLUNG EINER FIGUR
24
6 IMPROVISATION
29
7 WIDERSPRÜCHE IN DER FIGUR
39
8 DIE STORY IN DER ABHÄNGIGKEIT
49
9 WO FINDEN SCHRIFTSTELLER IHRE IDEEN?
53
CHARAKTERE, KONFLIKTE, IDEEN DER GEIZHALS DER PERFEKTIONIST VERLIEBT IN DIE LIEBE VÄTER UND SÖHNE DER GRAUE MANN DIE EXHIBITIONISTIN DER SCHNÄPPCHENJÄGER DER GLÜCKSPILZ DER UNERSETZLICHE DER EGOZENTRIKER DER UNTERLEGENE DIE PROGRESSIVE
55 56 56 57 58 59 60 61 62 63 64 66 67
CHARAKTERZÜGE UND MOTIVE IHRE GESCHICHTE, IHRE FIGUR
69 70
10 DIE MOTIVATION
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DIE UMWELT DIE GESCHICHTE VOM HÄSSLICHEN MANN SIE: JUNG UND SEXY. ER: IM ROLLSTUHL DIE BESCHEIDENE VORGESETZTE HELDEN DER GOTTESMANN DER GROSSZÜGIGE DAS ERSTE MAL WAHRE LIEBE WARUM DIE LIEBE GEHT TREUE HASS
76 80 84 85 85 86 95 100 103 105 114 118
11 PRINZIPIEN DES SCHREIBENS
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THESE HAUPTFIGUR DREIDIMENSIONALE FIGUREN ABHÄNGIGE GEGENSPIELER ENTWICKLUNG ORCHESTRIERUNG ANGRIFF KONFLIKT WANDEL KRISE; HÖHEPUNKT UND AUFLÖSUNG NEUN EINFACHE GEBOTE ZUR DRAMATURGIE
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1 SCHREIBEN FÜR DIE EWIGKEIT Jedes literarische Werk steht und fällt mit der Glaubwürdigkeit seiner Figuren. Deshalb muss der Autor zwischen ein-, zwei- und dreidimensionalen Figuren unterscheiden lernen. Im Grunde sind wir Menschen alle gleich; wir weichen nur graduell voneinander ab. Das hört sich schön einfach an, ist es aber nicht, denn leider verhält sich der Mensch wie ein Chamäleon. Wie aber bringen wir ihn dazu, lange genug in seiner normalen Alltagspose zu verharren, damit wir ihn so skizzieren können, wie er ist? Den Schriftsteller interessiert vor allem, wie sich ein Mensch eine dreidimensionale Figur - im wahren Leben verhält. Die Antwort könnte simpler nicht sein: Wie Sie oder ich. »Gut«, mögen Sie einwenden, »ich weiß aber gar nicht, wie ich mich verhalte. Heute so, und morgen vielleicht ganz anders. Ist das normal?« - Natürlich ist es das. Jeder Mensch ist so widersprüchlich wie Sie oder ich. Wir sind wankelmütig und unsicher. Manchmal sind wir auf einer Wellenlänge, und manchmal liegen zwischen uns Welten. Freud erntete langanhaltenden Beifall mit der Entdeckung des Es und des Über-Ich, aber bereits die Klassiker wussten um die verschlungenen Wege des Geistes. Sie beobachteten genau, wie sich die Menschen um sie herum verhielten und waren ohne Zweifel bestürzt von den Widersprüchen, die sie entdeckten. Nichts schien ein Mensch tun zu können, ohne sich dabei widersprüchlich zu verhalten. Und bis heute hat es niemanden gegeben, den wir durch und durch engelhaft oder von Grund auf verdorben nennen könnten. Diese Erkenntnis war sicher eine der größten Offenbarungen in der Zeit vor Freud, Jung, Adler. Ja, der Mensch ist ein komplexes Wesen: Er kann heroisch sein, übermenschlich und bereit, sein Leben für ein Ideal zu opfern, und anderntags geht er los und bricht seinem besten Freund das Genick - ohne mit der Wimper zu zucken. Kurz, er ist sowohl gut als auch schlecht. Es kommt nur darauf an, welche äußeren oder inneren Widersprüche ihn dazu bringen, die eine oder die andere Seite nach außen zu kehren. Für Autoren, die lernen wollen, wie man Charaktere gestaltet, ist das zu allgemein. Deshalb mache ich es an einem konkreten Beispiel deutlich - an einem Mann. Ich lege ihn auf den Operationstisch und säge vorsichtig seine Schädeldecke auf, damit Sie einen Blick auf sein komplexes Hirn werfen können. Dann wissen Sie, wo all die Widersprüche herkommen. Und da ich niemanden besser kenne als mich selbst, liefere ich Ihnen eine kurze Charakterbeschreibung meiner Person dazu. (Wenn Sie das Folgende zu Ende gelesen haben, denken Sie bitte daran, was Jesus gesagt hat: »Wer aber von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.«)
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Ich bin ein gieriger, eifersüchtiger Egoist und ständig darauf aus, andere dazu zu bringen, mich zu lieben. Tag und Nacht grüble ich: Wie kann ich es anstellen, so wichtig zu sein, dass den Leuten gar nichts anderes übrig bleibt, als mich für einen tollen Kerl zu halten? Ich geb's nicht gerne zu, aber ich will am liebsten immer nur Zustimmung ernten. So bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es für alles, was ich sage, nur zwei Gründe gibt: 1. Sympathie für mich zu gewinnen und 2. zu zeigen, wie wichtig ich bin. Das habe ich in meinem eigenen Schädel entdeckt. Zuerst hat es mir Angst eingejagt: »Unmöglich, dass ich das bin!« Aber auf den zweiten Blick sah ich leider schon wieder dasselbe. Es stimmt - das alles bin ich. Und noch mehr. Alle großen Charakterporträts wurden und werden mit der unabhängigen Haltung eines Wissenschaftlers geschrieben, um die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zutage zu fördern, ohne Rücksicht darauf, ob sie schmerzlich ist. ► Nur eine Leiche ist frei von Widersprüchen. Alles, was sie zu tun hat, ist zu zerfallen. Den lebendigen Menschen hingegen erwartet ein Herkuleskampf ums körperliche und geistige Wohl. Dieses Ewigmenschliche teilen wir mit jedem so genannten Durchschnittsbürger, auch einem Genie. Ein Blick unter unsere Schädeldecke zeigt, dass wir alle aus ein und demselben großen Wurf stammen.
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2 ORIGINALITÄT Lektoren, Verleger und Regisseure suchen ständig nach originellen Storys und Stücken. So oft, wie sie lauthals verkünden, fündig geworden zu sein, könnte man meinen, Originelles ließe sich an jeder Ecke finden, auch wenn es - ebenso wie Geniales angeblich Seltenheitswert haben soll. Dafür aber benutzen selbst die, denen man literarische Kompetenz nachsagt, das Etikett erstaunlich freizügig. »Auch ein altes, zigmal behandeltes Thema ist für mich originell, wenn es unter einem neuen Aspekt präsentiert wird«, sagt ein bekannter Romanautor. Ein anderer meint: »Bring was Spritziges rein, einen neuen überraschenden Dreh, und der zweite und dritte Akt werden gleich viel lebendiger. Zwischendurch noch ein paar clevere, originelle Sprüche einzustreuen, schadet auch nicht.« Alles Unsinn, sage ich. Was für Sie ein überraschender Dreh ist, ist für jemand anderen vielleicht ein alter Hut. Dasselbe gilt für fragwürdige clevere Sprüche und neue Bearbeitungen. Neubearbeitung heißt nichts weiter, als dass alles ein wenig umgestellt wird. Dadurch wird manches vielleicht prägnanter, aber originell ist es deshalb noch lange nicht. Einen Dramaturgen habe ich sagen hören: »Originalität zu definieren, hieße, sie zu etwas Profanem zu machen. Man kann sie nicht greifen, man spürt sie einfach. Ich weiß nicht, vielleicht käme einzigartig dem Begriff am nächsten. Es ist, als würde ein Funken aus dem Genius des Autors das Werk so erhellen, dass es einen blendet.« Es wäre hilfreich gewesen, wenn er gleichzeitig den Jungautoren verraten hätte, wie sie das, was man nicht greifen, sondern nur spüren kann, zu Papier bringen. Wenn wir versuchen wollen, Originalität zu definieren, nehmen wir uns am besten ein Meisterwerk vor - einen Roman, ein Drama oder eine Kurzgeschichte - und schauen, wo in diesem Stück Weltliteratur das Originelle steckt. Krieg und Frieden von Tolstoi, Die diamantene Halskette von Guy de Maupassant oder Das Geschenk der Weisen von 0. Henry stehen in der Achtung der Leser ganz weit oben. Und dabei bestechen diese Klassiker weder durch eine außergewöhnliche Handlung noch durch ein unorthodoxes Thema. Dennoch überdauern sie die Zeit. Warum? Wenn Sie sie noch einmal lesen, drängt es sich Ihnen förmlich auf: Die Charakterporträts sind in jedem dieser Werke hervorragend. Die Figuren erinnern uns an Menschen, die wir kennen. Vielleicht erkennen wir uns sogar selbst in ihnen wieder. Offensichtlich waren die Autoren mit ihren Figuren sehr vertraut und konnten sie mit wenigen kräftigen Pinselstrichen oder detailliert wie eine Federzeichnung zum Leben erwecken.
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Originalis heißt ursprünglich. Hier beginnt etwas Neues - etwas, das es vorher nicht gegeben hat, wie beispielsweise den Monotheismus, die Relativitätstheorie oder das Rad. Leeuwenhook hat mit seinem Mikroskop etwas Originelles erschaffen, und auch das erste von Menschenhand entfachte Feuer war ein absolut origineller Beitrag. Vor zweieinhalbtausend Jahren verblüffte Zenon die Menschheit mit einem neuen dialektischen Denkansatz. Descartes, Feuerbach, Hegel und Marx übernahmen seine Grundsätze, interpretierten sie jedoch anders. Waren sie damit auch originell? Während die drei Philosophen eine idealistische Weltanschauung vertraten, eine, die das Bewusstsein dem Sein überordnet, stellte Marx das Ganze auf den Kopf und wurde mit seinem dialektischen Materialismus zu einem der umstrittensten Denker überhaupt. Legen wir bei der Definition des Originellen die hohen Maßstäbe an, die es verdient, dann müssen wir zugeben, dass weder Descartes, noch Feuerbach noch Hegel originelle Denker waren. Aber lassen Sie uns nach einer Antwort auf die Frage »Was ist originell?« in Bezug auf das Schreiben suchen. Würden wir davon ausgehen, dass ein Werk nur dann originell sein könne, wenn sowohl die Thematik als auch die Form eine absolut neue sei, fielen sofort alle Dramen von Shakespeare, Moliere oder Ibsen durch, denn sowohl ihre Themen als auch ihre Form gibt es seit Menschengedenken. Keine Frage, Jesus, Darwin und Marx waren Verfechter revolutionärer Ideen. Kopernikus, Galileo, Newton und Einstein brachten mit ihren Erkenntnissen das zu ihrer Zeit herrschende Weltbild ins Wanken. Was wäre die Physik ohne Faraday, Tesla und Edison? Was die Medizin ohne Galen und Hippokrates? In der bildenden Kunst war es Matisse, der die bis dahin geltenden Prinzipien über Bord warf und mit seinen Farbflächen die Malerei revolutionierte. Cezanne war der Vorreiter des Kubismus, und Picasso der Schöpfer von so manchem weiteren -Ismus. Seurat ist der Vater des Pointillismus, und El Greco wurde berühmt als Vater lang gestreckter menschlicher Figuren. Lange Rede, kurzer Sinn: In der Kunst gibt es neue Tendenzen, neue Wendungen oder überraschende neue Entwicklungen, aber nur sehr wenige Künstler schaffen etwas so Originelles wie Einstein mit seiner Relativitätstheorie. Originalität ist selten, so selten wie Genialität. Egal, was wir von Gertrude Stein, E. E. Cummings oder vergleichbaren Autoren halten, eins müssen wir anerkennen: Sie haben etwas so grundlegend Neues, anderes geschaffen, dass sie das Etikett »originell« verdienen. Das heißt aber nicht unbedingt, dass sie die Menschheit damit auch ein großes Stück voranbringen. Dennoch: Originell heißt ursprünglich. Mit wirklich neu Erschaffenem kann uns die Kunst nicht überraschen, höchstens mit einem neuen Trend oder Stil, Drehs und Tricks, durch Übersteigerung oder Minimalismus. Sie kann einzelne Aspekte eines Ganzen herausgreifen. Im eigentlichen Sinne originell kann Literatur also kaum sein, ebenso wenig wie alle anderen Künste.
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► Aber wenn es für einen Schriftsteller ohnehin fast unmöglich ist, originell im strengen Sinn zu sein, womit kann er sich dann hervortun? - Mit seinen Figuren. Denn in dreidimensionalen Figuren liegen oft schon die Ideen für ein Stück, Drehbuch oder Roman. Das Geheimnis großer und zeitloser Literatur sind lebendige, schillernde Menschen. Lesen, nein, besser noch, studieren Sie die unvergänglichen Klassiker, und Sie werden sehen, es sind ihre außergewöhnlich eindringlichen Charakterporträts, die sie über die Jahrhunderte lebendig erhalten haben, und nicht irgendwelche gewagten Stilexperimente.
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3 EMOTION: DIE QUELLE DER LESERBINDUNG Selbst in großen Erzählungen und Dramen begegnen uns nicht unbedingt außergewöhnliche Gestalten. Was eine Geschichte besonders macht ist, dass wir uns mit ihren Figuren identifizieren können. Einst erzählte jemand dem Griechen Sokrates, das Orakel habe ihn gerade zum weisesten Mann Athens gewählt. Sokrates glaubte ihm nicht, doch sein Freund versicherte ihm, es sei so und weil Sokrates ein sehr gründlicher Mensch war, wollte er sichergehen, dass das Orakel sich nicht geirrt hatte. Er befragte Dichter, Politiker, das einfache Volk von der Straße und zuletzt auch die Philosophen, ob sie sich jeweils selbst für den weisesten Menschen in Athen hielten. Ausnahmslos alle sagten ja. Ernüchtert schloss Sokrates daraus, dass das Orakel leider Recht gehabt hatte: »Wenigstens weiß ich, wie wenig ich weiß.« (Das Wissen darum, wie wenig er weiß, macht selbst einen großen Schriftsteller, der mutig die Wehen der Schöpfung auf sich nimmt, bescheiden.) Ein Skeptiker könnte nun fragen: »Aber wo in einer Figur steckt denn die Kraft, die sie so außergewöhnlich macht?« Oder: »Wo steht geschrieben, dass Figuren, in denen der Leser sich oder andere wieder erkennen kann, ausreichen, um eine Story spannend zu machen? « Identifikation lautet das Stichwort. Darum muss der Schriftsteller dafür sorgen, dass der Leser oder Zuschauer in der Figur jemanden aus seinem eigenen Umfeld wieder erkennt. Bringt der Autor den Leser obendrein dazu, sich vorzustellen, alles was da passiert, könne auch ihm passieren, lädt sich die Handlung plötzlich mit Emotion auf, und der Leser wird vom bloßen Betrachter zum Beteiligten an einem aufregenden Drama. Im Gespräch mit Autoren wird hin und wieder beiläufig das Phänomen der Identifikation erwähnt, aber keiner kann so richtig erklären, was er genau damit meint und wie es zustande kommt. Das ist wirklich schade, denn wer nicht weiß, wie man die Voraussetzungen für Leseridentifikation schafft, schreibt in einem Vakuum - und fragt sich, warum er niemanden erreicht. Das Handwerk des Schreibens allein genügt nicht, der Autor muss vor allem die Figurenbildung für seine Geschichten beherrschen. Hier eine Passage aus Ibsens Hedda Gabler. Schon in der ersten Szene gelingt es Ibsen, das Publikum emotional einzubinden. Mit Häubchen auf dem Kopf und Sonnenschirm in der Hand kommt das alte Fräulein Tesman zu Besuch, um ihren Neffen Jørgen und seine Braut Hedda zu begrüßen. Die beiden sind gerade von der Hochzeitsreise zurückgekehrt. Jørgen freut sich sehr über den Besuch seiner Tante. Verständlicherweise, denn schließlich hat sich Fräulein Tesman ein Leben lang um ihn gekümmert und hat, um den Frischvermählten eine Freude zu machen, trotz ihrer kleinen Rente für einen Kredit gebürgt, damit Hedda und Jørgen sich ein paar neue Möbel kaufen können. Sie strahlt und ist voller guter Absichten.
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Hedda kommt durch eine Tür auf der linken Seite herein. Sie ist neunundzwanzig, hat edle Gesichtszüge, einen anmutigen Körper und einen durchscheinenden, blassen Teint. Ihre stahlgrauen Augen wirken kühl und ungerührt. Ihr Haar hat einen schönen mittelbraunen Ton, ist jedoch nicht sonderlich üppig. Sie trägt einen geschmackvollen, leger geschnittenen Morgenrock. FRÄULEIN TESMAN (geht Hedda entgegen): Guten Morgen, liebe Hedda. Einen wunderschönen guten Morgen! HEDDA (reicht ihr die Hand): Guten Morgen, liebes Fräulein Tesman. Schon so früh zu Besuch? Das ist aber nett. FRÄULEIN TESMAN (wirkt leicht verlegen): Nun ja ... hat die junge Frau in ihrem neuen Heim denn gut geschlafen? HEDDA: Danke, ja. Es geht. JØRGEN TESMAN (lacht): Es geht! Du bist gut, Hedda! Du hast doch noch wie ein Stein geschlafen, als ich aufgestanden bin. HEDDA: Ja, zum Glück. Schließlich muss man sich erst einmal an alles Neue gewöhnen, nicht wahr, Fräulein Tesman? So nach und nach. (Schaut nach links.) Oh, das Mädchen hat die Verandatür offen stehen lassen. Da strömt ja eine wahre Flut von Sonnenstrahlen herein. FRAULEIN TESMAN (geht zur Tür): Na, dann schließen wir sie lieber. HEDDA: Nein, nein, das nicht. Lieber Tesman, kannst du die Vorhänge vorziehen. Das gibt ein sanfteres Licht JØRGEN TESMAN (an der Tür): 3a natürlich, natürlich ... So, siehst du, Hedda, jetzt hast du Schatten und zugleich frische Luft. HEDDA: Ja, frische Luft kann man hier wirklich gebrauchen, bei diesen Unmengen an Blumen. Aber meine Liebe -wollen Sie nicht Platz nehmen, Fräulein Tesman? FRAULEIN TESMAN: Nein, vielen Dank. Jetzt weiß ich ja, dass hier alles in Ordnung ist - Gott sei Dank! Und jetzt muss ich sehen, dass ich wieder nach Hause komme. Zu der Armen, die dort liegt und auf mich wartet. JØRGEN TESMAN: Grüße sie ganz, ganz herzlich von mir. Und sage ihr, dass ich heute noch im Laufe des Tages bei ihr hereinschauen werde. FRAULEIN TESMAN: Ja, ja, das tue ich gern. Aber warte, Jørgen -(Sie greift mit der Hand in die Jackentasche.) Das hätte ich fast vergessen. Hier habe ich etwas für dich. JØRGEN TESMAN: Was ist das, Tante? FRÄULEIN TESMAN (zieht ein flaches Päckchen heraus, das in Zeitungspapier eingewickelt ist, und reicht es ihm): Hier, für dich, mein lieber Junge JØRGEN TESMAN (öffnet das Päckchen): Nein, so etwas - hast du sie für mich aufgehoben, Tante Julie? Hedda! Das ist aber wirklich rührend, findest du nicht? HEDDA (an den Etageren rechts): Ja, mein Lieber, was ist es denn? JØRGEN TESMAN: Meine alten Hausschuhe! Meine Pantoffeln, weißt du? HEDDA: Ja, ich sehe. Ich kann mich erinnern, dass du während der Reise öfters von ihnen gesprochen hast. JØRGEN TESMAN: Ja, ich habe sie sehr vermisst (Geht zu ihr.) Jetzt kannst du sie dir angucken, Hedda! HEDDA (geht zum Ofen): Nein danke, die interessieren mich wirklich nicht.
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JØRGEN TESMAN (folgt ihr): Denk dir nur, Tante Rina hat sie für mich bestickt. Obwohl sie damals schon so krank war. Ach, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viele Erinnerungen mit ihnen verbunden sind. HEDDA (am Tisch): Nun, für mich nicht. FRÄULEIN TESMAN: Da muss ich Hedda Recht geben, Jørgen. JØRGEN TESMAN: Sicher, aber ich finde, jetzt, wo sie zur Familie gehört... HEDDA (unterbricht ihn): Also mit diesem Mädchen kommen wir bestimmt nie zurecht, Tesman. FRÄULEIN TESMAN: Nicht zurechtkommen, mit Berte? JØRGEN TESMAN: Aber meine Liebe, wie kommst du denn darauf? HEDDA (zeigt auf den Stuhl): Sieh nur! Da hat sie ihren alten Hut auf dem Stuhl liegen gelassen JØRGEN TESMAN (läßt erschrocken die Hausschuhe zu Boden fallen): Aber Hedda....' HEDDA: Stell dir nur vor, wenn jemand käme und das sähe. JØRGEN TESMAN: Aber Hedda, das ist doch Tante Julies Hut! HEDDA: Tatsächlich? FRÄULEIN TESMAN (nimmt den Hut): Ja, natürlich ist das meiner. Und alt ist er übrigens auch nicht, meine Liebe. HEDDA: Ich habe ihn wirklich nicht so genau angesehen, Fräulein Tesman. FRÄULEIN TESMAN (setzt sich den Hut auf): Genau gesagt ist es das erste Mal, dass ich ihn trage. 0 ja, Gott ist mein Zeuge JØRGEN TESMAN: Und elegant ist er auch. Wirklich prächtig! FRÄULEIN TESMAN: Na, na, so überwältigend nun auch nicht, mein lieber Jørgen. (Schaut sich um.) Mein Sonnenschirm? -Ach, da ist er. (Nimmt ihn.) Denn der gehört mir auch, (murmelt) und nicht Berte. JØRGEN TESMAN: Neuer Hut und neuer Sonnenschirm! Was sagst du dazu, Hedda? HEDDA: Sehr hübsch, wirklich reizend. JØRGEN TESMAN: Ja, nicht wahr? Aber Tante, guck dir doch Hedda noch richtig an, bevor du gehst! Sieh nur, wie hübsch und reizend sie erst ist. FRÄULEIN TESMAN: Ach mein Lieber, das ist nun wirklich nichts Neues. Hedda war ja schon immer äußerst hübsch anzusehen! (Sie nickt und geht nach rechts.) JØRGEN TESMAN (folgt ihr): Ja, schon. Aber ist dir aufgefallen, wie rund und füllig sie geworden ist? Wie viel sie auf unserer Reise zugelegt hat? HEDDA (geht durch den Raum): Ach, hör doch auf....' FRÄULEIN TESMAN (bleibt stehen und dreht sich um): Hat sie zugelegt? JØRGEN TESMAN: Ja, Tante Julie, du kannst es nicht so gut sehen bei dem Kleid, das sie jetzt anhat. Aber ich, der ich Gelegenheit habe... HEDDA (ungeduldig an der Glastür): Ach, du hast Gelegenheit zu gar nichts! JØRGEN TESMAN: Das muss die Bergluft in Tirol gewesen sein ... HEDDA (kurz, ihn unterbrechend): Ich habe die gleiche Figur wie vor der Reise. JØRGEN TESMAN: Ja, das behauptest du. Aber das stimmt nicht. Findest du nicht auch, Tante?
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FRÄULEIN TESMAN (hat die Hände gefaltet und starrt sie an): Reizend - reizend reizend ist Hedda. (Geht auf sie zu, neigt mit beiden Händen ihren Kopf und gibt ihr einen Kuss aufs Haar.) Gott segne und beschütze Hedda Tesman. Jørgen zuliebe. HEDDA (macht sich behutsam frei): Ach ... lassen Sie mich doch. FRÄULEIN TESMAN (gerührt): Ich werde euch jeden Tag besuchen. JØRGEN TESMAN: Oh, mach das bitte, Tante! Ja? FRÄULEIN TESMAN: Auf Wiedersehen - auf Wiedersehen! (Sie geht durch die Tür zur Diele ab. Jørgen Tesman bringt sie hinaus. Die Tür bleibt halb offen. Jørgen Tesman bleibt zu hören, wie er seine Grüße für Tante Rina wiederholt und sich noch einmal für seine Hausschuhe bedankt. - Gleichzeitig geht Hedda durchs Zimmer, hebt die Arme und ballt die Hände wie in Wut. Sie zieht die Vorhänge vor der Glastür auf, bleibt dort stehen und schaut hinaus...) Henrik Ibsen: Hedda Gabler. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Philipp Reclam jun., Stuttgart, 2001. Aus dem Norwegischen von Christel Hildebrandt
Wie soll sich ein junger Mensch heute mit Fräulein Tesman identifizieren? Ihn verbindet nichts mit ihr, oder? Hätte ich ein anderes Beispiel wählen sollen? - Ich glaube nicht, denn der junge Mensch hat durchaus etwas mit Fräulein Tesman gemeinsam: Irgendwann ist auch er schon einmal gedemütigt worden. Fräulein Tesman wird von der stolzen, egozentrischen Hedda gedemütigt. Hedda schüttet Ihren ganzen Frust darüber, einen Mann wie Jørgen geheiratet zu haben, über das Haupt der unschuldigen alten Dame aus, obwohl diese nichts als Liebe im Her-zen trägt. Fräulein Tesman wird gedemütigt, und augenblicklich identifizieren wir uns mit ihr. Das muss uns nicht einmal bewusst sein. Wir bedauern Fräulein Tesman und verabscheuen Hedda. Warum? - Jeder erwachsene Mensch hat schon einmal in seinem Leben den Schmerz der Erniedrigung gespürt. In diesem Fall löst also die Demütigung die Identifikation aus. Demütigung ist universell und zeitlos. Identifikation lässt sich erreichen, wenn die Figuren Gefühle transportieren, die jeder sofort nachempfinden kann. Identifikation ist nicht nur im Theater oder beim Lesen wichtig, sondern auch im Alltag. Nehmen Sie an, Sie treffen einen Fremden. Ein kurzer Blick genügt, um einen ersten Eindruck von ihm zu gewinnen. Es kann sein, dass Sie den Menschen auf Anhieb verabscheuen, obwohl er ordentlich gekleidet, höflich und vielleicht sogar freundlich zu Ihnen ist. Warum? - Wenn wir einmal verspottet, bloßgestellt, missachtet wurden oder wenn uns jemand gequält hat, vergessen wir das nie. Und wenn dieser arme Mensch nun das Pech hat, uns unbewusst an den zu erinnern, der uns früher einmal schlecht behandelt hat, weckt das sofort Feindseligkeit in uns. Bittere Gefühle können jahrelang in uns schlummern, werden aber bei der geringsten Provokation sofort wach, auch wenn wir den Menschen, der sie plötzlich in uns weckt, noch nie zuvor gesehen haben.
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Und wie im wirklichen Leben sind es auch beim Lesen die Emotionen, die für die Identifikation sorgen. Präsentiert der Autor einen gewissenlosen Menschen, kann er davon ausgehen, dass die Figur nicht gerade die Sympathie des Lesers gewinnen wird. Die Frage, die sich daraus ergibt, nämlich ob die Figur bei jedem Leser die gleiche Reaktion auslöst, kann man mit einem eindeutigen Ja beantworten. Sie widersprechen vielleicht. Darum erinnere ich noch einmal daran, dass ich hier von elementaren, archaischen Gefühlen wie Liebe, Hass, Eifersucht, Angst und Gier spreche. Ob und wie heftig der Leser reagiert, hängt vom Autor ab. Mangelt es seiner Figur an Kontur, regt sich beim Leser gar nichts. Deshalb ist es so wichtig, von Anfang an eine gewisse Spannung aufzubauen und die muss der Leser gleich zu Beginn spüren. Ohne Spannung keine großen Gefühle und umgekehrt. In Lillian Hellmans Die kleinen Füchse spricht Birdie, eine schwache und ängstliche junge Frau, im Esszimmer mit Cal, einem schwarzen Diener, als plötzlich Oscar Hubbard, Birdies Ehemann, ins Zimmer kommt und die Tür schnell hinter sich schließt. CAL: Ja, Ma'm. Aber Simon bekommt das bestimmt nicht richtig hin. Trotzdem, ich werd's ihm ausrichten. BIRDIE: Linke Schublade, Cal, und sag ihm, er soll das blaue Album mitbringen -und... OSCAR(scharf): Birdie! BIRDIE (wendet sich ihm ängstlich zu): Oh, Oscar, ich wollte nur, dass Simon mir mein Musikalbum bringt. OSCAR (ZU Cal): Kümmer dich nicht um das Album. Miss Birdie hat es sich anders überlegt. BIRDIE: Nein, wirklich, Oscar. Wirklich, ich habe Mr. Marshall versprochen, ich würde ... (Cal schaut die beiden an und verlässt den Raum) OSCAR: Wieso verschwindest du einfach vom Tisch und rennst durchs Haus wie ein Kind? BIRDIE (versucht, fröhlich zu klingen): Aber Oscar, Mr. Marshall hat ausdrücklich gesagt, er wolle mein Album sehen. Ich habe ihm davon erzählt, wie Mama die Wagners kennen gelernt hat, und dass Frau Wagner ihr ein Programmheft mit Autogramm und ein großes Foto geschenkt hat. Mr. Marshall möchte sich die Sachen gern anschauen. Sehr gern sogar. Wir haben uns so schön unterhalten ... OSCAR (geht einen Schritt auf sie zu): Du hast auf ihn eingeschwatzt wie eine Elster. Keine Sekunde hast du ihn in Ruhe gelassen. Bestimmt ist er nicht extra in den Süden gekommen, um sich von dir langweilen zu lassen. BIRDIE (zutiefst gekränkt): Er hat sich nicht gelangweilt. Nein, gelangweilt hat er sich bestimmt nicht. Er ist ein sehr gebildeter, kultivierter Herr, (lauter) Es ist nicht zu fassen jedes Mal, wenn ich mich amüsiere, sprichst du so mit mir. OSCAR (wendet sich ihr zu, mit scharfer Stimme): Du hast wohl zu viel Wein getrunken. Jetzt reiß dich zusammen. BIRDIE (entfernt sich von ihm, den Tränen nahe, schrill): Was tu ich denn? Ich tu doch gar nichts. Was tu ich bloß?
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OSCAR (folgt ihr gereizt): Reiß dich endlich zusammen. Führ dich nicht auf wie eine Närrin. BIRDIE (dreht sich zu ihm um, leise): Ich glaube nicht, dass er sich gelangweilt hat. Nein, bestimmt nicht. Manche Menschen mögen Musik und unterhalten sich gern darüber. Mehr habe ich nicht getan.
Wir sind über Oscar Hubbard empört. Er ist ein brutaler Mensch. Kurz drauf wird er seine Frau ins Gesicht schlagen. Es ist nur zu menschlich, dass wir uns wünschen, Oscar würde selber geschlagen, wie er es verdient. Wieder ist es ein Gefühl, diesmal Empörung, das Spannung erzeugt, wenn wir Bestrafung verlangen. Auch die Glasmenagerie von Tennessee Williams ist ein gutes Beispiel für Identifikation. Die Angst der Mutter um ihre verkrüppelte Tochter wirkt ansteckend. In Tod eines Handlungsreisenden zeigt Arthur Miller, wie Verzweiflung einen Menschen in den Selbstmord treibt. Niemand kann Willy Loman beim Träumen zusehen, ohne Mitleid zu bekommen. Wir erkennen uns selbst in diesem Mann, werden nachdenklich, was unsere eigenen Träume und unser Leben angeht. Sartres Geschlossene Gesellschaft lässt uns schaudern. Die Figuren leben in der »Hölle«, aber diese Hölle ist schlimmer als Dantes Inferno, denn zerstörerischer als Folterqualen sind unbefriedigte Leidenschaften, gefolgt von Eintönigkeit und Langeweile - der wohl grausamsten Folter für jeden Menschen. »Also das ist die Hölle. Ich hätte es nie geglaubt ... Wisst ihr noch: Schwefel, Scheiterhaufen, Rost... Was für Albernheiten. Ein Rost ist gar nicht nötig, die Hölle, das sind die andern.« - Wir betrachten ein solches Stück mit wachsendem Horror. Nochmals: Identifikation weckt Emotionen. Anfangs reicht es, wenn Sie als Autor die Emotionen ansprechen, aber Ihr Erfolg oder Misserfolg hängt davon ab, ob Sie es schaffen, die Gefühle zu steigern und heftiger werden zu lassen. Je stärker die Emotionen, desto größer die Spannung. Wieso bestimmen Emotionen unser Leben in so hohem Maße? Und warum geht es uns so nahe, wenn wir andere Menschen leiden sehen? Aus Angst um ihr Leben wohnten unsere Urahnen auf Bäumen, und aus Angst zu verhungern sind sie auch wieder heruntergeklettert. Obwohl wir Angst als etwas Abstraktes verstehen, etwas, das wir nicht anfassen können, ist sie für uns doch körperlich spürbar. Angst kennt jeder, und es gibt kaum ein schrecklicheres Gefühl. Aber diesem Gefühl verdankt die Menschheit ihr Überleben. So paradox es klingt, Hass und Liebe, Verrat und Treue entspringen derselben Quelle - der Unsicherheit. Gefühle tauchen in unterschiedlichster Gestalt auf, erfüllen jedoch alle den einen gemeinsamen Zweck, unser Überleben zu sichern. Ohne Unsicherheit wäre Leben nicht denkbar, auch wenn - oder gerade weil wir Todesängste ausstehen, wenn wir uns nicht sicher fühlen. Unsicherheit macht uns höchst erfinderisch. Schließlich wollen wir uns schnell wieder sicher fühlen und müssen die dazu nötigen Bedingungen schaffen.
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Unsicherheit verbirgt sich also so gut wie hinter allem, was wir tun, auch wenn es zugegebenermaßen schwer ist, sich vorzustellen, dass sogar hinter einer edlen Gesinnung wie der Philanthropie nichts als Angst steckt, schließlich zeigt Nächstenliebe, wie verständnisvoll und warmherzig wir sind. Aber alle menschlichen Konflikte, seien sie persönlicher, nationaler oder internationaler Natur, haben den selben Ursprung, nämlich Unsicherheit. Aber das ist noch nicht alles: Gefühle sind wie eine unsichtbare Kette, die sich von Mensch zu Mensch über den ganzen Globus zieht und uns alle miteinander verbindet. Eine Gefahr, die das Leben eines anderen Menschen bedroht, auch wenn dieser tausend Meilen von uns entfernt lebt, empfinden auch wir als bedrohlich. Geht in England ein Mörder um, und die Polizei kann ihn nicht ergreifen, fühlen wir uns ihm auch auf der anderen Seite des Meeres ausgeliefert. Alle Gefühle sind Erscheinungsformen der Unsicherheit, welche wiederum vom Selbsterhaltungstrieb herrührt - dem Motor hinter allem, was der Mensch tut. Am heftigsten sind unsere Reaktionen, wenn - ob real oder in der Phantasie - unsere Sicherheit gefährdet ist. Weder Vernunft noch Logik bestimmen Gefühle. Meist entstehen sie spontan. Ohne sie wäre Leben nicht möglich. Sie sind Vorboten guter oder schlechter Neuigkeiten und wachen nicht nur über unser Wohlergehen, sondern letztlich auch über unser Leben. Übertragen auf die Literatur heißt das: Ein Blick auf eine Gefahr, die eine Figur in einem Drama oder einer Erzählung bedroht, berührt auch unsere eigene Sicherheit. Was anderen Menschen passiert, kann schließlich auch uns passieren. Daher reicht schon die Andeutung einer Gefahr, um augenblicklich bei uns Angstgefühle zu wecken. ► Ist das Leben eines Mannes, einer Frau oder eines Kindes von Flammen, Fluten, Erdbeben oder wilden Tieren bedroht, kündigt sich ein Verlust, etwas Beängstigendes an, geht es um Liebe, Nahrung, Kameradschaft oder Rache, ist die Figur scheu, verlassen oder krank, wird sie ausgenutzt oder gedemütigt, oder ist sie wohltätig, bescheiden, liebevoll, loyal oder mutig, dann lässt sich der Leser oder das Publikum bereitwillig an die emotionale Leine nehmen.
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4 WICHTIG SEIN IST WICHTIG Wichtig sein ist wichtig. Schockiert es Sie, wenn ich behaupte, dass alle Literatur auf diese These zurückzuführen ist? Es ist wahr! Gleich, welches Theaterstück, welchen Roman Sie lesen und ob es dort um Liebe oder Hass, um Edles oder Verruchtes geht, Sie werden feststellen: hinter jedem Werk steht der Wunsch, wichtig zu sein. Wobei »Wunsch« noch untertrieben ist, handelt es sich doch beim Geltungsbedürfnis um ein mächtiges Verlangen, das nur der Selbsterhaltungstrieb noch übertrifft. Ich gehe sogar soweit zu behaupten, das Geltungsbedürfnis sei ein Teil des Selbsterhaltungstriebs. Mit Sicherheit aber ist es das Motiv, das selbst einen satten Menschen antreibt, den auch sonst nichts bedroht. Ein Schriftsteller, der nicht weiß, warum sich Menschen so verhalten, wie sie sich verhalten, kann unmöglich dreidimensionale Figuren erschaffen. Wenn wir begreifen, wie wichtig es für uns ist, wichtig zu sein, verstehen wir auch, wie sich ein Mensch so verstellen kann, dass wir das ängstliche Weichtier hinter der beeindruckenden Fassade nur zufällig oder mit seherischen Fähigkeiten entdecken können. Das größte Mysterium auf der Erde ist der Mensch. Er wirkt auf den ersten Blick so leicht verständlich und berechenbar, dabei ist er voller Rätsel. Was er in dem einen Moment voller Überzeugung behauptet, bestreitet er schamlos im nächsten, und nennt man ihn daraufhin unzuverlässig und wankelmütig, dann ist er tödlich beleidigt. Er beteuert - und glaubt es auch selbst -, er brächte es niemals fertig, etwas Schlechtes zu tun. Seine Absichten seien stets edel. Wenn etwas schief geht, könne das nur an dem anderen liegen, dessen Absichten leider nicht halb so edel sind. Kommt Ihnen dieser Mensch irgendwie bekannt vor? Ich bin sicher, Sie kennen zumindest einen dieser Art, schließlich gibt es solche Typen wie Sand am Meer. Immer noch nicht erkannt? Schade, denn ich spreche hier von Ihnen und von mir, von uns allen. Na gut, vielleicht mit ein paar Ausnahmen. Aber wer zugeben kann, selbst gelegentlich im Unrecht zu sein, gilt als sonderbar, womöglich geistesgestört. Normal ist, dass wir so lange nach plausiblen Erklärungen für unser Fehlverhalten suchen, bis wir die Schuld beim anderen gefunden haben. Warum ist das so? Weshalb wollen Sie oder ich immer frei von Schuld sein? Wieso müssen wir immer Recht haben? - Weil wir so schrecklich unsicher sind. »Ja, vielleicht bin ich unsicher«, mögen Sie einwenden, »aber das heißt noch lange nicht, dass es jedem so geht.« Tut mir Leid, Freunde, aber höchstens Ignoranten und Verrückten gelingt es, sich in ein glückseliges Nirwana ohne Unsicherheiten einzuspinnen.
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Unsicherheit liegt allem Leben zu Grunde. Jedes menschliche Gefühl und alles was wir tun, basiert auf dieser Prämisse. Ohne Unsicherheit gäbe es keinen Fortschritt. Alles würde stillstehen. Leben wäre nicht denkbar. Gibt es dann überhaupt so etwas wie Sicherheit? - Ja, aber sie ist flüchtig. Kaum spüren wir sie, ist sie schon wieder verschwunden. Wir können sie nicht festhalten. Uns an sie gewöhnen oder uns gar vor lauter Sicherheit langweilen, können wir erst recht nicht, denn schon bei einem Anflug von Dissonanz löst sie sich in Luft auf. Die Liste von Motiven, die uns zum Handeln bewegen, ist end-los, aber sie lässt sich auf einen Punkt reduzieren, wenn wir akzeptieren, dass Unsicherheit in all ihren Erscheinungsformen die treibende Kraft hinter jedem menschlichen Gefühl und Konflikt ist. Ob Hasen- oder Löwenherz, alles was der Mensch tut, tut er, um sich auf dem wackligen Grundstein, auf dem er steht, zu halten. Ein Mann flaniert die Straße entlang, aufgeputzt vom Scheitel bis zur Sohle, ein echter Ladykiller. Er trägt eine Krawattennadel mit einem großen Brillant. Er muss ein einflussreicher Mann sein. Das ist er und jeder soll es sehen. Warum? - Wichtig zu sein ist eine Möglichkeit, sich sicherer zu fühlen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite geht ein anderer Mann, und der ist tatsächlich stadtbekannt. Er ist Millionär. Aber man sieht es ihm nicht an, er wirkt eher wie ein einfacher Angestellter. Was versteckt er? Schließlich ist er wirklich ein großes Tier, das könnte er doch zeigen. Warum zeigt er es nicht? Was hat er zu verbergen? Richtig: Jeder weiß, wie reich dieser Mann ist, wie viel Macht und Einfluss er hat. Er will die Leute nicht neidischer machen, als sie es schon sind, will keinen Hass auf sich ziehen. Deshalb versteckt er seinen Reichtum und seine scheinbare Sicherheit lieber hinter einer unscheinbaren Fassade. Unsicherheit ist vielseitig. Sie verbirgt sich, wo wir sie niemals erwartet hätten. Selbst in der Treue, einem unserer höchsten Werte. Treue ist ein Preis, den wir zahlen, um uns sicher zu fühlen. Wir hoffen, dafür mit Liebe belohnt zu werden. Aber Sicherheit ist so ziemlich der untreueste Freund, den man sich denken kann. Auch die Liebe ist ein Schutzbunker, in dem wir Sicherheit suchen. Unsere unsterbliche Liebe wird mit ebenso unsterblicher Liebe belohnt - so hoffen wir. Und mehr Liebe bedeutet für uns mehr Sicherheit. Aber wie alles im Leben ist auch die Liebe flüchtig. Sie verändert sich mit der Zeit, und wenn wir nicht aufpassen, kann unsterbliche Liebe schnell ins Gegenteil umschlagen in Hass und Tod. Betrachten wir ein paar Beispiele aus meinem Bekanntenkreis: Ein glücklich verheirateter Mann, Vater von drei reizenden Kindern, bei allen beliebt, geht eines Tages los und bringt sich um. Warum nur? Eine charmante junge Frau, verheiratet mit einem liebevollen Mann, mit dem sie einen kleinen Sohn hat - ein richtiges kleines Genie -, wirft sich jedem Kerl an den Hals, der ihr schöne Augen macht. Ist sie eine Schlampe? Nein! Bekommt sie zu Hause zu wenig Liebe? Nein. Ihr Mann wird wahrscheinlich Selbstmord oder einen Mord begehen,
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wenn er herausfindet, was sich hinter seinem Rücken abspielt. Trotzdem, ihr Verlangen, sich mit anderen Männern zu vergnügen, ist stärker, auch wenn es sie das Leben kosten könnte. Wieso bloß? Ein reicher Mann fälscht eine Unterschrift auf einem Scheck, wird erwischt und muss für ein Jahr ins Gefängnis. Aus Not hat er nicht gehandelt. Warum dann? Ich könnte noch unzählige Beispiele aufführen. Statt dessen sehe ich mir diese drei näher daraufhin an, ob meine Behauptung stimmt, dass alle menschlichen Gefühle letztendlich auf Unsicherheit basieren, die in einem anderen Gewand daherkommt. Der Mann, der sich das Leben nahm, hatte gute Gründe dafür: Bei der Autopsie kam heraus, dass er unheilbar an Krebs erkrankt war. Aber aus Liebe zu seiner Familie hat er es verschwiegen. Dennoch, die meisten Menschen halten trotz schwerer Krankheit bis zum Ende am Leben fest; nur wenige bringen sich um. Was könnte diesen Mann also noch dazu getrieben haben? Die bevorstehende finanzielle Belastung wäre ein weiterer möglicher Grund. Aber vielleicht hat er - und das scheint mir am wahrscheinlichsten tief in seinem Herzen gewusst, dass seine liebe Frau so lieb auch wieder nicht war und sich nicht lange mit einem todkranken Mann herumgeschlagen hätte. Erst wenn der letzte Funken Hoffnung erloschen ist, bringt man sich um. Ein Selbstmordkandidat hat in der Regel mehrere Gründe anzunehmen, er habe seinen Platz im Leben verloren, und die Aussicht, diesen Platz jemals zurückzuerobern, muss ihm gleich null scheinen. Also stirbt er, weil er nie wieder wichtig sein wird, und er will von denen, die ihm etwas bedeuten, nicht als der arme Wurm, der er jetzt ist, gesehen werden. Aus seinem Dilemma, so denkt er, gibt es nur einen Ausweg - den Exitus. Denn erst wenn er tot ist, wird ihm alles Verlorengeglaubte - das Mitgefühl und die Zärtlichkeit derer, die ihm einst wichtig waren - wieder zuteil. So gewinnt er plötzlich wieder an Bedeutung. Und dafür opfert er sogar sein Leben. Und was ist mit der jungen Ehefrau, die sich jedem Mann an den Hals wirft, und die deshalb mit dem Tod spielt? - Das ist eine ganz traurige Geschichte. Sie glaubt, dass sie als Frau nicht attraktiv ist. Ihre weiblichen Formen, sagt sie, haben sich nie so entwickelt, wie sie eigentlich sollten. Stimmt, ihre Brüste sind sehr klein, aber sie ist chic, sieht gut aus und hat eine Menge Charme. Was kann man sich mehr wünschen? Schließlich hat ihr Mann sie so geheiratet, oder? Nein, erzählt sie mir, hat er nicht. »Ich bin ihm nachgelaufen, hab ihm den Hof gemacht, hab alles getan, um ihm zu gefallen. Ich hab mich wie ein Geschenk dargestellt, hab die scheue Jungfrau gespielt, die ich gar nicht war, hab ihm geschmeichelt, ihm erzählt, er sei der Allergrößte, hab ihm in seinem Geschäft geholfen, mich unentbehrlich gemacht. Und jetzt...« »Jetzt bist du unentbehrlich für ihn«, sage ich. »Was willst du mehr?« »Wie andere Frauen sein. Ich sterbe vor Neid, wenn ich eine mit vollem Busen sehe. Schönheit und Anmut einer Frau stecken nun mal im Busen, er ist ein Zeichen von Fruchtbarkeit.« »Dein Körper ist doch toll.«
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»Die Männer«, weint sie, »begehren mich nicht so, wie sie andere Frauen begehren. Ich will auch begehrt werden. Ich weiß selbst, dass es das Letzte ist, was ich da tue, so von einem Bett ins nächste zu springen, aber ich will doch nur die Bestätigung, dass ich ebenso begehrenswert bin wie jede andere Frau.« »Und wieso«, frage ich, »bist du dann nie zufrieden, wenn du es bis zu einem ins Bett geschafft hast?« »Wie könnte ich?« sagt sie traurig. »Die Männer, mit denen ich schlafe, sind nicht gerade von der Art, auf die eine Frau stolz sein könnte. Vielleicht nehmen sie mich ja nur aus Mitleid oder weil ich mich mehr um sie bemühe als sie sich um mich. Oh Gott, ich bin gar keine richtige Frau.« Sie hört gar nicht mehr auf zu weinen. Würden Sie sagen, sie sei ein schlechter Mensch? Nein. Zumindest ich würde das nicht sagen. Sie ist bedauernswert, ein armes Geschöpf, auf ewig verdammt, in den Armen der Unsicherheit Sicherheit zu suchen. Damit es keine Missverständnisse gibt: Nicht alle Frauen mit kleinem Busen haben das Bedürfnis, sich ihre Weiblichkeit von allabendlich wechselnden, mehr oder weniger aufregenden Bettgefährten bestätigen zu lassen. Aber eins ist sicher: Jeder Mensch, der einen Makel an sich entdeckt, wird versuchen, ihn zu kompensieren. Niemand ist voll und ganz zufrieden mit sich. Das bedeutet, wir alle suchen nach etwas, womit wir unsere Defizite ausgleichen können. Was uns unterscheidet, ist das Ausmaß unserer Unzulänglichkeiten. Und wie zufrieden wir mit uns sind, hängt von unserer körperlichen Beschaffenheit wie von unserem sozialen Umfeld ab. Menschen, die auf kleinste Anzeichen von Missbilligung überempfindlich reagieren, sind in der Regel auch körperlich anfälliger als andere. Bestimmt fallen Ihnen selbst ein paar Beispiele hierzu ein. Ob riesige Nase, enorm große Füße oder Hände, eine Glatze oder eine allzu dichte Körperbehaarung, Blasenschwäche oder Krampfadern - körperliche Makel erscheinen uns meist so bedrohlich, weil wir den Spott unserer Mitmenschen fürchten. Und Furcht bedeutet Unsicherheit. Ein junges Mädchen aus meinem Bekanntenkreis hat sich das Leben genommen, weil eine ihrer Fesseln dicker war als die andere. Geld für eine Operation hatte sie nicht, ebenso wenig wie ein Hobby oder ein Interesse, das sie von ihrem Problem hätte ablenken können. Also kreisten ihre Gedanken tagein, tagaus um diese dicke Fessel, bis diese in ihrem Kopf schließlich so gigantische Ausmaße angenommen hatte, dass sie das Mädchen völlig aus dem Leben verdrängte. Vergessen wir aber nicht, was ich vorhin gesagt habe: Niemand begeht Selbstmord, wenn er nicht mehrere Gründe dafür hat. Im Falle des jungen Mädchens war die dicke Fessel nur der letzte, allerletzte Anstoß. Ob bewusst oder nicht, wir suchen unentwegt nach Möglichkeiten, etwas aus unseren Talenten zu machen. Wir wollen Erfolg haben, uns aufwerten, uns hervortun, wichtig sein. Großer Ehrgeiz ist meist ein Zeichen dafür, dass der Mensch versucht, einen Makel
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zu kompensieren. Die meisten Berühmtheiten haben Großes geleistet, weil sie unzufrieden mit sich waren. Erinnern Sie sich an den Mann, der den Scheckbetrug beging und im Gefängnis landete? Bestimmt ahnen Sie schon, warum er so etwas Dummes gemacht hat. Wusste er denn nicht, was mit ihm geschehen würde, wenn er erwischt würde? Natürlich war ihm das klar, aber das wollte er doch gerade! Können Sie sich vorstellen warum? Genau, die Unsicherheit kommt wieder ins Spiel. Vorhin sagte ich es schon: Unsicherheit ist ein Grund für die unmöglichsten Verhaltensweisen. Im Falle dieses Mannes war es so, dass ihn seine Familie nur noch als wandelndes Scheckbuch wahrnahm. Oft genug beschwerte er sich darüber, dass sich niemand wirklich um ihn kümmere. Seine Kinder lachten ihm ins Gesicht und sagten: »Aber klar doch, Papa, wir lieben dich« -und vergaßen ihn im nächsten Moment. Mit der gefälschten Unterschrift hat er sie dafür bestraft, sie aus ihrer satten, Gleichgültigkeit aufgeschreckt und ihr Interesse erzwungen. Ein Geniestreich war die Aktion des Mannes sicher nicht. Jemand anders hätte sich vielleicht ein Hobby gesucht, wieder ein anderer wäre zum Schürzenjäger geworden, je nach Persönlichkeit und Charakter. Ich möchte nochmals betonen: Alle menschlichen Konflikte haben ihren Ursprung in dem einen übermächtigen Gefühl der Unsicherheit. Angst ist immer erniedrigend, ein ängstlicher Mensch zeigt, dass er sich unsicher fühlt. Unsicherheit zu zeigen, bedeutet die Würde zu verlieren. Was aber ist Würde? Eine Haltung, die uns wichtig erscheinen lässt. Wer diese Haltung ablegen muss, ist in Schwierigkeiten. Ein entblößter Mensch tut alles, um sein verlorenes Gesicht wiederzugewinnen. Er wird streitsüchtig, betrügt, beschuldigt, wird waghalsig, selbst wenn er Todesängste aussteht. Wichtigkeit ist unser äußerer Schutzwall. Sie tut auch unserem Ego und unserer Gesundheit gut. Aber in einen Zustand der Sicherheit, wie wir ihn erträumen, kann sie uns nur sehr kurz versetzen. Denn leider ist Wichtigkeit eine leicht verderbliche Ware. Viele Menschen neiden sie Ihnen, und viele versuchen, sie zu unterminieren und Ihnen zu nehmen. Es gibt viele Möglichkeiten, wie Sie sich wichtig machen können. Versuchen Sie es beispielsweise mit Bescheidenheit. Das funktioniert immer. Manche Menschen schmücken sich mit ihr, als sei sie ein schönes Gewand. Und das aus gutem Grund. Denn große Bescheidenheit macht wichtig, ebenso wie große Opferbereitschaft. Mit beidem erhebt man sich über die Masse. Bewunderung erkaufen sich die Menschen zu jedem Preis, sogar ihr Leben setzen sie dafür aufs Spiel. ► Eine Fassade der Bedeutsamkeit zu errichten, ist uns angeboren. Denn im Schutz dieser Fassade verbergen wir unsere Angst die Tochter der Unsicherheit und die Mutter aller menschlichen Gefühle. Wichtig sein ist lebenswichtig.
