Jürgen Martschukat (Hg.)
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Geschichte schreiben mit Foucault
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Deutsche Bibliot...
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Jürgen Martschukat (Hg.)
{
Geschichte schreiben mit Foucault
Campus Verlag FrankfurtlNew York
Die
Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich. ISBN 3-593-37114-6
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Copyright © 2002 Campus Verlag GmbH, Frankfurt/Main Druck und Bindung: PRISMA Verlagsdruckerei GmbH
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Printed in Germany
Inhaltsverzeichnis
... ...... . ... .... ..... 7
Geschichte schreiben mit Foucault - eine Einleitung
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Jürgen Martschukat
I. Foucault, Geschichte und Gesellschaft "Geheime Rasereien und Fieberstürtne": Diskurstheoretisch-genealogische Betrachtungen zur Historie
............... 29
Hannelore Bublitz "Erfahrungstiere" und "Industriesoldaten": Marx und Foucault über das
42
historische Denken, das Subjekt und die Geschichte der Gegenwart Ulrich Brieler Gouvemementalität: Zur Kontinuität der Foucaultschen Analytik der Oberfläche
... .. . . ... ...... . ..... . . . . ... ... 79 .
.
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.
Susanne Krasmann
11. Diskurs 1830: . .... . .......... ...... .
Männlichkeitskonstruktion im medizinischen Diskurs um Der Körper einesPatienten von Samuel Hahnemann
.
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.
.
99
Martin Dinges "The Death ofPain": Erörterungen zur Verflechtung von Medizin und Strafrecht in den USA in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts
126
Jürgen Martschukat
5
IU. Macht 151
Nacktheit und Sichtbarkeit Maren Möhring Der Orgasmus der Wohlgeborenen: Die sexuelle Revolution,
170
Eugenik, das gute Leben und das biologische Versuchslabor Heiko StojJ
IV. Subjekt Foucault, Burckhardt, Nietzsche - und die Hygieniker
.........................
195
Philipp Sarasin "Erfahrungen" des Männlichen zwischen Sexualität und Politik
(1880-1920):
Annäherungen an eine
219
Historiographie des Politischen mit Michel Foucault
Claudia Bruns Wort-Macht, Sichtbarkeit und Ordnung: Überlegungen zu einer Kulturgeschichte des Denunzierens während der McCarthy-Ära
..........
241
Ola!Stieglitz Gouvemementalität, der Moynihan-Report und die Welfare Queen im Cadillac
.......................................................
257
Norbert Finzsch
Verzeichnis der verwendeten Texte Michel Foucaults Autorinnen und Autoren
6
..........................
........................................................................
283 286
Geschichte schreiben mit F oucault eine Einleitung Jürgen Martschukat
I. Eine Verschiebung historiographischen Denkens vollzieht sich Foucault hat Konjunktur. Endlich scheinen die Sozial- und Kulturwissenschaften auch hierzulande Michel Foucault und die Vielfalt seines Denkens rur sich entdeckt zu haben. Kein deutschsprachiges Feuilleton, das etwas auf sich hält, konnte im Herbst des Jahres
2001
davon absehen, die deutsche Übersetzung der gesammelten
Aufsätze, Interviews, Vorworte und Reden, der "Dits et Ecrits" Foucaults aus den Jahren
1 954
bis
1 969,
ausgiebig zu kommentieren. Von der Unschätzbarkeit des
versammelten Materials schwärmen die verschiedenen Besprechungen, von einem historischen Zeugnis der Lektüre- und Denkgeschichte Foucaults ist dort die Rede oder von der Möglichkeit einer Rekomposition seines frUhen Denkens und Wirkens. Allein das offenkundige Bedürfnis verschiedener Kommentatoren, "den ganzen Foucault" noch einmal aus einem anderen Blickwinkel betrachten und möglicherwei se anders begreifen zu können, scheint Zeugnis zu geben, dass Foucault eine größere Anziehungskraft denn je ausstrahlt.' Foucaults Projekt, über historisch-philosophische Betrachtungen eine Diagnose der Gegenwart zu leisten, scheint auch rur die deutschsprachige Geschichtsschrei bung ein zunehmend interessantes Unterfangen zu sein und Wirkungen zu entfalten, die das derzeitige historiographische Feld in Schwingungen versetzen. Dies vermag ein kurzer Blick auf den Umgang mit dem Diskursbegriff zu verdeutlichen, der ja
Auf die Arbeiten Michel Foucaults wird in sämtlichen Aufsätzen durch Siglen verwiesen; ein entsprechendes Verzeichnis findet sich am Ende des Bandes; vgl. hier DeEI ; T. Schäfer, "Ur sprung eines Werkes: Michel Foucaults frohe ,Schriften''', in: Die ZEIT, Sonderbeilage litera tur, 13. Dez. 2001 , 68-69; T. B. Müller, ..Der auszog, das Fürchten zu lernen: Nichts rur Histori ker in kurzen Hosen: Foucaults gesammelte Schriften und Sätze", in: Süddeutsche Zeitung, 5. Dez. 2001; M. Saar, "Im Labor des Denkens: Ein starker Anfang: Der erste Band der deutschen Ausgabe der kleinen Schriften von Michel Foucault", in: Frankfurter Rundschau, 13. Okt. 2001 ; , B . Dotzler, ,,Das Spiel der Autorschaft: Michel Foucaults ,Dits et Ecrits' auf Deutsch", in: Neue Zürcher Zeitung, Sonderbeilage Bücherherbst 2001 , 9. Okt. 2001 , B 1 8; A. Platthaus, "Wenn ihr den wilden Gesellen fragt", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Okt. 2001 .
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von zentraler Bedeutung rur das Foucaultsche Projekt ist. Nun ist im Wissenschafts betrieb wie in der Publizistik schon seit geraumer Zeit allerorten vom "Diskurs" die Rede. In diesem Sinne konstatierte Peter Schöttler schon vor einigen Jahren, dass der Diskurs kein "Fremdkörper französischer Provenienz" mehr sei und "kein Feuilleton
[ . .], keine Volkshochschule, keine Talk-Runde, kein Juso-Ortsverein" mehr ohne .
den ein oder anderen Diskurs auskomme. Zugleich jedoch, also obschon das "D Wort" auf dem besten Wege war, zu einem "Allerweltsbegriff" zu werden, diagnosti zierte Schöttler erstens eine unzureichende inhaltliche Präzision des Konzeptes "Dis kurs": Verschiedene Diskursbegriffe mit unterschiedlichen Reichweiten konkurrier ten miteinander und gerieten bisweilen munter durcheinander. Zweitens, so Schöttler
1 997,
müsse man in Hinblick auf eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Dis
kursbegriff und daraus folgende etwaige Veränderungen in der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung weitreichende Standes- und Statussorgen der deutschen Histo riker bemerken: Eine "mangelnde intellektuelle Flexibilität von Berufswissenschaft lern" sei von entsprechend vehementen Abwehrgefechten begleitet. Ähnlich hatte sich Martin Dinges wenige Jahre zuvor in einem Artikel zum Umgang der professio nellen deutschsprachigen Geschichtsschreibung mit Foucault zu konstatieren veran lasst gesehen, dass die Diskursanalyse rur den Gutteil der historischen Fachwissen schaft nach wie vor ein fremdländisches und fremdartiges Konzept darstelle. Mithin war der "Diskurs" noch vor nicht allzu langer Zeit trotz seiner inflationären Verwen dung ein nach wie vor "tendenziell subversiver Begriff', und Schöttler fragte im Titel des entsprechenden Aufsatzes in der Zeitschrift "Geschichte und Gesellschaft" bei 2 nahe ebenso subversiv: "Wer hat Angst vor dem ,linguistic turn,?,, Nur kurze Zeit nach Schöttlers Klage über die Unbeweglichkeit der deutschen Historikerzunft forderte mit Hans-Ulrich Wehler tatsächlich einer ihrer prononcierte sten Vertreter, auf die "Herausforderung der Kulturgeschichte" unter anderem "ge ) danklich elastisch" und "nüchtern prüfend'' zu reagieren. Doch die Unbefangenheit, Nüchternheit und gedankliche Elastizität weiter Teile der deutschsprachigen Histo riographie sollten nicht überschätzt werden. So tut auch Wehler noch im selben Atemzug die kulturgeschichtliche Herausforderung als weithin "kurzlebige Chimäre 4 der Modeströmungen ohne dauerhafte Substanz,, ab. Allerdings hat die Kulturge-
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4
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P. Schöttler, "Wer hat Angst vor dem ,linguistic turn'?" In: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), 134- 1 5 1 ; M. Dinges, "The Reception of Michel Foucault's Ideas on Social Discipline, Mental Asylums, Hospitals and the Medica1 Profession in German Historiography", in: C. Jones! R. Porter (Hg.), Reassessing Foucault: Power, Medicine, and Body. London 1994, 1 81-212, 202. H.-U. Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte. München 1998, 13 freilich fordert Wehler diese ,gedankliche Elastizität' ein, damit die Sozialgeschichte "eine ewig junge Wissen schaft" bleiben könne. Wehler, Herausforderung, 13 (Anm. 3). -
schichte ganz im Gegensatz zu dieser Prognose der Kurzlebigkeit eine hohe Beharr lichkeit bewiesen, und auch die Stellung einer Geschichte, die sich auf Foucault stützt und sich als Teil einer erweiterten Kulturgeschichte versteht, hat sich in den letzten Jahren sichtbar verändert. Mittlerweile scheint "Foucaults Geschichte", so der Titel eines Aufsatzes von Ulrich Brieler, auch aus dem Spektrum der deutschsprachi gen Historiographie immer weniger wegzudenken zu sein.s Dies vermögen einige Publikationen aus dem Jahr 2001 zu verdeutlichen. In ei nem Aufsatz mit dem Titel "Diskurstheorie und Geschichtswissenschaft" verweist Philipp Sarasin zwar ähnlich wie Peter Schöttler auf die Abwehrbemühungen, die filhrende Vertreter des Fachs gegen die sogenannte "sprachliche Wende" anstrengen. Schließlich bedeute, so Sarasin weiter, ein Räsonnement über Geschichte, Dis kursanalyse und Dekonstruktion immer auch das möglicherweise riskante Unterfan gen, kritisch zu sein und "das Selbstverständnis der Geschichtsschreibung als Wis senschaft zu reflektieren". Zugleich jedoch stellt Sarasin eingangs dieses Aufsatzes die berechtigte Frage, wer "noch zu jenen gehören [wollte], die ihn [den "linguistic turn"] nicht mitgemacht haben oder die nicht zumindest wissen, wie angesichts von Sprachphilosophie, Semiotik und Diskurstheorie zu argumentieren wäre .?,,6 Sarasin spricht dort, freilich nicht ganz ohne selbst-ironischen Unterton, filr eine permanent wachsende Zahl von Historikerinnen und Historikern, rur die es selbstverständlich ist, kritisch über besagtes Selbstverständnis der Geschichtsschreibung als Wissen schaft nachzudenken, wenn sie eben Geschichte schreiben. Von "Subversion", -wie noch in den 1990er Jahren, kann diesbezüglich allerdings kaum mehr die Rede sein, eher von offensiver Grundlagenreflexion. Dies gilt zumal Sarasins Text in dem ersten Band eines ,,Handbuches Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse" publiziert ist. Dieses Handbuch systematisiert Vorschläge für "die Grundlegung und Durchfilhrung von Diskursanalysen" in den Sozial- und Kulturwissenschaften. Im Gegensatz - oder vielleicht eher: in Ergänzung zu diskurstheoretischen Betrachtungen möchten die Herausgeber im Zuge ihres Projektes ausdrücklich Möglichkeiten zum wissenschaft lichen Umgang mit Diskursen erörtern. Diskurstheorie und Diskursanalyse werden in dem Handbuch maßgeblich in Anlehnung an Michel Foucault sowie an die Modifi zierungen und Weiterentwicklungen seines Diskursbegriffes gedacht und gehand habt. Im Vordergrund des Projektes steht eindeutig die forschungspraktische Dimen..
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U. Brieler, "Foucaults Geschichte", in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), 248-282. P. Sarasin, "Diskurstheorie und Geschichtswissenschaft", in: R. Keller u.a (Hg.), Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse - Band I: Theorien und Methoden. Opladen 2001, 5379.
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sion, was durch den zweiten Band fortgeschrieben wird: Er widmet sich diskursana lytischen "Anwendungen".' Dieses Handbuch ist nicht der einzige Versuch des Jahres 2001, die bisweilen so beklagte "postmoderne Denkverwilderung" mit Foucault als einem ihrer Hauptreprä sentanten zumindest ein wenig zu systematisieren und ftlr ein breiteres Publikum zugänglich zu machen. Auch eine "Einftlhrung in die historische Diskursanalyse" liegt mittlerweile in Buchform vor. Dem Autoren Achim Landwehr ist zuzustimmen, wenn er in der Vorbemerkung den Bedarf ftlr einen solchen Grundlagentext betont, da "wohl kaum ein Zweifel daran bestehen [kann], daß der Ausdruck ,Diskurs' zu einem ganz wesentlichen Bestandteil wissenschaftlicher Überlegungen geworden ist". Unter dem Titel "Geschichte des Sagbaren" fasst Landwehr den Diskursbegriff schärfer, er arbeitet die Konturen einer historischen Diskursanalyse in ihren Anleh nungen und Abgrenzungen heraus und gibt nicht zuletzt auch Hilfestellungen zur praktischen Arbeit. Festzuhalten ist an dieser Stelle vor allem Folgendes: Auch in der Geschichtswissenschaft ist die Untersuchung von Diskursen, die Betrachtung des Denkmöglichen und des Sagbaren in der Vergangenheit, an eine derart prominente . Stelle gerückt, dass bei einem breiteren Publikum von Geschichtsschreibenden und Geschichtslernenden offenbar ein Bedarf ftlr einen einftlhrenden, systematisierenden und verfahrensanleitenden Text besteht.B Ähnliches gilt auch ftlr das weitere Feld der Kulturgeschichte in ihrer gegenwär tigen Spielart, in die Diskursgeschichten im Allgemeinen zu verorten sind - auch wenn deren Thema das "internationale Spekulantenturn", der "Autotest" oder der "Kalte Krieg" ist, um auf die Beispiele zurückzugreifen, mit denen Ute Daniel die Breite möglicher kulturhistorischer ThemensteIlungen in der Einleitung zu ihrem "Kompendium Kulturgeschichte" andeutet. Hier ist nicht (ler passende Ort, um die Bedingungen, die Ebenen und die Implikationen von Kulturgeschichte darzustellen. Zudem kann dies seit neuestern besser in besagtem "Kompendium" nachgelesen werden, das eine erste Synthese der kulturalistischen Wende, ihrer Bedingungen und Nachbeben in der Geschichtsschreibung versucht.9 Mithin signalisiert Daniels Buch einen Wandel, den die Stellung von Kulturgeschichte(n) in der historischen For schungslandschaft während der 1990er Jahre durchlaufen hat: Einerseits waren in den zurückliegenden Jahre� mit Blick auf die Kulturgeschichte zunächst aus einem 7
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R. Keller u.a., ,,zur Aktualität sozialwissenschaftlicher Diskursanalyse - Eine Einftlhrung", in: Dies. (Hg.), Bd. I (Anm. 6), 7-27. Band 2: Anwendungen. Opladen 2002 (i.E); siehe auch R. Keller, Diskursanalyse: Eine Einftlhrung ftlr Sozialwissenschaftier. Opladen 2002 (i.E.). A. Landwehr, Geschichte des Sagbaren: Einftlhrung in die Historische Diskursanalyse. Tübingen 2001, 7. U. Daniel, Kompendium Kulturgeschichte: Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. FrankfurtlM. 2001 .
sozialhistorisch angeleiteten Denken heraus verschiedene EinschließungsbemUhun gen im Sinne einer nachholenden Modernisierung der Sozialgeschichtsschreibung unternommen worden.10 Andererseits wurden in dieser Zeit offen konzipierte und einleitend kommentierte Anthologien von SchlUsseltexten zur Kulturgeschichte vor gelegt, die auf diese Art versuchten, der Offenheit von kulturhistorischen Theorien, Methoden und Diskussionen Rechnung zu tragen.lI Gegenwärtig, im Jahr 2001, ist schließlich eine neue Art des Umgangs mit Kulturgeschichte möglich geworden: Nach Jahren der Diskussion und Reflexion kann man nun offenbar zumindest den Versuch wagen, "Theorien, Praxis und SchlUsseiwörter" der Kulturgeschichte zwi schen zwei Buchdeckeln in einem "Kompendium" zu fassen. Man kann diesen Ver such bewerten wie man will, fest steht, dass die Kulturgeschichte in ihrer gegenwär tigen Ausprägung mittlerweile zum historiographischen Kanon gehört und einen allgemein so großen Zuspruch erfiihrt, dass eine zusammenfassende Charakterisie rung in Form eines Handbuches angebracht erscheint und ein Lesepublikum findet. Ute Daniel entwirft in ihrem Kompendium ein dreiteiliges kulturhistorisches Credo, aus dem ich hier nur den zweiten Punkt herausgreifen möchte: Die Weltwahr nehmungen und Selbstentwürfe der Geschichtsschreibenden materialisieren sich in ihren Geschichten, in der Wahl ihrer Objekte ebenso wie in der Wahl ihrer Methoden und Sichtweisen.12 Wenn dem in der Tat so ist - und schließlich hat seit Leopold von Ranke ja niemand mehr wirklich daran gezweifelt, dass historisches Arbeiten stand ortgebunden ist und als solches auch der Reflexion bedarf3 - dann signalisieren Arbeiten wie das "Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse", die Einfiih rung in die "Geschichte des Sagbaren" oder das "Kompendium Kulturgeschichte" nicht nur die Verfestigung eines veränderten Erkenntnisinteresses im Bereich der Wissenschaften, was ja an sich schon bemerkenswert genug wäre. Sie verweisen darUber hinaus auf eine grundlegende Verschiebung des zeitgenössischen Wahrneh mens und Denkens, der Selbst- und Fremddiagnose von individuellen und kollekti ven Lebensweisen durch die Geschichtsschreibenden und die Kulturen, in denen sie leben. 10 Siehe etwa W. Hardtwigl H.-U. Wehler (Hg.), Kulturgeschichte Heute (00; SH 16). Göttingen 1 996; vgl. mit Einschränkung auch T. MergeV T. Wellskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft: Beiträge zur Theoriedebatte. München 1 997. 1 1 Vgl. C. Conradl M. Kessel (Hg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne: Beiträge zur aktu ellen Diskussion. Stuttgart 1994; dies. (Hg.), Kultur & Geschichte: Neue Einblicke in eine alte Beziehung. Stuttgart 1998. 12 Daniel, 17-19 (Anm. 9). 13 Vgl. etwa L. von Ranke, Englische Geschichte vornehmlich im 17. Jahrhundert. Stuttgart 1955 (Nachdruck 1848-1854), 3-10, wo von Ranke eine geografisch-kulturelle Standortgebundenheit von Historikern beschreibt.
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11. F oucault und die deutschsprachige Historiographie Festzuhalten bleibt, dass Kulturgeschichte, Diskursgeschichte und Foucault derzeit in aller Munde sind. Man braucht nicht mehr zu zischeln, wenn man von Diskursen, Bio-Macht und Subjektivierung spricht, und man kann mittlerweile auch in solchen wissenschaftlichen Zeitschriften darüber schreiben, deren Titel nicht so sehr Pro gramm ist wie bei dem Diskursjoumal "kultuRRevolution".'4 Was - wie es bei der Kulturgeschichte und der Foucaultschen Diskursanalyse inzwischen der Fall ist - als "ready reference" verftlgbar ist, muss zwar nicht unbedingt das Axiom der Ge schichtsschreibung schlechthin sein, kann aber andererseits auch nicht mehr derart randständig sein. Zieht man des weiteren die Resonanz in Betracht, die die verschie 1S denen Foucault-Tagungen im Herbst 2001 erfahren haben, so drängt sich doch die Frage auf, wie das Zusammenfinden von Foucault und Historiographie über so viele Jahre hinweg offenbar die Geschichte "verpasster Rendezvous" sein konnte, als die sie Ulrich Brieler neulich beschrieben hat. Die schwierige Beziehung zwischen Foucault und der deutschsprachigen Geschichtsschreibung ist in regelmäßigen Ab ständen aufgearbeitet worden. Detlef Peukert, Martin Dinges und Ulrich Brieler konstatieren in ihren entsprechenden Texten weitgehend Nichtbeachtung, Missver ständnisse und Fehldeutungen Foucaults durch die Historiographie.16
14 kultuRRevolution: zeitschrift rur angewandte diskurstheorie, hg. v. J. Link in Zusammenarbeit mit der Diskurs-Werkstatt Bochum - siehe dort z.B. einen Beitrag von P. Schöttler, "Sozialge schichte, ,Erfahrungsansatz' und Sprachanalyse", in: kultuRRevolution 1 1 (1986), 56-60. 1 5 "Michel Foucault: Zwischenbilanz einer Rezeption", 27. bis 29. September 2001, FrankfurtlM., Johann Wolf gang Goethe-Universität; "Geschichte schreiben mit Foucault", 5./6. Oktober 2001, Hamburg, Aby-Warburg-Haus; vgl. auch F. Bretschneider, ,,Harmlose Begegnungen: Die (Neu-) Entdeckung Michel Foucaults in der deutschen Geschichtswissenschaft: Ein Tagungsbericht", in: Comparativ 12,1 (2002), 1 1 8-123. 1 6 Ich beziehe mich im Folgenden vor allem auf die Beitrage von D. J. K. Peukert, "Die Unordnung der Dinge: Michel Foucault und die deutsche Geschichtswissenschaft", in: F. Ewaldl B. WaIden fels (Hg.), Spiele der Wahrheit: Michel Foucaults Denken. FrankfurtlM. 1991, 320-333; Dinges, "Reception", 1 8 1 -212 (Aßm. 2); ders., "Michel Foucault's Impact on the German Historiography of Criminal Justice, Social Discipline, and Medicalization", in: N. Finzschl R. JOtte (Hg.), Insti tutions of Conftnement: Hospitals, Asylurns, and Prisons in Western Europe and America, 1 5001900. Oxfordl New York 1997, 155- 1 74, auf den Vortrag von Martin Dinges in Frankfurt sowie auf die Vorträge Ulrich Brielers in Frankfurt und Hamburg mit dem Titel "Verpaßte Rendezvous und verungluckte Begegnungen: Michel Foucault in der deutschen Geschichtswissenschaft"; ich danke Ulrich Brieler rur die Einsicht in sein Manuskript, das in uberarbeiteter Form in dem Frankfurter Tagungsband (vermutl.: A. Honnethl M. Saar (Hg.), Zwischenbilanz einer Rezepti on: Die Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. FrankfurtlM. 2003) publiziert werden wird.
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Eine Foucault-Rezeption, da sind sich die Chronisten einig, hat in der deutsch sprachigen Geschichtsschreibung bis in die frUhen I 990er Jahre hinein nicht wirklich stattgefunden. In den Reihen der Fachhistoriker gilt Dirk B lasius als Wegweiser und zugleich als die große Ausnahme seiner Zeit, da er schon 1 983 "das Lohnende einer Beschäftigung mit diesem Denker auch rur Historiker" herausstellte. Dabei arbeitete Blasius mit seinen eigenen Analysen des Wahnsinns und der totalen Institution auch inhaltlich in Bereichen, die denen Foucaults entsprachen. " Ansonsten fand eine historiographische Rezeption Foucaults wenn überhaupt, dann in historisch angeleg ten Arbeiten aus Nachbardisziplinen statt. Seien es der Psychiater Klaus Dömer, der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Dreßen, die Soziologin Claudia Honegger oder die Soziologen Stefan Breuer, Hubert Treiber und Heinz Steinert, selten waren es Fachhistoriker im engeren Sinne, die sich mit Foucaults Denken auseinandersetz ten.18 Überhaupt scheinen sich manche der Nachbarwissenschaften zwar nicht leicht, aber doch leichter mit der Rezeption Foucaults getan zu haben. So schrieb Birgit Althans im Jahr 200 I mit Blick auf die Erziehungswissenschaften, "die deutsche Foucault-Rezeption [in der Pädagogik] scheint ihren Höhepunkt in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts gehabt zu haben,,19 - dies jedenfalls ließe sich rur die Ge schichtswissenschaft keinesfalls konstatieren. Ganz im Gegenteil dazu verwies Detlef Peukert Ende der 1 980er Jahre (auf der bis zum Herbst 2001 letzten deutschen Foucault-Konferenz) auf ein ,jahrzehntelanges Schweigen der Historiker-Zunft". In keiner historischen Fachzeitschrift ist auch nur eine der "großen" Arbeiten Foucaults
17 Siehe u.a. D. Blasius, "Michel Foucaults ,denkende' Betrachtung der Geschichte", in: Kriminal soziologische Bibliographie 10 (1983), 69-83, insb. 69; ders., Der verwaltete Wahnsinn: Eine Sozialgeschichte des Irrenhauses. FrankfurtlM. 1980; ders., "Einfache Seelenstörung": Ge schichte der deutschen Psychiatrie 1800-1945. FrankfurtlM. 1994. 18 K. Dörner, Bürger und Irre: Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie. FrankfurtlM. 1969; W. Dreßen, Die pädagogische Maschine: Zur Geschichte des industrialisier ten Bewußtseins in PreußenlDeutschland. FrankfurtlM. u.a. 1982; S. Breuer, "Sozialdisziplinie rung: Probleme und Problemverlagerungen eines Konzepts bei Max Weber, Gerhard Oestreich und Michel Foucault", in: C. Sachße/ F. Tennstedt (Hg.), Soziale Sicherheit und Soziale Diszi plinierung. FrankfurtlM. 1986, 45-69; ders.: "Foucaults Theorie der Disziplinargesellschaft: Eine Zwischenbilanz", in: Leviathan, 3 (1987), 319-337; C. Honegger, Überlegungen zu Michel Foucaults Entwurf einer Geschichte der Sexualität. Phi\. Diss. Bremen 1980; dies., "Michel Foucault und die serielle Geschichte: Über die Archäologie des Wissens", in: Merkur 36 (1982), 500-523; H. Treiberl H. Steinert, Die Fabrikation des zuverlassigen Menschen: Über die "Wahl verwandtschaft" von Kloster- und Fabrikdisziplin. München 1980. 19 B. Althans, "Transformationen des Individuums: Michel Foucault als Performer seines Diskurses und die Pädagogik der Selbstsorge", in: C. Wulf u.a. (Hg.), Grundlagen des Performativen: Eine Einfllhrung in die Zusammenhänge von Sprache, Macht und Handeln. Weinheiml München 2001, 129-155, hier 150.
13
rezensiert worden, und die erste historische Dissertation über Foucault datiert auf das Jahr 1995. Wenn die Fachhistoriker so weitermachten, befUrchtete Martin Dinges Anfang der 1990er Jahre, dann verlören sie das Feld an Soziologen, Philosophen und Journalisten mit beständig wachsenden historischen Interessen. 2o Die offenkundige und lang anhaltende Verweigerung der Geschichtsschreibung, Foucault als eine eventuelle Bereicherung und als einen möglicherweise fruchtbaren Input wahrzunehmen, ist sicherlich nicht zuletzt auf die Andersartigkeit seines Den kens zurUckzufllhren, das als destruktiv und auch als Provokation empfunden wurde. Fragt man nun, was fllr die Geschichtswissenschaft das eigentlich Provozierende an Foucault war (und stellenweise immer noch ist), so ist sicherlich zunächst folgende Tatsache zu nennen: Hier meldete sich ein Philosoph in der Geschichte lauthals zu Wort, der darüber hinaus bewusst mit Prämissen des historischen Arbeitens brach und fllr sich "mit anmaßend avantgardistischer Attitüde,,21 eine Erneuerung der Ge schichtsschreibung in Anspruch nahm. Dabei geizte er bisweilen nicht mit spötti schen Äußerungen über seine Historiker-Kollegen. So muss man sich gegen Ende der "Archäologie des Wissens" erklären lassen, das Ansinnen der Ideengeschichte, ent weder die "Traditionsverbundenheit" oder die "irreduzible Einzigartigkeit" eines bestimmten Textes hervorzukehren, "bis auf die ersten Keime zurückzugehen oder bis zu den letzten Spuren hinabzusteigen, [ ...], das alles sind liebenswerte, aber ver spätete Spielchen von Historikern in kurzen Hosen". 22 Foucault interessierte sich nicht fllr solche Textlinien, und auch nicht rur Ketten angeblicher Kausalitäten oder die verstehende Rekonstruktion von individuellen Intentionen. Er ist mithin kein Hermeneutiker, das verstehende und die Geschichte leitende Subjekt existiert bei Foucault nicht. Dessen radikale Historisierung in der "Ordnung der Dinge" mündete sogar in der weithin als erschreckend empfundenen Erkenntnis, dass "der Mensch [ ...] eine Erfindung [...] jungen Datums" sei. Sie gipfelte in der noch erschreckende ren Prognose, dass diskursive Verschiebungen den modernen Menschen als solchen auch wieder "verschwinden" lassen könnten, "wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand".23 Folglich brach Foucault nicht nur mit sämtlichen etablierten historischen Methoden, sondern auch, und dies mag die wissenschaftspolitisch folgenreichste Provokation gewesen sein, mit dem optimistischen Fortschrittskonzept einer bestän20 Peukert, insb. 321, 322 (Anm. 16); Dinges, ,.Reception", 183, 205 (Anm. 2); Dinges, »Foucault's Impact", 157, 174 (Anm. 16); vgl. zur ersten Dissertation eines Historikers Ober Foucault U. Brieler, Die Unerbittlichkeit der Historizität: Foucault als Historiker. Köln U.&. 1998; vgl. neulich auch M. Maset, Diskurs, Macht und Geschichte: Foucaults Analysetechniken und die historische Forschung. FrankfurtlM.I New York 2002 (i.E.). 21 Honegger, �ichel Foucault", 500 (Anm. 18). 22 AdW (1994), 205. 23 OdD (1994), 462.
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digen Modernisierung und Rationalisierung von Gesellschaft hin zur Humanität, die untrennbar an eine voranschreitende Subjektwerdung des Menschen gebunden ist.24 "Die Provokationen stehen da. Die Debatte ist [allerdings] noch nicht eröffnet", konstatierte Peukert vor nunmehr beinahe eineinhalb Jahrzehnten. Zu groß war ftlr weite Teile der bundesdeutschen Geschichtsschreibung offenbar der Affront und die Fremdheit Foucaultschen Denkens, als dass eine unbefangene Diskussion oder gar Rezeption möglich gewesen wäre.2S Zu groß war offenbar die ausgelöste Verunsiche rung, als dass eine solche Debatte ernsthaft, auf breiter Basis, produktiv und im Rahmen einer größeren Öffentlichkeit hätte geftlhrt werden können. Vielmehr schien weiten Teilen der etablierten und zugleich irritierten Historiographie das Ende der Geschichte und ihrer Wissenschaftlichkeit zu drohen, zumindest das Ende der be kannten, in den historischen Instituten und auf den großen Fachtagungen weithin gelehrten Geschichte.26 Schließlich gründete diese Geschichte bisweilen explizit, zumeist aber implizit auf der Annahme, empiristisch, dokumentarisch und letztlich doch weitestgehend objektiv zu sein. Jürgen Kocka wähnte sich im September 1992 auf dem 39. Deutschen Historikertag in Hannover zumindest in Deutschland noch in Sicherheit, und er äußerte sich erfreut darUber, "daß diese Postmodernismen hierzu lande noch nicht richtig gelandet sind, jedenfalls noch kaum in den historischen Wissenschaften". 27 In Folge einer solchen Verweigerungshaltung und der immer vehementeren öf fentlichen Abwehrgefechte blieb es lange Zeit weitgehend unbemerkt, dass Foucault eigentlich ein überaus reizvol!�� Angebot an die Adresse der Geschichtsschreibung . formuliert hatte. Schließlich gründeten die so besorgniserregenden Erwägungen Foucaults über das Verschwinden des Subjekts als ontologische Größe und die Absa ge an die Vorstellung einer beständigen Modernisierung sowie einer teleologischen Geschichte in dem Konzept einer vollkommenen Historizität allen Seins und Den kens - nicht mehr und nicht weniger. Nichts ist ewig, alles ist veränderlich, da es
24 Peukert, 323 (Anm. 16); Dinges, "Reception", 187 (Anm. 2); Dinges, "Foucault's Impact", 158160 (Anm. 16); vgl. auch P. Sarasin, "Subjekte, Diskurse, Körper: Überlegungen zu einer dis kursanalytischen Kulturgeschichte", in: Hardtwigl Wehler (Hg.) (Anm. 10),131-164. 25 Ulrich Brieler verweist auf eine frühe und unbefangene, "neugierige und verhandlungsbereite" medizinhistorische Rezension der foucaultschen Arbeit Uber den Wahnsinn als "seltenes GlUck"; Brieler, "Verpaßte Rendezvous" (Anm. 16), Uber W. Leibbrand, ,,Das Geschichtswerk Michel Foucaults", in: SudhotTs Archiv 48 (1964), 352-359. 26 Siehe z.B. E. Hanisch, "Die linguistische Wende: Geschichtswissenschaft und Literatur", in: Hardtwigl Wehler (Hg.) (Anm. 10), 212-230,insb. 217. 27 Schöttler, "Wer hat Angst?", 146-151 (Anm. 2); zusammenfassend Landwehr, 54-62 (Anm. 8); J. Kocka, ,,Perspektiven ftlr die Sozialgeschichte der neunziger Jahre", in: W. Schulze (Hg.), So zialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie. Göttingen 1994,33-39, 38.
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immer in historisch-spezifischen Konfigurationen ent- und besteht. Historizität ist das Zauberwort, denn alles birgt die Möglichkeit der Vergänglichkeit in sich.28 Damit erhebt Foucault die Geschichte zur Königsdisziplin. Denn es geht in Foucaults Pro gramm um mehr, als "nur" um die "Revolutionierung der Geschichte",29 wie der programmatische Titel eines Buches von Paul Veyne über Foucault aus dem Jahr 1978 lautet. Schließlich werden durch dieses Wissen um die Historizität vergangenen Denkens und Handeins auch die Selbstverständlichkeiten des gegenwärtigen, des eigenen Daseins in Frage gestellt. Das ,,zerstören der Evidenzen und Universalien" hat Foucault einmal als die Aufgabe der Intellektuellen bezeichnet, und wer könnte das innerhalb dieses Konzeptes unerbittlicher Historizität besser leisten als die Histo rikerinnen und Historiker?lo Aus diesem Blickwinkel heraus, der nicht die Dogmen, sondern das Ethos der Forschenden fokussiert, wandelt sich der angebliche ,,Aufklä rungsfeind" Foucault in einen vehementen Verfechter aufklärerischer Prinzipien. Indem eine Geschichtsschreibung mit Foucault die gewachsenen Denk-, Wahrneh mungs- und Handlungsschemata in ihrer Historizität entlarvt, raubt sie ihnen den Nimbus der Selbstverständlichkeit. Die Bedingungen menschlichen Daseins werden freigelegt, jeglicher Glaube an und Verlass auf als "natürlich" empfundene Autorität wird zerschmettert - der Austritt aus der Unmündigkeit ist Programm.ll Bereits vor gut einem Jahrzehnt verwiesen die Foucault-Chronisten darauf, dass eine ernsthafte Diskussion über die Leistungsfiihigkeit dieses foucaultschen Pro grammes fUr die Geschichtswissenschaft nicht auf ewig verschoben werden könne. Vielleicht, so war und ist in den Annalen der Foucault-Rezeption zu vernehmen, bedürfe es einer neuen Generation von Historikerinnen und Historikern, um dieses Programm zu testen - einer jüngeren Generation, die nicht so sehr in den historiogra phischen Traditionen der Bundesrepublik verhaftet seLJ2 Erst dann könne das in häufig fremdartigen Vokabeln und sperriger Sprache formulierte Projekt eines fran-
28 29 30 31
Vgl. hierzu auch Brieler, "Foucaults Geschichte", 252 (Anm. 5). P. Veyne, Foucault: Die Revolutionierung der Geschichte. FrankfurtlM. 1992 (Paris 1978). SuW2 (2000), 15-16; das Zitat stammt aus NzKS, 198; Brieler, Unerbittlichkeit (Anm. 20). WiK; WiA; M. Mahon, Foucault's Nietzschean Genealogy: Truth, Power, and the Subject. Albany, NY 1992, 180-183; G. Deleuze, Foucault. FrankfurtlM. 1995 (Paris 1986), 86; R. J. Bernstein, "Foucault: Critique as a Philosophical Ethos", in: M. KeHy (Hg.), Critique and Power: Recasting the FoucaultJHabermas Debate. Cambridge, MAI London 1995, 211-241; vgl. auch T. Lemke, Eine Kritik der politischen Vernunft: Foucaults Analyse der modemen Gouvernementa lität. Berlinl Hamburg 1997, 267-268. 32 Peukert, 324 (Anm. 16); Dinges, , ,Reception", 202 (Anm. 2); Brieler, "Verpaßte Rendezvous" (Anm. 16), mit Verweis auf die historiographische Wachablösung und das Generationenportrat von P. Nolte, "Die Historiker der Bundesrepublik: ROckblick auf eine ,lange Generation''', in: Merkur 53, 5 (1999), 413-432.
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zösischen Philosophen, eine veränderte Geschichtsschreibung in das Zentrum der sozial- und Kulturwissenschaften zu rücken, in der deutschsprachigen Historiogra phie vielleicht breiter und erkenntnisleitender aufgenommen und auch erprobt wer den. Diese Prognosen deckten sich nicht zuletzt mit der Erfahrung, dass die Rezepti on Foucaults zunächst an den Rändern des historiographischen Feldes stattfand. Dies hatte sich in den 1980er Jahren gezeigt, als es bekanntermaßen zunächst weniger die Fachhistoriker waren, die sich Foucault zuwandten, als vielmehr Geschichtsschrei bende aus Nachbardisziplinen. Dies zeigte sich auch in den neunziger Jahren, als vor allem Studierende wie Promovierende der Geschichtswissenschaft immer mehr und immer lauter über Foucault diskutierten und auch mit Foucault arbeiteten,33 während auf den offiziellen Tummelplätzen der großen Historiographen noch weithin Ab wehrgefechte geschlagen wurden - wenn man dort Foucault Oberhaupt zur Kenntnis nahm. Im Jahr 1 994 forderte Gerard Noiriel im "Journal of Modem History", Foucault in die Sprache der Historiker zu übersetzen, um seine Wahrnehmung mög lich zu machen und mit ihm Geschichte schreiben zu können.34 Vielleicht, so könnte man heute meinen, hat sich in den letzten Jahren mit dem Generationenwechsel tat sächlich ein komplementärer Prozess in diese Richtung zu vollziehen begonnen: Nicht nur wird Foucault durch die wachsende historiographische Adaption in die Sprache der Geschichtsschreibenden übersetzt, sondern auch die Sprache der Ge schichtsschreibenden hat sich seitdem von den besagten Rändern des Feldes ausge hend zumindest ein wenig gewandelt. Mittlerweile wollen und können immer mehr Historiker und Historikerinnen Foucault lesen - darauf habe ich eingangs unter Be zugnahme auf die verschiedenen grundlegenden Texte des Jahres 200 1 verwiesen. Mit dem üblichen produktionsbedingten "time-lag" hat sich in den letzten Jahren ein entsprechendes Korpus historischer Schriften herausgebildet, die auf die ein oder andere Art von Foucaultschem Denken geprägt sind. Anlehnungen an Foucaults Ausführungen, so hebt Achim Landwehr hervor, "sind inzwischen so weit verbreitet, daß eine diskursanalytische Untersuchung der Diskursanalyse zumindest für manche Bereiche zu dem Ergebnis kommen würde, daß die Diskursanalyse längst zum offizi ellen Diskurs geworden ist"?S Diesbezilglich und mit Blick auf die folgenden Be trachtungen gilt es, dreierlei vorwegzuschicken: Erstens ist für eine solche Dis kursanalyse der Diskursanalyse hier nicht der passende Ort. Ich möchte im Folgen den lediglich exemplarisch auf einige ausgewählte Texte verweisen, ohne sie weiter
33 Beispielhaft sei hier nur die "AG postmoderne Geschichtstheorie" genannt, die am Historischen Seminar der Universität Hamburg seit 1995 besteht. 34 G. Noiriel,"Foucault and History: The Lessons of a Disillusion", in: Journal of Modem History 66 (1994),547-568. 35 Landwehr, 75 (Anm. 8).
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zu analysieren. Derart soll nur die Breite der mittlerweile durchgespielten Möglich keiten angedeutet werden, mit Foucault Geschichte zu schreiben. En Detail soll ja nicht zuletzt der vorliegende Band die Ergiebigkeit solcher Versuche zeigen. Zwei tens ist sicherlich Peter Schöttler zuzustimmen, der hervorhebt, dass nicht überall, wo Foucault drauf steht, auch Foucault drin steckt.36 Drittens existiert aber auch eine zunehmende Anzahl historischer Arbeiten, in denen Foucault weitestgehend unbe fangen drin steckt, ohne dass er außen in großen Lettern drauf steht. Solche Arbeiten repräsentieren einen historiographischen Diskurs, in dem sich die Konstellation der Aussagen verschoben hat. Es ist immer noch nicht selbstverständlich, aber doch selbstverständlicher geworden, historische Phänomene im Sinne Foucaults anzuge hen, ohne in jeder Fußnote auf ihn zu verweisen. So sind seit den 1 990er Jahren historische Arbeiten erschienen, die sich unter Be zugnahme auf Foucaultsche Theoriebildung mit den verschiedensten Phänomenen in den verschiedensten Zeiträumen auseinandersetzen. Hier wäre zum einen auf Unter suchungen zu verweisen, die im weitesten Sinne rechtshistorische Themen aus einer gänzlich veränderten Perspektive betrachten. Solche Arbeiten wenden sich so dispa raten Bereichen wie Ehrkonflikten im Paris des 1 8. Jahrhunderts, der Geschichte der Strafanstalten oder der Todesstrafe im 18. und 1 9. Jahrhundert oder Sittlichkeitsver brechen im Kaiserreich zu. Gemein ist diesen Arbeiten, dass sie Delikte und Strafen, Recht und Normsetzungen, Rechtsordnungen und Gerechtigkeitsvorstellungen inner halb von zeitgenössischen Denkstrukturen, LebensentwUrfen und Handlungsräumen erfassen und in Wissens- und Machtbeziehungen verorten. So werden Delinquenz, Strafe, Recht und Normen, aber auch Identitätszuschreibungen als Ausdruck histo risch-spezifischer, kultureller Verfasstheit und gesellschaftlicher Ordnung aufge schlüsselt - mehr noch: die kontingenten EntwUrfe von Delinquenz, Strafe, Recht und Norm tragen maßgeblich dazu bei, diese gesellschaftlichen Ordnungen und Identitäten als Ausdruck von Wissens- und Machtbeziehungen entstehen zu lassen. 37 Auch über dieses Spektrum hinaus sind Ordnungs- und IdentitätsentwUrfe ein Forschungsthema, das maßgeblich von Foucault angeregt und beeinflusst ist. So kann die Historizität und Spezifität von Vorstellungen des Mensch- oder BUrgerseins beispielsweise an Hand der Geschichte männlicher Jugendlicher in den USA zur Zeit 36 Schöttler, "Wer hat Angst?", 141 (Anm. 2)- vgl. auch die Beispiele dort in Fußnote 17. 37 M. Dinges, Der Maurermeister und der Finanzrichter: Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1994; T. Hommen, Sittlichkeitsverbrechen: Sexuelle Gewalt im Kaiserreich. FrankfurtlM.I New York 1999; J. Martschukat, Inszeniertes Töten: Eine Geschichte der Todesstrafe vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Köln u.a. 2000; ders., "Diskurse und Gewalt: Erörterungen zu einer Geschichte der Todesstrafe im 18. und 19. Jahrhundert", in: R. Keller u.a. (Hg.), Bd. 2 (Anm. 7); T. Nutz, Strafanstalt als Besserungsmaschine: Reformdiskurs und Ge flIngniswissenschaft, 1775-1848. München 200 1.
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der Weltwirtschaftskrise gezeigt werden. In Arbeitscamps sollten sie nach Maßgabe der dominanten Diskurse als ordentliche, arbeitsame und fleißige Staatsbürger pro duziert werden - bis in die Poren ihrer Körper hinein?8 Diese Historizität und Spezi fität kann auch, um auf ein gänzlich anderes historisches Feld zu verweisen, durch die Untersuchung der europäischen Hygienker seit dem späten 18. Jahrhundert vor getllhrt werden, die "der Sorge um sich" verpflichtet waren - ebenfalls in einer über aus körperlichen Dimension. 39 Überhaupt sind weite Teile der gegenwärtigen Körpergeschichte ohne das Wiren k Foucaults und die Auseinandersetzung mit ihm nicht denkbar. Mit Foucault verlieren Körper ihre ahistorische Stabilität, und sie müssen vielmehr als historisch spezifische Ergebnisse diskursiver Zuschreibungen und Konstruktionsleistungen verstanden werden. Hervorzuheben ist, dass sich Körper und Sprache keineswegs in klar voneinander getrennten, sondern in interdependenten Segmenten bewegen und zueinander in einem wechselseitig konstitutiven Verhältnis stehen. Folglich bezwei felt auch eine diskursanalytische Geschichtsschreibung nicht, dass es noch" etwas anderes als Texte gibt - die Frage ist allerdings, wie die zunächst nicht-textuellen Welten ihre Bedeutungen erlangen, in welchen Ordnungen sie erscheinen und in welchen Codierungen sie erfahrbar werden.40 Dass dies nicht nur über sprachlich verfasste Definitionsversuche und Bestimmungen, sondern auch über äußerst körper liche (Selbst)Praktiken funktioniert, tllhrt u.a. besagte Geschichte der Hygiene und der Hygieniker vor, die Philipp Sarasin geschrieben hat. Sarasins Buch über "Reizba re Maschinen,,41 bringt zudem eine neuerliche Verlagerung der historischen Foucault Rezeption zum Ausdruck, die sich in letzter Zeit vollzogen hat und die sich auch in dem hier vorliegenden Band deutlich niederschlägt. Noch vor einem knappen Jahr zehnt hatte man getrost behaupten können, dass jedwede Wahmehmung Foucault scher Schriften, die nach dem eintllhrenden Band von "Sexualität und Wahrheit"
38 O. Stieglitz, 100 Percent American Boys: Disziplinierungsdiskurse und Ideologie im Civilian Conservation Corps, 1933-1942. Stuttgart 1999; vgl. speziell zur körperhistorischen Dimension ders., ,,'not mishappen creatures, but unshaped': Konstruktionen maskuliner Körperbilder im Ci vilian Conservation Corps, 1933-1942", in: 1999 14 (1999), 13-34. 39 P. Sarasin, Reizbare Maschinen: Eine Geschichte des Körpers, 1 765-1914. FrankfurtlM. 200 1 . 40 H. Stoff, ..Diskurse und Erfahrungen: Ein Rückblick auf die Körpergeschichte der neunziger Jahre", in: 1999 14 (1999), 142- 160; Sarasin, ..Subjekte", 1 57-1 58 (Anm. 24); ders., ..Mapping the Body: Körpergeschichte zwischen Konstruktivismus, Politik und ,Erfahrung"', in: Histori sche Anthropologie 7 (1999), 437-451 ; S. Krasmann, "Simultaneität von Körper und Sprache bei Michel Foucault", in: Leviathan 23 (1995), 240-262; dies., "Körper hervorbringen: Zur konstitu tiven Funktion von Diskursen bei Foucault", in: femina politica 8, 2 (1999), 32-40; M. Lorenz, Leibhaftige Vergangenheit: Einfilhrung in die Körpergeschichte. Tübingen 2000. 41 Sarasin, Reizbare Maschinen (Anm. 39).
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erschienen sind, in der Geschichtsschreibung nicht gegeben sei. Somit war im Kon text einer Rezeptionsgeschichte auch jede Diskussion der Bände zwei und drei der Foucaultschen Sexualitätsanalyse hinfilllig. Mittlerweile jedoch scheinen Erwägun gen des sogenannten "späten Foucault" mit aller Macht auch in die Historiographie zu drängen. Fragen der Gouvernementalität, des Regierens durch FremdfUhrungen und Selbstpraktiken sind überaus aktuell in der gegenwärtigen sozial- und kulturwis senschaftlichen Debatte bis in die Geschichtsschreibung hinein.42 Das Spektrum der von Foucault inspirierten Geschichten, die in den letzten Jah ren veröffentlicht wurden, ist mit diesem kurzen Abriss freilich nur angedeutet. Be schränkt man sich auf die neuere Historie und auf Autorinnen und Autoren des deutschsprachigen Raumes, so liegen neben den bereits erwähnten Untersuchungen weitere diskursanalytisch-kulturhistorische Studien in so unterschiedlichen Feldern wie der politisch-ökonomischen Erkenntnisbildung und Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert, dem Alter in der Neuzeit, dem Rassismus oder der Elektrizität vor. 4 3 Nicht alle, aber die meisten der genannten Arbeiten beziehen sich direkt auf Foucault. Alle jedoch, so wage ich zu behaupten, wären ohne die maßgeblich von Foucault getragenen historiographischen Verlagerungen der letzten Jahre nicht mög lich gewesen. "Last but not least" ist zu betonen, dass das, was fUr die Körperge schichte gilt, auch fUr die Geschlechtergeschichte zutreffend ist. Erstens sind die beiden Felder sicherlich spätestens seit der Konjunktur der Texte Judith Butlers als in hohem Maße aneinander gebunden zu denken.44 Zweitens hat Foucault einen we-
42 SuW2; SuW3 (2000); vgl. zur Konjunktur der Gouvemementalität in den Sozialwissenschaften T. Lemkel S. Krasmannl U. Bröckling, "Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttech nologien", in: Bröcklingf Krasmannl Lemke (Hg.), Gouvemementalität der Gegenwart: Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. FrankfurtlM. 2000, 7-40; Dinges, ,,Reception", 1 82 (Anm. 2), konstatierte Anfang der 1 990er Jahre: "Later works of Foucault's [als SuW I ] have been exc1u ded from the analysis because historians have not incorporated them into the debate on our to pies". 43 M. Sandl, Ökonomie des Raumes: Der kameralwissenschaftliche Entwurf der Staatswirtschaft im 1 8. Jahrhundert. Köln u.a 1 999; G. Göckenjan, Das Alter würdigen: Altersbilder und Be deutungswandel des Alters. FrankfurtIM. 2000; H. Stoff, Die Verbesserung des Menschen: Kanstliche und Natiirliche Verjüngung, 1889-1936. Phil. Diss. Hamburg 2001; L. Schröder, Sla ve to the Body: Black Bodies, White No-Bodies and the Regulative Dualism of Body-Politics in the Old South. Phil. Diss. Hamburg 200 1 ; N. Finzsch, "Racism and the Construction of Social Reality", in: Historical Social Research - Historische Sozialforschung 22 (1997), 3-28; B. Bin der, Elektrifizierung als Vision: Zur Symbolgeschichte einer Technik im Alltag. Tübingen 1999. 44 Hier sei insbesondere verwiesen auf J. Butler, Das Unbehagen der Geschlechter. FrankfurtIM. 1991; dies., Körper von Gewicht: Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin 1 995 (New York 1 993); dies., Psyche der Macht: Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt 2001 (Stanford, CA 1 997).
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sentlichen Beitrag zum theoretischen Instrumentarium der Geschlechtergeschichte geleistet, auch wenn das Geschlecht selbst rur Foucault offenbar eine weitestgehend neutrale Kategorie darstellte und in seinen Analysen kaum Beachtung fand. Ge schlecht als diskursiv konstruiert und als Teil von Wissens- und Machtkategorien zu denken, hat sich etabliert. Dabei bietet Foucaults Diskurs- und Machtkonzept die Möglichkeit, so Barabara Hey, ,,'Geschlecht' weder biologistisch, noch rein als Un terdrUckungsapparat zu konzipieren".4s Drittens können sämtliche oben genannte Themenfelder unter Einbeziehung der Kategorie Geschlecht bearbeitet werden, und auch die in diesem Buch versammelten Beiträge verdeutlichen die zentrale Stellung geschlechterhistorischer (und auch körperhistorischer) Zugriffe.46
III. Geschichte schreiben mit Foucault Konkrete Erprobungsversuche scheinen die derzeit produktivste Form der Auseinan dersetzung mit dem Denken Foucaults in der Geschichtsschreibung zu sein. Gewiss ist die rein theoretische Diskussion über Foucault und die Historiographie keines wegs abgeschlossen. Wahrscheinlich ist sein Denken zu vielfältig, manchmal zu sperrig und immer wieder zu überraschend, als dass dies überhaupt jemals der Fall
45 B. Hey, Women's History und Poststrukturalismus: Zum Wandel der Frauen und Geschlechter geschichte in den USA. Pfaffenweiler 1995, 91, 161-165; siehe zur produktiven Auseinanderset zung der Geschlechter- undloder Sexualitatsgeschichte mit Foucault auch C. J. Dean, "The Pro ductive Hypothesis: Foucault, Gender, and the History of Sexuality", in: History and Theory 1994, 271-296; H. Raab, Foucault und der feministische PoststrukturaJismus. Dortmund 1998; A. Conrad, "Frauen- und Geschlechtergeschichte", in: M. Maurer (Hg.), Aufriss der historischen Wissenschaften, Bd. 7. Stuttgart, im Druck (ich danke Anne Conrad ftlr den Einblick in das Ma nuskript). 46 Aus der neueren deutschsprachigen Literatur sei hier exemplarisch verwiesen auf K. Schmersahl, Medizin und Geschlecht: Eine Konstruktion der Kategorie Geschlecht im medizinischen Diskurs des 19. Jahrhunderts. Opladen 1998; M. Möhring, Nackte Marmorleiber und organische Maschi nen: Der natürliche Körper in der deutschen Nacktkultur, 1890-1930. Phil. Diss. München 2001, als Arbeit zu Körper- wie Geschlechtergeschichte gleichermaßen; C. Bruns, ,,(Homo-)Sexualität als virile Sozialität. Sexualwissenschaftliche, antifeministische und antisemitische Strategien he gemonialer Männlichkeit im Diskurs der Maskulinisten 1880-1920", in: U. Heidel u.a. (Hg.), Jenseits der Geschlechtergrenzen: Sexualitäten, Identitäten und Körper in Perspektiven von Queer Studies. Hamburg 2001, 87-108, oder auf das Heft "Männer" von WerkstattGeschichte 29 (2001) mit Texten von J. Martschukat, N. Finzschl M. Hampf, M. Möhring und O. Stieglitz. Vgl. insgesamt auch die entsprechenden Passagen bei Brieler, "Verpaßte Rendezvous" (Anm. 16), und bei Landwehr, 158-164 (Anm. 8).
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sein könnte. Gleichwohl liegen mittlerweile diverse theoretische und methodische Foucault-Interpretationen vor, die der OperationaIisierung harren. Transformationen von Foucaultschen Diskurs-, Macht- und Subjekttheorien in "konkrete", quellenba sierte Geschichten sind nun gefragt. Der Weg über solche Anwendungsversuche, die in der historiographischen Arbeit mit den Erörterungen Foucaults und ihren Implika tionen ringen, kann dann auch wieder zu einer neuen Art der theoretisch methodischen Diskussion um spezifische Problemstellen in Hinblick auf FoucauIt und die Historiographie weisen. Dies wäre dann eine Theoriediskussion der ,zweiten' oder gar der ,dritten Stufe'. Sie mutet beim derzeitigen Stand der Dinge konstruktiver und produktiver an als diejenigen Debatten, die sich entweder mit rhetorischen Po lemiken gegen Foucault und Diskursanalyse auseinandersetzen oder ausschließlich in der Exegese Foucaultscher Texte grUnden. Zu alledem nimmt ein solches praxisrele vantes, anwendungsorientiertes Vorgehen einen Steilpass auf, den Foucault selbst gespielt hat. 1 975 betonte FoucauIt in einem Interview, er selber ziehe es vor, inspi rierende Texte zu nutzen, anstatt sie zu kommentieren. Dies sei auch sein Tribut an Friedrich Nietzsehe, nämlich ihn zu benutzen, zu dehnen und zu verformen, so dass 7 er stöhnt und protestiert - die reine Lehre interessiere ihn nicht.4 In diesem Sinne stellen die hier versammelten Aufsätze keine Hommage an einen großen Denker dar. Der vorliegende Band nimmt auch nicht rur sich in Anspruch, das bisherige Aufeinandertreffen von Foucault und Historiographie umfassend zu bilanzieren. Auch soll nicht dieses oder jenes, was Foucault über bestimmte histori sche SpezialflUie gesagt hat, bestätigt oder widerlegt werden.48 Ebenfalls kann es auf den folgenden Seiten nicht darum gehen, über die ,einzig richtige' Interpretation von Texten und die ,einzig richtige' Auslegung von Theorien des Autors Foucault zu streiten. 49 Hiermit soll nicht der so häufig beschrienen Beliebigkeit oder der Willkür in der Interpretation das Wort geredet werden. Vielmehr soll in den folgenden Bei trägen auf der Basis einer ernsthaften Auseinandersetzung mit verschiedenen Facet ten Foucaultscher Theoriebildung gezeigt werden, wie Geschichte inspiriert von und bezogen auf Foucault aussehen kann. Diese Geschichten werden im Folgenden auf den drei Achsen der foucaultschen Analyse angesiedelt sein, ihren theoretischen Zugriff und dessen Transport in Geschichtsschreibung verdeutlichen und kritisch diskutieren. Besame drei Achsen sind der Diskurs, die Macht und das Subjekt. " 47 P. O'Brien, ..Michel Foucault's History of Culture , in: L. Hunt (Hg.), The New Cultural Histo ry. Berkeley, CA! Los Angeles 1989, 25-46, 46 zitiert aus einem Interview, das im Juni 1975 im ..Magazine litteraire" publiziert wurde. 48 Vgl. hierzu auch Sarasin, Reizbare, 463 (Anm. 39), wo er betont, dass auch eventuelle Unstim migkeiten in Hinblick auf die historische Richtigkeit von Foucaults Antikeinterpretationen nicht per se das theoretisch-methodische Instrumentarium zur Subjektformation beeintrllchtigen. 49 Vgl. hierzu auch Lemkel Krasmannl Bröckling, 9 (Anm. 42), zur Konzeption des Bandes.