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5 DIE ENTWICKLUNG EINER FIGUR Viele meiner Schüler klagen, ihnen schwebe zwar eine interessante Figur vor, es fiele ihnen aber nicht ein, was sie daraus machen könnten. Ich rate ihnen dann, zunächst zu versuchen, die Figur wirklich zu verstehen. Ob gut, ob schlecht, irgendwie muss sie so geworden sein, wie sie ist. Und diese Hintergründe wollen erforscht und aufgeschrieben sein. Was dabei zu dieser Person, ihrer Geschichte und ihrer Gegenwart herauskommt, kann an sich schon spannend zu lesen sein. Eine Charakterbeschreibung kann schon eine originelle Idee für eine passende Erzählung, ein Theaterstück oder ein Drehbuch enthalten. Hier der Entwurf zu einem misstrauischen Mann: Ein misstrauischer Mann ist ein zorniger Mann, selbst wenn ihm das vielleicht nicht bewusst ist. Er sucht besessen nach Bestätigung für seinen Verdacht. Der Arme versteigt sich in die absurdesten Argumente, warum er sich genau richtig verhält, und warum er keine andere Wahl hat, selbst wenn jeder Außenstehende sofort sieht, dass er auf eine Tragödie zusteuert. Ein Versuch, ihn umzustimmen, ist zwecklos. Hat er den Verstand verloren, oder warum ist er so uneinsichtig? Jeder vernünftige Mensch würde sagen: »Was soll's!« ehe er ein solches Drama veranstaltet. Was ist los mit ihm? - Die Antwort: Er kann nicht anders. Vielleicht schwindet sein Misstrauen gelegentlich, aber der brennende Hass, der ihm zugrunde liegt, bleibt. Nennen wir den Mann Otto. Otto wird einmal seine Frau umbringen. Im Augenblick ist er jedoch ein siebenjähriger Junge. Bis es soweit ist, dass er seine Frau tötet, werden also noch einige Jahre vergehen. Noch weiß Otto nicht einmal, wie seine Frau aussieht, wo sie wohnt und ob sie überhaupt schon auf der Welt ist. Ziemlich anmaßend von mir, hier den lieben Gott zu spielen und Jahre im Voraus zu prophezeien, wie der Kleine sich verhalten wird? Aber was ich hier vorhabe, hat mit Hellseherei absolut nichts zu tun, es ist so vorbestimmt. Von wem? Von mir natürlich! Es kommt immer wieder vor, dass ein Mann seine Frau umbringt. Ich habe aber keine Ahnung von seinen Lebensumständen oder Erbanlagen, die tausend kleinen und scheinbar belanglosen Episoden, die ihn geprägt haben, sind mir unbekannt. Deshalb bleibt mir nichts anderes übrig, als mir selbst einen Mörder zu erschaffen. Zuerst setze ich Otto aus lauter Einzelteilen zusammen, und dann lasse ich ihn auf die Menschheit los. Ich lehne mich zurück und schaue zu, wie er strauchelt, stürzt, wieder aufsteht, mordet, wie in einer griechischen Tragödie. Dass er am Ende zum Mörder wird, muss ich allerdings vorherbestimmen.
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Also nun zum Anfang: Otto ist Einzelkind, gerade sieben Jahre alt. Seine Mutter ist eine umgängliche und liebevolle Frau. Sie ist sehr dünn, das ist ihr wunder Punkt, auch wenn ihr Mann sie so geheiratet hat. »Olga, schläfst du? Komm schon, stell dich nicht schlafend! Ist doch erst halb zwei in der Früh. Ich kann nichts dafür, dass ich erst so spät heimkomme. Olga, nun sag doch was! Ich hab doch gesehen, wie du schnell das Licht ausgemacht hast, als ich den Schlüssel in die Hautür steckte.« Olga ist über die Maßen eifersüchtig und würde niemals schlafen können, solange ihr Mann noch unterwegs ist, hat aber Angst, das zuzugeben. Sie fängt beim geringsten Anlass an zu weinen. Sie ist aber auch eine tragische Figur - ihr rechtes Bein ist ein paar winzige Millimeter kürzer als das linke. Ihr Mann Oscar hat das allerdings in den neun Jahren ihrer Ehe nicht gemerkt. Olga hat es die ganze Zeit geschafft, diese in ihren Augen schreckliche Entstellung geschickt zu kaschieren. Weil sie außerdem so dünn ist, fürchtet sie, ihr Mann könne ihr eines Tages mit einer üppigen Superfrau davonlaufen. Verstohlen beobachtet sie Oscar beim Fernsehen. Ja, jedes Mal, wenn da so ein ordinäres, vollbusiges Weib auf der Mattscheibe erscheint, wird er munter. Olga isst und isst, die ganzen Dickmacher, aber es nützt nichts. Aus Angst vor einer Scheidung hat sie ein Kind gewollt, und nun, nach einer qualvollen Schwangerschaft, ist Otto da - der Retter ihrer Ehe. Der kleine Otto, der seinen Namen Olgas erst kürzlich verstorbenem Vater zu verdanken hat, ist ebenso zart gebaut wie sie selbst, aber er hat Oscars Gesichtszüge, was Olga unerträglich findet. Heimlich verabscheut sie ihren Mann nämlich. Seine Au-gen stehen viel zu dicht beieinander -j e nachdem, wie er schaut, sieht er damit richtig grotesk aus. Und der kleine Otto hat diese Augen auch noch geerbt, es scheint, als würde er schielen. Oscar ist ein guter Mann - aufmerksam, zuvorkommend, ein Rechtsanwalt mit solidem Einkommen. Er genießt einen untadeligen Ruf in dem Ort, in dem sie leben. Aber Olga hätte ihn nie geheiratet, wäre ihr eines Bein nicht kürzer und ihr Körper nicht so mager gewesen. Mit der Zeit hat sie sich an die Augen ihres Mannes gewöhnt, und es schaudert sie nicht mehr, wenn sie ihn ansieht. Ihre Freunde scheinen Oscar zu mögen und haben Gott sei Dank auch noch nie etwas Abfälliges über seine Augen gesagt. Einschnitt: Will ich verständlich machen, warum dieser Junge als Erwachsener einen Mord begehen wird, dann muss ich Otto gleich zu Beginn schlechte Karten geben. Denn die Umstände, die dazu fuhren, dass er später einmal zum Mörder werden wird, sind ihm schon vor seiner Zeugung vorbestimmt. Wie das? - Olga hatte Angst, einen gut aussehenden Mann zu heiraten, der sich, wie sie glaubt, von ihr abwenden würde, sobald
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er ihr missgebildetes Bein entdeckt hätte. Deshalb hat sie einen Mann geheiratet, der selbst einen körperlichen Defekt hat. Nachdem der kleine Otto nun geboren ist, findet Olga, sie hätte eigentlich nie ein Kind bekommen sollen. »Armer Schatz«, seufzt sie oft, wenn sie mit dem Baby spricht, »Unglücklicher Liebling!« Abscheu erfüllt sie bei seinem Anblick, und sie macht sich schreckliche Vorwürfe, Otto überhaupt in die Welt gesetzt zu haben. Mehr als einmal kniet sie neben der Wiege und schlägt unter hysterischen Weinkrämpfen ihren Kopf auf den Fußboden. Aber Otto wächst heran, und sein Charme und sein wundervolles, spontanes Lachen lassen ihr Herz vor Stolz schwellen. Otto ist ein kleiner Draufgänger und hat eine blühende Phantasie, und die Märchen, die ihm seine Mutter erzählt, kann er alle fehlerfrei nachspielen. Olga ist oft überrascht, wie begabt ihr Sohn ist. Schlimm wird es erst, als Otto in die Schule kommt. Seine Mitschüler nennen ihn den einäugigen Charlie. Das macht ihn rasend, und er wehrt sich mit den Fäusten. Oft kommt er blutend nach Hause. Einschnitt: Wie weit bin ich bisher gekommen? Da wäre die angstgeplagte, neurotische und eifersüchtige Mutter, die überzeugt davon ist, dass sich alle Männer und die Götter gegen sie verschworen haben, um sie leiden zu sehen. Ihren Sohn bedauert sie sogar noch mehr als sich selbst. Sie verzärtelt ihn, bis er fast an ihrem überströmenden Mitleid und Zärtlichkeit erstickt. Übermäßige Liebe, die zur Last wird - sei es zu einem Geliebten, Elternteil, Kind oder Freund - ist immer ein Zeichen von Schwäche und Angst vor dem Alleinsein. Die wachsende Angst, ihr Mann könne sie früher oder später wegen einer anderen Frau verlassen, hat zur Folge, dass Olga noch dünner wird, bis sie schließlich ganz durchscheinend und ihr Teint gespenstisch grau ist. Eines Tages bewahrheitet sich Olgas Angst. Ihr Mann bittet sie um die Scheidung. Olga ist zunächst geschockt und reagiert hysterisch, zieht sich dann aber in tödliches Schweigen zurück. Otto hingegen ist im stickigen Brutkasten ihrer ihn vor allem Unheil bewahrenden Liebe langsam herangereift. Kein rauer Wind hat ihn berührt, bis seine Mitschüler begannen, ihn zu verspotten. Nach einem dieser wenig erfreulichen Schultage rennt Otto nach Hause und sucht in den Armen seiner Mutter Trost. Aber Olga stößt ihn von sich. »Du groteskes Ungeheuer«, kreischt sie ihm ins Gesicht, »du schielender Idiot, lass mich in Ruhe!« Einschnitt: Das ist der entscheidende Wendepunkt in Ottos Leben: Die beschützende Liebe seiner Mutter schlägt plötzlich und unerklärlich in Hass um. Das Urvertrauen des Kindes ist erschüttert. Wenn Otto nicht einmal der Liebe seiner Mutter sicher sein kann, wem kann er dann überhaupt noch vertrauen? Tags darauf ist Olga liebevoller denn je zu ihm, nur um am nächsten Tag alle Männer zu verfluchen und Otto anzubrüllen, - wenn sie ihn überhaupt wahrnimmt. Und das wiederholt sich von nun an.
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Mit fünfzehn attackiert Otto seine Mutter mit einem großen Küchenmesser. »Gerade als ich ihn küssen wollte«, weint die unglückliche Frau. »Er hat sich von mir losgerissen und kam mit dem Tranchiermesser zurück, um mich zu töten!« Zum Glück können Nachbarn, die Olga schreien gehört haben, das Schlimmste verhindern. Sie verstehen nicht, wie ein so ruhiger, folgsamer Junge eine solche Tat versuchen kann. Aber Otto ist schon längst schwer gestört. Er hat Angst, wenn sich ihm jemand liebevoll nähert, weil er hinter jeder freundlichen Fassade die unvermeidliche Ablehnung erwartet. Otto kann niemandem mehr vertrauen. Er wächst zu einem einsamen jungen Mann heran. Er gibt sein letztes Hemd, wenn er anderen helfen kann, aber er flüchtet vor dem Dank der Beschenkten. Aus Angst, die Freunde von heute könnten schon morgen seine Feinde sein, geht er Freundschaften gar nicht erst ein. Otto ist inzwischen ein Mann, ein diplomierter Chemiker. Seine Kollegen schätzen und bewundern ihn, aber er ist schrecklich einsam. Seine Angst vor Verrat macht ihn zu einem hoffnungslos unglücklichen Menschen. Eigentlich kennt er den nur von seiner Mutter, denn sonst hat er niemand mehr nahe genug an sich herangelassen. Seither vermutet er hinter jedem Lächeln, jeder netten Geste und besonders hinter jedem Lob einen schlecht kaschierten Täuschungsversuch. Einschnitt: Ein weiterer Wendepunkt: Nun muss der Autor irgendwie einen Weg finden, wie er Otto mit IHR zusammenbringt, die er heiraten und später töten wird. Was für eine Frau würde ein Mann, dem jede Schmeichelei suspekt ist, heiraten? - Stark und intelligent müsste sie sein, Ehrlichkeit ihre größte Tugend. Sie müsste alles Falsche und Unechte verabscheuen. Eine solche Frau könnte ihn faszinieren. Sie würde perfekt zu Otto passen. Er heiratet sie also und - seltsam genug - verliebt sie sich nach etlichen Ehejahren tatsächlich in ihren Mann und ihre Hingabe kennt keine Grenzen. Otto erschreckt dieser plötzliche Wandel und er hat den Verdacht, sie könnte ihn betrügen. Und schon haben wir die Bühne für eine echte Tragödie vorbereitet. Fehlt nur noch ein Funke, ein Auslöser, wie eine Situation, in der sie die Geduld verliert und sagt, dass sie ihn nur aus Mitleid geheiratet hat. Ein Protagonist wie Otto muss charakterlich aus einem Guss sein. Soll er je am vorherbestimmten Ziel ankommen, darf er zwar hin und wieder schwanken, aber ändern darf er sich nie. Ein Protagonist scheitert eher, als dass er einen anderen Weg einschlägt. Die Erlaubnis zur Veränderung hat allein der Antagonist. Soviel als Vorgabe, den Rest überlasse ich Ihrem Einfallsreichtum und Ihrer Phantasie. Wir wissen nun, warum Otto ein argwöhnischer Mann ist, warum das Misstrauen so tief in ihm wurzelt, ja Bestandteil seiner Persönlichkeit ist. Diese Art Empfindung ist zerstörerisch, und sie muss einem Menschen entweder angeboren sein oder er muss die entsprechende Erfahrung bereits in sehr jungen Jahren gemacht haben. Generell gilt für einen Menschen mit so tief verwurzeltem Misstrauen, dass er sich seinen Mitmenschen ständig unterlegen fühlt. Die Möglichkeiten, seine Position zu verbessern, erscheinen ihm ausgesprochen begrenzt. Diese erschreckende Erkenntnis
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verbittert ihn und führt dazu, dass er seine vermeintlichen Gegner sehr kritisch betrachtet. Er ist tief davon überzeugt, das Schöne diene nur dazu, das Hässliche dahinter zu verbergen. Für ihn besteht die Welt nur aus Trugbildern. Mancher wird zum Ritter gegen das Falsche, zum Bluthund, der sich auf jeden Blender stürzt und damit sein eigenes Gefühl der Minderwertigkeit kaschiert. ► Vor dem Misstrauen steht der Verdacht. Vor dem Verdacht steht das Gefühl, die anderen seien alle Gegner - die Grundlage für einen stetig wachsenden Menschenhass. Jeder hat Vorlieben und Abneigungen, gegen manche Menschen ist man einfach allergisch. Als Schriftsteller müssen Sie sehr genau unterscheiden zwischen allgemeinem Misstrauen, Eifersucht und anderen negativen Gefühlen.
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6 IMPROVISATION Neulich hatte ich das Bedürfnis, zu schreiben, ohne wirklich zu wissen was. Warum immer planen, fragte ich mich. Warum muss mir unbedingt ein Thema einfallen, über das es sich zu schreiben lohnt? Kann ich nicht, frei wie ein Vogel, in die blaue Unendlichkeit hineinfliegen, ganz ohne Kompass? Ich gönn' mir einfach das Vergnügen! Also, worüber könnte ich schreiben? Seltsam, jetzt habe ich mir vorgenommen, keinen Gedanken an Aufbau, Konzept und was einem Schriftsteller sonst noch in die Quere kommt, zu verschwenden, und schon weiß ich nicht weiter. Ich muss einen Charakter kreieren. Gut, dann denk ich mir einen aus und lasse ihn laufen, wohin er will. Was für einen wähle ich? Keinen, der mir jeden Tag auf der Straße begegnet. Ich will eine Figur, die mir absolut fremd ist. Es soll ein Experiment sein, ein Urlaub sozusagen. Also,... mal überlegen ... immer mit der Ruhe ... Ich sollte zumindest wissen, mit wem ich mich da ins Vergnügen stürze. Wie wär's mit einem Künstler? Nein. Ein Pilot? Nein, nein. Ein Bankier? Bestimmt nicht! Ein Penner? Oder vielleicht ein Zuhälter! Aber was mach ich mit dem? Ich habe nie einen kennen gelernt. Einen Einstieg brauche ich ... Augenblick ... Ja, ich könnte ihn interviewen! Ich tu so, als sei ich sein Alter-Ego, und stelle ihm nur Fragen, die sich kein anderer zu fragen (und zu beantworten) traut. Soviel weiß ich: Ein Zuhälter ist ein Außenseiter, ein Krimineller. Seine Zukunftsaussichten waren gering, vielleicht hatte er auch von Anfang an keine. Aber soviel ist sicher, dieser Mann hat Charaktereigenschaften wie sonst niemand auf der Welt. Um die herauszufinden, muss ich mehr über sein Milieu wissen, über Zuhälter lesen und recherchieren. Und ich muss werden wie er und gleichzeitig wie einer, der ihn ausfragt, also selbst ein Parasit, der davon lebt, was er mir erzählt. Ich stelle mir das so vor: F: Was hältst du von deinem Vater, Victor? A: Er ist ein alter Säufer mit Blumenkohlohren, und ob er wirklich mein Alter ist, dafür gibt es keine Beweise. F: Gehen wir mal davon aus, dass er dein Vater ist. Liebst du ihn? A: Ich bestimmt nicht! Jedes männliche Vieh kann Vater werden - ist doch nichts Besonderes. F: Warum liebst du ihn nicht? A: Weil ich ihn hasse bis aufs Blut. Als ich noch in den Windeln steckte, hat er mich quer durchs Zimmer getreten. Schon daran zu denken, tut weh. Zu meiner Mutter hat er
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immer gesagt, ich sei eklig wie ne Kakerlake, und wenn sie nicht bald dafür sorgen würde, dass ich verschwände, würde er irgendwann meinen dreckigen kleinen Schädel zu Brei treten. F: Daran kannst du dich doch unmöglich erinnern! A: Kann sein, aber jedenfalls wars so. F: Und was ist mit deiner Mutter? A: Bah! Ein widerlicheres Weib als meine Mutter gibts gar nicht. Euter wie ne Kuh. Die hängen an ihr vorne dran wie zwei leere Beutel. Und auf so was soll einer abgefahren sein? Versteh nicht, wie irgendein Mann mit der ins Bett springt - mein versoffener Alter eingeschlossen. Aber muss er ja, sonst stund ich nicht hier. F: Und deine Schwester? A: Ist auch ne Zuchtkuh mit nichts in der Birne. F: Du hältst dich wohl für den Größten? A: Ich bin schon ein besonderer Typ. F: Was für einer? A: Ich bin clever, ich schufte nicht in irgend so ner Fabrik und mach mich kaputt.! F: Hast du's denn schon mal versucht? A: Klar. Ist was für verdammte Ausländer, die nichts anderes können. F: Nicht zu fassen! Weißt du überhaupt, wie viele von uns da jeden Tag arbeiten? A: Bescheuertes Volk. So reich und lassen sich da von irgend nem Sklaventreiber rumkommandieren. F: Nicht jeder wird reich geboren. A: Weiß ich selbst! Aber manche schon, und das letzte, was die tun, ist arbeiten. Deren liebe alte Pappies waren doch die eigentlichen Verbrecher. Aus den Slums kamen die gekrochen, diese Gangster, Halsabschneider, die ihrer verwöhnten Brut eben ein paar Milliönchen hinterlassen. Und ausgerechnet die wollen einem jetzt erzählen, wie wichtig Ehrlichkeit ist. Die können mich mal! F: Wie alt bist du? A: Dreißig. F: Wovon lebst du?
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A: Verdien mir mal hier, mal da was. Kleine Jobs halt. F: Was für Jobs? A: Jobs halt, hab ich doch gesagt, mehr geht dich nicht an. F: Na gut, wie du meinst. Willst du mal heiraten? A: Warum soll ich mir ne Kuh kaufen, wenn ich die Milch auch umsonst kriegen kann? F: Was hältst du von Frauen? A: Flachlegen und nix wie weg. F: Und was ist mit anderen Männern? Traust du ihnen über den Weg? A: Würde nicht mal sagen, dass ich mir selbst immer übern Weg traue. F: Wie kommts? A: Ich nehm mir was vor und mach dann im letzten Moment doch was anderes, weils mir besser scheint. F: Und wars besser? A: Will sagen, es ist schwer, anderen zu vertrauen, wenn man nicht mal sich selbst trauen kann. F: Hältst du dich für genial? A: Ich komm schon klar, mach dir man keine Sorgen. F: Mach ich aber, schließlich schreibe ich über dich, und da will ich wissen, wer du wirklich bist. A: Du steckst doch in mir drin. Finds doch selbst raus. F: Liest du Bücher? A: Wozu das denn? Da steht doch sowieso nur ein Haufen Geschwafel drin. Mann trifft Frau, und dann quaken die sich erst mal ewig die Ohren gegenseitig voll, bis sie endlich im Bett lan-den. Nicht mit mir. Ich vernasch die Weiber gleich, und spar mir das Palaver hinterher. F: Dann ist die Liebe wohl eine simple Sache für dich. A: Korrekt.
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F: Denkst du manchmal an deine Zukunft? A: Was für ne Zukunft? Man lebt, bis man ins Gras beißt. F: Was machst du, wenn du mal alt bist? A: Werd sowieso vorher erstochen oder erschossen. Damit löst sich das Problem von selbst. F: Wer sollte dich denn umbringen wollen? A: Gibt ne Menge gelangweilte Bräute, die was Abwechslung suchen. Da braucht nur mal der Kerl von einer rauszufinden, was die so treibt, und schon macht's peng. F: Zu Recht? A: Bist du beknackt? F: Was ist mit Anstand und Treue? A: Lass mich bloß in Ruhe ... F: Dass du damit nichts anfangen kannst, war ja klar - vergiss es. Wie viele Mädchen gehen eigentlich für dich anschaffen? Zwei? A: Vier. F: Schämst du dich nicht? A: Nun halt mal die Luft an. Schließlich hab ich sie nicht zu dem Job gezwungen. Sie wollten, dass ich ihnen helfe. F: Du verkaufst also Menschen ... A: Was heißt hier verkaufen! Ich beschütze sie. F: Wovor? A: Vor anderen Zuhältern, vor Kerlen, die sie ausnehmen würden. F: Und was tust du? A: Das ist ganz was anderes. Mir geben sie's freiwillig. Bin wie ein Ehemann für sie. F: Toller Ehemann. Lebt von der Prostitution. A: Verdammt! Zeig mir einen Menschen, der sich nicht an irgendwen verkauft. Wir sitzen alle im selben Boot. Wer prostituiert sich schon nicht? So seh ich das jedenfalls.
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F: Glaubst du an Gott? A: Sicher. F: Hast du nie Angst? A: Warum sollte ich? Bin bloß ein kleiner Fisch, kein großer Hai. F: Ist es dir egal, was andere von dir halten? A: Mann, jetzt hast du aber genug gequatscht. (Schweigen) Und, kennst du mich jetzt besser als vorher? F: Du hast weder ein Gewissen noch Moral und keine Achtung vor anderen. Wie kann man so leben? A: Geht schon, danke. F: Das seh ich. Aber du bist ein Tier in Menschengestalt. Einer, der kein Mitgefühl für andere Kreaturen hat, verdient es nicht, Mensch genannt zu werden. A: Toll, nun reichts aber. Langsam wirds sowieso Zeit für die Urteilsverkündung: Kannst du mich in deiner Story verbraten? Ja oder nein? F: Ich werde dich als Beispiel anführen, wie tief ein Mensch sinken kann. Du bist ein Lebewesen der untersten Kategorie, dessen Herz versteinert ist und bleibt. Beleidigt dich das, Victor? A: Keine Spur. Ich nehm dich, wie du bist, Mister. Kannst halt nicht anders. Bist ein Hinterwäldler, das ist alles. Du hast so deine Vorstellungen, und jeder, der die nicht teilt, ist für dich ein Tier. Bist längst durchschaut, und weißt du warum? - Weil ich nicht so engstirnig bin wie du. F: Victor, ich frag dich jetzt was ganz Wichtiges, also denk gründlich nach, bevor du antwortest. - Glaubst du, du kannst dich ändern? Menschlicher werden, meine ich? A: Was meinst du mit menschlicher? Ich bin menschlich! F: Ich verschwende hier bloß meine Zeit. Typen wie du ändern sich nie. Ich hab auch langsam genug gehört. Aber eins muss ich noch loswerden: Du hast doch bestimmt mit allen vier Mädchen Sex? A: Klar, schließlich sind's meine Mädchen. Würdest du an meiner Stelle doch auch, oder? F: Kein Kommentar, Victor, die Fragestunde ist beendet.
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A: Nun krieg dich ein, Mann. Ich weiß ja, dass du so was nie tun würdest ... Hey! Hey ... Hat ders aber eilig. Verdammt, was muss der die Tür so zuknallen! Naja, - er ist nur ne arme hirnlose Kakerlake. Einschnitt: Wie gesagt, Victor lebt nur in meiner Phantasie. Ich habe mir vorgestellt, wie er vielleicht auf meine Fragen reagieren könnte. Aber es gibt viele Victors, und garantiert verhält sich jeder anders. Genug von Victor. Jetzt wird er verkuppelt, dieser gewissenlose Kerl, und zwar mit einer Frau. Was für eine könnte oder würde so einen Mann lieben? Eine rein rhetorische Frage, denn noch kenne ich sie nicht. Ich suche nach einer, die das genaue Gegenteil von Victor ist. Da er von Grund auf verdorben ist, liegt es auf der Hand, dass ich eine nehme, der alles Schlechte fremd ist. Eine Idealistin, die Unschuld vom Lande. So rein wie ein Tautropfen. Einen Namen habe ich schon für sie: Barbara Watson. Hat nichts zu bedeuten, ist nur ein Name. Befragen, so wie Victor, brauche ich sie nicht. Bei ihrer geringen Lebenserfahrung würde ihr sowieso nichts Weltbewegendes einfallen. (Ganz weit hinten im Kopf klingelt es jetzt bei mir ich kenne so ein Mädchen, kann mich aber nicht erinnern, woher und wann das war.) Aber egal, was ich über sie weiß, es wird schwer sein, zwei Leute aus so unterschiedlichen Welten zusammenzubringen. Wie soll das gehen? Wie kann ein neunzehn- oder zwanzigjähriges Mädchen noch so unschuldig sein? Wie kommt es, dass sie noch keine Erfahrung mit Männern hat? Wenn doch, wie kann sie trotzdem noch so naiv sein, ohne jede Ahnung von menschlicher Perversität? Vielleicht stammt sie aus einem Ort hinter den sieben Bergen, wo sich nie einer hinverirrt? Lieber wäre mir ein Mädchen aus einer Gegend, die ich kenne. Ein Mädchen ... eine Gegend, die ich kenne ... Ja, das ist das Mädchen, das ich suche! Eine ehemalige Studentin von mir, ich sehe sie ganz deutlich vor mir. Sie ist genau richtig für meine Geschichte und wird Barbara Watson zum Leben erwecken. Was weiß ich über meine ehemalige Studentin? Sie ist das einzige Kind eines glücklich verheirateten Paars, aber wie ihre Kindheit im Einzelnen ausgesehen hat, muss ich mir selbst ausdenken. Ihr Vater verkaufte gebrauchte Autos in dem kleinen, aufstrebenden Ort in Texas, wo sie lebten. Mit zwölf erkrankte Barbara an einer schlimmen Form von rheumatischem Fieber und musste daraufhin jahrelang das Bett hüten. Während dieser Zeit wurde sie zu Hause unterrichtet und machte dort auch ihren Schulabschluss. (Soweit stimmt leider alles.) Ärzte und Spezialisten erklärten den untröstlichen Eltern, ihre Tochter werde höchstens fünfunddreißig Jahre alt. (Sie wurde tatsächlich genau fünfunddreißig.) Barbara hatte die Prognose der Ärzte durch die Tür mitgehört, aber ihre Eltern wussten das nicht. Sie bemühten sich, in Barbaras Gegenwart zuversichtlich und fröhlich zu sein, und versprachen ihr ein glückliches langes Leben.
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Barbara las täglich zwei oder drei Bücher, viele davon über die Wunder der Natur und viel Wissenschaftliches. Mit zwanzig durfte sie ihr Bett endlich verlassen. Aber schon folgte die nächste Tragödie: Beide Eltern starben bei einem Autounfall. Daraufhin erkrankte Barbara an einer beidseitigen Lungenentzündung und musste erneut das Bett hüten. Einige Mitglieder aus ihrer Kirchengemeinde halfen ihr während ihrer langen, beschwerlichen Genesungszeit. Ihr Pfarrer, Reverend Bert Hutchins, überredete einen Automechaniker und einen Freund von Barbaras verstorbenem Vater, den Gebrauchtwagenladen weiterzuführen und Barbara die Hälfte der Gewinne zukommen zu lassen. Barbara hatte keine Verwandten, außer einer Großtante, und die lebte in New York. (Eine Großstadt wie New York brauche ich, weil ich Barbara ja irgendwie mit Victor dem Zuhälter zusammenbringen muss.) Darum muss Barbara ihrer Großtante einen Brief schreiben und anfragen, ob sie zu ihr nach New York kommen könne, um bei ihr zu leben. Die alte Dame war einverstanden. Schon wenige Tage nachdem Barbara ihre Nachricht erhalten hatte, zog sie nach New York zu dieser Frau, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Wie sich herausstellte, war die Tante eine alte vertrocknete Witwe mit allerhand unangenehmen Eigenheiten. Ihr gehörte eine kleine Pension in Greenwich Village. Sie begrüßte Barbara mit kühler Distanz, und wies ihr ein dunkles kleines Zimmer im Souterrain zu, in der Nähe ihres eigenen Zimmers. Barbara aß zwar gemeinsam mit der Tante, verbrachte jedoch den Rest des Tages allein, las wissenschaftliche Bücher aus der Bücherei oder schaute Fernsehen. Eines Abends, als die Tante nicht zu Hause war, ging in Barbaras Gebäudetrakt plötzlich das Licht aus - eine Sicherung war ausgefallen. Sie klopfte an die Tür nebenan, weil sie um Hilfe bitten wollte, und ein großer, blonder, gut aussehender Mann trat heraus und fragte sie, was sie wolle. (Das war natürlich Victor der Zuhälter.) Obwohl er fand, dass sie nicht sein Fall wäre, ging er los, um eine neue Sicherung zu kaufen. Wenig später brannten im Haus wieder alle Lichter. Zum Dank lud Barbara ihn zu einem Kaffee in ihr Zimmer ein. Dabei fand Victor heraus, dass sie nicht nur naiv, sondern auch absolut weltfremd war und keine Ahnung hatte, wohin Kaffeetrinken führen kann - was die meisten Mädchen bereits als Teenager wissen. Aber auch Barbara entdeckte etwas: Victor mit seinem Aufschneiden, seinen anspruchslosen Weisheiten und Witzen hatte noch nie in seinem Leben ein Buch gelesen! Die beiden unterhielten sich eine Stunde, und von da an kam Victor Tag für Tag zu Barbara, um sich ihre spannenden kleinen Vorträge über das Universum mit seinen vielen riesigen Sternengalaxien anzuhören. Sie erklärte ihm, wie alles zusammenhing - die Erde, die Sonne, ohne die es kein Leben gäbe, und die Satelliten, die die Planeten umkreisten -, und sie erzählte, dass die Sonne und die Erde ganz am Rande eines großen Sternensystems lagen, das Milchstraße hieß.
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Victor staunte, wie viel Wissen aus diesem naiven Mädchen sprudelte, das da mit strahlendem kindlichen Gesicht unbekümmert neben ihm saß. Victor wusste nicht warum, aber er spürte eine wachsende Verwirrung in sich. Er war immer auf seinen schnellen Verstand, seine Schlagfertigkeit, seine treffenden Bemerkungen, mit denen er den Nagel auf den Kopf traf, stolz gewesen. Seinem schlichten Geist erschien alles einfach. Aber Barbara veränderte etwas in ihm. Er war sich plötzlich nicht mehr so sicher, ob er wirklich der Klügste weit und breit wäre. Er war beschämt, kam sich dumm vor, und der Wunsch, mehr zu lernen, wurde größer. Er genoss es, einfach dazusitzen und ihrer sanften, ruhigen Stimme zu lauschen. Einmal, als sie etwas über Lichtjahre erzählte, fragte er erstaunt: »Was ist das denn jetzt schon wieder?« Mit heimlicher Freude erklärte Barbara ihm, dass das Licht einhundertsechsundachtzigtausend Meilen in der Sekunde zurücklegt und man daraus errechnen kann, wie weit es sich in sechzig Sekunden, einer Stunde, an einem Tag, in einer Woche, einem Monat oder einem Jahr fortbewegt. Victor war fasziniert. Noch am selben Tag ging er zu der Wohnung, in der seine vier Mädchen lebten, und fragte sie, was sie eigentlich über Lichtjahre wüssten. Nichts wussten sie, und es war ihnen auch egal. Aber die blonde Betsy lobte Victor, wie wahnsinnig klug er doch sei, und Arah mit dem brünetten Haar fand, er solle Professor werden. Für Barbara waren Victors Besuche die einzige Freude im Leben, aber ihrer Großtante passte das Ganze überhaupt nicht. Sie drohte Victor, entweder ließe er das Mädchen in Ruhe oder er könne was erleben. Von da an ging Barbara zu Victor und erzählte ihrem wissensdurstigen Schüler in dessen Zimmer von all den Dingen, die sich in den langen Jahren ihrer Krankheit in ihrem Gedächtnis angesammelt hatten. Besonders vom Zusammenhang zwischen Mond und Gezeiten war Victor beeindruckt. Eines Tages hörte Barbaras Großtante die Stimmen der beiden in Victors Zimmer und riss die Tür auf. Sie prügelte mit ihrem Gehstock auf Victor ein, beschimpfte ihn und sagte hässliche Dinge zu ihm, die Barbara noch nie zuvor gehört hatte. Dieser Zwischenfall konnte aber ihrer Freundschaft nichts anhaben. Victor schlug Barbara vor, sich von nun an mit ihr in der Wohnung seiner vier Mädchen zu treffen. Erfreut willigte Barbara ein, und Victor war entzückt, wie seine Mädchen den Geschichten über das weite All und die winzigen Atome lauschten. Arah stellte überraschend intelligente Fragen, die Barbara eifrig beantwortete. Sie ahnte nicht, welcher Tätigkeit die Mädchen sonst nachgingen und wie sie sich anfangs über die junge Frau amüsiert hatten, die vor lauter Begeisterung für die Wissenschaft völlig vergessen hatte, dass sie eine Frau war. Mit der Zeit versammelten sich immer mehr Mädchen in der Wohnung, um Barbaras Vorlesungen zu hören. Sie kam sich vor wie Sokrates der Weise. Um die immer detaillierteren Fragen ihrer Schülerschaft beantworten zu können, ging Barbara in Büchereien und Museen und las wie eine Besessene.
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Nach einer Weile fiel ihr auf, dass ab und zu eines der Mädchen mit einem fremden Mann im Hinterzimmer verschwand, danach zurückeilte, als sei nichts geschehen, um weiter gespannt das Thema, das gerade diskutiert wurde, zu verfolgen. Sie fragte Victor danach. Ob den Mädchen die Vorlesungen nicht gefielen, langweilten sie sich etwa? Oder hatte sie am Ende gar etwas Beleidigendes gesagt? Victor war schockiert von Barbaras unbeschreiblicher Naivität. Neugierig fragte er nach ihrer Vergangenheit, und Barbara erzählte ihm nach und nach alles über sich und den schrecklichen Tod ihrer Eltern. Victor war zutiefst erschüttert. Erstmals in seinem Leben fühlte er echtes Mitleid für einen anderen Menschen. Für ihn war Barbara nicht in erster Linie eine Frau, sondern eine Persönlichkeit, die ihm etwas gegeben hatte, von dem er bisher nicht einmal geträumt hatte - eine neue Welt. In Victors bisherigem Leben war Sex etwas Alltägliches. Daher galt Barbara seine heimliche Hochachtung. Oft machte sie ihn verlegen, und manchmal brachte er in ihrer Gegenwart kein vernünftiges Wort heraus. Nachdem er ihre Geschichte gehört und ihre zerbrechliche Gestalt eingehend betrachtet hatte, war er sicher, sie würde mit fünfunddreißig sterben, wenn nicht früher. Und obwohl er nicht an Engel glaubte, war sie für ihn doch ein Wesen nicht von dieser Welt, verwirrend und ungewöhnlich. Es fiel Victor schwer, Barbara zu erklären, was seine Mädchen beruflich machten. Aber ihm war aufgefallen, wie eilig sie es in letzter Zeit hatten, die Männer nach getaner Arbeit wieder loszuwerden, um weiter den Geheimnissen der Schöpfung zu lauschen. Am liebsten mochten es die Mädchen, wenn Barbara etwas über den Ursprung von Regen und Schnee oder die Entstehung eines Regenbogens erzählte. Barbara betonte oft, dass sie auf dem Gebiet der Naturwissenschaften nur Laie sei, und empfahl ihnen, sich in der Bücherei eingehender mit den behandelten Themen zu befassen. Aber die Mädchen wollten lieber einfach nur zuhören. Victor war hingerissen von Barbaras warmherzigen Wesen. Eines Tages begann er, sie zärtlich zu berühren. Sie schob seine Hand weg, worüber er eigentlich eher erleichtert als betrübt war. Aber er hatte das Gefühl, diesem seltsamen Geschöpf etwas zu schulden, und entschloss sich, etwas zu unternehmen. (Was genau, wusste er noch nicht, aber es sollte etwas ganz Großartiges werden.) Damit wollte er ihr danken, weil sie ein so guter Mensch war. Wäre er reich gewesen, hätte er sie an einen Ort gebracht, wo man sie wieder gesund gemacht hätte. Er wollte nicht, dass die Spezialisten mit ihrer Prognose Recht behielten. Victor wollte Barbara Lebenszeit schenken, nicht Nerzmäntel und Geschmeide. Er war ganz aufgewühlt von seinen großartigen Gedanken. Er beschloss, irgendwie Geld aufzutreiben. Wie, das war ihm noch nicht ganz klar, aber dass er dabei vorsichtig sein musste, das wusste er. Schließlich wollte er Barbara nicht enttäuschen oder gar verärgern.
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Überwältigt vor Mitleid machte er viele zaghafte Annäherungsversuche. Sie sagte, sie wisse seine Freundlichkeit zu schätzen, aber sie könne sich kaum vorstellen, dass er das ausgerechnet von ihr wolle. Victor war zunächst verletzt, beschloss dann aber, sich nicht so leicht abweisen zu lassen. Denn ja, er begehre sie wirklich! Endlich gab sie ihm nach. Und erstmals in seinem jungen Leben versagte er als Mann. Dies sollte sich fatal auf seine Zukunft auswirken. Nun aber Schluss mit der improvisierten Geschichte. Ich habe sie nochmals durchgelesen und bin überrascht, wie ich instinktiv die Figuren zu einem Ensemble zusammengestellt habe. Was beweist meine Improvisation? - Sie beweist, dass in jeder Art von Literatur die Figuren aufeinander abgestimmt handeln müssen. Ohne dieses Zusammenspiel ist jede Erzählung, jedes Drama farblos. Eine gute Story ist wie ein gesunder Körper, in dem jedes Organ mühelos im Einklang mit den anderen arbeitet. Um noch einmal auf Victor zurückzukommen: Sein Versagen im Bett wird eine große Veränderung in seinem Leben nach sich ziehen. Es war ein erster Hinweis auf Alter und möglicherweise Impotenz. Gegen die Angst vor Lächerlichkeit wird er den Ehrgeiz setzen. Die Geschichte sollte sich darum auf seinen Ehrgeiz, mehr Prestige zu erringen, sei es ehrenhaft oder unehrenhaft, konzentrieren. Der Aufruhr in ihm entsteht durch das Ringen um mehr Bedeutung, und sei es auf der tiefsten Gesellschaftsstufe. ► Beim Improvisieren ergeben sich spannende Situationen, weil sich der Schriftsteller auf dem Papier frei ausleben kann. Das macht Spaß und soll es auch! Schöpferische Arbeit sollte nie zu Schwerarbeit werden, sondern immer eine spielerische Angelegenheit bleiben.
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7 WIDERSPRÜCHE IN DER FIGUR In allem, was Menschen bewegt, steckt das Potential für großartige Geschichten. Mich interessiert immer, ob sich Menschen verändern können oder nicht. »Stimmt«, werden Sie sagen, »der Mensch kann sich wandeln.« Ich jedoch habe den Verdacht, dass in jedem von uns etwas steckt, das grundsätzlich unveränderlich ist. Um meine Annahme zu beweisen, habe ich dieses Kapitel geschrieben. Der weise Sokrates hatte seine eigene Methode, sich der Wahrheit zu nähern: Er stellte eine Behauptung auf (These), begründete sie und formulierte eine Gegenbehauptung (Antithese), begründete auch diese und bewertete die ursprüngliche Behauptung im Licht der Gegenargumente (Synthese): Aus der Synthese entwickelte er eine neue These, suchte wiederum nach deren Antithese und wiederholte den Vorgang: These - Antithese - Synthese. Genial. So will ich auch vorgehen. Meine erste These lautet: Der Mensch kann sich ändern. Ich werde mich bemühen, die Gründe für diese Behauptung verständlich zu machen. Danach werde ich als Antithese behaupten, der Mensch könne sich niemals ändern und das anhand von Beispielen beweisen. THESE: Der Mensch kann sich ändern Ein Freund von mir, wie ich aus Ungarn stammend, erzählte mir folgende Geschichte: Ich muss etwa zwölf Jahre alt gewesen sein. Ich war ein großer, drahtiger Junge, der sich mit allen und jedem prügelte und nicht einmal vor dem Teufel Halt gemacht hätte. Eines Tages, auf dem Heimweg von der Schule, klingelte ich aus Spaß an jedem Haus, an dem ich vorbeikam. Es machte mir Riesenspaß, die Leu-te fluchen zu hören, wenn sie merkten, dass sie umsonst zur Tür gerannt waren. Aber am nächsten Tag kam die Rechnung. Einer meiner Klassenkameraden, Louis, ein blasser und schüchterner Junge, den ich schon oft vor Bullies beschützt hatte, verpetzte mich bei unserem Lehrer, einem alten Griesgram. Der Lehrer wollte von mir wissen, ob die Anschuldigungen stimmten. Ja, sagte ich. Die ganze folgende Woche musste ich von vier bis sechs Uhr nachsitzen und jeden Tag irgendein blödes Sprichwort fünfhundertmal abschreiben. Das hat meinem Stolz einen ganz schönen Dämpfer verpasst. Kaum war die Woche um, schwor ich meinem Verräter, ich würde ihn zum Krüppel schlagen, sobald das Schuljahr vorbei sei. Es war zwar noch einige Monate bis dahin, aber ich vergaß meine Rachepläne keine Minute. Endlich war der Tag gekommen. Meine ganze Klasse wusste, was ich vorhatte, und viele warteten nach der Abschlussfeier draußen auf das bevorstehende Spektakel. Zum
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Glück nahmen bei uns keine Eltern an der Abschlussfeier teil! Fast die halbe Klasse hatte sich versammelt, aber von Louis fehlte jede Spur. Da plötzlich sah ich ihn! Er stob aus der quirligen Menge heraus und rannte wie ein Hase um sein Leben. Sofort nahm ich seine Fährte auf, dicht gefolgt von den anderen Jungen. Sein Vorsprung wurde immer geringer. Doch als ich ihn fast eingeholt hatte, verschwand er blitzschnell in einem Hausflur und ließ die Tür hinter sich ins Schloss krachen. Da stand ich nun und spähte durch die Scheibe ins Treppenhaus. Die wilde Meute hinter mir brüllte: »Louis, komm raus, du alter Feigling!« Aber so verrückt war Louis nicht. Er wusste schon, was gut für ihn war. Im Haus war es mucksmäuschenstill. Die Jungs begannen zu klingeln und gegen die schwere Eichentür zu hämmern. Aber es tat sich nichts. Die Zeit verging, und sie verloren immer mehr die Lust. Einer nach dem anderen verzogen sie sich. Schließlich stand ich ganz allein auf der Straße. Ich hätte auch gehen können, aber dazu war ich zu stolz. »So leicht entwischt mir das kleine Wiesel nicht«, schwor ich mir. Bestimmt eine Stunde war verstrichen, als plötzlich die schwere Tür aufging und ein großer, dicker Mann vorsichtig heraustrat und sich umschaute. Als er mich auf der anderen Straßenseite sah, rief er: »Mach, dass du heimkommst. Schluss mit dem Zirkus. Verschwinde!« Dann drehte er sich um und winkte Louis zu sich heraus. Der stellte sich ganz dicht neben seinen großen, dicken Schutzengel. »Wenn du ne Tracht Prügel willst, Junge, komm rüber und hol sie dir!« rief der Mann mir zu. Ich blieb stehen und nahm statt dessen einen Stein aus meiner Tasche, einen mit ganz besonders scharfen Kanten. Mit dem zielte ich auf seinen dicken Wanst. Ich warf - und traf. Genau in die Mitte. Der Mann krümmte sich und fluchte. Er packte Louis am Kragen, schleifte ihn ins Haus und warf die Tür hinter sich zu. Was für eine Freude! Welch ein Triumph! Spätestens jetzt musste Louis klar sein, dass es für ihn kein Entrinnen gab. Ich setzte mich und machte mich auf eine weitere lange Wartezeit gefasst. Aber dann geschah etwas: Die Tür ging auf, ganz langsam. Ich sprang hoch. »Bestimmt ist das der dicke Mann, diesmal mit ner Knarre«, dachte ich. Aber es war Louis - ganz allein. Er kam geradewegs auf mich zu. Ich erstarrte. »Ob er ein Messer bei sich hat?« dachte ich. »Oder eine Handvoll Pfeffer, den er mir in die Augen schleudern will?« Ich trat einen Schritt zurück. Etwas mulmig war mir schon, aber ich war auch neugierig. Was hatte er vor? Ich sah sein feiges, ängstliches Gesicht und wie er schlotternd auf mich zukam. Seine Arme hingen schlaff und hilflos herunter, die Hände waren offen - da versteckte er nichts. Seine Schritte wurden langsamer, während er immer näher kam. Angstschweiß stand auf seinem Gesicht. Es war fahlgelb und eingefallen, wie bei meinem Großvater, den ich ein paar Wochen zuvor im Sarg hatte liegen sehen. Ich starrte Louis an. Seine Miene hatte etwas Entschlossenes, fast Mutiges. Ja, was ich aus der Ferne für Angst gehalten hatte, war Mut, sogar mehr als das, es war die Bereitschaft zu sterben. Damals konnte ich mir nicht erklären, wie er es plötzlich
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geschafft hatte, seine Feigheit und seine Furcht zu überwinden. Ganz ruhig stand er vor mir und sagte mit seiner matten Stimme: »Also gut, Martin, hier bin ich, meinetwegen töte mich.« Ich war wie hypnotisiert, wusste nicht, was ich tun oder sagen sollte. »Ich hab einen Fehler gemacht, Martin. Bitte verzeih mir.« Zwar hörte ich ihn, doch verstand ich kein Wort. Ich dachte: »Vielleicht ist das nur ein Trick, und gleich rennt er ganz schnell davon«, aber nichts dergleichen geschah. Er stand einfach nur da, völlig reglos, und wartete bereitwillig auf das, was ihm blühte. Ich fühlte mich hilflos. Meine Wut schmolz dahin, und ich wusste, ich konnte ihm nichts tun. Wie um alles in der Welt hätte ich jemanden schlagen können, der sich nicht wehrt? Nicht mal den Arm hätte ich gegen ihn heben können, selbst wenn ich gewollt hätte. Irgendwie war ich gleichzeitig angewidert und erleichtert. Ich wandte mich um und zog davon, ohne noch einmal zurückzublicken. Diese Geschichte zeigt, wie ein ängstlicher Mensch, ein Feigling, unter großem Druck, zu einem anderen Menschen werden kann. Es lässt sich nicht leugnen, dass die Spezies, zu der auch wir gehören, sich von blinden Eiferern zu klar denkenden Menschen entwickeln können. Es stimmt zwar, dass wir bestimmte Verhaltensmuster in der Kindheit erwerben, aber es kommt vor, dass uns die Gegenwart überwältigt und dieses Muster zersetzt, um sich neu zu formieren und daraus ein neuer Mensch hervorgehen kann. Angst ist eines der stärksten menschlichen Gefühle. Wie sollte es anders sein, geht es doch schließlich um unser Leben. Können wir jemals ganz frei von Angst sein? Ja, das kommt vor. Solange wir gesund sind und ein friedliches Leben führen, fühlen wir uns oft so sicher, dass uns Gefahren ganz unvorbereitet treffen. Weitere Beispiele dafür, wie Menschen sich ändern können: Der Eifersüchtige leidet unter einem Minderwertigkeitskomplex. Und minderwertig fühlt man sich, wenn man fürchtet, nicht gut genug zu sein. Kann jemanden sich wertvoller fühlen, wenn man ihn lobt oder ihm Erfolgserlebnisse beschert? Die Antwort ist: Ja, es kommt darauf an, wie anhaltend Lob und Erfolg sind, und ob der Mensch etwas auf unsere Meinung gibt. Ein Minderwertigkeitskomplex könnte sogar ins Gegenteil umschlagen - in Größenwahn. Der ist natürlich ebenso ungesund wie der ursprüngliche Minderwertigkeitskomplex, würde dem Schriftsteller aber die Möglichkeit für überraschende Entwicklungen bieten. Einem Mensch, der so konditioniert wurde, dass ihn nur seine eigenen egoistischen Interessen interessieren, ist es egal, ob dabei die Menschheit oder gar die ganze Welt zugrunde geht. Taub und blind verfolgt er nur sein persönliches Ziel. Ein Egoist ist emotional unsicher und versucht diesen Mangel durch wirtschaftliche Sicherheit
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auszugleichen. Dass er weder Liebe noch Mitgefühl zu erwarten hat, weiß er. Also will er wenigstens respektiert, wenn nicht gefürchtet sein. Respekt und Furcht scheinen ihm ein geeigneter Ersatz für Liebe. Im Alter packt ihn eine neue Gier - nach Achtbarkeit und Unsterblichkeit. Aber wie kann ein herzloser Mensch, der zeitlebens über Leichen gegangen ist, achtbar und unsterblich werden? Sie ahnen es schon: mit seinem Geld. Er kehrt den großen Menschenfreund heraus und stiftet sein ganzes Kapital für humanitäre Zwecke. Er weiß genau, dass sich in zehn, fünfzig oder hundert Jahren niemand mehr an den skrupellosen und unmenschlichen Mann erinnern wird, der er einst war. Statt dessen wird sein Name eine Reihe ehrwürdiger Institutionen zieren, und jeder wird denken: Ja, dieser wunderbare, großherzige Herr sollte jedem ein Vorbild sein! Auch er ändert er sich also, wie wir uns alle zu unserem Voroder Nachteil verändern, denn Stillstand läuft allen Naturgesetzen zuwider. Was aber steckt dahinter? - Es ist immer dasselbe alte Lied: nichts als Eigennutz. Sogar wenn wir die Gunst unserer Mitmenschen durch Bescheidenheit erlangen, schlüpfen wir lediglich in ein bescheidenes Gewand und paradieren darin herum, als gäbe es für uns nichts Schöneres, als bescheiden zu sein. Meine bisherigen Ausführungen scheinen zu beweisen, dass sich der Mensch ändern kann. Damit wäre der erste Teil meiner dialektischen Erörterung vollbracht. Nun werde ich versuchen, al-les, was ich gesagt habe, zu widerlegen. ANTITHESE: Der Mensch ändert sich nicht Wer ist ein Lügner? - Jeder, der die Dinge wissentlich und willentlich verfälscht oder verschweigt. Ein Lügner verbirgt etwas und betrügt. Aber warum? - Vielleicht aus Angst, Rache oder Spaß, um sich zu bereichern, um selbst in einem guten Licht dazustehen, um Zuwendung zu bekommen, oder einfach, um sich wichtig zu machen. Egal, warum jemand lügt, er verspricht sich etwas davon und tut es mit Kalkül. Möglich, dass ein Lügner einer unerträglichen Situation entfliehen oder jemandem aus der Patsche helfen will. Möglich, dass er anderen eine bittere Wahrheit ersparen möchte. Aber wie man es auch dreht und wendet, eine Lüge verschleiert ein gegenwärtiges oder bevorstehendes Ereignis. Eine Lüge dient also dazu, die Wahrheit zu verfälschen. Vielleicht nur für eine begrenzte Zeit, vielleicht aber auch dauerhaft. Jedenfalls ist es dem Lügner unangenehmer, die Wahrheit zu sagen, als zu lügen. Er fürchtet vielleicht, wenn er nicht lügt, könnte es schlimme Folgen haben. Von einer Lüge verspricht sich ein Mensch mitunter auch einen materiellen Gewinn, oder er vertuscht sein Scheitern. Es gibt viele Gründe für Lügen. Ich werde Ihnen nun einen sehr netten Herrn vorstellen, der leider dafür bekannt ist, ein notorischer Lügner zu sein. Die meisten Menschen lügen hin und wieder, aber dieser Mann scheint keine Gelegenheit auszulassen. Er übertreibt und verfälscht hemmungslos,
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selbst wenn er scheinbar keinen Grund dafür hat. Ich sage scheinbar, denn natürlich lügt er nicht ohne Grund, wahrscheinlich hat er sogar mehr als einen. Er wuchs als Waise in verschiedenen Kinderheimen auf, wo es schon für die geringsten Verstöße gegen die Hausordnung Ohrfeigen oder Prügel gab. Später arbeitete er in einem Beruf, in dem ihn Übertreibungen - auch eine Form der Lüge, wenn auch eine gemäßigte - ein großes Stück weitergebracht haben. Das Lügen wurde zur Sucht. Diese Sucht hielt ihn jedoch weder davon ab, zu heiraten und Kinder zu haben, und er war durchaus nicht unglücklich. Er flirtete gern, aber das tun ja viele Männer, und nicht jeder ist deshalb gleich ein notorischer Lügner. Aber dieser hier nahm es auch mit der Diskretion nicht so genau, und es dauerte nicht lange, da wurde seine Frau eifersüchtig. Er versuchte, seinen Hals mit Lügen aus der Schlinge zu ziehen, aber seine Frau ließ sich nicht täuschen. Immer öfter gab es Streit, und schließlich trennten sich die beiden. Eine Zeitlang lebte unser Freund mit einer anderen Frau zusammen, aber er musste immer wieder an seine erste Frau denken. Deshalb fing er an, ihr wieder den Hof zu machen. Stein und Bein schwor er, ihr von nun an immer treu zu bleiben. Sie ließ sich erweichen, aber nur unter der Bedingung, dass sie ihn bei der ersten Lüge, und sei es nur eine kleine Flunkerei, sofort wieder an die Luft setzen würde. Er war einverstanden und schwor der Lügerei ab. Aber bald merkte er, dass es ihn fast würgte, nicht einmal mehr übertreiben zu dürfen. Er fühlte sich miserabel und verlor das Interesse an nahezu allem. Das Leben war fad, unerträglich fad, und so fiel er langsam wieder in seine alten Gewohnheiten zurück. Er ertappte sich immer öfter bei klitzekleinen Lügen, wonach ihn jedes Mal sein Gewissen quälte. Aber wie ein Junkie brauchte er seine regelmäßige Dosis. Er musste einfach lügen! Jede Lüge braucht ein Fundament - und sei es noch so wack-lig -, auf dem der Lügner aufbauen kann. Das kann ein Bruchteil einer Bemerkung oder ein kleiner Fetzen von einem Gerücht sein. Eine gute, hieb- und stichfeste Lüge erfordert Phantasie. Eine glaubwürdige Lüge ist ein schöpferisches Werk. Der Autor - ich meine der Lügner! kann eigentlich stolz darauf sein. Aber ich glaube nicht, dass jemand seine Lügen so bewusst plant. Lügen entstehen spontan. Der Lügner hört ein Gerücht, und schon schlägt sein Geist aus wie ein Seismograph bei einem Erdbeben. Das läuft ganz automatisch ab, ohne viel Nachdenken. Plötzlich fühlt sich der Lügner quicklebendig und ganz in seinem Element. Schön ist es, auf der Welt zu sein! Zum Leidwesen unseres Lügners erreichte das Echo seiner neuen Schwindeleien bald auch seine Frau. Die war zuerst beschämt, dann erbost. Es kam zur Aussprache, und allen Unschuldsbeteuerungen zum Trotz blieb sie diesmal hart. Einschnitt: Als Schriftsteller könnte man die Geschichte dieses Mannes jetzt noch weiterspinnen und ihn auf der emotionalen Berg- und Talfahrt begleiten, die wahrscheinlich jeder Mensch in dieser Situation durchmachen würde. Vielleicht verwandelt er sich von einem liebenswürdigen, verständnisvollen Ehemann in einen zornigen und eifersüchtigen. Aber welche Gestalt er auch annimmt, im Grunde bleibt er
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doch immer derselbe - ein Lügner. Und sei es ein stillgelegter Lügner, der sich nur nicht mehr traut, den Mund aufzumachen. Ändern wird er sich jedenfalls höchstens oberflächlich. Der zwanghafte Drang zu lügen lässt sich unterdrücken, bleibt aber lebendig. Dieser Mann weiß sich nicht anders auszudrücken. Ja, unter Druck verändert sich der Mensch scheinbar, aber in den tieferen Schichten seines Unterbewusstseins lebt das, was ihm wichtig ist so heftig wie zuvor und will um jeden Preis überleben. Daran wird sich nichts ändern. Ein anderes Beispiel: Ich kenne zufällig eine reizende ältere Dame, Fräulein K. Sie gehört der presbyterianischen Kirche an, und da sie keine Familie hat und allein lebt, engagiert sie sich sehr für ihre Gemeinde. Fast ihre ganze Freizeit verbringt sie in der Kirche. Man würde meinen, sie sei der beliebteste Mensch auf Erden, aber tatsächlich wünschen sich einige der Herren im Gemeinderat, sie käme lieber heute als morgen in den Himmel. Was hat diese unschuldige alte Dame verbrochen, dass sie jedem, der im Ort Rang und Namen hat - vom Apotheker, Rechtsanwalt, Bankmanager, Kaufmann bis zum Konditor, ein solcher Dorn im Auge ist? Fräulein K. macht die Buchhaltung für eine Kartonfabrik. Dafür bekommt sie ein recht bescheidenes Gehalt, wovon sie jedoch allwöchentlich die Hälfte an ihre verarmte Gemeinde abführt. Im Kirchenblatt erscheint einmal im Monat eine Liste, auf der steht, wer wie viel gespendet hat - zum Ärger der Besserverdienenden, die regelmäßig von Fräulein K. übertroffen werden. Peinlich! »Solche Summen können wir uns gar nicht leisten, bei den hohen Ausgaben, die wir haben«, jammern sie, wenn sie unter sich sind. Aber beschämt spenden sie dann doch mehr, als sie eigentlich wollen. Die alte Dame hört zwar, dass die Herren sich über sie ärgern, stört sich jedoch nicht daran und macht weiter wie gehabt. Eines Tages - oh Schreck! - verdoppelt sie sogar ihren Spendenbeitrag. Unglaublich. Das geht zu weit. Bei der nächsten Gemeindeversammlung kommt das Thema auf den Tisch: Woher hat Fräulein K. soviel Geld? Wie kann sie sich das leisten? Sie lächelt ganz herzig und sagt, sie vertraue Gott, dass er für die Bescheidenen schon sorgen werde. Damit steht sie auf und verlässt die Versammlung. Ein paar Wochen später kommt der wahre Schock: Fräulein K. wird in der Kartonfabrik beim Stehlen erwischt. Das macht Schlagzeilen. Und was für welche. Die Kleinstadtelite lacht sich ins Fäustchen: »Diese alte Hexe! War also doch nur eine nichtsnutzige Diebin. Gott sei Dank sind wir sie los!« Bestimmt traut sich Fräulein K. nie wieder auch nur in die Nähe der Kirche, da sind sich alle einig. Die Sache landet vor Gericht. Das Spektakel will sich natürlich keiner entgehen lassen. Alle kommen, um sich an Fräulein Ks Schmach zu ergötzen, denn schließlich hat diese graue Maus mit ihrem Opfertick die Spenden in Schwindel erregende Höhen getrieben. Sie zu überbieten, hat am Ende selbst die Reichen schwer geschmerzt. Bei den Versammlungen war sie nicht müde geworden, jeden mit ihrer süßlichen Zitterstimme
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darauf hinzuweisen, dass der liebe Gott sich für bloße Lippenbekenntnisse nichts kaufen könne. Und sich mit ihr anzulegen, das hätte sich keiner getraut. Aber bei der Gerichtsverhandlung zieht Fräulein K. den nächsten Trumpf aus dem Ärmel: Sie bekennt sich ohne Umschweife des Diebstahls schuldig. »Alles dem lieben Gott zu Ehren«, sagt sie. Als der Richter sie bittet, das näher zu erläutern, beschreibt sie deutlicher, als es den Herren im Saal lieb ist, in welch desolatem Zustand sich die Kirche befindet. »Eine wahre Schande!« schimpft sie. Gut drei Viertel ihres Gehalts habe sie gespendet, aber es reiche trotzdem vorne und hinten nicht. Fast verhungert sei sie dabei, und geholfen habe ihr auch niemand. Nein, fügt sie hastig hinzu, natürlich habe keiner von ihr verlangt, Hunger zu leiden. Sie wolle damit nur sagen, beim Stehlen habe sie allein an das Wohl der Gemeinde gedacht. So habe sie nach und nach 637,30 Dollar aus der Portokasse abgezweigt. Nicht mehr! Das Geld habe sie dann bis auf den letzten Cent dem Reverend überreicht, damit dieser alles Nötige in die Wege leiten könne, um die Kirche zu renovieren. Im Zeugenstand bestätigt der Reverend, von Fräulein K. exakt 637,30 Dollar erhalten zu haben. Sie habe sogar schon Kostenvoranschläge von Zimmerleuten, Malern und anderen Handwerkern eingereicht. Eigentlich hätte die Renovierung mehr als das Dreifache gekostet, aber die gottesfürchtigen Gemeindemitglieder hatten sich bereit erklärt, der Kirche nur die Materialkosten zu berechnen. Im Gerichtssaal macht sich Verwirrung breit. Mit soviel Opferbereitschaft und Engagement hatte keiner gerechnet. Alle sind gerührt. Selbst der Vertreter der Kartonfabrik schmilzt dahin wie Eis. Seine Firma ziehe die Klage zurück, erklärt er feierlich. Aber Fräulein K. lehnt das großherzige Angebot ihres Arbeitgebers ab. »Sünde bleibt Sünde«, sagt sie, »und gehört bestraft.« Der Richter versteht diese treue Anhängerin ewiger Gerechtigkeit und verdonnert Fräulein K. prompt zu sechs Monaten Zuchthaus. Dann fügt er lächelnd hinzu: »Die Vollstreckung wird bis auf weiteres ausgesetzt.« Alles klatscht. Er habe Milde walten lassen, erklärt der Richter der errötenden Missetäterin, weil er nicht annehme, dass sich der Vorfall wiederholen werde. Fräulein K. verspricht, es werde nie wieder vorkommen. Es sei denn ... »Von wegen, es sei denn!« ruft einer der Herren aus dem Kirchenrat dazwischen. Ein anderer sagt streng: »Schwester K., ab sofort bringen Sie Ihre Anliegen bitte erst vor den Ausschuss. Und ich versichere Ihnen, wenn Ihre Kritik gerechtfertigt ist, nehmen wir uns der Missstände gemeinsam an, mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln.« Es geschehen noch Zeichen und Wunder, lautet eine Redewendung. Das kann man wohl sagen, denn kurz bevor alle Anwesenden den Saal räumen wollen, erheben sich die Herren vom Gemeinderat. Sie überreichen dem Vertreter der Kartonfabrik einen gemeinsam unterzeichneten Schuldschein über 637,30 Dollar. Mit dieser solidarischen Geste endet die Verhandlung, und der Richter erklärt das Verfahren gegen Fräulein K. für eingestellt.
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Wer ist Fräulein K.? - Sie ist eine einfache, schlecht bezahlte Buchhalterin ohne Familie, die ihr Leben in den Dienst Gottes und der Kirche gestellt hat. Unermüdlich setzt sie sich ein nicht zu ihrem eigenen Wohl, sondern zu dem ihrer Mitmenschen. Sie scheint völlig selbstlos, strebt nicht nach irdischen Reichtümern. Ihr einziges Ziel auf Erden ist es, Gott zu dienen. Das zu beweisen, ist ihr gelungen. Aber wird sie nun endlich Ruhe geben? - Niemals! Ihr Triumph vor Gericht wird sie nur noch mehr beflügeln. Sie wird den anderen Kirchenmitgliedern immer größere Opfergaben abverlangen, bis das Unvermeidliche eintritt: Die Gemeinde, der sie helfen will, wird sie ausschließen. Ganz allein wird sie am Ende dastehen, gebrandmarkt als unverbesserlicher Störenfried. Einschnitt: Es sieht so aus, als habe Fräulein K. die Seiten gewechselt. Die Dienerin wurde zur Diebin. Aber die Wandlung hat sich nur oberflächlich vollzogen. Die treibende Kraft hinter Fräulein K.s Handeln war immer ihr zwanghafter Wunsch, vor Gott eine gute Figur zu machen. Und das heißt im Grunde nichts anderes, als dass sie - wie jeder Mensch - jemandem wichtig sein wollte - das zentrale Motiv bei der Figurenbildung. Und nun ein weiterer Fall: Er ist ein wirklich sonderbarer Mann. Er ist Schriftsteller, Vater von drei entzückenden Kindern, und wird es nach eigener Einschätzung nie zu großem Ruhm als Autor bringen. Aber dieser Mann, der weder ein Genie ist noch den Ehrgeiz hat, eins zu werden, hat einen höchst eigenwilligen Weg gefunden, sich unvergesslich zu machen. Geht er irgendwo eine Kleinigkeit essen, vielleicht für einen Dollar, dann gibt er dem Kellner mindestens noch einmal denselben Betrag als Trinkgeld. Das habe ich selbst gesehen. Taxifahrern gibt er oft das Dreifache des eigentlichen Fahrpreises. Als ich ihn frage, warum er das tue, schließlich könne er es sich doch gar nicht leisten, so spendabel zu sein, lacht er und sagt: »Du hättest bloß mal das Gesicht von diesem Taxifahrer sehen sollen, als ich ihm 3,50 Dollar Trinkgeld für die kurze Fahrt gegeben habe!« »Du bist ein ganz schöner Angeber, mein Guter«, sage ich. »Glaubst du vielleicht, so was beeindruckt einen Kellner oder Taxifahrer? Die wissen doch, dass die dicksten Trinkgelder fast immer von den ärmsten Kunden kommen.« »Weiß ich ja alles«, sagt er. »Aber ob die mich für dumm oder großmannssüchtig halten, ist mir egal. Eins steht jedenfalls fest - vergessen werden sie mich nie. Und vielleicht behandeln sie so arme Schlucker wie mich ja in Zukunft höflicher, weil sie hoffen, von denen dann mehr Trinkgeld zu bekommen.« Dann fügt er hinzu: »Für mich zieht eine gute Tat die andere nach sich. Es ist wie ein stiller Zauber, der von Mensch zu Mensch wandert.« »Ist ja hochinteressant«, sage ich. »Da bist du also als Ritter des Guten unterwegs?« »Ja«, sagt er und nickt eifrig, »aber das ist nichts gegen das, was ich dafür bekomme. Wenn die Leute mich so perplex anschauen und mir danken, hüpft mein Herz vor Freude. Es ist unbeschreiblich!«
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»Aha«, sage ich, »ist ja schön für dich. Und wenn man den Lohn bedenkt, ist der Einsatz kaum der Rede wert.« Mein Schriftstellerfreund ist ein ehrlicher Mensch gewesen, aber neuerdings hat er angefangen, sich bei anderen Schriftstellern zu bedienen. Nicht sehr ehrlich. (Shakespeare hat das auch getan, aber der war ein Genie.) Der einst so fröhliche Mann ist zum Melancholiker geworden. Sein junges, spitzbübisches Gesicht hat sich verhärtet. Nur noch die kleinen Fältchen um seine kindlichen braunen Augen erinnern mich an die Zeit, als er viel und gerne gelacht hat. Geblieben ist jedoch seine verrückte Großzügigkeit, mit der er sein Geltungsbedürfnis befriedigt. SYNTHESE Anfangs habe ich behauptet, alles verändere sich, und das einzig Dauerhafte sei der stete Wandel. Dies wollte ich anschließend widerlegen: Ja, zwar ändert sich der Mensch, aber nur, um das Unveränderliche in sich zu schützen. Und um zu überleben. Louis, der kleine Feigling, stellte sich erst, als ihm kein anderer Ausweg mehr blieb. Aber damit hoffte er nur, dem Kampf zu entrinnen. Er trat als Held auf, blieb aber in Wirklichkeit, was er schon immer gewesen war - ein Feigling, der Angst vor Prügel hatte. Aus Angst vor der Strafe ist er geflüchtet, und aus Angst vor Strafe hat er sich gestellt. Auch der Egoist starb, wie er sein ganzes Leben lang gewesen war. Nachdem er seine verrückte Sucht nach Macht befriedigt hatte, suchte er sich ein neues Ziel und wurde großzügig, aber nur um noch bedeutender zu werden - und kam dadurch wieder zurück zu seinem ursprüngliches Ziel. Fräulein K. wird sowieso immer dieselbe bleiben. Der Lügner konnte zwar den Impuls zum Lügen eine Zeit lang unterdrücken, taumelte aber von einer Krise in die nächste, weil er das Lügen nicht lange sein lassen konnte. Der Schriftsteller wollte sich mit seiner Großzügigkeit wichtig machen, später stahl er aus dem gleichen Grund die Ideen anderer Autoren. Fazit: Ja, der Mensch ändert sich. Einen Lügner kann man dazu zwingen, ehrlich zu sein. Einer, für den es kein höheres Gut als die Wahrheit gibt, stellt vielleicht mit Schrecken fest, dass auch er unter gewissen Umständen unehrlich sein kann. Ein anderer hält sich für den treuesten Menschen auf Erden und begeht den größten Verrat. Und ein unsteter Taugenichts stirbt für ein heiliges Gelübde. Wie kommen solche Widersprüche zustande? - Ohne Wandel gäbe es kein Leben. Wenn wir uns ändern, dann nur, um zu überleben. In der Natur gibt es viele Beispiele dafür. Tiere, auch kleinste Insekten, wechseln ihre Farbe, um nicht gefressen zu werden. Der Mensch tut im Grunde nichts anderes, wenn er sein Verhalten wie ein Chamäleon nach außen hin ändert.
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► »Sie liebt«, »sie hasst« oder »sie ist eifersüchtig« beschreibt eine Figur nur teilweise. Eine Figur kann ehrlich werden oder unehrlich, lügen, erpressen oder vielleicht sogar morden, und das alles aus einem Grundbedürfnis heraus: ihre Stellung im Leben zu verbessern und mehr Sicherheit zu erlangen. All diese Wandlungen vollzieht sie nur aus einem Grund - zu überleben, sicher zu sein, glücklich zu sein und, am meisten, um wichtig zu sein.
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8 DIE STORY IN DER ABHÄNGIGKEIT Stellen Sie sich vor, Sie wollten über einen Tagträumer schreiben, über einen, der meint, andere seien für sein Wohl verantwortlich, oder einen, der glaubt, er könnte alle Welt in Staunen versetzen, wenn er nur die Chance bekäme, Anwalt, Forscher oder etwas ähnlich Bedeutendes zu werden. Sein Selbstvertrauen kennt keine Grenzen, aber er tut nichts, um seine Träume zu verwirklichen. Ein solcher Charakter bietet wunderbares Material für Erzählungen. Denn wir alle verlieren uns gern in Tagträumereien. Am besten steigen wir ein, indem wir unsere Hauptfigur in einen Konflikt verwickeln. »Müssen es denn immer Konflikte sein?« fragen Sie vielleicht. - Ja, weil sich jede Figur, jeder Mensch, auch Sie und ich, in Konfliktsituationen in kürzester Zeit offenbart. Egal, in welchem Genre Sie schreiben, es ist immer ratsam, gegensätzliche Charaktere miteinander zu konfrontieren und den Konflikt schon zu Beginn einzuführen. Die Kontrahenten sollten ihre Standpunkte kämpferisch vertreten. Ohne Kontroverse kein Konflikt. Reibung ist Leben, Stillstand ist der Feind allen Lebens. Die Natur kennt keinen Stillstand. Vom kleinsten Atom bis zum Millionen Lichtjahre entfernten Stern - alles kämpft, um sich zu behaupten. Dieser Kampf hat zur Stunde Null begonnen und wird bis in alle Ewigkeit andauern. Denn auch die Sterne müssen wie die Menschen vergehen. Unterschiedliche Figuren einander gegenüberzustellen nennt man »orchestrieren«. Ohne das gelingt kein gutes Werk. Zwei sehr verschiedene Menschen miteinander zu konfrontieren, bedeutet einen Konflikt zu ermöglichen und diese Situation ist wichtig für eine gute Geschichte. Ein Optimist kann von einem Pessimisten herausgefordert werden, zwei Figuren, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Wenn keiner von beiden den Konflikt scheut, kommt es unvermeidlich zum Eklat. Dasselbe gilt, wenn Sie einen Wahrheitsliebenden gegen einen, der es damit gar nicht so genau nimmt, setzen, einen Verschwender ge-gen einen Pfennigfuchser oder einen Spaßvogel gegen einen Depressiven. Die Figuren werden durch den Kontrast so deutlich wie ein schwarzer Punkt auf weißer Leinwand. Ein religiöser Fanatiker wirkt besonders fanatisch neben einem überzeugten Atheisten, ebenso ein Pedant neben einem Chaoten. Wenn Sie also Figuren ähnlichen Charakters verwenden, dann sollten Sie ihnen eine oder mehrere Kontrastfiguren gegenüberstellen. Stellen Sie sich nur zwei extreme Charaktere wie ein Träumer und eine Realistin vor, die voneinander abhängig sind. Jeder ist hundertprozentig überzeugt, seine Lebenseinstellung sei die einzig richtige. ► Wichtig ist generell, dass keiner der Kontrahenten irgendwann anfängt, die Schwächen des anderen zu dulden. Leben und leben lassen führt in der Literatur zur Totgeburt. Ein toleranter Antagonist kann eine farbige Charakterstudie abgeben, kaum aber eine Geschichte, die den Leser bis zum Ende fesselt.
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Zurück zu unserem Tagträumer. Angenommen wir verheiraten ihn mit einer Realistin: Er träumt gern, und sie ist fürs Praktische zuständig. Als sie sich kennen lernen, fasziniert sie seine idealistische Lebenseinstellung. Alles klingt so schön romantisch, schillernd und aufregend. Die Zukunft verspricht rosig zu werden, denn er hat große Pläne, von denen er den ganzen Tag erzählt. Sie ahnt nicht, dass dieser Mann über die Planungsphase nie hinauskommen wird, so weit denkt sie am Anfang nicht. Warum ist sie so blind? - Sie ist fünfunddreißig, sehr einsam und hat Torschlusspanik. Sie kommt aus einfachen, konservativen Verhältnissen und hat eine unglückliche Liebesbeziehung hinter sich. Nach diesem traurigen Kapitel hatte sie große Angst, sich noch einmal mit einem Mann einzulassen und blickte in eine einsame, hoffnungslose Zukunft. Eine Zeit lang wollte sie nicht mehr leben. Sie hat ein etwas Geld auf dem Sparbuch, ihre Eltern haben ihr ein Zweifamilienhaus hinterlassen, und sie arbeitet als Anwaltsgehilfin. Als sie den Tagträumer kennen lernt, schmeichelt es ihr, dass sich ein so gut aussehender Mann für sie interessiert. Dem Träumer hingegen gefallen ihr Verständnis, ihr unbeirrbarer Glaube an ihn und - geben wir's ruhig zu - ihre großzügigen finanziellen Zuwendungen. Geld von einer Frau anzunehmen, ist ihm nicht peinlich, schließlich kann er es leicht mit Hemingway aufnehmen, und da ist es nur eine Frage kürzester Zeit, bis sich die Verlage um sein Manuskript reißen werden. Dann wird er ihr das Geld tausendfach zurückzahlen. Ja, unser Träumer ist Schriftsteller - ein wenig erfolgreicher. Ein paar seiner Charakterstudien sind in kleinen Literaturzeitschriften erschienen. Für ihn der Beweis, dass er ein aufgehender Stern am Literaturhimmel ist, wenn auch noch ohne finanziellen Erfolg. Die beiden heiraten. Anfangs braucht sie ihn und hofft, alles werde nach Plan laufen. Dem Träumer geht es nicht anders. Ihren Job in der Kanzlei behält sie, die Realistin, vorsichtshalber, während er an seinem großen Roman schreibt - wenn er nicht gerade zu sehr damit beschäftigt ist, seinen Freunden davon zu berichten - was er mehr tut als arbeiten. Nach der Zeit des Überschwangs fängt der Ärger an. Wen von den beiden würden Sie zuerst die Geduld verlieren lassen? - Nicht den Träumer, denn der findet es zu Hause ausgesprochen gemütlich. Aber die Realistin verliert die Geduld. Das mit dem Roman wird und wird nichts, immer mehr sieht sie in ihrem Mann einen faulen, arroganten Angeber. Und so nennt sie ihn auch bald. Sie lässt kein Schimpfwort aus, wenn sie richtig in Fahrt ist, aber ein Angeber genannt zu werden, schmerzt ihn am meisten. Wochenlang könnte er dann schmollen, wenn ihn der Hunger nicht immer wieder dazu triebe, sich unterwürfig zu entschuldigen und Besserung zu geloben. Nach fünfjährigem Hin und Her dämmert es ihm, dass er vielleicht doch besser etwas unternehmen sollte, bevor seine Frau völlig den Glauben an ihn verliert. Dass sie immer ungeduldiger wird, ist kaum noch zu übersehen, und er fürchtet, sie wird ihn nicht weiter unterstützen. Wie soll er dann das Stück Weltliteratur auf seinem Schreibtisch zu Ende bringen?
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Sie hingegen kann sich nicht entschließen, ihn vor die Tür zu setzen. Alles, nur nicht wieder diese schreckliche Einsamkeit! Außerdem glaubt sie noch immer, ihr Mann könnte eines Tages doch noch einen Bestseller schreiben. Warum auch nicht? Andere schaffen es ja auch! Solche Überlegungen sind natürlich aus reiner Verzweiflung geboren. So sind die beiden auf Gedeih und Verderb aneinander gekettet. Aber zur Krise kommt es erst, als der Träumer eines Tages vergnügt zu Hause von einem Wahnsinnsangebot berichtet, das man ihm unterbreitet hat: Er kann als Partner in eine kleine Werbeagentur einsteigen. Für läppische zehntausend Dollar! Ein lächerlich geringer Preis, geradezu ein Witz. Ihr Nein kommt so direkt und entschieden, dass sofort ein erbitterter Streit entbrennt, der in eine wochenlange Fehde ausartet. Irgendwann packt er seine Habseligkeiten und verabschiedet sich. Es scheint, als mache er diesmal Ernst. Vor lauter Verzweiflung vergisst er, dass er eigentlich nirgendwo hin kann, denn außer ihr kennt er keinen Menschen, der für ihn sorgen würde. Aber sie lenkt schließlich ein, wenn auch zähneknirschend, aus Angst vor der Einsamkeit. Die Werbeagentur war kein Erfolg, und binnen kurzem sind all ihre Ersparnisse dahin. Glücklicherweise hat sie ihren Job in der Kanzlei noch, aber weil sie nun keine Ersparnisse mehr hat, schmilzt auch ihre Sicherheit rapide dahin. Sie wird krank, ein seelisches und körperliches Wrack, und die Angst, er könne sie verlassen, nun, da sie ihm nichts mehr zu bieten hat, bringt sie fast um den Verstand. Ein Albtraum. Sie tut alles, was er will, ist freundlich zu ihm und überschüttet ihn mit Zärtlichkeiten. Der Träumer aber hat endlich Oberwasser und rächt sich mit immer neuen Grausamkeiten. Sicher, dass sie ihn niemals rauswerfen wird - und wenn schon! - beginnt er, sich mit anderen Frauen zu vergnügen. Und wie geht die Geschichte aus? - Das hängt davon ab, was Sie mit ihr beweisen wollen. Wie lautet Ihre These? »Tagträumen führt zur Scheidung«? Oder »Tagträumen führt zu Mord«? Vielleicht bringt er seine Frau um, weil sie jedem erzählt hat, wie selbstsüchtig, grausam und verlogen er sei. Ein Gerücht nach dem anderen hat sie über ihn in die Welt gesetzt und alles daran gesetzt, ihn öffentlich zu demütigen. Sie hat dafür gesorgt, dass ihr Mann seines Lebens nicht mehr froh sein konnte, und das hat den erbärmlichen Wurm, dem noch nie etwas Gutes geglückt ist, so aufgeregt, dass er sie in einem Anflug blinder Wut getötet hat. Vielleicht lautet Ihre These aber auch: »Tagträumen führt zu Erfolg und Glück«. Das kommt durchaus vor. In letzter Minute, bevor es für alles zu spät ist, passiert etwas. Das Buch des Tagträumers wird veröffentlicht und es wird ein durchschlagender Erfolg. In dem Fall sollten Sie Ihre These aber in »Ausdauer führt zu Erfolg und Glück« umwandeln. Jemand, der unbeirrbar auf sein Ziel zuwandert und nie aufhört, an seine Kraft und Fähigkeit zu glauben, sieht einem Tagträumer manchmal zum Verwechseln ähnlich, besonders, wenn der Erfolg sehr lange auf sich warten lässt. (Ein Tagträumer
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und ein ausdauernder Mensch unterscheiden sich selbstverständlich gewaltig voneinander, denn während der eine träumt, hat der Ausdauernde nicht nur Zukunftsvisionen, sondern arbeitet auch daran, diese in die Tat umzusetzen.) Fesselt man zwei gegensätzliche Charaktere aneinander, wird jede Story möglich. Aus der Abhängigkeit erwächst Ihre Geschichte. Die These fasst die ganze Story in einem kurzen Satz zusammen. Vielleicht schreiben Sie wie ich zunächst in groben Zügen auf, worum es geht, und fragen sich anschließend, was Sie mit Ihrer Geschichte eigentlich sagen wollen. Formulieren Sie eine These, und beginnen Sie Ihre Story mit einer Krise, die einen Wendepunkt im Leben Ihrer Hauptfigur darstellt. Die obige Geschichte hat sich durch ihre Figuren und deren Orchestrierung ergeben: Ein Tagträumer und eine Realistin sind beide militant und intolerant gegenüber den Überzeugungen des anderen. In einem anderen Fall lernt vielleicht ein Musikfan eine junge Frau kennen, die sich ebenfalls für Musik begeistert. Der Unterschied ist, dass der Mann von der Musik besessen ist, während die Frau sich nur in normalem Maße dafür interessiert. Anfangs lassen sie sich von ihrer Verliebtheit und der Freude darüber, gemeinsame Interessen entdeckt zu haben, dazu verleiten, über diese gravierende Tatsache hinwegzusehen, später jedoch wird der Graben zwischen ihnen so beängstigend breit, dass es zu schweren Komplikationen kommt. Auch diese Geschichte erwächst aus der Orchestrierung. Finden Sie heraus, warum keiner der beiden mitten im Gefecht davonlaufen kann, formulieren Sie eine These, und schon können Sie mit Ihrer Geschichte beginnen. Ich wiederhole: Zwei kämpferische, völlig verschiedene und voneinander abhängig Charaktere sind eine ergiebige Grundlage für eine Geschichte. Während sie darum ringen, sich voneinander zu lösen, nimmt der Konflikt zwischen ihnen immer bedrohlichere Ausmaße an. Hier einige Beispiele, welche Charaktere zusammen ein perfektes Paar für eine Story abgeben würden: Der Sensible - Die Abgeklärte Die Fröhliche - Der Morbide Der Vulgäre - Die Vergeistigte ► Nehmen Sie also eine beliebige Figur und lassen Sie sie auf eine mit gegensätzlichem Charakter prallen. Finden Sie heraus, warum die beiden nicht voneinander loskommen, auch wenn sie sich nichts sehnlicher wünschen, und schon haben Sie eine spannende Story. Denn jeder verteidigt das, was ihn in seinen Augen bedeutend macht, bis zum letzten Atemzug.
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9 WO FINDEN SCHRIFTSTELLER IHRE IDEEN? Viele fragen sich, wo Schriftsteller ihre Ideen finden. Haben sie das etwa alles erlebt? Oder rennen sie immer mit einem Notizblock im Kopf durch die Welt? - Gute Schriftsteller suchen nach Charakteren, denn die sind wie Bäume, an denen die Ideen ganz von selbst wachsen. Und zwar nicht nur eine, sondern ganze Körbe voll. Will ein Schriftsteller, dass seine Storys und Stücke gut werden, dann muss er seine Figuren besser kennen als sich selbst. Besser heißt, auch ihre Motive, denn was uns selbst antreibt, ist uns meist gar nicht bewusst. So seltsam es klingt - es ist leichter, eine lebendige, dreidimensionale Figur zu erschaffen als eine unechte, eindimensionale. Angenommen, unsere Figur wäre eine durch und durch liebenswerte junge Frau. Jeder mag sie. Eine kleine unangenehme Eigenschaft wird aus ihr jedoch eine verhasste Person machen: Sie hat Vertrauen in die Menschheit. »Unter einer unangenehmen Eigenschaft verstehe ich aber etwas anderes«, werden Sie sagen. Stimmt. Den Menschen in Maßen zu vertrauen, ist in Ordnung. Aber dieser jungen Frau mangelt es völlig an gesundem Misstrauen. Für Schwindler ist sie ein gefundenes Fressen. Und das Schlimmste: Sie zieht auch andere mit ins Unglück. Wer sich mit ihr einlässt, muss mit allem rechnen - Erpressung, Polizei, Scheidung oder gar Mord. Dieser eine Charakterzug überschattet all ihre guten Seiten. Ändern kann sie sich nicht. Ebenso wenig wie Jago in Othello und die Protagonisten in vielen anderen großen Dramen, Filmen, Romanen und Erzählungen. Ein unbeugsamer Charakter liefert seine eigene Geschichte. Nicht Ihre, nicht meine, sondern seine, denn er kann nur er selbst sein. Seine Sicht der Dinge ändert sich so wenig wie seine Augenfarbe. Er will niemanden missionieren oder drangsalieren, sondern einfach nur in Ruhe gelassen werden. Jeder aus Ihrem Bekanntenkreis mit einem ausgeprägten Charakterzug eignet sich als Hauptfigur für Dutzende von Erzählungen. Er darf alle Tugenden der Welt in sich vereinen, muss aber eine Eigenschaft haben, die vielleicht liebenswert, auf Dauer aber unerträglich ist. Zum Beispiel: DER ANALYTIKER: Eigentlich ist er ein ganz normaler Mensch, aber er muss alles analysieren. Er sagt Ihnen bei allem, was Sie tun, warum Sie es tun - selbst wenn Sie gar nichts tun! DIE KONFORMISTIN: Eine nette, friedliche Person, aber sie würde lieber sterben, als aufzufallen. Stellen Sie ihr einen ausgeprägten Individualisten gegenüber, und schauen Sie zu, wie die Funken sprühen. DER SENSIBLE: Wie wäre es wohl, wenn er auf eine kaltschnäuzige Stripperin träfe?
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DER UNFEHLBARE: Stellen Sie sich vor, Sie müssten mit so jemandem leben! DER MATERIALIST: Stellen Sie ihn einem Romantiker gegenüber. Preist der Romantiker einen Sonnenuntergang, hören Sie ihn schon sagen: »Na und, was bringt dir das?« DER HYPOCHONDER: Orchestrieren Sie ihn mit einem Gesundheitsapostel, der Kranksein für die schwerste und unverzeihlichste Sünde der Welt hält. DER PENIBLE: Sein bester Gegner wäre ein schlampiger Mensch.
ÜBUNG: Bilden Sie anhand der Liste Gegensatzpaare: übermäßig
leichtgläubig
opportunistisch
antriebslos
optimistisch
schüchtern
obszön
exhibitionistisch
pessimistisch
extravagant
perfektionistisch
skeptisch
pervers
heimtückisch
selbstgerecht
vertrauensvoll
extrem ehrgeizig
gewissenlos
sinnlich
eitel
misstrauisch
vulgär
extrovertiert
schwärmerisch
verschwenderisch
nachtragend
zweifelsüchtig
streng
stoisch
duldsam
snobistisch
egoistisch
schlicht
wankelmütig
flatterhaft
systematisch
gierig Ich erinnere noch einmal daran, dass Sie extrem gegensätzliche Charaktere von einander abhängig, ja fast unzertrennlich machen müssen. Sie als Autor wissen, wie die
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Figuren voneinander loskommen könnten, und ihr Befreiungskampf wird Ihre Geschichte sein. Ein Schriftsteller sollte immer darauf achten, dass seine Figuren ganz individuelle Eigenschaften haben, die sie vom Klischee unterscheiden. Selbst der Teufel darf nicht nur böse sein. Der Überraschungseffekt ist immens, wenn eine Figur etwas tut, was man ihr nicht zugetraut hätte. So könnte sich beispielsweise ein scheinbar anständiger Mensch als Spieler entpuppen, der ohne jede Verantwortung das Leben derer gefährdet, die ihm vertrauen. Andererseits könnte ein ausgesprochener Unmensch, mit dem niemand auf demselben Erdteil leben wollte, eine Eigenschaft haben, die ihn menschlich macht. Vielleicht hat er Angst vor dem Alter. Nicht vor dem Tod wohlgemerkt, sondern davor, alt zu werden. Dieser Mann behandelt jeden schlecht, nur zu alten Leuten ist er nett. Er kümmert sich rührend um sie, und jeder, der ihn so erlebt, denkt: »Ach, was für ein reizender Mensch!« Alle anderen trauen ihm natürlich nur Schlechtes zu und können sich nicht vorstellen, dass er zu einer einzigen guten Tat fähig wäre. ► Wollen Sie also gute Literatur schreiben, müssen Sie Ihre Hauptfigur genau kennen und sie aus möglichst vielen Blickwinkeln betrachten. Dazu müssen Sie ihren Hintergrund, ihre angeborenen Eigenschaften und Leidenschaften kennen, wissen, was ihre Vorlieben und Abneigungen und wer ihre Vorbilder sind. Sie müssen all die kleinen und großen Ereignisse kennen, die sie geprägt haben und die erklären, warum die Figur ist, wie sie ist. CHARAKTERE, KONFLIKTE, IDEEN Autor: Vielleicht bin ich etwas begriffsstutzig und ohne Phantasie, aber ich habe immer noch nicht verstanden, wie man einen Konflikt heraufbeschwört. Meinen Protagonisten kenne ich inund auswendig, aber meine Figuren kommen einfach nicht in die Gänge. Was mache ich bloß falsch? Dozent: Hast du dafür gesorgt, dass die Figuren nicht voneinander lassen können? Autor: Ja schon, aber es regt sich trotzdem nichts. Dozent: Weißt du, auf welches Ziel dein Protagonist zusteuert? Autor: Natürlich, aber irgendwas fehlt. Dozent: Lies dir die folgenden Geschichten durch, und ich bin sicher, am Ende weißt du, wie du deine Figuren in Bewegung setzt. Die folgenden Geschichten und eingestreuten Bemerkungen stehen jeweils für sich. Wieso die Figuren sind, wie sie sind, bleibt offen. Die Beispiele sollen Ihnen zeigen, dass es in jeder der skizzierten Figuren eine Geschichte zu entdecken gibt.