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Foucault hat sie mit Blick auf die Geschichte der Sexualität wie folgt skizziert: Die ,,Formierung der Wissen" über die Sexualität bilde die erste Achse, die Mittels der Analyse von Diskursen zu bestimmen sei. Die "Machtsysteme, die ihre Ausübung regeln", formieren die zweite Achse, und sie seien durch eine Analyse von Machtbe ziehungen und -techniken zu durchdringen. Die dritte Achse seiner Betrachtungen bilden die "Formen, in denen sich die Individuen als Subjekte dieser Sexualität aner kennen können und müssen". Ihr wandte sich Foucault mit den Konzepten der Gou vernementalität, der Fremdregierung und Selbstftlhrung zu.so Entlang dieser Achsen sind auch die folgenden Beiträge in den Feldern "Dis kurs", "Macht", "Subjekt" angesiedelt. Freilich prägen und beeinflussen sich die drei Felder wechselseitig, und die Analyse der Diskurse kann weder von Machttechniken noch von Subjektformierungen scharf getrennt werden - und vice versa. Folglich kann und soll die Ansiedlung der folgenden Aufsätze an bestimmten Orten in diesem Buch höchstens die Gewichte der einzelnen Beiträge signalisieren. Den anwen dungsorientierten Betrachtungen sind drei Erörterungen vorgeschaltet, die zentrale theoretisch-methodische Fragen foucaultschen Denkens diskutieren und eine Art von Grundlage rur die historiographischen Beiträge liefern. Die Soziologin Hannelore BublitzS I entwirft zunächst das Konzept einer genealogischen Geschichte der Ge genwart in all ihrer Körperlichkeit, wie Michel Foucault sie vor allem in dem Aufsatz über "Nietzsche, die Genealogie, die Historie" dargelegt hat. Die Materialität der foucaultschen Geschichte thematisiert auch der Historiker Ulrich Brieler in seinem Aufsatz. In einer problemtheoretischen Betrachtung und mit Blick auf den analyti schen Wert rur die Geschichtsschreibung zeigt Brieler Felder auf, in denen sich Ver schränkungen zwischen Foucault und Marx herstellen lassen. In einem dritten theo rieorientierten Beitrag skizziert die Soziologin Susanne Krasmann das in der Ge schichtsschreibung noch recht junge Konzept der Gouvernementalität. Krasmann verweist auf eine mit den veränderten Formen des Regierens verbundene, neuartige Analytik der Macht. Im zweiten Teil wenden sich Martin Dinges und Jürgen Martschukat der Konsti tution von Diskursen und ihrer Wirkmächtigkeit zu. Dinges zeigt an Hand eines Briefwechsels zwischen dem homöopathischen Arzt Samuel Hahnemann und einem seiner Patienten aus den 1 830er Jahren, wie Diskurse Denk- und Wahrnehmungs möglichkeiten von Menschen eröffneten und - in diesem Fall - die Wahrnehmung
SO SuW2 (2000), lQ- l l . S I Vgl. u.a. H. Bublitz, Foucaults Archäologie des kulturellen Unbewussten: Zum Wissensarchiv und Wissensbegehren moderner Gesellschaften. FrankfurtlM.I New York 1999; dies. u.a. (Hg.), Der Gesellschaftskörper: Zur Neuordnung von Kultur und Geschlecht um 1900. FrankfurtlM.I New York 2000.
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und Empfindung von Krankheit und Leid regulierten. Er fUhrt aber auch vor, welche Spielräume die Patienten in diesen Diskursen und Beziehungen hatten. Martschukat schreibt eine diskursanalytische Geschichte der Todesstrafe in den USA und - im Speziellen - des elektrischen Stuhls im ausgehenden 19. Jahrhundert. In seinem Beitrag ist zu sehen, wie sich medizinische und rechtskundliche Diskursfelder über schnitten und das schmerzlose Sterben zu einem Indikator fUr die vermeintliche Entwicklungsstufe einer Kultur werden ließen. Teil III des Buches umfasst Beiträge von Maren Möhring und Heiko Stoff, in de ren theoretischem Zentrum das Konzept der Bio-Macht verortet werden kann. So wohl Möhring als auch Stoff widmen sich der Lebensreformbewegung während der langen Jahrhundertwende, die mit der Disziplinierung des Individuums und der Re gulierung der Bevölkerung die beiden wesentlichen Element des Foucaultschen Machtkonzeptes absteckte. Stoff folgt dieser Perfektionierung des Individuums und der Regulierung der Bevölkerung bis in das biologisch-medizinische Versuchlabor hinein, das einen vollkommenen, lebens- und leistungsflihigen Menschen schaffen sollte. Zudem plädiert er fUr eine Erweiterung des produktivistisch orientierten Machtkonzeptes um eine konsumistische Perspektive. Möhring untersucht die Ge schichte der Nacktkultur und deren Regeln der LebensfUhrung, die der Kreation eines als "natürlich" codierten Körpers dienen sollten. Sie erweitert den primär dis kursanalytischen Rahmen Foucaults um die Aspekte der Fotografie und der Mediali tät, denen in der nacktkulturellen Sichtbarmachung der Körper eine wesentliche Bedeutung im Verfahren ihrer Naturalisierung zukam. Das Konzept der LebensfUhrung, das auch in den Beiträgen von Maren Möhring und Martin Dinges eine bedeutende Rolle spielt, ist fUr die Aufsätze des vierten Abschnittes zentral. Dies gilt zunächst fUr Philipp Sarasin und seine Darstellung der bürgerlichen Hygieniker. Sarasin argumentiert, dass freilich auch Foucaults Entwurf der "Sorge um sich" der Historisierung bedarf und Foucault selbst ein grosser Hygie niker war, der dem 1 9. Jahrhundert wesentlich näher stand als der Antike, an Hand derer Foucault sein Konzept entwickelt hat. Vor diesem Hintergrund plädiert Sarasin fUr eine Lektüre Foucaults unabhängig von der Frage, ob seine historische Darstel lung der Antike jeweils "richtig" oder "falsch" ist, um sich so fUr die theoretischen Implikationen bestimmter Thesen auch über deren eigentliches historisches Bezugs feld hinaus zu öffnen. Ähnlich verflihrt Claudia Bruns. Sie modifiziert durch die Analyse männerbündischer Schriften aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sowie der Selbsttechniken ihrer Theoretiker die herkömmlichen Fragestellungen der politischen Geschichte. Von Foucault inspiriert fragt sie nach der historischen Ratio nalität von rassischen und geschlechtlichen Codierungen, die bis in die Körper und das Bewusstsein der Subjekte wirken. In ihrem Beitrag zur Geschlechtergeschichte des Politischen erprobt sie andere Analyseraster fUr das Verständnis von Kaiserreich,
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Weimarer Republik und Nationalsozialismus. Eine andere Art der politischen Ge schichte entwirft auch Olaf Stieglitz. Stieglitz skizziert unter Bezugnahme auf Foucaults Ansatz der Gouvernementalität eine Geschichte des McCarthyism in den USA der 1 950er Jahre, die zeigt, wie sich Konzepte von Loyalität und Ordnung als Leitwerte einer Demokratie westlichen Musters diskursiv verdichten. Innerhalb eines solchen "Dispositivs der Wachsamkeit" erscheint denunziatorisches Verhalten als das Ausleben einer kollektiv wie individuell bereinigenden staatsbürgerlichen Sorge pflicht. Auch Norbert Finzsch geht von dem Konzept des diskursiven Regierens aus, von dem Konzept der Führung und Lenkung der Bevölkerung. Er ruhrt aus, wie in den verschiedensten Texten der US-amerikanischen Soziologie des 20. Jahrhunderts der angebliche Verfall afroamerikanischer Familien als zentrales gesamtgesellschaft liches Problem beschrieben wurde. Sein Beitrag mündet in der Konstruktion der sogenannten "welfare queen" als existenzielle Bedrohung der US-Gesellschaft im soziologischen und politischen Diskurs - einer angeblichen Bedrohung, die immer wieder politisch instrumentalisiert wurde und wird. Im Einzelnen und gemeinsam werden die verschiedenen Beiträge vieles verdeut lichen. Hervorheben möchte ich an dieser Stelle nur die Breite und Vielfalt der Mög lichkeiten und Perspektiven, die eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Arbei ten Foucaults rur die Geschichtsschreibung aufzeigt. Deren Umsetzung in Historio graphie öffnet möglicherweise wieder den Blick rur veränderte, problemorientierte theoretisch-methodische Reflexionen - zum Beispiel in Hinblick auf die Schnittstel len von Diskursen und Praktiken, auf das Sagbare und das Sichtbare, auf die Be schaffenheit und Konstruktion von Dispositiven und/oder Subjekten. In Hinsicht auf die Vielfalt der Perspektiven wie auch der theoretisch-methodischen Facetten ist zu bedenken, dass in diesem Band letztlich nur ein kleiner Ausschnitt möglicher Foucault-Rezeptionen versammelt ist, der sich zudem ausschließlich auf die Ge schichte des 1 9. und des 20. Jahrhunderts in Westeuropa und den USA bezieht. Eine Erweiterung des geografischen und zeitlichen Blickwinkels würde unweigerlich weitere Adaptionen Foucaultscher Theorieelemente bedingen. Dies zumindest ein wenig zu systematisieren, aufzuschlüsseln und zu präsentieren, ist ein mögliches Ziel rur weitere Projekte. Abschließend sei denjenigen gedankt, die die Verwirklichung dieses Projektes ermöglicht haben. Hier seien zunächst alle Referierenden, Beitragenden und die vielen Mitdiskutierenden genannt, die am 5. und 6. Oktober 2001 aus allen Teilen Deutschlands und der Schweiz zu der Tagung "Geschichte schreiben mit Michel Foucault" im Aby-Warburg-Haus in Hamburg zusammen kamen. Bei der Koordina torin des Hauses, Frau Marianne Pieper, möchte ich mich rur ihre Unterstützung ebenso bedanken wie bei Olaf Kruithoff, Gesche Sager und insbesondere Julia Kramer rur die tatkräftige Mithilfe, ohne die diese Veranstaltung und dieses Buch 25
niemals
gelungen
wären.
Gleiches
gilt
rur
die
Johanna-und-Fritz-Buch
Gedächtnisstiftung, die Europäische Union und die Behörde rur Wissenschaft und Forschung der Freien und Hansestadt Hamburg sowie Dr. Walter Schindler, die die finanzielle Unterstützung gewährt haben.
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I.
Foucault,
Geschichte und Gesellschaft
"Geheime Rasereien und Fieberstürme" : Diskurstheoretisch-genealogische Betrachtungen zur Historie Hannelore Bublitz
Einleitung Geschichte schreiben mit Foucault bedeutet, eine "Geschichte der Gegenwart" als Geschichte der Wissens- und Wahrheitsproduktion zu schreiben. Gegen ein histo risch vernünftig oder gesetzmäßig agierendes Subjekt, das der Geschichte voraus geht, wird die Auffassung einer Macht vertreten, die ,immer schon da ist' und die Geschichte als kontingentes Kräfteverhältnis ,in Szene setzt' . Das Subjekt erscheint so als bereits immer durch die Geschichte (der Macht) hervorgebrachtes und soziali siertes. Es ist nicht im Rohzustand zu haben. · Im Zentrum dieser Geschichtsschreibung steht die Problemat;s;erung der Selbst verständlichkeit einer evidenten Ordnung der Dinge, ohne den Dingen ,auf den Grund zu gehen', wenn Grund heißt: die Dinge oder Sachverhalte einer LetztbegrUn dung, einem ursächlichen Entstehungs- und Kausalzusammenhang, einem authenti schen Sein, einer kausallogischen Ableitung zuzuftlhren. Dinge, die uns in ihrer Ordnung evident erscheinen, entstehen durch das Zusammentreffen zuflUliger Ereig nisse im Laufe einer ungewissen Geschichte; was wir waren oder sind, ist kontingent. Als Gegenkonzept zur globalen Geschichte präsentiert Foucault die "Archäolo gie", die darauf verzichtet, das geschichtliche Material auf hinter oder unter ihm wirkende Ursachen, auf eine hermeneutische Tiefendimension hin zu befragen, das allen historischen Phänomenen zugrundeliegende geistige oder materielle Prinzip aufzudecken, Hypothesen über ein einheitliches System aufzustellen oder Geschichte in historische Epochen oder Abschnitte einzuteilen, die in sich ein homogenes Kohä renzprinzip enthalten. Die Archäologie llirdert in der historischen Arbeit vielmehr die
Aber: Die Macht setzt auf dieses Subjekt. An die Stelle des Souverllns tritt das Subjekt als un terworfener Souverlln. Modeme Macht erzeugt das soziale Subjekt, dessen Kräften sie erst zur Artikulation verhilft und die sie, kalkulierend, verwaltet. Im Selbstbezug des sozialen Subjekts wirkt Macht regulierend, aber nicht totaJitlir. Sie bedarf zu ihrer Realisierung eines Subjekts, das sich selbst ftlhrt; vgl. dazu bes. VdG.
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Singularität historischer Ereignisse in ihrer - zufälligen - Verkettung zutage. Die archäologische Geschichtsschreibung singulärer Ereignisse
nicht
filhrt über die Rekonstruktion vergangener,
zurUck zu den Wurzeln von Mensch und Geschichte.
Damit hängt ein weiterer Gesichtspunkt zusammen: Es gibt kein nonnatives Ver 2 ständnis von Geschichte und Gesellschaft; ihnen liegt keine Rationalität oder Dia lektik zugrunde, die sich historisch entfaltet. Geschichte gehorcht nicht einem allge meinen Gesetz (der Vernunft, des Fortschritts, des menschlichen Bewussteins). Sie kann demnach nicht scheitern und es gibt auch kein "happy end" der Geschichte. Ebenso verhält es sich mit der Gesellschaft: Gesellschaft kann nicht als letzthin ge schlossene Totalität aufgefasst werden. Vielmehr handelt es sich um eine immer prekäre Fonn einer sozialen Ordnung der Dinge. Foucaults Verfahren der Problematisierung von Wissen und Erkenntnis als ahis torischen Erscheinungsformen verbindet sich mit Schlagworten wie Dekonstruktion, De-Ontologisierung, Ent-Substantialisierung und Anti-Essentialismus, die im Feld 3 poststrukturalistischer Theorie verortet werden können. Allen gemeinsam ist eine Bewegung, die man mit dem Unwort
Ent-Wesentlichung
bezeichnen könnte.
Mensch, Gesellschaft und Geschichte unterliegen diskursiven Formationen, sind also 4 temporäre Artikulationen, historische ,Selbstbeschreibungen' von Gesellschaft. Als
2
Gerade das Fehlen jeglichen Normativismus ist bis in die Gegenwart Gegenstand erbitterter Kontroversen; vgl. N. Fraser, Widerspenstige Praktiken: Macht, Diskurs, Geschlecht Frank
1994; J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Modeme: Zwölf Vorlesungen. 1985; A. Honneth, Kritik der Macht: Reflexionsstufen einer kritischen Gesell schaftstheorie. FrankfurtlM. 1985; H.-V. Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte. München 1998; vgl. dagegen T. Schäfer, Reflektierte Vernunft: Michel Foucaults philosophi sches Projekt einer antitotalitären Macht- und Wahrheitskritik. FrankfurtlM. 1995; T. Lemke, furtlM.
FrankfurtlM.
Eine Kritik der politischen Vernunft: Foucaults Analyse der modemen Gouvernementalitat. Hamburg
3
1997.
Dennoch ist Foucaults Verortung im Feld poststrukturalistischen Wissens durchaus nicht unpro blematisch. Foucaults diskursanalytische Geschichtsschreibung und seine theoriepolitische Ent scheidung entziehen sich einer Einordnung in gllngige Theoriepositionen. Seine gegen den Strukturbegriff in Anschlag gebrachte Materialität historischer Praktiken verweist auf eine sin gulare Position, die sich, ungeachtet seiner körperpolitischen Argumentation und ihrem Rekurs auf eine ,politische Anatomie' des Körpers, nicht umstandslos einer (post-)strukturalistischen noch gar einer (post-)marxistischen Position zuschlagen lasst. Erst recht widersetzt sich die Ma terialität des Diskursbegriffs und der Machtpraktiken, die den Körper weder als Sym bol(isierung) noch als praktische Anwendung von Diskursen versteht, sondern sie als materielle Anordnung und eigenstllndige Praxis einsetzt, der Einordnung in herkömmliche Theoriemuster.
4
Wenn Diskurse, so gesehen, Formen der ,Selbstbeobachtung und -beschreibung' von Gesell schaft sind, dann ist Diskursanalyse nichts anderes als eine Rekonstruktion dieser Selbstbe schreibung, ein ,Diskurs über Diskurse'. der mit den Mitteln jener Rationalität erfolgt, die die so beschriebene Gesellschaft bereitstellt. Die Archäologie als Beschreibung von Diskursformatio-
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solches läuft dieses Verfahren diametral dem ideologiekritischen Verfahren zuwider, das in den Erscheinungsformen ein Wesen der Dinge aufspüren und den Widerspruch zwischen Wesen und Erscheinung einer Widerspruchslogik (gesellschaftlicher und ökonomischer Prozesse) zuschreibt. Foucaults Verfahren ist dagegen das einer Ver s schiebung. Es historisiert Wahrheit und Wissen, die dadurch einen gesellschaftli chen, politischen und historischen Ort erhalten. Es ver-,schiebt' so Dinge, wie Wis sen, Erfahrung und Erkenntnis in die Geschichte. Die Voraussetzungen aller empiri schen Erkenntnis sind damit wieder empirische und nicht transzendentale; bei Foucault steht dafilr der paradox anmutende Begriff des
,historischen Apriori
'.
Da
hinter steht die Überzeugung, dass, so Paul Veyne, etwas "immer schon viel länger 6 denkt als wir", nämlich der Diskurs, der formale historische Denkrahmen, der un bewusst das Denken der Subjekte und die Ordnung der Dinge bestimmt. Damit verlagert sich aber auch das Problem der herkömmlichen Kritik von Ge schichte und Gesellschaft: Machtausübung geschieht demnach nicht über die Pro duktion von Unwahrheiten, sondern von Wahrheiten, wie auch Thomas Lemke schreibt:
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6
nen ist dann gleichbedeutend mit der Analyse von Gesellschaftsformationen; Gesellschaft for miert sich im historischen Apriori diskursiver Formationen. (Vgl. hierzu ausfilhrlicher H. Bu blitz, Foucaults Archäologie des kulturellen Unbewussten: Zum Wissensarchiv und Wissensbe gehren moderner Gesellschaften. FrankfurtlM. 1 999, I3f; dies., ,,Archäologie und Genealogie", in: M. S. Kleiner (Hg.), Michel Foucault: Eine Einfilhrung in sein Denken. FrankfurtlM. 2000, 27-39, besonders 35f.). Diskursanalyse stellt dann nicht nur das methodische Instrument einer Rekonstruktion der Regelhaftigkeit(en) von Geschichte und Gesellschaft dar, sondern sie gene riert selbst in der Analyse des historischen Materials eine Theorie der Gesellschaft und Ge schichte, die sie - Diskurse (re-)konstruierend - (be-)schreibt. Diese historische Analyse ist weit davon entfernt, eine universelle Theorie von Gesellschaft und Geschichte zu sein. Und: Sie stellt insofern eine zumindest hypothetisch angenommene ,Widrigkeit der Empirie' in Rechnung, als Diskurse nicht unabhängig von einer Materialität der Wirklichkeit (re-)konstruiert werden kön nen. Es muss also eine Materialität der Wirklichkeit angenommen werden, die diskursanalytisch erschlossen wird. Diskurse können also nur insofern rekonstruiert werden, als sie bereits im Ma terial (sozialer Empirie) als vorhanden angenommen wurden; vgl. dazu auch H. Bublitz, ,,Dis kursanalyse als Gesellschafts-,Theorie''', in: dies. U.a. (Hg.), Das Wuchern der Diskurse: Per spektiven der Diskursanalyse Foucaults. FrankfurtlM. 1999, 22-48; dies., ,,Differenz und Inte gration: Zur diskursanalytischen Rekonstruktion der Regelstrukturen sozialer Wirklichkeit", in: R. Keller u.a. (Hg.), Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Bd. l : Theorien und Methoden. Opladen 2001, 225-260, insb. 232f. Lemke weist in seiner Analyse der modemen Gouvernementalität auf einige Verschiebungen in der Denkweise Foucaults, wie die Verschiebung der Trennung materieller Praktiken und imma terieller Ideen u.a. hin; vgl. dazu Lemke, 38f. (Anm. 2). P. Veyne",Die Verkettung der Dinge", in: Frankfurter Rundschau vom 1 6. 1 0.2001 .
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"Foucault zufolge besteht das politische Problem [...] weniger in der Unwahrheit als der Wahrheit gesellschaftlicher Verhältnisse, nicht in der Irrationalitllt der Macht, sondern in ihrer Rationalitat, nicht in der ,Negativität der Macht, sondern ihrer ,Positivität'. Der Begriff der Wahrheit, auf dessen Grundlage eine Kritik der Gesellschaft vorgenommen werden soll, ist in dieser Perspektive weniger eine Lösung als selbst ein wichtiger Teil des Problems in einer Gesellschaft, in der Wissensforrnen und Machtverhältnisse eng miteinander verschränkt sind."' Es ist die
Geschichte der Wahrheitsproduktion,
die im Zentrum des Foucaultschen
Denkens steht. Foucaults Geschichtsschreibung verweist auf einen Paradigmenwechsel in der Geschichtsschreibung: Erzählt wird die Geschichte einer Macht, der eine sichere, besitzbare Basis versagt ist, die sich nicht auf die Polarität von Herrschenden und Beherrschten reduzieren lässt, und die außerhalb des von der Institution des Staates 8 begrenzten Feldes erforscht wird. Es handelt sich um eine Macht, die in den Regeln, in den Körpern und Subjekten zirkuliert. Effektive Machtpraktiken bilden den Ge genstand einer
Geschichte,
die
in den Körper und die Subjekte eingeschrieben
ist.
Vorherrschend rur dieses Modell der Macht in Geschichte und Gesellschaft ist das Paradigma des Kampfes, das dem Sozialen
zu
Grunde liegt und es konstituiert. Die
ses Paradigma durchzieht die Gesellschaft kategorial und ist in die Regeln der Ge sellschaft eingeschrieben, die bestimmte Wissensforrnen zu Standardmustern sozia len Verhaltens machen und in den von ihnen regelkonforrn hervorgebrachten Kör 9 pern und den Subjekten materielle Gestalt annehmen. Dabei ist die Abweichung von der Regel konstitutiver Bestandteil einer Norrnalisierungsmacht, die Foucault
am
historisch-empirischen Material als (selbst-)regulativen Mechanismus moderner Gesellschaften analysiert.
I. Foucault problematisiert in seinen BUchern das, was wir ru r selbstverständlich halten: ,den Menschen' als unverftlgbaren, anthropologischen und humanistischen Wert; ,das Subjekt' als autonome Einheit und souveräne moralische Instanz; ,den Körper' als natürliche Grundlage aller Erfahrung; ,die Sexualität' als Ausdruck eines trieb haften Begehrens und einer Natur des Menschen, ,das Geschlecht' als das natürliche,
7 8 9
32
Lemke, 32 (Anm. 2). Vgl. VdG. A. Honneth, "Ein materialistischer Wittgenstein: Macht, Wissen und Subjekt: Michel Foucault und die Humanwissenschaften: Versuch einer Zwischenbilanz", in: Frankf.urter Rundschau, 9. Okt. 200 1 .
das eine und wahre; ,die Geschichte', die dem Modell der Kontinuität, der Tradition, des Gedächtnisses und der Teleologie folgt. Foucaults Verfahren der Problematisierung ,zertrümmert' (dekonstruiert) univer selle Strukturen und zeitlose Wahrheiten und rekonstruiert sie als historische; damit nimmt sie ihnen ihren unverrückbaren Status. Mit anderen Worten: Sie unterzieht die Ordnung der Dinge einer - ent-naturalisierenden und de-ontologisierenden - Kritik, die ihre natürlich und normal scheinende Anordnung als Wirkung einer historisch gesellschaftlichen Konstruktion und damit als kontingente Klassifikation und Ta xinomie sichtbar macht.lo Sichtbar werden damit auch die Grenzen unseres Denkens und unserer Kultur. Dinge, die als allgemeingültig gelten, erscheinen als Wirkung einer regelgeleiteten diskursiven Praxis und einer Macht, die je nach historischer Form der Rationalität und des Wissens variieren. Geschichte manifestiert sich auf diese Weise nicht als die ihrer wachsenden Perfektion, als Fortschrittsgeschichte, sondern als Geschichte kontingenter Denkmöglichkeiten. Sie bildet das Feld der "Archäologie". 1 1 S o bilden ,der Mensch', ,das Subjekt' und ,der Körper' Epiphänomene des Wil lens zum Wissen und zur Macht, der nicht an ein metaphysisches Subjekt gebunden ist, sondern dieses übersteigt. Die vielzitierte Metapher Foucaults, "daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand,,; 2 verweist einmal mehr auf die Historizität des Menschen. Der darin von Kritikerlnnen vermutete ,Totalitaris mus' gesellschaftlicher (Regel-)Systeme und Diskurse löst sich auf in Konstitutions bedingungen von Mensch und Gesellschaft. Foucault wendet sich mit dieser Formel gegen jede geschichtsmetaphysische Erzeugungsregel, die vom anthropologischen Wesen des Menschen ausgeht.
11. Geschichte schreiben mit Foucault heißt aber vor allem, genealogisch zu verfahren. "Ich habe mir vorgenommen [...], den Menschen zu zeigen, [00.], dass sie Dinge als wahr und evident akzeptieren, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte hervorgebracht worden sind, und dass man diese sogenannte Evidenz kritisieren und zerstören kann.'· 13
10 11 12 13
OdD (1971), 17. OdD (1971), 24f. OdD (1971), 462. TdS, 16.
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Die Genealogie stellt den grundsätzlichen, ontologischen Wert der Dinge, einer Ord nung, einer Denkweise in Frage; sie tut dies aus der Kenntnis der Bedingungen und Umstände, aus denen die (Ordnung der) Dinge erwachsen (ist) sind, unter denen sie sich entwickelt und verschoben haben. Es handelt sich um eine "In-Frage-Stellung" der Werte, die wir als gegeben, ja, als natürlich annehmen. Foucault entwickelt sein historisches und zugleich machttheoretisches, kritisches Verfahren der Geschichtsschreibung in enger Anlehnung an Nietzsche's "Genealogie der Moral". 1 4 In seinem Aufsatz "Nietzsche, die Genealogie, die Historie"l S geht er von der " Ereignis- und Leibhafligkeit" historischer Prozesse aus. In der Absage an jegliche Metaphysik (des Urspungs, der Kausalität, der Teleologie, der Einheit und Homogenität, also dessen, was die Geschichte der abendländischen Logik und Ratio nalität bestimmt) umschreibt Foucault "die Geschichte mit ihren Mächten und Ohn machten, mit ihren geheimen Rasereien und Fieberstürmen" als " Leib des Werdens " und setzt diese Betrachtungsweise gegen metaphysisches Ursprungsdenken ab: "Nur ein Metaphysiker kann ihr (der Geschichte) eine Seele in der fernen Idealität des Ursprungs suchen wollen,,: 6 An die Stelle von Identität und Ursprung setzt die Ge nealogie "unzählige Anfänge" und diskursive Kreuzungen, Ereignishaftigkeit, Zwi schen- und Zuflille statt Kontinuität. Nicht Ontologien oder Wahrheiten, sondern das Unvorhergesehene und Diskontinuierliche, die Bedingungen der Entstehung, Behar rung ebenso wie die Möglichkeit des Verschwindens sind das Interessante an Ge schichte. Womit zugleich der dynamische Aspekt der Diskurskonzeption und -theorie angesprochen wäre. Geschichte verdankt sich damit sowohl dem - historischen Apriori diskursiver Ordnungen (als epistemischem Moment der Kontinuität und damit als deren Rahmenbedingung), aber auch der Produktivität von Diskursen als dynamischem Moment und pulsierendem "Kräfteverhältnis". Kontinuität und Repro duktion symbolischer Ordnungen verweisen also zugleich auf das "Wuchern der Diskurse" und die Produktivität einer Macht, die die Körper und die Subjekte einer scheinbar paradoxen Machtilirmigkeit unterwerfen: Unterwerfung erscheint geradezu als Bedingung und produktiver Mechanismus der Produktion wirklicher Körper und der Subjektbildung, aber auch von Werten wie Freiheit, Individualismus und Huma nismus. Hier hat Macht offenbar den Charakter einer Analysekategorie von Verge sellschaftung.
14 F. Nietzsche, Genealogie der Moral. Kritische Studienausgabe, hg. München 1967-77 und 1988; Neuauflage 1999. IS NGH, 83-109. 16 NGH, 88.
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v.
G. Colli/ M. Montinari.
111. In dieser machtformigen Konstitution der Körper und der Subjekte artikuliert sich der Wille einer funktionalen Macht, die dem Subjekt den Sinn einer bestimmten Funkti on aufprägt - einer Funktion, die dem Subjekt in dem Maße zuwächst, wie sich ,der Mensch', wie Nietzsche sich ausdrUckt, "in den Bann der Gesellschaft eingeschlos sen fand".1 7 ,,Die Seele", die Foucault im Anschluss an Nietzsches AusfUhrungen über das ,schlechte Gewissen' als Geflingnis des Körpers"I B bezeichnet, erscheint 9 also bereits bei Nietzsche als Ort des Sozialen im Subjekt. 1 Stellt sie bei Nietzsche 0 jene "tiefe Erkrankung,,2 dar, der der Mensch "unter dem Druck einer Veränderung verflillt", die ,Gesellschaft' heißt und die ihn einschließt in eine Wendung, die das Subjekt gegen sich selbst richtet, so erscheint diese Wendung bei Foucault (und im Anschluss an Foucault auch bei Judith Butler) als tropologische Inaugurierung, als GrUndungsmoment und Einsetzung des Subjekts.21 Das Subjekt entsteht als epistemi sehe Gestalt erst durch die Gesellschaft. Diese bildet - als psychische Instanz - einen sozialen Ort im Subjekt; dies zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt, nicht allgemein, nicht universell. Das aber deutet darauf hin: Gesellschaftliches geht der Subjektivierung voraus; es liefert die sozialen Kategorisierungen der Subjektwer dung. Diese unterliegen, wie das Subjekt selbst, einem historischen Wandel. Foucaults Begriff der Subjektivierung offenbart eine zutiefst soziologische Denkwei se und historische Begründung des Subjekts. Mit ihm wird die Unterscheidung des Sozialen und des Psychischen erst voJlzogen,22 von der die psychoanalytische Theo rie als historische Wissensformation in ihrem Rekurs auf einen als gegeben voraus gesetzten psychischen Apparat bereits ausgeht. Der Begriff der "Subjektivation" zeigt die Abhängigkeit des Subjekts dort, wo es sich souverän wähnt: im Bereich der Moral, des Gewissens und des Bewusstseins. Subjektivation erscheint so als ,parado xe' Wirkung einer Macht, die die Möglichkeit der Existenz als soziales Wesen ab hängig macht von der sozialen Ein- und Unterordnung des Subjekts. Das Beharren im eigenen Sein, so Butler, erfordert die Unterwerfung unter eine Welt von anderen. Sie formuliert dann aus der Perspektive einer kritischen, normativen Subjekttheorie
17 Nietzsche, Genealogie I1, 22 (Anm. 14). 18 OuS (1976). 19 Nietzsche, Genealogie, 321f. (Anm. 14); J. Butler, Psyche der Macht: Das Subjekt der Unterwerfung. FrankfurtlM. 2001 (Stanford, CA 1 997), 25f. 20 Nietzsche 1 887; 1988, Genealogie 11, 321/322 (Anm. 14). 21 Butler, Psyche, 10 (Anm. 19). 22 Butler, Psyche, 24 (Anm. 19).
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Unterwerfung als Entfremdung eines sozialen Subjekts, ohne in Rechnung zu stellen, dass dies einen metaphysischen Bezugspunkt ihrer Theorie bildet:
,,Bedingungen ausgesetzt, die man nicht selbst geschaffen hat, beharrt man immer auf diese oderjene Weise mittels Kategorien, Namen, Begriffen und Klassifikationen, die eine primllre und inaugurative Entfremdung im Sozialen markieren. Wenn solche Bedingungen eine primäre Unterordnung, ja Gewalt bedeuten, dann entsteht ein Subjekt, um ftlr sich selbst zu sein, paradoxerweise gegen sich selbst."n Was ludith Butler hier im Anschluss an Nietzsche und Foucault formuliert, ist eine Entfremdungstheorie, die rur das Subjekt als soziales Wesen konstitutiv zu sein scheint. Aufgrund der Unabgeschlossenheit von Diskursen erfolgt die Subjektbildung iterativ und performativ, durch Wiederholung und Zitieren von Normen, die einer symbolischen Ordnung der Gesellschaft eingeschrieben sind, durch Sprechakte, mit 24 denen das Subjekt ,angerufen' wird, durch Praktiken der Disziplinierung und Nor malisierung. Damit fehlt j egliche determinierende Beziehung zwischen Diskurs und Subj ekt, eine Abwesenheit, die sich als Freiheit bezeichnen lässt.
IV. Kehren wir jedoch noch einmal zur Macht zurUck: In der Analyse der Dynamik von
Wissensordnungen
stößt Foucault auf die Macht: Eingebunden in Kräfteverhältnisse
und Konfrontationen ergeben sich aus der diskursiven Ordnung spezifische Macht wirkungen. In Abkehr von der noch fast statisch anmutenden Konzeption der Wis sensformationen, der epistemischen "Ordnung der Dinge" kommt es schon in der "Archäologie des Wissens" zur Fokusverschiebung und zur Ö ffnung der Konzeption rur die Dynamik von Diskursen. Diese lenkt den Blick auf die
diskursive Praxis.
Der
Diskurs selbst erscheint nun als regelgeleitete Praxis, die, mehr als die bloße Be zeichnung der Dinge, in Abkehr vom strukturalistischen Konzept der unbewussten Struktur als , unbeweglichem Beweger' einer Epoche oder Kultur, dynamische Pro zesse der Wirklichkeitskonstitution bezeichnet. Die machttheoretische Fragestellung Foucaults ist also eine diskurstheoretische: Wissensformationen werden daraufhin befragt, inwiefern ihre Wirklichkeiten Resultate einer Praxis, also Machteffekte sind. Damit rUcken Diskurse als wirklichkeitskonstituierende Prozesse in den Vorder-
23 Butler, Psyche, 32 - Betonung hinzugeftlgt (Anm. 1 9). 24 L. Althusser, Ideologische Staatsapparate. Frankfurt/M. 1 976; J. Butler, Körper von Gewicht: Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin 1 995 (New York 1 993); dies.: Hass spricht: Zur Politik des Performativen. Berlin 1 998 (New York 1 997); dies., Psyche (Anm. 1 9).
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grund. Diskurse verschränken als Aprioris der Wirklichkeit die Ordnung 2s sens, der Wissensfonnationen und die Produktivität der Macht (in sich).
des Wis
Damit verschränken sich aber auch archäologische und genealogische Perspekti ve: Während die Archäologie die Schicht der diskurskonstituierenden Regeln rekon struiert, erklärt die Genealogie die Herkunft und die diskontinuierliche Abfolge an 26 sich unbegründeter Zeichenordnungen aus Machtpraktiken. Macht erscheint hier als diskurs- und wirklichkeitskonstituierende Macht mit Wahrheitseffekten. Beide Di mensionen des Diskurses, Macht und Wissensfonnen, stehen bei Foucault also in einer engen Beziehung zueinander, die Zwangswirkungen innerhalb eines strategi schen Feldes hervorbringen. Für Foucault eröffnet eine bestimmte Ordnung des Dis kurses die EinfUhrung einer Realität. Gegenstände der Wirklichkeit stellen sich durch Einschreibung in ein Feld positiven Wissens her. Etwas wird als Realität eingefUhrt, indem es zum Gegenstand des geregelten Wissens wird; es bildet ein Element einer 27
Wissensfonnation.
Mit der Wirkmächtigkeit von Diskursen ist aber dann auch das Verhältnis von Bezeichnung, Sprache und Wirklichkeit angesprochen: Diskurse sind keine Reprä sentationsfonnen einer vorgängigen Wirklichkeit. Sprache verliert hier ihren Sekun därstatus. Vielmehr bringen sie diskursiv das hervor, was sie ,bezeichnen' ; Diskurse sind also nicht in einer vorgängigen Ordnung der Dinge begründet. Diskurstheore tisch ist die Konstruktion von Gesellschaft und die Rekonstruktion von Geschichte mit dem Verzicht auf ein repräsentationales Muster verbunden. Diskurse werden also nicht auf ein Vorgängiges oder Übergeordnetes, sondern letztlich nur auf sich selbst zurückgefUhrt. Sie haben den Charakter autonomer Strukturen und Praktiken und zugleich überindividueller Ordnungen, die sich nicht auf die Absichten und Hand lungen eines Individuums zurückfUhren lassen, sondern diesem vorgängig sind. Ihre Machtwirkung besteht darin, eine spezifische Ordnung der Dinge hervorzubringen und dieser eine eigenständige Realität zu verleihen. Die Regeln, nach denen Dinge als Gegenstände des Wissens, also kulturell-symbolisch hervorgebracht werden, sind den Dingen nicht eigen; es sind Regeln einer diskursiven Ordnung, die insofern kon tingent, also zuflUlig, wenn auch nicht beliebig oder willkürlich sind, als es immer auch andere denkbare Möglichkeiten der Ordnung gibt, die allerdings von einer gegebenen Ordnung jeweils verworfen werden. Die Möglichkeitsbedingungen fUr diskursive Ereignisse sind hier in die Diskurssemantik selbst verlegt.
25 Vgl. zur Verschränkung der diskurs- und rnachttheoretischen Perspektive Bublitz u.a. (Hg.), Wuchern (Anrn. 4). 26 Habermas, (Anrn. 2); Bublitz, ..Genealogie" (Anrn. 4). 27 Bublitz, "Differenz", 230f(Anrn. 4).
37
In der "Archäologie des Wissens,
aB
nimmt Foucault eine Unterscheidung der do
kumentarischen und der monumentalen Methode vor und grenzt sie voneinander ab: Demnach benutzt die dokumentarische Methode diskursive Ereignisse als Doku mente rur eine ihnen zugrundeliegende Geschichte. Sie ist nicht am Diskurs selbst interessiert. Ihr Interesse gilt vielmehr dem, was der Diskurs ausdrUckt. Das Doku ment setzt immer eine vordiskursive Realität voraus, welcher der Diskurs unterge ordnet ist und deren Wahrheit er letztlich ausdrUcken soll. Im Gegensatz dazu wird das diskursive Ereignis ernst genommen, wenn es als Monument behandelt wird. Nun interessieren die Streuungsverhältnisse und Netzwerke zwischen diskursiven Ereignissen selbst. Erst jetzt wird eine Diskursanalyse möglich, die sich auf der Ebe 29 ne des Diskurses bewegt und nicht nach einer anderen, tieferen Bedeutung schielt. Diskursanalyse berUcksichtigt dagegen die Eigenlogik von Diskursen und analysiert sie in ihrer eigenen Materialität. Damit wären wir bei einem weiteren Aspekt, dem der Materialität von Diskursen. Diese ist begründet in der (Eigen-)Logik von Diskursordnungen, durch die die Ge genstände des Diskurses und ihre Materialisierung vorgegeben sind. Allerdings be deutet dies nicht, dass diskursive Praktiken in sich abgeschlossene epistemologische Strukturen oder Einheiten bilden, die, einer Apriori-Logik des Archivs einer Kultur, Gesellschaft oder Epoche folgend dann lediglich (Ent-)Faltungen einer epistemischen Struktur wären. V ielmehr verweist die Dynamik und Offenheit von Diskursen, die Kreuzung mit anderen Diskursen, nicht zuletzt aber die Konfrontation von Diskursen als Entstehungsort von Weltdeutungen auf die historische Spezifität und die Instabi lität diskursiver Strategien.
v. Genealogie bedeutet nicht nur die Absage an jegliche (Ursprungs-)Metaphysik, son
Umdeutung und Verschiebung von gewohnten Denkweisen und Si Erbschaft ist demnach, so Foucault mit Nietzsehe, "kein erworbener
dern auch die cherheiten:
Besitz, der immer größer und sicherer wird"; sie besteht vielmehr "aus Spalten und Ritzen und heterogenen Schichten". Ebenso liefert die
Herkunft
kein Fundament,
sondern "beunruhigt, was man rur unbeweglich hielt, sie zerteilt, was man rur eins 30 hielt; sie zeigt die Heterogenität dessen, was man rur kohärent hielt".
28 AdW. 29 Vgl. dazu U. Stllheli, Sinnzusammenbr1lche. Weilerswist 2000, 191. 30 NGH, 90.
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Vor allem aber hat die Herkunft mit der "Leibhaftigkeit" der Genealogie zu tun: Sie schreibt sich in das Nervensystem, in das Temperament, in den Verdauungsap ) arat ein".3 Hier hat die Rede vom Körper als Ort der Einschreibung von Geschichte seinen Ort. Der Körper wird zum Monument von Geschichte:
�
"Der Leib - und alles, was den Leib berührt ist der Ort der Herkunft. Am Leib findet man das Stigma der vergangenen Ereignisse, aus ihm erwachsen auch die Begierden, die Ohnmachten und die Irrtü mer; am Leib finden die Ereignisse ihre Einheit und ihren Ausdruck, in ihm entzweien sie sich aber auch und tragen ihren unaufhörlichen Konflikt aus.·<32
Als Analyse der Herkunft befindet sich die Genealogie dort, wo sich Leib und Ge schichte verschränken, wo die Geschichte den Körper durchdringt und an ihm ,nagt' . Körpergeschichte nimmt derart einen hervorragenden Platz in der Rekonstruktion der Herkunft und damit der Geschichte ein. Demgegenüber bezeichnet die Entstehung als zentraler Begriff der Genealogie den Ort einer Konfrontation und eines bestimmten Kräfteverhältnisses: "Die Analyse der Entstehung muss das Spiel dieser Kräfte aufzeigen"; sie "weist die verschiedenen Unterwerfungssysteme auf,.ll Die Genealogie der (guten) Moral verweist, wie die anderer Werte, auf die Bühne, auf der die einen den anderen gegenübertreten und auf der die einen den anderen unterliegen; es ist kein geschlossenes Feld und kein Kampf zwischen Gleichen. Dieser Kampf und die darin sorgfältig inszenierte Gewalt wird in den Regelsystemen, die daraus entstehen, verankert. Diskurse und ihre Regeln sind eingebettet in eine agonale Struktur. Die Kräfte in diesem Kampf und im Spiel der Geschichte gehorchen weder einer Bestimmung noch einer Mechanik, sondern dem "Zufall des Kampfes".34 Damit wird die "Ereignishaftigkeit" von Geschichte zentral; sie kehrt das Verhältnis von konti ,nuierlicher Notwendigkeit und Einordnung einzelner Ereignisse in eine teleologische Bewegung oder natürliche Verkettung der Ereignisse um: Die "wirkliche Historie", wie Foucault die genealogische Geschichtsschreibung mit Nietzsche nennt, lässt das Ereignis in seiner einschneidenden Einzigkeit hervortreten. Mit ,Ereignis' ist hier aber nicht ein Angriff, eine Schlacht, ein ,event' gemeint, diskursive Ereignisse sind auch nicht Diskurse tiber wirkliche Ereignisse, sondern was damit bezeichnet wird, ist "die Umkehrung eines Kräfteverhältnisses, der Sturz einer Macht, die Umfunktio nierung einer Sprache [ ...], die Schwächung, die Vergiftung einer Herrschaft durch sie selbst, das maskierte Auftreten einer anderen Herrschaft".3s 31 32 33 34 35
NGH, 90f. NGH, 9 1 . NGH, 92. NGH, 98. NGH, 98.
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Der Körper als Ort der Verschränkung von Leib- und Ereignishaftigkeit und als Schauplatz einer Konfrontation vereinigt so alle An-Zeichen von Überwältigungs prozessen und den jedes Mal dagegen aufgewendeten Widerständen auf sich. Seine (Körper-)Geschichte ist zugleich ein untrügliches An-Zeichen einer "fortgesetzten 36 die
Zeichen-Kette von immer neuen Interpretationen und Zurechtmachungen",
seine Gestalt immer wieder verflüssigen. Es gibt nichts Feststehendes: Die Genealo gie erscheint als Geschichte der Interpretation von Regeln, die sich nicht auf einen metaphysisch-überhistorischen Gesichtspunkt und auch nicht auf die Konstanz eines Dings, eines Organs oder Brauchs stützt:
,,Nichts am Menschen - auch nicht sein Leib - ist so fest, um auch die anderen verstehen und sich in ihnen wiedererkennen zu können. [ ... ] Alles, woran man sich anlehnt [ ... ] muß zerbrochen werden.,,17 Die genealogische, historische Methode fUhrt, gegen Identitäts- und Kontinuitätsden J8 ken das Diskontinuierliche und den Bruch, das "Wirrwarr unzähliger Ereignisse", die historischen Kämpfe und die Heterogenität der Ereignisse in die Geschichts schreibung ein. Gegen die zentralisierenden Machtwirkungen und theoretischen Einheitsinstanzen gerichtet geht es darum, historisches Wissen der Kämpfe und auch 39 unzusammenhängende und disqualifizierte Wissensarten ins Spiel zu bringen. Darin besteht der Anti-Totalitarismus der Genealogie; er besteht aber auch in ihrer Perspektivität; zugleich verortet sie sich nicht in einer Position besseren Wissens, da 40 sie immer auch selbst in die zu beschreibenden Artikulationskämpfe verstrickt ist. Damit aber sind wir an dem Punkt angelangt, an dem auch die Genealogien und das Phantasma der Herkunft und der Körperlichkeit von Geschichtsschreibung zer brechen müssen. Mit genealogischer Dekonstruktion wäre dann nicht nur ein Verfah ren benannt, das sich in der Analyse, der Retrospektion, der genealogischen Rekon struktion erschöpfen würde. Es handelte sich dann vielmehr auch um eine Dekon struktion des genealogischen Schemas selbst, um eine paradoxe, zugleich genealogi sche und a-genealogische Dekonstruktion des Genealogischen, wie Derrida vor 41 schlägt. Denn: Mit der Genealogie ist nicht nur die Leibhaftigkeit von Geschichte und die Körpergeschichte verbunden, sondern auch das Phantasma des Körpers als fiktiver Ort dessen, was er nie gewesen ist: Natur oder besser noch Natürlichkeit, Abstammung, Geschlecht, Integrationsmedium heterogener Ein-DrUcke. Erst recht
36 37 38 39 40
Nietzsche 1887, 11, 3 14 (Anm. 14). NGH, 97. NGH, 99. VdG; DdM. NGH; U. Stäheli, Poststrukturalistische Soziologien. Bielefeld 2000, 45; vgl. zur Kritik des genealogischen Standpunkts Habermas, (Anm. 2). 41 J. Derrida, Politik der Freundschaft. FrankfurtlM. 2000, 136, 1 55.
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der Sozial-, Volks- oder Gesellschaftskörper verweist auf eine Leerstelle, dort, wo 42 der Ein-Druck einer Homogenität entsteht. Dann erst wird denkbar, dass der Körper als Zeichen innerhalb einer Zeichenkette niemals absolut außerhalb eines Systems von Differenzen präsent ist. So wird der Körper letztlich aber auch erst in seiner historischen Begrenztheit einer Körper Geschichte sichtbar, in der er sich im Zwischenraum der Dinge und der Wörter, in einer Ordnung historisch situierter Wahrheitsregeln befindet.
42 H. Bublitz u.a., Der Gesellschaftskörper: Zur Neuordnung von Kultur und Geschlecht um 1 900. FrankfurtlM. 2000.
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"Erfahrungstiere" und "Industriesoldaten" : Marx und F oucault über das historische Denken, das Subj ekt und die Geschichte der Gegenwart Ulrich Brieler
"Die materialistische Geschichtsdarstellung fuhrt die Vergangenheit dazu, die Gegenwart in eine kritische Lage zu bringen." (Walter Benjamin» )
I. Vorbeugende Überlegungen Merkwürdig: Man müsste meinen, die Literatur zur Komplizität von Marx und Foucault müsste Bücherreihen rullen. Zu prominent ist der Status dieser beiden Hi storiker und Gesellschaftstheoretiker, zu offensichtlich sind die Schnittmengen ihrer theoretischen Interessen und politischen Leidenschaften. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Die überbordende Foucault-Literatur gibt kaum eine Studie her, die sich diesem Verhältnis systematisch nähert. Etienne Bali bar, einer der wenigen, der sich dieser MUhe unterzogen hat, kommt nicht umhin, sich zu Beginn seiner Ausftlhrungen rur ihre Niederschrift zu entschuldigen: "Wes halb sollte man heute auf die Frage nach den Beziehungen zwischen Foucault und Marx (oder der Haltung Foucaults dem ,Marxismus' gegenüber) zurUckkommen, eine Frage, von der man wohl annehmen darf, daß sie spätestens seit dem Ende der siebziger Jahre Reiz und Nutzen verlören hat?" Hat sich diese Frage, gestellt im Januar
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auf der Pariser Tagung "Michel Foucault, philosophe", heute nicht noch
gründlicher erledigt? Insbesondere wenn man sich der Sätze Balibars erinnert, dass Foucault selbst "angesichts derartiger kleinlicher Zerlegungen und fonnaler Ausle gungen
[.. ], .
in denen die Parallelen zwischen den geheiligten und in ihrer Gänze
W. Benjamin, Allegorien kultureller Erfahrung: Ausgewählte Schriften 1920-1940. Leipzig 1984, 149.
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2 geschätzten Werken und den Autoren - unvermeidlich ihr Ende finden", Bemühun gen dieser Art bestenfalls mit Ironie begegnet wäre. Aber muss es darin enden? Balibar karikiert mit seiner Bemerkung das obligatorische Memoryspiel der Gei steswissenschaften, die idealen Übungen des "Wer oder was passt zu wem?" Aber auch diese ideengeschichtliche Facette wäre allemal legitim. Sie wUrde belegen, dass sich Foucault in viel stärkerem Maße der Tradition einer kritischen Sozialphilosophie und Gesellschaftsgeschichte verbunden ruhlt, als dies seine deutschen Leser bis vor kurzem vermuteten. Nicht zuflUlig hat Foucaults späte Beschreibung seines Projekts 3 als einer historischen "Ontologie unserer selbst", einer "Ontologie der Aktualität,,, deren Linie er von Hegel über Nietzsche und Max Weber bis zur Frankfurter Schule zog, hierzulande Erstaunen hervorgerufen. Erst langsam dämmert die Erkenntnis von 4 gemeinsamen Problem- und Theorieräumen. Die LektUre und Auseinandersetzung s mit Marx bildet hier eine wichtige Konstante. Aber diese Verbindung definiert sich in einer besonderen Weise. Sie versteht sich 6 als "Position der Brüderlichkeit gegenüber der Frankfurter Schule", also eines un dogmatischen Materialismus, wie als konsequente Gegnerschaft gegenüber dem versteinerten Marxismus der kommunistischen Parteien und Staaten. Foucault treibt sein "Spiel" mit Marx, er benutzt ihn, ohne sich in Fußnoten zu erkennen zu geben: "Verspürt denn ein Physiker das Bedürfnis, Newton oder Einstein
zu
zitieren?" Die
ser produktive Umgang ist für Foucault die angemessenste Form, sich der "Kommu 7 nistologie,, zu erwehren und den Macht-Effekten eines geschichtsphilosophisch 8 verbrämten Polizeimarxismus Paroli zu bieten.
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E. Balibar, "Foucault und Marx: Der Einsatz des Nominalismus", in: F. Ewaldl B. Waldenfels (Hg.), Spiele der Wahrheit: Michel Foucaults Denken. FrankfurtlM. 1 99 1 , 39-65, 39. WiA2, I 1 . Diese Einsicht scheint sich zunehmend durchzusetzen. Um nur ein Beispiel zu nennen: In einer 1999 erschienenen Aufsatzsammlung, die sich der Parallellekture von Kritischer Theorie Frank furter Provenienz und Poststrukturalismus Pariser. Machart unterzieht, begreift man die Arbeiten eines Foucault, Derrida oder Deleuze ..als eine Kritische Theorie der Gesellschaft auf der Höhe der Zeit" (1. Baumann, u.a. (Hg.), Kritische Theorie und Poststrukturalismus. Hamburg 1999, 5). Erst auf dieser Basis kann ein vorurteilsfreies Gespräch beginnen. Man darf wohl auch den vom Frankfurter Institut rur Sozialforschung im September 2001 organisierten Foucault-Kongress als einen Schritt in diese Richtung deuten. Zwei Punkte, die dies belegen: In den ,,oits et Ecrits" ·ist Marx nach Nietzsehe und Freud der am häufigsten zitierte Autor. Auf dem Frankfurter Foucault-Kongress stellte Daniel Defert die we nigen Filmdokumente vor, die Foucault ..live" zeigen. In allen Aufnahmen spielt die Auseinan dersetzung mit dem Marxismus eine entscheidende Rolle. WiK, 25f. Zitate in RUS, 45f. Hier fmdet sich auch die stärkste Sympathieerklarung rur die materialistische Option: ,,Man kann heute nicht Historiker sein, ohne eine Reihe von Begriffen zu verwenden, die
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Eine Schwierigkeit, diese materialistische Grundfärbung der historischen Praxis Foucaults zu dechiffrieren, liegt folgerichtig in dem schwarzen Loch, in dem er seine marxistischen Gesprächspartner und Kontrahenten in Frankreich verschwinden lässt. Henri Lefebvre, Jean-Paul Sartre, Louis Althusser und Nicos Poulantzas, um nur die Prominentesten zu nennen, sind zu unterschiedlichen Zeiten entscheidende Inspirato ren, von denen sich Foucault absetzen will. Aber in dieser Negation bleibt er den Problemen, die auch sie bewegen - dem Alltag, dem Verhältnis von Subjekt und Geschichte, der Ideologie und der Macht - auf der Spur. In dieser Figur einer negati ven Affirmation versteckt sich ein Bündel an Fragen und Themen, Denkhaltungen und Theorieeinsätzen, die den Raum einer gemeinsamen historischen Praxis, also einer Verflechtung von Konstruktion und Schreibung der Geschichte, umreißen. Foucault wusste sehr genau, warum er seinen marxistischen Zeitgenossen eine "Igno ranz gegenüber der Geschichte,,9 unterstellte, ein Vorwurf, von dem selbst die erste Generation der Frankfurter Schule nicht verschont blieb.l o Und er war der Überzeu gung, dass sich diese ahistorische Haltung kaum mit dem Textkorpus legitimieren konnte, der den Namen ,Marx' trägt. Der Versuch, das Produktionsverhältnis der beiden Autoren Marx und Foucault in ein neues historisch-hermeneutisches Spiel zu bringen, weiß um diese Zusammen hänge. Seine eigentliche Bedeutung aber gewinnt er aus der Perspektive einer Ge schichte der Gegenwart. Erst ein möglicher analytischer Nutzen rur das Verständnis heutiger Problemkonstellationen legitimiert die folgende Lektüre. Dieser Versuch beansprucht keine erschöpfende Arbeit am Thema. Er benennt einige Anspielpunkte, die genutzt werden wollen. Andere bleiben ausgeklammert. Ich nenne nur den enormen Beitrag zu einer Demokratisierung der Geschichtsschrei bung, den Marx und Foucault gegen den herrschenden Zeitgeist geleistet haben. Sie haben dem geschichtlichen Blick nicht nur neue Felder und Themen eröffuet, son dern ihn auch in einer Art theoretisch neu konstituiert, die den Platz der Geschichte in der jeweiligen Ordnung des Wissens fundamental verändert hat. Seit Marx muss sich jedes Wissen vom Menschen der sozio-ökonomischen Frage stellen, und seit Foucault entkommt es nicht der Problemtrias von Wissen, Macht und Wahrheit. Ist es müßig zu betonen, dass der folgende Versuch sich in Äquidistanz zu marxi stischen Orthodoxien seligen Angedenkens wie bequemen Marx-Verächtungen des direkt oder indirekt mit dem Denken von Marx verknüpft sind, und ohne sich in einem Horizont zu bewegen, der von Marx beschrieben oder definiert worden ist Man könnte sich sogar fragen, welcher Unterschied eigentlich zwischen einem Historiker und einem Marxisten besteht." 8 Die umfassendste Kritik dieses Marxismus findet sich in: GYT, bes. 10ff. 9 AR, 659. 1 0 MiE2; er bemßngelt hier eine ,,gewisse Nachilissigkeit im Umgang mit dem historischen Materi al" (80) und die schwache Ambition, "Geschichte im eigentlichen Sinne [zu] treiben" (86).
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aktUellen Zeitgeistes bewegt? Denn "selbst wenn man zugesteht, daß Marx jetzt verschwindet, so ist es doch gewiß, daß er eines Tages wieder auftauchen wird,,1 1 und vielleicht ist diese Stunde näher, als wir uns alle wünschen können, angesichts der Probleme, die eine solche Rückkehr anzeigen würde.