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DER GEIZHALS Er lässt sich mit einem Wort beschreiben: geizig! Er ist ein junger Ebenezer Scrooge, voller Kraft und Energie, und er hat Geld auf der Bank. Da ihn große Zukunftsängste plagen, macht es ihn krank, selbst für wirklich nötige Dinge Geld auszugeben. Weil er aber auch nur ein Mensch ist, träumt er davon, sich zu verlieben und zu heiraten. Er findet eine Frau, die ganz verrückt nach ihm ist. Sie scheint seine Einstellung zu teilen und er freut sich, endlich eine verwandte Seele gefunden zu haben. Dass sie fast jedem nach dem Mund reden würde, der bereit ist, ihr einen Ring an den Finger zu stecken, ahnt er nicht. Auch nicht, dass sie sich fest vorgenommen hat, ihm seine Pfennigfuchserei auszutreiben. Erste Zweifel, ob ihr das je gelingen wird, hat sie, als er ihr kein Geld für Verhütungsmittel geben will. Sie wird schwanger. Die morgendliche Übelkeit überkommt ihn, wenn er die Augen aufschlägt und daran denkt, was an Arzt- und Entbindungskosten auf ihn zukommt, ganz zu schweigen von den Unsummen, die es kostet, einen weiteren Esser zu versorgen. Vielleicht sollte er seine Frau in eine Abtreibungsklinik brin-gen, bevor es zu spät ist. Aber was das wieder kostet! Während er noch abwägt, was ihn mehr Geld kosten würde, setzen bei seiner Frau die Wehen ein: Es sind Drillinge! Er ist außer sich. Diese Rücksichtslosigkeit des weiblichen Geschlechts! Da bleibt nur die Scheidung. Nachdem ihm sein Anwalt vorgerechnet hat, was an Alimenten auf ihn zukäme, verwirft er die-sen Plan wieder. Er kommt billiger weg, wenn er Frau und Kind bei sich behält. »Aber den Luxus weiter miteinander zu schlafen, können wir uns nicht mehr leisten«, erklärt er seiner Frau. Irgendwann erwacht jedoch das animalische Begehren im jun-gen Scrooge. Aber seine Frau, die sich nun in der stärkeren Position fühlt, weist ihn ab - aus wirtschaftlichen Gründen: »Ist es langfristig nicht billiger, mein Lieber, wenn du zu einem Freudenmädchen gehst?« Ihr Mann findet jedoch, wenn schon Geld ausgeben, dann sollte es in der Familie bleiben. Seine Frau bleibt hart bis ihr junger Ehemann bereit ist, sie für die ehelichen Aktivitäten zu bezahlen. Ihre Preise liegen zwar etwas über denen der Freelancer, findet er, aber dafür ist sie auch besonders gut. Und es könnte ja sein, dass sie das Geld für Dinge ausgibt, die indirekt auch ihm zugute kommen. (Das tut sie aber nicht. Das letzte Mal, als ich sie sah, hatte sie sich gerade eine neue Nerzstola gekauft.) ► Ein Geizkragen bietet unendliche Möglichkeiten für komische Szenen und ist eine unerschöpfliche Quelle, die Sie für Jahre mit Ideen versorgen kann. DER PERFEKTIONIST Er weiß genau, was er will, und ist überzeugt, er wird es auch bekommen. Warum auch nicht? Schließlich ist er reich, gut aussehend und bei den Leuten geachtet. Er lebt in einem Palast, der seit Generationen im Familienbesitz ist. Dorthin gedenkt er seine
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Angebetete zu entführen. Ja, Sie haben richtig gehört - der edle Sir Galahad ist auf Brautschau. Er hat die perfekte Frau im Visier, das zumindest hat er seinen Freunden erzählt, die das alles noch nicht so recht glauben können. Er gehört nicht zu jenen Rittern, die sich beherzt ins Ungewisse stürzen. Trifft er eine Frau, von der er meint, sie könne die Richtige sein, prüft er sie erst einmal anhand einer umfassenden Checkliste auf Herz und Nieren. Ist sie ein Blickfang und hält selbst dem verwöhnten Auge stand? Hat sie charmante Umgangsformen und einen erlesenen Geschmack? Bewegt sie sich anmutig? Ist sie eine anregende Gesprächspartnerin? Ist sie von edlem Geblüt? Ja. Ja. Ja! Und außerdem hat sie eine so zauberhaft sinnliche Ausstrahlung, dass ihm ganz schwach ums Herz wird. Galahad und Cinderella feiern ein rauschendes, perfekt organisiertes Hochzeitsfest. Sie sind das perfekte Paar. Cinderella ist da jedoch anderer Meinung. Nachts ist ihr Ritter ungeschickt und tagsüber ein Langweiler. Auch sie hat eine Checkliste, wie der perfekte Partner auszusehen hat, und Galahad macht da leider eine recht schwache Figur. Nur ist sie nicht so dumm, zu erwarten, all die wundervollen Eigenschaften auf ihrer Liste in einem einzigen Mann vereint zu finden. Deshalb sucht sie sich jeweils verschiedene: einen für die Konversation - ein wandelndes Lexikon -, einen fürs Bett - ein virtuoser Liebeskünstler und einen zum Heiraten - nämlich Galahad. Tolle Familie. Galahad stürzt sich fast in den Burggraben, als er mitbekommt, wie perfekt seine Ehe wirklich ist. Doch Selbstmord ist so schrecklich theatralisch! Er würde sich scheiden lassen, wenn er damit nicht der Welt und sich selbst sein Scheitern eingestünde. Er würde sein Gesicht verlieren und seine Freunde würden ihn ewig aufziehen, so wie er sich vor ihnen aufgespielt hat. Nein, ihm bleibt nur eins, wenigstens die perfekte Fassade zu wahren. ► Die Angst des Perfektionisten, sich der Lächerlichkeit preiszugeben, ist die Kette, die ihn und seine Frau aneinander schmiedet. Lieber erträgt er die Demütigungen durch seine Frau als den Spott der Öffentlichkeit. Der Perfektionist weiß, mit welcher Genugtuung jeder seinen Niedergang verfolgen würde, vor allem nachdem er mit so großartigen Ansprüchen vor den Spießbürgern aufgetreten war. VERLIEBT IN DIE LIEBE Natürlich ist er jung, gesund und liebenswert, sprüht nur so vor Energie. Ein unverbesserlicher Optimist - noch. Zugegeben, das Leben hat auch raue Seiten, aber warum sich lange damit quälen? Es gibt nichts, was sich nicht wieder geradebiegen ließe. Die Welt ist einfach wunderbar! Und alle sind so nett! Ein glücklicher Simpel, oder was meinen Sie? Ihm dämmert nicht einmal, welch finstere Abgründe das Leben bereithält. Er greift nach den Sternen, hält sich für einen verkannten, fröhlichen Herkules, der die Probleme der Welt mühelos auf seinen breiten Schultern balanciert. Nichts leichter als das.
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Ein starker Mensch, wie mir scheint. Das spiegelt sich auch in seinem Körperbau und seiner Geschichte wider. Sein grenzenloser Optimismus beweist, wie naiv er ist, und bestimmt dennoch sein Handeln. Dieser Mann eignet sich perfekt für eine Farce. Vielleicht verliebt er sich in jede attraktive Frau, der er begegnet, und macht jeder einen Heiratsantrag, egal, ob sie in seinem Alter ist oder seine Mutter sein könnte. Plötzlich hat er drei Frauen an der Hand. Die dritte ist die Frau seiner Träume. Aber wie wird er die ersten beiden wieder los? Leider verkehren sie in denselben Kreisen wie er - also muss er versuchen, sich elegant und ohne übles Nachspiel aus der Affäre zu ziehen. Er geht zur ersten, aber während er noch stammelnd nach den richtigen Worten sucht, sagt sie, es tue ihr ja wirklich leid, aber sie habe sich in einen anderen Mann verliebt und hoffe, er könne das verstehen. Das schmerzt. Unser junger Mann ist schwer getroffen. Das Schlimmste aber ist: Ihm wird plötzlich klar, dass sie die Einzige ist, die er je wirklich geliebt hat. Unvorstellbar für sein leidgeplagtes Ego, dass er je eine andere außer ihr wird lieben können. Eher würde er sterben, als sie gehen zu lassen. Seine verzweifelten Worte überzeugen die junge Frau. Das muss die ganz große Liebe sein, die es sonst nur im Märchen gibt. Die beiden fallen sich um den Hals, schwören sich ewige Liebe, und sie verspricht, dem anderen Mann adieu zu sagen. Nachdem der erste Freudentaumel vorüber ist, merkt der junge Mann, dass er jetzt erst richtig in der Klemme sitzt. Wie kann er sein Problem lösen, ohne dabei seinen grenzenlosen Optimismus einzubüßen? Lässt sich wirklich alles im Leben wieder geradebiegen? Sein Problem ist, dass er äußerlich und innerlich noch so jung, unerfahren und unverdorben ist. Wir erleben ihn, als er gerade auf dem Weg ist, reif und erwachsen zu werden - und das geht über eine Idee hinaus. ► Eine Idee allein reicht nie für eine gute Story, eine starke Figur dagegen schon. VÄTER UND SÖHNE Die folgende Geschichte ist wirklich verrückt - die muss ich Ihnen einfach erzählen. Ein Bekannter von mir klagte oft über sein angeborenes Leberleiden. Eines Tages schlug ich ihm aus Spaß vor, er solle seine Eltern deswegen verklagen. Sie hatten ihm nicht nur leichtfertig eine schmerzhafte Krankheit vererbt, sondern ihm damit auch endlose Arztrechnungen aufgebürdet. Mein Bekannter lachte und wechselte das Thema. Als ich ihn das nächste Mal sah, erzählte er mir, sein Arzt habe ihm zu einer Operation geraten. Diesmal sagte ich mit ernster Stimme, er solle doch seine Eltern verklagen und wurde noch ausführlicher: Jemand müsste endlich einmal einen Musterprozess gegen Eltern anstrengen, die gedankenlos kranke Kinder zu lebenslangem Leiden in die Welt setzten. Schließlich sei fahrlässige Körperverletzung ein schweres Vergehen. Wieso bliebe straffrei, wer seine eigenen Kinder fahrlässig, schwer oder gar
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mit Todesfolge verletze? Er sah mich erstaunt an und sagte mit einem seltsamen Flackern in den Augen: »Ich werde einen Roman über dieses Thema schreiben.« Inzwischen gibt es in vielen Bundesstaaten der U.S.A. eine Vorschrift, nach der sich Paare vor der Heirat auf Geschlechtskrankheiten untersuchen lassen müssen. Warum nicht auch auf Erbkrankheiten? Natürlich ist das eine abwegige Idee. ► Aber wenn Sie sich eine Person vorstellen könnten, die von einer fixen Idee so überzeugt ist, dass sie bis zur letzten Instanz geht, könnte es sich lohnen, darüber eine Story zu schreiben. Und wenn die ebenso gut wie sensationell geschrieben ist, könnte der Autor - Sie vielleicht? - großen Erfolg damit haben. DER GRAUE MANN Bob Daniel ist irgendwie seltsam. Er könnte rote Haare haben und einen marineblauen Anzug mit weißem Hemd und roter Krawatte tragen, aber wenn Sie mit ihm reden, haben Sie immer das Gefühl, vor Ihnen stünde ein ganz und gar grauer Mann. Über allem, was Bob Daniel je getan hat und künftig tun wird, hängt dieser Grauschleier. Er ist stets höflich, nicht servil, aber er nimmt den Knigge vielleicht eine Spur zu genau. Wer ihn besucht, sieht gleich, dass die Wände zu den Möbeln und die Möbel zu ihm passen. Alles ist ansehnlich, aber ohne Esprit. Bob Daniel fügt sich nahtlos in seine Wohnung ein. Die Sache hat nur einen Haken: Seine Frau Theresa passt nicht in dieses Stillleben. Sie ist ein nervöser roter Fleck, der erratisch durch Bob Daniels graue Welt schnellt. Ihre Stimme ist ätzend wie Galle und schrill wie eine Kreissäge, die sich durch ein Stück Metall frisst. Gott, wie sie ihren Mann, ihr Zuhause und ihr ganzes Leben hasst! Nur die Angst, als alte Jungfer zu enden, hat sie in diese Ehe getrieben. Niemand außer dem grauen Mann hätte sie ertragen, geschweige denn mit ihr unter einem Dach gelebt. Und niemand außer Theresa hätte sich mit Bobs grauem Phlegma abgefunden. Hin und wieder traktiert sie ihn mit Schimpfwörtern, um ihn wütend zu machen. Aber Bob Daniel wird nie wütend. Nicht einmal in vierzig Jahren Ehe ist es Theresa gelungen, ihn zu provozieren. »Du wirst mir noch irgendwann die Kehle durchschneiden, du Mörder!« sagt sie oft. »Stille Wasser sind tief.« Seine Gelassenheit ist ihr unheimlich, aber Bob lächelt nur und lässt sie weiterplärren. Jeder sähe sofort, dass Theresas Angst reine Hysterie ist - Bob könnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Aber eines Tages vergreift sich Theresa an seinen geheiligten Meerschaumpfeifen. (Bob darf nur im Keller rauchen.) Sie nimmt eine Axt und zerhackt die Pfeifen in tausend Stücke. Noch am selben Abend erscheint Bob auf dem Polizeirevier und berichtet dem Dienst habenden Kommissar emotionslos, er habe gerade seine Frau ermordet. Der Kommissar hält das zuerst für einen Scherz und glaubt Bob kein Wort. Doch leider ist es die Wahrheit. Selbst nach dem grausigen Mord bleibt Bob Daniel ein grauer Mann.
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► Gibt es solch graue Menschen wirklich? - Nein, natürlich nicht. Das Grau ist nur eine Tarnfarbe, ebenso wie Exhibitionismus eine Tarnung ist. Hinter beidem versteckt der Mensch seine Angst - in der Figur liegen Konflikt und Spannung. DIE EXHIBITIONISTIN Sie ist eine gut aussehende Frau um die dreißig. Ihr Haar ist platinblond, und sie trägt eng anliegende Kleider mit tiefem Ausschnitt. Wo sie auftaucht, ertönt sofort ein Pfeifkonzert. Niemand würde glauben, dass sie verheiratet ist und drei Kinder hat. Wir alle versuchen, unsere Vorzüge zu unterstreichen, und Virginia ist stolz auf ihre weiblichen Reize. Die scheinen auch hoch im Kurs zu stehen, wenn man die Leute hört. Virginias Gesicht ist ein perfektes Kunstwerk, aber es wirkt unbeseelt, wie das einer meisterlich bemalten Schaufensterpuppe. Etwas darunter ist schon mehr Bewegung erkennbar: Ihr üppiger Busen wogt im gleichen Rhythmus wie ihre wohlgeformten Hüften. Man sieht es gleich: Sie zeigt gern; was sie hat. Aber daraus dürfen wir keine voreiligen Schlüsse ziehen. Mag sein, dass sie aussieht wie ein Callgirl, aber sie ist keins. Wie gesagt, sie ist verheiratet und hat drei reizende Kinder. Wieso läuft sie dann herum, macht die Männer scharf und zieht den Hass ihres eigenen Geschlechts auf sich? - Wenn wir das beantworten, haben wir eine gute Story. Ich skizziere kurz den Hintergrund: Virginia hat ihren Mann, John, mit sechzehn geheiratet. Sie hasste ihn sogar noch mehr als den Hallodri, der sie geschwängert und dann sitzen gelassen hatte. Eigentlich war John ein guter Mann, ein Buchhalter. Sein einziger Fehler war, dass er sie in dieser Krise geheiratet hat. Er war der Nachbarjunge und liebte Virginia schon seit sie ein kleines Mädchen war. Sie hingegen hatte sich nie etwas aus ihm gemacht. Als sie merkte, dass sie schwanger war, versuchte sie, sich umzubringen, was ihre Mutter gerade noch verhindern konnte. Da kam John und rettete sie aus ihrem Dilemma. Freudig hielt er um ihre Hand an, obwohl er wusste, dass sie schwanger war. Aber Johns Gutherzigkeit beeindruckte Virginia nicht »Du wärst der letzte Mann gewesen, den ich freiwillig geheiratet hätte«, sagte sie, wenn sie schlecht gelaunt war, was oft vorkam. »Du benimmst dich wie ein Großvater«, jammerte sie. »Jeden Abend steige ich zu einem Opa ins Bett.« John war gerade sechsundzwanzig, intelligent und sah sogar gut aus, obwohl Virginia davon nicht zu überzeugen war. Jedes anständige Mädchen hätte einen Mann wie John mit Kusshand genommen. Aber Virginia war weder anständig noch dachte sie rational. Sie hasste John zutiefst, weil er die Gelegenheit genutzt hatte als sie nur die Wahl zwischen dem Tod, der Schande und ihm gehabt hatte. Sie hatte es mit dem Tod versucht und war bei John gelandet. Dass sie ihn unter Zwang geheiratet hat-te, konnte sie weder ihm noch sich selbst verzeihen.
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► Hinter einer exhibitionistischen Fassade könnte sich durchaus ein schüchterner Mensch verbergen. Exhibitionismus entsteht, wenn sich Frustration zu Verzweiflung verhärtet hat. Ein Mensch kann aus tausend Gründen zum Exhibitionisten werden, aber was auch immer ihn dazu treibt, er versteckt damit sein wahres Ich. Das ist es, was ihn als Figur so interessant macht. DER SCHNÄPPCHENJÄGER Einen angenehmeren Menschen gibt es kaum. Er sieht gut aus, ist freundlich, verbindlich und aufopfernd. Er ist kein Großwildjäger, kein Abenteurer, sondern ein Schnäppchenjäger. Das merkt man ganz schnell. Sie haben noch keine fünf Minuten mit ihm geredet, da fummelt er Ihnen schon am Revers oder am Hemd herum. »Was hast du denn dafür bezahlt?« fragt er lässig. Seinem geringschätzigen Ton entnehmen Sie gleich, dass er Ihr Jakkett oder Hemd für Billigware hält. Egal, welchen Preis Sie ihm nennen, der Schnäppchenjäger wird sofort verkünden, man habe Sie über den Tisch gezogen. Und wie! Wir freuen uns alle, wenn wir ein Schnäppchen machen, aber für diesen Mann ist es das Lebenselixier. Er spürt jedes Sonderangebot auf, und gibt es irgendwo etwas einen Cent billiger als im Laden bei ihm um die Ecke, verfährt er mehr Geld, um dorthin zu kommen, als er spart. Es ist wie ein religiöser Wahn bei ihm. Sprechen Sie ihn darauf an, überrollt er Sie mit einem Vortrag über das Leben im Allgemeinen und Schnäppchen im Besonderen. Die Unsterblichkeit der Seele, der Kampf der Kolonien um Unabhängigkeit oder der drohende Atomkrieg zwischen den Supermächten sind für den Schnäppchenjäger Bagatellen. Für ihn zählen allein seine Erfolge als Pfennigfuchser. Nein, ein Egoist ist er nicht. Suchen Sie etwas Bestimmtes, schenkt er Ihnen seinen ganzen Samstagnachmittag, um mit Ihnen dorthin zu fahren, wo es den Artikel am billigsten gibt. Gegenwehr zwecklos. Er bietet seinen Dienst schließlich gratis an! Warum ist dieser Mann so fanatisch? - Aus Armut allein wird niemand so. Ich kenne sogar einen Multimillionär, der dieselbe Marotte hat. Bei armen Leuten ist es verständlich, wenn sie jeden Pfennig umdrehen. Aber ein reicher Mann? Vielleicht tut er es, weil er einen Kreuzzug gegen Halsabschneider führt, die ihre Kunden übers Ohr hauen. Unser Schnäppchenjäger ist ein solcher Kreuzritter. Das gesparte Geld bedeutet ihm nichts. Ihn interessiert nur der Triumph. Er muss sich beweisen, dass er nicht nur den dummen Betrügern überlegen ist, sondern auch jenen, die ihnen auf den Leim gehen. Unser Schnäppchenjäger verliebt sich in eine verschwenderische Frau. Was für eine Herausforderung für ihn! Er glaubt fest, er könne sie bekehren, der Wahnsinnige, und beweisen, dass Wunder möglich sind. Vor der Heirat stimmt sie seinen Ansichten eifrig zu. Sie ist Ende dreißig, und er ist schließlich ein angenehmer Mensch mit einem guten Job. Also greift sie freudig nach seiner ausgestreckten Hand. Sie ist entschlossen, ihm eine gute Frau zu sein und ein neuer Mensch zu werden.
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Das hält sie etwa ein Jahr lang durch, aber dann beginnt die Veränderung im Leben der beiden. Die große Schlacht beginnt. Gut möglich, dass sie in einer herzzerreißenden Scheidung gipfelt, aus der beide als Verlierer hervorgehen. ► Der Antagonist ist neben dem Protagonisten die zweite Kraft, die den Konflikt anheizt - er ist bereit, zu kämpfen, zu streiten, sich blind zu stellen, zu unterminieren und den Protagonisten von seinem Ziel abzulenken. DER GLÜCKSPILZ Einen Glückspilz erkennt man leicht - er ist stets fröhlich, hat lauter köstliche Anekdoten auf Lager und wirft mit guten Ratschlägen nur so um sich. Das wird schon wieder, sagt er, Kopf hoch! Nichts auf der Welt fürchtet er, außer leiden zu müssen. Davor allerdings hat er eine Heidenangst. Natürlich gehört zu unserem Glückspilz auch eine ihm treu ergebene Frau. Geldsorgen kennt er nicht, und es wärmt einem das Herz, wenn er sagt: »Geld ist nicht alles.« Sein Gang ist schwungvoll, und sein Gesicht mit den gesunden rosa Apfelbäckchen scheint stets zu lächeln. Was in Büchern über Positives Den-ken steht, kann er voll unterschreiben. Er würde das Böse nicht einmal erkennen, wenn es ihm die Nase abbisse. Unser Glückspilz hat einen gesunden Appetit. Würde ihm jemand sagen, das Volk habe kein Brot, so würde er wie Marie Antoinette antworten: »Dann soll es doch Kuchen essen!« Über einen Glückspilz zu schreiben, muss man sich leisten können. Als armer Schriftsteller sollten Sie vielleicht lieber die Finger von ihm lassen. Die wenigsten Menschen wissen, wie schwer es ist, eine Geschichte über eine wunschlos glückliche Figur zu erzählen. Glückliche Figuren sind ja auch langweilig - in ihrem Leben passiert nichts Aufregendes. Mit Leid und Übel lässt sich viel mehr Geld verdienen. Von wegen, Verbrechen lohnt nicht! Im Alltag mag das ja stimmen, aber für Schriftsteller gibt es kaum etwas Lohnenderes. Trotzdem, niemand ist rund um die Uhr glücklich. Natürlich kennt auch der Glückspilz die kleinen und großen Ängste, die uns alle plagen. Bestimmt fragt er sich manchmal, wie lange er noch so fröhlich durch die Welt wandern kann. Was, wenn er Krebs bekommt? Was, wenn seine Frau nicht mehr so glücklich mit ihm ist wie er mit ihr? Würde sie mit einem anderen Mann durchbrennen, wäre es aus mit seiner Zuversicht. Hinter jeder Ecke lauert etwas, das sein Glück zerstören könnte. Vielleicht bleibt seine Frau ja bis an sein Lebensende bei ihm, aber was, wenn sie vor lauter glücklicher Langeweile verkalkt und stumpfsinnig wird? ► Alles ändert sich im Leben. Nichts steht jemals still. Aus mor-gen wird heute, aus heute wird gestern. Auf den Tag folgt die Nacht. Und auch im Glückspilz steckt irgendwo ein Stück Leid, das ein Schriftsteller finden kann - wenn er Glück hat.
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DER UNERSETZLICHE Renard Bara ist ein guter Mann - am liebsten würde er der gan-zen Welt helfen. Da er aber weiß, dass das nicht geht, begnügt er sich damit, den Menschen aus seinem Umkreis zu helfen. Er ist sehr sensibel, immer fast kurz vor dem Nervenzusammenbruch und er weint leicht. Man darf ihm keine traurigen Geschichten erzählen, weil er dann weder essen noch schlafen kann. Zu jedermanns Erstaunen verlässt ihn seine Frau nach fünfzehn Jahren Ehe. Wegen seelischer Grausamkeit! Dieser Mann, der selbst für seinen ärgsten Feind Verständnis aufbringt, kennt bei seiner Frau keine Gnade. Aber als sie die Scheidung einreicht, war er selbstverständlich empört über ihre unverschämt hohen Unterhaltsforderungen. Schauen wir uns diesen Menschenfreund jedoch genauer an, bevor wir ein Urteil über ihn fällen. Er wäre mit uns sicherlich ebenso fair. Er handelt mit Immobilien, und alles, was er anfasst, wird zu Gold. Er ist unermesslich reich, und er spendet großzügig für wohltätige Zwecke. Egal, wo es auf der Welt brennt, Renard Bara ist zur Stelle. Dieser gute Mensch hat keine eigenen Kinder. Nach der Scheidung - für ihn eine wahre Tragödie - will er von Heirat nichts mehr wissen. Den Sohn seiner Schwester, seinen Neffen Eric, liebt er abgöttisch. Er hat ihn als fünfjährigen Knaben adoptiert und dafür gesorgt, dass er eine gute Ausbildung erhält. Für ihn ist Eric wie ein eigener Sohn. Und was ist mit Renards Schwester? Keine Mutter würde ihren Sohn einfach so weggeben, und wäre ihr Bruder noch so reich, oder? Ich erzähl's nicht gerne, aber Renard Bara hat mit seiner Schwester seit Gott weiß wie vielen Jahren kein Wort mehr gewechselt. Sie ist zehn Jahre älter als er und eine boshafte Klatschtante. All ihre ehemaligen Freunde hat sie damit vergrault. Aber ihren Bruder Renard hasst sie mehr als all ihre Feinde zusammen. Warum? Als er noch jung war, hat sie ihm Ratschläge gegeben, welchen Beruf er am besten ergreifen solle, wenn er reich werden wolle. Renard hörte höflich zu, hielt sich jedoch nicht daran. Er hatte seine eigenen Vorstellungen. Und die setzte er sehr erfolgreich in die Tat um. Mit jedem Schritt wuchs sein Reichtum und der Hass seiner Schwester. Dass Renard so erfolgreich war, störte sie umso mehr, als sie wusste, dass ihre Ratschläge ihn auf direktem Wege in die Armut befördert hätten. Nach dem Tod ihres Mannes, stand sie plötzlich allein mit vier Kindern da und musste von der Wohlfahrt leben. Da bat Renard sie, ihm den fünfjährigen Eric zu überlassen. Sie war einverstanden, allerdings nur unter der Bedingung, dass Renard ihr wöchentlich 75 Dollar zahlen würde, und zwar bis an ihr Lebensende. Na gut, sagte Renard, aber nur, wenn sie verspräche, sich für immer von seinem Haus fern zu halten und auch nicht anzurufen. Beim geringsten Verstoß gegen diese Vereinbarung würde er die Zahlungen sofort einstellen.
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Eric wächst mit allem auf, was man für Geld haben kann. Renard kauft ihm alles, was das Herz eines jungen Mannes begehrt. Aber als Eric mit dem College fertig ist, bekommt Renard den Schock seines Lebens: Eric will nicht in der Firma seines Vaters arbeiten. Stattdessen will er zu Hause ausziehen und sein Leben selbst in die Hand nehmen. Vater und Sohn streiten wochenlang darüber. Sie leiden beide sehr darunter, aber Eric bleibt hart. Dann vollzieht sich ein merkwürdiger Wandel in Renards wei-chem Herz. Er will um jeden Preis beweisen, dass Eric es ohne seine Hilfe zu gar nichts bringt. Unter der Fassade von Fürsorge und Freundlichkeit wächst eine erschreckende Grausamkeit. ► Lieber zerstört der Unersetzliche den Menschen, den er am meisten liebt, als zu erkennen, dass er nicht unersetzlich ist. Darin liegt der Stoff für ein Drama. DER EGOZENTRIKER Steve Berna stieß die Tür zu meinem Büro auf, kam geradewegs auf meinen Schreibtisch zu und rief: »Dieses verdammte Miststück!« Sein Gesicht war puterrot, und seine Augen blitzten, als wolle er zu einer langen Hasstirade ansetzen. Er zögerte einen Moment, setzte sich und sank kraftlos in sich zusammen. Ihm fehlten die Worte, so hoffnungslos war seine Lage. Der große Mann legte seinen Kopf in die Hände und begann hemmungslos zu schluchzen. Er war sechzig Jahre alt, sah jedoch viel jünger aus. Seine Statur war die eines durchtrainierten Boxers ohne dessen deformierte Gesichtszüge. Er saß im Vorstand eines angesehenen Unternehmens und verhielt sich auch so. Normalerweise. Seinem Gestammel entnahm ich, was passiert war. Gloria, die junge Frau, die er fünf Jahre zuvor aus dem Armenviertel geholt hatte, war ihm davongelaufen. Damals war sie ein Küken von achtzehn Jahren gewesen, mit blauen Augen und engelhaftem Gesicht. Er hatte ihr teure Kleider gekauft und ihr eine gemütliche kleine Wohnung in einer schönen Gegend eingerichtet, hatte dafür gesorgt, dass sie eine anständige Ausbildung erhielt, und war mit ihr ins Theater und zu Lesungen gegangen. Kurz, er hatte aus ihr eine richtige kleine Lady gemacht. Er war Chef eines Immobilienunternehmens. Seine Frau war reich, und ihr erster Mann war gestorben. Eine Schönheit war sie nicht gerade, und ihre ständige Nörgelei tat der Ehe auch nicht gerade gut. Steve war ein netter Kerl. Über die Jahre war seine Liebe zu der jungen Gloria (eigentlich hieß sie Marlie) immer größer geworden. Er schenkte ihr Nerzmäntel, Brillanten und schöne Kleider. Jeder Tag, an dem er sie nicht sah, war ein verlorener Tag. Nun schleuderte er mir ein zerknülltes Blatt Papier auf den Schreibtisch und stammelte dabei, als hätte er den Verstand verloren. Auf dem Blatt standen nur ein paar Zeilen: »Mach's gut, Loverboy. Sorry, aber ich werde heiraten. Gloria.«
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»Dieses gottverdammte Flittchen! Alles hat sie von mir bekommen.« Er machte mich wütend. Was glaubte er eigentlich, wer er war? Ein pubertierender Schuljunge? »Alles hab ich ihr gegeben«, wiederholte er wieder und wieder. Für mich hingegen war klar, dass er ihr die edlen Geschenke nicht aus reiner Freundlichkeit und auch nicht aus Liebe gemacht hatte, sondern einzig und allein, um sie zu bestechen, bei ihm zu bleiben. Aber konnte ich ihm das einfach so ins Gesicht sagen? Würde er verstehen, dass kein Mensch jemals irgendwas für einen anderen tut, sondern immer nur für sich selbst? Ich beschloss, dieses Thema zumindest vorläufig nicht anzuschneiden. Stattdessen klopfte ich ihm auf die Schulter. Er drückte meine Hand und sagte mit kaum hörbarer Stimme: »Was soll ich bloß tun?« »Sieht so aus, als hätte eure heimliche Affäre sie nicht gerade glücklich gemacht«, sagte ich. »Sie hat dich nicht gegen einen anderen Mann eingetauscht, Steve, sondern gegen eine Ehe. Um ein Zuhause und vielleicht Kinder zu haben.« Diese Erklärung nützte ihm herzlich wenig, aber vielleicht fühlte er sich etwas besser bei dem Gedanken, sie habe ihn nur wegen der einzigen Sache, die er ihr nicht bieten konnte, der Ehe, verlassen. Eine Scheidung hätte in Steves Fall eine mittlere Katastrophe nach sich gezogen. Mit dieser Geschichte will ich zeigen, dass in jeder guten Story hinter dem, was eine Figur tut, ein Motiv erkennbar wird. Die Figur vermutet hinter ihrem Handeln jedoch ein völlig anderes Motiv als der Autor. Samuel Becketts Warten auf Godot hat für mich eine ganz einfache Kernaussage: Niemand hilft uns, auch kein Gott. Wir müssen das Leben allein meistern. Oder: Hilf dir selbst, so hilft dir Gott. Auch über Becketts Endspiel, in dem die verwüstete Welt auf vier in ihrem Elend erstarrte Menschen geschrumpft ist, haben sich viele endlos den Kopf zerbrochen. Für mich ist die verzweifelte Botschaft ganz klar. »Wacht endlich auf, Leute«, ruft uns der Autor zu, »und versucht zu leben! Rauft euch zusammen, und genießt das Leben, solange es noch geht und Freude macht.« Ein Stück kann so bizarr und verdreht sein, wie es will, solan-ge den Autor das Bedürfnis treibt, sich damit zu einer lebenswichtigen Frage zu äußern. Natürlich wird nicht in jedem Stück das Anliegen des Autors so klar erkennbar wie beabsichtigt. Das Motiv ist der Schlüssel zum Verständnis. Selbst ein Mörder hat in seinen Augen gute Gründe, sich für sein Vorhaben zu wappnen. Motive und vernünftige Gründe, mit denen der Mensch sein Handeln rechtfertigt, Verteufelungen und das Verdrehen von Tatsachen sind der Nährboden zwischenmenschlicher Konflikte mehr dazu im Kapitel »Die Motivation«.
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Steve Berna war erschüttert, als ich ihm sagte, mit seiner Großzügigkeit habe er in erster Linie nicht Gloria, sondern sich selbst einen Gefallen tun wollen. Das konnte er natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Er beharrte darauf, dass er ein großzügiger Mensch sei und Gloria ihn schamlos ausgenutzt habe. Sie sei eine undankbare Schlampe, und es würde noch böse mit ihr enden. Niemand sieht sich gern in einem schlechten Licht. Verbittert, wie er war, wandte sich Steve gegen seine Frau. Wäre sie jung und schön, wäre das Ganze nicht passiert. Aber sie war nicht jung und noch weniger war sie schön, dafür war sie reich. Außerdem vergaß er völlig, dass er es ohne ihr Geld und ihren Einfluss nie in die Chefetage eines großen Unternehmens geschafft hätte. Er riskierte Kopf und Kragen, nörgelte herum und stritt sich unentwegt mit seiner Frau. Am Ende drohte er ihr sogar, sich scheiden zu lassen! Sie nahm es gelassen zur Kenntnis, wusste sie doch, dass er nach einer Scheidung arm wie eine Kirchenmaus dastehen würde. Auch diese Demütigung schluckte er. Widerwillig entschuldigte er sich bei seiner Frau. Natürlich traf ihn keine Schuld: »Wie konnte ich nur so blind sein, und mich gegen dich aufhetzen lassen.« Sie gab sich mit seiner Version der Geschichte zufrieden. Steve hingegen konnte die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Zu verletzt war sein Stolz. Also beschloss er, Gloria zu suchen. Er fand sie, drängte sich wütend und selbstgerecht in ihr Leben und forderte, sie solle wieder seine Geliebte sein. Gloria war glücklich verheiratet. Sie hatte Angst, Steve könnte ihre Ehe zerstören, und bat ihn, sie in Ruhe zu lassen. Aber diesen Wunsch erfüllte er ihr nicht, verbohrt beharrte er auf seiner Forderung. Irgendwann reichte es Glorias Mann. Er verpasste Steve die schlimmsten Prügel seines Lebens. Der Skandal ließ nicht lange auf sich warten - der übel zugerichtete Steve zierte die Titelseiten der örtlichen Presse, und seine Frau, die all die Jahre von seiner Affäre gewusst hatte, ließ sich schließlich von ihm scheiden. Für diese Geschichte gibt es viele denkbare Enden. Vielleicht wirft Glorias Mann sie raus, und sie sucht daraufhin bei Steve Unterschlupf. Aber zwischen einer Frau und einer Geliebten liegen Welten. Was, wenn die beiden es nicht schaffen, ihre Beziehung entsprechend neu zu definieren? ff Es spielt keine Rolle, über wen Sie schreiben, Hauptsache, die Figur hat klare, unumstößliche Einstellungen zu Traditionen, Büchern, Politik, Ehe, Wissenschaft und was es sonst noch so gibt. Ob Sie ihre Einstellung teilen oder nicht, Sie müssen die Figur sie selbst sein lassen. Und dazu müssen Sie sie gut kennen. DER UNTERLEGENE In einem Stück ging es um einen scheinbar eifersüchtigen Mann. Dass er eifersüchtig war, konnte man leicht erkennen. Warum, das war nicht so klar. Betrachtete ihn seine Frau als selbstverständlich? - Nein. Fühlte sie sich ihm überlegen und behandelte ihn wie einen Untergebenen? - Nein. Flirtete sie herum? Nein.
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War sie ihm untreu? - Mit Sicherheit nicht. Obendrein war sie auch noch nett, friedlich und verliebt in ihren Mann. Warum also in Gottes Namen war er eifersüchtig? Ich zitiere: »Ich habe nicht mal die Grundschule abgeschlossen und verdiene Geld wie Heu, während du es trotz all deiner Nobelcollegeabschlüsse mit deinem popligen, miesen Job in der Bücherei gerade einmal auf siebzig Dollar die Woche bringst.« Sie gab ihm auf seine höhnischen, sarkastischen und gemeinen Sticheleien keine Antwort. Er erinnerte sie immer wieder daran, dass er, der vermeintliche Dummkopf, der noch nie ein Buch gelesen hatte und auch noch stolz darauf war, eine Frau wie sie dazu bringen konnte, vor ihm zu kriechen. Sie hatten drei Kinder, und im Laufe der Jahre hatte er aus ihr eine verbitterte, hoffnungslose und verzweifelte Frau gemacht. Sie hoffte inständig, er würde sich von ihr scheiden lassen oder sterben - alles wäre besser, als weiter mit diesem gnadenlosen, eifersüchtigen Mann zusammenzuleben. Worauf richtete sich seine Eifersucht? Auf ihren Intellekt! Er war nicht auf andere Männer, sondern auf die Bücher eifersüchtig, die sie las. In jedem Buch sah er einen Rivalen. Er war unerbittlich. Ständig versuchte er, sie zu entwerten und natürlich besonders sich selbst zu beweisen, dass eine höhere Schulbildung für die Mülltonne war. Ein cleverer Mann brauchte weder Bildung noch Bücher, um erfolgreich zu sein. Nicht nur, dass er über sie erhaben war, wollte er beweisen, sondern auch über jede Art von Bildung. Fast alle Berühmtheiten leiden unter irgendeinem körperlichen oder seelischen Defekt, den sie zu verbergen versuchen. Aber ein Mensch, der die Herausforderungen des Lebens annimmt und mit aller Kraft versucht, der Welt zu beweisen, dass er nicht nur genauso gut, sondern sogar besser ist als seine Mitmenschen, wandelt seine Energie in Ehrgeiz um, nicht in Neid oder Misstrauen. Während der Argwöhnische absolut unproduktiv um sich selbst kreist, treibt den Ehrgeizigen der Wille, seine Zukunft zu bestimmen, zu Höchstleistungen an. Selbst wenn er am Ende scheitert, hat er doch wesentlich mehr zustande gebracht als derjenige, der sich selbst und andere zerfleischt. ► Geben Sie Ihrer Figur einen Minderwertigkeitskomplex: Jeder Mensch kämpft unablässig um seine Überlegenheit. Wichtig zu sein ist so wichtig, weil es der Selbsterhaltung gleichkommt. DIE PROGRESSIVE Die junge Dame steht mitten im Raum, umringt von einem begeisterten männlichen Publikum. »Ich halte unsere Moralvorstellungen für überholt, antiquiert, um nicht zu sagen barbarisch«, wettert sie. »Frauen reden nicht gern über unsere Doppelmoral. Wie feige! Frauen sollten endlich den Mut haben, offen zuzugeben, dass Männer ein viel gesünderes Verhältnis zum Sex haben und wir Frauen uns davon ruhig eine Scheibe
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abschneiden könnten. Männer haben irgendwann ihre Schuldgefühle über Bord geworfen. Sie sind unverklemmt und sagen, was sie wollen. So wie sich keiner schämt, zu sagen, wenn er Appetit auf eine exotisch gewürzte Speise hat. Ich sehe nicht ein, wieso es beim Sex anders sein sollte.« Ich könnte noch stundenlang weiter Figuren ausdenken. Zum Beispiel den Mann, der felsenfest glaubt, die Erde sei eine Scheibe. Oder den Nudisten, der meint, alle zwischenmenschlichen und internationalen Konflikte würden sich mit einem Schlag in Luft auflösen, wenn jeder splitternackt herumliefe. Der Chauvi träumt von einer Frau, die den roten Teppich ausrollt, wenn ihr Angebeteter von der Arbeit heimkehrt. Er erwartet, dass sie sich vor ihm niederlegt, damit er sie als Fußabtreter benutzen kann. ► Als Schriftsteller müssen Sie natürlich wissen, warum dieser Mann eine unterwürfige Frau braucht. Wieso sucht er sein Heil in der Ehe statt auf der Couch eines Analytikers? Er kann Literaturprofessor sein und trotzdem ein Chauvinist, was Frauen angeht. Wichtig ist nur, dass er in der Beziehung ein absoluter Chauvinist ist. Dozent: Woher beziehen Autoren ihre Ideen? Autor: Natürlich von ihren Figuren. Dozent: Weißt du jetzt, wie du deine Figuren in die Schlacht schickst? Autor: Ja. Mir scheint, all die Beispielfiguren sind von einem immensen inneren Zwang getrieben. Der Geizhals hat sicherlich enorm viel auf sich genommen, um seiner Überzeugung treu zu bleiben. Er hat nur den Fehler gemacht, sich zu verlieben und zu heiraten. Der Rest der Geschichte ergibt sich zwangsläufig. Dasselbe gilt für den Perfektionisten. Er wünscht sich eine perfekte Partnerin. Tragischerweise übersieht er jedoch, dass er selbst alles andere als perfekt ist. Das mündet in Gram und lebenslanger Demütigung. Nachdem ich »Verliebt in die Liebe« gelesen hatte, verstand ich endlich, was ich die ganze Zeit falsch gemacht hatte. All deine Figuren leiden an einem angeborenen oder erworbenen inneren Zwang, mit dem sie Unheil von sich abwenden wollen. Ein falscher Schritt, und sie versinken im Treibsand. Je mehr sie um ihr Leben ringen, desto schlimmer wird es. Trotzdem bleibt ihnen keine andere Wahl als weiterzukämpfen, wenn sie überleben wollen. Dozent: Sehr gut. Stand auch der Mann, der in die Liebe verliebt war, unter einem Zwang? Autor: Ja. Er war getrieben von seinem übergroßen Optimismus. Vorsichtig zu sein, hielt er daher für überflüssig. Hinzu kam, dass er keine Lebenserfahrung hatte. Nicht nur bandelte er mit jeder Frau an, sondern er machte aus einem verrückten, unwiderstehlichen Impuls heraus auch jeder einen Heiratsantrag. Mir scheint, er hat sich nicht unter Kontrolle. Aber damit befindet er sich in guter Gesellschaft: Macbeth, der gnadenlos ehrgeizige General, war besessen von seinem Wunsch, König zu werden. Hamlet war zwanghaft rachsüchtig. Will ich also meine Hauptfigur in Bewegung setzen, muss ich
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dafür sorgen, dass er wie ein Mondsüchtiger auf sein Ziel zumarschiert, sei dies der Himmel oder die Hölle. Dozent: Sehr gut. CHARAKTERZÜGE UND MOTIVE Jede Schrulle, Gewohnheit, Phobie oder Überempfindlichkeit ist für den Autor ein gefundenes Fressen. Hier die kurze Charakterskizze einer Frau mit einer ausgeprägten Eigenart: Seit Charlotte denken kann, ist sie eine Katzennärrin. Etwa ein Jahr, bevor sie Bill, ihren künftigen Mann, kennen lernt, kauft sie die allerschönste, süßeste Siamkatze der Welt. »Sogar mit Papieren!« sagt sie stolz. Charlotte weiß, dass ihre große Leidenschaft für Katzen sie eines Tages in Schwierigkeiten brin-gen könnte. Wie zu erwarten, findet Bill, der Charlotte aus Liebe heiratet, ihr übermäßiges Getue um Esteg - so heißt ihre edle Siamkatze einfach entsetzlich. Charlotte bringt es nicht fertig, Esteg auch nur fünf Minuten allein daheim zu lassen. Wo sie auch hingeht, die Katze ist immer dabei. Sogar auf der Hochzeitsreise sitzt Esteg mit im Bett und schaut den Frischvermählten beim Liebesspiel zu. Da reicht es Bill. Er packt das Tier am Nacken, wirft es ins Badezimmer und knallt die Tür zu. Charlotte schreit und rennt zum Bad, um ihr armes Kätzchen zu befreien. Bill droht: »Entweder die Tür bleibt zu, oder es ist aus mit uns, und zwar auf der Stelle!« Die Tür bleibt natürlich zu, aber der Zwischenfall hinterlässt einen tiefen Kratzer im Verhältnis der beiden. Charlotte weiß, dass ihre Katzenliebe zu weit geht. Sie bemüht sich, Bill dazu zu bringen, in Esteg einen Freund zu sehen. Bill versucht es zwar, aber die Katze kann ihm die Nacht im Badezimmer nicht verzeihen. Zwischen Bill und Esteg schwelt eine stille Feindschaft. ► Schon ein Charakterzug reicht als Grundlage für eine spannende Geschichte. Der Autor muss sich anschließend fragen: Warum ist Charlotte so eine Katzennärrin? Wieso spielen Katzen in ihrem Leben eine so große Rolle? Der Leser will wissen, wie weit Charlotte gehen würde, um ihre Katze vor ihrem Mann zu beschützen. Voltaires Candide ist eine bittere Satire über einen unerschütterlichen Optimisten, der nach der Devise lebt: Alles geschieht nur zu unserem Besten. Candide findet eine Frau, die ihn sehr liebt. Kurz darauf vertreibt ihn sein Schwiegervater von seinem Gut. Der Krieg bricht aus, und Candide muss zur Armee. Seine Frau wird vergewaltigt, vom Inquisitor als Maitresse gehalten und von Piraten verstümmelt. Candide überlebt Seuchen, Schiffbruch, Schießereien und viele andere schreckliche Dinge, bis er irgendwann ein alter, kranker Mann ist. Aber seinen Optimismus hat dieser gute, einfache Mensch nie verloren. In Wirklichkeit gibt es niemanden, der so hundertprozentig optimistisch ist. Das macht Candide zu einer Kunstfigur. Aber Voltaire wusste, was er tat. Mittels Übertreibung öffnet er dem Leser die Augen für seine eigene Neigung zur Schönfärberei.