H. Kritik und Krise Als Karl Marx 1843 ins Pariser Exil geht, wird er dort mit einer politischen Kultur und Öffentlichkeit konfrontiert, die er so aus Deutschland nicht kannte. Vor diesem Hintergrund entsteht ein Großteil seiner sogenannten "FrUhschriften", die als histo risch-politische Analysen den Abschied von der Welt der Ideen und Vorstellungen lind die Hinwendung zu den materiellen Verhältnissen der Dinge und der Menschen einleiten. Die FrUhschriften leisten dies, indem sie Dokumente einer neuen Form von Kritik sind, einer Kritik, die nicht vor sich selbst Halt macht und die der Historizität Tür und Tor öffnet. In diesem Moment fällt in einem Brief an Amold Ruge der Satz, der das gesamte politische und historische Projekt seines Autors von nun an voran treiben wird: "Ist die Konstruktion der Zukunft und das Fertigwerden rur alle Zeiten nicht unsere Sache, so ist desto gewisser, was wir gegenwärtig zu vollbringen haben, ich meine die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden, rUcksichtslos sowohl in dem Sinne, daß die Kritik sich nicht vor ihren Resultaten fUrchtet und ebensowenig vor , 2 dem Konflikt mit den vorhandenen Mächten. , 1 Im Herbst 1976 zieht Michel Foucault das Fazit einer politischen Epoche der Er schütterungen, die durch das Datum ,, 1968" markiert sind: "Heute. am 14. Oktober. an einem Tag. an dem man sagen kann: vielleicht seit der Oktoberrevolution in Rußland 1917. vielleicht sogar seit den großen revolutionIIren Bewegungen von 1 848. das heißt: seit 60. oder wenn Sie so wollen. seit 120 Jahren gibt es zum ersten Mal auf der Welt nicht einen einzigen Punkt, durch den das Licht einer Hofthung scheinen könnte. Es gibt keine Orientierung mehr. [...] Es gibt keine einzige revolutionIIre Bewegung. erst recht kein einziges sozialistisches Land. in Anfl1hrungszeichen. auf das wir uns berufen können. um zu sagen: so muß es gemacht werden I Da ist das Vorbild! Da ist eine Liniel Das ist ein bemerkenswerter Sachverhalt! Ich möchte sagen. wir sind zurückgeworfen auf das Jahr 1 830. das heißt: wir müssen neu beginnen. 1 830 hatte immerhin noch die Französische Revolution und die ganze Tradition der Aufklärung hinter sich wir müssen ganz von vorne anfangen und fragen: von wo aus kann man die Kritik an unserer Gesell schaft leisten [ ... ] Fangen wir wieder anl Es muß möglich sein. neu zu beginnen. Das heißt: neu zu -
1 1 NzM. 9. 12 Vgl. K. Marx. "Briefe aus den .Deutsch-FranZÖsischen Jahrbüchern· ... in: Marx-Engels-Werke. Bd. 1 . Berlin 1972. 344 (im Folgenden zitiert als MEW).
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beginnen mit der Analyse, mit der Kritik - allerdings nicht bloß einfach mit der Analyse der soge nannten kapitalistischen Gesellschaft, sondem mit der Analyse des gewaltigen, staatlichen, gesell schaftlichen Systems, das man in den kapitalistischen und sozialistischen Gesellschaften findet. Das ist die Kritik, die zu leisten ist Das ist eine gewaltige Aufgabe, gewiß, und man muß sofort anfangen - und mit viel Optimismus."13 Aber wie ist diese Kritik ins Werk zu setzen? Auf welche gesellschaftlichen Er fahrungen bezieht sie sich? Und: Wie kann sie in Kontakt treten zu den Ergebnissen bisheriger Denkarbeit? Wenn Foucault in dieser Situation eines ablehnt, dann ist es 14 die "Attitude der Bekehrung", die Inszenierung der bisherigen Dummheit. Bei Marx wie bei Foucault fUhrt die Verarbeitung ihrer politischen Erfahrungen zu keiner Konversion, sondern zu einer Neujustierung des Denkens. Der Ausgangs punkt ist fUr beide identisch: die Krise der Kritik. Ihr Ergebnis ist die Neuerfindung der Kritik in der Dimension der Historizität. Marx und Foucault haben sich zu kriti schen Zeitgenossen gemacht, indem sie einen doppelten Bruch vollzogen haben, eine intellektuelle Verwandlung,o.. die ohne die _Entdeck�ng J!il1,er. �.m�.!!I�n tIistorizität __
undenkb!U'_ gewesen wäre. Sie haben den vorgefundenen Verhältnissen ebenso ihre Natürlichkeit wie ihre Selbstverständlichkeit genommen. Sie haben weder akzeptiert, dass die Dinge so sind, wie sie scheinen, noch dass sie so bleiben müssen, wie sie sind. Marx und Foucault beruhigten sich nicht am So-Sein der Dinge, es beunruhigte sie zutiefst. Die Geschichte als Raum der Kritik entdeckt und als deren zentrales Medium eröffnet zu haben, ist eine der bleibenden Leistungen von Marx. Das mo deme Geschichtsdenken besitzt hier einen, wenn nicht den entscheidenden seiner S Ursprungsherde, 1 und dieser historische Augenblick wirkt ansteckend. Diese Art zu denken hat Foucault radikalisiert. Es ist kein Zufall, dass der wich tigste theoretische Text Foucaults nach seinen großen Studien aus der Mitte der 70er 16 Jahre diese Frage thematisiert: "Was ist Kritik?,, Foucault beginnt hier nicht nur mit einer Neureflexion der Grundlagen seiner Historiographie:' Er umreißt zudem sein Projekt einer Genealogie des Subjekts als einer Geschichte der neuzeitlichen Men schen-Führung und - dies ist entscheidend - er begründet es aus der gegenwärtigen "Krise der Regierung": "Sämtliche Prozeduren, mit denen die Menschen einander
13 FV, 67f. 14 GdS, 1 6 1 . I S Diese Redeweise erscheint mir legitim, konfrontiert m an die Entdeckung der radikalen Histori zität mit der Parallelgeburt der historistischen Quellenkritik. Marx besitzt allen geschichtsphilo sophischen Versuchungen zum Trotz einen grundlegenderen Begriff von Historizität als seine hi storistischen Zeitgenossen und deren Epigonen. 16 WiK. 17 In nahezu allen größeren Texten Foucaults zu dieser Zeit lasst sich diese Ambition feststellen. U. Brieler, Die Unerbittlichkeit der Historizität: Foucault als Historiker. Köln u.a. 1998, 474-488.
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ruhren, sind erneut in Frage gestellt worden.,,18 Die Kritik der Gegenwart produziert ein historisches Projekt, das die Vergangenheit in ein neues, unbekanntes Licht wirft. Foucaults gesamte historische Praxis ist von der Idee besessen, die Geschichte als Feld der endlichen Möglichkeiten, der unwahrscheinlichen Gelegenheiten und der zermalmten Widerständigkeiten zu beleben. Dass er bei dieser Bemühung wie Marx mit den Geschichtssklerosen seiner Zeit ins Handgemenge kommen musste, versteht sich von selbst. Die Verwalter der herrschenden Identitäten und Gewissheiten lassen sich ungern in die Suppe spucken. Aber dies ist die unausweichliche Kehrseite der . Medaille: Nur wer seine Gegenwart verändern will, nimmt die Geschichte als Raum der Möglichkeiten und umkämpften Alternativen wahr. Der historische Blick sieht nur, was er sehen will. Die Vergangenheit, unsere, ist immer die Erfindung der Ge genwart im Hinblick auf eine mögliche Zukunft.
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Geschichte
Herbert Marcuse hat es im Moment des Auftauchens der Marxschen FrUhschriften als erster öffentlich gemacht. Er nennt es die "marxistische Grundsituation", also die "Seinsweise des menschlichen Daseins als geschichtlicher.,, 1 9 Marx und Engels kommen emphatisch zur Erkenntnis dieser Grundlage: "Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft von der Geschichte.'c2O Und in einem seiner ersten Texte bezeichnet Engels die "Geschichte als unser Eins und Alles [ ...], von uns höher gehalten als von irgendeiner andern, früheren, philosophischen Richtung.,,21 Tatsäch lich ist "Die deutsche Ideologie" ein Grundlagentext der modernen Art, historisch zu denken. Die Besonderheit dieser Arbeit besteht nicht nur darin, die materiellen Pro duktionsordnungen des Lebens als prioritär gegenüber den ideologischen Formen zu behaupten. Dies ist zeitgeschichtlich ebenso revolutionär wie heute banal. Ihre ei gentliche Qualität liegt in der Entschiedenheit, mit der die Historizität als Denkmo dus eingeftlhrt wird. Nichts Seiendes entgeht der Geschichte - mit all den Schwierig keiten, die diese Fundamentalerkenntnis mit sich bringt. "Die deutsche Ideologie" lebt von der Freude, einen neuen Gegenstandsbereich entdeckt zu haben, den er mit raumgreifenden Schritten erkundet. Althusser hat völ-
18 MiE2, 1 19; auch dieses Interview datiert wie der Vortrag "Was ist Kritik?" aus dem Jahr 1978. 19 H. Marcuse, "Beiträge zu einer Phänomenologie des Historischen Materialismus", in: Ders., Schriften, Bd. 1 . FrankfurtlM. 1978, 347-384, hier 348f. 20 K. Marx/ F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW 3 (1969), 1 8. 21 F. Engels, Die Lage Englands: "Past and Present" by Thomas Carlyle, in: MEW I (1972), 545.
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lig recht, "daß Marx der wissenschaftlichen Erkenntnis einen neuen ,Kontinent' ,eröffnet' hat, den der Geschichte".22 In der "Deutschen Ideologie" erhält dieser Kontinent seine ersten Konturen, wird seine theoretische Landkarte aufgenommen. Der Wille zur radikalen Kritik alles Bestehenden findet in der Neuerfindung des geschichtlichen Denkens ein wichtiges Operationsfeld. Foucaults Bekenntnis zum Denkmodus der Historizität ist im Hinblick auf sein Werk späten Datums, aber dafilr um so deutlicher: "Ich schreibe nichts als Ge schichte.,,23 Er nimmt damit nur eine Position öffentlich wieder auf, die er sich be reits nach seinem Bruch mit dem orthodoxen Marxismus zu Eigen gemacht hatte. Schon zu Beginn der 50er Jahre verschreibt er sich der "Schwäche, an die Geschichte zu glauben" und ergänzt in bewusster Abgrenzung von allen Anthropologismen, "selbst wenn es sich um die Existenz handelt.,,24 Diese Vorstellung einer radikalen Historizität bildet eine grundlegende Konstante des gesamten Foucaultschen Werkes. Was Marx und Engels mit der "Deutschen Ideologie" in Angriff nehmen,2s inten diert Foucault mit der "Archäologie des Wissens". Er will ein neu entdecktes Gegen standsfeld vermessen. Ist es hier die Grundlegung einer historischen Theorie der "Gesellschaftsformationen", so dort die Erarbeitung einer historischen Theorie der "diskursiven Formationen". Hier wie dort steht folgerichtig die Kritik der zeitgenös sischen "Vorstellungen" und "Einbildungen" an erster Stelle. Schon Walter Benja min hat diesen Einstiegsschritt in jede wirkliche Kritik betont: "FUr den materialisti schen Historiker ist es wichtig, die Konstruktion eines historischen Sachverhalts aufs strengste von dem zu unterscheiden, was man gewöhnlich seine ,Rekonstruktion' nennt. Die ,Rekonstruktion' in der Einfilhlung ist einschichtig. Die ,Konstruktion' setzt die ,Destruktion' voraus.'026 Also ist zunächst Zerstörung angesagt. Die Ar chäologie Foucaults will das gesamte Theoriegeröll der Ideen, Wissenschaften, Mentalitäten abtragen und an deren Stelle ein reflektiertes Modell einer historischen Theorie der diskursiven Praktiken setzen. Zunächst geht es daher um die Kritik von Geschichtsphilosophien, die die Histo rie ihrer Historizität berauben. Marx und Foucault identifizieren hier einen erstaun lich zeitlosen Gegner: die Vorstellung von "dem" Menschen als Schöpfer-Subjekt "der" Geschichte. In der "Archäologie des Wissens" kann sich Foucault daher mit
L. Althusser, Für Marx. FrankfurtlM. 1968, 12f. MiE2, 89 ELB, 30. Nur am Rande sei bemerkt, dass Marx und Engels in der ,,Deutschen Ideologie" beinahe genea logisch vorgehen: Sie prüfen die Ideen auf ihre jeweilige soziale Verwertbarkeit - und verraten damit das Geheimnis jeder Ideologieproduktion. 26 Benjamin, 149 (Anm. I). 22 23 24 2S
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guten GrUnden auf einen Marx beziehen, der sich dieser Anthropologisierung der Geschichte als erster verweigert hätte.27 Aber Foucault und Marx treffen auch auf ähnliche Vorbehalte. So ist über kaum Behauptung mehr Tinte vergossen worden wie über den vermeintlichen Ge ine e schichtsdogmatismus des historischen Materialismus, wie auf der anderen Seite der Textfundamentalismus der Archäologie bemängelt wurde. Bildet die Kritik der Ge schichtsphilosophien durch Marx nicht die Ouvertüre einer noch dominanteren Ge stalt des Kritisierten? Marx hat durch seine Untergangsszenarien des Kapitalismus im ersten Band des "Kapitals" dieser Tendenz zumindest zugearbeitet. Gleichzeitig existieren aber eine Fülle von Äußerungen seinerseits, die sich jede geschichtsphilo sophische Versuchung verbieten. Er besitze keinen "Universalschlüssel einer allge meinen geschichtsphilosophischen Theorie, deren größter Vorzug darin besteht, Ubergeschichtlich zu sein", schreibt er in einem Brief an russische Leser des "Kapi tals". Entscheidend seien die jeweils "geschichtlichen Umstände", die eine bestimmte Entwicklung ermöglichen. Er jedenfalls hätte in seiner "historische[n] Skizze von der Entstehung des Kapitalismus in Westeuropa" alles andere als eine "geschichtsphilo sophische Theorie des allgemeinen Entwicklungsganges [ ... ], der allen Völkern 2 schicksalsmäßig vorgeschrieben ist,,, 8 prätendiert. Eric Hobsbawms Feststellung, Marx' Geschichtsdenken sei "weit davon entfernt [ ... ], den historischen Prozeß als eine Einbahnstraße aufzufassen",29 kann daher gute GrUnde rur sich aufft1hren. Aber vielleicht ist die Frage auch falsch gestellt. Foucault hat in Marx und Freud die zwei bedeutendsten modemen ,,'DiskursivitätsbegrUnder'" gesehen. Ihre Aus strahlung bestehe gerade darin, die Grundlage rur ein Denken geöffnet zu haben, das bestimmte Fragen immer neu problematisieren muss: "Sie haben Raum gegeben filr Jo etwas anderes als sie selbst, das jedoch zu dem gehört, was sie begründet haben.'. Wenn dem so ist, so gehört die Frage nach der Historizität des Denkens unweigerlich zu diesen Problemen. Immer wieder ist der historische Blick bedroht vom Zugriff der herrschenden Verhältnisse, da er auf so vielflUtige Weise mit der symbolischen Re produktion der modemen Gesellschaftsformationen verbunden ist.
27 AdW ( 1994), 25. Foucault nimmt Marx hier gegen eine doppelte "Verfll1schung" in Schutz, ihn ,,zu anthropologisieren [und] aus ihm einen Historiker der Totalitäten zu machen" (25). Implizit ist dies auch eine Selbstkritik, denn exakt dies war der Vorwurf, den Foucault in ,,Die Ordnung der Dinge" gegen Marx erhoben hatte. 28 K. Marx, ,,Brief an die Redaktion der ,Otetschestwenyje Sapiski''', in: MEW 1 9 (1973), 1071 12, I l 1f. 29 E. Hobsbawm, ,,Marx und Geschichte", in: Ders.: Wieviel Geschichte braucht die Zukunft. München! Wien 1998, 204-219, 212. 30 WieA, 24f.
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Die Kritik der Geschichtsphilosophie, die den Verlust des sekurierten Erkennt nisgrundes nach sich zieht, fUhrt zwangsläufig zur Frage nach dem Standpunkt, von dem aus die historische Rede Legitimität gewinnt. Marx und Engels fanden ihn im Kombattantenstatus des Historikers. Ihre Geschichtsschreibung übersetzte einen doppelten intellektuellen Einsatz. Sie diente als Testfeld fUr die eigenen Geschichts konzeptionen und sollte zugleich historisch aufgeklärte Optionen fUr ein zeitgemäßes politisches Handeln eröffnen.31 Die eigene Aktualität zerbrach im historischen Blick, wie sie durch diese Operation einen neuen Raum von Möglichkeiten eröffnete. Der Foucault nach 1968 teilt diese Einstellung vorbehaltlos. So defmiert er die "Genealogie" als "Verbindung von gelehrten Kenntnissen und lokalen Erinnerungen, eine Verbindung, die es ermöglicht, ein historisches Wissen der Kämpfe zu erstellen und dieses Wissen in aktuelle Kämpfe einzubringen.,,32 Diese Positionsnahme erklärt auch das gesteigerte Interesse Foucaults an den historischen Schriften von Marx, insbesondere am ,,1 8ten Brumaire des Louis Bonaparte" und dem "Bürgerkrieg in Frankreich".33 Doch Foucault geht noch einen Schritt weiter. In einer Genealogie der neuzeitlichen Geschichtsschreibung entdeckt er einen agonalen Typus von Historie. Foucault sieht die Geschichtsschreibung vom einem fundamentalen Dualismus ge prägt, der sich auf das Verhältnis zur legitimen Herrschaft bezieht. Steht auf der einen Seite eine ,,'jupiterische' Geschichte" der Souveränität, so auf der anderen Seite eine "Gegen-Geschichte,,34 der Rebellion und des Umsturzes. Ihr Zusammen prall seit Beginn des 17. Jahrhunderts beschert dem modemen historischen Bewusst sein eine besondere WidersprUchlichkeit und Dynamik. Für Foucault findet die histo rische Praxis immer in einem umkämpften Feld statt, und hier verortet er auch seine Genealogie. Zweifelsfrei ist hier eine Facette des Foucaultschen Oeuvres zu entdek ken, die mehr oder weniger unerkannt ist, da seine Studien der 70er Jahre gemeinhin der Machtthematik zugeordnet werden.3s Foucault selbst reklamierte sie als Beiträge zu einer "Geschichte der Besiegten",36 mit denen er in die bestehenden Kräftever hältnisse eingreifen wollte, um sie zu verändern. Der radikale historische Blick, den Foucault pflegt, verwandelt aber nicht nur den Ort der historischen Rede, er erzwingt auch neue Kategorien. Der Unwille, sich in das Unveränderlich-Scheinende zu fUgen, der Wunsch, die Welt als unfertig und veränderbar zu denken, ist der Grundimpuls einer historischen Praxis, die neue Wör3 l Siehe dazu: G. Kluchert, Geschichtsschreibung und Revolution: Die historischen Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels 1 846-1 852. Stuttgart/ Bad Cannstatt 1985. 32 VdG, 17. 33 GYT, 1 5. 34 VdG, 80. In VLK, 32f. ist noch treffender von ,)upiterhistorie" und "Gegenhistorie" die Rede. 35 Brieler, 348-381 (Anm. 17). 36 FV, 60.
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ter schafft, Wörter, die durch ihren Gebrauch Legitimität erhalten. Für diese kritische praxis sind die symbolischen Benennungen keine unschuldigen Instrumente. Im Universalienstreit,,37 um den historischen Gegenstand, wie es Roger Chartier ge" nannt hat, stehen Marx und Foucault auf einer Seite. Die Dinge sind nicht pur zu haben, sie setzen eine minutiös betriebene Begriffsarbeit voraus, die sich der Diffe renz und der Polemik verschreibt. Wenn man nur das sagen wollte, was schon so viele gesagt haben, warum sollte man sich dann der Geschichte zuwenden? Marx und Foucault sind in diesem Sinne Erfinder. Sie haben neue historische Dinge entstehen lassen, weil sie unseren begrifll ichen Zugriff auf die Welt refor mierten. Für Marx ist diese semantische Revolution weitgehend bekannt. Aber Foucault ist nicht minder kreativ: "Archäologie", "Genealogie", "diskursive Prakti ken", "Disziplinar-Macht", "Bio-Politik", "Technologien des Selbst". Die Liste ließe sich fortsetzen. Sie findet in der Vokabel vom "historischen Apriori" als den ge schichtlichen Möglichkeiten der Entstehung von Gegenständen ihre konsequenteste Ausprägung, da diese Figur ebenso Kritik einer gängigen Idee, eben der Kantschen, wie ihre kritische Reformulierung darstellt. Der historische Interpret wird so' zum Element eines Kräftefeldes, in das er ge worfen ist und das er entwirft. Tut er dies bewusst, so steigert er seine Einsichtsmög Iichkeiten: Wer nichts in der Gegenwart will, erflihrt nichts von der Vergangenheit. Wer seinen aktuellen Standort nicht inteUektueU exorziert, bleibt in der positivisti schen Verblendung verfangen. Nichts anderes besagt die Marxsche Formel von der ,Parteilichkeit der Erkenntnis' - eine historische Kritik, die versucht, "an wirkliche Kämpfe anzuknüpfen und [sich] mit ihnen zu identifizieren.,,38 Bei Marx wie bei Foucault existiert der starke Wille, die Geschichte von jeder Betulichkeit und Zwangsdidaktik zu befreien: "Historia magistra vitae" - aber dies in einer sehr besonderen Weise. Das historische Wissen ist keine Beruhigungspille, es ist ein Aufputschmittel. Es entwirft die Dynamik der Veränderungen und die FüUe des Möglichen. Die historische Praxis muss sich jeder Status-quo-Fixierung entsa gen, da sie im Grunde eine Praxis der Beunruhigung darsteUt. Marx und Foucault erscheinen daher bei aUen Apologeten einer "Jupiterhistorie" wie wahre Heimsu chungen, Furien einer Historizität, die sich nicht bannen lässt.
37 R. Chartier, Die unvollendete Vergangenheit: Geschichte und die Macht der Weltauslegung. Berlin 1 989, 27. 38 Marx, "Briefe", 345 (Anm. 12).
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IV. Gesellschaft Geschichtsschreibung ohne Kontext ist ebenso undenkbar wie ohne Chronologie. Nicht dies ist strittig, sondern das theoretische Modell der Verknüpfung der gesell schaftlichen Elemente in ihrer zeitlichen Reihung. Marx wie Foucault stellen sich diesem Problem. Weit entfernt, die Grund-Legung des Gesellschaftlichen zu verges sen, versucht Foucault, sie in Abgrenzung von jedem "VulgärInarxismus'cl9 neu zu bestimmen. Ihm geht es nicht darum, den gesellschaftlichen Kontext zu negieren, sondern ihn theoretisch neu zu vermessen. Gesellschaft war tur Marx immer Vorgefundenes und zu Formendes, Grund-Lage und Praxis-Raum, in diesem Sinne, das "Produkt des wechselseitigen Handeins der Menschen.,,40 Die "Gesellschaftsformation" war der Begriff, der half, systematisch die Praxisräume einander zuzuordnen und historisch die Gesellschaftssysteme zu differenzieren. Marx konnte dies um so präziser tun, da sich in seinen Augen die modeme bürgerliche Gesellschaftsformation durch eine besondere Qualität auszeich nete: die Gnadenlosigkeit, mit der sie mit der Vergangenheit brach. Damit entpuppt sich die bürgerliche Gesellschaftsformation als eine wahre Re volutionierung der Tradition. Der Konnex von maschinell dominierter Arbeitsorgani sation, die bekannte Entfaltung der "Produktivkräfte", und moderner Kultur, mithin der neuen "Produktionsverhältnisse", reduziert alles Gegebene auf Vorläufiges und Endliches. Marx bewundert diese historischen Kräfte vorbehaltlos. Der Beginn des ,,Kommunistischen Manifests" ist ein einziges Lob dieser Dynamik in Gestalt einer Rhetorik der mitleidlosen Veränderung. Da wird alles ,,zerrissen", "zerstört", "er tränkt", "entkleidet", was sich dem Zugriff der Geschichte bisher entzogen glaubte: "Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Bezie hungen mit nüchternen Augen anzusehen." Erst der Kapitalismus erzeugt jenes Tem po der Veränderung, die ein modemes Verständnis von Geschichte ermöglicht. Die "fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung,,41 bilden als historische Apriori die tatsächlichen Bedingungen tur einem geschichtlichen Blick auf den Menschen und die gesellschaftlichen Verhältnisse, die ihn hervorbringen.
39 So bezeichnet Hobsbawrn die Tradition, die ausgehend von der Entdeckung der ökonomischen Gesellschaftsfonnationen eine Geschichtschreibung entwickelt, in der ein ökonomistischer De tenninismus und Automatismus regiert (E. Hobsbawrn, "Was haben Historiker Karl Marx zu verdanken?", in: Ders. (Anm. 29), 1 86-203, hier 191). 40 Marx, ,,Brief an Pawel Wassiljewitsch Annenkow vom 28.12.1846", in: MEW 27 ( 1 973), 452. 4 1 K. MarxJ F. Engels, ,,Manifest der Kommunistischen Partei", in: MEW 4 (1972), 464f..
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Die industrielle Gesellschaft war von Geburt an ein Menschenpark. Sie war um en d Preis ihrer Entwicklung gezwungen, innerhalb der Dynamik der entfesselten Kräfte eine Balance zwischen den verftlgbaren Arbeitsvermögen und den sachlichen Bedingungen der Reproduktion des Kapitals zu gewährleisten. Der aktuelle Be schleunigungsmodus, das Umschalten auf kurze und kürzeste , Wellen' verdeutlicht diese Grundtendenz zur subjektgeschichtlichen Kenntlichkeit: Der Mensch als sub jektives Potenzial steht immer im Visier der Historizitätsmaschinen des Kapitalver hWtnisses. Aus diesem zentralen Grund begreift Marx den Kapitalismus als eine historisch singuläre Gesellschaftsformation, "destruktiv gegen alles [. .] und bestän dig revolutionierend, alle Schranken niederreißend, die die Entwicklung der Produk tivkräfte, die Erweiterung der Bedürfnisse, die Mannnigfaltigkeit der Produktion und die Exploitation und den Austausch der Natur- und Geisteskräfte hemmen.,,42 Exakt diese Dynamik versucht er mit den theoretischen Metaphern von den "Pro duktivkräften" und den "Produktionsverhältnissen" zu fassen. Unsägliche Male ist diese Dialektik beschworen worden. Diese Formel wurde geradezu zum A und 0 der materialistischen Geschichtstheorie und gemeinhin als ein Mechanismus verstanden, der die sozialen Formen der Vergesellschaftung deterministisch an die technisch ökonomischen Notwendigkeiten fesselt. Abseits dieser Scholastik ist kaum zu Be wusstsein gekommen, dass Marx bei dem Versuch, gesellschaftliche Prozesse histo risch zu begreifen, von "Kräften" und "Verhältnissen" redet. Er hat also streng rela tionale Beziehungen im Auge. Eine "Kraft" ist immer durch ein Mehr oder Weniger gekennzeichnet, durch Intensitätsgrade und Qualitäten, ein "Verhältnis" durch eine Struktur mit variablen Elementen und Zuordnungen. Also: Marx' zentrale gesell schafts- und geschichtstbeoretische Kategorien sind relationistischer Natur. Sie ent behren jeder geschichtsmetaphysischen Finalität und Statik, da sie vorgebliche Sub stanzen als Verhältnisse definieren und durch den doppelten Modus von Bewegung und Beweglichkeit bestimmt sehen. Eric Hobsbawrn hat dies als die Quintessenz der materialistischen Gesellschaftsvorstellung unterstrichen: "Die große Stärke von Marx lag seit jeher in seinem Beharren auf der Existenz einer Struktur und zugleich ihrer Geschichtlichkeit, mit anderen Worten ihrer inneren Veränderungsdynamik.,,43 Marx denkt Gesellschaft nicht als Substanz, sondern als ein historisches System von Verhältnissen, die sich formieren. Und er denkt das Subjekt nicht als Monade, sondern als Effekt von Kräften, von denen es ein Teilelement ist. Geschichte ist daher nicht ein Raum von Automatismen und Gesetzen, sondern einer von imma nenten WidersprOchen: Kräfte, die sich aneinander reiben, Verhältnisse, die nicht ins .
42 K. Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie. Berlin 1 974, 3 13. 43 Hobsbawm, »Karl Marx", 1 95 (Anm. 39).
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rechte Lot kommen, Klassen, die sich bekriegen. All das muß nicht gut ausgehen, es kann im Desaster enden, im "gemeinsamen Untergang".« Foucault wird gemeinhin unterstellt, als Postmoderner keine Gesellschaft zu ken nen. Tatsächlich verwechselt man hier ein Problem mit seiner Lösung. Foucault hat den Raum des Gesellschaftlichen nie vergessen. Er bildet den Ort der Entstehung von Subjektivität(en) und Geschichte(n), wie das Ergebnis ihres Vollzuges. Man darf aus der unzweideutigen Denunziation der Totalität als einer Kategorie, die Gesellschaft von einem Zentrum her als grundlegend organisiert behauptet, nicht schließen, dass sich hier keine Frage verbirgt. Vordergründig stellt die Kritik des Totalitätsdenkens eine Konstante der theoretischen Arbeit Foucaults dar. Gleichzeitig entwickelt er permanent eigenständige Antworten auf die Frage, wie Gesellschaft historisch gene riert ist. Eine FUlle von Kategorien, die er im Laufe seiner intellektuellen Karriere entwickelt - die ,,Episteme", das "Archiv", das "Macht-Wissen", das "Dispositiv" sind unterschiedliche Lösungen fUr diese Problematik: analytische Codes fUr die komplexe Konfiguration des Gesellschaftlichen. Die Destruktion der Totalität wird in die Rekonstruktion der historischen Bedingungen UberfUhrt, in denen Subjekte und Objekte möglich werden. Foucault beharrt nachdrUcklich auf der historischen Imma nenz von Gesellschaft. Er untersucht, wie sich die Dinge und die Menschen in einem Prozess unlösbarer Symbiose wechselseitig hervorbringen und wie dieser Vorgang seinerseits zum Gegenstand eines Wissens vom Menschen wird. Foucaults Geschichtsdenken impliziert eine Gesellschaftstheorie, ohne ein ideal typisches Modell ,des' Geschichtsverlaufs und ,der' gesellschaftlichen Formation zu prätendieren. Tatsächlich, so Foucaults verdeckte These, existiert Gesellschaft nur ohne Zentrum im Wandel der Konfiguration der sie konstituierenden Elemente. Jedes Denken in Substanzen oder Invarianten findet sich daher verabschiedet: "Nichts ist fundamental. Dies ist es, was mich an der Gesellschaftsanalyse interessiert. Und deshalb irritiert mich nichts mehr als diese Nachfragen - die per Definition metaphy sisch sind - bezUglich der Grundlagen von Macht in einer Gesellschaft oder der Selbstsetzung einer Gesellschaft. Es existieren keine fundamentalen Phänomene, sondern nur reziproke Beziehungen,,4S - eben Verhältnisse. FUr Foucault existiert keine Totalität, die vorgeschichtlich die Organisation einer gesellschaftlichen Formation garantiert. Er setzt auf eine andere Karte. Seine Intenti on, die Erfassung der historischen Singularität eines Gegenstandes, verkennt nicht, dass sie einer gesellschaftlichen Synthese bedarf. Die theoretische Aufgabe bleibt das "In-Beziehung-Setzen" der konstituierenden Elemente in Form der "Gesamtheit der
44 Marx/ Engels, "Manifest", 4,62 (Anm. 41). 4S SKP, 247.
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determinierten Beziehungen",46 die ein Objekt erzeugen: ein totaler Relationismus. Jeder determinierte Zusammenhang einer gesellschaftlichen Gesamtheit erschöpft sich völlig in der Äußerlichkeit der verwobenen Elemente, ohne einen geschichtsfer nen Sinnkem zu besitzen. Den entschiedensten Versuch, die Konstitution eines Gegenstandes vom Feld seiner sozio-historischen Möglichkeiten her zu analysieren, stellt der Begriff des "Dispositivs" dar. Es ist Foucaults letzter theoretischer Versuch, das Problem der historischen Gegenstandskonstitution antireduktionistisch zu lösen, und dieser Ver such hat in letzter Zeit große Aufmerksamkeit erfahren.47 Denn Foucault fUhrt hier zahlreiche Problemsplitter noch einmal zusammen, die in seiner archäologischen phase unvermittelt nebeneinander lagen. Was ist also ein Dispositiv? "Was ich unter diesem Titel festzumachen versuche, ist erstens ein entschieden heterogenes Ensem ble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann. Zweitens möchte ich in dem Dispostiv gerade die Natur der Verbindung deutlich machen, die zwischen diesen heterogenen Elementen sich herstellen kann. [ ... ] Drittens verstehe ich unter Dispo sitiv eine Art von [ ... ] Formation, deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand zu antworten. Das Dispositiv hat also eine vorwiegend '8 strategische Funktion.''
Foucault zielt auf die unhintergehbare Verbindung von Diskurs und gesellschaft licher Situation, von strategischem Handeln und geschichtlichem Augenblick. Für ihn existiert die Differenz zwischen Wörten und Dingen, Struktur und Praxis, mit der Absicht, diese Elemente durch immer neue Anstrengung der historischen Analyse zu unterziehen, ohne sie in eine endgültige Ordnung zu bringen. In seiner historischen Praxis entfaltet Foucault Gesellschaft vom Gegenstand her, in dem sich die konkret-historischen Möglichkeiten, die "historischen Apriori" seiner Existenz fokussieren: eine auf das zu analysierende Phänomen konzentrierte Ge schichtskonstruktion ohne die Aussicht auf eine abschließbare Totalität. Für jedes Objekt (Wahnsinn, Verbrechen, Sexualität usw.) öffnet Foucault die Perspektive auf das kontingente Feld seiner gesellschaftlichen Bedingungen. Damit überschreitet die Dispositivanalyse von der Ambition her jede sektorale (Sozial-, Kultur-, Politik-, 46 AdW (1994), 80/45. 47 C. Hubig, ,:Dispositiv' als Kategorie", in: Internationale Zeitschrift ftlr Philosophie Heft (2000), 34-77; T. Laugstien, "Dispositiv", in: W.F. Haug (Hg.), Historisch-kritisches Wörter buch des Marxismus, Bd.2. Berlin 2 1999, 757-766; S. Jäger, "Dispositiv", in: M. S. Kleiner (Hg.), Michel Foucault: Eine Einftlhrung in sein Denken. Frankfurt/M. 2001 , 72-89. 48 SudP, I l9f. Dies ist die zentrale TextsteIle, in der Foucault das Dispositiv darstellt.
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"'-,
Wissenschafts-) Geschichte. So ist eine Geschichte des Sexualitätsdispositivs eben nicht auf das Feld der körperlichen Praktiken und ihrer ideologischen Imaginationen zu beschränken, wie eine Geschichte des Gefängnisdispositivs sich von einer bloß rechtsgeschichtlichen Perspektive verabschieden muss. Die Geschichtsanalyse hat die endlichen Faktoren aus den unterschiedlichsten sozialen Feldern zu erfassen, die den Gegenstand und seine Geschichte kreieren. Die Differenz zur avancierten Gesell schaftsgeschichte konzentriert sich im Eingriffspunkt, den die Analyse wählt. Nimmt man eine Blutprobe, um die multikausale Struktur des Objekts zu analysieren, oder untersucht man den Knochenbau (resp. das Nervensystem) als Struktur des Ganzen? Mit dieser analytischen Option erledigt sich ein weiteres Vorurteil. Kaum ein Ar gument ist dem Geschichtsdenken von Marx wie von Foucault häufiger begegnet als der Vorwurf, das Individuelle der Subjekte und das Besondere der Ereignisse dem Gesetzmäßigen und Anonymen des Geschichtsverlaufs zu opfern. Tatsächlich fmdet sich bei Marx dieses ZufiUlige "zumindest auf der Ebene der Verallgemeinerungen im Hinblick auf langfristige Bewegungen,,49 ausgeschlossen. Dies kann nicht anders sein, da es ihm um das Aufzeigen jener "langen Verläufe" geht, welche die materielle Struktur eines bestimmten Zeitraumes grundieren.so Dies ist aber nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen steht das Wissen um die ereignishafte Historizität der Geschichtsprozesse. Denn es sind "unzählige einander durchkreuzende Kräfte, eine unendliche Gruppe von Kräfteparallelogrammen, daraus eine Resultante - das ge schichtliche Ergebnis - hervorgeht [... ]. Denn was jeder einzelne will, wird von je sl dem andern verhindert, und was herauskommt, ist etwas, das keiner gewollt hat." Wo eine affirmative Geschichtsschreibung unter der Last der Notwendigkeiten ächzt, bringt eine kritische Historie die Realität der Kontingenzen und Ereignisse zu Wort. Keinesfalls bedeutet dies, das komplexe historische Spiel von Kontinuität und Bruch, Struktur und Praxis zu negieren. Das schiere Gegenteil ist der Fall. Man muss es tatsächlich ernst nehmen und dies in aller Konsequenz. Man darf die Geschichte nicht vom Widerwärtigen befreien, nicht so tun, als hätte es "das" nie geben dUrfen, als sei "etwas" nur ein bedauerlicher Unfall. Im Gegenteil: Das Extreme spricht die Wahrheit aus. Im Blick auf die Grenzen lassen sich präziser die Konturen einer For mation erfassen. Von der "Geschichte der Grenzen"S2 in seinem ersten Buch bis zu jener "Geschichte von Problemen",sl die seine letzten Arbeiten profilieren, hat Foucault diese Randbezirke akribisch erkundet: 49 Hobsbawm, ..Karl Marx", 191 (Anm. 39). 50 Anderen Ortes weiß man dies zu schatzen: In Fernand Braudels dreibandiger ..Sozialgeschichte des 15.-18.Jahrhunderts" (MUnchenI985/ 1987) ist Marx der meistzitierte Autor. 5 1 F. Engels, ..Brief an Joseph Bloch vom 2 1 .122.9.1 890", in: MEW 37 (1974), 464. 52 WuG, 9. 53 GE, 268.
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Um zum Beispiel herauszufinden, was unsere Gesellschaft unter vernünftig versteht, sollten wir
�ielleicht analysieren, was im Feld der Unvernunft vor sich geht. Wir sollten untersuchen, was im
Feld der Illegalität vor sich geht, um zu verstehen, was wir mit Legalilllt meinen, und um zu verste hen, worum es bei Machtverhältnissen geht, sollten wir vielleicht die Widerstandsformen und die Versuche zur Auflösung dieser Verhältnisse untersuchen."54
Diese Genealogie der ,,'Menschlichkeit'''SS will alles andere denn das Spektakulä re und Außergewöhnliche hervorkehren. Sie zielt auf eine Geschichte des Normalen und Selbstverständlichen - und exakt darin besteht ihr Skandal. Foucault beharrt gegen jeden ahistorischen Strukturalismus auf der Kontingenz der Ereignisse, gegen jeden Totalisierungsanspruch auf der Alterität und Aktualität des historischen Wissens. Alles andere als ein Systemhistoriker ist Foucault daher auch ein Meister des historischen Porträts und des zeitgenössischen Augenblicks. Foucault hat das individuelle Geschick stets interessiert. Ich nenne nur die Studien zur Verstrickung gewöhnlicher Menschen in die Fallen der modernen Justiz- und Wissenschaftsapparaturen. Foucault plante gar eine eigene Reihe in Form einer "Anthologie von Existenzen", die "kein anderes Echo als das ihrer Verdammung" besitzen und daher in der traditionellen Geschichtsschreibung heimatlos sind. Dieses Projekt, das nicht zustande kam, war bewusst als "Kehrseite zu Plutarch",S6 also konträr zur Geschichte der großen Männer und Mächte gedacht. Hier existiert eine kaum wahrgenommene Parallele zu den Dioskuren des histori schen Materialismus. Marx und Engels waren aufmerksame Beobachter ihrer All tagsgeschichte. Das Tagesgeschehen, vorgefunden in diversen Diskursen (Parla mentsberichten, Zeitungen etc.), war ihnen nicht nur Material tur ihre großen Unter suchungen. Stellvertretend tur diese alltagsgeschichtliche Affinität sei nur Engels frühe Studie "Die Lage der arbeitenden Klasse in England" genannt. Hier tauchen all die Aspekte auf, die Foucault mit dem Namen "Bio-Macht" kennzeichnen wird: Wohnverhältnisse, Ernährung, Gesundheitszustand, Familienstrukturen, Freizeitver halten usw. Die zeitgenössischen Quellen dienten zudem als Detailsstudien, in denen s7 sich individuelles Schicksal und sozial-historische Konstellation treffen. Dem Wil len, gesellschaftliche Langzeit-Strukturen zu skizzieren, ist weder bei Marx noch bei Foucault das konkrete Individuum, das spezifische Ereignis geopfert worden. Es ist Zeit, diese Behauptung in der Mottenkiste der unbelesenen Vorurteile abzulagern.
54 55 56 57
SuM, 245. ÜuS, 1 17. FR; ÜH, 2; LdiM, 7, das Vorwort zu der geplanten Buchreihe. Beispielhaft sei hier verwiesen aufK. Marx, Vom Selbstmord. Köln 200 1 ; siehe zum Selbstmord die Arbeit Foucaults: Le G.I.P., Suicides de Prison. Paris 1973.
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V. Praxis Marx' Materialismus fundiert in einem emphatischen Begriff der Praxis. Gegen die herrschenden Zeitgeister wirft er seine Entdeckung der sinnlichen und praktischen Tätigkeit des Menschen, die diesen und seine Verhältnisse hervorbringt. Das ,,zu sammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung" nennt er so "revolutionäre Praxis".58 Marx begreift die ,,Arbeit als den Selbsterzeugungsakt des Menschen" und "die ganze sogenannte Weltge schichte [als] nichts anders als die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit.,,59 Diese frühe anthropologische Redeweise wird bald der Vergangenheit angehören, denn Marx grundiert diese Praxis, worüber im Kapitel über das "Subjekt" zu reden sein wird, in einer sozio-historischen Realität, die ihr vorausgeht, aber ohne diese Praxis undenkbar wäre. Etwas anderes aber bleibt: Die Praxis, die Arbeit weckt Marx' Interesse als eine Kraft, die Wirklichkeit verändert und in diesem Prozess der Veränderung das Subjekt braucht wie verbraucht. Denn der zentrale ethische Impuls, der Marx vorantreibt, ist die Frage: Um welchen humanen Preis verrichtet die indust rielle Zivilisation ihre Arbeit? Marx versucht, die industrielle Formation auf der Höhe ihrer Zeit und Möglich keiten zu verstehen. Wenn Marx ein Fortschrittshistoriker ist, dann nur in dem Sinn der Annahme, dass die entfesselte Dynamik der industriellen Kräfte kein Zurück erlaubt - nur ein Vorwärts unter Aufbietung eines Maximums an historischem Be wusstsein. Der Praxis-Philosoph besitzt durchaus die Vorstellung, dass das menschli che Leben im Zeitalter der Industrie in ganz anderer Weise als ehedem produktiv wird. Die Voraussetzung hierfllr bildet die Potentialität des Subjekts. Aus den indust rialisierten Menschen ist mehr herauszuholen, als in sie hineingesteckt wird. Marx' ökonomische Begriffe gewinnen aus dieser Erkenntnis ihre Erklärungs kraft. Die "Produktivkraft", die "Arbeitskraft", der "Gesamtarbeiter" sind historische Stoffe par excellence, deren Produktivität um so ertragreicher ist, als die gesell schaftlichen Mechanismen deren Potentialität stimulieren. Im Übergang von der Manufaktur zur großen Industrie hat Marx eine ganze Geschichte des Gesamtarbei ters geschrieben und belegt, wie sich Sinne und Fähigkeiten der praktischen Men schen im Wandel ihrer Vernutzung notgedrungen verändern. Die Formel von der "organischen Zusammensetzung" des Kapitals ist in ihrer subjektiven Dimension daher wörtlich zu nehmen. Der Körper der Arbeitskraft, d.h. des Individuums in seiner Subjektivität und der Individuen als Arbeitsmarkt, bedarf einer kontinuierli58 K. Marx, "Thesen über Feuerbach", in: MEW 3 (1969), 6. 59 K. Marx, "Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844", in: MEW 40 (1985), 584/546.
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ehen Neuzusammensetzung. Die industrielle Produktionsweise fußt auf der Notwen digkeit, das variable Kapital den Produktionserfordernissen und ihren Mutationen anzupassen. Das lebendige Arbeitsvermögen der produziert-produzierenden Subjekte muSS kompatibler Bestandteil des Produktionsapparates werden. Darin liegt subjekt geschichtlich die historische Differenz der industriellen zu den vormodernen Pro duktionsweisen, die auf der bloßen Auspressung der manuellen Arbeit beruhten. Marx entwickelt die Idee des menschlichen Arbeitsvermögens als zentralem Pro duktionsstoff der Industrie nicht weiter. Dieses Defizit hat drei GrUnde. Zum einen benötigt der industrielle Produktionsprozess seiner Zeit in viel stärkerem Maße eine Disziplinierung der Arbeitskraft als ihre selbsttätige Formierung. Zum zweiten ist Marx' zentrale gesellschafts- und geschichtstheoretische Erkenntnis ja gerade die unpersönliche Macht des Kapitals, der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnis se. Und daher bedrängt ihn zum dritten vielmehr die Frage, wie sich die historisch einmalige Dynamik der industriellen Produktivität erklärt. Marx konzentriert sich darauf, dieses Geheimnis nicht in den Potenzialen des Subjekts, sondern in den ob jektiven Strukturen der industriellen Reproduktion zu suchen, eben in einer Kritik der politischen Ökonomie des Kapitals. Vielleicht ist dies die folgenschwerste Theo rieentscheidung, die Marx vorgenommen hat. Denn sie lenkt die materialistische Geschichtsauffassung auf einen subjektlosen Objektivismus hin, der nicht nur theo retisch verheerende Konsequenzen gezeitigt hat. Die materialistische Theorie, die als einzige den Menschen sozialhistorisch fixiert, hat jenseits der endlos zerredeten Thesen aus den "FrUhschriften" keine Tradition entwickelt, die eine historische Theorie des Subjekts begründet hätte. Exakt an dieser Leerstelle setzt der Foueault der 70er Jahre an. In den 60er Jahren hatte er zunächst eine erste Erweiterung des Materialismus vorgenommen, indem er den Diskurs als Praxis unter je spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen defi nierte. Diese Dinge werden schlicht nicht wahrgenommen, weil sie zu offensichtlich sind. Die Archäologie will keine Theorie "des" Diskurses sein, sie ist eine historische Theorie der Diskursproduktion. Die theoretische Ambition besteht darin, "eine ganz andere Geschichte dessen zu schreiben, was die Menschen gesagt haben.,,60 Foucault proklamiert also unmissverständlich eine begrenzte Reichweite seiner Archäologie. Nichts ist unsinniger als der Vorwurf, rur die Archäologie hätte nur der Diskurs Materialität und die Gesellschaft würde in Texten aufgehen. Das schiere Gegenteil ist der Fall. Mit dem Begriff der "diskursiven Formation", schon dieser Terminus erin nert stark an die "Gesellschaftsformation" bei Marx, wird der Versuch unternommen, die gesellschaftlichen Existenzbedingungen des Diskurses dingfest zu machen: den Ort seines Auftauchens, das Subjekt seiner Aussage, die Möglichkeit seiner begriffii60 AdW (1994), 197.
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chen Fassung, die Strategie seiner Verwendung. Allerdings - und hierin besteht die entscheidende Differenz etwa zu literatur- oder wissenssoziologischen Unterneh mungen - weigert sich Foucault entschieden, die diskurs�ven Formationen als bloßen Reflex oder als Abbild einer vermeintlichen Basisstruktur zu definieren. Die Diskur se bei Foucault besitzen eine Materialität sui generis, die zwar gesellschaftlicher Natur ist, aber sich in keine endgültigen Zuordnungsverhältnisse pressen lässt. Jeder Diskurs besitzt seine eigene Geschichte. Im Gegensatz zu seinen Kritikern ist sich Foucault also der Grenzen seines ar chäologischen Projekts vollauf bewusst. Und da, wo er versucht, eine gesellschafts theoretische Erweiterung anzudeuten, steht der Name ,Marx'. In der "Archäologie des Wissens" konzediert Foucault diesem nicht nur, am "Ursprung" der "erkennt nistheoretische[n] Veränderung der Geschichte" zu stehen. Er sieht hier zudem eine Möglichkeit, den Aporien der Archäologie zu begegnen. Denn da, wo die Archäolo gie den Rubikon zwischen den diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken über schreiten will, "begegnet sie der Analyse der Gesellschaftsformationen.,,61 Deutlicher und selbstkritischer - stellt man Foucaults Marx-Darstellung in der "Ordnung der Dinge" in Rechnung - kann man es kaum formulieren. In den 70er Jahren erweitert Foucault seinen Materialismus von der Archäologie als einer materialistischen Ideengeschichte zur Genealogie als einer Gesellschaftsge schichte der materiellen Praktiken. "Ich frage mich tatsächlich, ob es nicht materiali stischer wäre, wenn man [ ..] die Frage des Körpers und der Wirkungen der Macht auf ihn untersuchte. [...] In Wirklichkeit ist nichts physischer, körperlicher als die Ausübung von Macht." Mit diesem Plädoyer rur einen besseren Materialismus geht Marx gegenüber eine thematische Schwerpunktverlagerung einher. Natürlich weiß Foucault, dass "es bei Marx sehr interessante Dinge über den Körper gibt.,,62 Aber ihn interessieren nicht die harten Kategorien der politischen Ökonomie, sondern ihr weiches Unterteil: die Produktion von Subjektivitäten. Er fragt, welche spezifischen Formen Herrschaft annehmen muss, um ein rationales Arbeitssubjekt zu kreieren. Foucault nimmt den Anspruch der Modeme absolut ernst. Er spürt nach den Bedin gungen und Regeln der vernünftigen Produktion des Menschen durch den Menschen im Ensemble konkret-historischer Verhältnisse: "Wir umkreisen da einen Satz von Marx: Der Mensch erzeugt den Menschen. Wie ist das zu verstehen? Meiner Ansicht nach ist das, was erzeugt werden soll, nicht der Mensch, so wie ihn die Natur vorge zeichnet hat oder wie sein Wesen es vorschreibt; wir haben etwas zu schaffen, das noch nicht existiert und von dem wir nicht wissen können, was es sein wird.,,63 .
61 AdW ( 1994), 22, 295. 62 MuK, 1 08, 109. 63 MiE2, 83.
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VI. Subjekt Marx und FoucauIt repräsentieren zwei Etappen einer Geschichte des neuzeitlichen Subjekts. Marx ist der erste Theoretiker, der systematisch zu begreifen versucht, was die freigesetzten Kräfte des Kapitals dem Menschen antun, wie sie ihn formen, fes seln und fixieren. Seit den "Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten" bleibt Marx dieser Idee eines durch die Industrie neukonstruierten Menschen auf der Spur. Und wenn Marx einer Utopie anhängt, dann der Vorstellung, dass diese entfesselten Kräfte ein Subjekt hervorpressen, das ihnen gemäß ist. Marx denkt vor Nietzsehe. Er glaubt an ein ,happy end' des Subjekts: Aus den unsäglichen Leiden der ursprüngli chen Akkumulationen wird ein anderer Mensch geboren werden. Foucault steht rur eine neue Etappe dieser Genealogie. Angeregt durch die sozialrevolutionären Bewe gungen der 60er Jahre und das Auftauchen der neoliberalen Regierungskunst am Ende der 70er Jahre findet er zum Problem der Subjektivierung. Mit Marx' sechster These über Feuerbach datiert die theoretische Geburt einer hi storischen Menschenwissenschaft: "Aber das menschliche Wesen ist kein dem ein zelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das en 64 semble der gesellschaftlichen Verhältnisse.,, Im gewissen Sinne ist Marx mit dieser Erkenntnis der Erfinder der historischen Anthropologie. Zumindest öffnet er den theoretischen Raum ihrer Möglichkeit, indem er jede essentialistische Rede von "dem Menschen" aufkündigt. Marx denkt den humanen Arbeitsprozess als einen stets historischen Vorgang der konkreten Mensch-Werdung, in dem Sinnlichkeit und Geistigkeit, Physis und Psyche wirklich werden, indem sie gesellschaftliche Gestalt annehmen. "Denn nicht nur die 5 Sinne, sondern auch die sogenannten geistigen Sinne, die praktischen Sinne (Wille, Liebe etc.), mit einem Wort der menschliche Sinn, die Menschlichkeit der Sinne wird erst durch das Dasein seines Gegenstandes, durch die vermenschlichte Natur. Die Bildung der 5 Sinne ist eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte. [ . ] Man sieht, wie die Geschichte der Industrie und das geordnete gegenständliche Dasein der Industrie das aufgeschlagne Buch der menschlichen Wesenskräfte, die sinnlich vorliegende menschliche Psychologie ist.,,6s Der Körper, die Seele, die Intelligenz dieses Menschen entstehen im Stoffwechsel mit einer Natur, deren Teil er selbst ist. Dieser Arbeitsprozess ist ein Subjektivie rungsvorgang ohne gleichen. "Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer rur sein eigenes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch die Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigene Na.
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64 Marx, "Thesen Ober Feuerbach", 6 (Anm. 58). 6S Marx, "Ökonomisch-philosophische Manuskripte", 541f. (Anm. 59).
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tur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer 66 Kräfte seiner eigenen Botmäßigkeit.,, Der " 1 8te Brumaire des Louis Bonaparte" schreibt diese historische Anthropolo gie fort. Das Menschenwesen als Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse wird einer zweiten Historisierung unterworfen. Das Subjekt schafft sich seine eigene Welt, aber dieser geschichtliche Akt ist immer gesellschaftsgeschichtlich überdeterminiert. "Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien StUcken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen." Und wie um diese radikal-historische Bestimmung der menschlichen Verhältnisse zu unterstreichen, flihrt Marx mit einem starken Bild fort: "Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. ,,67 Dieser doppelte Antiessentialismus, der Verhalten aus Verhältnissen und Ver hältnisse aus Geschichte erklärt, hat zwei Konsequenzen. Zum einen ,stirbt' der Mensch: ,,'Der Mensch' ist immer eine Spukgestalt, solange er nicht an dem empiri schen Menschen eine Basis hat.,,68 Zum anderen entwickelt Marx eine enorme Skep sis gegen den Begriff des Individuums. Wenn der wirkliche Mensch seine Identität als Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse gewinnt, dann muss das abstrakte Individuum eine prekäre Gestalt sein. Marx hat die Revolution von 1789 als den entscheidenden Schub gesehen, der die Figur des Individums in den Rang einer un hinterfragbaren Größe erhebt. Ein ,,Mensch" wird geboren, der als gesellschaftliches, d.h. bürgerliches Wesen längst existiert. Marx' Kritik gilt einem Individualismus der abstrakten Rechte, der seine Grundlagen in der Herrschaft der Privatinteressen und des Kapitals systematisch unterschlägt. Die Duplizität vom Citoyen als idealem Staatsbürger und Bourgeois als einsamem Wirtschaftsakteur verweist auf diese Ver kennung. Die Welt der Konkurrenz und Vereinzelung idealisiert sich im abstrakten Staatsbürger. Die Französische Revolution segnet diese "Illusion des egalitären 69 Staatsbürgertums in einer Welt der ungleich verteilten Reichtümer" ab. Foucaults Appell im Einftlhrungskapitel von "Überwachen und Strafen" liest sich wie ein Echo dieser Kritik: "Der Mensch, von dem man uns spricht und zu dessen Befreiung man einlädt, ist bereits in sich das Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er." Allemal liefert Foucault eine sozial- und kulturgeschichtliche Grundlage des Individualismus, den Marx an der Französischen Revolution exempli-
66 K. Marx, Das Kapital, Bd. 1 , in: MEW 23 (1972), 192. 67 K. Marx, .,Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte", in: MEW 8 (1973), 1 15. 68 F. Engels, "Brief an Marx vom 1 9.November 1 844", in: MEW 27 ( 1 973), 12. 69 F. Furet, "Marx", in: Ders.l M. Ozouf, Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution, Bd. 2. FrankfurtJM. 1 996, 1 571-1 584, 1 574.