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Peinlich! Nur ein Schwachkopf kann ernsthaft glauben, alles geschehe nur zu seinem Besten. ► Nehmen Sie an, Sie haben eine fest umrissene Figur, die entschlossen ist, ein Verbrechen zu begehen oder sich für ein edles Ziel zu opfern. Daraus ließe sich eine spannende Erzählung oder ein gutes Theaterstück machen. Sie beginnen mit dem Schreiben und irgendwann ist die Heldentat vollbracht, und Sie sind fertig. Sie glauben, Sie hätten ein großes Lob für Ihre Mühen verdient aber aus irgendeinem unerklärlichen Grund sind Ihre Figuren nicht lebendig geworden. Was ist falsch gelaufen? Ich kann Ihnen sagen, was falsch gelaufen ist: Sie waren mit Ihren Figuren nicht vertraut genug. IHRE GESCHICHTE, IHRE FIGUR Ich bitte Sie, sich folgendes Szenario vorzustellen: Sie sind in großer Gefahr. Ich betone: Sie. Nicht Ihre Hauptfigur. Sie sitzen mit Ihrer schönen, geliebten Frau, Ihrer süßen kleinen Tochter und Ihrer Mutter, der besten Mutter der Welt, in einem kleinen Boot. Das Boot beginnt zu sinken. Keiner von Ihnen kann schwimmen. Sie hoffen, ein Flugzeug würde Sie sichten und die Küstenwache verständigen, aber was nicht ist, ist nicht, und Sie müssen verhindern, dass das Boot völlig untergeht. Aber das Boot ist zu schwer beladen, es sinkt unaufhaltsam. Einer von Ihnen muss sein Leben opfern, um die anderen zu retten. Aber wer? Ihre Frau? Ihre Tochter? Oder Ihre Mutter? -Sie sind der einzige, der rudern kann, daher können Sie sich nicht opfern, denn das wäre das sichere Ende für alle. Sie glauben, tragischer könne es gar nicht mehr kommen? Warten Sie ab. - Eine opfert sich freiwillig. Natürlich Ihre Mutter. Bereitwillig gibt sie ihr Leben für ihre Lieben. Nun sind sie nur noch zu dritt. Aber das Boot sinkt trotzdem weiter. Noch einer muss über Bord. Wer wird es diesmal sein, was glauben Sie? Ihre Frau ist außer sich, und besteht darauf, sich für die Tochter zu opfern. Sie stürzt sich in die Fluten - nicht, um Sie zu retten, wohlgemerkt, sondern das Kind. Jetzt sind Sie mit Ihrer Tochter allein. Das ist der schlimmste Moment in diesem verzweifelten Szenario. Opfern Sie sich, damit Ihre Tochter vielleicht überlebt? Ganz sicher? Nicht so voreilig! Denken Sie noch einmal drüber nach - ohne Sie wird das Kind wahrscheinlich auch sterben. Die Antwort können nur Sie selbst herausfinden. Sie sind der Autor. Es ist Ihre Geschichte, Ihr Leben, und nicht das eines anderen. Jede Figur ist irgendwie Sie. Und dennoch, als Sie Ihre Mutter und Ihre Frau in die Fluten haben springen lassen, sind Sie nicht selbst gesprungen. Erst jetzt, wo Sie zwischen sich selbst und Ihrer Tochter wählen müssen, geht es um Ihr eigenes Leben. Was nun? Werden Sie Ihre Tochter opfern, um noch ein paar Augenblicke weiterzuleben, oder gehen Sie mit ihr gemeinsam unter? Wenn Sie sich eine solche Situation wirklich bildlich vorstellen können, betrifft Ihre Entscheidung Ihr eigenes Leben, nicht das irgendeiner erfundenen Figur. Sie werden den Todeskampf so realistisch, so schrecklich beschreiben, dass sich die Bilder
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unauslöschlich im Kopf des Lesers einbrennen und es ihn jahrelang verfolgen wird, wenn er an die Szene denkt. Autor: Ein Roman oder ein Theaterstück kann auch ein anderes Anliegen haben, als die Geschichte einer Figur zu erzählen, die ihre unumstößliche Meinung einem anderen aufzwingen will. Dozent: Nenn mir ein Beispiel. Autor: Im Moment fällt mir keins ein, aber bestimmt gibt es welche. Dozent: Nehmen wir an, wir befänden uns in einer ruhigen Kleinstadt. Die Menschen dort kennen sich alle von Kindesbeinen an. Seit Generationen pflegen sie ihre Bräuche, und alle glauben sie an Gott. In ihrem Leben passiert nie etwas Außergewöhnliches. Es lebe der Konformismus! Diese Menschen denken gleich, benehmen sich gleich, bevorzugen dieselben Speisen, dieselben Farben und haben in etwa dieselben Vorstellungen, was sittlich ist und was nicht. Man kann sie kaum voneinander unterscheiden. Es ist wie in einem Bienenstaat. Was würde dieses friedliche Völkchen aus der Ruhe bringen? -Kann ich dir genau sagen: ein Mensch mit anderen moralischen oder religiösen Vorstellungen. Da wäre der Teufel los. Autor: Und was ist mit der Liebe? Dozent: Welche Art von Liebe? Autor: Liebe eben. Dozent: Es gibt viele Formen der Liebe. Enttäuschte Liebe. Besitzergreifende Liebe. Es ist genau dasselbe wie mit allen anderen Überzeugungen. Egal, mit welcher Art von Liebe wir es zu tun haben, solange sie heftig ist, ist sie ein ebenso starker Motor wie großer Hass oder tiefe Rachegelüste. Autor: Und wenn jemand einfach nur gerne angeln geht? Dozent: Eine Angelleidenschaft kann eine Ehe zerrütten oder sogar zu Mord und Totschlag führen. Ich will damit sagen, der Autor bringt seine Botschaft nur rüber, wenn er stark polarisiert, Auch Zurückhaltung kann extreme Formen annehmen. Eine Figur ohne Charakter und wenig ausgeprägten Emotionen sorgt dafür, dass dein Manuskript geradewegs dahin wandert, wo es hingehört - nämlich in den Papierkorb. Bedenken Sie zum Beispiel, was Überempfindlichkeit bewirken kann. Demütigen oder verletzen Sie einen überempfindlichen Mann, oder widersprechen Sie ihm einfach nur, wird er Ihnen das nie verzeihen. Sein Groll gegen Sie wird über die Jahre sogar weiter wachsen und die wildesten Blüten treiben. Die Menschen sind seltsam und kompliziert. Leider muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich selbst vor langer Zeit in einem unbeherrschten Moment die schönste Freundschaft meines Lebens zerstört habe.
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Ich hatte einen wunderschönen Hund, einen Mischling aus Collie und Deutschem Schäferhund. Er hieß Chang. Für ihn war ich nicht nur sein Herr, sondern er hatte mich zu seinem ganz persönlichen Gott erhoben. Jeden Abend nach dem Essen mach-ten Chang und ich es uns mit der Zeitung in einem gemütlichen Sessel bequem. Das war unser gemeinsames Gute-Nacht-Ritual. Dann passierte eines Abends etwas, das unsere idyllische Routine völlig durcheinander brachte. An dem Tag war einfach alles schief gegangen, was schief gehen konnte. Und der Abend war noch schlimmer, weil ich nun Zeit hatte, darüber nachzudenken, welche Dummheiten ich tagsüber begangen hatte. Je mehr ich darüber nachdachte, wie dumm ich mich angestellt hatte, umso wütender wurde ich. Meine Laune war auf dem Tiefpunkt als ich mich in meinen Sessel setzte, um die Zeitung zu lesen - genauer gesagt, ich versuchte, sie zu lesen. Gegessen hatte ich noch nichts. Chang war wie immer prompt zur Stelle, aber als er seinen klugen Kopf auf mein Knie legte und mich anschaute, was soviel hieß wie »hier bin ich«, sagte ich streng: »Hör mal, Chang, lass mich in Ruhe. Ich bin heute einfach nicht in Stimmung. Kapiert?« Dass ich mit ihm sprach, als wäre er ein Mensch, war ganz normal bei uns. Ich unterhielt mich immer so mit ihm, und bisher schien er mich auch immer verstanden zu haben. Aber an jenem Abend stellte er sich dumm. Er betrachtete mich mit unschuldigen Kinderaugen. Sanft aber bestimmt nahm ich seinen Kopf von meinem Knie und sagte: »Heute nicht, Chang. Verschwinde.« Er trat ein paar Schritte zurück, setzte sich auf seine Hinterbeine und wartete. »Na endlich«, dachte ich und versuchte erneut, mich mit der Zeitung von den unerfreulichen Ereignissen des Tages abzulenken. Plötzlich merkte ich, dass Chang mir schon halb auf den Schoß geklettert war. Das ärgerte mich maßlos, und ich stieß ihn fluchend weg. Mit einem dumpfen Geräusch plumpste er vor mir auf den Boden. Sofort überkam mich die große Reue. »Bitte, Chang, es tut mir leid, schrecklich leid, aber siehst du denn nicht, wie schlecht es mir heute Abend geht und wie müde ich bin? Warum kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?« Er saß da und schaute mich an. Er hatte mich scheinbar verstanden, denn er wedelte nur einmal mit seinem buschigen Schwanz. Das hieß soviel wie: »Schon gut, Schwamm drüber.« Ich las weiter, aber Chang dachte wohl, da ich mich entschuldigt und er mir großherzig verziehen hatte, könne er nun seinen gewohnten Platz auf meinem Schoß einnehmen. Aber als er mir erneut zu Leibe rückte, durchzuckte mich ein Gefühl, als hätte ich einen Stromschlag bekommen. Ich sprang auf und schrie: »Hau ab, du verdammter Köter! Raus!«
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Noch während ich schimpfte, tat es mir auch schon wieder leid. Chang trat den Rückzug an, mit eingekniffenem Schwanz und zitternd vor Angst. »Muss das denn sein, Chang?« sagte ich flehentlich. »Kannst du mich nicht mal einen Abend allein da sitzen lassen?« Meinem Tonfall entnahm er, dass ich versöhnlich gestimmt war. Damit war für ihn alles wieder in Ordnung. Er konnte einfach nicht begreifen, wie ich, sein Gott, ihn plötzlich so gemein für etwas bestrafte, das ich ihm immer mit Begeisterung erlaubt hatte. Schwanzwedelnd kam er zu mir zurückgelaufen. Hatte dieser Hund mich also schon wieder missverstanden! Um endgültig Klarheit zu schaffen, herrschte ich ihn an: »Nein, nein, nein! Verstanden? Nein! Hau ab!« Reglos stand er vor mir, den Schwanz auf Halbmast, und schaute mich erbarmungswürdig an. Ihm war jetzt klar, dass ich es ernst meinte. Entschlossen griff ich zu meiner Zeitung und begann zu lesen. Eine oder zwei Minuten später schaute ich verstohlen nach, ob Chang schon wieder Anstalten machte, mir auf den Pelz zu rücken. Erleichtert sah ich, dass er sich endlich davonschlich. Hätte ich gewusst, was das alles nach sich ziehen würde, hätte ich mich nur zu gern auf der Stelle bei Chang entschuldigt. Statt dessen freute ich mich - endlich war es mir gelungen, ihm begreiflich zu machen, dass ich meine Ruhe haben wollte. Ein bisschen Disziplin würde ihm nicht schaden, dachte ich selbstgerecht, und las mich in meiner Zeitung fest. Wie das immer so ist, glätteten sich die Wogen am nächsten Tag, und abends war meine Laune schon viel besser. Nach dem Essen setzte ich mich in meinen Sessel und las. Doch nach einer Weile überkam mich ein leises Unbehagen. Irgendwas stimmte nicht. Ach, natürlich, Chang saß nicht auf meinem Schoß! Fröhlich rief ich: »Chang, wo bist du, alter Junge?« Er kam aus der Küche gerannt. »Komm her, guter Junge. Zeitung lesen.« Er wedelte einmal mit dem Schwanz, bewegte sich jedoch nicht von der Stelle. »Na los, alter Knabe, nun spring schon hoch.« Aufmerksam beobachtete er mich, bereit, jedem Befehl zu gehorchen - außer diesem einen. Zum ersten Mal tat er nicht bereitwillig, was ich von ihm verlangte. Ich ahnte Übles. Sicher, am Vorabend hatte ich ihn nicht gerade zart behandelt, aber meine Güte, das Leben war nun mal kein reines Zuckerschlecken. Ich klopfte mir mit der Hand auf den Schenkel, um ihm mittels Gebärdensprache zu zeigen, was ich von ihm wollte. Das war eigentlich eine Beleidigung, denn Chang war das intelligenteste Tier, das mir je untergekommen war. Aber er bewegte sich keinen Schritt vorwärts. Seine großen braunen Augen schauten mich an, als wolle er sagen: »Du kannst alles von mir verlangen, aber noch mal so demütigen wie gestern Abend lasse ich mich nicht von dir.«
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Unsere langjährige Kameradschaft musste doch irgendwie zu retten sein, dachte ich, und beschloss, mich mit einer List bei ihm einzuschmeicheln. Er liebte Süßigkeiten und würde bestimmt nicht widerstehen können, wenn ich ihn damit köderte. Also ging ich zum Kühlschrank und nahm ein großes Stück Kuchen heraus. Chang klebte an meinen Fersen, als ich damit ins Wohnzimmer zurückging. Ich setzte mich, und langsam, ganz langsam, kam er näher. »Ha, so einfach geht das«, dachte ich und lächelte vor mich hin. Aber einen Schritt vor mir blieb er stehen. Er schaute mich erwartungsvoll an. »Na komm, hopp hopp, alter Junge, das ist für dich. Hm... so ein himmlisches Stück Kuchen.« Doch er ließ sich nicht bestechen. Ich redete mit Engelszungen auf ihn ein, aber es war nichts zu machen. Er wollte einfach nicht zu mir auf den Sessel. Irgendwann war ich es leid. Ich zog ihn am Halsband zu mir heran, schnappte ihn mir und hob ihn auf meinen Schoß. Er blieb sitzen, aber ich spürte, wie jeder Muskel seines Körpers aufs äußerste gespannt war. »Ist ja gut«, versuchte ich ihn zu beruhigen, »du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Ich hab dir doch noch nie was getan.« Ich streichelte seinen Kopf. Er schien mich zu verstehen, und ich dachte, er würde sich nun endlich entspannen. Aber das tat er nicht. Kaum spürte er, dass sich mein Griff gelockert hatte, sprang er davon. Dieses Szenario wiederholte sich fortan jeden Abend, wochenlang. Aber es war einfach aussichtslos für mich, ihn wieder als Freund zurück zu gewinnen, so sehr ich mich auch bemühte. Bis zu dem Tag, an dem er starb, viele Jahre später, trug er mir nach, was ich ihm an jenem schicksalhaften Abend angetan hatte. Wenn schon ein Hund so verletzt sein kann - wie empfindlich reagiert dann erst ein Mensch? ► Der Mensch ist so komplex wie das Universum. Er geht nicht nur ins Theater, Kino oder liest ein Buch, um unterhalten zu werden, sondern auch, um sich selbst besser zu verstehen.
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10 DIE MOTIVATION Die Frage nach der Motivation ist die Frage nach dem Warum, denn für alles, was wir tun, haben wir ein Motiv. Als Schriftsteller fragen Sie danach, warum eine Figur auf eine bestimmte Wei-se reagiert und agiert - warum sie was tut. Wir Menschen sind uns im Grunde alle ähnlich. Nur die Äußerlichkeiten - unsere Bräuche, ethischen Standards und Umgangsformen - lassen uns anders erscheinen. Aber Empfindungen und Triebe wie Angst, Hunger, Liebe, Hass und Leidenschaft teilen wir mit allen anderen Menschen. Jeder Mensch fühlt unterschiedlich stark. Gefühle sind die Basis für Motive. Wollen wir mehr über Motive erfahren, betrachten wir am besten einen ganz normalen Menschen. Aber wer ist schon normal? Jeder, der sich wie die Mehrheit benimmt und auch so aussieht. Ist er wesentlich schöner, größer, kleiner, dicker oder dünner, dann entspricht er nicht der Norm. Ein normaler Mensch erregt auf der Straße kein Aufsehen. Man sieht ihn und vergisst, dass man ihn gesehen hat. Aber in Wirklichkeit ist natürlich auch der nicht normal. Im Gegenteil wahrscheinlich leidet er extrem darunter, dass er so unauffällig ist. Und extrem zu leiden, ist alles andere als normal. Ein solcher Mensch verflucht sein Schicksal ebenso wie der, des-sen Augen zu eng beieinander stehen. Vielleicht hat er einen tiefen Minderwertigkeitskomplex, weil jeder ihn übersieht, und will von irgendwem irgendwo irgendwann wahrgenommen werden, koste es, was es wolle. Womit könnte er auf sich aufmerksam machen? - Menschen mit Allerweltsgesicht sind oft besonders geistreich, klug, hilfsbereit oder großzügig. Viele großartige Frauen und Männer waren und sind unter ihnen. Warum? Weil Frustration und Enttäuschung oft der Antrieb ist für den Wunsch, es allen zu beweisen. Gut aussehenden, attraktiven Menschen dagegen fallen Anerkennung und Bestätigung leicht zu; sie können sich entspannt und selbstsicher auf ihr Aussehen verlassen. Dann sind schöne Menschen vielleicht die normalen? - Nein, wenn es so wäre, dann würden sie kaum in der Lage sein, auch besondere Leistungen, mit denen sich Durchschnittsmenschen hervortun, zu erbringen. Es ist ganz offensichtlich Unsinn, dass Schönheit und Intelligenz sich gegenseitig ausschließen. Der Geist eines schönen Menschen kann ebenso Großes hervorbringen wie der eines weniger gut aussehenden. Vielleicht steht ein gut aussehender Mensch weniger unter Druck, seine geistigen Fähigkeiten zu nutzen, weil er ohnehin geschätzt wird. Andererseits: Hat ein gut aussehender Mensch auf geistigem Gebiet etwas Großes
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geleistet, könnte er vielleicht bezweifeln, dass er die Anerkennung wirklich aufgrund seiner Leistung erhält. Darum können auch gut aussehender Menschen Minderwertigkeitsgefühle entwickeln. Manche wollen nämlich erst recht beweisen, dass sie ebenso intelligent und erfindungsreich sind wie andere, die Großes auf ihrem Gebiet leisten. Fast jeder, der aus der Menge herausragt, aber auch jeder, der von den anderen kaum wahrgenommen wird, möchte etwas ausgleichen, von dem er meint, es schade seinem Wohl. Daher ist es gar nicht so abwegig, daraus zu schließen, so etwas wie den »normalen« Menschen gebe es nicht. Hinter allen persönlichen Verwicklungen steht ein stilles Motiv. Das Motiv ist für alles verantwortlich, was je passiert ist und in Zukunft passieren wird. Als introspektiver Mensch - und als Schriftsteller sind Sie introspektiv, davon gehe ich aus -, wird es Ihnen leicht fallen, das Motiv hinter Ihrem eigenen Handeln zu entdecken. Aber manchmal ist es schwer zu erkennen, was andere Menschen zum Handeln veranlasst. Das ist oft der Grund, war-um Romane, Kurzgeschichten oder Theaterstücke misslingen. ► Jede literarische Figur hat eine Vergangenheit, eine Gegenwart und eine Zukunft. Und diese drei Dimensionen bestimmen, wie sie spricht, sich bewegt, handelt und wächst. Figuren, die nur eine Gegenwart und eine Zukunft haben, sind flach. Die Gegenwart ist das Kind von Gestern und die Mutter von morgen. Glaubwürdige Figuren vereinen alle drei Generationen in sich. Wenn Sie als Schriftsteller Ihren Erfolg nicht dem Zufall überlassen wollen, sollten Sie dies in Ihrer Arbeit berücksichtigen. Manchmal gelingt einem Autor ein einmaliger Erfolgsroman, auch wenn er sich nicht bewusst mit dem Motiv seiner Hauptfigur beschäftigt hat. Er hat zufällig über jemanden geschrieben, mit dem er persönlich sehr vertraut ist und dessen Motive er kennt. Da er jedoch nicht weiß, was sein Werk so erfolgreich gemacht hat, werden seine nachfolgenden Romane die Leser meist enttäuschen. Weiß ein Autor hingegen, was er tut, kann man so gut wie sicher sein, dass sich sein Erfolg wiederholen wird. DIE UMWELT Das Motiv eines Menschen wird von seinen Anlagen und seinem sozialen Umfeld bestimmt. Wie sensibel oder brutal er ist, wie er sich selbst und die Welt sieht, wird von diesen beiden Faktoren bestimmt. Vor einiger Zeit las ich einen Zeitungsbericht über einen elfjährigen Jungen namens Paul, der schuldlos den Tod eines Menschen verursacht hatte. Eine traurige Geschichte. Pauls Vater war bei einem Unfall ums Leben gekommen und hatte eine mittellose Witwe und drei Kinder zurückgelassen. Paul dachte, als Schuhputzer verdiene er sicher mehr, als wenn er Zeitungen austrüge oder als Botenjunge arbeiten würde. Also zimmerte er sich eine Holzkiste und setzte sich an die belebte Straßenecke bei der U-Bahnstation in
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der Nähe seines Hauses. »Jetzt kann's losgehen«, dachte er. Aber der Junge, auf dessen Stammplatz er sich unwissentlich gesetzt hatte, fand das gar nicht lustig. Als dieser kam und sah, dass sich ein Fremder an seiner Ecke niedergelassen hatte, griff er Paul sofort an, ohne Fragen zu stellen oder ihm Gelegenheit zu geben, die Sache zu erklären. Paul versuchte sich zu wehren, musste aber schnell einsehen, dass der andere Junge viel stärker war. Er riss sich los und rannte davon. Bei der anschließenden Verfolgungsjagd wurde der andere Junge von einem Lastwagen überfahren und war sofort tot. Soweit die Zeitung. Was nun kommt, habe ich mir selbst ausgedacht. Die Polizei untersuchte drei Wochen lang die Umstände um den Tod des 13-jährigen Robert Remeto. Dass Paul keine Schuld traf, stand schnell fest. Es galt als zweifelsfrei erwiesen, dass Robert durch den Lastwagen zu Tode gekommen war, als er Paul verfolgte. Kurze Zeit später zog Paul erneut mit seiner Schuhputzkiste zu der Straßenecke bei der U-Bahnstation. Am besten war der Platz gleich neben dem Süßwarenladen, denn dort fiel man möglichen Kunden sofort auf. Dieses Fleckchen hatte einst Robert gehört, und nun hatte Chico Marossa, ein dunkler, drahtiger Junge, es als sein rechtmäßiges Erbe übernommen. Mit Chico war nicht zu spaßen, und wenn die anderen Jungs sich stritten, galt sein Schiedsspruch als bindend. Als Paul an jenem Morgen erschien, war der Platz neben dem Süßwarenladen frei. Deshalb ließ er sich dort nieder. Er ging davon aus, dass nach Roberts Tod niemand Anspruch darauf erhob. Er stellte seine Schuhputzkiste vor sich auf den Gehsteig, lehnte sich an die rote Ziegelfassade und wartete auf Kundschaft. Er hätte sich auch woanders niederlassen können, aber er war zu der Stelle zurückgekehrt, weil er sich sagte, dass er hier schon ein paar Jungs aus dem Viertel kennen würde. Sein wahres Motiv aber war, dass er die Gegend wie seine Westentasche kannte und /erfolger im Ernstfall schneller abhängen konnte. Die Stunden vergingen, und die Jungs aus dem Viertel beobachteten Paul ungläubig, sprachen aber nicht mit ihm. Dieses Kid hatte Robert Remero erledigt, den härtesten Kerl unter der sonne, und nun wollte er sich den Nächsten holen. Ihre Angst hielt sie davon ab, sich mit ihm anzufreunden. Der ist gefährlich, dachten sie, und hielten sich fern von ihm. Paul sah die wachsamen Blicke der Jungs und wusste, der Ärger würde nicht lange auf sich warten lassen. Er begann innerich zu zittern und er hatte das Gefühl als liefen Millionen Ameisen über seine Haut. »Glänzende Schuhe, Mister?« rief er und erkannte seine eigene Stimme nicht wieder. Sie klang heiser und gepresst. »Glänzende Schuhe? Glänzende Schuhe, Mister?« Es war niemand in Sicht, aber Paul krächzte weiter. Es zeigte, dass er mutig war und er wollte den Jungs damit sagen: Ich bleibe hier, ob es euch passt oder nicht. Er erinnerte sich an die sorgenvollen Augen seiner Mutter, als er sich morgens verabschiedet hatte. »Versprich mir, vorsichtig zu sein, mein Junge«, hatte sie gesagt. Sie
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liebte ihn, und manchmal drückte sie ihn ganz fest an sich. In solchen Momenten war Paul so glücklich, dass er wünschte, dieses Gefühl würde sein Leben lang anhalten. Eine ruhige Stimme in ihm sagte: »Du könntest dich verkrümeln, aber das wäre feige.« Seine Mutter war eine tapfere Frau, und er war ihr tapferer Sohn. »Glänzende Schuhe? Glänzende Schuhe, Mister?« Er schaute auf und blickte in ein finsteres Gesicht. Vor ihm stand Chico Marossa, der Schläger, dessen Platz er gerade besetzte! Paul blieb das Herz sekundenlang stehen. In dem Moment beschloss er, nicht davonzulaufen. Eher würde er sterben. »Glänzende Schuhe, Mister?« rief er erneut. Dann schaute er Chico direkt in die Augen und fragte: »Suchst du was Bestimmtes?« Chico hätte Paul am liebsten eine blutige Nase verpasst, aber er war auf der Beerdigung seines besten Freundes gewesen und er hatte in Roberts totenblassem Gesicht den ewigen Frieden gesehen. Und dieser dünne Kerl vor ihm war Roberts Todesengel gewesen. Chico ergriff eine unbestimmte Furcht, seine Beine begannen zu zittern und ohne zu antworten nahm er seine Schuhputzkiste und zog davon. Einschnitt: Als Schriftsteller hat mich schon immer interessiert, welchen Einfluss die Umwelt auf den Menschen hat und wie sie ihn formt. Die Umwelt ist eine unanfechtbare, gnadenlose und unbeugsame Herrscherin über die Menschheit. Fügt sich der Mensch oder kämpft er gegen ihre Gewaltherrschaft? Kann er sich aus ihren Fesseln befreien? Mit welchen Mitteln kann er verhindern, dass er unter dem Einfluss der Umwelt erstarrt? Ich glaube, ich kenne die Figur des Paul recht gut. Ich werde versuchen, eine passende Kulisse für ihn aufzubauen. Ich weiß, er hat aus Liebe zu seiner Mutter eine grausame Schlägerei heraufbeschworen. Seit dem Tod seines Vaters war er der Beschützer seiner beiden jüngeren Geschwister, woraus er viel Selbstachtung bezog. Er wuchs langsam in die Männerrolle hinein, musste Geld verdienen, staunte über die Welt da draußen und erlebte viele aufregende, neue und manchmal verrückte Dinge. Dass seine Mutter ihm das alles mit seinen elf Jahren zutraute, verlieh ihm Sicherheit. Im Moment ist Paul noch ein netter Junge. Er ist tapfer, denn Feigheit zöge Hunger und Schande nach sich, seine Geschwister würden ihn nicht mehr bewundern, und seine Mutter wäre nicht mehr so lieb zu ihm. Eigentlich hat er Angst, aber die Jungs auf der Straße fürchten ihn. Robert, der Junge, der ihn vor einigen Wochen töten wollte, schützt Paul nun durch seinen Tod vor weiteren Angriffen. Denn die Erinnerung an Roberts verfrühten Tod ist wie ein Denkmal, das an Pauls Unbesiegbarkeit gemahnt. Die Jungen haben zwar noch keine klare Vorstellung vom Tod, sie verbinden mit diesem Begriff nicht Zersetzung und Staub zu Staub. Sie wissen, dass Robert tot und begraben ist, aber was für sie zählt ist, dass Paul es ihm unmöglich gemacht hat, weiter in seiner gewohnten Gegend aufzutauchen. Seinetwegen ist Robert auf dem Friedhof, und das ist ein Ort, um den die Jungen sogar tagsüber einen großen Bogen machen.
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Da steht der kleine Paul, umgeben von geheimnisvollen, unsichtbaren Umwelteinflüssen, die ihn bearbeiten. Bis zum Hals reicht ihm die Umwelt. Sie besteht nicht nur aus Menschen. Zu ihr gehören auch die Häuser und Straßen in seiner Wohngegend, ja, sogar die Autoabgase. Die Umwelt ist allgegenwärtig: der graue Himmel, die stickige kleine Wohnung im fünften Stock eines Mietshauses, die plärrenden Babys, fluchenden Mütter und betrunkenen Väter, die das Geschrei und den Anblick ewig verrotzter Kindernasen vielleicht schon bald nicht mehr ertragen können. Ich muss mit einbeziehen, was Paul isst, seinen Vater, die Wohnung über dem Lebensmittelgeschäft, in der er gezeugt und später geboren wurde, alles Lebendige und Tote, alle Geräusche und Gerüche, die er je gehört und gerochen hat, Lichter und Schatten, die Wanzen in den Betten, all das gehört mit zu seiner Umwelt. Sogar die Träume, die er geträumt und die Gedanken, die er gedacht hat, sind Teil des Ganzen und ein Teil von ihm. Da steht er nun mit seiner Schuhputzkiste und würde ihm jemand erzählen, auch er sei für andere ein Stück Umwelt, so würde er es nicht glauben. Aber es stimmt, und mit der Zeit merkt er, dass die anderen Jungen ihn wirklich fürchten. Endlich verliert er die Angst vor ihnen und beginnt langsam, sich zu entfalten. Der gehetzte Ausdruck verschwindet aus seinem Gesicht, er atmet normal. Mit den Jungs unterhält er sich schon viel ungezwungener, und später, als er merkt, dass sie ihn trotzdem noch fürchten, wird er sogar ein wenig autoritär. Paul kann nicht wissen, dass Umwelteinflüsse diesen Wandel in ihm bewirkt haben. Die Umwelt hat nie zu ihm gesagt: »Ab heute kannst du die Jungs herumkommandieren. Sie haben Angst vor dir.« Die Umwelt spricht nie. Sie wirkt subtil auf uns ein. Sie flüstert nicht einmal und ist auch nicht als schwacher Schatten sichtbar. Sie spricht ohne zu sprechen. Sie wächst in uns wie Gras - geräuschlos. Einschnitt: Pauls Geschichte hat damit einen neuen Wendepunkt erreicht. Ein neue Figur betritt die Bühne: Rudolpho. Ohne zu wissen warum, entwickelte Paul einen Appetit auf Geld, auf schnelles Geld. Er knüpfte enge Kontakte zu bestimmten Leu-ten. Zum Beispiel gab es da einen Kerl, der brachte locker drei Zentner auf die Waage. Als Paul ihm die Schuhe putzte, konnte der Mann sie nicht einmal sehen, so dick war sein Bauch. Paul dachte belustigt, unter diesen Bauch könnte man sich bei Regen gut unterstellen und würde keinen einzigen Tropfen abkriegen. Ein witziger Mensch war er, dieser Rudolpho. Er lachte gern, und Paul betrachtete dabei fasziniert, wie der Speck zu wackeln anfing, als säße jemand in Rudolphos Bauch und würde ihn von innen kitzeln. Dann schnellte das ganze Fett mit einem Mal steil nach oben, als wolle es sich unter Rudolphos Doppelkinn niederlassen, nur um im nächsten Moment bis zu den Knien abzusacken, dann wieder hoch, wieder runter, hoch, runter, als führe es ein Eigenleben. Rudolpho verdiente sein Geld im Wettgeschäft. Das war mit viel Lauferei zu Geschäftspartnern und Kunden verbunden, was ihm gar nicht gefiel. Also engagierte er
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Paul für die Beinarbeit. Paul machte den Job gern, denn Rudolpho war großzügig. Für zwei Stunden Arbeit gab ihm Rudolpho einen, zwei, manchmal sogar drei Dollar, je nach Laune und Kassenstand. Rudolpho mischte im großen Wettgeschäft nur am Rande mit und versuchte, nebenbei etwas für sich herauszuschlagen. Sein Job war es, Wetten anzunehmen und Gewinne auszuzahlen - sollte tatsächlich einmal jemand das Glück haben, die richtige Zahlenkombination zu tippen. Aber Rudolpho war nicht zufrieden mit seinem Verdienst. Daher versuchte er, sich langsam eine eigene Klientel aufzubauen. Sollten die Bosse ihn dabei erwischen, würden sie ihn wahrscheinlich um die Ecke bringen, das wusste er. Er dachte, so lange er seine Kunden anständig behandelte, würden sie ihn schon nicht verpfeifen. Aber es sickerte doch irgendwann durch, und als Paul eines Tages zu Rudolpho nach Hause kam, sah er, dass die Tür der Zweizimmerwohnung halb offen stand. Rudolpho war ein sehr vorsichtiger Mann. Er hatte eine Kette und zwei Sicherheitsschlösser an seiner Tür, und er würde sie nie auch nur eine Sekunde lang offen stehen lassen. Seine Tür lag in einem dunklen Flur gleich hinter der Eingangstreppe. Das Haus stand halb leer und war baufällig. Rudolpho lebte seit Jahren allein in seiner Wohnung und sorgte für sich selbst. Er lebte in ständiger Angst. Als Paul die halb offene Tür sah, wurde ihm unbehaglich zumute. Er drückte sie vorsichtig ein wenig weiter auf und rief: »Rudolpho, bist du zu Hause?« Keine Antwort. Die Rollos waren heruntergelassen, und im Zimmer war es fast dunkel. Paul trat ein und rief erneut. Im selben Moment sah er, dass Rudolpho mitten im Zimmer am Tisch saß und ihn angrinste. »Du gemeiner Kerl«, sagte Paul und lachte. »Wolltest mich wohl erschrecken, was?« Er ging zum Tisch und piekste den großen Kerl freundschaftlich in die Rippen. Doch er hielt entsetzt inne, denn er sah, dass das Grinsen auf Rudolphos Gesicht eingefroren war. Eine Zickzacklinie aus getrocknetem Blut lief über sein weißes Hemd. Rudolpho war tot, mausetot, und sein Anblick, wie er da saß und ihn mit stumpfen Augen angrinste, war das Gespenstischste, was Paul in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Die Umwelt ist nur ein Teil - sicherlich aber ein sehr großer - der Motivationsstruktur. Die Umwelt ist wie ein großes Bett, das schon für uns bereitsteht, wenn wir geboren werden. Je mehr sich jedoch unser geistiger Horizont erweitert, desto enger und unbequemer wird uns unsere Umwelt. Aber die Angst vor dem Ungewissen hält uns dennoch an Orten, die wir nun zwar geringschätzen, aber immerhin kennen. ► Ohne die Umwelteinflüsse zu berücksichtigen, kann niemand eine lebendige, dreidimensionale Figur erschaffen. DIE GESCHICHTE VOM HÄSSLICHEN MANN Ich erzähle Ihnen nun die Geschichte eines Mannes, der tötete, weil er glaubte, er sei hässlich. Die Zeitung berichtete Folgendes:
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GATTENMÖRDER STELLT SICH Brutalster Mord in der Kriminalgeschichte Gesicht der Frau bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt - »Ich habe es aus Liebe getan«, sagt er. Guy Smith wurde gestern Nacht wegen des brutalen Mordes an seiner schönen Frau Anne festgenommen. Die Nachbarn waren über seine Festnahme mehr als überrascht. Jeder kannte ihn als ausgeglichenen Menschen und redlichen Bürger. Er war Mitglied im örtlichen Rotary Club und setzte sich für viele gemeinnützige Projekte ein. Weiter beschreibt der Artikel die blutigen Einzelheiten - wie Mrs. Smiths verstümmelte Leiche gefunden wurde, die Tatzeit und wie sich Mr. Smith der Polizei stellte. Ganz ruhig und heiter sei er laut Polizeibericht gewesen. Er habe auf dem Revier angerufen, sich dann in seinen Schaukelstuhl gesetzt und gefasst auf die Beamten gewartet. Nicht nur war Guy Smith sofort geständig, sondern er beschrieb dem Dienst habenden Staatsanwalt auch in allen Einzelheiten, wie er den Mord an seiner Frau geplant hatte. Damit war klar, dass er nicht im Affekt getötet hatte, was ihn zu einem Kandidaten für den elektrischen Stuhl machte. Laut psychiatrischem Gutachten war Smith geistig gesund und uneingeschränkt schuldfähig. Er wurde darüber belehrt, dass er das Recht hatte zu schweigen, doch wirkte er beinahe eifrig an seiner schnellstmöglichen Hinrichtung mit. Auch im Gefängnis machte er nicht den Eindruck, als sei er betrübt über seinen bevorstehenden Tod, sondern war jovial und gelassen, als lege er ohnehin keinen gesteigerten Wert darauf, auf der Welt zu sein. Warum will ein scheinbar gesunder Mann sterben? Jeder nor-male Mensch versucht, seiner gerechten Strafe zu entgehen, und ein krimineller erst recht. Wieso verhielt Smith sich so seltsam? Er war von Natur aus sehr empfindlich. Weder war er entstellt noch abstoßend hässlich, nur war er nicht gerade der Typ, den man gut aussehend nennen würde. Sein Gesicht wirkte durch seine gebrochene Nase etwas platt, und seine Augen sahen immer leicht entzündet aus. Nein, hässlich war er nicht, aber leider war er da ganz anderer Meinung, und diese tiefe Überzeugung hatte ihn zu dem gemacht, was er nun war - ein Mörder. Smith war intelligent, aber wenn er sich mit anderen verglich, entmutigte es ihn. Er war überempfindlich, und durch seine lebendige Vorstellungskraft sah er Probleme, wo keine waren. Wer kennt unsere Beschränkungen besser als wir selbst? Zu erkennen, wie wenig er weiß, ist für einen empfindlichen Menschen eine bittere Pille. Smith arbeitete
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freiberuflich als Steuerberater und wusste, dass er in seinem Beruf nicht zu den Topleuten gehörte. Außerdem war ihm schmerzlich bewusst, dass er kein Adonis war. Die ständige Angst, seine geliebte Frau zu verlieren, machte ihn so unterwürfig, dass sie einen Widerwillen gegen ihn hatte. Seine Höflichkeit und das Bemühen, sie zufrieden zu stellen, machten es nur noch schlimmer. Mrs. Smith spürte eine wachsende körperliche Abneigung gegen ihren Mann. Rund um die Uhr war er lieb, unerträglich lieb. Sie nahm sich vor, ihn zu verlassen. Als er merkte, dass sie ihn immer weniger schätzte, versuchte er, ihre verlorene Achtung mit teuren Geschenken, die er sich eigentlich nicht leisten konnte, zurückzugewinnen. Er begann von seinen Kunden Bestechungsgelder für das Frisieren der Bücher anzunehmen. Und er versuchte, sich von einem Mann mittleren Alters in einen jungen und lebhaften zu verwandeln. Er stolzierte umher wie ein Gockel, flirtete mit jungen Mädchen und machte sich zum Gespött der Nachbarschaft. Dass er seine Frau damit eifersüchtig machen wollte, war durchschaubar und wirkte peinlich. Aber statt sich darüber aufzuregen, ermunterte sie ihn auch noch, weil sie hoffte, sie würde ihn auf diese Weise schneller los. Für die teuren Geschenke erntete Smith zu Hause statt Dank nur noch mehr Verachtung. Die Atmosphäre lud sich immer weiter auf, aber keiner der beiden sprach über das, was ihn am meisten quälte. Es musste irgendwann zur großen Explosion kommen, die diese Trugwelt in tausend Stücke reißen würde. Schließlich war es dann soweit - Mrs. Smith verlangte die Scheidung. Und in jenem Moment dachte Smith erstmals, seine Frau habe es nicht verdient zu leben. Dieser Gedanke kam ihm nicht in wilder Raserei, sondern entstand aus kühler Überlegung. Aber Smith schreckte vor dem Gedanken zurück, kaum dass er ihn gedacht hatte. Er wusste, wenn seine Frau starb, musste auch er sterben, und dazu war er nicht bereit - noch nicht. Sich vorzustellen, wie man jemand anderen tötet, ist reizvoller, als sich selbst als Leiche zu sehen. Unser Lebenswille macht uns alle feige. Smith überlegte, ob es nicht doch einen Weg gab, lebend aus dem Dilemma herauszukommen. Verzweifelt, wie er war, opferte er auch seinen letzten Rest Stolz. Er bettelte. Er drohte. Ihm war alles egal, er kämpfte verzweifelt um das demütigende Privileg, weiterhin in ihrer Nähe bleiben zu dürfen. Gewährte sie ihm diesen Wunsch? - Ja. Und zwar aus mehreren Gründen. Zunächst weil sie tatsächlich Mitleid mit ihm hatte. Zweitens hatte sie ihm ja nun gesagt, mit ihm zu leben, käme für sie nicht länger in Frage. Deshalb dachte sie, sie könne sich nach Belieben mit anderen Männern treffen, und Smith würde sich mit der Zeit schon mit seinem Schicksal abfinden. Der wichtigste Grund aber war, dass sie Smith vor der Scheidung erst noch dazu bringen wollte, ihr ihren Anteil an dem gemeinsamen Mehrfamilienhauses auszuzahlen. Smith war im Grunde seines Herzens ein lieber, sanftmütiger Mann. Die Mordgedanken mussten sehr langsam in ihm gereift sein. Welch ungeheuerliche Provokation hatte ihn dazu getrieben, schließlich auch noch den letzten Schritt zu gehen, der nicht nur das Leben seiner Frau, sondern auch sein eigenes zerstörte?