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fiziert hatte. Foucaults Geschichte der Disziplinen unterstreicht die gemeinhin unter schlagene Doppelbödigkeit dieser Entwicklung: ,,Die ,Aufklärung', welche die Frei 70 heiten entdeckt hat, hat auch die Disziplinen erfunden.,, Beiden, Marx und Foucault, ist die heterogene Dialektik der historischen Prozes den Boden ihrer Kritik bildet, durchaus bewusst. Aber anders als beim späten die se, der von der Dimension der Subjektivierung aus genannten Gründen absieht Marx, dessen Begriff der "Charaktermaske" sich die gesellschaftliche (De)Formie und in rung bloß polemisch abspiegelt, geht Foucault in eine andere Richtung. Wo Marx den gesellschaftlichen Grund in der politischen Ökonomie des Kapitals ausleuchtet, zielt Foucault in Anknüpfung an Marx auf eine politische Ökonomie des Subjekts. Foucault schreibt an einer Geschichte der Subjektwerdung des neuzeitlichen Men schen. ,Subjekt' bei Foucault heißt immer die konkret-historische Gestalt des Men schenwesens in ihrer unaufhebbaren Verschränkung von Unterwerfung und Selbst Entwurf, wobei die massive Tatsache dieser Subjektivierungen ein Spezifikum der Neuzeit darstellt. Foucaults zentrale historische These lautet: Die Bildung des frUh neuzeitlichen Staates und die Formierung der Menschen zu Subjekten der Souverä nitäts-, Disziplinar- und Bio-Macht sind zwei Seiten einer historischen Medaille. Vorneuzeitliche Formen der Herrschaft hatten kein Interesse am Menschen. Jen seits der herrschenden Großen verschwand der Einzelne in der gesichtslosen Masse. Er hatte zu dienen, Tribute zu entrichten und sich zu opfern. Aber er war kein Objekt der Formung, Fürsorge und Erziehung. Wenn Max Weber im Monopol der legitimen Gewaltausübung das Besondere des modemen Staates sah, ja nur rur Herrschaftsge bilde mit dieser Funktion den Namen , Staat' überhaupt vorsah,7. so ließe sich mit Foucault sagen, dass das Charakteristikum des modemen Staates seit dessen Geburt im 16. Jahrhundert die Menschen-Führung darstellt. In dieser Perspektive erscheint der Staat als eine "Individualisierungs-Matrix",72 als Gehäuse von Institutionen und Techniken, die das Subjekt als bevorzugtes Objekt ins Visier nehmen. Mit der Wahl dieses spezifischen Forschungsobjekts leugnet Foucault in keiner Weise andere Funktionen des Staates. Seine Konzentration auf die Genealogie von modernem Staat und Subjekt gilt, wie im übrigen auch Max Webers Dezision rur die Untersuchung des Gewaltmonopols, einem Tatbestand, der den modemen Staat von 70 ÜuS, 42, 285. 71 A. Anter, "Von der politischen Gemeinschaft zum Anstaltsstaat: Das Monopol der legitimen Gewaltsamkeit", in: E. Hanke! W. J. Mommsen (Hg.), Max Webers Herrschaftssoziologie. Tü bingen 2001, 121-138. Anter vermerkt, dass Weber weder eine moralische Begründung ftlr das Gewaltmonopol gibt, noch sich an anderen Staatsfunktionen wesentlich interessiert zeigt, und er schon gar nicht eine auch nur ungefllhre Datierung der Genese des Gewaltmonopols vornimmt. All diese Defizite werden Foucaults Macht-Analytik nicht eben selten vorgehalten. 72 SuM, 249.
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allen vormodemen Herrschaftsgebilden abhebt. Als Ergebnis präsentiert Foucault eine originäre Geschichte der abendländischen Menschen-Führung, die ausgehend von der religiösen Pastoral-Macht seit der frühen Neuzeit drei realhistorische Typen von Herrschaft kristallisiert: die Souveränitäts-, die Disziplinar- und die Bio-Macht. Foucault intendiert ausdrücklich keine Geschichte ,der' Macht. Er schreibt statt dessen gegen eine Konzeption an, die Menschen-Führung ausschließlich in den Ka tegorien des Gesetzes, des Verbotes, der Repression denkt. Seit dem Hochmittelalter entwickelte sich diese Vorstellung im Rahmen einer Theorie der Souveränität. Den ken und Handeln dieser "Souveränitäts-Macht" entstanden auf dem Boden einer Vielzahl feudaler Gewaltträger, die in permanenten Auseinandersetzungen um die ihnen übertragenen Rechtstitel lagen. Monarchie und frühneuzeitlicher Staat machten ihre Position als Alleinherrscher in dem Maße plausibel, wie sie innerhalb der ewigen Kleinkriege als neutrale Vermittler auftraten, um diese letztlich durch die Monopoli sierung der legitimen Gewaltmittel zu überwinden. Die Überlegenheit dieses rechts llirmigen Machttypus war an sozio-ökonomische Tatbestände gebunden, die rur Foucault um so selbstverständlicher sind, als dass er sie einer austUhrlichen Erwäh nung rur nötig erachtet. Denn einer feudalen Gesellschaftsformation, deren Produkti onsweise durch die Fronarbeit und die Eintreibung von Geld und Naturalien, deren politische Struktur durch definierte Dienste und Verpflichtungen geprägt war, korre spondierte ein Machttypus, der diese Elemente in rechtlich verbindliche Formen goss und Instrumente ihrer gewalttätigen Einholung legitimierte. . Parallel zur Installation der Souveränitäts-Macht entfaltete sich seit dem späten 16. Jahrhundert ein neuer Machttypus: die "Disziplinar-Macht". Ihr Thema ist die Formierung der menschlichen Arbeitsvermögen. Welche Bedingungen ermöglichen den "Eintritt der menschlichen Existenz in den Bereich der Ware", welche "neue[n] Ansprüche werden an die Individuen als Produktivkräfte gestellt?,,7) Die Zurichtung der menschlichen Arbeitsvermögen geschieht als Resultat sich überschneidender und wechselseitig verstärkender Techniken in den unterschiedlichen institutionellen und sozialen Zusammenhängen. Foucault folgt also eindeutig einer materialistischen Fragestellung. Er untersucht die ,,Produktion des Menschen durch den Menschen,,74 im Rahmen einer bestimmten sozio-historischen Konstellation. Allerdings geschieht dies in Gestalt einer tUr ihn typischen theoretischen Verschiebung, die jede Form der Ableitung oder der Repräsentation der untersuchten Phänomene unterläuft. Exakt hier liegt die Differenz zu jedem dogmatischen Materialismus: .
,,Es ist falsch, ,mit jenem berühmten Nach-Hegelianer' zu sagen, dass die konkrete Existenz des Menschen die Arbeit ist. Denn das Leben und die Zeit des Menschen sind nicht von Natur aus Arbeit,
73 VAM, 40; Sg, 2 1 7. 74 MiE2, 83.
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sie sind: Lust, Unstetigkeit, Fest, Ruhe, BedUrfuisse, ZuflIlIe, Begierden, Gewalttätigkeiten, Räube reien etc. Und diese ganze explosive, augenblickhafte und diskontinuierliche Energie muss das Kapital in kontinuierliche und fortlaufend auf dem Markt angebotene Arbeitskraft transformieren. Das Kapital muss das Leben in Arbeitskraft synthetisieren.,m
Wie Marx stellt sich auch Foucault die Frage nach dem Umbau des mittelalterli en ch in den neuzeitlichen Menschen. Anders als dieser beantwortet er sie subjektge schichtlich, indem er das klassische Zeitalter vom Ende des 16. bis zum Ende des 1 8. Jahrhunderts als Epoche der Akkumulation der Körper thematisiert. Er bearbeitet weniger die ,objektiven', sozio-ökonomischen und politischen Veränderungen, die er als selbstverständlich annimmt. Ihn interessiert die Herausbildung eines spezifisch industriellen Sozialcharakters als ,subjektives' Korrelat: "Ein ungeheures Werk, zu dem das Abendland Generationen gebeugt hat, während andere Formen von Arbeit die Akkumulation des Kapitals bewerkstelligten: die Su ektivierung der Menschen, 7 das heißt ihre Konstituierung als Untertanen/Subjekte.,, Es handelt sich um zwei Seiten eines Vorgangs: "Die beiden Prozesse, Akkumulation der Menschen und Akkumulation des Kapitals, können indes nicht getrennt werden; das Problem der Anhäufung der Menschen wäre nicht zu lösen gewesen ohne das Anwachsen eines Produktionsapparates, der diese Menschen sowohl erhalten wie nutzbar gemacht hat; umgekehrt wird die Bewegung der Kapitalakkumulation von den Techniken be schleunigt, welche die angehäufte Vielfalt der Menschen nutzen."77,Die Technik�n, die sich der Dressur des Menschen annehmen, und die politisch-ökonomischen Impe rative, die diesen Prozess forcieren, sind "seit dem 17. Jahrhundert zwei korrelative, untrennbar miteinander verbundene Phänomene.,,78 Diese Techniken der Disziplinar Macht bilden "eines der grundlegenden Instrumente bei der Errichtung des Industrie kapitalismus und des zu ihm gehörenden Gesellschaftstyps.,,79 In einem zweiten Wurf erweitert Foucault diese Geschichte der individuellen Körper[ormierung um das Thema der Bevölkerung, die im 1 8 . Jahrhundert als neuer Gegenstand politischer Theorien und Techniken entdeckt wird. Diese bauen auf den Disziplinarprozeduren auf, schreiben sie aber in eine soziale Breite fort und verstaat lichen sie. Foucault begreift diesen Moment als historisch singulär. Nun treten die Kräfte und Potenziale des Lebens der menschlichen Gattung in den Raum einer ge zielten politischen Verwaltung. "Der abendländische Mensch lernt allmählich, was es ist, eine lebende Spezies in einer lebenden Welt zu sein, einen Körper zu haben so-
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75 76 77 78 79
�{
MuN, 1 17. SuWI (1977), 78. ÜuS, 283. WuM, 43. VdG, 46.
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wie Existenzbedingungen, Lebenserwartungen, eine individuelle und kollektive Ge sundheit, die man modifizieren, und einen Raum, in den man sie optimal verteilen kann. Zum ersten Mal in der Geschichte reflektiert sich das Biologische im Politi schen. Die Tatsache des Lebens ist nicht mehr der unzugängliche Unterbau, der nur von Zeit zu Zeit, im Zufall und in der Schicksalhaftigkeit des Todes ans Licht kommt."so Die Bevölkerung wird zum privilegierten Objekt der Beobachtung und Bearbei tung. Statistiken jeder Art (der Krankheiten, der Lernfortschritte, der Kindersterb " lichkeit, der Gesetzesübertretungen, der Migrationen etc.) schaffen ein administratives Wissen, das sich in den Kameral- und Policey-Wissenschaften konzentriert. Diesen Punkt verortet FoucauIt als ,,'biologische Modernitätsschwelle'" der abend ländischen Gesellschaft, "wo es in ihren politischen Strategien um die Existenz der Gattung selber geht. Jahrtausende hindurch ist der Mensch das geblieben, was er tUr Aristoteles war: ein lebendiges Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist. Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht." In institutionengeschichtlicher Hinsicht lässt sich ein Großteil der Staatsapparate, die sich seit dem Ende des 17. Jahrhunderts herausbilden, als Konse quenz dieses biopolitischen Schwellensprungs lesen. Das Leben der Bevölkerung wird zum kostbarsten Gut und diese Erkenntnis bewirkt eine "Expansion der politi schen Technologien, die von nun ab den Körper, die Gesundheit, die Ernährung, das Wohnen, die Lebensbedingungen und den gesamten Raum der Existenz besetzen."sl Das Leben zu verbessern, seine Dauer zu verlängern, seine Mängel zu kompen sieren, Risiken von ihm fernzuhalten, seine Möglichkeiten zu optimieren - diese Aufgaben bilden den Katalog der "Bio-Macht". Der Bios des Individuums und der Bevölkerung sind nichts weniger als Natur. Sie bilden historisch codierte Objekte par excellence. Die Praktiken ihrer Rationalisierung "innerhalb der menschlichen Ge schichtlichkeit"S2 bilden das Thema einer Geschichte des Körpers, die "alles wieder dem Werden zu[tUhrt], was man am Menschen rur unsterblich gehalten hatte."Bl Im Sinne eines besseren Materialismus, den Foucault eingefordert hatte, sind die Machttechniken nun endgültig "materialistisch geworden. [...] Das Leben gerät in den Herrschaftsbereich der Macht: eine grundlegende Mutation in der Geschichte der menschlichen Gesellschaften.,,84
80 81 82 83 84
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SuWI (1977), 170. SuWI ( 1977), 1 70f. SuWI (1977), 171. NGH ( 1982), 97. MdM, 34.
Foucault zielt auf eine materialistische Parallelgeschichte, in der sich die Tech nologien der Menschen-Führung als Pendant zu den Technologien der Maschine entfalten. Die Kräfte, die jenes singuläre historische Phänomen namens ,Kapitalis mus' ermöglichen, verdanken sich einer neuartigen Kombination von Mensch und Technik, von Subjekt und Industrie. Wo Foucault Klarheit über diese theoretische Konstellation schafft, ist der Name ,Marx' daher nicht fern. So bezeichnet Foucault die Austuhrungen des "Kapitals", in denen "Formen der Herrschaft, Formen der Unterwerfung, die lokal funktionieren, beispielsweise in der Werkstatt, in der Armee, in einer Sklavenwirtschaft" beschrieben werden, als einen zentralen Anknüpfungs punkt tur seine Analytik der Machtverhältnisse.8S Foucault unterbietet Marx, indem er die stofflich-organische Geschichte der in dustriellen Arbeitskraft als Disziplinierung ihrer "lebendigen Leiblichkeit,,86 entfaltet. Und er ergänzt ihn, indem er aufzeigt, wie ökonomische Nützlichkeit und politische Fügsamkeit als Effekt dieser Technologien der Menschen-Führung koexistieren. In dieser Perspektive arbeitet Foucault jene historisch neuen Themen ab, die bereits Marx' Interesse geweckt hatten: die Arbeitsteilung, die Zeitorganisation, die räumli che Erfassung, die kontinuierliche Überwachung.87 Dass tur beide die "Disziplin" eine entscheidende Rolle spielt, unterstreicht diese Korrespondenz. Dieser Begriff beleuchtet nicht nur das Zwanghafte der Techniken, die das Leben in Beschlag neh men, sondern verweist zudem auf die Parallelorganisation der modernen Armee, die bei Marx wie Foucault ein historisches Muster autoritärer Menschen-Führung dar stellt. Schon im "Kommunistischen Manifest" tauchen die "gemeinen Industriesol daten" auf, die "Arbeitermassen", die "soldatisch organisiert" werden.88 Es ist also nicht erst Max Weber, der das Militär als Prototyp der Fabrikdisziplin entdeckt. Die Industriesoldaten und die Disziplinarsubjekte bilden zwei Facetten einer mo demen Genealogie, die der theoretische Impuls trägt, subjektive Kräfte als ge schichtsbildende Potenziale anzuerkennen. Die Differenz zwischen Marx und Foucault liegt in der Gewichtung dieses Faktors und in seiner Umsetzung in der historischen Analyse. Etienne Balibar sieht theoretisch gar Marx im Vorteil, dem er Foucaults Argumente in den Mund legt: "Ich stimme voll und ganz zu, daß die histo rischen Individuen Disziplinen, Normen und politischen Regulierungen unterworfene 85 MdM, 27. An dieser Stelle wird das zweite Buch des ..Kapitals" als Bezugspunkt genannt. Wahrscheinlicher ist, dass es sich um den ersten Bandd, ab dem zweiten Abschnitt handelt, wo Marx beginnt, die Verwandlung des Menschen in eine verwertbare Arbeitskraft zu thematisieren. Diese Passagen werden auch in ..Überwachen und Strafen" als Parallele herangezogen (283). 86 Marx, Das Kapital, Bd. I, 1 83 (Anm. 66). 87 ÜuS, 225, ist ein Beispiel von vielen. Foucault hat hier exakt den Übergangszeitraum von der Manufaktur zum Fabriksystem im Auge, der im ersten Bd. des ..Kapitals" im Mittelpunkt steht. 88 MarxI Engels, ..Manifest", 469 (Anm. 4 1 ).
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und in diesen subjektivierte Körper sind, aber ich bestehe darauf, daß diese ,Körper' in ihrer Klassensingularität (und warum nicht: Geschlechts-, Wissens- und Kultur singularität) selbst terminologisch als Verhältnisse gedacht werden müssen. Der konsequente Nominalist - der weniger metaphysische von uns beiden - bin ich."s9 Wie dem auch sei: Marx und Foucault verbindet ein radikales Verständnis vom mo demen Menschen und den gesellschaftlichen Formationen, denen er seine historische Identität als die ihm einzig mögliche verdankt.
VII. Wahrheit Marx und Foucault teilen ein Misstrauen gegen das Augenscheinliche, das Gegebene, das Konforme. Gegen den Schein der Dinge betreiben sie eine historische Praxis, die sagt: Du siehst etwas, was du nicht siehst. Die gängigste Figur des spontanen Idea lismus hingegen besteht in der fraglosen Hinnahme der eigenen Gegenwart. "Die Menschen haben die merkwürdige Begabung, die Kultur, in die sie aus Zufall hin eingeboren wurden, als selbstVerständlich zu akzeptieren. [ . ] Sie akzeptieren ihre Kultur auch nicht als eine willkürliche, aber unerläßliche Konvention. Nein, sie glau ben ganz einfach an sie.,,90 Für einen Historiker ist dieser Reflex fatal. Man muss die Oberfläche des gemeinhin Gesagten und Gedachten auftrennen, um die bewegenden Kräfte zu erkennen. Foucaults erste systematische Bezugnahme auf Marx stellt diese Technik der Interpretation in den Mittelpunkt. Marx schneidet die Erscheinungswelt der Dinge auf, um die untergründigen Strukturen und Prozesse zu entdecken. Aber als historische Operation geschieht dies niemals mit der maßlo. sen Intention, eine "endgültige Interpretation,,91 zu liefern. Wahrheit ist fllr Marx nicht umstandslos zu haben. Für den historischen Blick bleibt sie unter dem Geröll der endlichen Meinungen und Ereignisse zu entdecken, zu erkämpfen, zu er-finden. Der Ideologie-Begriff reflektiert diese detektivische Aufklä rungsarbeit, indem er das jeweils zeitgenössische Bewusstsein als sozio-historisch unaufgeklärt definiert. Ideologie ist in Marx' Augen alles andere denn Lüge oder Unwahrheit. Sie ist das herrschende Bewusstsein von herrschenden Verhältnissen, die zu sich ein unkritisches, weil unhistorisches Verhältnis unterhalten. Da eine Ge sellschaftsformation nur äußerst "selten, und nur unter ganz bestimmten Bedingun.
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89 Balibar, 63 (Anm. 2). 90 P. Veyne, Brot und Spiele: Gesellschaftliche Macht und politische Herrschaft in der Antike. Frankfurt/M. 1988, 575. 91 NFM, 195.
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gen flihig ist, sich selbst zu kritisieren",92 stehen nahezu alle Bewusstseinsgebilde unter dem Vorbehalt des Ideologischen. Diese Konstellation erzeugt Ideologie als ein notwendig falsches Bewusstsein, sowohl Ausdruck wie imaginäre Bewältigung der gegebenen Verhältnisse, von Marx exemplarisch an Hand der Religionskritik vorgefUhrt. Der Wille, das Gegebene zu bewahren, reproduziert sich in ideologischen Formen, die sich über ihre Funktiona lität und Historizität keine Rechenschaft ablegen. Marx seinerseits versucht über den Weg der Kritik dieser Ideologien eine ,wahre', d.h. zeitgemäße Erkenntnis zu erar beiten, aber dies ohne dem Aberglauben zu verfallen, diese könnte die Gestalt einer Uberhistorischen und zu sich selbst unkritischen Wahrheit annehmen. In dieser Perspektive besitzt die von Marx betriebene Ideologiekritik enge Ver bindungen zum Begriff der Wahrheit bei Foucault, der quasi dessen Ersatz darstellt. Foucault fUhrt drei Punkte an, warum der Ideologiebegriff in seinen Augen un brauchbar ist. Sie umreißen treffend sein Verständnis eines orthodoxen Marxismus: ,,Als erstes steht er immer, ob man will oder nicht, in einem potentiellen Gegensatz zu etwas, was Wahrheit wäre. Nun glaube ich aber, daß das Problem [ ...] darin besteht, [ ...] historisch zu sehen, wie Wahrheitswirkungen im lnnem von Diskursen entstehen, die in sich weder wahr noch falsch sind. Der zweite Nachteil ist darin zu sehen, daß sich die Ideologie meiner Meinung nach zwangslaufig auf so etwas wie ein Subjekt bezieht. Und drittens befindet sich die Ideologie in untergeordneter Position in bezug auf etwas, das ihr gegenüber als ökonomische, materielle usw. Struktur oder Determinante wirksam ist.'<93
Die Reformulierung des historischen Materialismus durch Foucault verwandelt daher die Ideologiekritik in eine ,,'politische Ökonomie' der Wahrheit",94 die nach den historischen Bedingungen fragt, in deren GefUge etwas (ein Wissen, Rechtsnor men, medizinische Erkenntnisse, philosophische Reflexionen: mithin alle Gestalten menschlicher Praxis) den Status von Wahrheit zuerkannt bekommt. Foucaults Rede von der Wahrheit meint also nie die Wahrheit, sondern historisch kontingente Wahr heiten. Gespielt wird auf einer doppelten Klaviatur. Indem Foucault die Geschichte der Wahrheit destruiert, konstruiert er geschichtliche Geltungen des Wahren. Foucault versteht "unter Wahrheit nicht ,das Ensemble der wahren Dinge, die zu entdecken oder zu akzeptieren sind' [ . .], sondern ,das Ensemble der Regeln, nach denen das Wahre vom Falschen geschieden und das Wahre mit spezifischen Macht wirkungen ausgestattet wird'." Diese Regeln, die die Techniken und institutionellen Orte der Wahrheitsfindung, den Personenkreis der Wahrheitsträger usw. festsetzen, sind ebenso historisch variabel wie fUr die jeweilige Situation prägend: .
92 Marx, Grundrisse, 26 (Anm. 42). 93 WuM, 34. 94 WuM, 5 1 .
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,,Die Wahrheit ist von dieser Welt; in dieser wird sie aufgrund vielfllItiger Zwänge produziert, verfllgt sie Ober geregelte Machtwirkungen. Jede Gesellschaft hat ihre eigene Ordnung der Wahrheit, ihre ,allgemeine Politik' der Wahrheit: d.h. sie akzeptiert bestimmte Diskurse, die sie als wahre Diskurse funktionieren läßt; [...] es gibt bevorzugte Techniken und Verfahren zur Wahrheitsfindung; es gibt einen Status rur jene, die darüber zu befinden haben, was wahr ist und was nicht,,95
Wenn die Wahrheit aber ein historisch kontingentes Gut darstellt und ein letztbe gründender Wahrheitsgrund preisgegeben wird, welche Instanzen produzieren dann die historisch gUltigen Wahrheiten? Für den Foucault der 70er Jahre - als er beginnt, das Problem der Wahrheit öffentlich zu reflektieren - ist die Antwort auf diese Frage eindeutig: Die Geltung einer Wahrheit erwächst nicht aus einer allgemeinen Ordnung des Rechts oder philosophischer Universalien, sondern aus dem historischen Zu sarnmenprall von Kräften, die ein gesellschaftliches Feld (der Politik, des Rechts, der Wissenschaft, der Philosophie) zu dominieren versuchen. "Die Wahrheit ist ein Mehr an Kraft, so wie sie sich nur ausgehend von einem Kräfteverhältnis entfaltet.,,96 Die Wahrheit als zeitgenössische Geltung hat ihren Sitz immer in ihrer Gegen wart. Ebenso verhält es sich mit der Wahrheit einer historischen Konstruktionsarbeit. Denn das Problem der historischen Wahrheit verliert sich vor dieser Kulisse in keiner Weise. Das Vetorecht der Quellen, ihre kritische ÜberprUfung, die minutiöse Darle gung der theoretischen und methodischen Instrumente der Arbeit bleiben selbstVer ständliche Grundlagen des historischen Handwerks. Aber diese Techniken werden an die Aktualität des Historikers rUckgebunden, an sein Wissen um die Endlichkeit seiner Rede und - ein Motiv, das rur den späten Foucault immer größere Bedeutung gewinnt - an eine intellektuelle Lebensführung, die das Gesagte exemplarisch be weist: "In jedem Augenblick, Schritt für Schritt muß man das, was man denkt und sagt, mit dem konfrontieren, was man tut, was man ist.,,97 Der Historiker ist nicht außen vor. Er ist Element der historischen Operationen, die er selbst betreibt. Diese Geschichte der Wahrheit besitzt eine letzte Facette. Foucault zielt auf eine neue Verbindung von philosophischem Problem und historischer Diagnose. Er nennt dies ,,historisch-philosophische Praktik".98 Sie holt "die" Vernunft auf den Boden der historischen Rationalitätsformen, decodiert "die" Wahrheit als Regelwerk immanen ter Geltungen und begreift "das" Subjekt als konkretes Menschenwesen im Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse. Mit einem Wort: Die politische Ökonomie der Wahr heit versucht, "Fragen von allgemeiner Bedeutung in ihrer historisch einzigartigen Form zu analysieren.,,99 95 96 97 98 99
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WuM, Zitate auf 53, 5 1 . VdG, 64. PuE, 704. WiK, 26-29. WiA, 52.
VIII. Geschichte der Gegenwart Am Ende des Eröffitungskapitels von "Überwachen und Strafen" überrascht Foucault mit einer seltsamen Äußerung: "Nun, ich habe nicht vor, die Geschichte der Vergangenheit in die Begriffe der Gegenwart zu fassen. Wohl aber ist es meine Ab sicht, die Geschichte der Gegenwart zu schreiben."loo Foucault begreift die Gegen wart als prekär. Dies versetzt die Genealogie in ein kritisches Verhältnis zu ihr. Das erste Prinzip einer solchen Geschichte der Gegenwart ist es, allzu glatte, gängige Verbindungslinien aufzukündigen. Die Vergangenheit ist rur Foucault nicht als zwangsläufige Vorgeschichte der Gegenwart von Interesse, sondern als Raum der historischen Fragmente, die zwar den aktuellen Zustand zu erklären helfen, aber durch das Aufzeigen der Willkürlichkeit seiner Entstehung die Zerbrechlichkeit des Bodens belegen, auf dem sich die Zeitgenossen bewegen. Jede historische Praxis findet nur in und rur eine bestimmte Gegenwart statt, da her heißt das zweite Prinzip der Geschichte der Gegenwart: "Ihre Gegenwartsorien tierung ist eindeutig und unverhohlen."lol Sie ist ungerecht und verschweigt ihren parteiischen Standpunkt nicht. Diese Präzisierung sensibilisiert rur die Gefahr des Absturzes in einen blinden Historismus, der den Dingen ihre historische Individuali tät zu lassen behauptet, das zeitgenössische Moment ihrer Konstruktion aber vergisst. Da jede Geschichtsarbeit durch den Zirkelschluss geprägt ist, von einer spezifischen Sicht der Gegenwart auszugehen, bekennt sich der Genealoge offensiv zu den zeige nössischen Absichten seiner Konstruktion. Hier trifft er sich mit den Ambitionen der historischen Materialisten. Marx und Engels begriffen sich "eingebunden in einen kontinuierlichen historischen Prozeß, in dem sie auch sich selbst, ihr Denken und Handeln hineingestellt sahen. Allein schon aus diesem Grund war jede Gesellschaftsanalyse rur Marx und Engels immer zu gleich eine historische Analyse." Die enge Verbindung mit ihrem politischen Wollen verlieh ihrer Zeitgeschichtsschreibung das Profil einer Geschichte der Gegenwart, die sie immer wieder vor die Aufgabe stellte, "die Verschiebungen im gesellschaftlich politischen Kräftefeld festzuhalten, was zugleich eben hieß, die Geschichte der un mittelbaren Vergangenheit zu schreiben." Diese durch und durch historisch getränkte Wahrnehmung der Welt lässt die Kategorien der Analyse nicht unberUhrt. So ver wandelt sich "in der dauernden Auseinandersetzung mit der ,Realität' - die Teil 102 dieser Realität ist, sie mit konstituiert - die Gesamtstruktur der Theorie." 100 Ous, 43. 101 H. L. Dreyfus/ P. Rabinow, Michel Foucault: Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Weinheim 1 994 (Chicago 1982), 148. 102 Kluchert, 28-30 (Anm. 3 1).
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Diese Symbiose, die Zeitgenossenschaft und Kritik in der historischen Konstruk tion eingehen, konzentriert Foucault in einer besonderen Vokabel, der ,,Problemati sierung": "Ich gehe von einem Problem so aus, wie es sich in heutigen Ausdrücken stellt und versuche, davon eine Genealogie zu machen. Genealogie heißt, daß ich eine Analyse ausgehend von einer gegenwärtigen Frage betreibe.,,103 Was ein geg�n wärtiges Problem ist, bleibt eine subjektive Entscheidung des Historikers, der seine Arbeit in einem zeitgeschichtlichen Moment ansetzt, in dem bestimmte Praktiken ihre Evidenz verlieren und zum Problem werden - im Bewusstsein des Genealogen. Foucault koppelt dies mit einer weiteren Option: "Ich denke, daß die ethisch politische Wahl, die wir jeden Tag zu treffen haben, darin besteht zu bestimmen, was I04 die Hauptgefahr ist." Es besteht kein Zweifel, dass diese Fixierung der "Hauptge fahr" eine in Freiheit vorgenommene Entscheidung ist, die "aus den vielen Übeln und Gefahren innerhalb unserer Gesellschaft diejenigen herausgreift und artikuliert, die als paradigmatisch angesehen werden können. Die daraus resultierende Interpretation ist weder eine subjektive Erfindung noch eine objektive Beschreibung, sondern ein IOS auf Phantasie, Analyse und Engagement beruhender Akt." Foucault begreift die historische Praxis als eine Technik der Verfremdung der Gegenwart, als eine spezifi sche Denkarbeit, die das Gegebene problematisiert und entsprechende Fragen ent wickelt. 106 Der historisch gesättigte Blick soll Evidenzen zerreißen, neue Denkmög lichkeiten eröffuen, Räume rur praktische Interventionen skizzieren - aber keine fertigen Antworten liefern. Hier folgt Foucault Marx auf dem Fuße: "Die wahre Kritik analysiert daher nicht die Antworten, sondern die Fragen.,, 107 Auch die Geschichte der Gegenwart konstruiert zunächst eine Geschichte, wie jede Historie. Aber sie tut dies in einer Weise, die eine andere Kenntlichkeit hervor presst, Ungesehenes sichtbar macht. Sie legt der analysierten Wirklichkeit kein idea les, also unhistorisches Maß an. Das Ungeheuerliche ihres Tuns besteht darin, das, was ist, aus einem Blickwinkel zu zeigen, der die automatisierten Wahrnehmungen irritiert. Die berühmte Redeweise, die "versteinerten Verhältnissen dadurch zum 108 beschreibt Tanzen zu bringen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt", diesen minimalen Perspektivenwechsel mit den maximalen Konsequenzen. Das Anrüchige von "Überwachen und Strafen" besteht bekanntlich nicht in der Missach tung methodischer Regeln historischen Arbeitens. Das Unanständige ist, dass dieses
103 GdS, 161. 104 GE, 268. 105 Dreyfus/ Rabinow, 295 (Anm. 101). 106 PPP, 389. 1 07 K. Marx, ,,Die Zentralisierungsfrage", in: MEW 40 (1985), 379. 108 K. Marx, ,,zur Kritik der HegeIschen Rechtsphilosophie", in: MEW 1 (1972), 381.
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Werk Geschichten zum Reden bringt, die eine Wahrheit aufscheinen lassen, die schmerzt, inopportun ist und das Ende der Geschichte zum neuen Anfang macht. Die Geschichte der Gegenwart besitzt daher ein drittes Prinzip, das ihre Wahrheit verbürgt. In dem Maße, wie sie sich kritisch zur eigenen Aktualität verhält, wird sie zu einer denkbaren Geschichte der Zukunft. Ihre Geltung liegt im Möglichen. Dies impliziert, selbstverständlich, das intellektuelle und politische Risiko. Die Genealo 109 gie aktualisiert über das historische Wissen eine Kraft der Veränderung. Das histo rische Material orientiert sich an den Möglichkeiten einer Gesellschaft, die der Histo riker bellirdern will. Es ist der von Walter Benjamin postulierte ,,Funken der Hoff nung", "0 der den Erkenntniswillen des Historikers trägt. Wer auf die Historizität setzt und sich innerhalb der Geschichte ansiedelt, kennt keine Furcht vor dem Relativismus. Das zentrale Problem des historischen Bewusst seins ist die Geschichtlichkeit der eigenen Aktualität, unsere Bestimmtheit und unser Verschwinden. Die historische Kritik muss daher immer auch Kritik der Historie sein, als Aufgabe, "unser eigenes geschichtliches Bewußtsein innerhalb der Grenzen 111 unseres eigenen historischen Horizonts zu klären.,, Das geschichtliche Material organisiert sich selbstverständlich nach dem Stand der theoretischen Rationalität, deren Kriterien, wie Foucault nicht müde wird zu betonen, mit größter Sorgfalt und Strenge zu reflektieren und offen zu legen sind. Sein ordnendes Prinzip findet es aber über die Positionsnahme in der Gegenwart. Tatsächlich existiert kein überhistorischer Grund, der sich den Auseinandersetzungen und Interpretationskämpfen seiner Zeit entziehen könnte. Und das ist auch gut so. Denn das Wissen um die Endlichkeit unserer historischen Erzählungen und ihre Verwurzelungen in unserer Gegenwart immunisiert gegen die Anmaßung, den Ande ren definitiv sagen zu wollen, "wie es eigentlich gewesen ist" und wo es lang geht. Nicht die authentische Rekonstruktion ist das Problem der Geschichtsschreibung, sondern die Verschleierung des jeweiligen Erkenntnisstandortes. Diese Tatsache erscheint so banal, dass sie der Explizierung bedarf. Wäre Theo dor Mommsens "Römische Geschichte" geschrieben worden ohne dessen Verzweif lung über den Wilhelminismus? Hätte Veit Valentin die "Geschichte der deutschen Revolution 1 848-1 849" verfassen können, ohne die Gebrechen des Liberalismus in der Weimarer Republik zu empfinden? Hätte Hans-Ulrich Wehler "Das deutsche Kaisererreich" in Angriff nehmen können, ohne den Autoritarismus der jungen Bun desrepublik und das Vertrauen in den mündigen Bürger, der da kommen sollte? Die-
I09 CwMF, 5. 1 10 W. Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd.I. 2, Frank furt a.M. 2 1978, 693-704, hier 695. 1 1 1 A. Heller, "Der Tod des Subjekts", in: Dt. Zeitschrift rur Philosophie 4 1 (1993), 623-638, 630.
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se Fragen sind rhetorisch. Nur: Diese Geschichten sind Parteinahmen in einem um kämpften Feld, indem sie sich der "Apologie des jeweiligen Status quo,, 1 12 entgegen stellen. Zwar sind sie heute zur Konvention geworden, doch im Moment ihrer Pro duktion waren sie kritisch geschärfte Geschichten ihrer Gegenwart.
IX. Heute Es ist ein Treppenwitz der Weltgeschichte, der beide, Marx und Foucault, erfreut hätte: In einem historischen Moment, in dem sich die Materialität der Ökonomie zu globaler und quasi naturhafter Gewalt aufschwingt, ist das theoretische Kapital des konsequentesten Kritikers dieser Ökonomie ebenso fragwürdig geworden, wie die Verbindungen unaufgedeckt sind, die sein Denken mit der intellektuellen Praxis Michel Foucaults verbindet. Dass sich Marx und Foucault heute kaum kennen, ist Ausdruck einer Krise des Denkens, der Kritik und der Politik. Marx war angesichts der industriellen Gesellschaft der erste, der den Zusammen hang dieser drei Faktoren historisch reflektiert hat. Was ihm in der Morgenröte des Industrialismus als kritisches Projekt vorschwebte, die Solidarität der Erniedrigten und Beleidigten, ist heute zum zentralen Problem geworden. Und vielleicht ist Foucault einer der ersten, der diese neue Lage der Kritik wahrgenommen hat. Wenn der Kritiker in der Abenddämmerung der klassischen Arbeitsgesellschaft nicht mehr ftlr die Ausgeschlossenen sprechen kann, wenn es vielleicht immer falsch war, rur die Anderen das große Wort zu ruhren, wenn es kein Subjekt der Kritik gibt, dann fällt die Kritik in sich zusammen - oder auf sich zurUck. Foucault hat die Entstehung der modemen Kritik aufs engste mit dem Umbruch der europäischen Gesellschaften seit dem Ende des 1 5 . Jahrhunderts verbunden. Parallel mit der Krise der religiösen Institutionen und der Geburtsstunde des frUhneu zeitlichen Staates erscheint ein Phänomen, das er die "Menschenregierungskunst" nennt. Es taucht die Frage auf, wie Menschen sich verhalten müssen, um ein be stimmtes Ziel (die Leitung eines Staates, die Führung eines Heeres, die Erziehung von Kindern usw.) zu erreichen. Diese neue politische Pädagogik der Menschen Führung erzeugt als ihr Pendant die Kritik. Sie bildet das "Gegenstück zu den Regie rungskünsten, gleichzeitig ihre Partnerin und ihre Widersacherin, als Weise ihnen zu mißtrauen, sie abzulehnen, sie zu begrenzen, und sie auf ihr Maß zurUckzuftlhren." Provozieren die sozialen Veränderungen im Übergang zur Neuzeit so auf der einen Seite Techniken der Menschen-Führung, die passfähige Subjekte formen sollen, so 1 12 H.-V. Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1 871-1918. Gottingen 2 1975, 13.
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etabliert sich auf der anderen Seite "die Kritik [als] die Kunst der freiwilligen Un knechtschaft, der reflektierten UnfUgsamkeit. In dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwerfung.,,1 1 3 Kritik entsteht als Verarbeitung einer Differenzerfahruflg. Im Verhältnis zu einem Vergangenen erscheint sie als Verlust, im Verhältnis zu einem ZukUnftigen als ver hinderte Potentialität. Für beide Dimensionen ist die Wahrnehmung eines Bruchs unverzichtbar. Marx' Kritik der industriel1en Subjektivität ist eine doppelte. Sie reflektiert deren Verstümmelung wie deren uneingelösten Potenziale. Das Mögliche wird nicht wirklich, weil die Form der Arbeitsorganisation das lebendige Arbeits vermögen nicht freisetzt, sondern systemisch bindet. Marx argumentiert vom Stand der industriel1en Arbeitsregime her, in der Hoffnung auf die Freisetzung der Kräfte. Foucaults Impuls ist ein ähnlicher, unserer Zeit angemessener: dass man, um je mand sein zu können, identisch, erkennbar sein muss. Das Subjekt wird ,irre' an dem, was es ist, weil es ständig wird und zugleich mit sich identisch, ,ganz' sein soll. Foucaults Werk ist deshalb ein historisches geworden, weil er diesen Identitätsfesseln misstraute. Die Geschichte der neuzeitlichen Mensch-Werdung dokumentiert fUr ihn nichts weniger als den Triumph des Individualismus eines selbstbewussten Subjekts. Den Preis, um den die herrschende Vernunft die Wahrheit sagt, hat das Subjekt zu tragen. Die Genealogie des Subjekts ist die Kostenrechnung dieser Fragilität des modemen Menschen, um dessen Gestalt ständig gerungen wird. Foucault argumentiert in seiner Geschichte der Disziplinen von den gesel1schaft lichen Netzwerken dieser Produktionskämpfe her. Er thematisiert zum einen den Ausschuss an Subjektivitäten, den die Rationalisierungen zur Industrie produzieren; zum anderen kehrt er diese Tatsache in einen historischen Möglichkeitsbegriff des Subjektiven um. Damit sprengt er nicht nur die enge Hül1e der Klassen Subjektivitäten, die Marx vorschwebte, 1 14 sondern durchbricht jede mechanische Kausalität, die das Subjektive zum bloßen Reflex des Sozialen macht. Tatsächlich haben "die Menschen im Laufe ihrer Geschichte niemals aufgehört [ .. ], sich selbst zu konstruieren, das heißt ihre Subjektivität beständig zu verschieben, sich in einer unendlichen und vielfllltigen Serie unterschiedlicher Subjektivitäten zu konstituieren. Diese Serie von Subjektivitäten wird niemals an ein Ende kommen und uns niemals vor etwas stellen, das ,der Mensch' wäre. Der Mensch ist ein Erfahrungstier." 1 I S .
1 13 WiK, 10-15. 1 14 Man denke hier nur an die Sozialfiguren, die im "Kommunistischen Manifest" als Prototypen von historischen Subjektiviuuen auftauchen: "Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, ZunftbUrger und Gesell [...] und noch dazu in fast jeder dieser Klassen wieder besondere Abstufungen." MEW 4, 462f. (Anm. 4 1). 1 1 5 MiE2, 85. Das Zitat, das den dt. Titel dieses Interviewbandes liefert, fehlt im dt. Text, findet sich aber im italienischen Original (0. Trombadori: Colloqui con Foucault. Salemo 198 1, 67).
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Die Kontaktaufnahme zwischen Marx und Foucault verkennt nicht grundlegende Differenzen. Marx ist ein gebildeter Bürger des
19. Jahrhunderts, trotz allem der
Hegeischen Tradition verpflichtet, im Bann der zeitgenössischen naturwissenschaft lichen Entdeckungen und vor allem Zeitzeuge seines historischen Stadiums des Ka pitalismus. Er bleibt in einem historischen Apriori verwurzelt, das sein Erkenntnis vermögen organisiert und limitiert. All dies trifft auch auf den Foucault unserer Zeit zu, der zudem mit dieser Tradition namens ,Marx' konfrontiert ist, seinem spezifi schen "Alp". Aber exakt in dieser zeitgeschichtlichen Differenz liegt das Interessante tur eine Subjekt-Geschichte des modemen Menschen. Marx war Augenzeuge der Geburt der "großen Industrie" und des entsprechend kompatiblen Arbeits-Subjekts. Foucault ist Zeitzeuge des Übergangs der industriellen in die postindustrielle Pro duktionsweise und der Krise des postmodernen Subjekts. Diese ,tagespolitische' Lage ermöglicht ihm nicht nur die Geschichte der Disziplinierung des gesellschaftli chen Arbeitsvermögens neu zu verfassen, sozusagen eine Historie der Protoindust rialisierung des Subjekts. Er erfasst auch, im historischen Wissen um den Treibstoff der Subjektivierung, dass ein fundamentaler Gestaltwandel der organischen Zusam mensetzung des Kapitals im Gange ist. Er ist daher einer der ersten, der den Neolibe ralismus als eine neuartige Technik der MenschenfUhrung vorausahnt und in dessen theoretischen GrUndungstexten analysiert. 1 1 6 Heute, w o das "Kapitalindividuum,, 1 J 7 als Subjekt seiner Selbstverwertung droht, in variablen Gestalten - als "Existenzgründer", "Arbeitskraftunternehmer" oder im Rohzustand als "Marketingexperte" - eine gesellschaftliche Naturtatsache zu werden, mag es sinnvoll sein, auf die Genese dieser massiven Subjektformierung hinzuwei sen: die Entstehung eines gesellschaftlichen Arbeitsregimes, in dem sich Ausbeutung und Herrschaft neuartig konstituieren, weil sie sich auf bisher ungekannte Art und Qualität der historisch gewachsenen Kräfte des Humanen bedienen. Wir existieren in einem Augenblick unserer Gegenwart, in dem der Arbeitskraft mehr denn je eine Selbst-Führung unter systemischen und variablen Zumutungen abverlangt wird, in der die Kräfte des eigenen Körpers als Risikokapital zu haushalten sind und die Uto pie des Subjekts bis in die Programmierung seiner genetischen Zellen und die Stimu lierung seiner neuronalen Netze als reale Möglichkeit gehandelt wird. Die Produktion des Menschen durch den Menschen hat eine neue, historisch bisher unbekannte In tensität erreicht. Sie gilt es nach Maßgabe unser kritischen Mündigkeit zu verstehen: ein Denken auf des Messers Schneide.
1 16 T. Lemke, Eine Kritik der politischen Vernunft: Foucaults Analyse der modernen Gouverne mentalität. Hamburg 1997, 239ft: 1 17 Marx, Das Kapital, Bd. I, 620 (Anm. 66).
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Man kann Marx und Foucault heute in ein produktives Verhältnis bringen, weil beide die Frage des Subjekts auf die historische Tagesordnung setzen, ohne die Idee der Kritik aufzugeben. Wie Marx entdeckt hat, dass Befreiung nicht mehr vom We sen "des" Menschen her zu begründen ist, so hat Foucault diese anthropologische Radikalität aufgegriffen und als offene Frage reformuliert. Wenn Kritik die "Kunst [darstellt], nicht regiert zu werden, bzw. nicht auf diese Weise und um diesen Preis 1 IB regiert zu werden", dann ist diese Kunst heute neu zu erfinden. Marx hat die Entfesselung der humanen Kräfte als Grundbedingung des industri ellen Fortschritts betrachtet und gleichzeitig uns, den Zeitgenossen des beginnenden 2 1 . Jahrhunderts, mit seinem radikalen historischen Denken den SchlUsseI geliefert, die heutigen Veränderungen in der "Entwicklung des Menschentums" (Max Weber) zu verstehen. Befreiung kann nicht mehr im Rückgriff auf ein vermeintliches Selbst gedacht werden, dessen soziale Präparation heute bereits im Mutterleib beginnen soll 119 und das sich selbst lebenslang lernend zu bewähren hat. Es ist alles andere als zufällig, dass Foucault am Ende der 70er Jahre eine Krise der Regierung als Krise der modernen Menschen-Führung konstatiert. Der Neoliberalismus reagiert darauf, in dem er die in den 60er Jahren entfesselten Kräfte in einem dynamischen System von Selbst- und Fremdfilhrungen neoautoritär einbindet. Foucaults subjektgeschichtliche Neuorientierung besitzt hier ihre zeitgeschichtliche Wurzel. Befreiung und Kritik muss von heute an anders gedacht werden. Dies ist der eigentliche Grund von Foucaults Reise in das klassische Griechenland und das imperiale Rom. Er will ein neues Verständnis der Subjektkompetenz des okzidentalen Menschen erlangen, um neue Formen einer historisch-politischen Kritik in der Gegenwart zu erproben. Foucaults Technologien des Selbst sind so alles andere als Anleitungen filr eine bequeme Konformität, filr eine Ästhetik der Anpassung. Der ,homo neoliberalis', der seinen konsumistischen Konformismus als eigenverantwortliche Lebensfilhrung inszenieren muss, lässt sich wohl kaum zum Kreis der Adressaten rechnen, die als Künstler ihrer Existenz anzusehen sind. Foucault zielt gerade darauf, die antisystemi schen Kräfte im Subjekt zu stärken.
1 1 8 WiK, 12. 1 19 Eine zeitgenössische materialistische Kritik zieht exakt diese Verbindungslinie zwischen Marx und Foucault, d.h. sie analysiert die neue Symbiose von Kapital und Leben: M. Hardtl A. Negri, Empire: Die neue Weltordnung. FrankfurtlM. 2002; Y. Moulier-Boutang, "Marx in Kalifomien: Der dritte Kapitalismus und die alte politische Ökonomie", in: Aus Politik und Zeitgeschichte 52/53 (2001), 29-37.
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Löst man diesen Konnex zwischen geschichtlicher Reflexion und Kritik der Ge. genwart auf, verkennt man das wirkliche Neue dieser Art, Geschichte zu denken und zu schreiben, wie man ihren Impuls verfehlt, sich mit der Historizität der eigenen Gegenwart in Absicht ihrer Kritik zu verbinden.
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Gouvemementalität: Zur Kontinuität der FoucaultscheJ;l Analytik der Oberfläche Sus anne Krasmann
"Dur
studies of govemment eschew sociological realism and its burdens of explana tion and causation. We do not try to characterise how social life really was and why. We do not seek to penetrate the surfaces of what people said to discover what they meant, what their real motives and practices were". 1 Was ist das Ziel der Studien von Gouvernementalitäten, wenn sie sich einem "Realismus" nicht verpflichtet ftlhlen, wie Nikolas Rose und Peter Miller das hier in einem viel beachteten Aufsatz prokla mieren? Worum sonst kann es gehen, wenn man ausdrücklich an der Oberfläche bleiben will und es nicht wichtig ist heraus zu finden, wie das soziale Leben wirklich aussah und wirklich ist? Offenbar stellte auch Foucault selbst die Aussagekraft seiner Analyse des Benthamschen Panopticons, der zentralen Machtmaschinerie der Diszi plinargesellschaft und immer wieder erörtertes Herzstück von "Überwachen und Strafen", in Frage, als er sagte: "lf I had wanted to describe ,real life' in the prisons, I wouldn't indeed have gone to Bentham".2 Noch die Disziplinargesellschaft scheint in gewisser Weise eine Fiktion zu sein, heißt es doch, sie sei eine disziplinäre Gesell schaft, nicht aber eine tatsächlich disziplinierter Individuen/ und doch auch kein Idealtypus im Webersehen Sinne: Das hieße sich darauf zu konzentrieren, die empiri sche Realität in eine soziologisch kohärente Form zu bringen. Foucault hingegen betrachtete die Disziplinargesellschaft als das Resultat einer Generalisierung, die in lokalen Praktiken und Techniken, einst unterschiedlichsten Zwecken dienend, ihren Ausgang genommen hatte.4 Foucaults Analytik bewegt sich jenseits von einem soziologischen Realismus und einem politisch-historischen Idealismus; beiden gemein ist, dass sie die Materialität der Macht nicht in den Blick nehmen und ihrem Gegenstand zugleich allgemeine Prinzipien aufzwingen, deren Eigentümlichkeit uns immer schon etwas erklären soll,
2 3 4
N. Rose! P. Miller, "Political Power Beyond the State: Problematics of Govemment", in: British Journal ofSociology 43 (1992), 1 73-205, hier 177. QoM, 8 1 . B. Hindess, Discourses of Power: from Hobbes to Foucault. Oxfordl Cambridge, MA 1 996, 96136, hier 1 1 8. QoM, 80.
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noch bevor wir genau hingesehen haben. So scheinen Kalvinismus oder Kapitalismus der Geschichte eine Bewegung wie auch eine Kontinuität zu verleihen und daher einen Sinn zu geben; Konzepte wie der Staat, die Gesellschaft, die Regierten oder Irren scheinen konstante Entitäten zu sein, die im Laufe der Geschichte nur ihre Form oder die Weise ihrer Thematisierung verändern.s Es sind Entitäten, die auch soziologische Analysen untermauern sollen, die von Produktionsverhältnissen oder auch von Männlichkeitsbildern ausgehen, von zugrunde liegenden Prinzipien oder Ubergeordneten symbolischen Sinnwelten, welche die Ursache oder der Grund sein sollen rur unser Verhalten und die Formen des Daseins. Seine Arbeiten verstand Foucault weder als
philosophische noch als historische
Studien, aber als "philosophical fragments put to work in a historical field of pro 6 blems". Der Geschichte entnahm er "gleichsam Stichproben",7 um von den konkre ten Praktiken ausgehend sukzessive zu allgemeineren Aussagen zu kommen, die von Fragen wie diesen geleitet waren: Unter welchen historisch-politischen und lokal spezifischen Bedingungen konnten sich bestimmte Praktiken durchsetzen und sich als gängige Praktiken akzeptabel machen; wie konnten bestimmte Ordnungen gerade nicht zuflUlig zu autonomen Systemen des Denkens werden?8 Wenn diese Untersuchungen bei den konkreten Praktiken der MachtausUbung an setzen sollten, dann auch deshalb, weil Konzepte wie Delinquenz, der Wahnsinn oder die Sexualität durch sie erst hervor gebracht werden: "There can be no access to the obj ects of governance except through the practices of governance. Objects are pre cisely what are given to us as the objects of our activities - our ,governing projects' in dealing with the world".9 Die Dinge existieren nicht außerhalb der Form, die sie
5 6 7
8
9
80
Vgl. P. Veyne, Foucault: Die Revolutionierung der Geschichte, FrankfurtlM. 1992, hier 35, SO; QoM, 80. QoM, 74. P. Veyne, ..Die Verkettung der Dinge. Keine Realiw, keine Rationalität und keine Dialektik: Michel Foucaults Denken - eine Archäologie", in: Frankfurter Rundschau vom 1 6. 1 0.2001 . Die ,,radikale Historizität" seiner Arbeiten liegt genau darin, dass Foucault von den konkreten Prak tiken ausging und der Geschichte nicht Ideen Uberstülpen wollte, wohl aber auch Auffassungen und Sichtweisen selbst als historische Tatsachen betrachtete; ihm ging es darum, die historischen Bedingungen der Möglichkeit ihres Auftauchens zu analysieren und sie so in ihrer Singularität zu begreifen. VdG, 39; WiK, 32; QoM, 75; T. Osbome, ..Techniken und Subjekte: Von den ,Governmentality Studies' zu den ,Studies of Governmentality''', in: Demokratie. Selbst. Arbeit. Analysen liberal demokratischer Gesellschaften im Anschluss an Michel Foucault, Mitteilungen des Instituts rur Wissenschaft und Kunst 56, 2/3 (2001), 12-16, hier 13. J. Malpas/ G. Wickham: ..Governance and Failure: On the Limits of Sociology", in: Australian and New Zealand Journal ofSociology 3 1 (1995), 37-50, hier 47; vgl. Veyne, Geschichte, 25, 35 (Anm. 5).
annehmen, wenn sie an der Oberfläche auftauchen: eben dort, wo sie sich ereignen können.1O Die Vorstellung des Positivisten, als der Foucault sich verstand, ist die von einer "Welt, in der eine unaufhörlich aufgewühlte und gesichtslose Materie an ihrer Oberfläche immer andere Gesichter - die nicht existieren - an immer anderen Punk ten auftauchen lässt und in der alles individuell ist, so dass letztlich nichts es ist".1 1
Noch die Macht selbst ist bei Foucault bekanntlich keine Substanz, nicht Besitz
einer zentralen Instanz oder eines Subj ekts, sondern nur bestimmbar in Relationen und Positionen. Sie ist nicht das Resultat von Interessen oder Intentionen, nicht das Produkt erfolgreicher Bemühungen von Machthabern - als könnten diese die Fäden der Macht allein in der Hand halten und es ihnen so gelingen, ihr eigenes Netzwerk der Macht zu installieren. Macht geht vielmehr aus spezifischen Kräfteverhältnissen erst hervor und scheint insofern selbst ein Ereignis zu sein: etwas, das sich permanent ereignet und dabei jedes Mal wieder eine veränderte Form annimmt, freilich ohne dass dieses
Auftauchen
zufiUlig wäre: ",Power' is the outcome of the affiliation of
persons, spaces, communications and inscriptions into a durable form,,! 2 Die Form der Macht erschließt sich deshalb am besten, wenn man sie "gewissermaßen in ihrem eigenen Milieu" inspiziert, genau "dort, wo sie ausgeübt wird, ohne nach einer all gemeinen Formel oder nach den Grundlagen der Macht zu suchen".1 3 Foucaults Denken ist eine Übung darin, nichts auf etwas anderes zurückzutuhren, nichts aus etwas abzuleiten und so letztlich zu reduzieren. Das macht die Herausfor derung seines Denkens und zugleich die erhellende Kraft seiner Analytik aus. Diese entspricht noch der Haltung des "spezifischen Intellektuellen", der, als Experte eines "spezifischen Wissens", sich einmischt in den Lauf der Geschichte, ohne universalen Anspruch und ohne universalisierenden Gestus; der nur tur sich spricht, der aber gerade deshalb in Anspruch nehmen kann, gehört zu werden.' 4 - Noch einmal: Gibt es dann also keine Ursachen und keinen Versuch der Erklärung gesellschaftlicher Phänomene oder historischer Ereignisse? Und hat eine Foucaultsche Analytik letzt lich auch nicht den Anspruch,
die Wahrheit
aufzudecken? Beide Fragen lassen sich
positiv beantworten; denn Foucault weigerte sich weder, Kausalitäten aufzuzeigen,1S noch von Wahrheit zu sprechen. Doch "auch wenn wir all das, was war sagen, tur wahr halten, so beanspruchen wir doch niemals, die Wahrheit dessen zu formulieren, worüber wir sprechen". Es gehe darum, so Franr;ois Ewald im Anschluss an
10 11 12 13 14
Vgl. Veyne, Geschichte, 50 (Anm. 5); Au, 701. Veyne, Geschichte, 76 (Anm. 5). Rosel Miller, 1 84 (Anm. 1). MiE2, 1 1 0. WuM, 47; MdR, 1 1; T. Lemke, ",Freiheit ist die Garantie der Freiheit' - Michel Foucault und die Menschenrechte", in: Vorgänge 40 (2001), 270-276. 15 NGH (1987), 69-90.
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Foucault, "die Spiele der Wahrheit" zu rekonstruieren, die Denk- oder Aussagesys teme, innerhalb derer eine Aussage als richtig: als wahr, und innerhalb derer eine Sichtweise als richtig oder akzeptabel gilt. Das bedeute, eine
,.positive
Geschichte"
zu schreiben, die aufzeige, "dass das Gegebene stets ein Konstrukt ist und dass das
Objekt in den Formen seiner Problematisierung selbst entsteht".1 6
Den analytischen Zugang Foucaults, seine Analytik der Oberfläche, will ich im Folgenden anhand des Konzeptes der Gouvernementalität erläutern. Mit diesem nahm Foucault seit Ende der 70er Jahre eine spezifische Fokussierung vor: auf For men der Subj ektivierung im Verhältnis zu Macht- und Herrschaftsverhältnissen und im Verhältnis zu Rationalitäten und Technologien des Regierens. Dabei bezieht sich der Begriff der Regierung nicht nur auf den politischen Kontext, den wir uns heute fll r gewöhnlich darunter vorstellen, sondern auf alle Formen der Menschenfllhrung, die eine gewisse Kontinuität aufweisen und sich nicht auf eine augenblickliche Si
tuation beschränken.1 7 Regieren kann man als eine spezifische Form der Problemlö
sung begreifen und insofern als eine Kunst, im doppelten Sinne des Wortes: Künst lich ist sie als eine nicht selbstverständliche Praxis, die der Reflexion bedarf; und künstlich im Sinne von fabrizierend ist sie, weil sie nicht ohne Techniken der Füh rung auskommt. IB Wenn sich in den Praktiken des Regierens daher Rationalitäten und Technologien verbinden, bedeutet das keineswegs, j ene wären theoretischer und diese praktischer Natur. Wie "Formen der Rationalität sich selbst in Praktiken oder Systemen von Praktiken einschreiben",1 9 das ist die Fragestellung, die das Konzept der Gouvernementalität schon in seiner semantischen Zusammensetzung von "Regie ren" und "Denkweise" auf den Begriff bringt.