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Smith hatte nur einen kleinen Wunsch geäußert - er wollte in der Nähe seiner Frau bleiben. Sie ließ sich aus Mitleid darauf ein, womit sie eine Kettenreaktion auslöste, die mit ihrem Tod endete. Einschnitt: Die Provokation muss ungeheuerlich sein, sonst können sie Ihren Protagonisten nicht glaubwürdig auf den Weg zum Mord schicken. Vielleicht dachte er, von nun an würden fremde Männer in seinem Haus ein- und ausgehen, was gegen die Abmachung gewesen wäre. Was fiel ihr ein, sein Haus so zu entwürdigen? Vielleicht hatte sie gar nicht vor, Männer zu sich nach Hause einzuladen, hatte aber irgendwas gesagt oder getan, das Smith Grund zu dieser Befürchtung gab. Smith konnte diese Gedanken kaum ertragen - schlimmer konnte es selbst in der Hölle nicht sein. Aber noch gab er die Hoffnung nicht auf, er könne seine Frau doch wieder zurückgewinnen. Warum? Wie konnte er nur im Entferntesten annehmen, alles könne sich zum Guten wenden? Bestand diese Möglichkeit denn noch? - Nein, nicht im Geringsten. Warum klammerte er sich dann an eine falsche Hoffnung? Aus gutem Grund: Es ging ihm nicht darum, wieder eine glückliche Ehe zu führen. Es ging um sein Leben. Anfangs hatte seine Frau ihm das Gefühl gegeben, ein Mensch wie jeder andere oder sogar besser zu sein. Das hatte ihm Würde verliehen. Sie hatte sich gefreut, dass er auf der Welt war. Er war ihr wichtig gewesen, sehr wichtig sogar. Und nun wollte sie ihm das Selbstbewusstsein, das sie in ihm aufgebaut hatte, wieder nehmen. Das musste er um jeden Preis verhindern. In seinen Augen bewies ihr Wunsch zu gehen, dass sie ihn anfangs belogen hatte. Offenbar hatte sie ihn nie für attraktiv oder anderen Männern überlegen gehalten. Er war also doch ein minderwertiges Geschöpf, das es nicht verdiente zu leben. Und wenn sie sich nun von ihm scheiden ließe, würden ihn alle auslachen. Eine Scheidung bedeutete deshalb für ihn viel mehr als für andere Menschen. Er war sicher, anschließend schutzlos einer feindseligen Welt ausgeliefert zu sein. Nur im Kokon einer Ehe hielt er sich für lebensfähig. Die Bitte seiner Frau, sich scheiden zu lassen, klang in seinen Ohren wie eine höfliche Aufforderung, die Bühne der Welt zu verlassen. »Du hast lange genug gelebt, Smith. Nun leg dich schön hin und stirb.« Die Scheidung war für Smith wie ein Mord an ihm. Und nachdem es ihm nicht gelungen war, seine Frau von ihren mörderischen Scheidungsabsichten abzubringen, musste er sie wie in Notwehr töten. Verrückt war Smith nicht. Sonst hätte ich die Finger von ihm gelassen. Aber je weiter ich diesem Mann auf seinem Weg ins ausweglose Chaos folge, desto interessanter finde ich die Reise. Eine dreidimensionale Figur ist nicht nur von ihrer Umwelt, sondern auch von ihrer körperlichen Beschaffenheit geprägt. Und so wird Smith als Kind wegen seines
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Aussehens oft gehänselt worden sein, sonst hätte er eine bessere Meinung von sich gehabt. Ob ein Mensch eine körperliche Behinderung hat oder nicht, es kommt darauf an, was er von sich selbst denkt. Hält er sich für physisch unattraktiv, so wird er schwer vom Gegenteil zu überzeugen sein. Unser Selbstbild hängt zum einen von unseren angeborenen Eigenschaften ab, zum anderen aber auch von unseren Erfahrungen. Ohne die Erfahrungen von Demütigung, Vernachlässigung, Misshandlung oder aber Liebe und Zärtlichkeit, ist kein Mensch einfach nur ein bedrückter Pessimist oder fröhlicher Optimist. SIE: JUNG UND SEXY. ER: IM ROLLSTUHL Eine junge Frau, etwa fünfundzwanzig Jahre alt, arbeitet mit einem Mann in derselben Kanzlei. Sie sieht gut aus - er nicht. Sie hat eine fast perfekte Figur - er ist vom Becken abwärts gelähmt. Sie ist Stenographin, er hat gerade sein Jurastudium abgeschlossen. Die beiden heiraten. Den Heiratsantrag macht sie ihm, nachdem sie wochenlang hinter ihm her war. Nicht umgekehrt. Warum? Der Mann ist ein mittelloser Rechtsreferendar und obendrein ein Schwerbehinderter. Verliebt ist sie auch nicht in ihn. Wieso will sie ausgerechnet ihn heiraten, statt auf einen gesunden Mann mit besseren Zukunftsaussichten zu warten? Was ist ihr Motiv? Sie stammt aus einer sehr religiösen und konservativen Familie. Ihre Mutter war verwitwet und arbeitete schwer, um ihr einziges Kind zu ernähren. Nebenbei verdiente sie noch etwas Geld, indem sie zu Hause die Wäsche anderer Leute wusch. In der kleinen Zweizimmerwohnung herrschte ständig ein heilloses Durcheinander - überall hing feuchte Wäsche zum Trocknen herum. Über Sex auch nur zu sprechen, betrachtete die Mutter als Sünde. Außerhalb der Ehe hatte Sex sowieso nichts verloren, und wer sich nicht daran hielt, den erwartete das ewige Fegefeuer. Um der Monotonie, der Armut und dieser Ignoranz zu entgehen, hatte das Mädchen Affären, zuerst mit einem, dann mit vielen Männern. Es war eine verzweifelte Rebellion gegen ihr dumpfes Leben. Sie hatte Schuldgefühle und bereute, was sie tat, aber sie konnte es nicht lassen. Das Leben hatte ihr sonst kaum etwas zu bieten. Sie schaffte ihren Schulabschluss, ohne auf der Highschool viel gelernt zu haben. Sie war wirklich ein gutes Mädchen. Sie liebte ihre Mutter und half ihr, wo sie nur konnte, aber ohne ihre nächtlichen Abenteuer wäre sie in dieser Umgebung verrückt geworden. Als sie im Büro den behinderten Mann kennen lernt, der sie ungeniert bewundert, beschließt sie, ihn zu heiraten. Sie glaubt, ein normaler Mann würde sie wegen ihres wilden Vorlebens verachten, während ein Mann im Rollstuhl froh sein könne, eine Frau wie sie zu bekommen. Bei ihm ist sie sicher, dass er sie immer schätzen wird. Da haben wir unser Motiv. ► Bedenken Sie: Jeder befindet sich zeitlebens auf der Suche nach Sicherheit und kämpft um ihren Erhalt. Sicherheitsstreben ist der zentrale Auslöser aller Gefühle und Konflikte. Selbst dem edelsten Gefühl, das wir Menschen kennen, die Mutterliebe, liegt
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das zu Grunde. Erst wenn die Nachkommen einer Frau überlebt haben, um die eigene Linie fortzuführen, ist sie gewiss, dass ihre eigene Zukunft gesichert ist. Durch ihre Kinder verspricht sich eine Mutter, unsterblich zu werden, über ihren Tod hinaus Sicherheit zu erlangen. DIE BESCHEIDENE VORGESETZTE Die junge Mitarbeiterin war entzückt von ihrer neuen Vorgesetzten, die nicht nur sehr nett war, sondern auch immer ein Lob auf den Lippen hatte und ihr nach Kräften bei der Arbeit half. Sie war überrascht. Irgendwo musste die Sache doch einen Haken haben. Vorgesetzte sorgten sich normalerweise nicht so um das Wohl ihrer Untergebenen. Die Vorgesetzte war noch jung, Ende zwanzig vielleicht, sah sehr gut aus, wirkte selbstsicher und hatte gute Manieren. Jeder mochte sie, auch die beiden Chefs. Der jüngere der beiden war sogar ganz wild hinter ihr her. Warum war sie dann so bescheiden? Wieso war sie nicht überheblich, wie man es von anderen Vorgesetzten kennt? Die neue Mitarbeiterin wunderte sich sehr über dieses seltsame Verhalten. Warum war die Vorgesetzte immer so nett zu allen? Sie hörte sich bei den langjährigen Angestellten um. Nein, es war nicht nur eine vorübergehende Laune. Die Vorgesetzte war schon immer so gewesen. Warum? - Hier die Antwort: Mit achtzehn war sie zusammen mit ihren Eltern und ihren beiden Brüdern in einem Feuerinferno eingeschlossen gewesen, als das Haus der Familie abbrannte. Ihre vier Angehörigen starben qualvoll, und dass sie überlebte, war für die Ärzte ein Wunder. Dank plastischer Chirurgie wurde sie wieder eine junge Frau, die sich in der Öffentlichkeit sehen lassen und ihren Lebensunterhalt verdienen konnte. ► Abgesehen von wenigen Ausnahmen, haben Menschen, die dem Tod einmal so nahe waren, eine andere Einstellung zum Leben als jene, denen ein solcher Schrecken erspart geblieben ist. So können Sie Figuren eine unerwartete Eigenschaft geben. HELDEN Wenn ich über Motive spreche, muss ich an einen Mann denken, der plötzlich zum todesmutigen Held wurde. Wie ist das möglich? Heldenhaftigkeit ist nicht unbedingt eine persönliche Eigenschaft, meine ich. Sie kann mit den äußeren Umständen wechseln und den Stimmungen, in denen wir uns befinden. Ein Mann geht vielleicht die Straße entlang, ohne an etwas Besonderes zu denken. Plötzlich sieht er, wie eine Frau die Straße überquert, obwohl ein Lastwagen direkt auf sie zu rast. Der Fahrer sieht die Frau offenbar nicht, und die Frau ist so in Gedanken, dass sie das laute Geräusch des Lastwagens überhört. Der Mann hat keine
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Zeit für Überlegungen. Vielleicht folgt er einem Impuls und springt auf die Straße, um die Frau von der Fahrbahn zu reißen, obwohl er dabei statt ihrer überfahren werden könnte. Die Entscheidung, ob er hilft oder nicht, fällt im Bruchteil einer Sekunde, aber in diesem kurzen Augenblick ziehen tausend Bilder aus seiner Vergangenheit und Gegenwart mit Lichtgeschwindigkeit durch seinen Kopf. In diesem Moment entscheidet sich, ob der Mann heldenhaft handelt. Was bewirkt, dass er bereit ist, sein Leben für das der Frau zu opfern? - Wie auch immer er sich am Ende entscheidet, es bedarf einer Grundstimmung, die seine Entscheidung beeinflusst. Und diese Grundstimmung muss sich in einem Notfall schnell aufbauen. Die Voraussetzung, muss bereits da sein. Betrachten wir das Gegenteil, im Wörterbuch steht: »Feigheit: mangelnder Mut, sich einer Gefahr, einer Schwierigkeit oder einem Widerstand auszusetzen; Angst vor verletzenden oder schmerzhaften Situationen.« Warum kommt der Mann überhaupt in eine Stimmung, in der er mutig und bereit ist, sein Leben aufs Spiel zu setzen? Die Antwort lautet: Er kann sich nicht selbst in eine solche Stimmung versetzen. Seine Anlagen, seine Lebenserfahrungen beeinflussen, wie er sich am Ende entscheidet. Die Stimmung muss bereits in ihm sein. Der Mann hat also nicht unmittelbar Einfluss auf seine Entscheidung. Wenn er beispielsweise als Kind von seiner Mutter vernachlässigt worden wäre, hätte er als Erwachsener möglicherweise etwas gegen Frauen. Und hätte er außerdem noch eine unglückliche Liebesbeziehung hinter sich, wäre er vielleicht betrogen worden, dann könnte seine Abneigung gegen Frauen gewachsen sein. Solche oder ähnliche Gründe könnten ihn, obwohl er die Frau auf der Straße nicht absichtlich in den Tod gehen lassen will, unbewusst dazu bringen, eine halbe Sekunde länger zu zögern, was ihren Tod zur Folge hätte. Frühere Erlebnisse bestimmen also wie ein Mensch in einer Situation für Außenstehende handelt. ► Immer fasziniert uns das Warum; es ist die Essenz aller großen Literatur. Nichts geschieht ohne Grund. Das Motiv ist nötig für den Prozess, der zur Aktion führt, und es stimuliert ihn immer wieder neu: Der eine handelt aus Liebe, ein anderer aus Hass, Fanatismus kann sogar die Bereitschaft zum Opfer des eigenen Lebens bewirken. Auch der Wunsch nach Berühmtheit oder Reichtum ist eine Kraft, die unser Handeln bestimmt. Und die Quelle aller Gefühle und Konflikte ist die Sehnsucht nach Sicherheit und Selbsterhalt. DER GOTTESMANN Angenommen, ich hätte meine Tageszeitung vor mir und sähe die vielen verschiedenen Schlagzeilen auf der ersten Seite, welche würde die Leser am meisten fesseln?
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GEORGE MCCARTHY, 60, BRENNT MIT TEENAGER DURCH. Ich weiß ja nicht, wie es anderen Leuten geht, aber ich würde, zumindest innerlich, den Kopf schütteln. »Närrischer alter Kerl!« würde ich sagen und etwas suchen, das mich mehr interessiert als irgendein Alter, der ein junges Mädchen geheiratet hat. EINSTWEILIGE VERFÜGUNG GEGEN CONTROLLER BEI X AG,... »Ist mir doch egal!« NEUNZEHN NEUE MITGLIEDSTAATEN IN DER U.N. ... »Gut ... sehr gut!« Ich nicke zustimmend. STREIK IM KRAFTWERK... »Oh nein, jetzt wird der Strom schon wieder teurer!« SCHLAFENDEN EHEMANN MIT SANDSTRAHLGEBLÄSE TRAKTIERT... »Das Biest«, fluche ich still vor mich hin und bete, dass meine Frau mir so was nie antun wird; aber nein, denke ich dann, ganz sicher nicht. Sie ist einfach nicht der Typ für so was. DIAKON VERLÄSST SEINE FAMILIE WEGEN 15-JÄHRIGER CHORSÄNGERIN! John Smith, Diakon der Kirche von den heiligen Evangelisten, frommer Verkünder der Heiligen Schrift und Vater von sieben Kindern, verschwindet mit einem 15-jährigen Mädchen aus seinem Kirchenchor. Für diese Story nehmen sich bestimmt auch andere Leser Zeit, denn das hört sich aufregend an. Ein Diakon! Mannomann! Vater von sieben Kindern! Der alte Heuchler! Es ist doch auf niemanden mehr Verlass! Sie lesen danach vielleicht noch andere Schlagzeilen, aber das mit John Smith lässt Ihnen keine Ruhe. Warum? - Die erste Schlagzeile betraf einen Alltagsmenschen, aber ein Diakon ist etwas besonderes. Wenn wir einfachen Leute sündigen, ist das normal, wir Sterblichen sind ohnehin der Verdammnis geweiht. Aber dass ein gebildeter Mann wie ein Geistlicher nicht besser sein soll, ist schwer zu verstehen. Ich bin ein Sünder, aber wenn ich niemand kennen würde, der besser ist als ich, wäre mein Vertrauen in die Menschheit dahin. Ein Diakon, der Gottes Wort predigt und gleichzeitig die Regeln ehrbaren Verhaltens missachtet, seine Frau mit sieben unschuldigen Kindern verlässt, ist eine Ungeheuerlichkeit. Er zerstört mit seinem Verhalten das Vertrauen von Hunderten, ja, Tausenden von Familien. War John Smith ein verachtenswerter Heuchler? - Wie ich lese, war er das nicht, eher ein religiöser Eiferer, der heilige Terror der Kleinstadt, in der er lebte. Wie ein Racheengel verfolgte er alle, die die geringste Neigung zeigten, sich von der reinen Lehre
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ihres Glaubens zu entfernen. Viele Frauen hatten den unfehlbaren John Smith schon ihren Männern auf Abwegen als leuchtendes Beispiel vorgehalten. Ich lese weiter: er ist neunundvierzig Jahre alt, groß, hager. Früher war er vielleicht sogar einmal gut aussehend, abgesehen von seinem pockennarbigen Gesicht. Er hatte helle blaue Augen und einen durchdringenden Blick. Viele meinten, auf seine ungewöhnlich ausdrucksstarken Augen könne er stolz sein. Oft schaute er in den Spiegel, um zu sehen, was an ihnen so anders war, aber er konnte nichts Besonderes finden. Eigentlich gefielen ihm seine Augen nicht - sie waren farblos und wässrig. Als junger Mann hatte er im Geschäft seines Vaters ausgeholfen und war dort ziemlich unglücklich gewesen. Der Laden war dunkel und schmuddelig, die Ware lag kreuz und quer auf der Theke herum. Aber was für John Smith Sr. gut genug war, hatte auch dem Junior zu reichen. John Smith Jr. war in seiner Jugend sehr schüchtern. Sein pockennarbiges Gesicht fand er abstoßend. Seine Schulkameradinnen auf der Highschool gingen mit anderen Jungen aus, er jedoch holte sich bei ihnen regelmäßig eine höfliche Absage. Dass sich kein Mädchen mit ihm sehen lassen wollte, lag aber weniger an seinem Aussehen, eher daran, dass er nicht gerade der Hellste war. Er glaubte, die Lehrer mochten ihn aus irgendeinem unerfindlichen Grund nicht und gäben ihm absichtlich immer die schwersten Aufgaben. Das machte ihn bitter, und da er gesund und kräftig war, lehnte er sich gegen seine Lehrer auf und seine Klassenkameraden verprügelte er wegen der geringsten Kleinigkeit. Sie machten einen großen Bogen um ihn. Er zog sich immer mehr in sich selbst zurück. Seit jeher war er sonntags zur Kirche gegangen, nun begann er, sehr aufmerksam zuzuhören, wenn der Pfarrer sprach. Er mochte die Geschichten über eine bessere Welt, in die die Guten kamen, um dort von Gott bis in alle Ewigkeit geliebt zu werden. Gleichzeitig wuchs sein Interesse am Laden seines Vaters, wo er nachmittags arbeitete, und erstmals bekam er von seinem Vater statt der gewohnten Schelte lobende Worte zu hören. Doch die Übergangszeit von der Jugend zur Reife war für ihn nicht leicht. Er kam in der Schule einfach nicht mit und blieb sitzen. Wie ein Riese auf seine jüngeren Klassenkameraden herabschauen zu müssen, war ihm entsetzlich peinlich. Er sah eher wie ein erwachsener Mann aus, nicht wie ein Schüler. Kurz vor Ende des letzten Schuljahrs sprach er ein hübsches Mädchen aus seiner Klasse an. Es war ihr unangenehm, mit diesem zurückgebliebenen Jungen gesehen zu werden, da sie aber ein feinfühliges junges Geschöpf war, brachte sie es nicht fertig, ihn zu demütigen, indem sie ihm den Wunsch ausschlug, ihn auf dem Nachhauseweg von der Schule ein Stück zu begleiten. Als sie durch eine stille Gasse gingen, packte John sie plötzlich und riss ihr die Bluse auf. Dieser überraschende Angriff schockierte das Mädchen so sehr, dass sie vor Schreck wie gelähmt war, unfähig sich zu wehren.
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Erstmals sah er die nackte Brust einer Frau. Die kleinen festen Hügel mit den rosigen Brustwarzen machten ihn so verrückt, dass er das Mädchen auf der Stelle hätte vergewaltigen können. Er spürte, wie die Hitze ihres Körpers ihm durch seine Hände hindurch bis ins Mark drang. Er sah alles verschwommen. Doch gerade als er über sie herfallen wollte, war ihm, als blitze vor seinen Augen ein gleißendes Licht auf, und eine Stimme sagte zu ihm: »Lass das Mädchen in Ruhe!« Da wusste er, dass es Gott höchstpersönlich war, der ihn davor bewahrte, ein Verbrechen zu begehen. Er ließ von dem Mädchen ab, taumelte ein paar Schritte zurück und stammelte: »Nein ... nein ... nein ... das wollte ich nicht - bitte, verzeih mir ...« Dann rannte er weinend und wilde Worte ausstoßend davon. Zu Hause angekommen, war er so verwirrt, dass seine Mutter sofort einen Arzt rief. Aber John schloss sich in seinem Zimmer ein und weigerte sich, die Tür zu öffnen. Angezogen lag er auf seinem Bett. Vor sich sah er noch immer die betörenden Brüste des jungen Mädchens. Noch einmal wollte er sie berühren und grub seine Finger tief in sein Kissen. Wochenlang musste er das Bett hüten, so krank war er. Wieder am Leben teilzunehmen, als sei nichts geschehen, war zu beschämend, abgesehen davon, dass er fürchtete, verhaftet zu werden. Die Reue packte ihn und nun tat ihm auch sein Vater leid. Kein Zweifel, dieser würde vor Scham sterben, sollte er je herausfinden, was passiert war. Und dass seine Mitschülerin nach dem schrecklichen Vorfall keine Anzeige gegen ihn erstattet hatte, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. John schämte sich furchtbar, aber die Erinnerung an die nackte Haut des Mädchens blieb sehr lebendig. Als er wieder zur Schule kam, war das Mädchen zwar noch da, doch sie tat so, als sei zwischen ihnen nie etwas vorgefallen. Der junge John Smith stand Todesängste aus. Seine Schuldgefühle trieben ihn an den Rand der Verzweiflung. Er bat Gott um Vergebung, und tatsächlich hatte er das Gefühl, als würde dieser ihm die schwere Bürde, die er sich mit der schrecklichen Verfehlung aufgeladen hatte, etwas leichter machen. Sein religiöser Eifer erfüllte ihn mit großer Zufriedenheit - so glücklich war er in seinem ganzen Leben noch nie gewesen. Er erklärte sich das alles so, dass Gott ihn zeitlebens geprüft hatte. Nun erfreute Johns Bußbereitschaft seinen Schöpfer so sehr, dass dieser ihm die Schuldgefühle langsam nahm. Mit fünfundzwanzig begann John, ernsthaft die Bibel zu studieren. Er glaubte, er verstünde sie sogar besser als sein Vater, und der war schon ein besessener Bibelkenner. Die beiden diskutierten hitzig über einzelne Passagen, die sie unterschiedlich auslegten. John verbrachte immer mehr Zeit in der Kirche, wo er bei verschiedenen Arbeiten half. Eines Tages hatte er eine erleuchtende Offenbarung: Er sah plötzlich die Menschenmenge auf der Straße und wie sie ihre unsterbliche Seele missachteten. Mitten auf dem Marktplatz blieb er stehen und hielt eine Rede über die Erlösung. Er beschrieb, welch unendliches Glück jene erwartete, die an Jesus glaubten. Fast wäre er ohnmächtig
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geworden, so sehr war er von seinem Eifer und der Kraft seiner eigenen Worte überwältigt. John kannte nun seine Bestimmung im Leben und hatte ein klares Ziel vor Augen. Endlich wusste er, wohin er gehörte. Er hatte den Weg Gottes gewählt. John Smith Sr. starb, und der Junior übernahm das Geschäft. Aber da er nur dann richtig glücklich war, wenn er vor einer Menschenmenge predigen konnte, mietete er zusätzlich ein leer stehendes Ladenlokal in seiner Nähe und hatte in kürzester Zeit eine große Anhängerschaft. Hart und unerbittlich schimpfte er auf die religiösen Organisationen, getrieben von einem tiefen Hass auf jene, die ihn nicht als ebenbürtig anerkannt hatten. Nach einigen Jahren entdeckte er unter seinen treuen Anhängern Miss Clara Moriarity, eine Frau mit großem Busen, die auf die Dreißig zuging. Clara Moriarity hatte das Leben schon von seiner rauen Seite gesehen, hatte mit vielen Männern in vielen verschiedenen Betten geschlafen. Sie arbeitete als Kellnerin, und ihr reicher Erfahrungsschatz sagte ihr, dass John Smith vermutlich der einzige Mann auf Erden war, der ihr treu bleiben würde. Daher beschloss sie, ihn zu heiraten. Sie ging den Bund der Ehe mit dem Vorsatz ein, eine Maria Magdalena der Neuzeit zu werden. Sie wurde zu Johns Schatten. Eines Nachts gestand sie ihm einige ihrer Sünden, und er belohnte sie dafür, indem er sie wie ein verständnisvoller, großmütiger Vater umarmte. Wenige Tage darauf bat er sie, ihn zu heiraten. Sie bat ihn im Gegenzug um einen Tag Bedenkzeit. Gerne gewährte er ihr diesen Wunsch. Clara fürchtete zwar, er könnte es sich bis zum nächsten Tag doch noch einmal anders überlegen oder überhaupt vergessen, dass er ihr den Antrag gemacht hatte, doch brauchte sie diesen einen Tag, um einen Grobian namens Peter loszuwerden, der immer, wenn ihm gerade der Sinn danach stand, bei ihr vorbeischaute. Clara und John heirateten und, Wunder über Wunder, Clara wurde eine treue und pflichtbewusste Ehefrau und Mutter. Jene, die sie von früher her kannten, dachten, John müsse ein höllisch guter Liebhaber sein, denn schließlich gelang es ihm, Claras unstillbaren Appetit auf Sex auf einen einzigen Mann zu begrenzen. Egal, was der Grund für ihre Treue war, die Geburt der Kinder Jahr für Jahr, schränkten Claras Möglichkeiten, ihrem Mann untreu zu sein, gewiss erheblich ein. John Smiths Name wurde zum Synonym für Ehrbarkeit und Moral. Sein Geschäft blühte, und einen Großteil seiner Gewinne ließ er jenen zukommen, die seine wohltätige Hilfe am meisten verdienten. Er stellte einen Chor mit Trompetenbegleitung zusammen, und die Truppe sorgte jedes Mal für große Aufmerksamkeit, wenn sie an einer belebten Straßenecke auftrat. Eines Tages erschien ein unscheinbares kleines Mädchen in Johns Chor: HarmonyOlivia. Höchstens fünfzehn Jahre war sie alt. Sie war die Tochter eines verkrüppelten Vaters und einer Mutter, die sich wegen einer fortgeschrittenen Arthrose kaum rühren konnte. Das arme Kind hatte immer Hunger, und einmal fiel John ihr Blick auf, als ein anderes Chormädchen ein Sandwich aß. Er schloss diese arme Kreatur in sein Herz,
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nahm sie bei der Hand und brachte sie ohne große Worte zu sich nach Hause, damit Clara ihr etwas zu essen gab. Das ärgerte Clara. Sie schimpfte, sie habe von dem knappen Haushaltsgeld, das er ihr gab, genug hungrige Mäuler zu stopfen. John hielt nichts von Streitereien - er sah seine Frau nur an. Bei solchen Gelegenheiten verdunkelten sich seine wässrig blauen Augen auf rätselhafte Weise. Dann verstummte Clara sofort und tat, was er verlangte. Harmony-Olivia war fortan häufig zu Gast in John Smiths Haus. Sie machte sich nützlich, spülte Geschirr und erledigte alle möglichen anderen kleinen Aufgaben im Haushalt. Sie folgte John wie ein treuer Hund. Er war ihr Privatgott. Sie brachte Pakete mit Essen für ihre Eltern mit nach Hause. Die waren erleichtert, dass ihre Tochter dank des frommen Mannes keinen Hunger mehr leiden musste. Sie verehrten ihn grenzenlos und beteten eifrig für seine unsterbliche Seele. Der Evangelist John Smith hatte nur einen großen Kummer in seinem gesegneten Leben: Alle seine Kinder waren Jungen. Kein süßes kleines Töchterchen kletterte je auf seinen Schoß und warf ihre zarten kleinen Arme um seinen Hals. Er sehnte sich nach Zärtlichkeit - seine Angehörigen empfanden mehr Ehrfurcht vor ihm, als dass sie ihn liebten, denn sie sahen ihn so oft beim Gottesdienst, wie er seinen Schäfchen ins Gewissen redete, ihnen zornig Bibelzitate an den Kopf warf und mit Fegefeuer und ewiger Verdammnis drohte, sollten sie es wagen, sich nicht an die Heilige Schrift zu halten. So viele Anhänger John Smith auch um sich scharte, er war ein einsamer Mann, der niemanden hatte, dem er sein Herz ausschütten konnte. Irgendwann wurde Clara immer rastloser und nervöser. John kam es jedoch nicht in den Sinn, dass seine Abkehr von jeglichen sexuellen Aktivitäten mit Clara der Auslöser für ihre Gereiztheit sein könnte. Sie war zwar lange in den Genuss ehelicher Wonnen gekommen, aber seit sie das letzte Mal schwanger geworden war, was immerhin schon zwei Jahre zurücklag, hatte John ihr immer wieder so freundlich er nur konnte erklärt, dass er keine weiteren Kinder in diese leidvolle Welt zu setzen gedachte, und dass es unter diesen Umständen sündig sei, ihre sexuelle Beziehung fortzuführen. Erstmals in all den Jahren ihrer Ehe war Clara tief enttäuscht. Sie beharrte darauf, es sei ihr Recht, mit ihrem gesetzlich angetrauten Gatten zu schlafen, aber er blieb unnachgiebig. Clara hatte daher in letzter Zeit erregende Träume. Nach solchen Nächten erwachte sie matt und müde. Die Versuchung, sich einen Liebhaber zuzulegen, war groß, doch sie wagte es nicht. Die kleine Harmony-Olivia wurde als Haushaltshilfe immer unentbehrlicher. Sie arbeitete oft bis spät abends, so dass es zu gefährlich war, sie noch allein nach Hause zu dem alten Mietshaus, in dem sie wohnte, gehen zu lassen. Also zog sie kurzerhand bei John ein und gehörte fortan zur Familie. Einschnitt: Wie weit bin ich mit meiner Geschichte gekommen? Ein Mann muss nicht unbedingt das ganze Gesicht voller Pockennarben haben, um sich minderwertig zu
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fühlen. Jeder Mensch hat - und sei es unbewusst - das Gefühl, er sei in körperlicher Hinsicht auf die eine oder andere Weise zu kurz gekommen. Ein Minderwertigkeitsgefühl kann durch die unterschiedlichsten Dinge entstehen. In John Smiths Fall waren es die Pockennarben, seine geistige Beschränkung war ihm nicht bewusst. John Smith hatte sich der Religion nicht wegen seiner intellektuellen Beschränkungen zugewandt, sondern weil er in einer religiösen Umgebung aufgewachsen war und es für ihn naheliegend war, sich dies zunutze zu machen. Er war bärenstark, und was er sich in den Kopf gesetzt hatte, das setzte er auch durch. Er war unbeirrbar in seinem Glauben und davon überzeugt, dass alle seine Wünsche Gottes Wohlgefallen finden würden. Ein starker Mann, der über Jahre allein nach seinen eigenen Entscheidungen handelt ohne Rückschläge hinnehmen zu müssen, ist irgendwann davon überzeugt, dass seine Entscheidungen immer die richtigen sind. Ein solcher Mann muss sich von einem Pol, in diesem Fall der Achtbarkeit, wenn nicht moralische Unfehlbarkeit, zum Gegenpol, der öffentlichen Schande, entwickeln. Eine solche schrittweise Veränderung betrachten Berufsschriftsteller als schwierigen Teil ihrer schöpferischen Arbeit. Nachdem es mir gelungen ist, eine gute Kulisse für John Smith zu entwerfen, kann ich seine psychische Entwicklung nachzeichnen: Als Kind legte er sich mit seinen Lehrern und Mitschülern an, zog sich dann aber in seine eigene Gedankenwelt zurück. Worum seine Gedanken kreisten, als er in die Pubertät kam, ist nicht schwer zu erraten. Natürlich dachte er an Sex. Da er aber keine Freunde hatte, fehlte es ihm an Möglichkeiten sich bei den üblichen Jungmännergesprächen, der Aufschneiderei oder durch sportliche Aktivitäten abzulenken, wie es die Jungen taten, die in ihrer Clique akzeptiert waren. Er war bereits ein junger Mann und besuchte immer noch die Schule und sein sexuelles Verlangen belastete ihn sehr. Er kaufte Pornohefte und masturbierte und hatte anschließend Schuldgefühle, auch weil er seine eigenen wilden Phantasien nicht kontrollieren konnte. Als er dann erstmals mit einem jungen Mädchen allein war, verlor er die Beherrschung. Zum Glück kam es nicht zu einer Vergewaltigung. Die Überraschung über sein eigenes Verhalten, das offensichtliche Entsetzen des Mädchens, die Tatsache, dass das Ganze am helllichten Tag unter freiem Himmel stattfand, und der Nervenschock, in dem er die Stimme Gottes zu hören glaubte, all das sorgte dafür, dass er in das andere Extrem verfiel. In den Wochen seiner Erkrankung hatte er nicht nur viel Zeit darüber nachzudenken, wie aufregend Sex war, sondern auch darüber, in welche Schwierigkeiten man sich brachte, wenn man ihn erzwingen wollte. Bedenken Sie, er konnte sich nicht vorstellen, dass sich eine Frau freiwillig mit ihm einließ. Er glaubte, Sex zu genießen bedeutete gleichzeitig Gottes und der Menschen Missfallen zu erregen. Er dagegen sehnt sich nach Achtung, nicht Ablehnung. John Smiths ganzes Denken und Fühlen richtete sich nun auf die Religion, und wie zu erwarten, verschwanden seine Schuldgefühle und Ängste nach einiger Zeit. Das
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religiöse Fieber erlöste ihn von dem sexuellen. Außerdem war er inzwischen mit der Schule fertig und hatte auch diesen frustrierenden Lebensabschnitt endlich hinter sich gebracht. Für die Arbeit im Laden erntete er Anerkennung von seinem Vater, und für seine Arbeit in der Kirche wurde er von der Gemeinde geschätzt. So hatte es John zu einem gewissen Maß an Bedeutung gebracht, was ihm die Kraft gab, seine Triebe, die seinem neugewonnenen Status hätte schaden können, erfolgreich zu bekämpfen. Bis zu seinem neunundzwanzigsten Lebensjahr, lebte er in völliger Abstinenz. Dann kam Clara. Ihre augenscheinliche Sinnlichkeit erregte ihn. Aber hätte sie nicht auch ein paar ausgleichende Eigenschaften gehabt, hätte er sie wahrscheinlich abgewiesen. Sie war eine reuige Sünderin, die ihn verehrte - wie hätte ein Gottesmann sich von einer Maria Magdalena abwenden können? Außerdem machte sie kein Geheimnis aus ihrem Wunsch, ihn zu heiraten. Seine Pockennarben schienen sie überhaupt nicht zu stören. Mit dem Segen der Kirche genoss John die körperlichen Freuden der Ehe bis sie sieben Kinder hatten. Die wilde Begierde der ersten Monate hielt nicht lange an, nachdem Sex zur Selbstverständlichkeit geworden war, aber erst nach der Geburt des siebten Kindes wurde ihm klar, dass er für seine Frau nichts mehr empfand. Allein der Gedanke, das Bett wieder mit ihr zu teilen, widerte ihn an, und als Clara das Thema schließlich ansprach, verkündete er das Ende ihrer sexuellen Beziehung, natürlich aus rein religiösen Gründen. Einschnitt: Soweit der Rückblick. Die folgende Entwicklung muss nicht die einzig mögliche sein. Wie ein Schriftsteller seine Figuren interpretiert, hängt von seiner Intelligenz, seiner Phantasie, seiner Weltsicht, ja selbst von seinem Blutdruck ab. Keine zwei Menschen werden je etwas genau gleich interpretieren. Clara erholte sich von der siebten Geburt, und John hatte schon wochenlang nicht mehr mit ihr geschlafen. Nach der Geburt seiner anderen Kinder, war John diese Zeit des Verzichts immer sehr schwer gefallen. Früher hatte er sich mit Gebeten von seinen Gelüsten abgelenkt, bis er die ehelichen Beziehungen wieder aufnehmen konnte. Diesmal jedoch fehlte ihm nichts. Er war voller Energie und fühlte sich geistig rein. Harmony-Olivia erschien ihm wie das heiligste und jungfräulichste Wesen der Welt. Er unterhielt sich mit ihr, und ihre schüchterne Bewunderung bewirkte, dass er sich Gott näher fühlte. Selbst die mit allen Wassern gewaschene Clara sah in Harmony keine Rivalin. Aber eines Nachts - es war Sommer und besonders schwül - wanderte John durchs Haus, weil er nicht schlafen konnte. Harmony lag auf der Wohnzimmercouch, die ihr als Bett diente. Sie schlief und war von der Taille aufwärts unbekleidet. Ihre jungfräulichen Brüste erinnerten John an weiße Blüten. Ihm kamen die Tränen, und er rannte aus dem Zimmer. An den folgenden Tagen erinnerte er sich immer wieder daran. Harmony war so verstörend anders als die reife Clara - sie war jung und rein und über jede Sünde erhaben.
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Eines Tages waren John und Harmony allein zu Hause. Überwältigt von ihrer Erscheinung und ihrer Anhänglichkeit, fragte er sie, ob sie gerne in seiner Nähe sei. Harmony brach in Tränen aus und antwortete stockend, er habe ihr den Himmel auf Erden gegeben. Von nun an und bis in alle Ewigkeit lege sie ihr Leben in seine Hände. Er zog das liebe kleine Mädchen ganz langsam und behutsam in seine Arme, und als er sie berührte, spürte er eine Ergriffenheit, von der er nie auch nur geträumt hatte. Als Harmony-Oli-via, die unverdorbene Jungfrau, seine starken Arme spürte, warf sie beide Arme um seinen Hals und klammerte sich an ihn. Ihr kleiner Körper verschmolz mit seinem, und so blieben die beiden reglos stehen. Da plötzlich kam Clara ins Zimmer. Einen Moment lang stand sie da wie angewurzelt, als hätte jemand sie hypnotisiert. Dann packte sie Harmonys blonden Schopf mit einem heiseren Schrei und riss sie so heftig aus Johns Umarmung, dass sie auf dem Boden aufschlug und dort wie leblos liegen blieb. John warf sich vor Harmony auf die Knie und nahm das halb ohnmächtige Mädchen in dem Arm. »Du Ungeheuer!« schrie er Clara ins Gesicht. Seine Augen blitzten hasserfüllt. Aber Clara ließ sich nicht von einem Schimpfwort abschrecken. Sie bückte sich und schlug mit den Fäusten auf Harmony ein. Einschnitt: Wo stehen wir jetzt in der Entwicklung der Geschichte und welche Möglichkeiten haben wir, sie an diesem Wendepunkt weiter zu führen? 1. John hält Clara fest, damit Harmony entwischen kann. 2. John schnappt sich in seiner Wut einen schweren Gegenstand und zertrümmert Claras Schädel. Ich entscheide mich für die erste Möglichkeit und lasse Harmony entwischen. Das ist einfach ergiebiger. Hätte John seine Frau in einem Wutanfall getötet, wäre die Geschichte zu Ende gewesen. Indem ich Harmony entkommen lasse und John befürchten muss, bloßgestellt zu werden, erzeuge ich Spannung: Was wird er als Nächstes tun? Harmony flüchtet also, und nach einem gewaltigen Ehekrach vertragen sich John und Clara fürs Erste. Aber Clara verdächtigt John, sie mit Harmony zu betrügen, und sie droht, ihn in der Öffentlichkeit bloßzustellen, sollte er die Finger nicht umgehend von diesem kleinen Flittchen lassen. Clara bewacht ihn mit Argusaugen, während er die Heilige Schrift leidenschaftlich verkündet und allen Sündern mit dem Fegefeuer und ewiger Verdammnis droht. Prediger wie John ha-ben immer einen zornigen, unbarmherzigen Gott im Rücken. Clara verfolgt auch Harmony und ihre armen Eltern wie ein Bluthund und droht, sie alle in der Öffentlichkeit bloßzustellen. Sie sind drauf und dran, in eine andere Stadt zu ziehen. Als John erfährt, was vorgeht, sieht er sich zu einer schnellen Entscheidung genötigt. Aus Angst, er könne Clara beim nächsten hitzigen Streit umbringen, brennt er mit Harmony durch.
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DIAKON VERLÄSST SEINE FAMILIE WEGEN 15-JÄHRIGER CHORSÄNGERIN! schreien die Schlagzeilen. John Smith ist schon immer ein gewaltsamer Mann gewesen und deshalb wird auch seine Geschichte gewaltsam enden. Er flieht also mit dem Mädchen. Sie geben sich als Vater und Tochter aus, leben aber in Wahrheit wie Mann und Frau zusammen. Er bewacht Harmony wie eine Gefangene, versteckt und tyrannisiert sie mit seiner furchtbaren Eifersucht, er hat schreckliche Angst, sie zu verlieren. Harmony erkennt schließlich, dass ihr Gott auch nur ein Mensch ist, und will wieder nach Hause zu ihren Eltern. Er fleht sie an, bei ihm zu bleiben, doch Harmony lässt sich nicht beirren und besteht darauf, nach Hause zurückzukehren. John weiß natürlich, dass sie jederzeit wieder zu Hause aufgenommen würde, er selbst aber kann sich dort nicht mehr blicken lassen, nicht einmal wenn Clara bereit wäre, ihm zu verzeihen. Viele seiner ehemaligen Anhänger würden die Geschichte nie vergessen. John und Harmony zanken sich tagelang. Am Ende bringt John das Mädchen während eines heftigen Streits um. Anschließend geht er zum Polizeirevier und stellt sich. Soweit eine Version von John Smith, aber natürlich sind andere Versionen durchaus denkbar. Vielleicht würden Sie ihn lieber als Heuchler darstellen, dessen heimliche Affäre mit Harmony nicht nur das Mädchen, sondern auch dessen Eltern ins Verderben stürzt. Da sich eine solche Doppelmoral nicht lange verheimlichen lässt, würden immer mehr Bekannte erkennen, wie es um Johns Vollkommenheit wirklich bestellt ist. Eines Tages würde die Öffentlichkeit alles erfahren, und seine zu Recht entrüsteten Anhänger würden ihn aus der Stadt jagen. Wieder eine andere Variante wäre, dass Harmony nicht unschuldig ist, sondern einer Affäre aus purem Eigennutz zustimmt. Sie will ihn heiraten, wird schwanger und verlangt von John, sich von Clara scheiden zu lassen. Auch diese Version eröffnet viele unheilige Wege, auf denen John seinem Untergang entgegengehen könnte. ► Dies zeigt skizzenhaft das unvermeidliche Ende eines Mannes, der mehr vom Sex als von seiner Liebe zu Gott besessen war. Der Protagonist John Smith war so unbeugsam, dass er den Konflikt bis zum bitteren Ende sich weiterentwickeln ließ. Mein John Smith war nicht besser oder schlechter als wir alle. Er interpretierte die Ereignisse in seinem Leben auf seine eigene Weise und versuchte, was er tat, in ein günstiges Licht zu rücken. Ich glaube nicht, dass er ein Heuchler war. Er war vielmehr ein Eiferer, der glaubte, alles was er tue, sei begründet. DER GROSSZÜGIGE Es ist ganz natürlich, wenn man sich fragt, warum ein eifersüchtiger Mann, der ohne Grund eifersüchtig ist, sich idiotisch verhält. Nur selten fragt man dagegen nach dem Grund warum ein großzügiger Mensch großzügig ist. Jeder denkt: »Dieser Mensch ist so großzügig, weil er verständnisvoll, warmherzig und liebevoll ist. Er ist einfach gut. Amen.«
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Ich spreche nicht von Menschen, die ab und zu einen Anfall von Großzügigkeit haben. Ein wirklich großzügiger Mensch ist anders als einer, der extravagante Trinkgelder gibt. Er ist nicht sporadisch großzügig. Seine Großzügigkeit ist stetig und gleichmäßig wie sein Atem. Sie ist sein Hauptmerkmal, sein Lebensmotto. Am besten erkläre ich Ihnen anhand eines Fallbeispiels, was ich meine. - Den Mann kenne ich wirklich, und ich wette, viele von Ihnen kennen jemanden, der genauso ist. Jeder nannte ihn den guten alten Charlie. Komisch, denn er war weder alt, noch hieß er Charlie. Er war gerade einmal vierzig und hieß in Wirklichkeit Edward. Aber so nannte ihn nur seine Familie. Er war über 1,80 m groß, ging immer ein wenig gebeugt, hatte einen leicht gräulichen Hautton und lächelte fast immer. Er war der gutherzigste Mann, den man sich vorstellen kann. Für jeden hatte er stets ein aufmunterndes Wort übrig, und keiner seiner Freunde konnte sich erinnern, dass der gute alte Charlie sich auch nur einmal über irgendwas beschwert hätte. Sein Lebensweg schien mit Zufriedenheit und Glück gepflastert zu sein. Die Wahrheit sah anders aus. Seine Frau Maria war ein guter und warmherziger Mensch, aber etwas kränklich. Sie verlor schnell die Geduld, obwohl sie nie die Stimme gegen ihren Mann erhob oder an ihm herumnörgelte. Sie sah ihn nur entsetzt an. Das Geld, das Charlie verdiente, reichte gerade aus, um die Miete für die bescheidene Vierzimmerwohnung in der West Bronx zu bezahlen und die beiden Söhne Eddie und Paul, zehn und acht Jahre alt, zu ernähren. Eines Freitagabends - Freitag war Zahltag - saß Maria im Wohnzimmer, ihre blaugeäderten Hände ruhten in ihrem Schoß. Sie sah alt aus und sehr, sehr müde. Charlie (kommt mit einem fröhlichen Hallo herein, doch Maria starrt ihn nur erschöpft an): Stimmt was nicht, Liebes? Maria: Hast du deine Lohntüte dabei? Charlie (in gewohnt überschwänglichem Tonfall): Mir ist heute vielleicht was Verrücktes passiert, als ich aus der U-Bahn kam und nach oben wollte... Maria (ungeduldig): Ich weiß schon. Irgendwer mit einem Riesenproblem hat dich mal wieder abgepasst. Richtig? Charlie: Nun warte doch erst mal ab! Diesmal ging es wirklich um was Tragisches. Ich habe Dave zufällig getroffen... Maria: Sicher. Es geht immer um was Tragisches. Und alle brauchen sie Geld. Charlie: Bist du mal wieder sarkastisch, Maria?
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Maria: Ich bin krank und viel zu erschöpft, um sarkastisch zu sein. Wie viel hast du ihm gegeben? Charlie: Nun hör doch erst mal zu, was dem armen Teufel passiert ist. Maria: Mich interessiert nur, was in diesem Haus passiert. Heute musste ich die Jungen rüber zu Tante Millie schicken, weil ich nichts mehr zu essen im Haus hatte. Charlie: Um Himmels Willen! Das hättest du nicht tun dürfen. Jetzt wird jeder davon erfahren! Maria: Was blieb mir denn anderes übrig? Wie viel Geld hast du noch? Charlie: David hat es diesmal wirklich ganz schwer getroffen. Maria (hört ihm nicht zu): Um sechs Uhr schließen die Geschäfte. Gib mir bitte das restliche Geld. Ich muss dringend noch was fürs Abendessen kaufen, Ed. Charlie: Du willst mir offenbar einfach nicht zuhören. Maria (schnappt erschrocken nach Luft): Du hast ihm doch nicht etwa ... alles gegeben? Charlie: Nun sei mir doch nicht böse. Daves Frau muss dringend operiert werden. Es ist was Ernstes - ein Tumor. Der Arzt meint, die Operation aufzuschieben, könnte sie das Leben kosten! Maria: Mit anderen Worten, du hast Dave deinen ganzen Wochenlohn gegeben? Charlie (betrübt): Du denkst wohl, ich hätte es nur getan, um dich zu ärgern. Maria: Nein, Ed. Bestimmt muss Davids Frau dringend operiert werden. Und es gibt noch unzählige andere Frauen und Kinder, die Operationen, Schuhe, Wintermäntel oder Geld für die Miete oder für Lebensmittel brauchen. Womit wir wieder beim Essen wären, Ed. Du hast zufällig eine Familie, eine tolle Familie sogar, wie ich finde. Aber du versorgst die halbe Welt, während deine eigene Familie Hunger leidet. Charlie: Jetzt bist du aber wirklich ungerecht, Maria. Wie kannst du nur so hart sein? Du hättest an meiner Stelle genau dasselbe getan. Maria: Nein, Ed. Ich hätte zuerst an meine eigene Familie gedacht. Immer wenn ich höre, was für einen tollen Mann ich doch habe, möchte ich am liebsten sagen: »Nein, einen erbärmlichen Schwächling habe ich.« Charlie: Was sagst du da, Maria? Maria: Die Wahrheit, Ed. Die bittere Wahrheit. Du bist nicht gut, ... du bist ein Schwächling. Du willst, dass jeder dich wundervoll findet, und dafür opferst du bereitwillig Frau und Kinder. Was ist nur in dich gefahren? Warum musst du immer so
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verflucht gut sein? Was hast du denn verbrochen, dass du meinst, du musst dich so anstrengen? Charlie: Ich habe noch nie in meinem Leben etwas Schlechtes getan. Maria (seufzt resigniert): Ich weiß. Deshalb habe ich mich ja in dich verliebt. In einen wunderbaren, guten Mann. In einen Beschützer - dachte ich. In einen Mann, der immer zu mir halten würde. Aber nun ... kann ich deinen Anblick kaum noch ertragen. (Sie steht auf, will aus dem Zimmer gehen.) Charlie (ängstlich): Maria, bitte! Die Nachbarn können dich hören! Maria: Ich verlasse dich jetzt, Ed. Bevor wir alle verhungern. Charlie: Maria, ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen, ich werde nie wieder jemandem auch nur einen Cent geben. Von nun an will ich nur noch für meine Familie da sein. Maria: Das hast du schon zu oft versprochen. Ich glaube dir kein Wort mehr. (Sie geht, bleibt jedoch an der Tür stehen.) Weißt du eigentlich, dass dich alle außer deiner Familie Charlie nennen? Deinen Namen haben sie dir genommen, dein Geld, und nun nehmen sie dir auch noch deine Frau und deine Söhne. Charlie (hält sie fest): Ich lasse dich nicht gehen, Maria. Dafür liebe dich zu sehr! Wenn du gehst, will ich nicht mehr leben ... Maria: Na gut. Dann erzähl mir doch bitte, was mit dir los ist, Charlie: Sag schon, was ist mit dir los? Ed.
Charlie: Ed! Nenn mich nicht Charlie! Bitte, Maria, demütige mich nicht. Ich heiße
Maria (betrachtet ihn mitleidig): Du kommst aus einer armen Familie - wie ich und Tausende anderer Menschen. Aber wir kriechen nicht auf dem Boden. Wir stehen aufrecht und kämpfen. Was stimmt nicht mit dir, Charlie? Was stimmt bloß nicht mit dir? Charlie: Nenn mich nicht Charlie. Ab sofort nennt mich niemand mehr Charlie. Ich warne dich, Maria! Maria: Na, gut. Du bist nicht Charlie. Aber wer bist du dann? Wie kommt es, dass du so schwach bist? Sag's mir. Charlie: Ich weiß es nicht. Ich habe es noch nie fertig gebracht, mich wie all die anderen zu benehmen. Ich liebe die Menschen einfach, das ist alles. Und es macht mich glücklich, wenn sie mich auch lieben. Maria: Jeder will geliebt werden, aber nicht so sehr wie du.
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Damit endet der Dialog natürlich nicht. Charlie müsste noch jahrelang weiter ausgenutzt und ausgelacht werden, bevor er sich anders als unbesonnen verhält. Mein Beispiel ist also nur eine Kurzfassung. Es ist sogar gut möglich, dass Ed nach jahrelanger Selbstanalyse stirbt, ohne je dahinter gekommen zu sein, was der Grund für seine übermäßige Großzügigkeit war, auch wenn die Antwort auf der Hand liegt - er wollte dazugehören. Vielleicht hatte Ed keine besonderen Talente, mit denen er sich sonst hätte hervortun können. Also tat er, was ihm am leichtesten fiel: sich bei anderen beliebt zu machen, indem er ihnen half, wenn sie Hilfe brauchten. Jeder sucht nach einer Schulter, an der er sich ausweinen kann, und Edward, der gute alte Charlie, hielt seine Schulter nur allzu gern hin. Er fühlte sich besser, nachdem er dem Wehklagen anderer Menschen gelauscht hatte. Er war ein Samariter, wie er im Buche steht. Er war stolz auf seine guten Taten, aber nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, dass er gut war, um anderen wichtig zu sein. Sein Stoffwechsel schien besser zu funktionieren, und sein Blutdruck war gerade richtig, wenn er jemandem mit Geld oder ein paar einfühlsamen Worten weiterhelfen konnte. Er lebte, um anderen zu helfen. Das Helfen war für ihn so lebenswichtig wie das Atmen. Wahrscheinlich war es für ihn sogar wichtiger, als mit seiner Frau zu schlafen. Ein Mann, der so hungrig nach Anerkennung ist, muss einsam sein. Selbst wenn er verheiratet ist, fühlt sich wahrscheinlich weder von seiner Frau noch von seinen Kindern genügend geschätzt. Ed war nicht im eigentlichen Sinne einsam, und er wurde auch geliebt, aber mit den Jahren wurde Maria immer missmutiger, weil Ed sie und die Kinder vernachlässigte, um anderen zu helfen. Vielleicht war sie eine sehr patente Frau, und Ed dachte, sie käme auch gut ohne ihn zurecht. Vielleicht gab sie ihm das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Was auch immer die genauen Ursachen waren, Ed fand keine andere Möglichkeit, sich und der Welt zu beweisen, dass er ein wertvoller Mensch war. Als Schriftsteller können Sie über jemanden wie Ed und die Widerstände, auf die er stößt, einen Roman oder ein Theaterstück schreiben, solange Ihre Figur wirklich dreidimensional ist. Zudem müssen Sie stets beachten, dass der Charakter einer Figur im Wesentlichen unveränderlich ist. Wäre Ed plötzlich nicht mehr großzügig, hätte er ja keine Daseinsberechtigung mehr. Niemand entscheidet sich in jungen Jahren, ob er das Leben eines scheinheiligen, eines nachtragenden oder eines übermäßig großzügigen Menschen leben will. Wir alle haben eine Reihe von angeborenen Anlagen, und unsere körperliche Beschaffenheit sowie die Umwelteinflüsse, die auf uns einwirken, entscheiden, in welche Richtung wir uns entwickeln. ► Das Motiv Ihrer Figur muss in dem, was Sie schreiben, so deutlich sichtbar sein, wie eine Nase in einem Gesicht. Alles was die Figur tut, dient dazu, sie zu einem wichtigen Menschen zu machen, der allerdings auch mit ständigen Attacken rechnen muss. Deshalb
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ist sie permanent damit beschäftigt, ihre schützende Fassade zu verstärken, zu reparieren und wenn es sein muss, neu zu errichten. DAS ERSTE MAL Junge Menschen gehen nicht mit Messgeräten an die Liebe her-an, um zu schauen, ob sie echt ist. Sie lieben, wie sie essen instinktiv. Sie brauchen mehr Sicherheit, viel mehr als Erwachsene. Sie sind wie unsere Vorfahren, die vor Tausenden von Jahren über den Erdball wanderten und dabei ein Muster aus sich kreuzenden Pfaden in der Landschaft hinterließen. Unsere Vorfahren kosteten von allen Früchten, und wenn sie giftig waren, starben sie. Überlebten sie, waren sie um eine Erfahrung reicher. Junge Menschen wissen nicht, dass die gegenseitige, magische Anziehung, die sie erleben, in Wirklichkeit eine Falle ist, die ihnen die Natur gestellt hat, um die Ahnungslosen zu fangen. Der Natur ist es egal, ob die Paarungswilligen dumm oder intelligent, hässlich oder schön sind. Hauptsache, sie erhalten die Art. Die folgende Szene beschreibt die erste Begegnung von zwei jungen Menschen mit der gnadenlosen Wirklichkeit. Oberflächlich gesehen erscheint sie wie eine alltägliche Affäre, aber das ist sie nicht. Sie wird im Gegenteil weitreichende Folgen haben. Ein Mädchen und ein junger Mann küssen sich im Wohnzimmer des Mädchens. Sie ist gerade sechzehn, er neunzehn Jahre alt. Die Eltern sind im Theater. Mädchen (richtet sich kurz auf, um Luft zu holen. Sie ist ganz außer Atem und kann kaum sprechen): John ... nicht so wild. Warte ... lass doch! Lass mich doch erst mal ausreden ... Liebst du mich wirklich? Mal ganz ehrlich. Junge (ist sehr erregt und betrachtet ihre Frage als unwesentlich; versucht, das unterbrochene Liebesspiel wieder aufzunehmen): Sprich jetzt nicht. Mädchen (findet, der Junge sollte sich zurückhalternder benehmen; diesmal nachdrücklicher): Du musst es mir sagen. Liebst du mich? Oh, John! Bitte, John! Nicht doch! Ich will erst wissen, ob du mich liebst. (Sie wehrt einen weiteren hartnäckigen Versuch des Jungen ab, sie an sich zu ziehen.) Nein. Vorher musst du's mir sagen. Tust du's? Ja? Junge (trotz seiner unerschrockenen Zielstrebigkeit scheitert er am eisernen Willen seiner Widersacherin): Ja, okay, ich liebe dich! Bist du jetzt zufrieden? Mädchen: Wie sehr? Junge: Ach, nein. Nicht schon wieder! Frag doch nicht so dummes Zeug. Mädchen: Das ist kein dummes Zeug. Sag schon. Wie sehr liebst du mich? Junge (will die Sache endlich hinter sich bringen): Mehr als ... egal, was. Reicht das? Mädchen: Was heißt egal was?
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Junge (betrachtet ihre Frage als pure Zickigkeit, versucht aber trotzdem, eine zufrieden stellende Antwort zu geben, auch wenn ihm nichts Gescheites dazu einfällt): Egal was heißt wohl alles. Oder? Mädchen: Das ist keine Antwort. Du willst es mir nur nicht sagen, weil du mich nicht richtig liebst. Junge: Deine Eltern kommen bald. Verschwende doch keine Zeit mit diesem Geplapper. Mädchen (weint): Ich will aber erst sicher sein. Ich will es hören. Wenn du's mir nicht sagst, darfst du mich nicht mehr küssen. Junge: Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich! Eine Million al liebe ich dich ... immer und ewig ... Das Mädchen ist nun endlich überzeugt, dass sie sich seiner Liebe sicher sein kann. Mit überschäumender Leidenschaft klammert sie sich an ihr Herzblatt Worum geht es in dieser Szene? - Um die nackte Angst. Wir alle haben Angst vor dem Ungewissen. Die erwachenden Triebe sind von widerstreitenden Gefühlen begleitet. Verlangen, gepaart mit Angst, stellt junge Frauen vor ein Dilemma. Was passiert, wenn ich es tue? Was verpasse ich, wenn ich damit noch warte? Bin ich nur feige? Was ist, wenn ich schwanger werde? Die Entscheidung fällt schwer, besonders einem Teenager, der schon viele Nächte wach gelegen und sich vorgestellt hat, was jede junge Frau irgendwann durchmachen muss, wenn ein starker, fordernder Jüngling des Weges kommt und dem Zaudern ein Ende setzt. Er verspricht ihr den Himmel, die Welt, das ganze Universum. Berührt er sie, gerät ihr Blut in Wallung. Sie will ihm glauben, will ihm gehören, aber was, wenn ... Es soll Männer geben, denen man nicht trauen kann, hat sie gehört. Könnte er sie nicht einfach gegen ihren Willen ... Oh Gott, das wäre schön! Dann wäre er für alles verantwortlich, und sie stünde im Ernstfall als armes Opfer da. Niemand könnte ihr vorwerfen, sie habe es ja nicht anders gewollt. Doch der junge Mann überzeugt sie lieber mit blumigen Worten. Ihr wehtun? Niemals! Aufhören, wenn sie stopp sagt? - Sofort! Aber ein kleines Küsschen kann doch nicht schaden, oder? Nein, das kann wirklich nicht schaden, sagt sie und öffnet ihm damit Tür und Tor. Denn nach dem kleinen Küsschen gedenkt er noch lange nicht aufzuhören und sie hofft darauf - insgeheim. Sie schwebt auf Wolken, während er ihre Leidenschaft erweckt. Gleichzeitig ergreift sie Panik - was wird sein, wenn es vorüber ist? Sie ist in Gefahr, das spürt sie. Sie stößt ihn von sich, obwohl sie wie gelähmt ist. Stark und beharrlich soll er sein, doch ist er es, so plagt sie ihr Gewissen.
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Kann sie ihm trauen? Auch seinen Worten? Und schon fürchtet sie sich wieder so sehr, dass ihr Verlangen, den Rausch der Sinne zu erfahren, den man nur beim Sex erlebt, schwindet »Sag mir, dass du mich liebst ... dass du mich liebst!« Sie giert danach, zu hören, dass er alles für sie tun würde, ja, sogar sterben, aber er ist viel zu erregt, um zu denken. Sie schlägt nach ihm, zerkratzt ihm das Gesicht, nur um ihm die drei Worte zu entlocken, die ihr Mut machen könnten. Vor ihren Augen tauchen Bilder auf - die Zukunft. Schmach. Scham. Schande. Dicker Bauch. Das verzerrte Gesicht ihrer Mutter. Der stille, anklagende Blick des Vaters. Und ihre Freunde, was werden die sagen? Solche und andere Schreckensbilder stürmen auf sie ein. Beruhigen soll er sie, ihr Liebster, und so ringt sie ihm die drei betörenden Worte ab. »Ich liebe dich« bedeutet gar nichts, das weiß sie, doch macht ihr dieser kleine Satz Mut, auch den letzten Schritt zu wagen. Sie vergisst, auf welch gefährliches Terrain sie sich begibt. Und erstmals erfasst sie nun die von Dichtern so oft besungene unbändige Leidenschaft. Kaum ist es vorüber, weiß sie genau, diesem jungen Mann gehört ihr Herz bis an ihr Lebensende. Nur ihm allein. Sie nimmt ihn fest in ihre Arme - ihn, der sie nun kennt wie kein anderer. Ach, sie ist der glücklichste Mensch auf Erden! Doch da kommt die Ernüchterung, kalt und unbarmherzig nie wird sie diesen demütigendsten aller Augenblicke vergessen. Mit ihr auf die Eltern warten soll ihr Liebster. Schließlich sind die Bande zu ihm stärker als zu ihrer Familie, nun, da sie sich ihm hingegeben hat. Aber was sagt er da? Er muss los, tut ihm leid und ja, jetzt gleich. Eine wichtige Sache. Verschieben? Nein, das geht nicht. Schade, ja, aber das muss sie einfach verstehen, sie ist doch kein Dummerchen. Sie weint. Sie bettelt. Doch nichts kann ihn erweichen. Er geht. Gehört hat sie es schon oft - die Männer sind grausam, auf sie ist kein Verlass. Doch nun erfährt sie es am eigenen Leib. Mal angenommen, er hat wirklich etwas Wichtiges vor. Das mildert ihren Schock kein bisschen - denn für sie ist im Moment alles andere unwichtig. Wie kann es ihm da anders gehen? -Irrtum, da kennt sie die Männer schlecht. Dem jungen Mann hat die Sache längst nicht so viel bedeutet. Dasselbe hat er schon viele Male zuvor erlebt. Zudem weiß er, man muss vorsichtig sein, bei diesen dummen Dingern. Glauben sie doch tatsächlich, man gehöre für immer ihnen, nur weil man mal kurz zusammen im Bett war. So ein Schwachsinn! Nichts wie weg! Ein Mädchen, das solch bittere Erfahrungen gemacht hat, rechnet beim nächsten Mal schon vorher mit der anschließenden Enttäuschung. Vielleicht glaubt sie sogar, sie müsse
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dem Mann mehr bieten als die Konkurrenz, damit er bei ihr bleibt. Womit die Demütigung anschließend nur umso größer ausfällt. Das Mädchen, das nach ihrem ersten sexuellen Erlebnis allein gelassen wird, fühlt sich betrogen. Sie wartet nicht darauf, dass ihre Eltern nach Hause kommen, sondern verkriecht sich in ihr Zimmer. Tolerant, wie nur Frauen es sein können, versucht sie zu verstehen, warum ihr Freund sie mit ein paar fadenscheinigen Ausreden abgespeist hat, nachdem er sie doch so unbedingt haben wollte. Der bekannte Psychiater Frank S. Caprio schreibt in seinem interessanten Artikel Über die Biologie der Liebe, Millionen Amerikanerinnen fänden Sex unbefriedigend oder gar abstoßend. Kein Wunder, wenn sie solche Erfahrungen damit machen! 0. Springer English, ebenfalls ein renommierter Psychiater, sagt, nur eins von zehn Ehepaaren sei mit seinem Liebesleben zufrieden. Ist das nicht furchtbar? Erlaubt ein Mädchen, das noch Jungfrau ist, einem Mann, in ihren unberührten Körper einzudringen, geht sie arglos davon aus, dass sie ihm absolut vertrauen kann. Eine Enttäuschung wird sie kaum vergessen. Kein Wunder also, wenn ein Mädchen nach einem enttäuschenden ersten Mal ein gesundes Misstrauen entwickelt. Wird ihr dieses Misstrauen schaden? - Nein, im Gegenteil, es ist eher ein erster Schritt zu Reife und Erwachsensein. Können solche Erinnerungen eine viele Jahre später geschlossene Ehe zerstören? Natürlich nicht. Das allein würde nicht reichen. Keine Ehe zerbricht oder hält nur aus einem Grund. Was vorrangig zählt, sind die frühen Kindheitserlebnisse der beiden Partner und ihre angeborenen Charaktereigenschaften. Auch erblich bedingte geistige oder körperliche Störungen, zerrüttete Familienverhältnisse, Promiskuität der Eltern, Vernachlässigung, Ar-mut und persönliche Ängste spielen eine entscheidende Rolle. Ohne schmerzliche Erfahrungen wäre ein Mensch nicht unbedingt glücklicher. Wie soll jemand, der weder Kopfschmerzen noch Bauchweh noch seelisches Leid kennt, Mitgefühl mit anderen haben? ► Dreidimensionale Figuren haben auch Enttäuschungen erlebt. Manche Menschen macht Erfahrung klug, andere können daran zerbrechen. Ob und wie jemand danach weiterlebt, hängt von seiner Intelligenz ab, von seiner Widerstandskraft, seiner Gesundheit, seinen angeborenen Charaktereigenschaften und dem familiären Umfeld, in dem er aufgewachsen ist. WAHRE LIEBE Die Liebe ist die Schwerkraft, die das Leben zusammenhält. Lie-be ist körperliche und geistige Anziehung plus emotionale Sicherheit. Zur Liebe gehört die Zeugung von Nachwuchs und der gemeinsame Kampf um seine Sicherheit. Sex ist ein Teil der Lie-be, und zwar ein sehr großer. Der Sexualtrieb sorgt für den Fortbestand des Lebens. Ist das sexuelle Verlangen eines Menschen erloschen, ist er so gut wie tot.
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Je nach unserer physischen und psychischen Verfassung pas-sen wir unsere Ideale an neue Reize an. So kann uns das Foto einer Schauspielerin so stark beeindrucken, dass sich unsere Faszination für eine Person, die wir bis dahin für unser Ideal gehalten haben, in Luft auflöst. In Romeo und Julia zeigt Shakespeare, wie schnell sich die Vorlieben bei einem jungen Menschen wandeln. Romeo vergöttert Rosalinda so sehr, dass er bereitwillig sein Leben aufs Spiel setzt, bloß um zu einem Fest zu gehen, zu dem auch sie geht. Dann sieht er Julia - und seine große Liebe zu Rosalinda verfliegt im Handumdrehen. Erwachsenen mag dieser Wandel, der sich da mit Überschallgeschwindigkeit vollzieht, lächerlich erscheinen, aber tatsächlich ist er eine ganz natürliche Sache. (Romeo war höchstens sechzehn.) Jugendliche richten ihre Antennen fast stündlich neu aus. Und jede kleine, scheinbar bedeutungslose Episode bereichert oder trübt eine kostbare Lebensvorstellung. Nicht umsonst gilt die Adoleszenz als Reifephase. Aber natürlich entwickeln wir uns fortwährend weiter, nur langsamer. Wenn wir dann das biblische Alter von zwanzig erreicht haben, sind unsere Vorlieben und Abneigungen mehr oder weniger ausgereift. Wir behaupten, wir fühlten uns ausschließlich zu einem bestimmten Typus Mann oder Frau hingezogen, aber je nachdem, wo und wie wir jemanden kennen lernen, ist dieser Typus so festgelegt auch wieder nicht. Eines Tages erscheint an unserem Horizont ein Mensch - und unser Suchen hat plötzlich ein Ende. Wir sind uns absolut sicher, endlich den Richtigen gefunden zu haben. Niemand könnte uns je glücklicher machen. Warum, das ist uns noch nicht ganz klar, aber noch nie zuvor haben wir die Nähe eines anderen Menschen so dringend gesucht. Und dabei entspricht dieser Mensch, der da plötzlich unser Herz gewonnen hat, vielleicht nicht einmal annähernd dem Typus, in den wir uns bislang vorzugsweise verliebt haben. Wie kann das sein? Welchen Zaubertrank hat uns dieser Fremde eingeflößt, dass wir ihm widerstandslos zu Füßen liegen? Wahre Liebe entsteht nicht nach einer gemeinsam verbrachten Nacht. Sie ist keine kurzlebige Affäre, bei der einen nach zwei oder drei Meinungsverschiedenheiten die große Ernüchterung packt, sie erträgt stärkere Belastungen. Hat man sie gefunden, spürt man, dass man endlich einen Zufluchtsort hat, an dem man sicher ist, selbst wenn man die ganze Welt gegen sich hat. Die Liebe ist das schönste und wertvollste Geschenk, das uns das Leben zu bieten hat. Woran erkennen wir, ob unsere Liebe echt ist und schwere Zeiten überdauern wird? - Wahre Liebe ist körperliche und geistige Anziehung plus emotionale Sicherheit. Viele Menschen lehnen die Behauptung ab, wahre Liebe basie-re auf Sicherheit. Fragen wir sie, was wahre Liebe ihrer Meinung nach ist, so antworten sie meist: »Geben, ohne Sicherheiten zu fordern.« Aber Sicherheit zu fordern ist nicht nötig, weil wir uns meist bereits unbewusst versichert haben, dass unsere Liebe erwidert wird.
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Liebe, zumindest wahre Liebe, ist ein sehr bewusstes Gefühl, nicht einfach blinde Hingabe. Wahre Liebe erleidet seltener Schiff-bruch, weil die Partner keine unrealistischen Forderungen aneinander stellen. Sie sind nicht blind, kennen die Fallstricke der Liebe und rechnen mit dem Besten als auch mit dem Schlimmsten. Liebe ist die feste Überzeugung, dass mir mein Liebster oder meine Liebste treu ergeben ist. Diese Ergebenheit gibt mir Selbstvertrauen und lässt mich zuversichtlich in die Zukunft blicken. Dies behaupte ich mit allergrößtem Nachdruck. Körperliche Anziehung plus geistige Übereinstimmung plus das Gefühl, wichtig zu sein, plus der Glaube an die absolute Loyalität des anderen summiert sich zu dem, was wir Liebe nennen. Kurz, Liebe ist Sicherheit. ► Schriftsteller wissen: Liebe hat die magische Kraft, aus einem unbedeutenden Menschen den wichtigsten Menschen der Welt zu machen. WARUM DIE LIEBE GEHT Warum geht die Liebe? - Dumme Frage, das weiß doch jeder! Erster Grund: zu viel nörgeln, kritisieren, meckern. Zweiter Grund: zu wenig Verständnis. Dritter Grund: mangelnde Wertschätzung. Vierter Grund: ... stopp, das reicht erst einmal. Mangelnde Wertschätzung scheint mir das Schlimmste zu sein. Erst kürzlich erzählte mir ein Freund, ein ausgesprochen netter Herr übrigens, er habe etwas geträumt. Einen grässlicheren Traum kann ein Ehemann und Vater kaum haben, besonders, wenn die Realität kaum anders aussieht. Hier also der Traum meines Freundes, wie er ihn mir erzählt hat (seltsam, dass Traumschilderungen immer so wirken, als habe man sie bei Beckett oder Ionesco abgeschrieben): In einem Zimmer toben viele Kinder wild herum. Mittendrin sitzt eine Frau und beschäftigt sich mit irgendwas. Ein Mann schleicht sich vorsichtig herein; er will niemanden stören. (Er ist der Vater und Ehemann.) Alle sind da, aber keiner scheint ihn zu sehen. Es ist, als sei er unsichtbar. Er geht auf Zehenspitzen durchs Zimmer, zieht sich verstohlen den Mantel aus, hockt sich in eine Ecke und beginnt zu - warten. Während er wartet, krabbeln die Kinder auf ihm herum und über ihn hinweg, als sei er ein Möbelstück. Er verhält sich auch wie ein Möbelstück, sagt kein Wort, sitzt völlig reglos in seiner Ecke. Die Mutter ruft die Kinder zum Abendessen. Sie essen, während er weiterwartet. Er ist der Ernährer dieser Familie, der Vater der Gören und der treue Ehemann dieser Frau. Offenbar betrachten ihn alle als selbstverständlich. Der Mann macht eine schüchterne Handbewegung, die andeuten soll, dass er Hunger hat. Niemand beachtet ihn. Die Frau lädt eine Portion nach der anderen auf die Teller der Kinder. Erst ganz am Schluss, als die Kinder keinen Bissen mehr essen können, kratzt sie die Reste von ihren Tellern, tut sie in einen Napf und stellt diesen verächtlich vor den Mann in der Ecke. Er isst - dankbar, hungrig und lautlos. Nach und nach verschwinden Frau und Kinder aus dem Zimmer. Das schmutzige Geschirr lassen sie auf dem Tisch stehen. Der von seiner Familie als selbstverständlich betrachtete Mann steht auf, trägt das
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schmutzige Geschirr in die Küche, spült es und räumt es weg. Dann macht er das Bett. Als er damit fertig ist, holt er ein altes, löchriges Laken, legt es unters Bett und kriecht hinterher. Die Frau kommt herein, zieht sich aus, legt sich ins Bett und löscht das Licht. Einen Moment lang ist es ganz still. Dann ertönt unter dem Bett die Stimme des Mannes. Mann: Gute Nacht, meine Liebe, (keine Antwort; mit monotoner Gebetsstimme) Der Herr ist mitfühlend und wohlwollend, kennt keinen Zorn und ist voll der Gnade. Frau: Wer ist da? Mann: Dein geliebter Mann. Mir ist kalt, Martha. (Er zittert so sehr, dass das Bett über ihm wackelt.) Frau (ärgerlich): Du mit deinem ewigen Gejammer! Grausam ist das! Mann: Früher hast du mir ab und zu erlaubt, mit im Bett zu schlafen. (Er zittert weiter.) Frau (ungehalten): Hör endlich auf zu zittern - du erbärmlicher Wurm! Mann: Tut mir Leid, meine Liebe. Darf ich dir was sagen? Frau: Nein! Mann: Ich fürchte fast, du betrachtest mich als selbstverständlich. Frau: Immer nur jammern kannst du, immer bedauerst du dich selbst. Mann: Es ist sehr kalt hier unten. Frau: Ach, sei ruhig! Mann: Ja, meine Liebe. Frau: Ich glaube, ich muss mich von dir scheiden lassen. Bevor ich ewig so weiterleide. (Stille) Warum antwortest du nicht? Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? (keine Antwort; sie wird wütend) Na los, antworte, wenn ich mit dir rede, du elender Jammerlappen. (Zornig springt sie aus dem Bett.) Hier endet der Traum. Aber die Geschichte lässt sich weiterspinnen. Und es gibt so viele mögliche Fortsetzungen wie Schriftsteller. Absolutes Vertrauen ist eine entscheidende Komponente der Liebe. Vertrauen ist die Sicherheit, dass die feindselige Welt um uns herum unserer Liebe nichts anhaben kann. Aber wie genau kommt es dazu, dass sich die Liebe manchmal in Luft auflöst? Hat eine große Enttäuschung die Kettenreaktion ausgelöst? - Möglich. Aber viel wahrscheinlicher hat eine kleine Sache den Prozess in Gang gesetzt. Enttäuschung oder der Verlust des Vertrauens in den Partner führt zu Misstrauen. Und Misstrauen ist ein deutliches Zeichen für den Verfall einer Liebe.
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Traurig, aber wahr: Viele Ehen sind schon zum Scheitern verurteilt, bevor die Partner sich zum ersten Mal sehen. Die meisten Menschen zeigen sich in der Zeit der Werbung anders, als sie wirklich sind. Sie geben sich großzügiger, offener, verständnisvoller und toleranter, aber nach einem halben oder ganzen Jahr hört sich ihr Minnegesang schon ganz anders an. Der Alltag ist eingekehrt und verlangt von beiden Partnern ganzen Einsatz. Die Fassade wird rissig, und was sich dahinter befindet, enttäuscht. Sicher haben Sie auch schon einmal gehört, jemand sei plötzlich und unerwartet gestorben. »Einfach tot umgefallen ist er, und dabei war er kerngesund!« Das ist natürlich Unsinn. Niemand stirbt plötzlich, es sei denn, durch ein Unglück. Manche Krankheiten tragen wir monate- oder jahrelang in uns, ohne den leisesten Verdacht, dass wir langsam daran sterben. Dasselbe gilt für die Liebe. Vielleicht wird Ihnen eines Tages plötzlich klar, dass Sie die ganze Zeit mit einem Menschen zusammenleben, der Sie eigentlich anwidert. »Wie um alles in der Welt konnte ich mich in so jemanden verlieben?« fragen Sie sich. In grauen Vorzeiten hatten Sie diese Person für den liebenswertesten Menschen gehalten, der je gelebt hat. Aber das können Sie kaum mehr nachvollziehen. Gibt es so etwas wie eine Regel, nach der sich erkennen lässt, ob die Liebe schon angefangen hat zu welken und ob sie bald ganz stirbt? - Es gibt keine Regel, aber es gibt deutlich erkennbare Symptome und kleinere Hinweise auf das, was geschehen wird. Hier nur einige: Mangelnde Wertschätzung Mangelnde Zärtlichkeit Verdruss Grobheit Nörgelei Herablassung Rechthaberei Demütigungen Sarkasmus Kleinlichkeit Bevormundung Sich als selbstverständlich betrachtet fühlen Ausbeutung Vorwürfe Nach Mängeln suchen Spät nach Hause kommen Gleichgültigkeit
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Es gibt noch viele weitere Anzeichen, aber diese hier sollen genügen. Wenn das Feuer der einst heißen Liebe erst einmal aus ist, wird es bald lauwarm und schließlich sehr kalt im Zimmer. Und es dauert nicht lange, da wird aus Gleichgültigkeit Hass. Diese kleinen und scheinbar belanglosen Symptome schleichen sich anfangs unbemerkt ein, getarnt als kurze Verstimmung. Wie kommt es, dass aus ihnen blitzschnell, fast über Nacht, zerfleischendes Genörgel und nicht nur nerviger, sondern beißender Sarkasmus werden kann? Können Sie sich denken, was als nächstes kommt? Nehmen wir ein junges Pärchen: Die beiden waren anfangs sehr verliebt. Die junge Frau war damals zweiundzwanzig und der junge Mann fünfundzwanzig Jahre alt. Sie dachten, eine Liebe wie ihre gäbe es nur im Märchen. Es war der Himmel auf Erden. Sie heirateten gegen den Willen ihrer Eltern und zogen zusammen. Um den gemeinsamen Lebensunterhalt zu bestreiten, mussten sie beide arbeiten, obwohl die junge Frau vor der Ehe nur ein paar Semester studiert hatte. Der junge Mann fand einen Job in einer Werbeagentur. Abends waren sie erschöpft, aber glücklich. Sie genossen jede Minute, die sie miteinander verbringen konnten zumindest anfangs. Kaum kam er abends nach Hause, verstreute der junge Mann seine Kleidung überall in der Wohnung. Das bereitete ihm großes Vergnügen, denn zu Hause bei seinen Eltern hatte er immerzu aufräumen müssen. Seine Mutter hatte einen regelrechten Putzfimmel. Es gibt einen bösen, aber weisen Spruch: Sie waren so verliebt, dass sie heiraten mussten, um sich wieder abzukühlen. Und tatsächlich kühlten sich unsere beiden Verliebten nach der Hochzeit ganz schnell wieder ab. Es dauerte nämlich nicht lange, da hatte die junge Frau genug davon, jeden Morgen eine Stunde früher aufzustehen, um die verstreuten Sachen ihres lieben Mannes wieder aufzusammeln. Anfangs sagte sie nichts, weil sie keinen Streit wollte. Er hingegen fand ihre morgendlichen Aufräumaktionen sehr lustig. »Das macht richtig Spaß, was, Schätzchen?« kicherte er eines Morgens, als sie unter dem Bett herumkroch, um einen seiner Manschettenknöpfe zu suchen. »Mir macht's keinen Spaß!« schnaubte sie. Ihr bissiger Unterton traf den jungen Mann schwer, so schwer, dass er beinahe vergaß, weiterzuatmen. Er setzte sich und klagte: »Gib mir bloß nicht so schnell das Gefühl, verheiratet zu sein. Sprich nie wieder in diesem Ton mit mir!« »Wie Sie wünschen« antwortete sie gereizt und krabbelte zurück ins Bett, um noch ein paar kostbare Minuten zu dösen, bevor sie endgültig aufstehen musste. Als unerfahrener Ehemann glaubte er seiner Frau das Versprechen und dachte tatsächlich, sie würde nie wieder in diesem vorwurfsvollen und ärgerlichen Ton mit ihm sprechen.
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Sie blieb so süß und nett wie am Anfang, forderte jedoch beharrlich, er möge doch ein wenig Rücksicht auf sie nehmen und sie morgens ausschlafen lassen, statt sie zu bitten, seine Uhr, seinen Kamm oder seine Schlüssel zu suchen. Er hatte aber eher den Eindruck, etwas ganz anderes sei verloren gegangen. Er fragte sie leicht verbittert, ob die Flitterwochen nun vorbei seien. »Ich möchte morgens einfach ein bisschen länger schlafen was hat das denn mit unseren Flitterwochen zu tun?« fragte sie. »Verdammt viel«, fuhr er sie an. »Wenn meine Frau keine Lust mehr hat, die Wohnung sauber zu halten, können wir die Sache ebenso gut als beendet betrachten«. »Du meinst, wir sollten uns scheiden lassen?« fragte sie atemlos. »Das hab ich nicht gesagt.« »Meine Ohren sind aber noch ganz in Ordnung. Du sagtest, wir könnten die Sache als beendet betrachten! Was soll das denn sonst heißen, wenn nicht Scheidung?« »Werd langsam mal erwachsen, Kindchen.« »Ich bin kein Kindchen«, rief sie, »ich bin eine verheiratete Frau!« »Ja, körperlich, aber ...« »Na los, sag's doch! Nur zu!« »Eben naiv.« »Ich weiß genau, dass dir was ganz anderes vorschwebt. Du willst die Scheidung, stimmt's?« »Nein, will ich nicht!« brüllte er wütend. »Ich meinte, und das hab ich auch sehr deutlich gesagt, dass wir einen Schlussstrich unter diese dämlichen Diskussionen ziehen sollten.« »Die sind aber nicht dämlich!« schrie die Frau. »Ich will morgens ausschlafen, und wag es nicht noch einmal, mich zu wecken, bloß damit ich deine blöden Socken für dich suche.« »Wer ist hier blöd?« »Deine blöden Socken hab ich gesagt!« »Na los, nicht so feige. Sag ruhig, dass du mich blöd findest.« »Na gut, dann bist du eben blöd, wenn's dich glücklich macht.« Noch am selben Abend folgte jedoch die leidenschaftliche Versöhnung. Wenige Monate darauf waren die beiden zu einer Party eingeladen. Wie üblich, war der junge Mann bereit zu gehen und wartete nur darauf, dass seine Frau fertig würde.
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»Sei ein Schatz, und schau, ob du meinen weißen Chiffonschal irgendwo siehst«, bat sie ihn. Immer noch nicht ganz über den zurückliegenden Streit hinweg, blieb er ungerührt sitzen. »Hast du den Schal gefunden?« fragte sie nach einer Weile. »Nein, Liebling«, antwortete er seelenruhig, »hab ich nicht.« »Hast du ihn überhaupt gesucht?« »Nein, Liebling.« Seine Stimme klang bemüht gleichgültig. »Nicht?« Ihre Stimme war plötzlich drei Oktaven höher als sonst. »Nein, meine Liebe. Vor noch nicht allzu langer Zeit sagtest du, ich solle meine Sachen in Zukunft selbst suchen. Ich darf doch wohl annehmen, dass das auch für dich galt.« Sie warf ihm einen giftigen Blick zu und begann sich umzuziehen. »Geh doch allein auf die Party«, sagte sie. »Ich bleib hier.« »Bist du sicher, meine Liebe?« fragte er sanft. »Hundertprozentig.« »Na gut, dann geh ich mal. Gute Nacht, mein Liebling. Träume süß ...« Und er ging tatsächlich. Als er wieder zurückkam, war sein Vögelchen ausgeflogen. Einfach weg. Keine Frau, kein Zettel. Zuerst wollte er weinen, weil er sie ja wirklich liebte, aber dann fiel ihm ein, dass er nun ein Mann war, so wie sein Vater. Er musste entschlossen und stark sein. Er wusste genau, wo sie war - bei ihrer Mutter natürlich. Und er wusste auch genau, dass sie auf seinen Anruf wartete, oder darauf, dass er sie abholen und um Verzeihung bitten würde. Sollte sie doch warten, entschied er entschlossen und stark, wenn auch schweren Herzens, und ging schlafen. Er hatte Albträume, und er hatte eine Heidenangst. Aber als er morgens aufwachte, war er entschlossener und stärker denn je und widerstand der Versuchung, sie anzurufen oder ihr nachzulaufen. Je mehr Stunden vergingen, desto heldenhafter wurde sein Herz. Die erste Nacht hatte er überlebt, also würde er auch die zweite unbeschadet überstehen. Das sollte seine Frau lehren, wer der Herr im Haus war. Am vierten Tag fühlte er sich gleichzeitig elend, zerknirscht und siegreich. Er war kurz davor, zu sagen: »Ach was soll's, Schwamm drüber«, als seine Schwiegermutter überraschend vorbeikam.
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»Wo ist Annabelle?« fragte sie unschuldig. »Bei dir natürlich«, antwortete er gelassen. Jetzt war die Stunde des Sieges für ihn gekommen, das wusste er. Er berauschte sich an der Macht, die er plötzlich hatte. Die Schwiegermutter bestätigte seine Vermutung: »Schäm dich, das arme Mädchen so leiden zu lassen. Hast du denn kein Mitgefühl? Geh sofort zum Telefon und ruf sie an!« »Sie kann doch ebenso gut mich anrufen, oder?« »Du solltest dich wie ein Gentleman benehmen«, sagte die Schwiegermutter streng. »Und sie wie eine Lady.« »Du willst doch, dass sie wieder heimkommt, oder?« bohrte die Schwiegermutter weiter. »Ich habe sie nicht gebeten zu gehen«, sagte er trotzig. Eine dunkle Röte stieg ihr ins Gesicht, und sie fragte spitz: »Möchtest du die Ehe beenden?« »Das muss Annabelle entscheiden. Ich werde mich da ganz nach ihren Wünschen richten.« »Selbst, wenn sie eine Scheidung will?« fragte sie ungläubig. »Wenn das ihr Wunsch ist, werde ich ihr keine Steine in den Weg legen.« »Na gut. Aber zuerst solltest du sie abholen und wieder mit nach Hause nehmen.« »Nein. Ich habe sie nicht rausgeworfen, also werde ich sie auch nicht holen kommen.« »Du sturer Kerl!« schimpfte die Schwiegermutter und stürmte aus dem Haus. Zwei Stunden später ging die Tür leise auf, und Annabelle kam herein. Er tat, als lese er. Sie ging ins Schlafzimmer, ganz lang-sam, und hängte ihren Mantel auf. Dann kam sie zurück und schaute ihn an. Sie wartete darauf, dass er etwas sagte. Als er nach einer Weile immer noch in seine Lektüre vertieft war, ergriff sie das Wort: »Ich bin wieder da, Liebling.« »Schön«, antwortete er höflich. Ihre Stimme bebte. »Darf ich mich setzen?« »Aber sicher.« Annabelle setzte sich auf seinen Schoß. »Macht dir das was aus?« »Natürlich nicht.« Da brach mit einem Mal die ganze Kraft, die er so heldenhaft in sich genährt hatte, aus ihm heraus, und er begann zu weinen. »Mein Gott, verlass mich bitte niemals!« flehte er. »Das werde ich nicht, Liebling.« Und dann fielen sie sich in die Arme. Und doch: Kurz vor ihrem zehnten Hochzeitstag ließen sie sich scheiden.
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Sie passten einfach nicht zueinander. Doch was genau bedeutet das? Können die Menschen ihre Probleme nicht lösen, indem sie miteinander reden? - Ich glaube nicht. Oft ist es keine Frage von Verständnis oder Vernunft. Heiraten beispielsweise ein Nachtmensch und ein Frühaufsteher, sind die Unterschiede zwischen ihnen kaum überbrückbar, ohne dass böser Wille im Spiel ist. Problematischer ist die Unfähigkeit mancher Menschen, sich unterzuordnen. Gleichberechtigung ist eine große gesellschaftliche Errungenschaft, aber in einer Ehe geht dieses Konzept niemals auf. Sie dürfen mir jetzt lauthals widersprechen, aber schauen Sie sich in Ihrer Umgebung um, und Sie werden sehen, dass in glücklichen Partnerschaften, Ehen und Freundschaften meist einer die Führungsrolle innehat. Das können Sie so undemokratisch und erniedrigend finden, wie Sie wollen, es bleibt dennoch unerlässlich für ein harmonisches Miteinander. Es ist durchaus möglich, die Führungsrolle ohne Tyrannei auszuüben. Sind zwei Menschen voneinander abhängig und verfolgen dieselben Ziele, bedeutet eine hierarchische Rollenverteilung nicht unbedingt, dass einer des anderen Sklave ist. Liebe ist Vertrauen. Vertrauen lässt sich nicht erzwingen, sondern nur verdienen. Das Vertrauen bewirkt automatisch, dass einer der Partner zum Nutzen beider die Führungsrolle übernimmt und der andere sich von ihm führen lässt. Diese unbewusste oder bewusste Selektion, die den dafür besser geeigneten Partner in die Führungsposition erhebt, würdigt den anderen nicht herab. Sind die Rollen klar verteilt, kann jeder zum Wohle beider beitragen. Schwierig wird es hingegen, wenn sich zwei extrem geltungshungrige Menschen körperlich zueinander hingezogen fühlen und sich für unsterblich verliebt halten. Leiden beide Ehepartner unter einem solchen Machtkomplex, verteidigt jeder ihn bis aufs Blut. Solchen Menschen ist es unmöglich, Kompromisse zu schließen. Beide konkurrieren unentwegt um die Vorherrschaft, bis auch sie sich am Ende eingestehen müssen, dass sie einfach nicht zueinander passen. Verlieben sich ein ängstlicher Mensch und ein ähnlich veranlagter ineinander, sind sie ein Herz und eine Seele. Verlieben sich hingegen ein verschwenderischer Mensch und ein sparsamer, gibt es ein böses Erwachen. Es gibt Charaktere, die können einfach auf Dauer nicht glücklich miteinander sein. Und was am Anfang vielleicht nur schwach erkennbar ist, verstärkt sich mit der Zeit immer mehr. Wenn jemand schon als Verliebter Zeichen von Geiz verrät, kann man sicher sein, dass später der blanke Horror auf den Partner wartet, was seinen Umgang mit Geld angeht. Geiz ist ein Zeichen von Zukunftsangst. Etwas Weitsicht zu haben und vorzusorgen, empfiehlt sich für jeden, aber wer will schon mit jemandem leben, der rund um die Uhr Angst hat? Er erstickt damit jegliches Leben in der Gegenwart. So ein Mensch kennt nur eine Tugend -Absicherung. Und nur ein ähnlich veranlagter Partner hält das aus. ► Weitere konfliktreiche und damit für den Schriftsteller ergiebige Kombinationen wären:
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sparsam - großzügig gesund - hypochondrisch vertrauenswürdig - verlogen ehrlich - unehrlich vulgär – kultiviert konventionell - unkonventionell ungläubig - gläubig extrovertiert - introvertiert chaotisch - systematisch starke Libido - schwache Libido materialistisch - vergeistigt schlampig - penibel moralisch - unmoralisch Viele Charakterunterschiede und Variationen können zu Schwierigkeiten führen, wie beispielsweise die Leidenschaft für eine bestimmte Musik, eine besondere Sportart oder für das Theater. Der Partner mag diese Dinge vielleicht auch gerne, kann aber nicht verstehen, wie die Geliebte sie zum Mittelpunkt ihres Lebens machen kann. Wer dann versucht, seinem Partner diese Leidenschaft auszutreiben, wird mit großem Widerstand rechnen müssen. Millionen von Paaren bleiben trotzdem zusammen, sei es aus sentimentalen oder wirtschaftlichen Überlegungen. Aber zusammenzubleiben, weil man sich aneinander gewöhnt und miteinander abgefunden hat, hat mit Liebe nichts zu tun. Denn: Liebe ist körperliche und geistige Anziehung plus emotionale Sicherheit. Eine Beziehung weiterzuführen, wenn die Liebe nur noch eine Erinnerung ist, mag bequem sein oder einfach weniger bedrohlich erscheinen, als allein zu leben. Aber manche Menschen werden aus enttäuschter Liebe körperlich krank. Wie kann jemand krank werden, nur weil er enttäuscht worden ist? Erstens ist Enttäuschung keine kleine Sache. Enttäuscht sein bedeutet, dass wir uns in einem Menschen geirrt haben. Wir haben jemandem geglaubt, vertraut und ihn geliebt, der ein anderer war als der, den wir in ihm gesehen, auf den wir unsere Hoffnungen gesetzt hatten. Jemandem sein Herz, mehr noch, sein Leben, in die Hände zu legen und dann festzustellen, dass diese Entscheidung falsch war, verunsichert und macht Angst. Wenn die Liebe verloren geht, ist das zwar eine Katastrophe, aber zum Glück nur selten tödlich. Die Liebe wird sich irgendwann wie der berühmte Phoenix wieder aus der Asche erheben. Vorsichtig schauen wir uns erneut nach jemandem um, für den wir dieses
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schönste und erfüllendste aller Gefühle empfinden können. Die Liebe entschädigt uns für alle Lasten, die wir auf dieser Welt zu tragen haben. Sie macht das Leben nicht nur erträglich, sondern zu einem freudigen, hinreißend schönen Erlebnis. Zu lieben und geliebt zu werden ist das größte Glück, das wir in unserem Leben erreichen können. TREUE Zu diesem anspruchsvollen Begriff gibt es viele anregende Storys und Stücke. Hier nur einige Beispiele: Es war einmal vor langer, langer Zeit ein Soldat, der wurde gefangen genommen, weil er sich etwas hatte zuschulden kommen lassen. Der König war der Ansicht, der Soldat solle mit dem Tode bestraft werden. Der junge Soldat, der stets ein tapferer und treuer Untertan gewesen war, bat den König, er möge ihn vor der Hinrichtung noch einmal nach Hause gehen lassen, auf dass er sich von seinen alten Eltern verabschieden könne. Er beteuerte bei seiner Ehre, binnen sieben Tagen wieder zurück zu sein rechtzeitig zu seiner Hinrichtung. Der König lachte. »Glaubst du, ich bin so dumm, dich ziehen zu lassen, nur weil du versprichst, zurückzukommen? Nur ein Narr würde freiwillig zu seiner Hinrichtung erscheinen.« Doch ein Kamerad des verurteilten Soldaten trat vor und sagte: »Eure Majestät, ich vertraue ihm. Bricht er sein Wort, so will ich an seiner Stelle sterben.« Verwundert über des Kameraden blindes Vertrauen antwortete der König: »Nun gut, aber kommt er nicht zurück, so werde ich dich tatsächlich sterben lassen.« Der Kamerad sagte: »Das kann mich nicht schrecken, Eure Majestät, denn gewiss wird er zurückkommen.« Der verurteilte Soldat kehrte tatsächlich nach sieben Tagen zurück. Der König war so beeindruckt von dem grenzenlosen Vertrauen des Kameraden, dass er den Soldaten begnadigte. Diese Art der Treue ist Gegenstand vieler Märchen, Gedichte, und Balladen. Aber es gibt sie auch im wirklichen Leben, wenn die Bande zwischen zwei Menschen so stark sind, dass es ihnen unmöglich scheint, ohne den anderen weiterzuleben. Die folgende Geschichte handelt von einer Treue ganz merkwürdiger Art. Es war einmal ein Paar, das liebte sich so sehr, dass alle Freunde und selbst die Feinde schworen, eine größere Liebe habe es auf der ganzen Welt noch nie gegeben. Durch eine unglückliche Verwechslung wurde der junge Mann verhaftet, des Landesverrats für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Die Hinrichtung sollte so schnell wie möglich erfolgen. Seine schöne junge Frau war außer sich vor Trauer. Der
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Tag, an dem ihr Mann hingerichtet werden sollte, rückte immer näher. Sie schwor, wenn er sterben müsse, so wolle sie ihm noch am selben Tag in den Tod folgen. Ich habe schon oft von Menschen gehört, die eine besonders starke Liebe verband und die behaupteten, den Tod des anderen würden sie nicht überleben. Aber wenn es soweit war, schafften sie es doch. Sie fanden jemanden, der die Wunde heilte, und stellten fest, dass das Leben am Ende doch stärker war als der Tod. Aber es gibt immer Ausnahmen. Die Frau, deren Mann kurz vor der Hinrichtung stand, hatte fest vor, ihre Drohung wahr zu machen. Bis ins Grab wollte sie ihrem Mann treu bleiben. Am Tag vor der geplanten Hinrichtung geschah etwas Überraschendes: Ein hochrangiger Abgeordneter kam zu der untröstlichen jungen Frau und sagte, er habe Indizien, die zweifelsfrei belegten, dass ihr Mann unschuldig sei. Und er fragte sie ohne Umschweife, ob sie nicht eine einzige Nacht mit ihm verbringen würde, im Tausch gegen das Leben ihres Mannes. Feierlich gelobte er, ihr Mann wäre dann schon in wenigen Tagen frei. Sie aber blieb ihrem Mann treu bis in den Tod und lehnte das unmoralische Angebot ab. Sie war eher dazu bereit, ihren Mann sterben zu lassen, bevor sie ihr Treuegelübde brach. Am nächsten Tag geschah das Unerwartete: Ihr Mann wurde freigelassen. Die Freude war groß, der Mann wurde vollständig entlastet, und die beiden hätten bis an ihr Lebensende glücklich sein können, wenn ihm die dumme Frau nicht in ihrer Aufregung erzählt hätte, wie ihre Treue geprüft worden war und sie nichts auf der Welt hatte dazu bringen können, ihn zu betrügen. Seine starken Arme, die er um ihren Körper geschlungen hat-te, wurden steif. Er stieß seine Frau von sich und fragte ungläubig: »Du hast dich geweigert, mir das Leben zu retten?« »Ich war dir treu«, antwortete sie stockend. Die fremde Kälte in seiner Stimme machte ihr Angst. Der Mann war außer sich, und ohne große Worte zu machen ... Nein, auch diese Geschichte werde ich nicht zu Ende erzählen. Ich überlasse es Ihrer Phantasie, wie es danach weiterging. Was ist Treue wirklich? Ich meine nicht in großartigen Worten, sondern im richtigen Leben? Ist sie unveränderlich? Übersteht sie die Zeit? Nur auf den Wandel ist Verlass, sagt man. Vielleicht ist die Treue ja eine Ausnahme? Oder müssen wir einsehen - so bitter es sein mag -, dass auch die Treue sich wandelt? - Natürlich tut sie das! Soll das heißen, absolute Treue wird es nie geben? - Es wird sie geben, solange es Menschen gibt, denen man treu sein will. Treue überlebt nur, wenn sie auf Gegenseitigkeit beruht. Ist sie einseitig, fühlt sie sich einsam, welkt sie dahin und stirbt.
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Wer liebt uns mehr und ist uns treuer als unsere Eltern? Ihr Leben würden sie opfern, wenn sie unseres dadurch retten könnten. Ist das nicht auch Treue? - Ja, irgendwie schon. Mir scheint, wir haben den Begriff Treue nicht deutlich genug umrissen. Also noch einmal von vorn: Treue sollte weder eigennützig noch berechnend sein, sondern rein wie frisch gefallener Schnee. Aber sind wir ganz spitzfindig, müssen wir zugeben, dass selbst eine Schneeflocke nicht völlig rein sein kann, denn schließlich hat sie die Luft berührt, und die ist voller Miasma, Keime und Schmutz. Nein, die Natur kennt keine absolute Reinheit. Folglich muss auch die Mutterliebe mehr oder weniger vom Eigennutz befleckt sein. Dennoch ist die Liebe zu unseren Kindern ein erhebendes Gefühl. Wir wünschen uns, dass aus unserem Sohn etwas wird nicht nur zu seinem, sondern auch zu unserem Besten. Scheitert er, helfen wir ihm zwar trotzdem noch, aber tief in unserem Herzen sind wir enttäuscht und schämen uns, weil er nicht gehalten hat, was wir uns von ihm versprochen haben. Warum setzen Eltern Erwartungen in ihre Kinder? - Es wäre unnatürlich, wenn sie es nicht täten. »Mein Sohn, mein Sohn«, so träumen wir, »er wird sie alle um Längen schlagen - selbstverständlich!« Da sich jeder von uns für den Nabel der Welt hält, glauben wir natürlich, dass unser Nachwuchs etwas ganz Besonderes ist, oder zumindest sein sollte. Sicher, tief in unserem Herzen lauert der Zweifel, und wir beten: »Allmächtiger, wenn schon nicht außergewöhnlich, so doch wenigstens körperlich und geistig gesund. Mehr verlangen wir ja gar nicht.« Mein Kind - welch süßer Klang in diesen Worten steckt. Mit Ihrem Leben würden sie es beschützen. Warum auch nicht? Schließlich ist es Ihr Kind - die Fortführung Ihrer eigenen Lebenslinie, Ihre Vergangenheit, Ihre Gegenwart und Ihre Zukunft. Dass Sie durch künftige Generationen fortbestehen können, diese Erkenntnis allein ist überwältigend - ein Gefühl, das sogar die Liebe übertrifft. Beschützen Sie Ihr Kind, so beschützen Sie sich selbst. In Ihrem Kind steckt die Zusammenfassung Ihres eigenen Lebens. Das zu erhalten, ist das höchste aller Ziele. Aber das Leben spielt uns manchmal Streiche. Gemeine Streiche. Unser lieber Sohn wird plötzlich festgenommen wegen Vergewaltigung und Mord. Unvorstellbar! Nicht unser Sohn! Aber unser Sohn ist geständig. Kein Zweifel, er ist ein Mörder. Aber das kann nicht sein! Das Geständnis muss ihm abgenötigt worden sein! Nein, er hat freiwillig gestanden. Unser Sohn sagt, niemand habe ihn dazu genötigt. Dann deckt er jemanden. Ja, das muss es sein - er deckt den wahren Mörder! Er opfert sein Leben. Unser Sohn opfert sich für jemanden, den er liebt. Er ist ein Held! Unglaublich, wie selbstlos er ist! Aber er sagt, er decke niemanden. Und nun? Es ist zweifelsfrei erwiesen, dass er den Mord begangen hat. Den bestialischen Mord. Was jetzt? Er muss geisteskrank sein! Ja, sicher. Er ist geisteskrank. (Von unserer Seite der Familie kommt das natürlich nicht!)