I. Analytik der Oberfläche Eine Möglichkeit, Gouvernementalitäten zu untersuchen, besteht in der Analyse von Programmen und den Weisen der Problematisierung, die sie artikulieren. Den Neoli beralismus beispielsweise kann man als eine politische Rationalität begreifen, die sich in der Kritik an wohlfahrtsstaatlichen Vorstellungen des "richtigen" Regierens im Verhältnis zu bestimmten Zielsetzungen behaupten konnte.2o Diese Problematisie-
16 F. Ewald, Der Vorsorgestaat FrankfurtlM. 1993, 3 1 . 17 Hindess, 1 05f. (Anm. 3). 18 Vgl. T. Lemke, Eine Kritik der politischen Vernunft: Foucaults Analyse der modernen Gouver nernentalität Berlinl Hamburg 1997, hier 1 58. 19 QoM, 79. 20 Gouv, hier 52.
82
rung bezog sich weniger auf die Institutionen des Wohlfahrtsstaates selbst denn auf die mit ihm verbundenen Konzepte von Staat im Verhältnis zu seinen BUrgern, von den
zu regierenden
Subjekten oder etwa davon, durch welche Regierungsmechanis
men wirtschaftliche Prosperität zu erreichen seL2 1 Hatte der frUhe Liberalismus sich dadurch Gehör verschafft, dass er ein Zuviel des Regierens und staatlicher Interven
tion monierte, so profilierte sich der Neoliberalismus unter anderem mit der Kritik an einem unbezahlbaren sozialen Sicherungssystem und der systematischen Produktion
von Abhängigkeit, welche die Empfänger staatlicher Leistungen von selbständigem und initiativem wirtschaftlichen Handeln abhalte. Der Unternehmer seiner selbst stellt daher eine paradigmatische Figur neoliberaler Rhetorik dar, die das ökonomi sche Steuerungsprogramm in entsprechende Subjektivierungsweisen Ubersetzt.22 Die BUrger sollen von sich aus Aktivitäten entfalten und sich dabei verantwortlich zeigen - und mit diesem Programm ist der Neoliberalismus selbst "ein politisches Projekt, das darauf zielt, eine soziale Realität herzustellen, die es zugleich als bereits existie rend voraussetzt".23 Wie muss man sich das vorstellen? Indem Programme des Regierens ein Interventionsfeld beschreiben, artikulieren sie ein Wissen oder sie setzen ein entsprechendes Wissen der Realität, die verändert werden soll, voraus.24 Dieses Wissen verbindet sich mit einer bestimmten Weise des Denkens und entsprechenden Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata: mit einer Rationalität. Programme formulieren nicht nur die Kriterien rur eine richtige oder angemessene Regierungsweise im Verhältnis zu bestimmten Zielsetzungen; sie be
stimmen auch, was als wahr oder falsch anzusehen ist.2s Während sie Dinge rur
wichtig oder unwichtig erklären, wählen sie aus und ordnen dabei eine Materialität,26 konstituieren Objekte und Subjekte, die sie auf diese Weise erst vorstellbar und
handhabbar: "programmierbar" und regierbar machen: 27 "Governing does not just act on a pre-existing thought world with its natural divisions. To govern is to cut experi-
21 Vgl. M. Dean, Govemmentality. London 1999, hier 32. 22 Vgl. N. Rose, Inventing Dur Selves: Psychology, Power, Personhood. Cambridge 1996, 1 53f. 23 T. Lemke/ S. Krasmannl U. Bröckling, "Gouvemementalität, Neoliberalismus und Selbsttech nologien", in: Bröcklingl Krasmannl Lemke (Hg.), Gouvemementalität der Gegenwart: Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, FrankfurtlM. 2000, 7-40, hier 9. 24 Vgl. C. Gordon, .,Afterword", in: Ders. (Hg.), PowerlKnowledge. Michel Foucault: Selected Interviews and Dther Writings 1972-1977. New York 1980, 229-259, hier 248. 25 QoM; A. Barry u.a, "Introduction", in: Dies. (Hg.), Foucault and Political Reason: Liberalism, Neo-Liberalism and Rationalities of Govemment. London 1996, 1 -1 7, hier 7. 26 Vgl. Veyne, Geschichte (Anm. 5). 27 Gordon, .,Afterword", 248 (Anm. 24).
83
ence in certain ways, to distribute attractions and repulsions, passions and fears across it, to bring new facts and forces, new intensities and relations into being".28 Eine politische Rationalität beschreibt ein epistemologisches Möglichkeitsfeld, innerhalb dessen bestimmte Problemstellungen artikulierbar sind. Ein Programm, das das konkrete politische Handeln anleitet, "ist also kein reines Wissen", das einfach angewendet oder umgesetzt wird. Vielmehr beschreibt es mit den Problemen zu gleich Istzustände und zeigt mit der Art und Weise der Problematisierung Relevan zen und Sollzustände an, so dass bestimmte Problemlösungen nahe liegen, folgerich
tig erscheinen und anschlussfähig sind.29 Im Unterschied zu konstruktivistischen Ansätzen ist eine Programmanalyse weder auf eine übergeordnete symbolische, noch auf eine empirisch vorfindbare Realität aus, sondern auf die Frage, in welche Rich tung die Veränderung gehen soll. Sie nimmt also weder die konkrete Realisierung in den Blick noch die Abstraktion der Realisierung vom Handeln oder von Interaktio nen,lO was im Sozialkonstruktivismus quasi dasselbe ist: Über die Analyse konkreter Interaktionen erschließen sich die soziale Sinnwelt, die geteilte Kultur oder die Re geln der Kommunikation, und umgekehrt. Demgegenüber interessierte Foucault sich
vor allem rur "the effects in the real",l l rur die Materialisierungen der Macht, die sich an bestimmten Praktiken ebenso abzeichnen wie sie in Architektur Gestalt annehmen können.
Emergenzen
und
Dispositive
sind zwei bezeichnende Aspekte einer Analytik der
Oberfläche: das "Auftauchen" bestimmter Problematisierungsweisen und Ereignisse zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt;32 und Regime von Praktiken, die Mög lichkeitsfelder der Verhaltens lenkung beschreiben: Ereignisse der Geschichte und Praktiken, die sich akzeptabel machen können, sind das Ergebnis wie zuflUliger "Verkettungen",ll die doch nur unter historisch spezifischen "Bedingungen der Möglichkeit" zustande kommen und auf der Bühne
28 N. Rose, Powers ofFreedom: Reframing Political Thought. Cambridge 1999, hier 3l. 29 Lemke, Kritik, 147 (Anm. 18). In diesem Zusammenhang kann man von der "Idealität" von Programmen in einem spezifischen Sinne sprechen, wiederum nicht gedacht als eine übergeord nete symbolische Ebene oder eine Idee: "If they have an ideality, it is that of a programming left in abeyance, not that of a general but hidden meaning": QoM, 80. 30 Vgl. M. Dean, "Questions of Method", in: I. Velodyl R. WiIliams (Hg.), The Politics of Con structionism. London u.a 1 998, 1 82-199. 3 1 QoM, 85. 32 Vgl. N. Rose! M. Valverde, "Governed by Law1", in: Social and Legal Studies 7 (1998), 541551, hier 546; Foucault (QoM, 76) selbst sprach auch von Eventualisierung. 33 VdG, 38; vgl. Veyne, Geschichte (Anm. 5); G. Deleuze. "Michel Foucaull Drei Gespräche mit Robert Maggiori, Didier Eribon und Claire Parnet im Jahre 1986", in: Ders., Unterhandlungen 1972-1990. FrankfurtlM. 1993, 121-171, hier 125.
84
der Geschichte auftauchen: an der Oberfläche sichtbar werden können. Wie die Macht liegt auch die "Historie" nicht in der Hand von Personen, die die Geschichte
schreiben, und sie ist nicht das Produkt von Planungen oder Ideen und ihrer Umset zung. Deshalb interessierte Foucault sich besonders rur das "Scheitern" von Pro
grammen; nicht um die Differenz zwischen Planung und Realisierung aufzuzeigen, 3 sondern das, was ,zwischen' diesen beiden Ebenen liegt,,: 4 Das Scheitern verweist "
auf das Zusammenspiel von Kräfteverhältnissen, in dem sich die Geschichte 3s schreibt. Programme des Regierens zu untersuchen heißt folglich, die Art und Wei se des Regierens in ihrer
Programmatizität
oder Realitätsmächtigkeit zu analysie
ren;36 es hießt danach zu fragen, wie aus Problematisierungen und abstrakten Zielset zungen des Regierens Weisen der Problemlösung und praktische Ressourcen werden; und wie Praktiken des Regierens zu Dispositiven werden. Ein
Dispositiv
ist, "keine zugrundeliegende Realität, die nur schwer zu erfassen
ist, sondern ein großes Oberflächennetz, auf dem sich [...] die Anreizung zum Dis kurs, die Formierung der Erkenntnisse, die Verstärkung der Kontrollen und der Wi 1 derstände in einigen großen Wissens- und Machtstrategien miteinander verketten". 3 Äußerst heterogene Elemente diskursiver wie nicht-diskursiver Art, von architektoni schen Anordnungen bis hin zu Moralen und Gesetzen, bilden einen normierenden Verweisungszusammenhang, der rur sich selber steht und innerhalb dessen es mög lich ist, Wahrheiten und Praktiken zu erzeugen und zu reproduzieren. Effekte
im
Realen lassen sich mit Dispositiven beschreiben, obgleich diese selbst weder real noch ideal sind.3 8 Erstens sind sie dem Sehen nicht unmittelbar zugänglich, liegen aber auch nicht hinter einem geheimnisvollen Sinn verborgen. Sie erschließen sich deshalb auch nicht durch Interpretation.39 Vielmehr markieren sie Sichtbarkeiten und Sagbarkeiten, die in einem bestimmten Übersetzungsverhältnis zueinander stehen.
Zweitens
greifen Praktiken und Weisen des Denkens ineinander, freilich ohne über
einzustimmen oder ineinander aufzugehen.40 Und auch das ist einer der GrUnde,
warum Foucault sich nicht rur die Interpretation oder Semiotik interessierte; schließ lich ist noch die Frage, ob ein Element eines Dispositivs diskursiv ist oder nicht, müßig und "kaum von Bedeutung" gegenüber der Frage, inwiefern etwa die Kon-
34 35 36 37 38 39
Lemke, Kritik, 147 (Anm. 18). NGH, hier 84. Vgl. Osbome, 13 (Anm. 8). SuWI (1983), hier 128. QoM, 80-8 1 . "Die Oberfläche steht nicht i m Gegensatz zur Tiefe (man kommt immer wieder an die Oberflä che zurück), sondern zur Interpretation": Deleuze, Gespräche, 126 (Anm. 33). 40 Vgl. G. Deleuze, Foucault. FrankfurtlM. 1987, hier 69-98; G. Deleuze, Lust und Begehren. Berlin 1996, hier 14.
85
struktion eines bestimmten Gebäudes (also einer konkreten Schule, eines Hospitals, eines Gefllngnisses) dem Programm einer bestimmten Institution und ihren spezifi schen Praktiken entspricht: "Was ist da diskursiv, was institutionell?,,4 1 Wenn ein Dispositiv Verhaltensweisen bestimmt, dann sind damit
drittens
,,nur Möglichkei
ten", die es eröffnet und gleichzeitig begrenzt, und "Interaktionswahrscheinlichkei ten" gemeint. Auch deshalb kann man von Wahrheiten im Plural sprechen: Wenn ein Dispositiv "die Ursache der konkreten Anordnungen" und Machtwirkungen sein
kann,42 folgt daraus, dass die Differenz von "Potenzialität und Realisierung" in sei nem Möglichkeitsraum aufgehoben ist.43 Es beschreibt mögliche Machteffekte, ohne diese auf eine Kausalitätslogik festzuschreiben. Das Benthamsche Panopticon ist ein solches Dispositiv, und sein Programm "funktioniert wie eine Art abstrakter Maschine im Herzen aller konkreten Maschi nen".44 Es ist die abstrakte Materialisierung eines spezifischen Programms der Regie rung des Verhaltens, das eine Reihe von Machteffekten hervorgebracht hat: Es war unter anderem das Modell rur den Gefllngnisbau; rur eine bestimmte Funktion des Gefllngnisses im Verhältnis zum Justizsystem;
ft1r bestimmte Technologien der Be
strafung und Besserung; rur eine bestimmte Sichtweise des Kriminellen als
(zu
bes-·
sernden, zu bestrafenden) Delinquenten und bestimmter Populationen als gefiihrliche
Klassen und Gefahr rur die Gesellschaft.4s Diese Funktionen und Technologien, rur die es Modell stand, haben sich weder durch den tatsächlichen Bau des Panopticons
realisiert,
noch enthält dieses als konkrete Architektur notwendig j ene Funktionen
und Technologien. Das Panoptikum ist "ein Ereignis des Denkens
[. .], das im Be .
reich des Regierens etwas Neues möglich machte".46 Es ist selber architektonisches
Modell und als solches nicht nur Sinnbild rur ein bestimmtes Regime von Praktiken, sondern ein produktives Schema: ein
Programm der Verhaltenssteuerung. Das "Ge Maschine, um zu sehen, ohne gesehen zu wer
fllngnisdispositiv" ist eine "optische den".47 Zu einer Maschinerie der Verhaltenssteuerung wird es in der Verbindung von
räumlicher Anordnung, die bestimmte Sichtbarkeiten herstellt, und Weisen der Pro blematisierung: von BegrUndungen, Plänen und Zielsetzungen im Rahmen einer spezifischen Rationalität der Regierung. Zugleich ist die architektonische Anlage des
4 1 SudP, 125. 42 Deleuze, Foucault, 56 (Anm. 40). 43 T. Lemke, "Max Weber, Norbert Elias und Michel Foucault Ober Macht und Subjektivierung", in: Berliner Journal fllr Soziologie 1 1, 2001 , 77-95, hier 88. 44 Vgl. Dean, Questions, 186 (Anm. 30). 45 Vgl. Dean, Questions, 1 87 (Anm. 30). 46 Osborne, 14 (Anm. 8). 47 G. Deleuze, "Was ist ein Dispositiv?", in: F. Ewald/ B. Waldenfels (Hg.), Spiele der Wahrheit: Michel Foucaults Denken. FrankfurtlM. 1991, 153-162, hier 1 54.
86
panopticons "das Grundschema, die Figur des perfekten Funktionierens einer sozia len Maschine" der Disziplinargesellschaft. Sie bildet den "Verkehrsknotenpunkt" oder das
Diagramm von Kräfteverhältnissen, welches sich in einem Kerkerkontinu 8 Geflingnis bis hin zur Schule erstreckt.4 um vom
11. Das Subjekt als Form Als eine dritte Dimension der Analyse, neben Wissen und Macht, wird das Subj ekt Foucault in dem Augenblick wichtig, als ihm die Fokussierung von Machtverhältnis sen allein unzureichend erscheint: "weil er über keine Fluchtlinie verfllgt", die ihn aus jenen herausleiten könnte.49 Das Subjekt dachte Foucault sich als eine Form: Was der Mensch
ist und
zu sein hat, wollte er nicht festlegen. An Stelle einer sozialen
oder anthropologischen Bestimmung suchte er die Verfahren zu analysieren, in denen Menschen zu Subjekten gemacht werden und sich selber als Subjekte begreifen; in denen das Vermögen der Menschen geformt und aktiviert wird und in denen sie als Subjekte dazu angeleitet werden, sich in bestimmter Weise selbst zu regieren; und schließlich suchte Foucault über die Analyse von Praktiken auszuloten, wie Men schen sich selber als Subj ekt eine Form geben können. so Freiheits- und Unterwer fungspraktiken sind dabei nie losgelöst voneinander zu sehen. Das Subjekt konstiti uiert sich erst in der Begegnung mit der Macht und ist insofern ihr Effekt. Zugleich ist es der Widerstands- und Reibungspunkt, der selbst erst die Form der Machtaus übung zur Erscheinung bringt und der die Macht umlenken und umformen kann: Mit dem Subjekt wird Foucault die Macht "vom Widerstand ausgehend" analysieren.s l Das damit einhergehende Paradoxon, dass wir uns nämlich mit dem Begriff des Subj ekts "auf etwas beziehen müssen das noch gar nicht existiert", ist nur ein schein bares: das Beiprodukt der Konzeption von
Subjektwerdung,
Subjektivierung als Unterwerfung und
und als solches eher als ein Problem "der Referentialität" zu be
trachten. s2 Judith Butler kann das so sehen, weil sie mit Foucault und mit Althusser die Konstituierung des Subj ekts ebenfalls als das Resultat einer Art Begegnung oder
48 Ewald, 61-62 (Anm. 16). 49 Deleuze, Gespräche, 134 (Anm. 33). SO Vgl. SuM, 243, 2S5; SuW2 (1989), 36-45; C. Gordon, "Governmental Rationality. An Introduc tion", in: G. Burchell u.8. (Hg.), The Foucault Effect: Studies in Govemmentality. Hemel Hemp stead 199 1 , I-S I , hier 2; Rose, Inventing, 172 (Anm. 22). SI J. Butler, "Noch einmal: Körper und Macht", unv. MS, Vortrag auf der Frankfurter Foucault Konferenz, 27.-29. September 2001. S2 J. Butler, Psyche der Macht: Das Subjekt der Unterwerfung. FrankfurtlM. 2001 , hier 7, 10.
87
Zusammentreffen an der Oberfläche begreift: Ein bestimmtes Subjekt konstituiert sich erst in dem Moment, in dem es sich als dieses angesprochen ruhlt und sich so selber in der "Anrufung" und innerhalb der Normen, die diese impliziert und evo ziert, verortet. Es wird erst Subj ekt, indem es sich unterwirft; erst in diesem Augen blick und letztlich auch nur in diesem Augenblick ist es genau dieses Subj ekt, dessen Formung und Artikulation eine Macht ermöglicht, die sich selbst in der Anrufung 5 artikuliert. 3 In früheren Konzeptionen der Macht bei Foucault ist das Individuum, wie der Körper des Delinquenten in
Überwachen und Strafen, eher passiver Adressat einer 5 Macht, die eher aus Konfrontation oder Gegnerschaft resultiert. 4 Im Begriff der Regierung hingegen spielen Macht und Freiheit ineinander und das Subj ekt gerät j etzt als aktives Subjekt in den Blick: in der "Funktion" als Macht ausübendes Sub 55 j ekt und als ein Vehikel der Macht, nicht einfach nur als eine "unbewegliche und 5 zustimmende Zielscheibe dieser Macht". 6 Regieren als Führen der Führungen schließt die Fähigkeit der Selbstftlhrung ein, die Voraussetzung ist ftlr die kontinu 5 ierliche Einflussnahme auf das Handeln anderer. 7 Dabei bedeutet Machtausübung auch hier, das
Möglichkeitsfeld des Handeins zu strukturieren,
aber gerade nicht, das
Handeln zu determinieren. Indem das Möglichkeitsfeld selbst in Formen des Wissens strukturiert ist, kann es gleichsam das Scharnier zwischen Regierungstechnologien und Formen der Subj ektivierung bilden. Das Subjekt ist der "Kontaktpunkt" des 5B Regierens, das nicht eine Form der Machtausübung auf Subj ekte ist, aber auch nicht gegen sie, eher durch sie hindurch: Regieren ",mittels' spezifischer Subj ektivierungs 5 formen". 9 Macht ist daher besser von ihren positiven als von ihren repressiven Ef fekten her
zu
analysieren: von dem her, was sie hervor bringt und ermöglicht; und
wie sie Subjekte formt und leicht
zu
zu
Aktivitäten anreizt. "Wie leichtgewichtig und wie
schleifen wäre die Macht, täte sie nichts als überwachen, belauschen, über-
53 Vgl. L. A1thusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsatze zur marxistischen Theo rie. Harnburg 1977, hier 140-45; Butler, Psyche, IOf. (Anm. 52). 54 Vgl. Lemke, Kritik, 145 (Anm. 1 8); VdG. 55 1. Butler, "Kontingente Grundlagen: Der Feminsimus und die Frage der ,Postmoderne"', in: S. Benhabib u.a, Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart. Frank furtIM. 1 993, 3 1 -58, hier 45. 56 VdG, 38. 57 Wenn Foucault hier betont, dass ein Einwirken auf das Handeln, nicht auf Individuen gemeint ist, so wiederum deshalb, weil seine Analytik der Macht sich nicht auf vorgegebene Entitäten, sondern auf die Formung von Subjekten konzentriert: vgl. SuM, 254f. 58 ABHS, hier 203. 59 Lemke, Kritik, 260 (Anm. 1 8); vgl. Rose, Inventing, 155 (Anm. 22).
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raschen, verbieten und strafen; doch sie reizt, provoziert, produziert; sie ist nicht 6 einfach Auge und Ohr; sie macht handeln und sprechen". 0
An dieser Stelle erhält "Sprache" eine besondere Bedeutung bei der Analyse von Rationalitäten des Regierens;6 1 Sprache ist performativ, "not merely contemplative or 6 justificatory". 2 Es ist die Rhetorik und ein bestimmtes Vokabular, mit der sich be 63 stimmte Vorstellungen erzeugen lassen, ein Versprechen von Freiheit, Erfolg, An
erkennung, Selbstverwirklichung, das die Subjekte mobilisieren und ihr Verhalten in
einer Weise anleiten kann, dass dieses sich wie von selbst mit Zielen des Regierens 6 zu verbinden scheint. 4 Zugleich ist dies einer der zentralen Aspekte einer Ökonomie der Macht der liberalen Regierung, die auf der Basis der Fähigkeiten anderer ope riert, ihr Verhalten selbst zu regulieren:6s Analysiert man den Liberalismus nicht als eine politische Philosophie, sondern als eine Regierungstechnologie, dann ist das Entscheidende gerade nicht, "that it first recognized, defmed or defended freedom as a right of all citizens. Rather its significance is that for the first time the arts of gov 66 emment were systematically linked to the practice of freedom". 6 Subjektivität konstituiert sich erst durch "Erfahrung,, 7 und nicht unabhängig von gesellschaftlichen
Teilungspraktiken.
Diese implizieren kategoriale Bestimmungen
wie Homosexuelle, Kriminelle, Leistungsträger, Bürger usw., die Eigenschaften in gut oder schlecht und Verhaltensweisen in falsch oder richtig einteilen und normie ren. Es sind zugleich Obj ektivierungen, die bestimmte Kontrollstrategien nahe legen und begrUnden und die noch die Weisen des Tuns selbst kodifizieren. Sie beinhalten also Weisen des Denkens, die sich in Praktiken einschreiben, und als solche formen sie auch Subjektivitäten. Sie teilen das Subjekt gleichsam innerlich und binden es an seine Vorstellungen, an den Glauben an das, was es selber ist und was es in seiner Singularität ausmacht. "Das Wort Subj ekt hat einen zweifachen Sinn: vermittels Kontrolle und Abhängigkeit j emandem unterworfen sein und durch Bewußtsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet zu sein".68 Verhaftung meint hier
60 61 62 63 64 65 66 67 68
LdiM, hier 16, vgl. 43; vgl. Deleuze, Lust, 16 (Anm. 40). Vgl. Rose, Powers, 28 (Anm. 28); Rose, Inventing, 9 (Anm. 22). Rose/ MiIler, 1 77 (Anm. I). Vgl. V. Bell, "Tbe Promise ofLiberalism and the Performance of Freedom", in: Barry u.a (Hg.) (Anm. 25), 81-97, hier 95. Vgl. P. Miller/ N. Rose, "Goveming Economic Life", in: M. Gane/ T. Johnson (Hg.), Foucault's New Domains. Londonl New York 1993, 75-105. Vgl. Hindess, 105f. (Anm. 3). N. Rose, "Towards a Crtitical Sociology of Freedom". Inaugural Lecture at the Goldsmiths College, University ofLondon, 5 May 1992, hier 5. RdM, I44. SuM, 246f.
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/\
,
also beides: Das Subj ekt kann sich nur auf der Basis seiner Zugehörigkeit zur Gegenwart konstituieren, also nur innerhalb j eweiliger Sets von Nonnen, an die sein Sein und seine Anerkennung gebunden sind. Diese Zugehörigkeit ist zugleich die Basis der Transfonnation: Die Macht überschreiten heißt nicht, sich jenseits von Nonnen zu bewegen, heißt nicht Befreiung, sondern die Fluchtlinien in eine andere Richtung, auf ein anderes Set von Nonnen hin einzuschlagen.69 Eine dieser Fluchtlinien suchte Foucault in der Auseinandersetzung mit der mo dernen Vorstellung von einem inneren Selbst, dessen Wahrheit es heraus zu finden gilt und das erkennbar ist mit Hilfe humanwissenschaftlich begründeter Expertise; mit der Vorstellung von einem Subjekt, das authentisch erscheint, wenn es seine innere Befindlichkeit entblätternd "gesteht", und das so doch zum Gefangenen seiner
eigenen Wahrheitssuche wird.70 In der Vorstellung von einem Subjekt als einer Fonn kann es im Verhältnis
zu
Fonnen der Machtausübung, zu Kräften und Kräfteverhält
nissen, die Fonn einer Faltung annehmen, so Gilles Deleuze über den Foucaultschen Begriff des Subjekts: Das Subj ekt als Faltung hat kein bestimmtes Innen und Außen. Wo das Innere des Selbst liegt, ist eine Frage der Perspektive. 7) Um Subjekt zu sein, braucht es kein Inneres, dessen Wahrheit nach außen dringen muss. Es bedarf nicht der Interpretation, um sich als Subj ekt zu konstituieren, sondern eines Verhältnisses zu sich selbst, das aus Praktiken resultiert. Eine Fonn nimmt das Subj ekt in Existenz weisen an, nicht als Person. Um sich zu entfalten, bedarf es der Kraft, die, in Fonn einer reflexiven Faltung, 72 aus der Affizierung von Kräften aus institutionellen Ar rangements, Teilungspraktiken und Fonnen der MachtausUbung resultiert. Das Sub jekt entfaltet sich entlang einer Kraftlinie, die als Faltung auch die Form eines Hohl raumes annehmen kann, der die Intensität seiner Lebensmöglichkeiten bestimmt. ,,Die Linie der Kraft Uberschreiten, über die Macht hinaus gehen - das ist, als würde man die Kraft beugen, sie dazu bringen, sich selbst statt andere Kräfte zu affizie ren".73
69 Vgl. Butler, Noch einmal (Anm. 5 1); P. Macherey, "Für eine Naturgeschichte der Normen", in: Ewaldl Waldenfels (Hg.) (Anm. 47), 1 7 1 -204, hier 1 76. 70 Vgl. R. Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens: Die Tyrannei der Intimität. Frank furtIM. 1 986, hier 329; TdS, 24-62; SuWI ( 1983), 75. 71 Vgl. M. Valverde, "Some RemarIes on the Rise and Fall of Discourse Analysis", in: Histoire Sociale/ Social History 33 (2001), 59-77, hier 74. 72 U. Bröckling, ,,Freiwillige Selbstlmntrolle oder: Das demokratisierte Panopticon". Vortrag auf dem Workshop "Subjektivierung als Kontrollstrategie" der Frankfurter Foucault-Konferenz, 27.29. September 2001 . 73 Deleuze, Gespräche, 142; vgl. 134-35, 143 (Anm. 33).
90
III. Souveränität, Disziplin, Gouvernementalität Souveränität, Disziplin, Gouvernementalität, das sind drei Machttechniken, die Foucault genealogisch ins Verhältnis zueinander setzt. So lässt er etwa die Proble matisierung einer Kunst des Regierens, also die Reflexion der Bedingungen und der
angemessenen Formen des Regierens im Sinne ihrer Ökonomie, historisch mit der "Staatsraison" beginnen. Doch die "liberale Regierung" bezeichnet nicht nur das Auftauchen einer politischen Rationalität im
1 8 . Jahrhundert, sondern auch die
74 "Gouvernementalität in einem substanziellen Sinn,,: eine Technik des
Regierens über Freiheit. Foucault wollte bekanntlich nicht eine Aufeinanderfolge von Machtty-
5 pen beschreiben, die uns bedeuten soll, dass der j eweils vorgängige verschwindet.7 Vielmehr liegt eine der Funktionen der Machttypologie darin, die Koexistenz und das
Ineinandergreifen dieser drei Hauptformen der juridischen Macht, der disziplinären Norm und der liberalen Regierung von Verhalten, des
Regierens aus der Distanz,
zu
analysieren. Das Recht kann beispielsweise die Ausübung disziplinärer Macht autori sieren; man kann Strategien europäischer Sicherheitspolitik als neuere Formen der 6 Etablierung souveräner Macht der Kontrolle über ein Territorium ansehen;7 Risiko management, das auf einem statistisch-probabilistischen Konzept der Normalisierung und nicht der disziplinären Normierung beruht und das Probleme eher verteilt und zerstreut, kann wiederum, als Folge der Einschätzung eines hohen Risikos, auch disziplinierende Maßnahmen nach sich ziehen; und schließlich ist der Neoliberalis mus schon darin "illiberal" beziehungsweise "despotisch",77 dass er mit der Freiheit die Selbstlenkungsflihigkeiten der Individuen voraus setzt und von ihnen erwartet, dass sie sich
selbst beherrschen,
sich disziplinieren, um gesteckte Ziele zu erreichen
und eine bestimmte Form der Lebensfllhrung einzuhalten. Der Gouvernementalität kommt gleichwohl eine besondere Bedeutung zu, weil sie subtile Formen der Macht ausübung in den Blick nimmt, die das Subjekt als aktives voraussetzen und produzie ren. Das Konzept erschließt uns die Analyse von Weisen des Regierens, über die westliche Demokratien sich selbst und ihre Fortschrittlichkeit definieren und die eine zentrale Rolle in unserer Gegenwart einnehmen.78
74 Lemke, Kritik, 194 (Anm. 18). 75 Gouv, 64. 76 Vgl. K. Stenson, "Beyond Histories of the Present", in: Economy and Society 27 (1998), 333352, hier 337. 77 Vgl. Dean, Govemmentality, 132 (Anm. 2 1); M. Valverde, ",Despotism' and Ethical Liberal Govemance", in: Economy and Society 25 (1996), 357-372; Stenson, 341 (Anm. 76). 78 Vgl. B. Cruikshank, The Will to Empower: Democratic Citizens and Other Subjects. Ithaca, NY! London 1999.
91
Vom liberalen und neoliberalen Denken filhlte Foucault sich, wie Colin Gordon beobachtet hat, durchaus angezogen. Er sah darin ein weitaus größeres erfinderisches Potenzial filr kreative und kritische Formen der Politik als in der etablierten linken und kritischen politischen Kultur.79 Eine Differenz zu dieser liegt schon deshalb auf der Hand, weil Foucault Großlogiken wie den "Kapitalismus" als übergreifende Determinante unseres Daseins ebenso unzureichend erschienen wie die Vorstellung von einer Macht, die zentralisiert, hierarchisch und bloß repressiv ist, die in der Ver kleidung der Ideologie daher kommt und unseren klaren Blick auf die wahren Ver 8 hältnisse trübt. 0 Darüber hinaus ist seine Wertschätzung liberalen Denkens gerade mit B lick auf die Konstituierung von Subjektivitäten nahe liegend - auch wenn man das
filr eine prekäre Affinität halten mag. Der Neoliberalismus ist eine Oberflächen
technologie und scheint darin sowohl dem Begriff Foucaults von einem Subj ekt als Form gerecht zu werden als auch seiner Unterscheidung zwischen den inhaltlichen
Vorgaben einer Moral und den Regeln einer selbst bestimmten Ethik.BI Denn der
Neoliberalismus will das Individuum nicht kennen und erkennen, und er will und muss den Individuen keine inhaltlich bestimmten Vorschriften über ihre Lebensweise machen: Mit seiner Obsession der Wahlfreiheit und Eigenverantwortung wirft er das Individuum, das seine Chancen nutzen soll, auf sich selbst zurück. Anders als die therapeutisch-soziale Programmatik des Wohlfahrtsstaates interessiert er sich daher weder filr dessen innere Befindlichkeit noch filr die äußeren, sozialen Lebensverhält 8 nisse. Auch wenn die Individuen "gezwungen" sein mögen, "frei zu sein", 2 sind sie in dieser Freiheit doch gleich. Denn der Neoliberalismus geht davon aus, dass alle über dieselben Chancen verfilgen, und braucht sich deshalb auf ontologische Diffe 8 renzen und Determinierungen nicht einzulassen. 3 Sein Programm besteht darin, die Risiken des Lebens, wie existenziell oder alltäglich die auch immer sein mögen, zu individualisieren; und dazu bedarf es nur einer Voraussetzung: des rationalen Ak teurs. Weil der per definitionem in der Lage ist, rationale Entscheidungen zu treffen,
79 VgI. Gordon, "Governmental", 6 (Anm. 50). 80 Den Unterschied seiner Geschichtsauffassung zu der der "Kritischen Theorie" der "Frankfurter Schule", hat Foucault (MiE, Anm. 13, 86) selbst einmal so heraus gestellt: "Mir schien, dass sie wenig Geschichte im eigentlichen Sinne treiben, dass sie sich auf Forschungen beziehen, die an dere unternommen haben, auf die bereits vorliegende und beglaubigte Geschichtsschreibung ei ner Reihe guter, vorwiegend marxistische gesinnter Historiker, die sie als Erkillrungshintergrund anbieten". 8 1 VgI. TdS; Deleuze, Gespräche, 145 (Anm. 33). 82 VgI. Rose, Inventing, 1 7 (Anm. 22). 83 VgI. Valverde, "Despotism", 367f. (Anm. 77).
92
kann er an diesen gemessen werden und fUr sie auch verantwortlich sein. So darf und B4 musS der Unternehmer seiner selbst seine vorausschauende Besonnenheit beweisen. Neoliberales Denken lässt sich gleichwohl kritisch wenden, etwa im Sinne auto politischer Konzepte. Schließlich muss man es nicht per se als problematisch mer no ansehen, dass der Neoliberalismus und neuere politische Strategien eines "good governance"BS lokale Kapazitäten und Fähigkeiten der Problemlösung zu mobilisie ren suchen. Problematisch sei, so Shearing, der sich in Südafrika und Nordirland rur neue Formen des Po/icing auf kommunaler Ebene eingesetzt hat, dass der Staat, Institutionen oder Experten die Direktiven vorgeben. Um Konzepte autonomer Kon fliktlösung in Gang zu setzen, hätten Experten sich statt dessen auf eine minimalisti sche Rolle zu beschränken. Erst dann ließe sich das Foucaultsche Prinzip respektie ren, nichts auf etwas anderes zurückzuführen -
93
über diese eigene Wahlmöglichkeit 8 nen. 9
zu regieren
und verantwortlich machen zu kön
Der Logik einer vermeintlichen Befreiung können sich solche Konzepte nicht
entziehen. Vielmehr nehmen sie die kritische Formel von der "power beyond the state" und des "governing at a distance" aus der Governmentality-Literatur praktisch beim Worte und verwirklichen sie.90 Dabei entkommen sie weder der Moral, die die Freiheit der Wahl ermöglicht, indem sie die Verantwortung bei der Entscheidung, also bei denen ansiedeln, die frei sind zu wählen; noch entrinnen sie der Determinie rung, die die notwendiger Weise vorgegebenen Auswahlmöglichkeiten als struktu rierte Wahl implizieren (und wer, darf man fragen, ist autorisiert, welche Struktur vorzugeben?); und sie vermeiden nicht, dass Programme das Subjekt voraussetzen und Technologien des Regierens es immer schon mit konstituieren. Genau darin aber besteht das kritische Programm des Konzeptes der Gouverne mentalität, mit dem wir diese unhintergehbare Beziehung von Regieren und Subj ek tivierung untersuchen und mit dem wir uns vergegenwärtigen können, wie regiert werden und sich selber regieren, regieren und sich regieren lassen ineinander greifen . Zugleich liegen hier, und nicht in dem Anspruch "überhaupt nicht regiert zu wer den", unsere Möglichkeiten. Nicht die Fragestellung Foucaults, wie wir ,,nicht der maßen, nicht von denen da, nicht um diesen Preis regiert [ . ] werden" können,91 ..
erlegt uns eine unerträgliche Beschränkung unserer Freiheitsbestrebungen auf, son dern der Glaube an Befreiung als einen erreichbaren Zustand der Freiheit. "Freiheit ist die Garantie der Freiheit" in dem Sinne, dass wir Freiheit nur ausüben, nicht aber haben können.92 Eine der Voraussetzungen rur diese Ausübung ist die Gegenproble matisierung von Praktiken; die uns auch deshalb beherrschen, weil wir sie als selbst verständliche akzeptiert haben; und die der Reflexion zugänglich sind, weil sie selbst " "Formen des HandeIns sind, in die Weisen des Denkens sich eingeschrieben ha 93 ben. Problematisierungen fokussieren "das Sein als eines, das gedacht werden kann ,, und muss ;94 sie reflektieren auf das Verhältnis von Denkformen und Handlungswei-
89 Vgl. ausftlhrlich P. Q'Malley, "Consuming Risks: Harm Minimization and the Govemment of ,Drug-users''', in: R. Smandych (Hg.), Govemable Spaces: Readings on Govemmentality and Crime Contro!. Aldershot 1 999, 191-214. 90 Rose! Miller (Anm. I). 91 WiK, 52. " 92 ESP, hier 276, zit n. Lemke, "Freiheit (Anm. 14), 275. 93 Au, 702. 94 SuWI ( 1983), 19.
94
sen: auf den Zwischenraum des Möglichen, in dem andere Praktiken vorstellbar 9s werden und sich alternative Subjektivitäten konstituieren können.
95 Denkweisen freilich sind nicht subjektiv und konstituieren als solche die - historisch spezifische - Erfahrungsstruktur von Subjektivität; vgl. PHS, hier 335; WiA, hier 52; Lemke, Kritik, 341 (Anm. 1 8).
95
11. Diskurs
Männlichkeitskonstruktion im medizinischen Diskurs um 1 83 0 : Der Körper eines Patienten von Samuel Hahnemannl Martin Dinges
I. Körpergeschichte, Diskurs, Macht, Subjektivität und die Quellen 2 Körper werden bekanntlich in Diskursen erst hergestellt. FUr Historiker sind j eden falls Schmerz und Begehren schwerlich anders als durch Texte rekonstruierbar. FUr die historische Analyse ist deshalb die Art, wie Körper versprachlicht werden und wie man Uber sie reden kann, von fundamentaler Bedeutung. Was in Selbstzeugnis sen an "Erfahrungen" Uber Körper geäußert wird, verweist oft in weit höherem Maße auf zeitgenössische und frUhere Körperdiskurse als häufig angenommen wird. Der Diskursbegriff von Michel Foucault ist heuristisch rur die Körpergeschichte
besonders geeignet. 3 Die Frage nach der Entstehung bestimmter Denkweisen zielt auf die Herkunft des diskursiven Materials, das einen Autor inspiriert, sich gegebenen Zeitpunkt in einer bestimmten - und keiner anderen - Weise
zu einem zu seinem
Körper zu äußern (Emergenz). Weiter unterstreicht Foucault die Bedeutung der im pliziten Annahmen Uber das Wichtige und das Richtige, die jeder Diskurs nahelegt
2
3
Dies ist die Kurzfassung eines langeren Artikels, der weitere Beispiele enthält und Fragen der homöopathischen Behandlung stärker akzentuiert; geschlechtergeschichtliche Aspekte werden später weiter ausgearbeitet Er ist veröffentlicht als M. Dinges, "Men's Bodies ,Explained' on a Daily Basis in Letters ftom Patients to Samuel Hahnemann (1830-1 835)", in: Ders. (Hg.), Pati ents in the History of Homoeopathy. Sheffield 2002, 85- 1 1 8. Für Anregungen zu früheren Fas sungen dieses Papiers danke ich den Diskutanten in BrUggen/Schweiz, Wien, Greifswald, Zü rich, Stuttgart und Hamburg. P. Sarasin, "Mapping the body: Körpergeschichte zwischen Konstruktivismus, Politik und ,Erfahrung"', in: Historische Anthropologie 7 ( 1999), 437-45 1; vgl. auch den Versuch von M. Lorenz, Leibhaftige Vergangenheit Einftlhrung in die Körpergeschichte. Tübingen 2000, 35ff., 94ff. Die Grenzen der Versprachlichung müssen hier nicht diskutiert werden. Vgl. zuletzt P. Sarasin, Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1 765-1914. Frank furtlM. 200 1.
99
(Relevanz- und Veridiktionsfunktion).4 Damit werden andere Thematisierungen ausgeschlossen (Exklusionsfunktion). Schließlich ordnet jeder Wissensbestand nicht nur Gegenstände innerhalb eines gedanklichen Feldes, sondern auch die Positionen derjenigen, die sich den Diskurs aneignen. Da es sich dabei zumeist um ungleiche Verteilungen handelt, werden Machtgeflille strukturiert. Entgegen einem verbreiteten Missverständnis ist hier zu unterstreichen, dass Macht bei Michel Foucault keines wegs statisch zu denken, sondern ein höchst dynamischer Prozess ist. Weiterhin sind Diskurse auch keine "ehernen Gehäuse" zur Verunmöglichung von Subjektivität, sondern sie ermöglichen als produktive Ressource gerade Subjektivierung. Im Folgenden werde ich den Nutzen der Foucaultschen Überlegungen am Bei spiel des im Jahre 1 8 3 1 28-jährigen Kantors Schuster vorfUhren, dessen Konstruktion männlicher Subjektivität sich im diskursiven Austausch mit dem behandelnden Arzt Ober die Jahre entwickelt.5 Quellenbedingt stehen zunächst Körperlichkeit sowie GesundheitlKrankheit im Vordergrund, dann aber auch Partnersuche und Heirats projekte.6 In einem Brief vom 1 8. 1 1 . 1 833 schrieb Schuster aus Lagow in der Neumark (bei Posen, heutiges Polen) an den homöopathischen Arzt Samuel Hahnemann (17551 843): "Höchst geschlitzter Herr Hofrath! Sie erhalten hiermit die Fortsetzung meines unterm 29ten August abgebrochenen Krankenberichts, welcher also lautet: 30. [August] DrUcken im Leibe. Nach dem Frühstück Kneipfen im Leibe, Ziehen in der linken Schlafgegend. Krimmen auf mehreren Stellen des Körpers, Drücken auf der rechten RUckenseite.
4 5
6
S. jetzt M. Mase!, Diskurs, Macht und Geschichte: Foucaults Analysetechniken und die histori sche Forschung. Frankfurt M.I New York 2002 (im Druck), Kap. II und III. Die gendergeschichtliche Problematik von "Mllnnlichkeit" kann hier nicht vertieft werden. Es mag genUgen, auf die Rollenerwartung der höheren Aktivität der Mllnner bei der Partnerwahl und auf die Partnerwahl als wichtigen Schritt zur Herstellung einer Mllnnerrolle als Ehemann (und gegebenenfalls als ,,Familienmann"; vgl. dazu W. Erhart, Familienmllnner: Ober den litera rischen Ursprung moderner Mllnnlichkeit. München 2001) hinzuweisen. Auch fuhrt diese Phase zu einer signifikant erhöhten Selbstmordrate bei Mllnnem im Vergleich zu Frauen, was sie ge schlechtergeschichtlich als fIlr Mllnner besonders problematisch ausweist. Siehe dazu demnächst M. Dinges, ,,Perspektiven der neuen Mllnnergeschichte", in M. Bos U.a. (Hg.), Alles nur Dis kurs? (ersch. ZUrich 2003). Vgl. auch C. RUter, "Der konstruierte Leib und die Leibhaftigkeit der Körper: Die Relevanz des Körpers fIlr eine Mllnner-Erforschung", in: BauSteineMllnner (Hg.), Kritische Mllnnerforschung: neue Ansatze in der Geschlechtertheorie. Berlin 1 996, 76-107. Insofern könnten sich Patientenakten als ideales Material erweisen, um die von Schmale gefor derte körpergeschichtliche Wende in der Geschlechtergeschichte empirisch mit Gehalt zu filllen; vgl. W. Schmale, ,.Einleitung: Gender Studies, Mllnnergeschichte, Körpergeschichte", in: Ders. (Hg.), MannBilder: Ein Lese- und Quellenbuch zur historischen Mllnnerforschung. Berlin 1998, 7-33.
100
Beim Drücken Schmerz auf der Nasenspitze. Ziehen in der trinken] Stirnseite. Klingen im trinken] Ohre. Husten. Ich habe Appetit zum Essen, trotz dem, daß es mir beim Aufstoßen noch nach den vorigen Speisen schmeckt. Springen im trinken] Oberarm. Des nachts wachte ich einige Male auf. 3 1 . Nüchtere Drücke in der Magengegend, als lege ein Stein darin. Der Mund wird mir schon seit einigen Wochen leicht wäßrig. Krimmen auf mehreren Stellen des Körpers. Ein mal Husten. Drücken in der Seite. Schmerz im After. Schnupfengeftlht. Ziehen in beiden Schtafgegenden. September I, Krimmen auf mehreren Stellen des Körpers. Klingen im l[inken]Ohre. Ziehen in der rechten Kopfseite. Pollution. Ziehen im r[echten)Ohre.'"
Und so geht das Tag fUr Tag und über vier Jahre in 24 Briefen weiter. Kantor Schu ster liefert eine Fülle von Körpererfahrungen, die auch kleinste Beobachtungen, z.B. zur Nasenspitze, einschließen. Zeitpunkte am Tag und in der Nacht sowie Zusam menhänge zu Mahlzeitep werden recht genau angegeben. Das Aufstoßen spielt bei ihm eine Rolle - aber nur als eines neben vielen anderen Symptomen. Der Schlaf wird angesprochen. Selbst ein "SchnupfengefUhl" ist berichtenswert. Daneben stehen wenig präzisierte allgemeine Befindlichkeitsstörungen wie das "Krimmen" (=Grimmen) auf mehreren Stellen des Körpers. Unterstrichen wird vom Patienten selbst der "Schmerz im After", den er demnach als wichtig kennzeichnen will. Auch erfahren wir von einer Pollution, einem - selbständig erfolgten - Samenerguss. Nicht genug mit dieser DatenfUlle in den tageweise gefUhrten Berichten, die fUr je zwei Monate circa acht Seiten fUllen, es folgen als ergänzende Information noch zwei weitere Seiten Symptomzusammenstellungen rur den ganzen Berichtszeitraum zu folgenden Rubriken: "Feuchtwerden der Augen, Stuhlgang, Stockschnupfen und Niesen, Pressen im Kreuze, Aufstoßen und Gähnen, Schlaf und Träume, Krimmen auf der Eychel, abgehende Blähungen, Schmerz dicht über dem After, die Hoden, die Verdauung, Recken und Dehnen, das Knacken im linken Oberarmgelenk, Murren im Leibe, Schleim, Schmerz im After" sowie Erklärungen zu weiteren körperlichen Phänomenen wie "Sommersprossen", "Haarausfall", "Ohrenschmalz"; schließlich beschreibt er Erfahrungen beim "Laufen". Einige Zeilen betreffen das eigene "Be nehmen" und "VerlegenheitsgefUhle". Schuster schwelgt in Körperbeobachtungen und einem dazugehörigen Empfindungsreichtum und bezieht sich noch auf ein "ganzheitliches" Körperverständnis, in dem das Gähnen als Ausdruck von fehlender Lebenskraft ebenso einen Platz hat wie das Sich-Recken als Zeichen fehlender kör perlicher Spannkraft. In dem durch die Hochschätzung der Diätetik gekennzeichne ten Körper- und Krankheitsverständnis der Zeit spielen auch die Informationen zur Lebensfilhrung eine große Rolle. 7
Institut ftlr Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart (=IGM), Bestand Pati entenbriefe (=B) 33 1259, 1 . Alle fotgenden Quellenzitate entstammen IGM B und werden nur mit Nummer des Stücks und der Seite zitiert. Die Schreibweise der Briefe wird buchstabengetreu wiedergegeben, die Interpunktion ebenfalls nicht verändert.
101
Dieses Beispiel aus Tausenden von Patientenbriefen an Samuel Hahnemann be legt besser als abstrakte Ausfllhrungen die manchmal fast irritierende Überfll lle an Informationen zu Körpererfahrungen, die in diesen Quellen enthalten ist.8 Patientenbriefe drängen sich fllr eine körpergeschichtliche Auswertung nach be reits erforschten Texten zur Anthropologie und Anatomie, ärztlichen Fallsammlun gen, normativen Texten der medizinischen Aufklärung, des Onanie- und des Hygie nediskurses geradezu auf. 9 8
Zu diesem Bestand vgl. die Einleitung des Bestandsverzeichnisses. Zuletzt dazu M. Stolberg, "Krankheitserfahrung und Am-Patienten-Beziehung in Samuel Hahnemanns Patientenkorre spondenz", in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte
1 8 (1999), 169-188.
Besonders instruktiv,
auch wegen der Veröffentlichung transkribierter Briefe, ist R. Hickmann, Das psorische Leiden der Antonie Volkmann: Edition und Kommentar einer Krankengeschichte aus Hahnemanns Krankenjournalen von
1 8 19-183 1 .
Heidelberg
1996;
vgl. auch C. Gehrke, Die Patientenbriefe
der Mathilde von Berenhorst ( 1808-1874): Edition und Kommentar einer Krankengeschichte von
1 832-1833. 9
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18.
Jahrhundert. Monster
Lütkehaus, ,,O Wollust, 0 Hölle": Die Onanie: Stationen einer Inquisition. FrankfurtlM.
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Zwar wurden bei fast allen diesen Textgattungen vorzugsweise Akteure unter , die versuchten, eine bestimmte Körperauffassung zu verbreiten. Trotzdem ucht s - insbesondere in den ärztlichen Fallsammlungen - Umrisse des praktischen urden w Umgangs mit dem eigenen Körper erkennbar. Die verstärkte Nutzung von Selbst 11 10 l2 zeugnissen wie TagebUchem und "Autobiographien,, sowie Korrespondenzen rückte Deutungen des Körpers durch die betroffenen historischen Subjekte selbst in den Vordergrund. Allerdings ist es eine nicht immer bewältigte Herausforderung an die Forschenden, die Herkunft der Vorstellungen zu klären, die den Diskurs dieser zunächst recht persönlich wirkenden Texte prägen. Das gilt auch rur Patientenbriefe. Sie entstanden aus der Praxis, nicht am Wohn ort des Arztes ansässige Patienten schriftlich zu behandeln. Medikamente wurden in - bei Hahnemann numerierten - Päckchen beigelegt. In Europa gibt es seit dem späten 1 7. Jahrhundert und bis in das 20. Jahrhundert hinein eine Reihe von Samm-
Zur Hygiene: Sarasin (Anm. 3). Vgl. insg. M. Stolberg, ,,'Mein äskulapisches Orakel! ' Patientenbriefe als Quelle einer Kulturge schichte der Krankheitserfahrung im 1 8. Jahrhundert", in: Österreichische Zeitschrift rur Ge schichtswissenschaft 7 (1996), 385-404. 10 S. Sander, ,,'Ganz toll im Kopf und voller Blähungen .. .': Körper, Gesundheit und Krankheit in den TagebQchem Philipp Matthäus Hahns", in: Philipp Matthäus Hahn 1730-1790 (Ausstel lungskatalog), Bd.2. Stuttgart 1989, 99-1 12; G. Piller, "Der jugendliche Männerkörper: Das Ju gendtagebuch Johann Rudolf Hubers 1783/84 als Medium der Selbstkontrolle", in: K. von Greyerz u.a. (Hg.), Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich: Europäische Selbstzeugnis se als historische Quelle. Köln u.a. 2001 , 2 13- 230. 11 J. Lachmundl G. Stollberg, Patientenwelten: Krankheit und Medizin vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert im Spiegel von Autobiographien. Opladen 1995; M. Dinges, "Schmerzer fahrung und Männlichkeit - Der russische Gutsbesitzer und Offizier Andrej Bolotow ( 1 7381 795)", in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 15 (1997), 55-78; ders., "Soldatenkörper in der Frühen Neuzeit - Erfahrungen mit einem unzureichend geschützten, formierten und verletzten Körper in Selbstzeugnissen", in: R. van DQlmen (Hg.), Körpergeschichten. FrankfurtlM. 1996, 7 1 -98; M. J. Maynes, ,,Adolescent Sexuality and Social Identity in French and German Lower Class Autobiography", in: Journal of Family History 1 7 (1992), 397-41 8; R. JQtte, ,,Aging and Body Image in the 1 6th Century: Hermann Weinsberg's ( 1 5 1 8-1597) Perception of the Aging Body" , in: European History Quarterly 1 8 (1988), 259-290; C. Lumme, Höllenfleisch und Hei ligtum: Der menschliche Körper im Spiegel autobiographischer Texte des 1 6. Jahrhunderts. FrankfurtlM. 1996; S. Ungermann, Kindheit und Schulzeit von 1 750-1850: Eine vergleichende Analyse anhand ausgewählter Autobiographien von Bauern, Bürgern und Aristokraten. Frank furtIM . u.a. l 997, 123-141. 12 C. Kiening, "Der Körper der Humanisten", in: Zeitschrift rur Germanistik N.F 2 (1998), 3013 16; A.-C. Trepp, Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit: Frauen und Männer im Hamburger BQrgertum zwischen 1770 und 1 840. Göttingen 1996; R. Habermas, Frauen und Männer des BQrgertums: Eine Familiengeschichte (1750-1850). Göttingen 2000.
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lungen solcher Korrespondenzen, die allerdings vorwiegend rur das 1 8. Jahrhundert Uberliefert sind. \3 Sie heben sich von den insbesondere von Barbara Duden und Ma ren Lorenz verwendeten ärztlichen Fallsammlungen in vierfacher Hinsicht positiv ab: Erstens bieten sie mehr als nur die aus ärztlicher Sicht medizinisch spannenden, spektakulären Fälle, deren Auswahl sonst den Eindruck vom verbreiteten Umgang
mit dem Körper verflUschen könnte, weil sie auf das gewissermaßen ärztlich wissenschaftlich Interessante hin rur die Publikation zusammengestellt werden; Pati entenbriefe sind also rur die medikale Alltagskultur repräsentativer. Zweites können sie mehr als ein ausschließlich durch den ärztlichen Blick gefiltertes Körperbild vermitteln, weil Patienten hier ihre eigenen Anschauungen und Erfahrungen einbrin gen. Drittens laufen die Korrespondenzen oft Uber längere Zeiträume, so dass auch Entwicklungen des Körperverständnisses beim Patienten im Laufe des Briefwechsels nachvollziehbar werden. Schließlich fließt mehr sozialer Kontext in die Briefe ein: Es wird Uber Lebens- und Familienverhältnisse berichtet, und dritte Personen steuern manchmal selbständig Informationen Uber den kranken Korrespondenten bei, so dass
eine zusätzliche Informationsdichte erreicht wird. 14 Gleichwohl entstanden die Texte im Kontext medizinischer Beratung, so dass sie durch die jeweilige Arzt-Patient-Beziehung und die in dieser wirksamen Wissensbe stände geprägt sind. Die Briefe geben denn auch Auskunft über das Leseverhalten der Patienten und erlauben interessante Aufschlüsse über die Rezeption der medizini schen Aufklärung und der Hygieneliteratur. Verweisen solche LektUren einerseits auf die den Körperdiskurs stark prägenden Ärzte, so sind die Briefschreiber andererseits weder von vornherein noch umfassend auf eine rein ärztliche Sicht ihres Körpers festgelegt. Jedenfalls gehen in ihr Schreiben auch andere Beobachtungen und Deu tungen ein.
13 Vgl. neben Stolberg, Orakel (Anm. 9); P. Riederl V. Barras, ,,Ecrire sa maladie au siec1e des Lumieres", in: V. Barras! M. Louis-Courvoisier (Hg.), La medecine des Lumieres: Tout autour de Tissot. Chene-Bourg 2001 , 201-222; zuletzt F. Sardet, "Briefe in der Kommunikation zwi schen Ant und Patient im 1 8. Jahrhundert: Annllherung an das Subjekt", in: Greyerz u.a. (Hg.) (Anm. 1 0), 23 1-248; M. Stuber/ H. Steinke, ,,'Die stumme SOnde' in der Femkonsultation: Der Onanist Ivo Sutton schreibt dem Universalgelehrten Albrecht von Haller", in: Traverse 3 (1999), 172-180. Eines der sehr seltenen Beispiele solcher Briefwechsel aus dem 20. Jahrhundert nutzt O. Faure, "Lean Vannier's Patients in the 1930s", in: Dinges (Hg.), Patients (Anm. 1), 199-2 1 1 . Siehe auch H . Oosterhuis, Stepchildren ofNature: Kraffi-Ebing, Psychiatry, an d the Making of Sexual ldentity. Chicago 2000. 14 Hahnemann wünscht grundsatzlich solche Zusatzinformationen zu seinen Patienten und erhält sie auch häufig; vgl. dazu T. Genneper, Als Patient bei Samuel Hahnemann: Die Behandlung Friedrich Wiecks in den Jahren 1 8 1 5/1816. Heidelberg 1991, 38.