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Lieber Gott! Hilf uns! Muss man zu seinem geisteskranken Sohn stehen? Was bleibt uns anderes übrig? Aber lieben wir diesen Verbrecher noch? Leider ist dieser Verbrecher zufällig wir selbst. Und so sehr wir auch möchten, wir können ihn nicht fallen lassen, er ist ein Teil von uns. Deshalb stehen wir weiter hinter ihm, um zu retten, was noch zu retten ist. Ich möchte nicht zynisch sein, aber wir alle beklagen unser Schicksal, wenn unsere Treue sich - aus welchem Grund auch immer nicht auszahlt. Treue wird aus der Zweckmäßigkeit geboren aber niemand kann lange der alleinige Nutznießer sein. Merkt der andere, dass seine Treue nicht auf Gegenseitigkeit beruht, schwindet auch seine eigene langsam dahin. Klingt das alles zu nüchtern und berechnend? - Ich sage nur, wie es ist. Es ist ein ganz natürlicher Vorgang, wie das Altern. Die Treue zur Religion ist wieder etwas anderes. Sie hilft dem Gläubigen und sogar dem, der jenseits ihrer Pfade wandelt und nur in der Not nach ihr ruft. Auch die Religion hat ihren Todfeind und kämpft verzweifelt ums Überleben. Die Kirche bietet ihren treuen Anhängern den Glauben an ein besseres Leben nach dem Tod. Allen anderen verspricht sie das ewige Feuer der Hölle. Egal, wo wir in unserer Gesellschaft auf Treue stoßen, sie dient immer der Selbsterhaltung. Bestimmt überrasche ich Sie nicht mit der Erkenntnis, Treue sei nichts weiter als eine Gegenleistung für in Anspruch genommene Dienste. Und wie sieht es mit der Vaterlandstreue aus? Das Land, in dem wir geboren sind, liegt uns normalerweise am meisten am Herzen. Wir haben vor, dort zu leben und auch zu sterben. Verdient dieses Land es nicht, dass wir sogar noch pfleglicher mit ihm umgehen als mit einzelnen Menschen, einer Organisation oder Kirche? Ein Land ist wie eine wunderbare Mutter von Millionen Kindern. Solange es jedoch einem Kind besser geht als dem anderen, kann niemand von allen Kindern dieselbe Ergebenheit verlangen. Wir (Privilegierten) können den Armen und Vernachlässigten erzählen, sie sollten doch dankbar sein, dass sie überhaupt am Leben sind. Es wird uns aber kaum gelingen, einen armen und vernachlässigten Menschen davon zu überzeugen. Einem hungernden Menschen können wir dreißig Mal am Tag sagen, sich gegen die eigene Mutter oder das eigene Land zu wenden, sei der Gipfel der Treulosigkeit. Hungrige Menschen verstehen nur ein Wort: Essen! Sie kehren ihrer Mutter oder ihrem Land ohne Zögern den Rücken, wenn ihnen ein anderer verspricht, ihre leeren Mägen zu füllen. Es ist geradezu wahnsinnig, anzunehmen, ein gequälter Mensch würde den Namen seiner Mutter oder seines Landes in Ehren halten, weil die eine ihm das Leben geschenkt hat und das andere ihm ein Leben in Hunger und Hoffnungslosigkeit ermöglicht. Wer hungert, fühlt sich niemandem zur Treue verpflichtet. ► Bedenken Sie bei der Figurenbildung: Ein Mensch, der des Privilegs beraubt ist, in seinen oder in den Augen der Gesellschaft, in der er lebt, zu Bedeutung zu gelangen,
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kann zu einem gefährlichen Menschen werden. Außer dem Selbsterhaltungstrieb gibt es nichts Wichtigeres als wichtig zu sein. HASS Figuren mit starken Emotionen treiben die Handlung voran. Lesen Sie diesen Dialog: Autor: Gestern überkam mich ein seltsames Gefühl. Dozent: Sag schon. Autor: Etwas war aus meinem Leben verschwunden, etwas sehr Wichtiges. Dozent: Was denn? Autor: Der Hass. Dozent: Willst du damit sagen, du kannst nicht mehr hassen? Autor: Einen früheren Freund von mir habe ich bis gestern Gott weiß wie gehasst! ... Also, ... vor langer Zeit waren wir sehr eng befreundet - wir kannten uns schon aus der Schule. Ich half ihm, wo ich nur konnte. Später habe ich ihm Geld gegeben, damit er sich selbständig machen konnte, und er wurde ein reicher Mann. Seine Ehefrau - ein wunderbarer Mensch und eine gute Mutter hat er bei mir zu Hause kennen gelernt. Mehr brauche ich nicht zu sagen, oder? Ich war nicht nur sein Freund, sondern ich habe ihn auch in finanziellen Dingen beraten. Ich war wie Vater und Mutter zu ihm. Dozent: Was hat diese tolle Freundschaft zerstört? Autor: Ein Gedicht. Dozent: Verstehe ich nicht. Autor: Er schrieb ein Gedicht. Dozent: Und? Autor: Er hatte noch nie vorher etwas geschrieben. Literatur interessierte ihn nicht, und Lyrik schon gar nicht. Mit Büchern oder Theaterstücken konnte man ihn jagen - für ihn gab es nur den Sport und sonst gar nichts. Dozent: Er schrieb also ein Gedicht. Und dieses eine Gedicht hat eure lebenslange Freundschaft zerstört? Autor: Ja, allerdings. Ich bin mir sogar sicher, dass das genau seine Absicht war. Ich war damals Chefredakteur einer wöchentlich erscheinenden Literaturzeitschrift. Er warf mir diese idiotische Totgeburt von einem Gedicht auf den Schreibtisch und forderte von mir, dieses so genannte Gedicht in der nächsten Ausgabe zu bringen. Keine Erklärung, keine Rechtfertigung. Er befahl mir einfach, den Unfug ungelesen zu veröffentlichen, und zwar an exponierter Stelle. Mit welcher Selbstverständlichkeit er sich erdreistete, mich einfach unvorbereitet zu überfallen, brachte mein Blut zum Kochen. »Was zum Teufel weißt du schon über Lyrik?« herrschte ich ihn an, nachdem ich seinen hirnlosen Mist kurz überflogen hatte. »So viel wie du weiß ich schon lange!« Sein Gedicht war nicht nur scheußlich, sondern auch völlig sinnlos.
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Dozent: Da bist du bestimmt laut geworden, oder? Autor: Ja, und wie. Dozent: Du hast dich ganz schön mit ihm gestritten, nehme ich an. Autor: Er hat's so gewollt, also hat er's bekommen. Dozent: Warst du beleidigt? Autor: Sicher war ich beleidigt. Dieser Analphabet hatte es gewagt von mir zu verlangen, seinen Schwachsinn in meiner Zeitschrift zu veröffentlichen. Dozent: Hast du je rausgefunden, warum er das getan hat? Es war ohne Frage eine Provokation, aber irgendetwas muss ihn dazu gebracht haben? Autor: Darüber habe ich sehr lange nachgedacht und ich habe ihn gehasst. Zumindest bis gestern. Dozent: Was war denn gestern? Autor: Plötzlich wurde mir alles klar. Ich, der wohltätige, weise und großzügige Mann, hatte mich in sein Leben eingemischt, als wäre ich ein unfehlbarer Halbgott. Ich war ihm ins Wort gefallen wie ein strenger Vater, der von seinem Sohn keine Widerworte duldet. Ich erinnerte mich, wie er manchmal rot angelaufen war, vor Ärger über etwas, das ich zu ihm gesagt hatte, und wie seine Frau ihn dann jedes Mal angestupst hatte, damit er sich nicht mit mir anlegte. Und dieser arme Kerl hatte mich in seinem Haus ertragen - zwölf oder dreizehn Jahre lang! Er wäre mit seiner Toleranz und Selbstbeherrschung ein leuchtendes Beispiel für Hiob gewesen. Dozent: Und jetzt hasst du ihn nicht mehr? Autor: Sagen wir's mal so: Du hast mir hier mit fanatischer Hartnäckigkeit immer wieder eingehämmert, dass wir alle aus reiner Notwendigkeit eine Fassade errichten. Ich habe mich lange selbstgerecht an meinem Hass ergötzt, bis es mir gestern wie Schuppen von den Augen fiel: Dieser arme Kerl hätte allen Grund gehabt, mich aus dem Haus zu werfen. Schließlich war es sein Haus! Ich habe beschlossen, ihn nicht mehr zu hassen, aber der Hass ist wie ein lieb gewonnenes Spielzeug, das man nicht gern wegwirft. Dozent: Aber wenn du doch weißt, dass es sein gutes Recht war, dich mal gehörig wachzurütteln ... Autor: Was meinst du? Dozent: Den Rest will ich von dir hören. Autor: Ich habe gemerkt, dass ich all die Jahre im Unrecht gewesen war. Und das gesteht sich niemand gern ein. Ja, ich hätte ihn nicht so bevormunden und angreifen
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dürfen. Aber bestimmt hatte ich jede Menge Anlass dazu. Er machte ziemlich viel falsch, und ich war eben immer zur Stelle, wie ein väterlicher Beschützer. Dozent: Jetzt rechtfertigst du dich wieder. Autor: Warum soll ich mir die alleinige Schuld geben? Hätte ich ihn von manchen seiner verrückten Investitionspläne nicht abgehalten, hätte er Haus und Hof verloren, da bin ich mir ganz sicher. Dozent: Glaubst du das allen Ernstes? Autor: Naja, so sicher bin ich mir nun auch wieder nicht. Ich tue nur, was jeder an meiner Stelle täte - die eigenen Fehler verharmlosen und Gründe suchen, warum der andere es nicht besser verdient hat. Ja, ich weiß schon ... die Fassade, die Fassade ... Ich versuche, mein Gesicht wenigstens mir selbst gegenüber zu wahren. Dozent: Die Frage war doch: Hasst du ihn immer noch? Autor: Ich verstehe ihn jetzt und frage mich, ob er mich auch verstehen kann. Dozent: Was soll er denn verstehen? Autor: Dass ich ihm bloß helfen wollte. Als er das Geld von mir annahm, hat er zugelassen, dass ich in die Rolle seines väterlichen Beschützers schlüpfe. Dozent: Das stimmt. Aber du hast ihn auch immer wieder daran erinnert, was er dir zu verdanken hat. Bis zu deinem Tod sollte er dafür vor dir auf die Knie gehen. Was für eine grässliche Aussicht für ihn! Du wolltest verhindern, dass er erwachsen wird und seine Entscheidungen selbst trifft. Du hast dich in seinem Leben ausgebreitet wie eine Krebsgeschwulst. Irgendwann hat er dich dafür so verflucht, dass er beschloss, dich operativ zu entfernen, egal, wie hoch die Rechnung dafür sein würde. Autor: Ja, so muss es gewesen sein. Dozent: Dass er dich so lange erduldet hat, zeigt, dass seine Zuneigung zu dir echt war. Ich glaube, er hatte dich wirklich gern und versuchte, es dir recht zu machen, aber du hast dich stur geweigert, ihn in Ruhe zu lassen. Jeden Funken Eigeninitiative wolltest du sofort ersticken. Stimmt's? Autor: Natürlich nicht. Können wir mit diesem Unsinn jetzt endlich aufhören? Ich sagte doch: Ich hasse ihn nicht mehr. Aber so ganz kann ich es nicht lassen, mich zu rechtfertigen und zu erklären. Dozent: Das merke ich. Ist auch verständlich. Was ist eigentlich mit deinen beiden Söhnen? Warum wollen die nichts mehr mit dir zu tun haben? Willst du's mir erzählen? Autor: Es ist schwer, seine Fehler zuzugeben, aber als ich mir die Sache zwischen meinem Freund und mir mal ganz sachlich angeschaut habe, ließen sich die Argumente,
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mit denen ich mich selbst getäuscht hatte, nicht länger aufrechterhalten. Ich kann ihm nicht mehr die Schuld an allem geben. Dozent: Worauf willst du hinaus? Autor: Dass ich auch meine Söhne unterdrückt und bevormundet habe. Jetzt hassen sie mich. Ich wollte, dass sie in den Familienbetrieb einsteigen, aber sie hatten ihre eigenen Vorstellungen. Heute denke ich sogar, dass sie diese hauptsächlich deshalb hatten, weil sie sich möglichst weit aus meiner Umgebung entfernen wollten. Dozent: Du bist doch ein aufgeklärter Mann. Das hättest du dir eigentlich vorher denken können. Autor: Ja, hätte, hätte ... hab ich aber nicht. Mir ist jetzt klar, dass sich jeder Mensch ziemlich früh seine eigene Welt zurechtzimmert. In dieser Welt will er allein regieren und wehe dem, der sein Reich betritt! Dozent: Ja, das stimmt. Autor: Man kann so viel Bildung besitzen wie möglich, aber man vergisst doch schnell, dass alle anderen Menschen ebenfalls König in ihrem eigenen Reich sind. Niemand lässt sich ungestraft herablassend wohltätig behandeln. Wir sollten uns wirklich angewöhnen, jeden Menschen als gleichgestellt zu betrachten. Nun ist mir endlich klar, dass meine Söhne vor mir geflohen sind, weil ich sie als mein Privateigentum statt als eigenständige Individuen betrachtet habe. ► Nur ein unkontrollierbarer Trieb, eine Besessenheit trägt einen Protagonisten bis zum Ende des Stückes oder der Erzählung hindurch. Dabei muss es um starke Emotionen gehen - um Liebe, Hass, Gier, Misstrauen, Eifersucht oder andere große Gefühle, von der alle Sterblichen gelegentlich besessen sind.
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11 PRINZIPIEN DES SCHREIBENS Wenn Sie ein Theaterstück, eine Kurzgeschichte oder einen Roman schreiben, darf keines der folgenden zwölf Elemente fehlen: These Hauptfigur oder -figuren Dreidimensionale Charaktere Abhängige Gegenspieler Entwicklung Orchestrierung Angriff Konflikt Wandel Krise Höhepunkt Auflösung Diese zwölf Elemente sind für den Schriftsteller so unverzichtbar wie die Organe in einem lebendigen Körper. THESE Die These ist das Samenkorn, aus dem Ihre Geschichte wächst. Sie fasst die Story oder das Stück, das Sie schreiben wollen, in einem kurzen Satz zusammen: Ihre These. Sie ist kein Muss, aber es ist doch sinnvoll, die These als erstes zu formulieren. Vielleicht haben Sie etwas gelesen oder gehört, das Sie auf eine gute Idee für eine Geschichte gebracht hat. Dann sollten Sie genau wissen, was Sie wirklich ausdrücken wollen, warum Sie es sagen wollen und wie weit Sie Ihren Gedanken führen wollen. Geht es in Ihrer Geschichte um Egoismus, und Sie meinen, Egoismus sei etwas Schlechtes, dann sollten Sie wissen, in welche Richtung, und wie weit Sie das ausführen wollen und zu welcher Auflösung Sie kommen wollen. Dieser Extrakt Ihrer Geschichte ist Ihre These. Vielleicht wollen Sie behaupten: »Egoismus führt zu Vernichtung«, »Egoismus führt zu Demütigung«, »Egoismus führt in die Isolation« oder »Egoismus führt zum Verlust der Liebe«. Sie können viele verschiedene Thesen aufstellen, aber entscheiden Sie sich für die eine, die Ihre Idee am besten zusammenfasst.
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Die These sollte Grundlegendes über
die Hauptfiguren,
den Konflikt und
die Auflösung enthalten.
»Ehrlich währt am längsten« ist zum Beispiel als These weniger gut geeignet. Wir sehen eine ehrliche Figur, aber wo ist der Konflikt? Die Figur ist ihr ganzes Leben lang und auch über das ganze Theaterstück oder die ganze Erzählung hinweg ehrlich. Sie ist sehr glücklich damit, und niemand ärgert sie. Ein wunderbares Leben - aber langweilige Literatur. Lautet die These hingegen: »Ehrlichkeit siegt über Falschheit«, wissen wir sofort, dass unser ehrlicher Mensch in einen Konflikt geraten wird. Diese These weist auf eine dramatische Auseinandersetzung hin. Kurz, der erste Teil einer These sollte eine Aussage über die Figuren enthalten (Ehrlichkeit, Unehrlichkeit, Eigennutz, Skrupellosigkeit, falscher Stolz etc.), der zweite Teil sollte auf den Konflikt hinweisen (»Unehrlichkeit führt zu Entdeckung«, »Rücksichtsloser Ehrgeiz führt zu Vernichtung« etc.), und gleichzeitig die Auflösung beinhalten (Entdeckung, Zerstörung). Eine gute These ist also ein unverzichtbarer Teil einer guten Geschichte. Eine These formuliert das, worauf der Autor hinaus will. Manche finden es unnötig, vor dem Schreiben eine These aufzustellen. Sie argumentieren, dass großartige Storys und Stücke geschrieben worden seien, bevor man wusste, was eine These ist. Das ist wahr, aber es ist auch wahr, dass sogar berühmte Schriftsteller mehr schlechte als gute Werke geschrieben haben. Sie haben während des Schreibens ohne These Richtung und Ziel aus den Augen verloren. Wer eine Reise plant, sieht sich normalerweise die Landkarte an, um die beste Verbindung und gute Straßen herauszufinden. Die These ist die Straßenkarte des Autors. Sie haben es leichter, wenn Sie Ihre Aussage in einer These konzentrieren, bevor Sie zu schreiben beginnen. HAUPTFIGUR Wer wird die Figuren zum Handeln zwingen? Ein ehrlicher Mensch kann mit einem unehrlichen Freund solange in Frieden leben, bis einer der beiden ein Thema daraus macht und es zum Konflikt kommt. Der Herausforderer ist die Hauptfigur oder der Protagonist, der den Konflikt in einem Stück, einer Geschichte oder Novelle von Anfang bis Ende bestreitet. Die anderen Figuren wis-sen vielleicht noch nicht, was sie wollen oder welche Richtung sie einschlagen sollen, aber die Hauptfigur weiß genau, was sie will. Ein Egoist ist gleich ab dem ersten Akt oder Kapitel egoistisch. Er ist unbeugsam egoistisch. Die Hauptfigur ist immer unbeugsam. Sie ist nicht von einer Laune getrieben,
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sondern hat eine Mission zu erfüllen. Sie muss den Konflikt bis zum bitteren Ende ausfechten und darf nie mittendrin einen Rückzieher machen. Sie ist kompromisslos auf Grund von Umständen, auf die sie keinen Einfluss hat und die sie dazu zwingt, unerbittlich zu sein. Wenn ein ehrlicher Mensch stiehlt, dann tut er das nicht we-gen des Nervenkitzels oder um sich zu bereichern. Er tut es, weil seine Familie hungert oder aus sonst einer Notlage heraus. Geld-mangel kann zu einem Fall von Leben und Tod werden. Ein Mensch kann morden, weil er skrupellos seine Ziele verfolgt oder aus Rache oder aus Frustration. Der Grund muss zwingend sein. Hört die Hauptfigur auf, den Konflikt weiterzutreiben, bleibt auch die Story stecken. Normalerweise will der Protagonist verändern, weil er unzufrieden ist. Aber ob er darum ringt, etwas zu verändern oder zu erhalten, er handelt kämpferisch und ohne Rücksicht. Die Hauptfigur, also der Protagonist, ist die treibende Kraft. Ohne ihn gäbe es in Ihrer Story oder Ihrem Stück keinen Konflikt. Ist er sehr ehrgeizig, wird er beispielsweise auch nicht zögern, andere zu erpressen. Er kann gerissen und unbarmherzig sein und bereit sein zu morden, um sein Ziel zu erreichen. Einem überzeugenden Protagonisten ist außer seinem Ziel nichts wichtig, und er glaubt, nichts könne ihn davon abhalten, es zu erreichen. Versteht der Schriftsteller nicht, wie seine Schlüsselfigur agiert, dann kann er nicht vorhersehen, in welche Richtung sich seine Geschichte entwickeln wird. Sein Zentralcharakter muss wissen, wohin er will und muss versuchen, jeden zu zwingen, sich seinen Zielen unterzuordnen. Wenn sich der Gegenspieler, der Antagonist, weigern sollte mitzumachen, darf das nicht daran liegen, dass der Protagonist ihn nicht hart genug angefasst hätte. Eine Schlüsselfigur muss hartnäckig sein. Der Protagonist ist das Herz jeder Geschichte - er sorgt für den Konflikt, der die Spannung erzeugt. Hört er damit auf, stirbt die Geschichte, wie ein Körper stirbt, wenn das Herz aufhört zu schlagen. Kennen Sie den Unterschied zwischen einem Konservativen und einem Reaktionär? Ein Konservativer ist zufrieden mit sich, dem Land, in dem er lebt und der Welt und möchte, dass alles so bleibt, wie es ist. Allerdings hat er zu viel zu tun oder ist zu bequem, dafür zu kämpfen, dass dieser Status erhalten bleibt. Er glaubt, alles werde sich schon von allein zum Guten entwickeln. Der Reaktionär möchte ebenso wie der Konservative, dass alles bleibt, wie es ist, er ist jedoch bereit, seine Prinzipien zu verteidigen, wenn nötig sogar dafür zu sterben. Eine ähnliche Haltung unterscheidet den Liberalen vom Radikalen. Der Liberale meint, die Welt sollte sich ändern, hofft aber, das sie das früher oder später selber tut. Der Radikale dagegen zieht los und kämpft um das, wovon er überzeugt ist, statt seine Zeit mit Hoffen und Warten zu vertun.
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In diesem Sinne muss Ihre Zentralfigur, Ihr Protagonist, immer ein kämpferischer Radikaler sein, er handelt immer aus Leidenschaft. Hier einige Beispiele für einen Zentralcharakter:
Er will sich an dem Mann rächen, der ihm seine Frau ausgespannt hat.
Er will sich an dem Mann rächen, der ihn mit erfundenen Anschuldigungen ins Gefängnis gebracht und ihm dann seine Firma genommen hat.
Er will sich an dem Mann rächen, der seine Tochter geschwängert und sich dann geweigert hat, sie zu heiraten.
Er liebt eine Frau wie wahnsinnig, muss aber erst Geld verdienen, bevor er sie heiraten kann.
Er ist bereit, sein Leben zu opfern für das Land, das er mehr liebt als alles auf der Welt.
Er würde den Märtyrertod sterben für seine Religion.
Er ist habgierig, beutet gewissenlos andere aus, weil es ihm davor graut, jemals wieder hungern zu müssen.
Er ist bereit, andere zu vernichten, um sein Ziel zu erreichen.
Er hat den brennenden Ehrgeiz, Musiker, Wissenschaftler, Tänzer oder Erfinder zu werden.
Fast alle berühmten Menschen und bekannte Kriminelle geben hervorragende Hauptfiguren ab.
DREIDIMENSIONALE FIGUREN Der dritte wichtige Bestandteil einer Geschichte ist der Charakter Ihrer Figuren:
Wer sind diese Menschen? « Woher kommen sie?
Wie war ihre Kindheit?
Was sind ihre Lebensumstände?
Welche Pläne, Träume und Hoffnungen haben sie?
Wonach streben sie?
Welche Enttäuschungen haben sie hinter sich?
Welche Komplexe haben sie?
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Besonders für die Hauptfigur muss der Schriftsteller all diese Fragen beantworten. Jedes Objekt hat drei Dimensionen: die Höhe, die Breite und die Tiefe. Menschen haben drei weitere:
eine körperliche,
eine soziale und
eine seelisch-geistige Dimension.
Es reicht nicht, wenn wir wissen, dass jemand grob, höflich, gläubig, gottlos, rechtschaffen oder verkommen ist. Wir müssen auch wissen, warum er so ist. Warum wandelt sich sein Charakter, und warum muss er sich wandeln, ob er will oder nicht? Die körperliche Dimension umfasst das Aussehen und den Gesundheitszustand einer Figur. Ein gesunder Mensch reagiert auf bestimmte Dinge anders als ein kranker. Die gesundheitliche Verfassung hat einen entscheidenden Einfluss auf die Lebenseinstellung einer Figur, ihre Toleranz, ihre Ansprüche, ob sie abweisend oder überheblich ist, wie sie sich geistig entwickelt und bestimmt, ob sie sich minderwertig oder überlegen fühlt. Die verbreitete Ansicht, schöne Frauen seien dumm, beruht wahrscheinlich darauf, dass sie es im Leben leichter haben. Angeblich erfüllen wir gut aussehenden Männern oder Frauen eher einen Wunsch, so dass die sich weniger anstrengen müssen, um zu bekommen, was sie wollen. Eine Frau, die nicht gut aussieht ist, muss demnach mehr tun, um ihre Ziele zu erreichen, was wiederum ihr Denkvermögen schärfen und sie zu einem fähigeren Menschen machen kann. Der soziale Hintergrund einer Figur ist eine weitere Dimension. Zwischen Kindern, die in einem Armenviertel aufwachsen und solchen, die in ein Luxusleben hineingeboren sind, liegen offensichtlich Welten. Die soziale Dimension beinhaltet das Zuhause, den Familienstand der Eltern, ihr Einkommen und wie sie miteinander auskommen. Sie umfasst Freundschaften, die zu ihrer Prägung beigetragen haben. Wie hat sie ihre Freunde beeinflusst? Welche Schulbildung hat sie genossen? Ist sie gern zur Schule gegangen? Was waren ihre Lieblingsfächer? Wo lagen ihre besonderen Stärken? Mit wem und womit hat sie ihre Freizeit verbracht? Die dritte, die seelisch-geistige Dimension ergibt sich aus der körperlichen und der sozialen. Sie beeinflusst das Streben und beschreibt Enttäuschungen, Temperament, Einstellungen und Komplexe einer Figur. Um das Handeln eines Menschen zu verstehen, müssen wir zuerst seine Motive herausfinden. Hat ein Mensch große Ohren, Froschaugen, lange, dicht behaarte Arme, dann spricht er nicht gern über krumme Nasen, große Münder, dicke Lippen oder große Füße. Wahrscheinlich, weil er sich selbst betroffen fühlt. Der Eine findet sich damit ab, der andere macht sich darüber lustig, und der Nächste hadert mit seinem Schicksal. Viele Menschen lassen sich von einem körperlichen Makel ein Leben lang beeinträchtigen.
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Manche Schriftsteller nehmen dankbar die Gedankenbröckchen auf, die andere Autoren dort achtlos weggeworfen haben. So zu schreiben, beweist geistige Armut. Ein solcher Autor lässt in seiner Geschichte eine Frau ermorden und präsentiert uns stolz als Motiv: Der Ehemann war eifersüchtig! Nach den tiefer liegenden Gründen, die die Kettenreaktion ausgelöst haben, sucht der Leser vergeblich. Sie müssen Ihre Haupt- und Nebenfiguren mit allem, was zu ihnen gehört, besser kennen als sich selbst. ABHÄNGIGE GEGENSPIELER In einem guten Roman, Theaterstück oder Film erfüllt jede Figur einen Zweck. Sie sollte ein unverzichtbarer Bestandteil des Ganzen sein, das ohne sie nicht existieren könnte. Wie kann ein Autor alle Figuren integrieren, über die er schreiben möchte? Er stellt Abhängigkeiten zwischen ihnen her und macht damit gegensätzliche Charaktere unzertrennlich. Die Gegenspieler bekämpfen sich, aber sie kommen nicht voneinander los, weil eine gemeinsame Verbindung sie zusammenhält. Sie können sich nur voneinander lösen, wenn einer von ihnen bestimmte Charakterzüge aufgibt oder sein Verhaltensmuster durch andere Umstände durchbrochen wird. Eine Frau hasst ihren Mann. Warum lässt sie sich nicht von ihm scheiden? - Erstens haben sie gemeinsame Kinder, und zweitens ist sie finanziell von ihm abhängig. Normalerweise reichen Kinder als verbindendes Element nicht aus, es sei denn, beide hängen übermäßig an ihnen. Gewöhnlich ist etwas Stärkeres im Spiel: Geld, ein gemeinsamer Betrieb, Ehre, Rache, Morddrohungen, Erpressung etc. Wollen wir zwei Gegenspieler miteinander verknüpfen, müssen wir uns fragen: Was macht sie voneinander abhängig, fast unzertrennlich? Was würden sie im Fall einer Trennung aufgeben? Und warum können sie es nicht aufgeben? In Ernest Hemingways Die Killer ist das Verbindungsglied die Suche nach dem Mann, der getötet werden soll. In Guy de Maupassants Die diamantene Halskette schmiedet Eitelkeit die Gegenspieler zusammen. Im Hamlet ist es die Vergeltung für den Tod des Vaters. In Othello war es Jagos Entschlossenheit, sich an Othello zu rächen. In Ibsens Puppenhaus ist es Noras Liebe zu ihren Kindern und ihre finanzielle Abhängigkeit von ihrem Mann. (Zu Ibsens Zeiten war es nicht üblich, dass Frauen arbeiten gingen). In Romeo und Julia ist es die unsterbliche Liebe der beiden Hauptfiguren zueinander. Angenommen, die These einer Story wäre »Besitzergreifende Lie-be führt in die Isolation« und der Protagonist wäre ein egoistischer Mensch. Beispielsweise eine Mutter, die vorgibt sich aufzuopfern, aber alles tut, um das Leben ihrer Kinder zu zerstören. Aus
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Eifersucht versucht sie, einen Keil zwischen ihre Kinder und deren Ehepartner zu treiben. Sie verlangt von ihren Kindern, sich ständig um sie zu kümmern, und die Kinder können sich aus Treue, Liebe oder Mitleid nicht den Ansprüchen entziehen (vielleicht ist die Mutter krank oder finanziell abhängig von ihnen), oder die Kinder sind es gewohnt, auf jeden Wink der Mutter hin zu gehorchen. Dann könnte diese Abhängigkeit sich erst lösen, wenn aus der Liebe der Kinder Abscheu oder Ernüchterung geworden ist und sie sich nicht mehr zur Treue verpflichtet fühlen. Wenn sie endlich durchschauen, was es mit der Aufopferung der Mutter wirklich auf sich hat, und sie verlassen. ENTWICKLUNG Jedes Wesen braucht Nahrung, um zu wachsen und sich zu entwickeln. Damit sich eine Geschichte entwickeln kann, müssen wir sie mit Konfliktstoff füttern. Zum Konflikt kommt es, wenn zwei Charaktere aufeinander prallen, die unvereinbare Positionen vertreten. Beide haben einen starken Willen und bekämpfen sich verzweifelt. Verzweiflung ist ein leeres Wort, solange wir nicht verstehen, dass es der Hoffnungslosigkeit entspringt. Frustration ist das Ergebnis von anhaltender Enttäuschung. Eine Spur von Frustration kann so weit wachsen, dass sie eine Tragödie auslöst. Zusammengefasst:
Konflikt ist Unvereinbarkeit.
Die Zutaten, die einen Konflikt wachsen und gedeihen lassen, sind beispielsweise Gegensätzlichkeit, Feindseligkeit, Angst, Eifersucht, Begierde, Hass und Skrupellosigkeit.
So wie der Mensch die Nahrung zum Leben braucht, braucht ein Konflikt Probleme und Leid, um sich zu entwickeln. Es ist die Aufgabe des Schriftstellers, die menschlichen Leidenschaften großzügig zu nähren, damit seine Charaktere später fleißig für ihn arbeiten. Um eine Fehlentscheidung zu rechtfertigen, treffen wir die nächste, dann eine dritte, um wiederum die zweite zu rechtfertigen, und immer so weiter. Manche Menschen geben sich rechtzeitig geschlagen, um das Schlimmste abzuwenden. Andere bleiben unnachgiebig und würden niemals aufgeben. Sie machen weiter, allen Gesetzen zum Trotz. Will ein Schriftsteller ein spannendes Werk schreiben, sollten ihn nur Figuren interessieren, deren angeborene und erworbene Eigenschaften sie dazu bestimmen, sich ihre Macht notfalls mit dem Schwert zu erkämpfen. In ihnen brennt ein fanatischer Ei-fer. Sie verfolgen ihr Ziel, koste es, was es wolle.
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Solche Menschen brauchen einen zwingenden Anlass, um aus Verzweiflung zu handeln. Beispielsweise, wenn jede weitere Verzögerung sie entweder ihr Leben, ihr Vermögen, ihre Gesundheit oder ihre Ehre kosten würde. Nur die Verzweiflung treibt sie auf ihr Ziel zu, das bereits deutlich in der These genannt sein sollte. Ein Theaterstück oder ein Film spiegelt nicht das wahre Leben wider, sondern dessen Essenz. Innerhalb von zwei Stunden müssen die Figuren alle Entwicklungsphasen durchlaufen. Je größer die Konflikte, in die eine Figur verstrickt ist, umso schneller und sichtbarer entwickelt sie sich. Da auf der Bühne oder im Film ein Leben in zwei Stunden erzählt werden soll, müssen die Veränderungen pointiert zusammengerafft sein. In einem Roman dagegen entwickeln sich die Figuren in mäßigerem Tempo. Der Autor kann sich mehr Zeit lassen. Er kann seine Figuren über Jahre, bis ans Ende ihrer Tage, begleiten. Dennoch müssen sich die Figuren entwickeln. So könnte ein Egoist großzügig werden, ein eifersüchtiger Mensch könnte Vertrauen entwickeln, und ein loyaler Mensch könnte zum Verräter werden. Eine Entwicklung zum Gegensätzlichen allgemein und wodurch dies möglich wird, macht eine Story ausgesprochen spannend. ORCHESTRIERUNG Es ist altbekannt, dass es zu allem ein Gegenteil gibt. Wo Licht ist, ist auch Schatten. Leben steht im Gegensatz zu Tod. Nicht nur die Natur ist voller Gegensätze, sondern auch die Kunst. Tanz ist ohne Bewegung und Gegenbewegung nicht denkbar, in der Malerei sorgen Komplementärfarben und gegenläufige Linien für Spannung, und in der Musik gibt es keine Harmonie ohne Disharmonie. Beim Schreiben gilt dasselbe Prinzip. Gegensätzliche Charaktere - zum Beispiel ein naiver Mensch und ein welterfahrener oder ein gesetzloser und ein rechtschaffener treffen aufeinander. Die These schweißt sie zusammen und treibt die beiden Gegenspieler auf das vorgegebene Ziel zu. Orchestrieren heißt, gegensätzliche Charaktere einzusetzen und sie voneinander abhängig zu machen. Ohne gute Orchestrierung gelingt kein sinnvolles Zusammenspiel. Kein Widerspruch darf uns entgehen. Finden wir keinen, so liegt das nicht daran, dass es keinen gibt, sondern daran, dass wir ihn übersehen haben. Gibt es Ungerechtigkeit? - Ja, die gibt es. Schaden Sie mir, dann ist das ungerecht. Schade ich Ihnen, dann ist das gerecht. Es sieht so aus, als brauchten wir einen Richter, der die Waagschalen wieder ins Gleichgewicht bringt. Ohne diese ausgleichenden Kräfte gäbe es kein Leben. Und ohne Orchestrierung durch den Schriftsteller keine lebendige Literatur. Alle guten Dramen, Romane und Kurzgeschichten beruhen auf dem Prinzip der Gegensätzlichkeit, zum Beispiel: Ehrlichkeit - Unehrlichkeit
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Förmlichkeit - Ungezwungenheit Sittlichkeit - Unsittlichkeit Großzügigkeit - Geiz Träumerei - Realismus Aberglaube - Wissenschaft Vertrauen - Misstrauen Gewissenhaftigkeit - Nachlässigkeit Verantwortungsbewusstsein - Verantwortungslosigkeit Stellen Sie sich die Möglichkeiten vor, die in diesen Gegensätzen für die Akteure in einem Konflikt liegen können! Wenn die Charaktere ihre Positionen streitbar vertreten und unzertrennlich miteinander verbunden sind, ist der Weg frei für eine spektakuläre Komödie oder - fürchterliche Tragödie. ANGRIFF Manche Theaterstücke, Romane und sogar Kurzgeschichten beginnen so langweilig, dass es scheint, als würden sie nie zu einer Aussage kommen. Der Zuschauer oder Leser würde am liebsten das Theater verlassen oder das Buch in die nächste Ecke schleudern. Eine Story sollte mit einer Grenzverletzung beginnen. Damit wird die Krise eingeleitet, eine Entscheidung ist unausweichlich, und die Figuren sind kampfbereit. Ein Ehepaar kann zwanzig Jahre lang streiten und sich gegenseitig immer wieder damit drohen, auszuziehen. Die Frage ist: Zu welchem Zeitpunkt sollte ein Autor beginnen, über dieses Paar zu schreiben? Die Antwort lautet: Erst wenn einer von beiden bereit ist, eine Entscheidung herbeizuführen - oder auf dem Höhepunkt der Krise. Zwischen den beiden ist zwar schon einiges vorgefallen, bevor der Autor sie dem Leser vorstellt, aber der Leser ist an ihrer Bekanntschaft erst dann interessiert, wenn sie wirklich in der Krise stecken. Jede Kurzgeschichte, Novelle oder Theaterstück sollte mit dem Zentrum der Krise beginnen. Es gibt kein Gesetz, das sagt, Sie könnten nicht auch anders beginnen, allerdings wird eine Krise Ihnen den Start leichter machen. KONFLIKT Auch wer sich mit den handwerklichen Aspekten des Schreibens noch nie beschäftigt hat, langweilt sich, wenn er ein statisches Theaterstück ansieht, ein Stück ohne Konflikt oder mit nur kleinen Auseinandersetzungen. Es gibt vier Arten von Konflikten:
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den drohenden Konflikt,
den schwelenden Konflikt,
den erratischen Konflikt und
den sich langsam steigernden Konflikt.
Ein drohender Konflikt sollte sich gleich zu Beginn durch eine Krise abzeichnen. Die Krise weist darauf hin oder verspricht, dass es früher oder später zum Konflikt kommen wird. Künftiges Geschehen und zu erwartende Konflikte müssen bereits am Anfang angekündigt werden. Ein schwelender Konflikt ist einer, der sich auf gleich bleibendem Niveau abspielt und nur gelegentlich aufflackert. Da sich alles im Leben ständig verändert, findet man den schwelenden Konflikt eigentlich nur in schlechten Texten. Diskussionen und Zwistigkeiten allein, ohne dass die Charaktere sich gleichzeitig weiterentwickeln und verändern, führen nicht weiter. Jede Zeile eines Dialogs sollte die Figuren dem Finale ein Stück näher bringen.
Solche Konflikte ziehen sich mit ihrem eigenen Gewicht immer weiter herunter, bis sie schließlich am Nullpunkt ankommen. Der Zuschauer verliert das Interesse und es ist ihm am Ende völlig gleichgültig, was aus den Leuten da vorne auf der Bühne wird. Ein erratischer Konflikt sähe etwa so aus:
Erratische Konflikte kann niemand nachvollziehen, weil die Figuren übergangslos von einem emotionalen Zustand in einen völlig anderen wechseln. So etwas ist unnatürlich. Steckt man ein Samenkorn in die Erde, verwandelt es sich auch nicht umgehend in eine Blume. Die Pflanze durchläuft viele Zwischenstadien, bevor sie irgendwann blüht. So verhält es sich auch mit den Emotionen - der Autor sät sie in seinen Figuren, und dort entfalten sie sich, während der Zuschauer oder Leser beobachtet, wie sie sich verändern und immer weiter wachsen. Schwelende und erratische Konflikte sind Fehler, die Sie als Schriftsteller unbedingt vermeiden müssen. Dazu müssen Sie natürlich wissen, wohin Sie ihre Charaktere führen wollen. Beispielsweise von: Trunkenheit zu Nüchternheit
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Nüchternheit zu Trunkenheit Schüchternheit zu Dreistigkeit Dreistigkeit zu Schüchternheit Natürlichkeit zu Künstlichkeit Künstlichkeit zu Natürlichkeit Treue zu Untreue Untreue zu Treue Die obigen Begriffe zeigen die beiden gegensätzlichen Pole, den Ausgangspunkt der Entwicklung und das Ziel. Dazwischen platzieren Sie den Konflikt, der sich während der Geschichte oder im Stück entwickeln kann. Alle Protagonisten müssen unerbittlich sein, den Antagonisten bleibt nichts anderes übrig, als sich zu wehren. Anfangs versuchen die Antagonisten vielleicht noch, sich irgendwie an den Protagonisten vorbeizuwinden, doch langsam aber sicher treiben die gnadenlosen Attacken der Protagonisten sie dazu, zu protestieren, zurückzuweisen, sich zu verweigern und am Ende zu revoltieren.
Diese Linie zeigt Ihnen, dass jedem Theaterstück, jedem Film und jedem Fernsehspiel ein stetig heftiger werdender, sich langsam steigernder Konflikt zugrunde liegen muss. Auf einer Skala von 1 bis 10 beginnt er bei 1 arbeitet sich dann über die einzelnen Zwischenstufen nach oben und endet bei 10. Die erste Krise ist noch relativ harmlos, die zweite schon etwas heftiger, und so steigern sie sich bis zur letzten, der schlimmsten Krise. Wenn sich im Laufe der Entwicklung die Krisen nicht steigern, wird der Konflikt erratisch. Fällt der Konflikt zwischendurch immer wieder unter ein bereits erreichtes Niveau, tritt das Stück auf der Stelle, was tödlich für jede Art von Literatur ist. WANDEL Nehmen wir an, eine Figur soll den Weg von Liebe zu Hass gehen, dann hat sie vermutlich diese neun emotionalen Stationen vor sich: 1. Liebe 2. Enttäuschung
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3. Verstörung 4. Verbitterung 5. Ernüchterung 6. Gleichgültigkeit 7. Widerwillen 8. Zorn 9. Hass Der Mensch wächst und verändert sich mit jeder Sekunde seines Lebens. Wenn ein Mann und eine Frau über Jahre zusammenleben, verändern sie sich vielleicht so langsam, dass es ihnen selbst kaum auffällt. Aber ein Besucher, der sie lange nicht gesehen hat, ist verblüfft, wie stark sie sich in der Zwischenzeit verändert haben. Versetzen Sie sich in den Besucher, wenn Sie eine Entwicklung beschreiben. Wenn eine Figur vom ersten Punkt Liebe unvermittelt bei Verbitterung landet, ist der Sprung von 1. nach 4. nicht glaubwürdig erklärt worden. Der Autor hat es versäumt, die Figur im Zustand der Enttäuschung und anschließend in dem der Verstörung zu zeigen. Im echten Leben schlägt die Stimmung eines Menschen mitunter so blitzschnell um, dass er auf Fremde sprunghaft oder voreilig wirkt. Das sieht aber nur so aus. Er hat in Wirklichkeit schon vorher alle Zwischenstadien durchlaufen. In einem literarischen Werk jedoch müssen alle Zwischenstadien nachvollziehbar sein. Durchlaufen die Figuren alle Entwicklungsstufen, so steigert sich ein Konflikt langsam. Mit jedem Schritt wächst die Spannung, bis es schließlich zum Finale kommt. KRISE; HÖHEPUNKT UND AUFLÖSUNG Ein Theaterstück oder eine Geschichte besteht vom Anfang bis zum Schluss aus einer Serie von Krisen, Höhepunkten und Auflösungen. Am Anfang steht eine Krise. Die Krise ist ein Wendepunkt - sie kündigt eine bevorstehende Veränderung an. Bringt eine Mutter ein Kind zur Welt, so wären
die Wehen die Krise,
die Geburt der Höhepunkt und
Leben oder Tod die Auflösung.
In Patrick Hamiltons Cocktail für eine Leiche ermorden zwei reiche junge Männer einen Mitschüler, weil sie sich langweilen und sehen wollen, wie das ist. Während sich der
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Vorhang hebt, sieht man die beiden, wie sie die Leiche in eine große Truhe stopfen. Dann laden sie den Vater des Ermordeten zu einem Gespräch ein, um den Nervenkitzel und die Gefahr zu spüren, die sein Besuch mit sich bringt. Dieses Stück beginnt mit einer Krise, so wie es sich für jede gute Story gehört. Die Krise ist ein Wendepunkt was folgt, ist noch ungewiss. Während der Konflikt in einem Stück immer heftiger wird und unterwegs immer neue Krisen, Höhepunkte und Auflösungen durchläuft, arbeitet der Autor am Finale, das alle bisherigen Krisen, Höhepunkte und Auflösungen in sich vereint und die Ausgangsthese erfüllt. Die letzten Krisen, Höhepunkte und Auflösungen können kurz aufeinander folgen, es können aber auch Pausen dazwischenliegen. Dieselben Regeln gelten auch für Kurzgeschichten und Romane. Während in einer Kurzgeschichte vielleicht nur eine oder zwei Sequenzen aus Krise, Höhepunkt und Auflösung vorkommen, reihen sich in einem Roman manchmal Hunderte solcher Sequenzen aneinander. Eine Kurzgeschichte hat ein wesentlich schnelleres Tempo als ein Roman. Dennoch basieren beide, wie ein Theaterstück, auf demselben Grundmuster aus Krise, Höhepunkt und Auflösung. Ich hoffe, dieses Buch wird Ihnen helfen, nicht nur ein erfolgreicher Schriftsteller zu werden, sondern einer, dessen Werk die Zeiten überdauert. Viel Glück.
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NEUN EINFACHE GEBOTE ZUR DRAMATURGIE 1. Eine dreidimensionale Figur muss in einen Konflikt geraten oder ihn auslösen. 2. Jeder Mensch hat viele Gesichter. Nur im Konflikt löst sich eine Schicht nach der anderen, bis wir den wahren Menschen hinter der Fassade erkennen. 3. Wird der Protagonist nachgiebig, vergisst er sein Ziel, gehen Spannung und Interesse verloren. 4. Der Antagonist steht ihm diametral gegenüber. 5. Am besten beginnt ein Theaterstück oder ein Film gleich mit einer Krise, die sich immer weiter zuspitzt, bis sie ihren Höhepunkt erreicht. 6. Zu einem schwelenden Konflikt kommt es, wenn der Dialog sich im Kreis dreht, bis die Figuren erschöpft sind. 7. Ein erratischer Konflikt zeigt, dass der Protagonist kein echtes Motiv hat. Ohne Motiv werden aus Figuren Strichmännchen. 8. Ohne starke Bindung zwischen Protagonist und Antagonist ergibt sich kein Konflikt, weil es keine Abhängigkeit gibt. Damit würde das Stück enden, bevor es richtig begonnen hat. 9. Die Nebenfiguren Antagonisten.
unterstützen
entweder
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den
Protagonisten
oder
den