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Dementsprechend stehen die Patientenbriefe an einer Schnittstelle zwischen dem dominanter werdenden Diskurs der Ärzte und dem Alltagsdiskurs der Briefschreiber. Man kann gerade in den Patientenbriefen die Machteffekte von Wissensproduktion und interaktiver Praxis im Arzt-Patient-Verhältnis differenziert verfolgen. Bei dem untersuchten "Briefwechsel" handelt es sich lediglich um die Briefe an Hahnemann. Seine Antworten sind nur-in Ausnahmefällen erhalten. Allerdings ent hält jeder Brief einen Aufsatzvermerk mit dem Antwortkonzept, aus dem u.a. die ordinierten Medikamente hervorgehen. Für das Verständnis der Texte muss bedacht werden, dass Hahnemann von seinen Patienten erwartete, dass sie das "Organon der Heilkunst", sein 300 Seiten starkes Hauptwerk oder eine kürzere Fassung lasen, was auch - teilweise aus eigenem Antrieb, teilweise auf ärztlichen Wunsch hin - gesche hen ist.I S Das Organon enthält neben hundert Seiten harscher Kritik der zeitgenössi schen Medizin Ausftlhrungen zur Krankheitslehre, zur Arzneizubereitung und Be merkungen zu anderen Therapieformen wie dem Magnetismus. Für unseren Zusam menhang ist die Anleitung zum Krankenexamen besonders wichtig.1 6 Sie macht den Leser mit der Vielfalt der Bereiche vertraut, nach denen der homöopathische Arzt fragen könnte. Dementsprechend ist eine gewisse Vorinformiertheit über Hahne manns Gesundheitsverständnis bei den Lesern des Organon vorauszusetzen, ohne dass bereits präzise Vorgaben rur die Beschreibung körperlicher Vorgänge gegeben würden.1 7 Dementsprechend waren die Briefschreiber recht lese- und schreibkundige, medizinisch zumindest teilweise vorinformierte Personen.1 8 Die Berufsangaben wei-
15 Als Hintergrund der Briefschreiber ist die zweite Auflage des Organon der Heilkunst, Dresden 1 829 zugrundezulegen. Zur Praxis vgl. S. Hahnemann, Krankenjournal D 34. Kommentarband von U. Fischbach-Sabel. Heidelberg 1998, 47f., 138. 1 6 Vgl. R. Jütte, "Case Taking in Homoeopathy in the 19th and 20th Centuries", in: British Homoeo pathic Journal 87 (1998), 39- 47. 17 Zur medizinischen Seite der Hahnemannsehen Praxis ist neben H. Varady, Die Pharmakothera pie Samuel Hahnemanns in der Frühzeit der Homöopathie: Edition und Kommentar des Kran kenjournals D 5 (1803-1806). Med. Diss. München 1987 und Fischbach-Sabel (Anm. 1 5), mitt lerweile auf eine reiche Literatur zu verweisen: Auf der Auswertung von Krankenjournalen und Briefen beruht die instruktive Einzelfallstudie von Hickrnann (Anm. 8); eine Patientengeschichte auf der Basis dreier Krankenjoumale bietet Genneper (Anm. 1 4). Unterschiedliche Falle zur Hahnemannschen Praxis über einen langen Zeitraum bot schon H. Seiler, Die Entwicklung von Samuel Hahnemanns an:tlicher Praxis anband ausgewählter Krankengeschichten. Heidelberg 1988; R. Handley, In Search of the Later Hahnemann. Beaconsfield 1 997 diskutiert die Pariser Zeit; s. auch A. Michalowski U.a., "Tberapiegeschichtliche Materialen zu Samuel Hahnemanns Pariser Praxis", in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 8 (1989), 1 7 1 -96. 18 Zur Einschätzung von heutigen Laienvorstellungen über Krankheit/Gesundheit in der "moder nen" Medizin vgl. C. Bischoffl H. Zenz (Hg.), Patientenkonzepte von Körper und Krankheit. Bern 1989; zur geschlechtsspezifischen Schmerzwahrnehmung vgl. G. A. Bendelowl S. J. Wil-
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sen auf eine sozial und nach Geschlechtern durchaus gemischte Patientenschaft hin, in der allerdings die Unterschichten signifikant unterrepräsentiert sein dUrften.19
11. Alltagspraktiken und der geschärfte Blick auf den eigenen Körper: Das Selbstverständliche im Körperdiskurs mit dem Arzt Am 1 . April 1 83 1 schreibt Kantor Schuster an Samuel Hahnemann im circa 270 km entfernten Köthen (Anhalt): "Wohlgeborener Herr, Höchstverehrtester Herr Doctor, Sie werden verzeihen, wenn ein Unglückli cher sich an Sie wendet, um Ihre Güte in Anspruch zu nehmen und dadurch sich aus einer traurigen Lage zu retten. Ich bin den 14ten Juni 1803 von gesunden Eltern geboren und hatte das Unglück, in einem Alter von 8 Jahren das Laster der Onanie kennen zu lernen. Ganz unbekannt mit den höchst traurigen Folgen desselben rur mich übte ich es bis in mein 18tes Lebensjahr aus. Erst im Jahre 1 820 kam mir Beckers Buch "über Onanie u.s.w." in die Hände und wurde dadurch zuerst über mein Unglück belehrt, nachdem ich dis Laster I 0 Jahre lang geübt hatte. Ich laß, erschrak und nahme meine Maßregeln danach: nur die kräftigen Bäder, welche darin empfohlen wurden, wendete ich nicht an: weil ich als Gehilfe meines Vaters nicht mehrere hunder [sic] Thaler daftlr verwenden konnte: trug aber dagegen Flanellhemden. welche dasselbe bewirken sollen und welche mir auch wirklich den heftigen, mehrere Tage anhaltenden und wenigstens alle vier Wochen wiederkehrenden fließenden Schnupfen so weit hoben, daß ich ihn jahrlich, wenn nicht eine Erkaltung von Bedeutung vorkam, nur I bis 3 mal auszustehen habe. Diät lebte ich so ziemlich, brauchte auch dabei Moos schokolade20 und Stahlelexier; aber bei alledem und einer nahrenden Diät verspürte ich sonst keine Besserung, als Verminderung der nächtlichen Pollutionen, deren ich jetzt alle 6 bis 8 Wochen nur liams, "Natural for Women, Abnormal for Men - Beliefs about Pain and Gender", in: S. Nettle tonl J. Watson (Hg.), The BOOy in Everyday Life. London 1998, 1 99-2 17. Zum Interesse an Ge sundheit als Teil der Konstitutierung des Bürgertums vgl. neben Sarasin (Anm. 3), M. Frey, Der reinliche Bürger: Entstehung und Verbreitung bürgerlicher Tugenden in Deutschland (17601 860). Göttingen 1 997. 19 Vgl. zur Patientenschaft Hahnemanns, soweit sie sich aus den Krankenjournalen rekonstruieren lässt, R. Jütte, "Samuel Hahnemanns Patientenschaft", in: M. Dinges (Hg.). Homöopathie: Pati enten, Heilkundige und Institutionen. Von den Anfllngen bis heute. Heidelberg 1 996, 23-44. K. Schreiber, ..Vertreibung aus Leipzig? Hahnemanns Leipziger Praxis: Ursachen fllr den Umzug nach Köthen im Jahr 1 82 1 - Patientenfrequenz und Polemik", in: Medizin, Gesellschaft und Ge schichte 1 8 (1999), 137-148. 20 Moosschokolade ist in S. Hahnemann, Apothekerlexikon - 2 Bde. in 4 Teilen. Leipzig 1 7931 799 nicht direkt nachweisbar. Es heißt aber unter "Schokolade", dass sie (als Getränk) "durch Gewürze leicht verdaulicher, aber dann auch erhitzend wird, und Geschlechtstrieb reizend" (Bd. 2/2, 1 67). Stahlelexier fehlt im Apothekerlexikon; der Eintrag "Stahlwasser" enthalt nur den Verweis auf "Mineralwasser" (ebd., 273).
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eine habe: Obwol ich weder zu wenig noch zu nahrios esse. Nebenbei kaufte und laß ich über diese Krankheit und Diätetik und specielle Krankheiten mehrere Bücher, so daß ich selbst gegen 20 besitze und mit den geliehenen wol über 30 medicinische Bücher gelesen habe. Sie sehen sogleich hieraus: wie tief ich meine Krankheit ftlhlte und wie sehr ich gestrebt habe, mich zu heilen. Ich suchte jedes Mittel, deren ich nur zur Befbrderung meiner Gesundheit benutzen zu können glaubte durch medici
nische Bücher kennen zu lemen ... ,,21
Unser Briefschreiber fUhlt sich offenbar sehr krank und "outet" sich gleich als Ona nist, der sich zehn Jahre selbst befriedigte: Die Lektüre des Erfolgsbuches von Bek kers "Onania oder die erschreckliche Sünde der Selbstbefleckung mit all ihren ent setzlichen Folgen", das zunächst englisch 1 71 5, dann deutsch 1 736/5 1 erschien, erlaubte es Schuster, sein eigenes Unglück überhaupt erst zu entdecken und gleich sinnvoll zu deuten.22 Die Lektüre dieses medizinischen Textes löste einen Bruch im LebensgefUhl des Briefschreibers aus. Entscheidend war dabei eher die nunmehr plötzlich mögliche Erkenntnis dieser Krankheit als die Symptome selbst, denn als Krankheit deutbar wurden diese erst durch das Buch. Gleichzeitig entstand aber auch die Hoffnung auf deren Überwindung durch entsprechende Praktiken. Jedenfalls erlaubt die medizinisch geprägte Selbstdeutung eines bestehenden DefizienzgefUhls, über Unglück und Probleme zu reden. Schuster legt sein "Wohl und Weh in ihre [also des Arztes] Hände", bezeichnet sich auch später als "erbarmungswürdiges Opfer unter Kranken" und erwartet als Patient - fUr sich und ggf. andere - "auf ho möopathischem Wege Hilfe".23 Onanie versteht er zeitgemäß als typische Krankheit des Mannes,24 die seinen ganzen Körper umfasst. Als Leser schließt er sich gewis sermaßen dem dominanten Aufklärungsdiskurs zum männlichen Körper an, der eine umfassende Semantik von der Schwächung des ganzen Körpers durch Verlust der besten und feinsten Körpersäfte im verschwendeten Samen über die potentielle Zeu gungsunfähigkeit bis hin zu eigener oder gesundheitlicher Verderbnis der Nachkom men umfasst. Gleichzeitig wird von vornherein eine allein empfundene oder ausge lebte genitale Lust total negativ gedeutet.2s Andererseits erlaubt die medizi nisch/moralische Fassung des Onanieproblems einen ganz aufklärerisch optimisti-
21
3 l076, l f.
22
Vgl. dazu Bloch, Bekampfung, 73-155 (Anm. 9).
23
3 1 076, 4; 3 1 333, 3.
24 In der theoretischen Literatur wird auch die Selbstbefriedigung von Mädchen thematisiert, allerdings sehr viel weniger, was nicht zuletzt mit der weniger leichten Kontrollierbarkeit zu sammenhangen soll; Stolberg, Vice, 1 2 (Anm. 9). 25
Zu alteren Wurzeln dieses Diskurses vgl. Walter, 396f. (Anm. 9); Stolberg, Vice, 7 (Anm. 9), der auch seine Attraktivität rur pietistisch geprägte Introspektion bemerkt, die vielleicht rur Schuster zutrifft; allgemein
M.
Dinges, .. Sexualitätsdiskurse in der Frühen Neuzeit", in: Sozialwissen
schaftliehe Informationen 24 (1 995), 12-20.
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schen Ausgangspunkt: Der Körper ist zwar krank, aber er bleibt verbesserungsfilhig natürlich im Rahmen einer ärztlichen "Cur". Für den Patienten bedeutet dies die Aufgabe, sich selbst minutiös zu beobachten, allerdings nach ärztlichen Vorgaben. Dabei entwickelt der Kranke einen Genauig keitsdiskurs, der sich zum Beispiel an präzisierenden Nachträgen und auf den Tag genauen Ergänzungen zeigt. 26 Daraus kann geschlossen werden, dass Schuster Kopi en seiner sämtlichen Briefe vorlagen. Die Grundlagen der Selbstbeschreibung wer den den Publikationen Hahnemanns genau nachempfunden. So schreibt Schuster: "Vor einigen Tagen erhielt ich die ,chronischen Krankheiten u.s.w.' von Ihnen her ausgegeben .. , welche ich mir verschrieben hatte, und sah bald, daß ich im Aufnotie ren der Symtome [sic] Fehler gemacht habe, die aus dem Grunde hervorgegangen sind, welchen Sie im Organon angegeben haben, wo der Kranke sich nicht in die Lage des Gesunden denken kann u[nd] vieles übergeht, was er nicht fUr Krankheits äußerungen hält. Ich werde deshalb künftig genauer aufzeichnen .;J.7 Der Patient bezieht sich auf das erstmals 1 8 1 0 veröffentlichte "Organon" als Grundlagenwerk der Homöopathie sowie auf Hahnemanns seit 1 828-1 830 erschienenes vierbändiges Buch über die "Chronischen Krankheiten", in denen dieser versucht hatte, eine Fülle chronischer Krankheiten auf einige grundlegende Menschheitskrankheiten zurUckzu fUhren.2a FUr den lesefreudigen Patienten dUrfte vor allem die 5 1-seitige Liste von Krankheitssymptomen, die Hahnemann in dem Werk zusammenstellt, inspirierend gewesen sein. Die Änderungen in Berichten und Briefen sowie die Nachfragen lassen die Feststellung zu, dass die Patienten durch diese LektUren und die Interaktion mit dem Arzt durch eine Schule der Genauigkeit fUr eine bestimmte Art der umfassenden Selbstbeobachtung gehen. So werden die Zeitpunkte der Medikamenteneinnahme zu Eckpunkten des Be richts und strukturieren gleichzeitig die eigene Körpererfahrung: "Während dieser und der vorigen Armeiwirkung bin ich im Schnitt täglich 2 Stunden in freier Luft gewesen, was ich auch bis zum ersten Oktober thun wiIl...".29 Beobachtungsgegenstand ist zunächst der Körper als ganzes: Schuster verwendet synonym und ohne Unterscheidung die Begriffe Leib und Körper.JO Manche Formu lierung mag mit dem Hinweis auf den FlUssigkeitsmangel Anklänge an die Humoral pathologie enthalten. Andererseits unterscheidet er zwischen dem Körper als Skelett .•
26 3 1 333, S. 27 3 1 209, 4. 28 Vgl. dazu zuletzt M. Wischner, Fortschritt oder Sackgasse? Die Konzeption der Homöopathie in Samuel Hahnemanns Spätwerk ( 1824-1 842). Essen 2000, 7Sff. 29 321 1 7 1 , 8. 30 3 1333, 7; 3 1076, 4; später heißt es "allgemeine Schwäche und Trockenheit meines Körpers" (3 1209, 4).
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und dem Rest: "Leben und Kraft und Fleisch" möchte er "auf den Körper bekom men".31 Schließlich erlauben Körpervergleiche die Selbsteinstufung: "Das Fleisch auf dem Körper ist immer noch sehr schlaff u[nd] ich kenne keinen Menschen von mei nem Alter, der so schwache Finger hätte wie ich.'032 Das könnte nicht zuletzt fUr sein Selbstverständnis als Mann bezeichnend sein, denn die Formulierung muss so ge deutet werden, dass selbst gleichaltrige Frauen demnach kräftigere Finger als Schu ster gehabt haben dUrften. Weiterhin analysiert Schuster sein Allgemeinbefinden, indem er z.B. seine "Tag schläfrigkeit" bedauert.33 "Geistesgegenwart" spricht er sich sogar ganz ab.34 Neben diesen umfassenderen Befunden werden vor allem einzelne Körperteile thematisiert: Dies geschieht durch direkte Beschreibungen wie z.B. "Die Haare ge hen leicht aus".3 S Da fUr Patienten ebenso wie fUr die Ärzte noch nicht genau fest stand, welche Symptome Krankheitszeichen waren, wurde vieles berichtet, was uns heute in einem Krankenbericht eher erstaunen WUrde, wie das "Kribbeln im linken Nasenloch".36 Der Arzt wird auch darüber informiert, dass Schuster den "Fußschweiß ziemlich verloren" hat.37 Vergleichende Beschreibung wie fUr das "DrUcken im OberkopfI,] als wenn die Hirnschale abheben wollte", kann Schweregrade des Schmerzes verdeutlichen.38 Schuster nutzt auch medizinische Fachbegriffe, wie die "Hämoroidalanfl1lle [sie] oder Afterschmerzen".39 Auf anatomisches Grundwissen verweist die folgende Bemerkung: "...hatte ich in der rechten Hand, wo der Röhren knochen zum Mittelfinger liegt, einen Krampfschmerz".40 Auch berichtet er über einzelne Organe, teilweise sogar recht differenziert: "Das im vorigen Krankenbericht unterm 22ten Mai angegebene Herzweh war nicht drUk kend oder stechend noch sonst schmerzend, nein es war eine Empfindung, die sich nicht beschreiben läßt, es war als wenn das Blut im Herzen so recht warm aufgewallt 31 32 33 34 35 36 37 38
39 40
3 1 076, 6; 3 1 399, 2. 3 1783, 12. 3 1 333, 8; so auch in 3 1 568, 4; 3 1 568, 3. 3 1 568, 6. 3 1 568, 2. 3 1 333, 7; zur Semiotik der Homöopathie vgl. V. Hess, "Samuel Hahnemann und die Semiotik", in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 12 (1993), 1 77-204. 3 1 399, 2. 3 1 568, 4. Ein ahnliches Beispiel sind die ,,Daumenschmerzen als wenn verkrampft" (3 1 568, 4); vgl. M. Hackl, A1s-ob-Symptome in der Homöopathie: Repertorium und Materia medica. Re gensburg 1986. Zu Metaphern in Krankheitsbeschreibungen vgl. neben Duden, 108 (Anm. 9); 1. Dornheim, ,,'Mein Körper - wie eine Picasso-Figur': Zur Funktion von Sprachbildern in Gesprä chen über Krankheit und Befinden", in: Der Deutschunterricht 6 ( 1987), 83-1 02. 3 1333, 3. 32275, 3 .
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hätte".41 Es spricht viel daftlr, dass diese Präzision zum Schmerzempfinden auf eine Nachfrage Hahnemanns zurUckgeht. Ausscheidungen spielen - nicht nur in der Tra· dition der Humoralpathologie - eine große Rolle: Schleim wird gelegentlich erwähnt, häufiger Schnupfen oder das "Schnupfenheitsgeftlhl".42 Zahnfleischbluten, Schweiß und ,,Augenthränen an der Luft" werden genannt.43 Der Stuhlgang ist ein wichtiges Thema.44 Seine Zeitpunkte beschäftigen Schuster ebenfalls: "Heute bestätigte sich, was ich frUher vermuthete, nämlich, daß beim Stuhlgang jedesmal Alles, was von Speisen im Leibe sey, weggehe. So gingen die Mohnstriezeln, welche ich gestern abend gegessen hatte, heute zwölf Stunden nach dem Genuß wieder fort, ohne das [sie] ich Durchfall bemerkt hätte.,,4S Auch Geruchsbeobachtungen dürfen in diesem Zusammenhang nicht fehlen: "MohrrUben riechen acht Stunden nach Genuß noch so als ich sie aß".46 Besonders wird der Urin beobachtet, der bekanntlich in der damali· gen ärztlichen Medizin noch ein wenn auch diskutiertes so doch nicht unwichtiges Diagnoseinstrument war:47 So berichtet der Patient, dass der "ammoniakalische Ge· ruch des Urins sich verloren hat, auch der blaue Bodensatz, der jetzt weißgrau ist".48 Als Ausdünstung sei noch das ebenfalls genau beobachtete Gähnen erwähnt.49 Beeindruckend ist die Semantik der Schmerzarten: "Schmerzempfindlichkeit bei Stoßen oder Quetschen" wird genau von "einem stumpfen Ziehschmerz unter der Brust" unterschieden.so "Ein klammartiges Ziehen (zusammenziehender Schmerz) in der linken Wade beim Spatzierengehen [sie]" hat eine andere Qualität als "auf der rechten Seite von der Herzgegend ein drUckender, kurzer Ziehschmerz" oder ebendort "ein Bohrschmerz".sl Neben der Lokalisierung wird auch die Dauer der
41 42 43 44 45 46 47
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3 1333, 7. 3 1 568, 6. 3 1568, 4. 3 1209, 2; auch in der frOhen Hahnemannschen Praxis spielt das Thema bereits eine große Rolle; vgl. Varady, 205f. (Anm. 1 7). 3 1209, 4. 3 1568, 3 . P. Voswinckel, Der schwarze Urin: Vom Schrecknis zum Laborparameter. Berlin 1 993. Zur aufsteigenden Bedeutung des Stethoskops, das auch Hahnemann in Paris verwendete, als neuem Diagnoseinstrument, das EindrUcke aus dem Körperinneren vermittelt, vgl. die vom Werk Foucaults inspirierte Monographie von J. Lachmund, Der abgehorchte Körper: Zur historischen Soziologie der medizinischen Untersuchung. Opladen 1997, insb. 76f. Zur körperlichen Untersu chung in der Hahnemannschen Praxis ansonsten Genneper, 47f. (Anm. 14); Fischbach-Sabel, 76 (Anm. 1 5). 3 1568, 6. 3 1 783, 8. 3 1568, 2; 3 1 783, 2. 3 1 783, 3 ; 3 1 783, 3; 3 1 783, 8.
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Beschwerden sehr genau notiert.52 Schließlich zeigt "im linken Fuß an den Zehen ein Druckschmerz mit einem Geruhl verbunden als wenn dort das Blut warm herausflös se", dass es bei Schuster neben druckenden und bohrenden ziehende Schmerzen gibt, die wiederum stumpf oder klamm sein können.53 Schusters Stimmung und Sozialverhalten sind ein häufig beschriebenes Element seines Unbehagens, das sich über drei Jahre von 1 83 1 bis 1 833 wenig ändert: "Mein Gemüthszustand ist noch der alte: von anderen lasse ich mir manches gefallen ohne mich zu ärgern, im Hause aber bin ich öfter gegen kleine Fehler empfindlich, ja sogar grob".54 Während Schuster in der Öffentlichkeit also überaus schüchtern ist, scheint er zu Hause, wo er nach dem Tod seiner Mutter nur noch mit seiner Schwester zu sammenlebt, sich Unduldsamkeit zu leisten. Aber auch bei Geselligkeiten sind die Grenzen seiner Empfindlichkeit schnell erreicht. Er bevorzugt bei Konversationen "wissenschaftliche Gegenstände" und beachtet die "Schranken der Sittlichkeit".55 Gleichzeitig leidet er unter seinen Unsicherheiten: "Die kleinsten Fehler von mir begangen können mich gemüthlich verstimmen".56 "In der letzten Zeit war mein Gemüth mehr ruhig und wohl[,] und schien ich gegen andere etwas dreister werden zu wollen".57 Trotzdem stellt Schuster sich während der folgenden Jahre als eine wenig konfliktfllhige und schüchterne Person dar.58 Hinsichtlich des Schlafes und der Träume hält er sich insgesamt sehr bedeckt. Dass die Lebensweise das körperliche Befinden nachhaltig beeinflusse, ist feste Überzeugung von Schuster, der dementsprechend z.B. über den "Wechsel des Schlaf raumes" berichtet.59 Dem war sein Ärger über Geruche vorausgegangen, die er we gen der "Einwirthung über einem Pferde" ertragen musste.60 Damit werden Handlungschancen des Patienten deutlich, die wichtig rur die Ein schätzung des Arzt-Patient-Verhältnisses sind. Sie liegen zunächst im diätetischen Bereich. Zum Frühstück bevorzugt Schuster z.B. die "in jeder Krankheit ohne Be denken erlaubte" Milch: Diese Empfehlung entnahm der gesundheitsbewusste Zeit genosse wohl der Lektüre neuester homöopathischer Patientenliteratur.61 Die erstmals
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3 1 783, 4; 3 1783, 5. 3 1783, 9. 3 1568, 3. 3 1 568, 5. 3 1 783, 2. 3 1783, 1 1. 32038, 2; 331259, 10. 3 1 568, 4. 3 1333, 8. 3 1 076, 4; F. Hartmann, Diätetik tur Kranke, die sich einer homöopathischen Behandlung unter werfen. Dresden! Leipzig 1 830, 25.
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1 830 erschienene "Diätetik rur Kranke, die sich einer homöopathischen Behandlung . unterwerfen [sic!]" von Franz Hartmann hielt der Kantor auf dem flachen Land im April des folgenden Jahres bereits in den Händen. Schuster "unterwirft" sich durch aus den von Hahnemann selbst rur sehr wichtig gehaltenen diätetischen Behand lungsempfehlungen, wenn er von "erlaubte[r] Speise" berichtet.62 Folgsam werden "Kaffee und Branntwein... [selbst] beim Begräbnis - nun nicht mehr" getrunken.63 Auch erkundigt er sich, ob eine "Gesellschaft mit Tabak erlaubt" sei.64 Mahlzeiten größe und -zeitpunkte verändert er ebenfalls: "Da ich seit der Kur mehr Pollutionen gehabt habe als vorher, so habe ich von jetzt an die Mittagsmahlzeiten kleiner und die Abendmahlzeiten spätestens auf 4 Uhr bestimmt", um also den aufreizenden Wirkungen der Speisen zu entraten.6S Schuster schreibt dem Essen sehr direkte und kurzfristige Effekte auf den Gesundheitszustand ZU.66 Demgegenüber spielt die Ge wichtsbeobachtung nur eine sehr geringe Rolle mit der nur einmaligen Nennung der ,,121 Pfund" des Patienten.67 Selbstverständlich gehört zu den gesundheitsförderli chen Praktiken aber die Bewegung in frischer Luft.68 Weitere Handlungschancen des Patienten und deren Bewertung über eine längere Zeit lassen sich besonders gut an der Kleidung zeigen. So hatte Schuster offenbar zu früh im Jahr wieder ein linnenes Hemd getragen, über dessen gesundheitsschädliche Wirkung er "glaub[t]: ich hätte den Schnupfen nicht bekommen, wenn ich das wolle ne Hämde nicht vertauscht hätte". Konsequent "habe ich seit dem Schnupfenanfall das wollene Hemd wieder angezogen".69 Kritik an seiner Bewertung in der diäteti schen und Onanieliteratur erfolgt aber bereits 1 832: "Ob sich dann der Fließschnup fen wieder einfinden wird, weiß ich nicht, daß aber durch beständige schwache Rei bung der Haut durch die wollenen Hemden das Fleisch nicht stärker geworden ist als beim Tragen der linnenen Hemden, lehrt mich eine mehrjährige Erfahrung.,,7o Die eigene Beobachtung des Patienten wird also durchaus auch gegenüber dem ärztlichen Briefpartner geäußert.
62 3 1209, 2. Zur Bedeutung der Diätetik in der damaligen Hahnemannschen Praxis vgl. Fischbach Sabel, 122f. (Anm. 1 5); allgemeiner H. Eppenich, "Diätet(h)ik und Homöopathie", in: Klassi sche Homöopathie 37 (1993), 65-75. 63 3 1 399, 2; vgl. Fischbach-Sabel, 123 (Anm. 15). 64 32038, 10. 65 3 1 333, 6; Veränderungen des Appetits werden auch beobachtet: ,,Heißhunger hat nachgelassen" (3 1209, 3); zum Appetit vgl. Fischbach-Sabel, 62 (Anm. 15). 66 3 1 783, 5 und 8. 67 68 69 70
3 1209, 2. 3 1 209, 4; vgl. dazu Hartmann. I l lff. (Anm. 6 1). 3 1 333, 6 und 8; vgl. Hartmann, 1 14ff. (Anm. 61). 32590, 7.
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Dabei ist dieses Arzt-Patient-Verhältnis dadurch charakterisiert, dass der Arzt als Hoffnungsträger rur Heilung hoch geschätzt und seine Vorschriften weitgehend geradezu untertänig akzeptiert werden. Man könnte das nicht zuletzt an den Anreden zeigen. Auch die Höflichkeitsfonneln sind nicht nur Form, sondern lassen die Asymmetrie des Verhältnisses erkennen, wenn Schuster einen Brief wie folgt schließt: .....gänzlich auf Ihre gütige Gewogenheit rechnend hat das Glück sich nen nen zu dürfen Ihr ganz gehorsamster Schuster',.7 \ Indem er sich somit durchgehend als kranker Mensch definiert, der hilfsbedürftig und auf den Arzt angewiesen ist, macht sich Schuster zum ..Patienten". Konstitutiv rur die gesamte Arzt-Patient-Beziehung ist die systematische Hervor bringung von Symptomen durch den Briefwechsel: Durch die Möglichkeit, über den Körper zu reden, entsteht der Körper des ..Patienten" gewissennaßen neu.72 Der Erwartungshaltung des Arztes, dass etwas durch die Einnahme des Medikaments geschieht, wird vom Patienten durch entsprechend hellhöriges Selbstbeobachten entsprochen. Der Begriff der ..Kur" verweist gleich zu Beginn der Beziehung auf die notwendig längere Dauer des Prozesses der Wiederherstellung von Gesundheit. Zwi schen Arzt und Patient entsteht so ein produktiver Diskurs, der neue Wirklichkeiten erzeugt. Das zeigt z.B. eine Reaktion Schusters auf eine Arztfrage: ..Was die Beantwor tung der von Ihnen im letzten Briefe aufgestellten Fragen betriffi, so erwidere ich gehorsamst: daß der Ausdruck ,lästige Nase' nicht ganz richtig gewählt war. Ich hätte sagen sollen freie, da ich sonst immer ein Geruhl in derselben hatte, als wenn sich inwendig Schleim verlegte.',73 Auch stellt der Patient noch im sechsten Brief präzise Nachfragen: ..Ist es nöthig, daß ich künftig mich über die Träume jeden Tag näher ausdrUcke? Z.B. ob ich die ganze Nacht durch geträumt habe oder nur kurze Zeit? Ob sie erfreuend oder beäng stigend u.s.w. waren? Und ist dies auch beim Stuhlgang nöthig? Von den Träumen weiß ich nur immer sehr wenig zu erzählen. Oft kann ich nur einzelne Gegenstände nennen.,,74 Auch erkundigt er sich noch im folgenden Jahre nach der richtigen Weise der Medikamenteneinnahme: ..Ich habe die Pulver, einen Tag um den andern eins eingenommen, welches doch richtig ist? Im ersten Augenblick kam ich in Verlegen heit, da ich vorher einige Male nur 7 Pulver und nun mit einem Male 28 bekam. Muß ich streng jede Gesellschaft meiden, in welcher Tabak geraucht wird?,,7s In der letz7 1 32028, 10. 72 Vgl. A. W. Frank, The Wounded Storyteller: Body, IlIness, and Ethics. Chicago 1999, insb. 29ff., 85ff., 129. 73 3 1 783, 9. 74 3 1 783, 10. 75 32028, 10.
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ten Formulierung deuten sich bereits erwünschte Spielräume des Patienten zwischen. einer lockeren und einer strengeren Befolgung der Distanz zu Rauchern an. Auch versucht Schuster durchaus seinem homöopathischen Arzt Verhandlungen über dessen Informationsweise aufzudrängen. Hahnemann war nebenbei auch zur Mutter von Schuster konsultiert worden, die seit dem letzten Brief gestorben war. Schuster hatte 14 Tage vor ihrem Tod einen örtlichen Arzt hinzugezogen, um nicht der Verachtung der Nachbarschaft zu verfallen, die offenbar die Fernbehandlung filr unzureichend hielt. Von Hahnemann verlangt er dafilr geradezu Entschädigung: "Haben Sie dafilr die Güte und suchen mich einigermaßen dadurch zu entschädigen, daß Sie mir gütigst angeben, welche Arznei Sie mir das erste, zweite und dritte Mal schickten, damit ich einigermaßen kann lernen, wie man sich bei dieser Heilmethode in der Arzneimittellehre umzusehen hat.,,76 Diese nachdrückliche Bitte um Informa tionen wird von Hahnemann souverän übergangen: Dem Patienten soll eben nicht die Möglichkeit gegeben werden, überhaupt nachzuvollziehen, welche Medikamente er erhielt und schon gar nicht, wie sie ausgewählt wurden. Trotzdem hält sich Schuster im weiteren Verlauf der Kur an die Vorgaben und "beichtet" genau kleinere Abweichungen von den ärztlichen Vorschriften: "Nam [sic] die neue Arznei noch nicht ein, weil ich die alte noch wirksam glaubte".77 Fünf Tage später holte er das dann brav nach. Das hindert ihn aber nicht, zunehmend detaillierte Beobachtungen und Bewertungen des Kurerfolgs vorzubringen.78 Im filnften Jahr des Briefwechsels äußert der Patient ErmUdungserscheinungen hinsicht lich der genauen Berichterstattung und rationalisiert seine Berichte: "Von heute an schreibe ich nicht mehr täglich auf, da die Symtome [sic] einen Tag wie den anderen waren, sondern nur alle 8 Tage von der ganzen verflossenen Woche, was da beson ders zum Vorschein gekommen war.,,79 Schuster kritisiert auch den mangelnden Kurerfolg und verweist dabei auf die in Aussicht genommene Dauer der Kur als gemeinsamen Planungsparameter von Arzt und Patient. Trotzdem bleibt die Arztrolle über Jahre sehr dominant, so dass man filr die erste Phase der Kur wohl von einem kooperativen Körpermanagment unter Leitung des Arztes sprechen kann. Nach die sen allgemeinen Ausfilhrungen zur Körperkonstitution und zum Arzt-Patient Verhältnis erlaubt der zweite Hauptteil zur Körpererfahrung im Schatten des Onanie diskurses eine individuellere Analyse von Schusters Männlichkeitskonstitution, die mit einem wachsenden Autonomiestreben als Patient einhergeht.
76 77 78 79
3 1399, 2. 32275, 3. 321 545, 7. 35020, 8.
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IH. Körpererfahrung im Schatten des Onaniediskurses und
anderer Körperdiskurse Gleich in seinem ersten Brief aus dem Jahr 1 83 1 berichtet Schuster einen massiven Verhaltenswechsel als Folge seiner Lektüre des Buches von Bekkers über die Ona nie:80 Er habe sich in der Folgezeit nicht mehr selbst befriedigt. Nichtsdestoweniger äußert er aber gleichzeitig auch erste Skepsis gegenüber der Theorie, dass Selbstbe friedigung den Körper schwäche: Sein "Körper" sei "nicht stärker geworden trotz nur noch vier- bis achtwöchigem gegenüber früher täglichem, manchmal mehrfachen, Samenabgang".8 1 Diese fundamentale Beobachtung wird nun aber nicht kritisch gegen den ganzen Onaniediskurs gewendet. Statt dessen verfängt sich Schuster in dessen Vorgaben einer geradezu manischen Selbstbeobachtung der körperlichen Zeichen, die im Zusammenhang mit sexueller Lust stehen könnten. Auch hier wird also die Entstehung von Körper und "Sexualität" im Medium der Sprache eines ganz bestimmten Diskurses nachvollziehbar. Hauptpunkt ist das ewige "Eychelkrimmen", das in einem einzigen Brief in fol genden Varianten auftauche2 "An einigen Tagen war es, als hätte es auf der Eychel krimmen wollen u[nd] hätte nicht gekonnt." "Gegen Abend ein Krimmen auf der Eychel eine Minute lang". "Eychelkrimmen schwach an 36 Tagen [von 62] bei der vorigen Arznei nur an 1 8 Tagen", womit nicht nur einmalige Dauer, sondern schon die Mehrmonatsstatistik geliefert wird. "Des Nachts um 2 Uhr erwachte ich und hatte Ruthensteifigkeit ohne das geringste Kitzelgefllhl, so daß ich nur sehr schwer Urin lassen konnte".83 Der zweite Beobachtungsgegenstand sind die Hoden, deren variabler Zustand stundenweise und nach Tageszeiten beobachtet wird: Mal sind sie "nicht mehr schlaff', dann "schließen die Hoden in der Regel vormittag fest an, und nachmittag hängen sie schlaff herunter.,,84 Später freut er sich kurzfristig: "Die Hoden sitzen besser an wie frUher", muss dann aber bald erkennen: "Die Hoden saßen in den frU heren Wochen gut an, aber in der letzten Zeit waren sie und des Nachts immer
80 Bekkers (?), Onania oder die erschreckliche SUnde der Selbst-Befleckung mit allen ihren ent setzlichen Folgen, so dieselbe bei beiderlei Geschlecht nach sich zu ziehen pflegt... Frankfurt! Leipzig 1736/175 1 ; dazu Bloch, Bekämpfung, 106-152 (Anm. 9). 81 3 1076, 3. 82 32l l 7 l , 2, 3 und 7; krimmen entspricht nach M. Höfler, Deutsches Krankheitsnamen-Buch (reprint; Hildesheim, 1970), 330, jucken. 83 33441 , 5 und 6. 84 3 1 568, 4; 3 1 783, 1 1 .
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schlafi".8S Eigentlich scheinen definitive Aussagen über die Festigkeit dieses Kör- . perteils allerdings nicht machbar zu sein, denn zwei Jahre später "saßen die Hoden mit Ausnahme mehrerer Stunden an Tagen ziemlich an" und waren gegen Ende der Behandlung schließlich "seit Wochen welker.,,86 Berichte über Samenergüsse ergänzen dieses Bild. Manchmal hat Schuster "we nig Leibschmerz und starke Leibesöffnung, früh und des Nachts eine Pollution".87 Zumeist unterstreicht er deutlich, dass dies nicht mit Lust verbunden war: "Pollution ohne das geringste Geftlhl!".88 Samenergüsse sind auch Gelegenheiten, etwas über seine Träume preiszugeben: "Wenn ich eine Pollution hatte, war ich fast immer mit Frauensleuten im Traume zusammen und wachte dabei auch auf, durch den Reiz des Saamens."S9 Demgegenüber meint er aber - hierin ganz folgsamer Leser der "Chro nischen Krankheiten" von Hahnemann - kurz danach : "Als Symtome [sic] der Spora [=Psora] erschienen noch außerdem, welche im Bericht stehen.... 5 . keinen Ge schlechtstrieb".90 Dies sind meines Erachtens ganz widersprüchliche Beobachtungen, die sich allenfalls daraus erklären, dass sie an zwei verschiedenen Diskursen partizi pieren, nämlich dem der Onanieliteratur und dem der "Chronischen Krankheiten". Bei der Beschreibung seines Verhältnisses zum anderen Geschlecht sind die Be grifflichkeiten interessant, weil sie Neigungen, Wirkungen von Nähe und Topoi von Wärme vs. Trockenheit thematisieren. Einerseits gibt es da einen als eigenständig gedachten Trieb, der anscheinend den eigenen Willen steuert.91 Wirkungen von Frau en sind dementsprechend direkt physisch: "Steifigkeit des männlichen Gliedes habe ich wol bei strengem Denken an ein gesundes und nettes Mädchen aber ohne sonsti gen physischen Reiz".92 Die unvermittelt wirkende Physis kann andererseits durchaus angstbesetzt sein: "Obwohl ich in der Nähe von hübschen Frauenzimmern Rut hensteifigkeit wahrnehme, so habe ich doch Furcht, bei einer Frau zu bestehen.,,93
85 32275, 5; 33441 , 8; Fischbach-Sabel, 50 (Anm. 1 5), berichtet von einem Patienten, der ein Suspensorium fIlr den Hodensack trägt. 86 34036, 8; 34378, 14; 35020, 4. 87 3 1209, 2; das Thema ist in Hahnemanns Behandlung sehr gängig; Einzelbeispiel bei Genneper, 52 (Anm. 14); Fischbach-Sabel, 1 3 1 (Anm. 1 5). 88 Zweimal in 321 17 1 , 2; 33706, 7; vgl. auch: ,'pollution ohne alle Empfindung" (33894, 6). 89 321545, 7. 90 32038, 10. 91 Das stimmt nicht mit den Stilisierungen männlicher Sexualität Oberein (",,,seinen Willen ha ben"), wie sie Roper fIlr das Augsburg des 16. Jahrhunderts herausgearbeitet hatte; vgl. L. Roper, ..Will and Honor: Sex, Words and Power in Augsburg Criminal Trials", in: Radical History Re view 43 ( 1989), 45-71 . 92 32590, 5 . 9 3 34378, 14.
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Die Charakterisierung von Frauen als gesunde Personen verweist auf einen Zen tralwert des Kantors, der Sicherheit gegen Ansteckung, Gebärfllhigkeit und Lei stungsfähigkeit als Mutter signalisieren könnte.94 Nettsein meint wohl eine Umgäng lichkeit, die ftlr den schüchternen Schuster überhaupt erst die Möglichkeit zum Kon takt eröffnet. In die gleiche Richtung deutet, dass viel häufiger als von Frauenzim mern von Mädchen, also noch recht jungen, altersmäßig unterlegenen Frauen die Rede ist. Schließlich wird Schönheit nur sehr nachrangig erwähnt. Die zurückhaltende Disposition des Patienten veranlasste Hahnemann zu dem üblichen ärztlichen Ratschlag an Schuster, nämlich zu heiraten.9s Dies zeigt, wie sich der Gesundheitsdiskurs bei höchstpersönlichen Lebensentscheidungen einnisten kann und der autorisierte Vertreter dieses Diskurses, der Arzt, zu einem hochrangigen Ratgeber - mit weitreichendem Einfluss auf das ganze Leben des "Kranken" - wird. Schuster wehrt sich allerdings bereits 1 833 erstmalig gegen Hahnemanns Hei ratsempfehlung.96 Er ist noch nicht heiratswillig, und begründet dies mit mangelndem Trieb und mit körperlichen Defiziten: Im Idiom des Medizinischen kann Schuster hier also seine Zurückhaltung und seine Ängste ausdrücken. Hahnemann ließ aber nicht locker, so dass Mitte Januar 1 835 eine wesentlich aus ftlhrlichere Darlegung Schusters zum Heiraten folgt: "In dem letzten Ihrer Briefe schrieben Sie mir, daß ich heirathen müsse. So gerne wie ich Ihren wohlgemeinten Rath befolgt hätte[,] ohne besonderen Trieb dazu zu haben, so war es mir aus folgen den Gründen bis jetzt nicht möglich. 1) Da ich voraussah, daß dies so rasch nicht gehen würde, so nam ich die Arznei wieder ein, und bald verlor sich der schwache Trieb zum Heirathen." Bemerkt sei hier, dass nach Ansicht des Patienten die Arz neiwirkung eine Heiratsentscheidung unmöglich macht. Nach einiger Zeit wünscht sich Schuster dann aber, "nun so bald wie möglich eine Frau zu haben, will aber erst noch einen Brief erwarten. Ich glaube nämlich hinlänglich Oberzeugt zu sein: daß ohne Hilfe des thierischen Magnetismus oder ohne die Einwirkung der allgemeinen Lebenskraft des Menschen ich nicht völlig geheilt werden kann. Da ich nun stets bemüht war, eine klare Ansicht von der Anwendung des Mesmerismus zu erhalten, so schaffte ich mir auch im vorigen Sommer die beiden Ober diesen Gegenstand von Professor Hensler geschriebenen Werke an. Sie heißen im Titel: 1) Über die Wirkungen des thierischen Magnetismus aufMenschen und Natur u.s.w.
94 Erkundigung einer Tissot-Patientin Ober den Gesundheitszustand des Bräutigams berichtet Sardet, in: Greyerz u.a. (Hg.), 241 (Anm. 13). 95 Vgl. etwa Fischbach-Sabel, 127 (Anm. 15) - auch an Frauen. 96 33126, 8.
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2) Ober die verschiedenen Arten des thierischen Magnetism und ihre verschiedenen Wirkungen. auf den Menschen in krankem Zustande v[on] Dr. Phylip 19n. Hensler, Professor in WOrzburg."97
Schuster schreibt dann an den Autor nach Würzburg um Rat und wartet schon des längeren auf Antwort. Er beendet den Bericht mit folgendem Satz: "Sollte ich wider Erwarten keine Antwort erhalten, und Sie könnten mir hierüber Aufklärung geben, dann sollte es mir lieb sein. Mit der größten Hochachtung Ihr...,,98 In diesem Brief wird die erhebliche Autonomie des Patienten gegenüber dem be handelnden homöopathischen Arzt erkennbar. Schuster zieht völlig unabhängig einen Vertreter einer anderen Heilmethode rur eine wichtige Entscheidung gewissermaßen als Zweitgutachter heran. Damit nutzt er ein konkurrierendes Angebot auf dem medi zinischen Markt und hat dann sogar noch die Stirn, den Vertreter der Homöopathie um Informationen zum Magnetismus zu bitten.99 Die Selbstverständlichkeit, mit der er das tut, lässt auf einen souveränen Umgang mit Hahnemann schließen. Die Asymmetrie im Arzt-Patient-Verhältnis wird also durch Verdopplung der Sachver ständigenrolle aufgelockert, denn dies erlaubt dem Patienten die Auswahl zwischen unterschiedlichen Spezialistenmeinungen. J ()() Unabhängig von den neuen Erkenntnissen aus den fast noch druckfrischen beiden 77 und 832 Seiten dicken Büchern des Professors Hensler hatte sich bereits Ende Februar 1 83 5 Schusters Welt gründlich geändert: "Endlich habe ich mir eine Braut
97 Der erste Titel lautet P. I. Hensler, Ueber Wirkungen des thierischen Magnetismus auf Menschen und Natur, und Ober die Wichtigkeit derselben in arztlicher rechtlicher, philosophischer, religiö ser und weltgeschichtlicher Hinsicht und in Bezug auf das gesellschaftliche Beisammenleben. WOrzburg 1 832. Der zweite ist P. I. Hensler, Ueber die verschiedenen Arten des thierischen Ma gnetismus und ihre verschiedenen Wirkungen auf den Menschen im kranken Zustande. Eine Nachweisung aus den in der Literatur des Magnetismus niedergelegten Erfahrungen, mit beige ftlgten Erlauterungen und eigenen Versuchen. Worzburg 1833. Die Schreibweise des Nachna mens variiert bei den gedruckten Autorennamen zwischen Hensler und Henszler. H. Schott (Hg.), Franz Anton Mesmer und die Geschichte des Mesmerismus. Stuttgart 1985. 98 35020, 10-12. 99 Hahnemann hielt Mesmerismus ftlr höchst bedeutsam; vgl. allgemein dazu H. Eppenich, "Sa muel Hahnemann und die Beziehung zwischen Homöopathie und Mesmerismus", in: Klassische Homöopathie 4 (1994), 1 53-160. Er kannte sich darin durchaus aus, hatte selbst praktische Er fahrungen mit dem Mesmerismus; vgl. Genneper, 92 (Anm. 14) (33% der Behandlungen waren mesmeristisch); Fischbach-Sabel, 120f. (Anm. 1 5) (auch mit seiner wechselnden Einschätzung im Organon); Hickmann, 406 (Anm. 8). 100 Ä hnliche Beispiele der parallelen Nutzung verschiedener Heiler bietet Duden, 1 14f. (Anm. 9); höfliche Patienten informieren Hahnemann Ober GrUnde ftlr den Arztwechsel wie die Präsenz am Ort bei einem Knieleiden; vgl. Gehrke, 87 (Anm. 8). Diese Entscheidungschancen der Patienten sind also keineswegs erst ein postmodernes Phänomen; vgl. die Zusammenstellung derartiger Positionen bei G. Stollberg in Dinges (Hg.), Patients (Anm. 1).
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angeschafft [I] und zwar hauptsächlich auf Ihren Rath. Sie wird aber am 1 9ten Au gust erst 16 Jahr."lOt Dieses Heiratsprojekt wird bezeichnenderweise mit einer Fünfzehneinhalbjähri gen geplant, so dass wir annehmen müssen, dass der damals nicht seltene Altersun terschied zwischen den Partnern die Dominanz des sich selbst eher als schwach cha rakterisierenden Mannes sichern sollte. Der literarische Topos der Auserwähltheit der Braut, nach dem Motto "nur diese konnte es werden", verschleiert schwerlich den Wunsch nach Überlegenheit durch Lebensalter.t02 Neben dem Wohlgefllhl in der Nähe der Braut sind körperliches Wachstum und Gesundheit ihre erstgenannten Qualitäten. "Aber auch sie hat Symtome der Psora Krankheit, welche umstehend angegeben sind und bitte ich auch sie, wie mich, gOtigst in die Kur nehmen zu wollen. Jedoch erbitte ich mir Ihren Brief, ob ich sie bald oder erst später, und wann an den Traualtar ftlhren kann. Sollte dies erst später geschehen kön nen, dann würden Sie schon gOthigst auf einem besonderen Blättchen belehren müssen: damit sie die Schuld nicht auf mich schiebt u[nd]mir wol gar Vorwürfe über Unredlichkeit oder Untreue u[nd] ,,10) Falschheit macht
Es folgt also umgehend nach der Beschreibung des Heiratsprojektes die Präsentation der Braut als Psorafall mit einer einschlägigen und recht langen Symptomliste. Das erlaubt es, diese Person im Medium des Medizinischen zu charakterisieren, wodurch sie offenbar besondere diskursive Weihen in der Korrespondenz erhält. Gleichzeitig wird sie in die bestehende Arzt-Patient-Beziehung eingebracht, bezeichnenderweise ohne gefragt worden zu sein. Die angehende Ehefrau hat außerdem mit ihren fllnf zehneinhalb Jahren noch nicht menstruiert, und man ahnt, was fllr ein junges Mäd chen sich der mittlerweile 32-jährige erwählt hat. t04 Schusters eigener Gesundheit tut das Projekt übrigens nicht besonders gut, es be einflusst sie weder positiv noch negativ: "Was mich anbetrifft, so ist der Bericht ganz kurz der: daß neue Symtome nicht zum Vorschein gekommen sind; die alten aber, welche ich beim letzten Bericht angegeben habe und vor dem Einnehmen der neuen Arznei im Verschwinden begriffen zu sein schienen, wieder stark hervortraten und
1 0 1 35097, 1 ; der Briefist vom 25.2. 1835 102 Zu möglichen literarischen Modellen vgl. H. Pfotenhauer, Literarische Anthropologie: Selbst biographien und ihre Geschichte - am Leitfaden des Leibes. Stuttgart 1987. Zum zeitgenössi schen Hintergrund von Sexualerfahrungen - wenn auch im Studentenmilieu - vgl. R. Müller, Ideal und Leidenschaft: Sexuelle Sozialisation der akademischen Jugend im Biedermeier. Berlin 1999. 103 35097, 1 . 104 35097, 2; zu den geschlechtergeschichtlichen Aspekten dieses Vorgehens vgl. die längere engli sche Fassung.
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noch bestehen."lOs Die Genauigkeit des Berichts hat sich radikal verändert: Die tägli- . che Selbstbeobachtung schrumpft auf wenige Zeilen zusammen. Man kann daraus den Eindruck bekommen, das Interesse an der Braut mache die bisherige akribische Selbstbeobachtung überflüssig. Damit nicht genug, verändert die neue Lage auch das Verhältnis zur Autorität des Arztes, dessen Behandlung Schuster nun kritisiert wie nie zuvor. Er äußert sogar erhebliche Zweifel an der Homöopathie insgesamt.106 Einerseits versucht er, sich selbst durch Vermutungen über den Inhalt der Päckchen (fast) auf eine Ebene mit dem Arzt zu stellen: Das Geheimnis, dass dieser aus den verschriebenen Arzneien und aus dem arzneilichen oder nicht arzneilichen Inhalt der Päckchen macht, wird von Schuster immer weniger akzeptiert. Er verlangt sogar eine Änderung der Verschreibungspraxis hin zur ausschließlichen Gabe von Globuli mit arzneilichen Wirkstoffen. Schwerwiegender wirken sich Vorbehalte aus, die Schu sters besonderes Vertrauen auf den tierischen Magnetismus zeigen: Das von Schuster bei Prof. Hensler parallel eingeholte "Sondergutachten" über die Braut ist nun doch noch eingetroffen. Hensler gibt darin klare Empfehlungen: ,,'Daß Ihnen eine Verhei rathung gut sein könnte, will ich nicht widersprechen; allein ich kann es Ihnen den noch nicht rathen, und zwar Ihres krankhaften Befindens wegen. Wenn Sie durch Verbindung mit einer Frau die Gesundheit erlangen, glauben Sie nicht, daß Sie der Frau die ihrige, zum Theil oder gänzlich entziehen? Was nützt Ihnen dann Ihre eheli che Verbindung, wenn Sie eine kranke Frau haben? Ist Ihr Lebensglück alsdann gegründet, und sind Sie sicher vor Vorwürfen? Ich rathe Ihnen jedenfalls, sich erst vollkommen herstellen zu lassen. Sie sind ja noch ein Mann in den besten Jahren, und haben mit einer Verehelichung auch aus andem Rücksichten sich nicht zu über eilen. '" Interessant ist hier, wie der Arzt Gesundheit zweier Personen als relationales Nullsummenspiel versteht: Geht es dem einen besser, muss es dem anderen weniger gut gehen.1 07 Schuster schreibt weiter: "Nach dem ich dis gelesen hatte, bereute ich auch sehr meinen gethanen Entschluß und zwar um so mehr, als meine Braut noch so jung und ihr Körper doch nicht ausgewachsen und fest ist, ja [=als] wenn sie 4 oder 5 Jahre älter wäre. So gleich pakkte ich von mir und meiner Braut zwei Haarlokken ein, um Herrn Hensler durch eine Somnambule prüfen zu lassen, von welcher Art unser Ma gnetismus sei." Die Antwort von Hensler lautete: "Jetzt kann ich Ihnen zu wissen thun, daß Ihr Magnetismus von dem des Mädchens geschieden ist und nach der Äu-
1 05 35097, 3 . 106 35097, 3. 1 07 Die fonnale Parallele zum Genderbegriff liegt auf der Hand.
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ßerung der Somnambule Sie nicht glücklich mit Ihr werden, indem Sie als Ihre Frau erkranken und dann Unfriede zwischen Ihnen beiden entstehen wird.,,\OB Dieser ärztliche Rat hat massive Konsequenzen für das Heiratsprojekt und damit auch ftlr Schusters Geschlechtsrollenperformanz: Der nicht übereinstimmende Ma gnetismus fUhrt zur Aufgabe des Projektes. Rhetorisch wird dies zunächst mit einer gewissen Abwertung der Kandidatin als arm, ungebildet etc. bewältigt: Vorher sei das alles weniger wichtig gewesen, da Schuster - wie er nun weiß - "durch Liebe blind" war. Schuster schreibt dementsprechend: "Mir blieb daher weiter nichts übrig, als mit ihr zu brechen..... Gegen 50 Th[aller] an Brautgeschenken, welche ich im Stiche lasse, haben mich so angegriffen, daß ich jetzt ganz außer Stande bin, Ihnen das Geringste an Honorar schikken zu können, und muß daher recht herzlich bitten: gUtigst Geduld zu haben wenn ich dasselbe erst später, nachdem ich mich etwas erholt haben werde, zu stellen kann."I09 Ohne weitere Begründung fordert Schuster weiter: ,,Ärzte sollen Heiratserlaubnis erst ftlr 1 8jährige Frauen zulassen." Das könnte man als Schuldverlagerung auf Dritte deuten, die seine Unwilligkeit zur Verheiratung kaschieren soll. Gleichzeitig rechnet Schuster aber den Ärzten damit eine hohe Kompetenz zu. Im Folgenden wird die Verantwortung für das Scheitern noch direkter auf die Medikamentenwirkung ver schoben: "Und so hätte ich auch wenigstens Yz Jahr nach der Einnahme der letzten Arznei warten müssen ehe ich mir eine Braut aussuchte, dann wUrde ich vielleicht den Fehlgriff nicht gemacht haben, weil wol bei mir soviel Zeit nöthig ist, ehe die [=durch] die Arznei aufgeregten Symtome sich verlieren und so zu sagen eine Nei gung für die meisten Mädchen oder überhaupt ftlr das Weib zum Heirathen treibt. " l Io Auffallend ist hier zunächst die distanziertere Mit vorzüglicher Hochachtung... Grußformel. Der Zusammenhang zwischen den eigenen Handlungsmöglichkeiten als Brautwerber und der Medizin bleibt aber weiter extrem eng: Arzneiliche Wirkungen könnten früher den Kantor so beeinflußt haben, dass er eine falsche Partnerwahl traf. Deshalb soll in Zukunft erst ein halbes Jahr nach Einnahme der letzten Arznei wieder entschieden werden. Der dritte Punkt, derzeit wegen zu teurer Brautgeschenke kein Honorar zahlen zu können, ist aufschlussreich für das Arzt-Patient-Verhältnis und die Ökonomie der männlichen Rollenerftlllung. Hahnemann bestand immer auf soforti ger und regelmäßiger Zahlung. I I I Schusters Lage scheint ihm geradezu eine Ent scheidung zwischen dem Arzt als Ratgeber in schwierigen Lebenslagen oder einer 1 08 35167, 4. 1 09 35 167, 8. 1 1 0 35167, 6. 1 1 1 Fischbach-Sabel, 33f. (Anm. 1 5) auch zur sozialen Staffelung; siehe auch R. Jütte, "Und es sammelte sich ohne Verdruß von Seiten des Kranken in des Arztes Beutel" - Samuel Hahne mann und die Honorarfrage, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 1 8 ( 1999), 149-167.
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Frau aufzudrängen. In dem Brief kündigt sich schließlich eine innere Distanzierung von der Kur an: Erst nach einer - nota bene - eigenständigen Stärkung des Körpers, die ohne Medikamente erreicht werden soll, will Schuster wieder auf Brautschau gehen. Für ihn als Mann werden veränderte Gewichte bei fundamentalen Lebensent scheidungen erkennbar. Auch seinen Körperzustand wird er nun innerhalb seiner sozialen RolienerftUlung stärker selbständig bewerten. Der Ausstieg aus der Kur bedeutet insofern den Wechsel vom kooperativen, allerdings arztdominierten zu einem patientensouveräneren Modell des "doing gender": Schuster entscheidet nun mehr allein - ohne den Arzt - über seine Rolle als gesunder Mensch und als Mann.1 12 Dies entscheidet sich bezeichnenderweise an der Partnerwahl.
IV. Schlussfolgerung 1. Die Konstruktion des Körpers und damit eines wichtigen Teils der Subjektivität eines Mannes erfolgt im Diskurs mit dem Arzt und durch entsprechende Praktiken unter Bezugnahme auf die aus Büchern übernommenen medizinischen Körpermo delle aus Säftelehre, Diätetik, Onaniediskurs und Nervositätslehre. Das lässt sich durchgehend auch bei anderen Korrespondenten Hahnemanns beobachten. Es gibt aber sehr unterschiedliche Grade der Aneignung dieser Wissensbestände sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Nach meinem bisherigen Eindruck besteht in dieser Hinsicht keine signifikante Geschlechterdifferenz. Abschließend könnte dies erst in weiterer Forschung geklärt werden. 1 \ 3 2. Die Spielräume rur Deutungen der eigenen Körpererfahrung sind gering, da der Arzt weitgehend die Relevanzkriterien rur das Wichtige bestimmt. Allerdings hat der Patient eine Reihe von Handlungsmöglichkeiten wie die Vorenthaltung von In formation, die Kurverzögerung, den Kurwechsel Z.B. zum Magnetismus sowie schließlich den Kurabbruch. Es scheint mir unzutreffend, die ärztliche Diskursmacht als Körperenteignung oder -entfremdung zu bewerten.1 14 Vielmehr ist eine Neukon1 12 Ü ber den weiteren Lebensweg Schusters ließ sich in den einschlägigen polnischen Archiven nichts ermitteln; Zivilstandsregister seiner Gemeinde und Personalunterlagen der Kirchenver waltung sind nicht überliefert. 1 13 Auch die Frage, wie ..typisch" oder gar ..repräsentativ" Schusters Beschwerden rur Männer seines Alters und seiner Zeit sind, lässt sich nicht beantworten. Die Patientenlisten (mit Symp tomen) z.B. bei Fischbach-Sabel, 141f. (Anm. 1 5) spiegeln vor allem die große Vielfalt der von Hahnemarm behandelten Symptome wieder. 1 14 1nsofem waren auch die folgenden Akzentuierungen von Duden noch zu einseitig: ..Und doch ist der neue Körper keine Insinuation der Ärzte. Er entsteht als Selbstzuschreibung eines Bedürfuis-
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stitution des Körpers im Medium eines bisher nicht gepflogenen Diskurses zu beob achten, der es erlaubt, den Körper in einer Interaktion mit einem Spezialisten, der wohl wegen seiner akademischen Bildung von vielen als ranghöher betrachtet wird, ständig zum Thema zu machen. lls Dieser Diskurs wird teilweise außerhalb und vor der Behandlungssituation - etwa durch Lektüren - selbst angeeignet, teilweise im Arzt-Patient-Verhältnis durch Interaktionen weiterentwickelt. 3. Insgesamt erhält der medizinische Diskurs eine zentrale Rolle rur die Selbst deutung: Das gilt nicht nur rur die alltägliche Selbstwahrnehmung und Lebenspraxis, etwa bei Kleidung, Mahlzeiten und Tagesablauf, sondern auch rur fundamentale Lebensentscheidungen wie die Partnerwahl. Bei anderen Korrespondenten in dem Briefbestand sind Pubertätskatastrophen und ganze Familienneurosen Gegenstand eines prima facie medizinisch wirkenden Diskurses. Im medizinischen Idiom werden also Probleme verhandelt, die wir heute der Psychologie und der Psychotherapie zuordnen würden. Das entspricht dem damals noch sehr viel umfassenderen Begriff von Gesundheit, den auch die Ärzte selbst hatten. 1 1 6 Natürlich ist die Machtverteilung in der Diskursformation Arzt-Patient medizinischer Diskurs sehr ungleich: 1 I 7 Der Patient verstrickt sich anfangs gewis-
ses einer Schicht und entfaltet ,sanfte Gewalt' allenfalls nach unten. Der Begriff ist aufgeladen mit politischer Brisanz: Gesundheit als Ziel individuellen Wohlergehens verbirgt den Kontext von Verwaltung und Objektivierung eines Volkskörpers, aus dem er entstand." Duden, 26 (Anm. 9). "Die vage Körperlichkeit der populären Kultur wird im Laufe des 1 8 . Jahrhunderts anstößig; und dies je mehr die Neuschöpfung eines ,bürgerlichen Körpers' fortschreitet und je mehr ein Netz von aufgeklärten Schriften das Verhältnis von Körper und Umwelt beobachtend ans Licht hebt. Die Momente, die zur Neuschöpfung des Körpers beitragen, sind außerordentlich komplex und sowohl hinsichtlich ihrer Durchsetzung als auch in Bezug auf die in ihnen verkörperten So zialbeziehungen kaum hinreichend erforscht." Duden, 32 (Anm. 9). Das alles wird weniger er staunlich, wenn man die Gesundheitsnachfrage von unten und die Handlungsweisen der "Pati enten" als wichtigen Faktor der geschichtlichen Entwicklung selbstverstandlich einbezieht. Das hindert ja nicht, den neuen Körper um 1 800 als Ergebnis von Selbstzuschreibungen der bUrgerli ehen Schicht zu deuten, die dabei gründlich von den aufsteigenden Ärzten mit Deutungsangebo ten ausgestattet wurde - Stichwort "medizinische Volksaufklärung"; vgl. dazu Anm. 9. Diese mögen gleichzeitig Ubereinstimmen mit funktionalen Erfordernissen der staatlichen Verfassung der Gesellschaft, die als "medicinische Policey" bekannt sind, dazu zuletzt M. Dinges, ,,'Medici nische Policey' zwischen Heilkundigen und ,Patienten' ( 1 750-1 830)", in: K. Härter (Hg.), Poli cey und frUhneuzeitliche Gesellschaft. FrankfurtlM. 2000, 263-295 - oder mit Foucault als Bio politik gedeutet wurden. 1 1 5 Diese These vertritt auch Frank (Anm. 72). 1 1 6 Vgl. dazu z. B. die Zusammenstellung der "Gemütssymptome" bei Varady, 334f. (Anm. 17). 1 1 7 Vgl. zu unterschiedlichen Patienten- und Arztpositionen M. Dinges, ,,Medizinische Aufklärung bei Johann Georg Zimmermann: Zum Verhältnis von Macht und Wissen bei einem Arzt der
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sermaßen komplett in diesen Diskurs. Die Sprache in Hahnemanns Patientenkorres pondenz scheint bereits sehr viel stärker durch medizinische Begriffiichkeiten ge prägt zu sein als hundert Jahre frUher selbst die durch den Arzt Storch zusammenge stellte Fallsammlung. l 1 8 Bei Hahnemanns Patienten handelt es sich also um eine bereits weitergehend iatrogen disziplinierte Sprache.119 Gleichzeitig erlaubt der Diskurs aber dem Patienten, Subjekt zu werden, das ei nen Körper hat und natUrlich ein Körper auch ist. An Schuster lässt sich aber auch zeigen, wie der Ausstieg aus einer Diskursformation, nämlich der Kur, möglich bleibt und somit das Umschalten in ein anderes diskursives (Mesmerismus) und Verhaltens-Register (Autonomie durch Behandlungsverzicht) aufscheint. Es kann hier offenbleiben, wie viele der korrespondierenden PatientInnen sich so stark in diesen Diskurs verstricken und wieviel Subjektivierungspotenzial ihnen die Korres pondenz bietet. 120 Es spricht viel daftlr, dass das Fehlen von Gesprächspartnern am Ort die Rolle des ärztlichen Briefpartners erhöht. Jedenfalls ftlhrt die Abwertung von Schuster als "Hypochonder" (im heutigen Sinn also als jemand, der vorwiegend in seinem Leiden lebt) nicht weiter: 12 1 Ob die homöopathische Form der Anamnese schon damals fllr Patienten mit hoher Aufmerksamkeit rur den eigenen Körper at traktiver als konkurrierende Angebote war, wäre erst durch vergleichende Untersu chungen der Korrespondenzen zu klären. Heute scheint dies jedenfalls so zu sein. 122
Aufklärung", in: M. Fontiusl H. Holzhey (Hg.): Schweizer im Berlin des 1 8. Jahrhunderts. Berlin 1 996, 137-150. 1 1 8 Vgl. dazu Duden, 1 23f. (Anm. 9). 1 19 Das hindert natürlich Patienten auch heute nicht, in der Sprechstunde Krankheiten alltagssprach lich zu vermitteln; vgl. dazu z.B. D. Goltz, ..Krankheit und Sprache", in: Sudhoffs Archiv 53 (1969), 225-269, die Sprachstile scheinen stark von den Medien der Mitteilung (schrift lich/mündlich) gepragt zu sein; die These einer im historischen Verlauf immer starker iatrogen gepragten Sprache ware sicher hinsichtlich der Redeanlasse zu differenzieren. 120 Unter geschlechtergeschichtlicher und medizinischer Perspektive waren dabei die Situationen genauer zu beachten, in denen z.B. die Manner gelegentlich statt ihrer Frauen oder erganzend zu ihnen Briefe an Hahnemann schreiben. Solche Zusatzinformationen durch Dritte waren grund satzlieh vom Arzt erwünscht Übliche Anlasse und mögliche Modifikationen der berichteten In halte könnten aufschlussreich sein; vgl. z.B. Gehrke, 75f. (Anm. 8) zu Stillproblemen der Gattin. 1 2 1 E. Fischer-Hornberger, Hypochondrie. Melancholie bis Neurose: Krankheiten und Zustandsbil der. Bem 1970. 122 G. Förster, Homöopathie und Krankheitserleben: Die Suche nach dem Sinn. Münster/ Harnburg 1 993, 126, 128, 148; siehe auch U. G. Schultheiß.! T. Schriever, Warum gehen Patienten zum Arzt mit der Zusatzbezeichnung Homöopathie oder Naturheilverfahren? Med. Diss. Ulm 1991, mit Motiven filr den Wechsel weg von der Schulmedizin, 122, und zur Krankheitseinstellung wahrend der Behandlung, 34.
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4. Auch jenseits des wegen seiner Heiratsprojekte besonders interessanten Kan tors Schuster drängt sich eine vertiefte Analyse der Patientenbriefe als Quelle rur die Geschlechtergeschichte auf, denn eine derart minutiöse Selbstbeobachtung und dis kursive Selbstkonstitution im medizinischen Diskurs bietet keine andere Massen quelle. Selbstverständlich kann sie durch andere Quellen, wie insbesondere private Briefwechsel mit ihren etwas anderen Akzentsetzungen gut ergänzt werden. 1 23 5. Schließlich soll nicht verhehlt werden, dass die Quelle noch sehr viel mehr bietet, als das, was hier in systematischer Sicht angesprochen werden konnte. Das gilt insbesondere rur die medikale Alltagskultur. Insofern könnte man die Anregungen aus dem Werk Michel Foucaults, die hier nur rur die produktive Aneignung des medizinischen Diskurses zur Konstitution des Selbst aufgegriffen wurden, noch rur das Feld der Praktiken weiter verfolgen. 1 24
123 Vgl. dazu z.B. Habermas, 372f. (Anm. 12). 124 Vgl. V. Hess, Der wohltemperierte Mensch. Wissenschaft und Alltag des Fiebermessens (1 8501900). FrankfurtlM. 2000.
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"The Death of Pain" : Erörterungen zur Verflechtung von Medizin und Strafrecht in den USA in der zweiten Hälfte des 1 9. Jahrhunderts Jürgen Martschukat
I. Einleitung Am frühen Morgen des 6. August 1 890 wurde William Kemmler im Gefl1ngnis von Auburn im Staat New York als erster Mensch in der Geschichte mit einem Strom schlag exekutiert.\ Kemmlers Sterben, dies schien im Vorfeld der Hinrichtung ge wiss, würde sowohl den technischen Fortschritt als auch die Menschlichkeit der zivilisierten Gesellschaft demonstrieren. Klinisch sauber, blitzschnell und schmerz frei sollte der Verurteilte sterben dUrfen, dies war wieder und wieder hervorgehoben worden. Die Hinrichtung selbst verlief allerdings gänzlich anders als geplant. Lange und mehrfach musste die Elektrizität strömen, und Kemmler wurde - so die Presse ,buchstäblich zu Tode geröstet'. Dennoch feierte man letztlich sein Sterben als "wonderful success".2 Denn wer tiefer in die Materie eindrang, so der Tenor der Berichte, der musste zu der Erkenntnis gelangen, dass sich das Prinzip des Tötens mit Strom bewährt hatte. Trotz der äußerlich wahrnehmbaren Qualen sei der Häftling mit Gewissheit vom ersten Augenblick an "virtually dead" gewesen, habe nie mehr das Bewusstsein erlangt und - so wurde von verschiedenen Experten regelrecht be schworen - habe auch keinerlei Schmerz erlitten. Alfred Southwick, eine der fUhren den Personen in der Entwicklung elektrischen Hinrichtens, empfand das Sterben William Kemmlers gar als einen der größten Erfolge dieses Zeitalters und als Eintritt in ein höheres Stadium der Zivilisation?
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Ein neues Hinrichtungsgesetz schrieb die Exekution durch einen "current of electricity of suffi cient intensity to cause death" vor. Vgl. das Gesetz im Anhang von E. T. Gerry u.a., Report of the Commission to Investigate and Report the Most Humane and Practical Method of Carrying into Effect the Sentence ofDeath in Capital Cases. New York 1 888, 91-95. "Far Worse Than Hanging", in: New York limes 7. Aug. 1890, I . Vgl. zum Fall Kemmler vor allem C. Brandon, The Electric Chair: An UMatural American History. Jefferson, NCI London 1999; R. Neustadter, "The ,Deadly Current': The Death Penalty in the Industrial Age", in: Journal of American Culture 12.3 (1989), 79-87; J. Martschukat, ,,'The Art of Killing By Electricity': Das Erhabene und der Elektrische Stuhl", in: Amerikastudienl
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Kemmlers Hinrichtung war ein Akt der Gewalt, und als solcher war er sicherlich in seiner unmittelbarsten Form ein nicht-diskursiver Akt. Doch zugleich war Kemm lers Sterben in ein Netz von historisch-spezifischen Denk- und Wahrnehmungswei sen eingebunden, die es in dieser Form erst möglich machten und mit Sinn versahen.4 Ein technisches und somit ein "zivilisiertes" und "fortschrittliches" Hinrichten war rur die Zeitgenossen und ihr Selbstverständnis unabdingbar: Wie man tötete, war wichtiger, als dass man tötete. Trat der Tod schnell und ohne Schmerzen zu verursa chen ein, so erschien das Töten selbst als Zeichen von Zivilisiertheit und Fortschritt lichkeit. FUr die Zeitgenossen stand außer Frage, dass nur die Elektrizität einen derart schnellen, schmerzfreien und zivilisierten Tod gewährleisten könne. Der Entstehung solcher Denk- und Wahrnehmungsweisen möchte ich im Weiteren nachgehen. Wie können sie Gewissheiten hervorbringen und so wiederum bestimmte Formen der Gewalt legitimieren und andere de-legitimieren? Folglich möchte ich mich der kultu rellen Konfiguration annähern, in die das elektrische Töten eingebunden war - eine Konfiguration kontingenter Rationalität, die das Hinrichten mit Strom erst möglich machte und darUber hinaus positiv konnotierte. Unter welchen Bedingungen, inner halb welcher Denk- und Wahrnehmungsmuster kann das Töten eines Menschen als "wunderbarer Erfolg" bezeichnet und als wegweisender zivilisatorischer Fortschritt verstanden werden? Ein solcher Zugang zum Phänomen Gewalt verspricht eine differenziertere und differenzierendere Betrachtung, als es die Charakterisierung von Gewalt als "Schick sal der Gattung"S zu leisten vermag. Denn der Blick ist auf spezifische Gewalthand lungen gerichtet und versucht, diese zu erfassen, indem sie diskursiv verortet und historisiert werden. Daher zeigt eine solche Betrachtung von Gewalt auf, dass diese eben nicht "schicksalhaft" ist und auch niemals als "selbstverständlich" hingenom men werden muss. Vielmehr wird Gewalt als historisch-spezifisch, kulturell codiert und somit auch als instabil und veränderlich erfasst.6 Das Instrumentarium, eine
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American Studies 45,3 (2000), 325-347, wo der Maschinencharakter und die Strahlkraft der Elektrizität im Zentrum der Betrachtung stehen. S. Krasmann, ,,Andere Orte der Gewalt", in: Dies.! S. Scheerer (Hg.), Die Gewalt in der Krimi nologie (Kriminologisches Journal ; 6. Beiheft). Weinheim 1997, 85-102, 86. Vgl. W. Sofsky, Traktat über die Gewalt. FrankfurtlM. 1996. P. Burschel u.a, "Eine historische Anthropologie der Folter: Thesen, Perspektiven, Befunde", in: Dies. (Hg.), Das Quälen des Körpers: Eine historische Anthropologie der Folter. Köln u.a. 2000, 1 -26, setzen zwar eine Gewalthaftigkeit menschlichen Daseins als Ausgangspunkt ihrer Arbeit, werfen dann aber genau diesen differenzierenden Blick; J. Martschukat, "Diskurse und Gewalt: Wege zu einer Geschichte der Todesstrafe im 1 8. und 19. Jahrhundert", in: R. Keller u.a. (Hg.), Handbuch sozialwissenschaftliehe Diskursanalyse - Bd. 2: Anwendungen. Opladen 2002 (i.E.); ders., Inszeniertes Töten: Eine Geschichte der Todesstrafe vom 17. bis zum 19. Jahrhundert.
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solche Geschichte der Gewalt und, spezieller: eine solche Geschichte des elektri schen Hinrichtens zu schreiben, bietet mir das Diskurskonzept Michel Foucaults. Ich möchte zunächst einige Aspekte meiner Lesart dieses Diskurskonzeptes aufschlüs seln, um dann zum elektrischen Töten sowie zu Schmerz, Schmerzlosigkeit und Zivilisationskonzepten zurückzukehren.
11. Erörterung des Diskursbegriffs
';\. Diskurse im Sinne Foucaults sind produktiv. Bei entsprechender Verdichtung und
Verknüpfung vermögen Aussagen in Diskursen zu kulturellen Axiomen zu werden, zu augenscheinlich unverrückbaren "Wahrheiten", die ,,selbstverständlich" oder "natürlich" erscheinen. Sie formieren ein - in Anlehnung an Hannelore Bublitz "Wissensarchiv" , das reguliert, was in einer Kultur gedacht und gesagt werden kann.7 Solche Diskurse lenken Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen, und sie verkörpern sich auch in Verordnungen und Institutionen. Folglich geht von Diskursen eine handlungsleitende und wirklichkeitsprägende Kraft aus. Ein Gesetz wie das New Yorker Gesetz von 1 889 zur ,richtigen Anwendung der Todesstrafe' ("for the proper infliction of the death penalty" ) ist diskursiv konstituiert. Gleiches gilt rur den elek trischen Stuhl. Beide gründen in bestimmten Wahmehmungs- und Denkweisen, die vorgeben, welche Art hinzurichten rur eine sich selbst als zivilisiert defmierende Gesellschaft "proper" ist, und welche nicht.s Angesichts des Erkenntnisobjektes "Todesstrafe" könnte es zunächst naheliegend erscheinen, sich dem rechtskundlichen Diskurs zuzuwenden. Schon ein erster Blick auf die Diskussionen um den Fall Kemmler und um das Töten mit Strom zeigt je doch, dass dort von elektrischen Übertragungsraten, von Spannungshöhen, von Kör permodelIen, Nervenleitgeschwindigkeiten und Schmerzempfinden die Rede war. Es
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Köln u.a. 2000; M. Dinges, "Gewalt und Zivilisationsprozeß", in: Traverse Heft 1 (1995), 70-82; ders., "Formenwandel der Gewalt in der Neuzeit: Zur Kritik der Zivilisationstheorie von Norbert Elias", in: R. P. Sieferlel H. Breuninger (Hg.), Kulturen der Gewalt: Ritualisierung und Symboli sierung von Gewalt in der Geschichte. FrankfurtlMJ New York 1 998, 1 7 1-194. H. Bublitz, Foucaults Archaologie des kulturellen Unbewußten: Zum Wissensarchiv und Wis sensbegehren moderner Gesellschaften. FrankfurtlM. 1 999, 83-84; treffend spricht Achim Landwehr auch von einer "Geschichte des Sagbaren"; Landwehr, Geschichte des Sagbaren: Ein fllhrung in die historische Diskursanalyse. TUbingen 2001 . AdW ( 1994), 39, wo Foucault dazu auffordert, den Diskurs "im Mechanismus seines Drängens" zu behandeln; vgl. ahnIich S. 74; vgl. zur diskursiven Konstituierung von Denk- und Wahrneh mungsweisen insb. OdD.
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ist offenkundig, dass der Diskurs um die Todesstrafe und um das elektrische Hin richten weit über die Rechtskunde hinaus griff und sich aus vielen verschiedenen Diskursfeldern speiste. Zwei sehr vordergründige Felder, die das Denken über die Todesstrafe in dieser Zeit prägten, sind Technologie/Elektrizität sowie Medizin. Spürt man nach den Evidenzen, die rur das elektrische Töten verständnis- und hand lungsleitend waren, so müssen gerade diese an das Strafrecht angrenzenden Diskurs felder und die dort produzierten "Wahrheiten" einer genauen Betrachtung unterzogen werden. Stellenweise sind die Überlagerungen dieser Felder und der Rechtskunde so dicht, dass sie sich als abgrenzbare Wissensbereiche auflösen und ineinander ver schmelzen.9 So wurde das Töten mit Strom primär von Technikern und Medizinern verhandelt. Sie sprachen aus einer privilegierten Position heraus und hatten die in stitutionelle Einbindung, die ihren Worten großes Gewicht verlieh.JO Die Relevanz technischer und medizinischer Diskurse zeigte sich nicht nur in der Konstitution des betreffenden Wissens über Strom, Schmerz und Sterben. Auch der konkrete Vollzug der Hinrichtung selbst lag wesentlich in den Händen von Ärzten und Elektrizitätsexperten. Als zwar zunächst nicht-diskursiver Akt war ein solches elektrisches Töten diskursiv ermöglicht und somit, in den Worten Foucaults, ein "effet de realite", 1 \ der mit verschiedenen Diskursen korrelierte; mehr noch: die sogenannten "nicht-diskursiven Elemente" wie Institutionen, Praktiken, Verkörpe rungen, elektrische Hinrichtungen sind selber Aussagen innerhalb von Diskursen (womit freilich keineswegs die Realitätsmächtigkeit von Handlungsweisen wie dem elektrischen Töten heruntergespielt wird!), die bei entsprechender Dichte ebenso wie die Worte zu Phänomenen der Sinn- und Wahrheitsproduktion werden. 1 2 In seinen späteren Schriften verneinte Foucault ausdrücklich einen "Gegensatz zwischen dem, was getan, und dem, was gesagt wird". Vielmehr hat er beides im Konzept des DisJfirgen Link hat filr eine solche Konstruktion den Begriff des "Interdiskurses" geprägt; vgl. z.B. 1. Link, "Diskursive Ereignisse, Diskurse, Interdiskurse: Sieben Thesen zur Operativität der Dis kursanalyse, am Beispiel des Normalismus", in: H. Bublitz u.a. (Hg.), Das Wuchern der Diskur se: Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults. FrankfurtlM. 1999, 148-16 1 ; vgl. auch AdW (1994), 58. 10 OdDis (1974), 14; AdW (1994), 75-80. 1 1 TR, 55: "Mon theme gem!ral, ce n'est pas la societe, c'est le discours vrai/faux: je veux dire, c'est la formation correlative de domaines, d'objets et de discours verifiables et falsifiables qui leur sont afferents; et ce n'est pas simplement cette formation qui m'interesse mais les effets de realite qui lui sont lies." 12 E. Laclau, Politik und Ideologie im Marxismus: Kapitalismus-Faschismus-Populismus. Berlin 1981, 176 spricht vom "Ensemble der Phänomene gesellschaftlicher Sinnproduktion"; nach S. Jäger, "Diskurs und Wissen: Theoretische und methodische Aspekte einer Kritischen Diskurs und Dispositivanalyse", in: R. Keller u.a. (Hg.), Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursana lyse - Bd. I : Theorien und Methoden. Opladen 2001 , 8 1 - 1 12, 92.
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positivs aufgelöst, das "Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt". 13 In diesem Sinne waren auch die Hinrichtungen am Strang, wie sie bis in das ausgehende 19. Jahrhundert im Staat New York wie in den gesamten USA vollzogen wurden, Aussa gen im Strafdispositiv. Das bisweilen langsame Ersticken und die zuckenden Verur teilten schrieben sich in den Diskurs um die Todesstrafe, um Sterben, Schmerz und die Vorstellungen von Zivilisation regelrecht ein, und zwar in dem Sinne, dass sie Denkmuster prägten und auch über Texte wieder in das kollektive Wissen einzogen. So beschrieb im Jahr 1 869 der Dichter und Literaturkritiker Edmund Clarence Sted man über viele Seiten hinweg die Leiden zahlreicher Erhängter, um dann der Hoff nung Ausdruck zu verleihen, die neuen Wissenschaften mögen eine schmerzlose Art des Hinrichtens entdecken, "a painless mode of killing [.. ] as by an electric shock, or by the use of some deadly anaesthetic". 1 4 Stedman fUhrt mich zurUck zu dem historischen Feld, das ich untersuchen möch te, nämlich zu Schmerz, Schmerzlosigkeit, Strom und Sterben und deren Zusammen hang mit zeitgenössischen Vorstellungen von Zivilisiertheit. Dieser Zusammenhang ist in seiner Evidenz maßgeblich außerhalb eines eng definierten strafrechlichen Diskursfeldes hergestellt worden. Daher werde ich im Folgenden aufzeigen, wie sich die Verschränkung von Schmerz und Zivilisationskonzept in solchen Texten ver dichtete, die unmittelbar nichts mit der Todesstrafe zu tun haben, sondern dem medi zinischen Diskurs zuzuordnen sind. Hierbei werde ich sowohl in Fachorganen als auch in populären Magazinen, die zumindest eine gewisse Verbreitung der fachwis senschaftlichen Aussagen signalisieren, zwei inhaltliche Bereiche aufschlüsseln, um Schmerzlosigkeit als kulturelles Axiom der zweiten Hälfte des 1 9. Jahrhunderts zu markieren: die Anästhesie und die Euthanasie. In einem dritten Schritt werde ich dann verdeutlichen, wie sich diese medizinischen Aussagen in dem Diskurs um die Todesstrafe markieren lassen, und wie die Konzepte von Schmer71Schmerzlosigkeit, Elektrizität und Zivilisation den elektrischen Stuhl ermöglicht haben. .
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1 3 SudP, 120; G. Deleuze, ..Was ist ein Dispositiv?", in: F. Ewaldl B. Waldenfels (Hg.), Spiele der Wahrheit: Michel Foucaults Denken. FrankfurtlM. 1 99 1 , 153-162; Bublitz, Foucaults Archäolo gie, 85, 90 (Anm. 7); Jllger, 89, 95-96 (Anm. 1 2); P. Sarasin, ,,Diskurstheorie und Geschichts wissenschaft", in: Keller u.a. (Hg.), Bd.l (Anm. 1 2), 53-79; AdW, 100. 14 E. C. Stedman, ..The Gallows in America", in: Putnam's Magazine (Feb. 1 869), 225-235, Nach druck in: P. E. Mackey (Hg.), Voices Against Death: American Opposition to Capital Punish ment, 1 787-1975. New York 1 976, 1 3 1 -140, 139.
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III. Anästhesie, Euthanasie und Empfindung Im 1 8 . Jahrhundert bildete sich in Westeuropa und in Teilen Nordamerikas eine Kultur der Empfindsamkeit heraus. Die menschliche Fähigkeit, mitzuempfinden und mitzuleiden, wurde zu einem bestimmenden Topos. Von dieser Fähigkeit meinten die Zeitgenossen einerseits, sie entspringe der menschlichen Natur, und es hieß, das MitfUhlen und das Bedürfnis, Schmerzen anderer zu lindern, sei im Menschen ange legt. Zugleich jedoch galt das Verdammen des Schmerzes und die Abscheu gegen über der Grausamkeit und dem physischen Leid als Folge einer kultürlichen Ent wicklung. Sie waren Zeichen eines gehobenen zivilisierten Daseins, in dem man meinte, die Zeiten der Barbarei hinter sich gelassen zu haben. Doch ob natürlich oder kultürlich, wichtig fUr das MitfUhlen und das Empfinden überhaupt war eine - gewis sermaßen sekundäre - sinnliche Erfahrung von Schmerz und Leid. Von einer solchen Erfahrung, in Form einer Konfrontation mit der grausamen Gewalttätigkeit gegen einen Mitmenschen, meinte man, dass sie in einem empfindsamen Menschen sogar zu einer beinahe vollständigen Identifikation mit dem oder der Leidenden fUhren könnte - Beobachter und Gequälter verschmolzen gleichsam zu einem einzigen Wesen. 1 5 Im 1 9. Jahrhundert wurde die veränderte Sensibilität gegenüber dem Leid zu ei ner wahren Obsession. Die gehobenen Kreise empfanden die Existenz von Gewalt und Schmerz als moralischen wie politischen Skandal, und in den verschiedensten Lebensbereichen sagten Reformgruppen diesen Übeln den Kampf an. 1 6 Ein Kern stück der Bewegung gegen Leid und Schmerz war die fieberhafte Suche nach wirk samen Narkosemitteln in der Medizin. Durch eine Betäubung der Nerven würde das Übel des körperlichen Leides im wahrsten Sinne des Wortes an der Wurzel gepackt, denn hier bekämpfte man nicht eine von vielen möglichen Formen der Grausamkeit, sondern den Schmerz als solchen - einen Schmerz, dessen Provokation in der Medi zin bisweilen unumgänglich war, um Leben zu retten. Und dieser Schmerz hatte die " 1 5 K. Halttunen, ,,Humanitarianism and the Pornography of Pain in Anglo-American Culture , in: American Historical Review 100,2 (1995), 303-334; T. W. Laqueur, "Bodies, Details, and the Hu " manitarian Narrative , in: L. Hunt (Hg.), The New Cultural History. Berkeleyl Los Angeles, CA 1 989, 1 76-204; J. Todd, Sensibility: An Introduction. Londonl New York 1986; N. S. Fiering. ,.Irre sistible Compassion: An Aspect ofEighteenth-Century Sympathy and Humanitarianism", in: Journal of the History of Ideas 37 (1976), 195-218; A. Smith, Theory of MoraI Sentiments (1759). Indiana polis, lN 1982, 9. 16 Vgl. u.a. E. B. Clark, ,:The Sacred Rights of the Weak': Pain, Sympathy, and the Culture of Individual Rights in Antebellum America", in: Journal of American History 82,2 ( 1995), 463493; J. N. Shklar, Ordinary Vices. Cambridge, MA 1984, 7-44; J. Turner, Reckoning with the Beast: Animals, Pain, and Humanity in the Victorian Mind. Baltimore, MD 1980.
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Chirurgie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts fast unerträglich gemacht, obgleich Opiate, Alkohol oder auch die Alraune seit vielen Jahren die Leiden bei chirurgi schen Eingriffen lindern sollten. Exemplarisch rur die Grauen der Chirurgie zitiert die Literatur häufig die Schriftstellerin Fanny Burney, die über ihre Brustamputation im Jahr 1 8 10 und die erlittenen Qualen berichtete.17 Auch betäubende Gase, die seit dem ausgehenden 1 8. Jahrhundert vermehrt erprobt worden waren, hatten die opera tiven Schmerzen nicht wirklich lindern können. Vor allem das Lachgas schien vielen Fachleuten und Zeitgenossen ebenso wie der Mesmerismus weniger zum seriösen Einsatz in der chirurgischen Medizin bestimmt, als vielmehr rur Exzentriker, Parties und Jahrmärkte geeignet. Noch lange wurde auf solchen Jahrmärkten mit zahlreichen Mittelchen gegen den Schmerz gehandelt. Vielen seriösen Medizinern jedenfalls galt in den frühen 1 840er Jahren die Suche nach einem wirksamen Anästhetikum als Chimäre, die sich nicht länger zu verfolgen lohnte. Wer an Narkosemitteln forschte, geriet schnell in den Verruf, Scharlatanerie zu betreiben. \8 Dies änderte sich, nach dem am 1 6. Oktober 1 846 der leitende Chirurg des "Massachusetts General Hospi tal", John Warren, in einer öffentlichen Operation einen großen Tumor aus dem Kiefer eines Patienten entfernt hatte. William Thomas Green Morton, ein Zahnarzt aus Boston, hatte den Mann zuvor mit Äther in Narkose versetzt.1 9 Über die Grenzen des Fachgebietes hinaus wurde nun nichts geringeres als der Sieg über den Schmerz gefeiert. Schließlich war hier ein ,Wunder' geschehen, das nicht nur die Mediziner, sondern die Mitglieder der ,menschlichen Familie' insge samt berührte, wie die Zeitschrift "The Living Age" wiederholt hervorhob?O Aller dings stimmte dieses angebliche ,Wunder' viele der medizinischen Experten zu nächst skeptisch. Die scharlatanesken Anästhetika der letzten Jahre waren nicht so1 7 R. Porter, Die Kunst des Heilens: Eine medizinische Geschichte der Menschheit von der Antike bis heute. Heidelbergl Berlin 2000 (London 1 997), 367-368; D. B. Morris, Geschichte des Schmerzes. FrankfurtlM. 1996 (Berkeley, CA 1991), 89-91 ; J. L. Epstein, "Writing the Unspeak able: Fanny Burneys Mastectomy and the Fictive Body", in: Representations 16 (1986), 1 3 1-166. 1 8 M. S. Pernick, A Calculus of Suffering: Pain, Professionalism, and Anesthesia in Nineteenth Century America. New York 1985, 66-72; die Suche nach Betaubungsmitteln wurde vor allem von Zahnarzten vorangetrieben. Zum einen haben die Schmerzen einer Operation dazu geruhet, dass die meisten Patientlnnen tatsächlich nur lebenswichtige Eingriffe vornehmen ließen, was filr das Zahnziehen selten galt. Zweitens galten Zahnarzte in dieser Zeit primar als Handwerker, die am Rand der medizinischen Zunft standen. Da sie in der Medizin ohnehin marginalisiert wa ren, traf sie der Vorwurf, sich mit Quacksalberei zu befassen, nur in geringerem Maße. 1 9 Porter, 367-371 (Anm. 1 7); Morris, 88-93 (Anm. 17); G.B. Rushman U.a., A Short History of Anaesthesia: The First 150 Years. Oxford 1996, 9-19. 20 ,,Painless Operations in Surgery" , in: Little's Living Age 13, 161 (12. Juni 1 847), 481-496; "The Ether Discovery", in: Little's Living Age 16, 201 ( 1 8. März 1848), 529-571, 53 1 ; "Etherization", in: Scientific American 2, 44 (1 847), 349.
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fort vergessen, und auch die möglichen Gefahren von Äther (und Chloroform) wur den zum Gegenstand umfassender Auseinandersetzung. Man diskutierte die ver schiedensten möglichen Folgen der Narkose, von Nervenentzündungen über Lungen schädigungen und Blutvergiftungen bis zum Tod von Patienten und Patientinnen.2 1 Doch die anfllngliche Skepsis der Mediziner gegenüber der Anästhesie ließ bald nach. Die meisten großen Krankenhäuser in Europa und den USA hatten schon bald nach Mortons Versuchsvorfilhrung damit begonnen, Anästhetika zu verwenden. Plädoyers tur den vorsichtigen, kontrollierten und sicheren Umgang mit Narkose mitteln setzten sich durch, und bereits Anfang der 1 850er Jahre verkündeten aner kannte Lehrbücher wie John Erichsens "The Science and Art of Surgery", man könne die Immunität gegenüber dem Schmerz nicht gänzlich ohne Risiko erkaufen - und der Erfolg sei das Risiko wert?2 Vor allem außerhalb der medizinischen Fachdebat ten prophezeiten Enthusiasten das Ende sogar sämtlicher menschlicher Qualen. Nach chirurgischen Operationen flössen nun nicht mehr Tränen des Leids, sondern der Dankbarkeit und Freude angesichts der Kunstfertigkeit der medizinischen Speziali sten und der Größe Gottes, der die irdischen Qualen der Menschen gelindert habe.23 Die Diskursivierung der Geschehnisse in den darauffolgenden Jahren und Jahr zehnten umkreiste vor allem zwei Aussagen. Erstens verdichtete sich in der anästhe tischen Erfahrung eine veränderte Schmerzdeutung, wie sie sich seit dem 1 8. Jahr hundert herausgebildet hatte. Schmerz zu erfahren und auszuhalten, war kein Zeichen von Tugendhaftigkeit mehr, sondern vielmehr Indiz eines unbelehrbaren, stoischen Fatalismus. Auch galt das Erdulden von Leid immer weniger als Schritt zur Reini gung oder als erfolgreich absolvierte Prüfung auf dem Weg zur Erlösung. Vielmehr 21 Pernick, 36-37 (Anm. 1 8); vgl. den Bericht "Progress of the Medical Sciences: Anaesthetic Agents", in: American Journal of Medical Sciences (AJMS) Juli 1 848, 227-239; J. B. Porter, "Medical and Surgical Notes of Campaigns in the War with Mexico, During the Years 1845, 1846, 1 847, and 1848", in: AJMS Jan. 1 852, 13-37, 33, sowie die Fortsetzung des Artikels im AJMS Juli 1852, 13-30, 29-30; vgl. auch die Zusammenstellung der Kommentare aus dem ,,MedicaI Examiner" aus Philadelphia, dem ,,Annalist" und dem �ournal of Medicine" aus New York, dem ,,American Journal and Library of DentaI Science" aus Baltimore und dem "Medical and Surgical Journal" aus New Orleans, in: "Ether Discovery", 531, 544 (Anm. 20). 22 1. Erichsen, The Science and Art of Surgery. London 4 1 864, war ein Standardwerk der Chirurgie und zwischen 1854 und 1864 u.a in den USA in drei Auflagen erschienen. Ich zitiere hier nach der Ausgabe London 1 864, 9; vgl. auch 1. B. Beck! C. R. Gilman, Lectures on Materia Medica and Therapeutics, Delivered in the College of Physicians and Surgeons of the University of the State ofNew York. New York 1 851, mit genauer Handlungsanleitung zur Anwendung von An ästhetika; vgl. auch die ausfilhrlichen Literaturbesprechungen im AJMS, Jan. 1851, 191-194, und im April 1851, 429-439. 23 "Painless Operations in Surgery", 481-496 (Anm. 20); ,,Ether Discovery", 53 1 (Anm. 20); "Etherization", 349 (Anm. 20).
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war die Vorstellung von physischem Leid als Grundlage von moralischer Stärke und spirituellem Triumph über den Körper, wie sie noch in den 1820er Jahren in medizi nischen Fachjournalen verkündet wurde, weithin überwunden, und sie schien vielen Zeitgenossen geradezu absurd. Außerdem wurden auch solche Stimmen immer lei ser, die den Schmerz in den Traditionen medizinischen Denkens als Zeichen von Lebenskraft oder auch als notwendigen Teil des Heilungsprozesses deuteten. "There is nothing contrary to the laws of nature in the removal of pain from surgical opera tions", hielt auch der Äther-Pionier lohn Warren fest, "suffering is no essential or useful part of a surgical operation". Letztlich funktionierte ja auch die überkommene V orstellung von notwendigerweise schmerzhaften medizinischen Eingriffen und Therapien innerhalb einer fatalistischen religiösen Strafmetaphorik, die zunehmend an den Rand der etablierten Diskursmuster rUckte.24 Schmerz war immer deutlicher auf das Grundsätzliche reduziert. Er galt als nicht mehr und nicht weniger als das " schlimmste aller Übel. Wer dem widerspreche, hob die "North American Review bereits 1 849 ohne den Anflug eines Zweifels hervor, sei schlechterdings wahnsinnig: " "The man who maintains that pain is no evil, is regarded simply as a madman .2s Zweitens wurde der ,Sieg über den Schmerz' sowohl als Zeichen der menschli chen Fertigkeiten als auch als Geschenk Gottes gedeutet. Schließlich habe die Vorse hung den Menschen mit der Fähigkeit und der Intelligenz versehen, die ,grässlichsten Qualen' zu überwinden. In diesem Sinne wurde der Tod des Schmerzes wieder und wieder als "His [Gottes] highest mercy brought by man to man,,26 beschworen und als Akt gutmeinender Humanität zelebriert. "Easily and quickly" könnten zukünftige Generationen nun selbst die schlimmsten und schmerzhaftesten aller Leiden in ruhi gem Schlaf durchleben.27 Dies sei nicht nur filr die Patientinnen und Patienten, son dern auch filr die Chirurgen als diejenigen, die den Schmerz zufilgten, ein Segen. Denn es hieß, auch der empfindsame Arzt sei während einer Operation unbeschreib24 Pernick, 42-57 (Anm. 1 8); Felix Pascalis, "Remarks on the Theory of Pain", in: American Medi cal and Surgical Journal 1 ( 1 826), 79-89; Beiträge wie "Inhalation ofEther", in: New York Jour nal of Medicine 9, Juli (1847), 122-125, die Schmerz als essentiellen Indikator eines gesunden Körpers deuteten, waren nur noch selten zu vernehmen; 1. Warren, Etherization: With Surgical Remarks. Boston 1 848, 67-68; vgl. auch Erichsen (Anm. 22), der sich unaufgeregt rur den kon trollierten Einsatz von Narkotika ausspricht; vgl. zur christlichen Schmerzdeutung u.a E. Cohen, Towards a History of European Physical Sensibility: Pain in the Later Middle Ages, in: Science in Context 8,1 (1995), 47-74. 25 Vgl. die Rezension von Walter Channing. A Treatise on Etherization in Childbirth. Boston 1 848, in: North American Review 68, 141 (April 1849), 300-3 13, 300; Morris, 49-82 (Anm. 1 7). 26 S. W. MitchelI, "Tbe Birth and Death ofPain (1 896)", in: Ders., Tbe Complete Poems ofS. Weir Mitchell. New York 1 914, 4 1 3-417, 417. 27 Vgl. Z.B. die Arbeiten von Warren (Anm. 24) oder "The Discovery of Etherization", in: Tbe Atlantic Monthly 2 1 , 128 (Juni 1868), 7 18-725, 720, 723.
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lichen Qualen ausgesetzt. Schließlich spUre er die Schmerzen des Patienten, als pei nigten sie ihn selbst. Das emphatische Lob John Warrens ftlr die Narkose ruckte die nun erleichterte Erftlllung der chirurgischen Pflichten sogar in das Zentrum der an ästhetischen Entdeckung: ,,A new era has opended to the operating surgeon! His visitations on the most delicate parts are performed, not only without the agonizing screams he has been accustomed to hear, but sometimes with a state of perfect insensibility, and occasionally even with the expression of pleasure on the part of the patient"28
Grundsätzlich hatten nicht wenige Kommentatoren die Anästhesie schon bald nach Mortons Versuch in den illustren Zirkel der größten menschlichen Errungenschaften aller Zeiten aufgenommen. "The employment of anaesthetics in surgery is undoub tedly one of the greatest boons ever conferred upon mankind", schrieb in diesem Sinne auch John Erichsen in seinem Handbuch.29 Bis zu den 1870er Jahren verdich tete sich eine solche Deutung von Schmerzfreiheit als uneingeschränkte Erlösung und als Folge zivilisatorischen Fortschritts. Auch die letzten seriösen medizinischen Zweifel waren bei Seite geräumt, und die Anästhesie war beinahe ausnahmslos aner kannt. Medizinische Fachtexte propagierten, wie ungefährlich eine Anästhesie durch Äther bei professioneller und kontrollierter Anwendung sei. Im "American Journal of Medical Sciences" war von "America's greatest contribution to medicine" die Rede, und das "Harper's New Monthly Magazine" feierte die Erfindung der Anästhesie sogar als krönendes Ereignis in der Geschichte des amerikanischen Fortschritts und als Beginn einer gänzlich neuen Zeitrechnung.JO Ich möchte mich nun der Euthanasie zuwenden und daftlr zunächst in die Mitte des 1 9. Jahrhunderts zurUckkehren. Nachdem John Warren im Oktober 1 846 mit durchschneidendem Erfolg einen ätherisierten Patienten operiert hatte, schrieb er sein Wissen Uber Narkose und Chirurgie nieder. Er regte unter anderem an, Äther nicht nur im Kampf um das Leben einzusetzen, sondern auch, um die Schmerzen des Ster bens zu betäuben. Bei unheilbaren Erkrankungen, so Warren, habe er Anästhetika verabreicht, um einen schmerzlosen Tod zu gewähren. Ohne die Aussicht auf
28 Warren, 1-3 (Anm. 24); Pernick, 82 (Anm. 1 8). 29 Vgl. Erichsen, 9 (Anm. 22), oder auch E. Davis, The Half Century: A History of Changes that Have Taken Place Or Events that Have Transpired, Chiefly in the United States Between 1 800 and 1 850. Boston 1 85 1 ; vgl. auch "Davis on the Last HalfCentury", in: The International Maga zine ofLiterature, Art, and Science 2,3 ( 1 85 1 ), 3 1 7-319. 30 Vgl. die Zusammenfassung der Forschung unter "Studies on Ether and Chloroform", in: AJMS 68 ( 1874), 242-245; 1. Bigelow, "A History ofthe Discovery ofModern Anaesthesia", in: AJMS 7 1 ( 1876), 164-184; A. Flint, "Medical and Sanitary Progress", in: Harper's New Monthly Mag azine 53, 313 (Juni 1 876), 70-84, 77-78.
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Schmerzen verlöre der Tod seinen Schrecken, betonte er: "If we find the means of . preventing or relieving these pains [of dying), the great change may be viewed wi thout horror, and even with tranquility.,,31 Immer wieder war in den folgenden Jahren sogar zu vernehmen, dass ein zwar vorzeitiger, dafUr aber schmerzloser Tod ein Segen sei. "There is probably great gain in the exchange of a prompt and painless termination of life for a succession of cruel and protracted tortures", erklärte zum Beispiel der Medizinprofessor Samuel Dickson 1 860 in einem Vortrag am Jefferson College in Philadelphia. Zuvor hatte er seine ärztliche Zuhörerschaft regelrecht auf die Linderung von Schmerzen als deren vornehmste Aufgabe eingeschworen: ..We must study to strip death of its material terrors, and render tranquil the passage to the grave ordained for a11 men. I cannot too strongly urge upon you the contemplation of your duty to your patient in this particular light You rnay or may not restore hirn to health; but you must relieve his sufferings; you must, whether he live or die under your care, palliate or shorten his agonies. It is not too much to aftirm that this is a1ways in your power, and to lay down the rule that it must be accom. plished.'
Auch der Engländer Samuel D. Williams empfahl in aller Deutlichkeit, im Falle von hoffnungsloser und schmerzvoller Krankheit gezielt den Tod eines Menschen herbei zufUhren. Hierbei, so Williams, würde die Anästhesie helfen, den Leidenden "a quick and painless death" zu gewähren.33 Freilich regte sich gegen diese Vorstellung auch Protest, und manche Stimmen betonten, Ärzte seien zwar in der Pflicht, Schmerz zu lindern, sie dürften aber keinesfalls ,die Robe des Henkers' anlegen.34 Dem wider sprachen andere abermals, dass solchen Patienten, denen mit Gewissheit ein schmerzhafter Tod bevorstünde, durch die Anästhesie und die Euthanasie geholfen werden könne. Schließlich sei es die Aufgabe insbesondere des Arztes (und nicht nur des Priesters!), allen Menschen einen glücklichen Tod zu gewähren. Das Sterben sollte gnädig wie eine modeme Operation sein, "which on the living body [ ...) the
3 1 Warren, 69-73 (Anm. 24); vgl. E. J. Emanuel, ..The History ofEuthanasia Debates in the United States and Britain", in: Annals ofInternal Medicine 121,10 (1994), 793-802. 32 S. H. Dickson, ,.An Introductory Lecture, Delivered Beforde the Medical CI ass of Jefferson College, Philadelphia, On Pain and Death", in: Charleston Medical Journal and Review 15 (1 860), 33-64, 54-55, 61 - Betonungen im Original; Pernick, 1 1 1 (Anm. 1 8). 33 S. D. Williams, Euthanasia. London 1 872; .Euthanasia", in: The Popular Science Monthly 3 (1 873), 90-93; S. J. Lavi, ..The Problem of Pain and the Right to Die", in: A. Sarat (Hg.), Pain, Death, and the Law. Ann Arbor, MI 2001, 137-160. 34 . The Moral Side ofEuthanasia", in: Journal of the Arnerican Medical Association 5 (1 885), 382383; ..Permissive Euthanasia", in: Boston Medical and Surgical Journal 1 10 (1884), 19·20; vgl. .
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insgesamt W. Munk, Euthanasia: Medical Treatment in Aid ofan Easy Death. London 1 887.
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modern surgeon painlessly performs".3S Als schließlich in der Mitte der 1 890er Jahre ein Redner auf dem ,,Medico-Legal Congress" hervorhob, wenn ein Mensch mit Gewissheit sterben und dabei von grauenvollem Schmerz gepeinigt wUrde, dann sei es nicht nur rechtens, sondern auch human, ein solches Leben aktiv zu beenden, konnte er sich des Rückhalts des Publikums gewiss sein.36 Die Auseinandersetzung über Sterben und Schmerz besetzte nun einen weiten Raum im medizinischen und rechtlichen Diskurs. Ein grundsätzliches Begehren, den Tod so angenehm wie möglich zu gestalten und Schmerz und Qualen vom Sterben fernzuhalten, war weithin im Zeitgeist verankert, hob 1874 die Zeitschrift "Galaxy" nicht ohne einen Schuss Sarkasmus hervor.17 Schließlich wisse man mittlerweile auch, dass der Tod als solcher nicht per se qualvoll sei, sondern ganz im Gegenteil frei von Schmerz. Schon 1 848 hatte John Warren dies ebenso hervorgehoben wie 1 860 der bereits zitierte Samuel Dickson: "It is no more painful to die than to be born".38 Wenn manche Menschen im Augenblick des Sterbens in Konvulsionen verfielen, dann sei dies kein Zeichen von Leid, sondern vielmehr eines Kontrollver lustes über die Nevenschaltzentrale im Gehirn.39 Der Augenblick des eigentlichen Sterbens sei aber natürlicherweise "schmerzfrei" und friedlich. "This purely painless, purely natural physical death, is the true euthanasia", verkündete 1 869 ein Artikel in "The Living Age". Schmerz, so könnte man folglich als Synthese formulieren, galt mittlerweile als unnormal und unnatürlich! "A natural process, common to all created beings, and through which each must pass, cannot, ordinarily and normally, be a painful one. It would not be in harmony with the order of the universe", hieß es in diesem Sinne 1899 in einem Artikel über "The Natural Right to a Natural Death".40 Schmerz im Augenblick des Todes zu empfinden, machte im Denken des ausge henden 19. Jahrhunderts schlechterdings keinen Sinn mehr. In zeitgemäßer Rationa lität galt der Schmerz nicht mehr als Zeichen des menschlichen Sündenfalls, sondern vielmehr als körpereigenes Warnsystem, das im Falle einer Krankheit oder einer
35 B. W. Richardson, "In Articulo Mortis", in: The Living Age 102, 1320 (18. Sept. 1 869), 736740; im Original erschien dieser Artikel in der "Popular Science Review". 36 A. Bach, ,,Medico-Legal Congress", in: Medico-Legal Journal 14 (1896), 1 03-106. 37 "Nebulae", in: The Galaxy: A Magazine ofEntertaining Reading 17 (1 874), 577-580. 38 Dickson, 56 (Anm. 32); Warren, 70 (Anm. 24). 39 E. P. Buffet, "Is Death Painful?" In: Putnam's Monthly Magazine of American Literature, Sci ence, and Art 1 5, 27 (Marz 1 870), 3 1 1-3 1 8; E. P. Buffet, ,,Euthanasia: The Pleasures of Dying", in: New Englander and Yale Review 257 (Sept. 1 891), 231-242, 238. 40 Richardson, 736-740 (Anm. 35); vgl. z.B. E.P. Buffet, "Euthanasia", 232 (Anm. 39); 1 848 betonte Warren, 7 1 (Anm. 24), dass Sterben ohne Schmerzen eine Annäherung an "real euthana sia" bedeute; S. E. Baldwin, "The Natural Right to a Natural Death", in: St. Paul Medical Journal (December 1899), 875-889, 877.
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Verletzung Alarm schlug. Demnach war die vordringliche Aufgabe des Schmerzes der Schutz des Lebens. Es lag durchaus im Rahmen dieser Logik, dass der Weg zum Tod (wenn auch nicht der Tod selbst!) überaus schmerzhaft sein konnte, da der menschliche Körper im entscheidenden Kampf um das Leben nun die intensivsten Warnsignale ausstieß.4 1 Daher, so meinte man, sei eben ein Anästhetikum zur Betäu bung dieser Sterbe-Schmerzen angebracht. Die Alternative war das möglichst schnelle Sterben, das erst gar keine Schmerzen entstehen ließ. Weithin wurde nun kritisiert, Literaten und Philosophen hätten den schrittweisen und langsamen Verfall im Alter über Jahrhunderte hinweg flilschlicherweise zum guten Tod erklärt. "This seems to me a great and mischievous error", betonte besagter Professor Dickson vor einer versammelten Ärzteschaft in Philadelphia "Such lingering and progressive decay, whenever it presents itself to our observation, impresses us with a sense of intolerable discomfort and impatience".42 Der modeme Mensch wolle am liebsten ohne große Vorbereitung, ohne die religiösen Schreckensvisionen und ohne den Geruch des Todes riechen zu können aus dem Leben scheiden,41 und nicht wie vor mals langsam und mit genügend Zeit, vom Leben und den Mitmenschen Abschied zu nehmen. Der jähe Tod' war nicht mehr gefUrchtet, sondern begehrt, und mit einem Anflug der Ironie hieß es, ,,heaven should be solemnly petitioned, as proof of its best favor, to vouchsafe us sudden and painless death". Mittlerweile, so meinte man, wecke der Tod als physisches Ereignis auch keine Ängste mehr in den Menschen. Man fUrchte nurmehr die Ungewissheit, die ihm folgte, und die Schmerzen, die ihm vorangehen konnten.44 Im fortgeschrittenen 1 9. Jahrhundert schien es jedoch wenig Sinn zu machen, ausgerechnet den Himmel und somit überirdische Mächte um einen schnellen Tod zu bitten. Vielmehr schien Gott die modeme Zivilisation beauftragt zu haben, einen solchen zu gewähren, und die Zeitgenossen erhoben einen schnellen und schmerzlo sen Tod zur nobelsten und ehrenwertesten Pflicht, die der menschliche Geist zu er fUllen habe.4s "What is the use of high civilization and broad humanity", wurde da gefragt, "teaching us how to live, if they do not dissociate death from terror?,,46 Tod
4 1 Buffet, ..Is Death Painful?", 3 14, 3 1 7 (Anm. 39); vgl. aus der Literatur Lavi, 152 (Anm. 33). 42 Dickson, 35 (Anm. 32). 43 Vgl. hierzu A. B. lsham, ..Odor Mortis, or: the Smell ofDeath", in: AJMS 81 (1881), 430-432. 44 J. H. Brown, ..Blessing of Sudden Death", in: Tbe Galaxy 13,2 ( 1872), 25 1-256; ders., ..The King of Terrors Discrowned", in: Tbe Galaxy 14,5 (1 872), 686-694; zur Kulturlichkeit des To des siehe neulich T. Schlich! C. Wiesemann (Hg.), Himtod: Zur Kulturgeschichte der Todesfest stellung. FrankfurtlM. 200 1 . 4 5 Richardson, 740 (Anm. 35): . .The removal of these [pain and terror] i s the noblest an d holiest task the spirit ofman can set itselfto carry out and to perfect". 46 Brown, ..Tbe King", 693 (Anm. 44).
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von Terror zu scheiden war letztlich, so schien es damals, vergleichsweise leicht zu bewerkstelligen. Es war nicht zuletzt das jüngste "Wissen" um die Funktionsweise des Nervensystems, das hier Gewissheit verleihen konnte. Denn der Schmerz, so wurde betont, entstand in drei Schritten. Zunächst musste ein äußerer Reiz auf den Körper wirken. Zweitens wurde dieser Reiz über die Nerven zum Gehirn transpor tiert. Dann erst transformierte das Gehirn diesen Reiz in einem dritten Schritt in einen Schmerz, der als solcher empfunden werden konnte. Im Falle eines sehr schnellen Todes durch die Einwirkung äußerer Gewalt schien es daher logisch, dass das Gehirn gar nicht mehr in der Lage war, die Zerstörung des Körpers zu registrie ren. Durch einen Blitzschlag z.B., so postulierten die Journale, werde das Gehirn sofort ausgeschaltet, bevor Empfindung überhaupt möglich sei.41 Demzufolge be wirkte ein Blitzschlag einen Tod, der zwar äußerlich grauenvoll erscheinen konnte, der letztlich aber vollkommen schmerzlos sein musste. Künstlich könne ein solcher Tod wohl am ehesten durch einen elektrischen Schlag mittels einer starken Batterie herbeigeführt werden, war bereits um das Jahr 1870 herum unter anderem in der "Popular Science Review", in "The Living Age" oder in "The Galaxy" zu lesen: "It [ein elektrischer Schlag] is a sharp and sudden spasm, indescribable yet all-pervading - not to be anticipated; leaving no trace, not an atom of lingering perception - come and gone in a flash". Es sei hier vorweggeschickt, dass die Beschreibungen des elek trischen Stuhls und seiner Wirkungsweise, die etwa zwei Jahrzehnte darauf in Presseorganen und Gutachten zirkulieren sollten, mit diesen Erwägungen über einen schmerzlosen und guten Tod in Form und Inhalt beinahe identisch waren.48 Die kuIturelIe Umdeutung von Schmerz und Sterben wurde maßgeblich im medi zinischen Diskursfeld generiert, in der Auseinandersetzungen über Anästhesie und Euthanasie. Zusammenfassend ist an diesem Punkt festzuhalten, wie euphorisch 49 letztlich der Sieg über den Schmerz, "this awful monster of torture", als eine der größten menschlichen Errungenschaften gefeiert wurde. Bemerkenswert ist auch, dass vor allem in Hinblick auf die Anästhesie bisweilen die Erleichterung für die Chirurgen und somit für diejenigen, die Schmerz zufügten, im Vordergrund des Jubels stand. So wird Silas Weir MitchelI, einer der berühmtesten Neurologen seiner Zeit, nicht nur die Linderungen rur die physisch unmittelbar Leidenden im Kopf gehabt haben, als er anläßlich des fünfzigjährigen Narkosejubiläums im "Massa chusetts General Hospital" in Boston eines seiner berühmten Gedichte vortrug und rhetorisch fragte, "whatever triumphs still shall hold the mind, whatever gift shall yet enrich mankind?" Unübertrefflich war die Anästhesie als bahnbrechender Erfolg der
47 Buffet, "Euthanasia", 236 (Anm. 39). 48 Richardson, 738-739 (Anm. 35); Brown, "The King", 687 (Anm. 44). 49 E. L. Snell, "Dr. Morton's Discovery of Anesthesia", in: The Century 48,4 (1 894), 584-591, 585.
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modemen Zivilisation, beschwor Mitchell ebenso wie die Magazine seiner Zeit. Der "Death of Pain" als Zeichen göttlichen Willens und menschlicher Potenz war nicht mehr zu überbieten.so In diesem Denken galt ein schneller und schmerzfreier Tod nicht nur als natürliches Recht eines jeden Menschen, sondern er war zugleich zum Kennzeichen von Zivilisation und Fortschritt stilisiert. Folglich reproduzierte eine modeme Gesellschaft sich und ihre Axiome im medikalisierten Sterben ohne Leid und somit ohne Schrecken. In diese kulturelle Transformation fUgte sich, dass das Sterben im ausgehenden 1 9. Jahrhundert nun endgültig zu einer Domäne der Ärzte und Wissenschaftler geworden war.S I Das Ungewisse des Todes war geblieben, doch die Furcht vor den schrecklichen Qualen des Sterbens war den zivilisierten Menschen genommen. Dies war den Zeit genossen der westlichen Welt um so wichtiger, da sie den Menschen eine variable Empfindsamkeit gegenüber physischem Schmerz attestierten. Und diese Empfind samkeit, so hieß es, hänge vom Grad der Zivilisation ab. "In our process of being civilized we have won intensified capacity to suffer" , betonte Silas Mitchell 1 892. Hierftlr, so meinte man schon seit einigen Jahren, zeichneten die komplexeren und feinfUhligeren Nervenstrukturen der Zivilisierten verantwortlich, wie es 1 88 1 im "Journal ofNervous and Mental Disease" geheißen hatte - und: "Under such circum stances, pleasures, and, pari passu, pains, are widened and intensified". So wurde in der herrschenden Schmerzdeutung eine Hierarchie der Empfindlichkeit konstruiert, die sich nicht zuletzt an Rassenkonzepten ausrichtete und mit den Vorstellungen einer höherwertigen Zivilisation verknüpft war. Der Kampf gegen die Leiden des Lebens und des Sterbens schien nicht zuletzt deshalb um so bedeutender.52
IV. Euthanasie durch Elektrizität Die kulturelle Umdeutung von Schmerz, Grausamkeit und Sterben, die im 18. Jahr hundert ihren Ausgang nahm, vollzog sich auch in der Stratjustiz. Mit Blick auf die USA zeigt sich dies an mehreren Punkten. Ein erster Indikator fUr das veränderte Verhältnis von Schmerz und Strafe ist die "Geburt des Geflingnisses", die den Körper 50 E. W. Emerson, .A History of the Gift of Painless Surgery" , in: The Atlantic Monthly 78, 649 (Nov. 1 896), 679-687; MitcheII, "The Birth and Death", 4 1 7 (Anm. 26). 51 Lavi, 1 5 1 (Anm. 33). 52 Morris, 93 (Anm. 1 7); Pemick, 149-155 (Anm. 1 8); S. W. MitcheII, "Civilization and Pain", in: Journal ofthe American Medical Association 18 (1 892), 108, und in: The Annals ofHygiene 7,1 (1892), 26; J. S. JeweII, "Influence of Our Present Civilization in the Production ofNervous and Mental Disease", in: Joumal ofNervous & Mental Disease 8,1 (1 881), 1-24, 4-5. •
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als Hauptzielscheibe der Strafgewalt entzog. Nicht mehr die körperliche Marter der Verurteilten, sondern deren Erziehung und "Normalisierung" durch eine "Ökonomie " der suspendierten Rechte war nun das vorrangige Ziel von Strafe, wie Michel Foucault in "Überwachen und Strafen" ausfUhrt. Die jungen USA nahmen in der EinfUhrung derartiger Reformanstalten eine Vorreiterrolle ein.s3 Zweitens veränderte sich im Zuge der StaatsgrUndung die Gesetzlage in Hinblick auf die Todesstrafe. Für immer weniger Verbrechen war nun der Tod vorgesehen. Drittens verlegten die Staaten des amerikanischen Nordostens zwischen 1 834 und 1 845 auch den Vollzug von Todesurteilen hinter die Gefllngnismauern. Freilich änderte dieser Schritt nichts an den körperlichen Qualen, die viele Verurteilte am Galgen erleiden mussten, aber er bringt ein neuartiges Bedürfnis der Justiz zum Ausdruck, diskret zu sein. Sie ver barg den Schmerz der Sterbenden und die Grausamkeit des Hinrichtens vor der sinn lichen Wahrnehmung der Bevölkerung und bewahrte so die Legitimität des Tötens im Namen von Gesellschaft und Gerechtigkeit. s4 Als jedoch in den 1 840er Jahren nach dem anästhetischen Erfolg in Boston der Vorschlag laut wurde, dem Fortschritt der eigenen Zivilisation endlich gerecht zu werden und die Schmerzen der Verurteil ten nicht bloß zu verbergen, sondern tatsächlich zu unterbinden und sie unter Narko se zu hängen, war weithin ungläubiges Erstaunen zu vernehmen: "Hanging-made easy" stünde wohl kaum in Einklang mit den Vorstellungen von Gerechtigkeit, be tonten die Journale.ss Doch es waren genau diese Grausamkeit des Hängens und die Qualen der Verur teilten auf dem Weg zum Tod, die in der zweiten Hälfte des 1 9. Jahrhunderts in das Zentrum des Diskurses um die Todesstrafe rückten. Das Paradigma eines schmerz freien Sterbens als natürliches Recht eines jeden Menschen und als Zeichen einer zivilisierten Gesellschaft drängte auch im Zusammenhang mit dem Vollzug von Todesstrafen mit aller Macht in den Vordergrund der Erörterungen. So wie die Chir urgie in den Zeiten der Anästhesie durfte auch das Geschäft der Henkers nicht mehr mit den Leiden seiner Objekte assoziiert werden. Genau wie durch die Sterbehilfe im Falle einer Krankheit war "a quick and painless death" auch in der Justiz im Falle 53 ÜuS (1994), 19; vgl. rur die USA z.B. S. Christianson, With Liberty For Some: 500 Years of Imprisonment in America. Boston, MA 1998. 54 A. Sara!, "On Pain and Death as Facts of Legal Life", in: Sarat (Hg.) (Anm. 33), 1 -14. Vgl. insgesamt L. P. Masur, Rites of Execution: Capital Punishment and the Transformation of Ame rican Culture. Oxfon\! New York 1 989; J. Martschukat, Die Geschichte der Todesstrafe in Nord amerika: Von der Kolonialzeit bis zur Gegenwart. MUnchen 2002, 28-65; vgl. zum deutschen Sprachraum Martschukat, Inszeniertes (Anm. 6). 55 ,,Painless Operations in Surgery" , 495 (Anm. 20); vgl. G.W. Peck, "On the Use of Chloroform in Hanging", in: American Whig Review 8 (Sept. 1 848), 283-296, insb. 290-296; Pemick, 1 1 1 (Anm. 1 8).
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eines Todesurteils gefordert - im Sinne der Verurteilten und vor allem als Indikator einer zivilisierten Gesellschaft. Denn die Qualen einer empathischen Gesellschaft bei einer grauenvollen Hinrichtung entsprachen den Leiden des Chirurgen bei einer Operation ohne Narkose. Entsprechende Aussagen über die Notwendigkeit eines schnellen und schmerzlosen Sterbens verdichteten sich nun im Diskurs um das Hin richten. Insbesondere jedes Hinauszögern des Todes galt als grausam, als "cruel delay". Ein schnelles Sterben war die elementare Voraussetzung eines guten Todes, und die Journalisten begannen in den 1870er Jahren, die Dauer des Sterbens am Galgen und den Augenblick des Todes sekundengenau zu notieren. Und auch mit Blick auf die Todesstrafe war in den 1 870er Jahren zu vernehmen, dass der Tod durch einen elektrischen Schlag gewiss der schnellste und schmerzfrei sei - "an electric shock or [ . .] a deadly anaesthetic" war gefordert, um abermals an die Worte Edmund Clarence Stedmans zu erinnern.56 Die Schmerz- und Gewalthaftigkeit der Hinrichtungen am Galgen wurde nun um fassender denn je diskutiert. Hierzu trugen nicht zuletzt besagte Presseberichte bei, die die Geschichten von Verbrechen und Strafen mit vielen Details und in weit schweifender Ausftlhrlichkeit nacherzählten. Einer der Kernpunkte der allgemeinen Kritik lautete, dass das Hinrichten am Galgen ein sehr unsicheres und wenig präzises Verfahren war. Viele Hinrichtungen scheiterten an praktischen Problemen, und die Qualen der Verurteilten kamen den Zeitgenossen wie die logische Folge eines archai schen Tötungsmodus vor. Die Todesstrafe schien in ihrer bestehenden Form ein Anachronismus zu sein, der zu allem Überfluss durch die aufmerksame Presse öf fentlich gemacht und umfassend diskutiert wurde: Die zivilisierte Gesellschaft entle digte sich ihrer Mitglieder, indem sie sie einen unsicheren und schmerzhaften Tod erleiden ließ. Da könne man die Verurteilten ja auch gleich vierteilen oder am Mar terpfahl zu Tode foltern, "as the Indians [ ] used to do", schrieb der New York He raid im August 1 884 voller Sarkasmus: "Indeed there are many ways by which the infliction of capital punishment could be rendered more terrifying if that is the wish and desire of the public". Doch ganz im Gegenteil wurde die zeitgenössische Wis senschaft aufgefordert, der Justiz eine adäquate, zeitgemäße Tötungsmethode zu vermitteln, "a neat and non-disfiguring homicidal method". Dann sei auch ein ver ordnetes Sterben ohne physisches Leid möglich, "painless and prompt". Schmerzlo sigkeit war das entscheidende Kriterium rur ein erfolgreiches Sterben, auch und insbesondere in der Justiz.57 .
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56 Stedman, 139 (Anm. 14); M. Madow, "Forbidden Spectacle: Executions, the Public and the Press in 1 9th-Century New York", in: Buffalo Law Review 43,2 ( 1995), 461-562, 529-530. 57 Brandon, 25-46 (Anm. 3); das Editorial des New York Herald vom 10. August 1 884 ist dort auf 38-39 abgedruckt; Madow, 487 (Anm. 56).
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Diese Auseinandersetzung um Strafen, Sterben, Schmerz und Zivilisation drängte bald auch in die politischen Diskussionen und Geschäfte hinein. Im Januar 1 885 verdammte der New Yorker Gouverneur David Hili in seiner Jahresbotschaft das traditionelle Hinrichten am Galgen als Überbleibsel aus dem ,Mittelalter' auf höch ster politischer Ebene. Die modeme Wissenschaft, betonte Hill, werde mit Gewiss heit einen Weg finden, auf weniger barbarische Art und Weise hinzurichten. s8 Die Legislative des Staates New York rief daraufhin eine Kommission ins Leben, um die entsprechenden Möglichkeiten des schmerzfreien und zivilisierten Tötens zu eruieren. Ein Jurist, ein quasi professioneller Menschenfreund, der eine treibende Kraft im New Yorker Tier- und Kinderschutz war, und ein Mediziner bildeten die Kommission. Ihr Bericht bringt die Überlagerung medizinischer, technologischer und strafrechtlicher Diskursfelder in außergewöhnlicher Deutlichkeit zum Vorschein. Die Zusammensetzung, die Arbeit und der Report der Kommission dokumentieren aber mals, wie sehr die Bestimmung und die Handhabung von Schmerz und Sterben nun in den Händen von Medizinern und Technikern lag, auch wenn das gesetzlich ver ordnete Sterben verhandelt wurde: Die Kommission befragte zweihundert Fachleute, die mehrheitlich aus der Medizin und der Elektrizitätsforschung stammten. Einige wenige waren Rechtsgelehrte, doch kein Geistlicher war unter ihnen. Letztlich stell ten die Gutachter in aller Deutlichkeit fest, dass die zivilisierte Gesellschaft und die modeme Wissenschaft den physischen Schmerz und das Leid im Augenblick des Sterbens überwunden hätten. Und gerade wenn zum Besten des Staates getötet wür de, müsse das Ende des Lebens ohne körperliche Leiden herbeigefllhrt werden: ..To aggravate the loss of life by any method which even incidentally increases the pains of dissoluti on, [ .. ] to aggravate the horror of death by objecting the offender to additional intense physical pain, is contrary, not only to the humanity ofthe age, but to the intent ofthe law itself."59 .
Jeder Todesschmerz, der das mögliche Minimum übertraf, war folglich ein Verstoß gegen die Menschlichkeit und gegen das Recht. Die höchsten moralischen Autoritä ten des Landes, die Richter des "Supreme Court" in Washington, D.C., segneten diese Deutung der Todesstrafe ab. "Inhuman and barbarous" seien solche Strafen, die ,mehr' taten, als nur das Leben zu beenden, "something more than the mere extin guishment of life", befand der Oberste Gerichtshof im Mai 1 890, als er über die Verfassungskonformität des elektrischen Tötens urteilte. Folglich war nur der Schmerz barbarisch, nicht aber das Hinrichten an sich. "Instantaneous and therefore
58 Vgl. insg. Martschukat, "'The Art'" (Anm. 3); Madow, 526-533 (Anm. 56). 59 Gerry u.a., 13-14, 74 (Anm. 1).
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painless" musste das verordnete Sterben sein. Dies war die Zauberformel der Kom mission, der Justiz und aller anderen Ausfilhrungen dieser Jahre.60 Die Elektrizität war das Medium, von dem man meinte, dass es diese Leistung gewiss vollbringen könne. Hierfilr waren drei Faktoren von besonderer Bedeutung. Erstens war Elektrizität das Wundermittel dieser Zeit überhaupt, eine alles durch dringende und alles ermöglichende Kraft, von der es hieß, sie würde die Menschheit in ein neues Zeitalter geleiten.61 Zweitens diskutierte man bereits seit der Mitte des 1 8 . Jahrhunderts über das Verhältnis von elektrischem Schlag und Schmerzempfin den. Schon Benjamin Franklin hatte gemutmaßt, dass ein elektrischer Tod gewiss der sanfteste aller Tode wäre.62 Dieser leichte Tod durch Strom war - wie gesehen - seit den 1 870er Jahren im Diskurs um das Sterben vermehrt aufgegriffen worden. Seit den 1880er Jahren kamen dann im zunehmend elektrifizierten Nordosten der USA immer mehr Menschen durch Stromunfiille ums Leben, nachdem sie mit elektrischen Anlagen in Berührung geraten waren. Ihre Körper blieben zumeist äußerlich unver sehrt, ihr Tod war offenbar schnell und scheinbar schmerzfrei eingetreten, wie die Zeitgenossen fasziniert feststellten. Drittens korrelierte der elektrische Strom als Tötungsmedium mit den geläufigen Körperkonzepten dieser Zeit, und insbesondere im urbanen Nordosten der USA handelte man den Körper als eine Art "Elektro Maschine".63 Er sei, so meinte mit George M. Beard einer der einflussreichsten Ner venforscher seiner Zeit, von Reizen durchflutet. Der menschliche Körper entspreche einem regelrechten "Netzwerk von Nerven und Reflexactionen", filr das man sowohl in Europa als auch in den USA gerne das Bild des Telegrafensystems bemühte. 60 In re Kemmler, 136 U.S. 436 ( 1890), 19. Mai 1 890, http://Iaws.findlaw.com/us/136/436.html, 27. April 2001 ; vgl. zur verfassungsrechtlichen Interpretation D. Denno, ,,15 Electrocution an Unconstitutional Method of Execution7 Tbe Engineering of Death Over the Century" , in: Wil Ham and Mary Law Review 35,2 ( 1994), 551 -692; A. Samt, "Killing Me Softly: Capital Pun ishment and the Technologies for Taking Life", in: Sarat (Hg.) (Anm. 33), 43-70. 6 1 D. E. Nye, Electri1Ying America: Social Meanings of a New Technology, 1 880-1940. Cam bridge, MAI London 1991; vgl. Martschukat, ,,'Tbe Art'" (Anm. 3); Neustadter (Anm. 3). 62 I. B. Cohen (Hg.), Benjamin FrankHn's Experiments - A New Edition of Franklin's Experiments and Observations on Electricity (nach der 5. Auf!. 1 774). Cambridge, MA 1 941, insb. die Briefe IV, 1 87-200, XVII, 33 1 -338. 63 Vgl. hierzu auch P. Sarasin/ J. Tanner, "Physiologie und industrielle Gesellschaft", in: Dies. (Hg.), Physiologie und industrielle Gesellschaft: Studien zur Verwissenschaftlichung des Kör pers im 19. und 20. Jahrhundert. FrankfurtlM. 1998, 12-43. Auch das Bild des Körpers als Batte rie, die eines kontinuierlichen Ladezustandes bedarf, existierte; vgl. H. C. Kirk, "Is the Body a Human Storage Battery?" In: Popular Science Monthly 36 (1890), 76; die zunehmende Promi nenz eines elektrischen Körperbildes vermag auch der Artikel ..The Human Machine As Viewed By an Electrician", in: Literary Digest 1 1, 14 (Aug. 1 895), 405 anzudeuten; vgl. auch T. Lutz, American Nervousness, 1903: An Anecdotal History. Ithaca, NY 1991, 3.
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Drähte, die mittels elektrischer Impulse Nachrichten übertrugen, durchzogen den Körper, dessen wesentliche Schaltzentrale das Gehirn war - das Organ, das die Ner ven bündelte, in dem die Informationen zusammenflossen und das die äußeren Reize in bewusste Schmerzempfindungen transformierte.64 Medizinische Erörterungen über die menschliche Nervenkraft oder die drei Stu fen der Schmerzbildung rekurrierten auf dieses Körperkonzept. Sie wurden nicht nur in den medizinischen Debatten über ein gutes Sterben formuliert, sondern waren auch im Diskurs um die Todesstrafe virulent. Dies ist bereits deshalb naheliegend, weil die weitaus meisten der Experten, die von der New Yorker Todesstrafenkom mission befragt wurden, Ärzte waren. Ein prägnantes Beispiel rur Überlagerungen von Medizin und Recht im Bereich der Sprechenden bzw. der Handelnden bietet Alphonse Rockwell, Professor ftlr Elektrotherapie in New York. Gemeinsam mit dem Neurologen George Beard hat Rockwell das damalige Standardwerk zu Körper energie, Nervensystem und Elektrizität verfasst. Als entsprechender Spezialist hatte Rockwell dann an der Entwicklung und Erprobung des ersten elektrischen Stuhls maßgeblichen Anteil. Als unumstrittener Fachmann war er zudem als Gutachter vor Gericht und als Zeuge der ersten elektrischen Hinrichtungen tätig. Gegenüber der Öffentlichkeit vertrat er uneingeschränkt die Position, es gebe eine mathematisch bestimmbare Gewissheit, dass der zum Tode Verurteilte bei einer elektrischen Exe kution keine Zeit habe, Schmerz zu empfinden. Rockwell bezog sich hier auf genau das Modell der dreistufigen Schmerzbildung, wie es auch im Kontext der Euthanasie aufgegriffen wurde: Ein äußerer Reiz wurde über die Nervenbahnen zum menschli chen Gehirn geleitet, das den Reiz erst in einen Schmerz transformierte. Der elektri sche Stuhl, so Rockwell, gewähre endlich die Möglichkeit eines "decent killing", was so viel bedeutete wie: "speedy death, [... ], the absence of revolting and disagreeable accessories, [ ... ] and that a person would not suffer pain a fraction of a second".6s Auf die entsprechenden Qualitäten der Elektrizität hatte auch die Todesstrafen Kommission verwiesen. Dass Elektrizität als ,potenteste Kraft zur Zerstörung menschlichen Lebens' galt, war maßgeblich der Schnelligkeit ihrer Übertragung geschuldet. Keine Kraft konnte durch den Körper rasen wie die Elektrizität. Ihr Tem64 G. M. Beard, Die Nervenschwache: Ihre Symptome, Natur, Folgezustllnde und Behandlung. Leipzig 1 88 1 , 93; A. H. Garrod, "Source of Nerve Force", in: Jour. of Anal and Phys. (Juni 1 873), zusammengefasst in AJMS 66 (1873), 525; vgl. auch P. Sarasin, Reizbare Maschinen: Ei ne Geschichte des Körpers, 1 765-1914. FrankfurtlM. 2001, 344-355. 65 G. M. BeardJ A. D. RockweH, On the Medical and Surgica1 Uses ofElectricity. New York 8 1 891 ( 1 87 1 ); Brandon, 1 2 1 - 1 22, 134-136 (Anm. 3); T. Armstrong, Modemism, Techno1ogy, and the Body: A Cultural Study. Cambridge 1 998, 13-4 1 ; die Zitate stammen aus einer Aussage Rock weHs, abgedruckt in ,.Four Men Die By the Law: The Electric Current Does Its Deadly Work", in: New York Times, 8. Jul. 1 891, 2.
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po übertraf die Nervenleitgeschwindigkeit um ein Zehntausendfaches, und demnach floss und wirkte der Strom viel schneller, als die Nerven überhaupt in der Lage wa ren, einen Impuls zu übertragen. Zwar wusste man letztlich nicht, wie Elektrizität genau tötet, und unter anderem lagen auch Forschungsergebnisse über Herzversagen in Folge von Synchronisationsfehlern als Ursache eines Stromtodes vor.66 Doch innerhalb der Logik eines elektrisch dominierten Körperkonzeptes war es nahelie gend, davon auszugehen, dass ein ausreichend starker Stromschlag das Gehirn lähmte und Schmerz daher unmöglich war. Der Strom, so glaubte man, hatte auf grund der Schnelligkeit seiner Übertragung das Zentrum aller Empfindung bereits ausgeschaltet, bevor es vom schmerzhaften Impuls erreicht werden konnte. Demnach wäre es schlechterdings unmöglich, einen elektrischer Schlag zu spUren, der stark genug war, den Tod herbeizuftlhren. "Death produced by such means would be ab solutely painless to the culprit" , schlussfolgerte daher die New Yorker Todesstrafen Kommission ebenso wie die meisten anderen zeitgenössischen Kommentatoren.67 Die Öffentlichkeit reagierte weithin begeistert und voller Euphorie, als die Kom mission ihren Bericht Ende 1 887 vorstellte. Schon die VorankUndigungen des Be richts im Januar des Jahres hatten die Hoffuung auf ein zivilisiertes Hinrichten ge nährt, "painless and secret, without the hurrah and sensation that attends a hanging", wie die New York Times schrieb.68 Das Kommissionsmitglied Elbridge T. Gerry ließ in der Zeitschrift "North American Review" vernehmen, nun verbleibe nicht der Schatten eines Zweifels, dass ein Tod durch Elektrizität buchstäblich schneller sei als ein Gedanke und daher notwendig schmerzlos. Ein solches Hinrichten bringe den Geist von Zivilisation und Menschlichkeit zum Ausdruck. Es bewahre zudem die Hoheit von Recht und Gesetz, wie im selben Organ Harold P. Brown, ein Experte für elektrisches Töten, unterstrich, indem er das schmerzfreie Hinrichten mit Strom lobpreiste, noch bevor es ein erstes Mal vollzogen worden war: "There is a stiffening of the muscles, which gradually relax after five seconds have passed; but there is no struggle and no sound. The majesty of the law has been vindicated, but no physica! pain has been caused. - Such is electrica! execution.'069
66 "Cardiac Failure and Sudden Death", in: AJMS 97 ( 1889), 6 1 7-618; vgl. rur Darstellungen in einem Elektrizitätsjouma! J. C. Henry, ,,Action ofthe Current on the Human Body", in: Electri ca! World 15, 1 1 (1890), 190; E. Tatum",Further Notes on the Causes of Death By Electricity", in: Electrica! World 26 ( 1890), 36. 67 Gerry u.a., 75-80 (Anm. 1). 68 New York Times, 24. Jan. 1 887, 1-2. 69 E. T. Gerry, "Capital Punishment By Electricity" , in: North Arnerican Review (Sept. 1889), 321325; H. P. Brown, "The New Instrument of Execution", in: North Arnerican Review (Nov. 1 889), 586-593, 593.
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In dem Unterschied zwischen einem langsamen und unschön anzusehendem Erstik ken am Galgen und einem anästhetischen Gnadenakt durch Strom sah die New York Times die Differenz zwischen Barbarei und Zivilisation bestätigt. In diesem Bild war der Schwerverbrecher ein moralisch Kranker, der keine Aussicht auf Heilung, aber ein Recht auf ein schmerzloses Sterben hatte. Wortwörtlich schwärmte der Kom mentator der Times sogar von einer gewissen, sanften und schmerzlosen Euthanasie durch Elektrizität - von "euthanasia by electricity; [ .. ] certain, swift, and painless".7o .
V. Schlussbemerkung Sterben zu dUrfen, ohne Leiden empfinden zu mUssen, und Sterben machen zu kön nen, ohne Leiden zu verursachen, indizierte im Denken des späteren 1 9. Jahrhunderts eine fortgeschrittene Zivilisation. Die Schmerzlosigkeit des menschlichen Daseins hatte sich als unumstößlicher Wert an sich verfestigt, und die medizinischen Erörte rungen und Debatten wurden auch Uber den eng beschriebenen ärztlichen Fachzirkel hinaus verfolgt und vorangetrieben. In diesem Sinne bildeten die Überlagerungen von medizinischen und strafrechtlichen Diskursfeldern immer größere Wucherungen; Formen medizinischen Denkens, Aussagen aus den Diskursen um Anästhesie und Euthanasie wurden vermehrt im Diskurs um die Todesstrafe absorbiert. Medizinische Erwägungen Uber den schmerzlosen Tod als natUrlichen Tod oder Uber die Mecha nismen der Schmerzempfindung fullten nun das rechtskundliche "Wissensarchiv", das regulierte, ob die Todesstrafe adäquat war, und wenn ja, in welcher Form. Die elektrischen Exekutionen waren fest in diesen Diskursmustern verankert. Sie be wegten sich innerhalb der zeitgenössischen Rationalität und schrieben sich somit in das staatliche und gesellschaftliche Selbstverständnis ein.71 In Folge des "Wissens" um das Verhältnis von Strom, Schmerz und Zivilisation konnten die elektrischen Exekutionen nicht wirklich als Fehlschläge gedeutet werden, sogar dann nicht, wenn sie - wie eingangs skizziert - bisweilen Bilder von verbrannten Leibern Ubermittel ten. Zwar gab es genUgend kritische Blicke auf das Geschehen, die sich vom elektri schen Töten abwandten. Letztlich aber konstatierten auch sie, dass ein solcher Tod in Folge seiner medizinisch-technischen Bedingungen auf jeden Fall schmerzfrei sein
70 New York Times, 1 7 . Dez. 1 887, 4-3 . 71
TR, 40-56; vgl. zu Rationalität, Regierung und staatlichem Selbstverständnis T. Lemke/ S. Krasmannl
U. Bröckling, "Gouvemementalitat, Neoliberalismus und Selbsttechnologien", in:
Bröckling/ Krasmannl Lemke (Hg.), Gouvemementalitat der Gegenwart: Studien zur Ökonomi sierung des Sozialen. FrankfurtlM. 2000, 7-40, 20-24.
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müsse und daher das Hauptkriterium zivilisierten Sterbens gewahrt sei. Selbst wenn der Hinzurichtende stöhnte, selbst wenn die Gesichtsmuskeln im Tod vor Schmerz entstellt waren, so meinte man dies höchstens auf solche ,Schmerzen' zurückfUhren zu können, die nicht gefUhlt worden waren - "pain that was not feIt, land] I think that all the physicians will agree with me", wie Dr. Carlos MacDonald, regelmäßiger Zeuge bei den ersten Hinrichtungen mit Strom, in einer New Yorker Tageszeitung zum Besten gab. Und ohne Schmerzen, das hatte schließlich schon der Narkose Pionier John Warren festgehalten, könne ein Mensch dem Tod gefasst und furchtlos ins Auge sehen.72 Ärzte und Techniker, also Männer wie Carlos MacDonald, Alphonse Rockwell oder auch Thomas Edison, definierten und organisierten nun die Todesstrafe. Sie schrieben sich in den Diskurs ein, sie besetzten die entsprechenden Kommissionen, sie wurden als Experten von den Gerichten gehört, sie stellten die Zeugen und die Macher der elektrischen Hinrichtungen. Sie prägten die Bedeutungen, und sie kon trollierten weithin das Geschehen. Sie agierten innerhalb eines Diskurses, in dem Medizin und Rechtskunde so eng ineinander verflochten waren, dass sie in der histo riographischen Forschungspraxis kaum mehr zweckmäßig unterschieden werden können. Dieser medizinisch-rechtskundliche Diskurs definierte, wodurch das Töten eines Menschen zu einem ,wunderbaren Erfolg' werden konnte. Dies war insbeson dere die Schnelligkeit und Schmerzlosigkeit, die das Hinrichten mit Strom wie eine Aura umgab und sie in das Konzept einer Menschheit einband, die vom Tod des Schmerzes beglückt war. Der US-amerikanische Schriftsteller William Dean Howells bemerkte im Jahr 1904, die modeme Zivilisation habe gehofft und geglaubt, das Töten mit Elektrizität wäre beinahe so, als tötete man überhaupt nicht - ohne Blut, ohne Verstümmelung, ohne Grausamkeit, ohne Schmerz. Strom, so der Todesstra fenkritiker Howells, versprach das perfekte Medium schmerzlosen Mordens in staat lichem Auftrag zu sein - "the perfect agency of painless homicide". Der Glaube an die Funktionsweise der Elektrizität und den Tod des Schmerzes maskierte die eigent liche Gewalthaftigkeit des Geschehens in der Hinrichtungskammer und verhalf der Todesstrafe zu anhaltender Legitimität.7J
72 B.W. Richardson, .,The Execution By Electricity", in: Scientific American (27. Sept 1 890), 200; .,Dead After Two Minutes", in: New York Sun 9. Feb. 1 892, 7, zit. n. Madow, 474 (Anm. 56). 73 W. D. Howells, .,State Manslaughter" , in: Harper's Weekly 48 (6. Feb. 1904), 196-198, abge druckt in: Mackey (Hg.), 1 50-155 (Anm. 14); Sarat, .,Killing Me Softly", 43-70 (Anm. 60); A. Hyde, Bodies ofLaw. Princeton, NJ 1 997, 192-195; Madow, 486-489 (Anm. 56).
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Macht
Nacktheit und Sichtbarkeit Maren Möhring
"Wir erleben es [ ... ], daß eine Bewegung durch die modemen Großstädte geht, welche offen eine Propaganda großen Stils ftlr die Einftlhrung der unverhüllten Nacktheit in das gesellige Leben be treibt mit Hilfe einer Agitation, einer Literatur und Presse, welche in Wort und Bild die Nacktheit verherrlicht. Damit allein jedoch begnügt man sich nicht mehr. Es ist eine Propaganda der Tat Man ist zur Verwirklichung dieses Ziels übergegangen." ·
So beschrieb 1 9 1 0 der katholische Theologe Franz Walter (1 870-1 950) die Nackt kultur. Die Nacktkultur - der Begriff Freikörperkultur wurde erst nach dem Ersten Weltkrieg eingefUhrt - bildete einen Teil der Lebensreformbewegung, die seit dem späten 1 9. Jahrhundert im Rekurs auf Rousseau und die Antike eine ,Rückkehr zur Natur' propagierte. In der Nacktkultur sah man die Nacktheit als das adäquate Mittel einer solchen Rückkehr an; Nacktheit fungierte als Signifikant fUr Natürlichkeit.2 Bei der Nacktkulturbewegung handelte es sich um ein vornehmlich norddeut sches bzw. protestantisches, großstädtisches Phänomen mit einem deutlichen Schwerpunkt in Berlin. Dort wurden die meisten Nacktkultur-Zeitschriften verlegt, und dort gründete sich auch ein Großteil der zahlreichen, häufig sehr kleinen und zum Teil elitären Nacktkultur-Vereine? Wenn möglich, trafen sich die Mitglieder im vereinseigenen oder in einem kommunalen sogenannten Lichtluftbad. Auf einem solchen, mit astlochfreien Holzwänden umzäunten Gelände nahmen die Anhänger und Anhängerinnen der Nacktkultur Sonnenbäder und betrieben Nacktgymnastik. Über gymnastische Übungen sollte der von der modemen Zivilisation ,deformierte' Körper (wieder) in einen ,natürlichen' Zustand versetzt werden. Ein kontinuierliches
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F. Walter, Der Leib und sein Recht im Christentum. Eine Untersuchung des Verhältnisses mo derner Körperkultur zur christlichen Ethik und Askese. Donauwörth 1910, 434. So heißt es in dem Aufsatz "Warum nackt?": "Nacktheit ist nun einmal natürlich"; in: W. Kastner (Hg.), Der Kampf der Lichtfreunde gegen die Dunkelmänner. Berlin 191 1 , 1 8-29, 25. Einen knappen Überblick über die Nacktkulturbewegung bieten U. Schneider, "Nacktkultur im Kaiserreich", in: U. Puschner u.a. (Hg.), Handbuch zur "Völkischen Bewegung", 1 871-1918. München 1999, 409-435, und R. Koerber, "Freikörperkultur", in: D. Kerbst J. Reulecke (Hg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1 880-1933. Wuppertal 1998, 103-1 14.
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Training war dafilr notwendig, das nach bewährten Gymnastiksystemen zu erfolgen hatte. Anfang des 20. Jahrhunderts galten die Systeme des dänischen Leutnants J. P. Müller (1 864-1983) und der US-amerikanischen Ärztin Bess Mensendieck ( 1 8641 958) als non plus ultra.4 ,,Müllern" und "mensendiecken" wurden - weit über die Nacktkultur hinaus - zu Synonymen filr das Betreiben von Nacktgymnastik.s In den 1920er Jahren setzte sich dann Hans Surens ( 1 885-1972) "Deutsche Gymnastik" durch, in der viele sportliche Elemente integriert waren.6 Die Nacktgymnastik, die - im Gegensatz zu manchen ,anrüchigen' Erscheinun gen im Umfeld der Nacktkultur - zu den am wenigsten umstrittenen, gesellschaftlich akzeptierten nacktkulturellen Praktiken zählte,7 möchte ich zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen über Nacktheit und Sichtbarkeit machen. Die Körperpraktik der Nacktgymnastik wird im Rahmen der Foucaultschen Überlegungen zur Normali sierungsmacht zu diskutieren sein. Dabei geht es mir nicht um eine umfassende Analyse der Nacktgymnastik als einer disziplinären Körperpraktik. Vielmehr möchte ich einleitend, im ersten Teil dieses Aufsatzes, nur knapp die Spezifik der nacktgym nastischen Körperdisziplinierung und -normalisierung skizzieren, um mich dann auf die Besonderheit der Nacktgymnastik, nämlich die Nacktheit bei den Übungen, zu konzentrieren. Nacktheit wird im zweiten Teil des Textes als Sichtbarmachung des Körpers zu thematisieren sein. Damit ist die Frage nach historisch-spezifischen Sichtbarkeiten und nach dem Verhältnis von Sag- und Sichtbarkeiten aufgeworfen.
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B. M. Mensendieck, Körperkultur des Weibes: Praktisch hygienische und praktisch IIsthetische Winke. 4., verbess. Aufl. München 1909; J. P. Müller, Mein System: 1 5 Minuten täglicher Ar beit ftlr die Gesundheit. Leipzig! Zürich 1908. Vgl. G. Spitzer, Der deutsche Naturismus: Idee und Entwicklung einer volkserzieherischen Bewegung im Schnittfeld von Lebensreform, Sport und Politik. Ahrensburg bei Hamburg 1983, 186. Zum Müllerschen Gymnastiksystem vgl. H. Bonde, "I. P. Muller: Danish Apostle of Health", in: The International Journal of the History of Sport 8 (1991), 347-369, und B. Wede meyer, Starke Männer, starke Frauen: Eine Kulturgeschichte des Bodybuildings. München 1996, 1 5f. - Ein regelmäßiger Betreiber der Müllerschen Nacktgymnastik war Franz Kafka, der 1913 an seine Verlobte Felice schrieb: ,,Das Versprechen, das ich Dir in bianco abgenommen habe und ftlr das ich Dir vielmals danke, betrim das ,Müllern'. Ich werde Dir nächstens das ,System ftlr Frauen' schicken, und Du wirst langsam, systematisch, vorsichtig, gründlich, täglich zu ,müllern' anfangen, mir darüber immer berichten und mir damit eine große Freude machen"; Franz Kafka, Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, hg. v. E. Heller u. 1. Born. Mit einer Einleitung von E. Heller (Gesammelte Werke; 1 0). FrankfurtlM. 1967, 438. H. Suren, Deutsche Gymnastik: Vorbereitende Übungen ftlr den Sport. Oldenburg i.O.! Berlin 1925; ders., Der Mensch und die Sonne. Stuttgart 1924. Vgl. A. Krüger, ,,zwischen Sex und Zuchtwahl. Nudismus und Naturismus in Deutschland und Amerika", in: N. Finzschl H. Wellenreuther (Hg.), Liberalitas: Festschrift ftlr Erich Angermann zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1992, 343-365, 355.
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" Diese "Bestimmung des Sichtbaren und des Sagbaren in jeder Epoche ist nach Gil les Deleuze ein zentraler Aspekt der Foucaultschen Geschichtsschreibung.8 Deleuze formuliert die Unterscheidung des Diskursiven und Nicht-Diskursiven bei Foucault um, wenn er - in Auseinandersetzung mit "Überwachen und Strafen" das Gefiingnis als Ort der Sichtbarkeit des Verbrechens und das Strafrecht als Produ zenten von Aussagen über die ,Delinquenz' herausstellt. Konstitutionsbedingung filr diskursive Formationen, die zur Ordnung des Sagbaren gehören, ist die Sprache; Konstitutionsbedingung der Sichtbarkeiten das Licht.9 Beide Ordnungen sind nach Deleuze disjunktiv, aber je historisch-spezifisch miteinander verbunden. Dem Sagba IO ren komme dabei das Primat zu. Für eine Historiographie des Körpers ist diese Kopplung von Sicht- und Sagba rem von besonderem Interesse. Der Körper gehört nach Deleuze der Ordnung des Sichtbaren an und lässt sich daher nicht einfach oder restlos in die Ordnung des Sag baren ,übersetzen' . 1 1 Dass der Körper nicht völlig im Sagbaren aufgeht, heißt aber nicht, dass er dem Diskurs vorgängig oder äußerlich ist - bestehen doch vielfältige, auch wechselseitige Voraussetzungsbeziehungen zwischen dem Sag- und dem Sicht baren. 1 2 Vor diesem Hintergrund sind die Ausfilhrungen zu Nacktheit und Sichtbarkeit zu verstehen. Die in der Nacktkultur propagierte Sichtbarmachung des Körpers, die, wie zu zeigen sein wird, mit einem normalisierenden Blick auf den nackten Körper ein herging, gehört zu einem historisch-spezifischen Feld von Sichtbarkeiten und steht in einer engen Beziehung zum Medium der Fotografie. Im dritten Teil des Aufsatzes möchte ich zwei Beispiele filr den Umgang mit dem fotografischen Medium inner halb der Nacktkultur vorstellen und damit die Frage nach Sicht- und Sagbarkeiten um diejenige nach Texten und Bildern erweitern.
G. Deleuze, Foucault. FrankfurtlM. 21995 (Paris 1986), 7 1 . Zu einem Dispositiv zahlen die "Kurven der Sichtbarkeit und die Kurven des Aussagens", so G. Deleuze, "Was ist ein Disposi tiv?", in: F. Ewaldl B. Waldenfels (Hg.): Spiele der Wahrheit: Michel Foucaults Denken. Frank furtlM. 1 99 1 , 1 53-162, 1 53i 9 Vgl. S. Krasmann, "Simultaneitat von Körper und Sprache bei Michel Foucault", in: Leviathan 23 (1995), 240-262, 249. 10 Deleuze, Foucault, 89, 96 und 72 (Anm. 8). 1 1 Vgl. Krasmann, "Simultaneitat", 252 (Anm. 9). 12 Vgl. Deleuze, Foucault, 70f. (Anm. 8). 8
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I. Nacktgymnastik und Selbstdisziplin Wenn man die Nacktgymnastik als eine nonnalisierende Körperpraktik beschreiben will, dann müssen Foucaults Analysen zur Disziplinar- und Nonnalisierungsmacht in zweifacher Hinsicht modifiziert werden. Erstens ist Foucaults Untersuchung der disziplinären Hervorbringung natürlicher Körper durch die Vernachlässigung der Kategorie ,Geschlecht' in dieser Hinsicht "unspezifisch und undifferenzierf,. \3 Judith Butler hat gezeigt, dass der zwangsheterosexuelle Nonnalisierungsdiskurs den natürlichen Körper immer schon als geschlechtlich differenzierten (Männer- oder Frauen-) Körper hervorbringt. 14 Diskurse und Disziplinierungen sind nicht geschlechtsneutral; vielmehr ist ,Geschlecht' selbst ein diskursiver und disziplinärer Effekt. Die Nacktgymnastik nun war in ihren Übungen deutlich geschlechtlich differenziert. Ohne dass ich hier auf diesen Aspekt näher eingehen kann, ist die Nacktgymnastik als eine Körperpraktik zu beschreiben, über die Frauen und Männer unterschiedlich nonnalisiert wurden. \ S Zweitens sind Foucaults Analysen zur Disziplinar- und Nonnalisierungsmacht historisch zu spezifizieren. So wurden der filr die Disziplinarinstitutionen des 1 8. Jahrhunderts typische "Massenzwang und DriII,,16 in der Nacktkultur um 1900 Ge genstand heftiger Kritik. Die Nacktgymnastik grenzte sich in dieser Hinsicht vom Turnen ab, das als eine "ins Körperliche umgesetzte Grammatikstunde" abgelehnt wurde. 17 Den nach Kommando ausgefilhrten Turnübungen stand die (nackt-) gymna stische Übungsweise gegenüber, bei der - wie Suren immer wieder betont - der 13 H. Raab, Foucau1t und der feministische Poststrukturalismus. Dortmund 1998, 58. Vgl. auch L. MacNay, Foucault and Feminism: Power, Gender, and the SelE Cambridge 1992, 1 1 . 14 Nach Butler kann es überhaupt keinen Bezug auf die Materialität von Körpern geben, der die geschlechtliche Differenzierung außer acht lasst: "Wie im folgenden hoffentlich deutlich werden wird, sind es die regulierenden Normen des ,biologischen Geschlechts', die in performativer Wirkungsweise die Materialität der Körper konstituieren und, spezifischer noch, das biologische Geschlecht des Körpers, die sexuelle Differenz im Dienste der Konsolidierung des heterosexu ellen Imperativs materialisieren"; J. Butler, Körper von Gewicht: Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin 1995 (New York 1993), 22. 15 Vgl. dazu M. Möhring, "Wie erarbeitet man sich einen natürlichen Körper? Körpernonnalisie rung in der deutschen Nacktkulturbewegung um 1900", in: 1999: Zeitschrift ftlr Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 1 4,2 (1999), 86-109; ausftlhrlich: Dies., Nackte Marmorleiber und organische Maschinen: Der natürliche Körper in der deutschen Nacktkultur, 1 890-1930. Diss. München 2001, Kap. 5. 16 Suren, Gymnastik, 54 (Anm. 6). 17 J. Große, Die Schönheit des Menschen: Ihr Schauen, Bilden und Bekleiden. Dresden 1912, 270f. Die Ausbildung der Bewegungsmöglichkeiten im Turnen sei "'logisch' ohne Rücksicht auf ihren physiologischen und hygienischen Wert", eben "schematisch", erfolgt - so der Hygieniker F. Hueppe, Hygiene der KörperObungen. 2., umgerab. u. venn. Auf!. Leipzig 1922, 49.
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", Wille zur Übung' [ ...] in uns und nicht im Befehl eines Übungsleiters" liege. 18 Nacktgymnastik wurde also als selbstdisziplinäre Körperpraktik diskursiviert, die sich als individuelle und außerinstitutionelle Disziplinierung in Abgrenzung von der ,al ten Dressur' in den Disziplinarinstitutionen konstituierte. Mit JUrgen Link ließe sich hier von einer deutlich normalistischen Absage an die frühen "quasi-normativen" Disziplinartechniken sprechen. '9 Als paradigmatisch ftlr die diskursive wie nicht diskursive Verschiebung vom äußeren Zwang zur Selbstdisziplin kann die Abschaf fung des Korsetts gelten. An seine Stelle trat nun das "Muskelkorsett". Durch die sogenannten MUllerschen "Korsettübungen" sollte Bauchfett durch feste Muskeln ersetzt und die Schönheitsnormen nun am, im und durch den Körper selbst materiali siert werden. 20 Diese Reformulierung der Disziplin um 1 900 kann quer durch zahlreiche Diskur se, etwa der Reformpädagogik, hindurch beobachtet werden.2 1 Das Disziplinarindivi duum des 1 8 . Jahrhunderts erschien Anfang des 20. Jahrhunderts als von außen an getriebene "leblose Puppe am Drahte",22 der man nun erneut, nämlich als Wieder Holung der Romantik, ein ,organisches Wachstum' entgegensetzte. Der Gymnastik lehrer sollte "gleichsam nur die Absichten der Natur verwirklichen" und nur mehr regulierend eingreifen.23 Bei der Nacktgymnastik zu Beginn des 20. Jahrhunderts geht es also immer schon um eine biopolitisch modifizierte Disziplinierung.
1 8 H. Suren. Selbstrnassage: Pflege der Haut. 35., völlig neub. u. erw. Aufl. Stuttgart 1928, 14. 19 Zur Charakterisierung der Foucaultschen Disziplin als "quasi-normativ" vgl. J. Link ,'Norma tiv' oder .Normal'? Diskursgeschichtliches zur Sonderstellung der Industrienorm im Normalis mus. mit einem Blick auf Walter Cannon", in: W. Sohn! H. Mehrtens (Hg.). Normalität und Ab weichung: Studien zur Theorie und Geschichte der Normalisierungsgesellschaft. Opladen! Wies baden 1 999, 30-44, 34. 20 Vgl. Müller. Mein System, 38 und 21 (Anm. 4). Zu dieser Verlagerung von der Kleidung aufden Körper als Prestigeobjekt siehe P. Bourdieul Y. Delsaut, "Die neuen Kleider der Bourgeoisie". in: Kursbuch 42 (1975), 172-182; zur Verlagerung der Geschlechtercodes von der Kleidung auf den Körper siehe K. Sykora, "Vom Korsett zum Body-Shaping - Von den Bloomers zu den Jeans: Zum Verhältnis von Mode und Emanzipation". in: Frauen Kunst Wissenschaft 17 (1994), 30-41, 39. 21 Vgl. hierzu überaus instruktiv M. Caruso. Zur Geschichte der pädagogischen Regulierung: Regelung des Unterrichtes in den bayerischen Volksschulen und ihre Rezeption in der Lehrer schaft (1 869-1918). Diss. München 2000. 22 P. Hoche, "Die Körpersymbolik der Mädchen", in: Licht-Luft-Leben 16 (1920), 85-88, 88. Bei Suren, Mensch, 199 (Anm. 6), heißt es: "Fort mit den Gliederpuppen - fort mit dem öden Kom mandieren, Zählen und Befehlen!". 23 H. Pudor. Die neue Erziehung: Essays über die Erziehung zur Kunst und zum Leben. Leipzig 1902, 33. • •
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Was die Nacktgymnastik nun von anderen Arten der Leibesübung unterscheidet ist die Nacktheit bei der Gymnastik. Diese wurde im Nacktkultur-Diskurs - und vielfach, dessen Aussagen folgend, auch in der Forschungsliteratur zur FKK - als eine Befreiung von (Kleider-)Zwängen gewertet. Allein die mit Elias argumentieren de Forschung spricht nicht von Befreiung, sondern von einer Verinnerlichung von Zwängen, die öffentliche Nacktheit historisch erst ermöglicht habe.24 Mit Foucault lässt sich nun Nacktheit als disziplinäre, normalisierende Macht- und Wissenstechni� thematisieren, nämlich als Sichtbarmachung des Körpers.
11. Nacktheit als Sichtbannachung Als Argument für die Nacktheit bei der Gymnastik wurde neben der größeren Bewe gungsfreiheit und der besseren Hautatmung vor allem der ungehinderte Anblick der Körper angeführt. Die korrekte Ausführung der Bewegungen und des Atmens konnte auf diese Weise besser kontrolliert werden. Mensendieck etwa stellt heraus, dass die Nacktheit ihrer Schülerinnen es ihr ermögliche, "nicht nur selbst alle Atemmängel zu entdecken und zu verfolgen, sondern dieselben auch sofort den Damen untereinander ad oculos demonstrieren zu können".2s An anderer Stelle heißt es: "Die reine Gymna stik fordert Nacktheit. Der heutige Körper mit seinen Degenerationserscheinungen verlangt strengste Kontrolle".26 Nacktheit ermöglichte also eine genaue Beobachtung, eine umfassende - wörtlich zu verstehende - "Körperbeaufsichtigung".27 Diese bildete die Voraussetzung für die Entdeckung von körperlichen Fehlern und Mängeln, die dann in den disziplinären Prozessen des Aufrichtens, des Ausgleichens und der Korrektur behoben werden mussten. Eltern würden, wenn ihre Kinder nackt spielten, diese "wirklich einmal" mit ihren "körperlichen Vorzügen und etwaigen Fehlern" sehen und könnten dann "zur rechten Zeit etwas thun".28 Die nackten Körper sollten also "den prüfenden 24 Vgl. z.B. O. König, Nacktheit: Soziale Normierung und Moral. Opladen 1990. Bei der Verinner lichungsthese steht hinsichtlich der Nacktheit die Kontrolle der Sexualität im Vordergrund. Mir geht es im Folgenden weniger um sexuelle Selbstkontrolle als um Nacktheit als Zwang zur Sichtbarmachung. 2S Nacktheit ermögliche es, die SchUlerinnen "genau zu kontrollieren" und eine "genaue Beobach tung der verderblichen SchlUsselbeinatrnung" durchzuftlhren; B. M. Mensendieck, Körperkultur der Frau: Praktisch hygienische und praktisch ästhetische Winke. MUnchen s1912, IXf. 26 H. Hagemann, Über Körper und Seele der Frau. Leipzig! ZUrich 1927, 32. 27 B. M. Mensendieck, Funktionelles Frauenturnen. MUnchen 1923, 12. 28 H. Lahmann, Das Luftbad als Heil- und Abhllrtungsmittel. Stuttgart 31904, 26.
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Blicken" dargeboten werden, "um die Fehler wahrnehmen und abstellen zu können, da ohne Erkenntnis keine Einsicht und Besserung möglich" sei.29 Während der nackte Körper all seine ,Defekte' und ,Anomalien' zeige, verdecke Kleidung bestimmte "Körpermängel".30 Kleidung und Verstellung gingen im Nackt kultur-Diskurs eine sehr enge Verbindung ein. So ist vom "dumpfen Grab der LU genmode" und vom Kleid als "Symbol der LUgner, Heuchler und Duckmäuser" die Rede? I Damit nicht weiterhin "im Zeichen der LUge" Ehen geschlossen wUrden, propagierte die Nacktkulturbewegung gar die sogenannte "nackte Gattenwahl", bei der sich zukUnftige Eheleute nackt mustern sollten, um dann eine rassenhygienisch eugenisch ,verantwortungsvolle' Wahl zu treffen.32 Nacktheit und Wahrheit wurden in vielfacher Hinsicht diskursiv verknüpft. Der nackte Körper konnte zur materiali sierten Wahrheit werden: "Erkenne Dich selbst - dies ist in physischem Sinne nur möglich hüllenlos vor dem Spiegel. Schaue Dich nackt - erst Nacktheit ist Wahr heit".33 Zu den "Prozeduren des Wahren,,34 gehör(t)en demnach nicht nur die Praktiken des Sagens, sondern auch die Praktiken des Sehens. Der auf bestimmte Mängel ge richtete normalisierende Blick3s ist dabei als Produzent einer Wahrheit zu verstehen, 29 R. Ungewitter, Die Nacktheit in entwicklungsgeschichtlicher, gesundheitlicher, moralischer und künstlerischer Beleuchtung. Stuttgart 1907, 1 5. Auch nach Suren, Mensch, 1 77 (Anm. 6), ist es unmöglich, "bekleidet den Körper des Übenden beurteilen zu können". - Zur Bedeutsamkeit der urteilenden Prüfung innerhalb der Disziplin vgl. ÜuS (1989), 238ff. 30 So lehnte der Arzt Artur Luerssen Kleidung mit der Begründung ab, dass sie , VorzUge vortäu sche' und "Fehler der Gesundheit und Schönheit" verdecke; A. Luerssen, "Nackttumen", in: Licht-Luft-Leben 12 ( 1 9 1 5), 8-1 0, 8. 31 So Fritz Diehm in seiner Ansprache beim "Sonnenfest" im Beiertheimer Sonnenbad, zit. nach Ungewitter, Nacktheit, 47 (Anm. 29), und J. Lanz-Liebenfels, Nackt- und Rassenkultur im Kampfe gegen Mucker- und Tschandalakultur. Rodaun bei Wien 1913, 7. 32 J. M. Seitz, Die Nacktkulturbewegung: Ein Buch filr Wissende und Unwissende. Dresden 1923, 16. Zur ,,nackten Gattenwahl" vgl. M. Möhring, "Ideale Nacktheit: Inszenierungen in der deut schen Nacktkultur, 1 893-1 925", in: K. Gemig (Hg.), Nacktheit: Ästhetische Inszenierungen im Kulturvergleich. Köln u.a 2002, 9 1 -109. 33 Theoros, "Kraft-Kunst", in: Die Schönheit 17 (192 1 ), 500-521 , 5 1 7. Im Rahmen einer "Erzie hung zur Wahrhaftigkeit" sei Nacktheit in der Körpererziehung "trotz aller Proteste" zu rechtfer tigen; so F. Schimmer, "Vom Wesen körperlicher Schönheit", in: D. MenzIer (Hg.), Die Schön heit deines Körpers: Das Ziel unserer gesundheitlich-künstlerischen Körperschulung. Stuttgart 1924, 7-12, 1 1 . Zum nackten Körper als "metaphorical locus oftruth" vgl. J. Beizer, "The Body
in Question: Anatomy, Textuality, and Fetishism in Zola", in: L'esprit createur 29 (1989), 50-60, 54f. 34 Deleuze, Foucault, 91 (Anm. 8). 35 Um den Foucaultschen Terminus normaliser im Kontext der ,normierenden Sanktion' zu über setzen, hat Walter Seitter die Reihung "normend, normierend, normalisierend" (ÜuS (1989),
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die identisch mit der Abweichung von der Norm ist. Dabei macht Nacktheit sichtbar, was ansonsten verborgen bliebe. Sie erlaubt dem normalisierenden Blick eine noch detailliertere Erfassung des ,Abnormen' - das erst durch diesen Blick konstituiert worden ist. Nacktheit ermöglicht dem überwachenden Blick minutiöse Beobachtun gen und zwingt die Individuen in eine zuvor unbekannte Sichtbarkeit. Zwischen den Individuen werden - stimulierende - Kontrollbeziehungen installiert. Diese diszipli nierende, hierarchische Überwachung hat Foucault genealogisch auf die kirchliche Pastoralmacht zurUckgefilhrt. Ihren paradigmatischen Ausdruck findet sie im Panop ticon, das nach Foucault als "Diagramm eines auf seine ideale Form reduzierten Machtmechanismus" zu begreifen ist.36 Den Schülerinnen Mensendiecks wurden die zu korrigierenden Mängel und ,De fekte' aneinander vorgefuhrt. Während in Gestalt der Gymnastiklehrerin die Funkti onssteIle der Überwacherin durch eine ,Expertin' besetzt war, implizierte die gegen seitige Beobachtung und Korrektur der Schülerinnen untereinander, dass sie lernten, mit ihrem Blick andere und sich selbst zu begutachten.37 Für die Selbstbeobachtung bei der Nacktgymnastik übernahm der Spiegel - neben bzw. mit der Erstellung eines einheitlichen Körperbildes - die ,Funktion des überwachenden Lehrers' , wie Suren schreibt.38 Suren versicherte dem Nacktgymnasten, dass man im Laufe der Zeit "die
236) gewählt und zeigt damit das - bei Foucault in "Überwachen und Strafen" nicht kategoriell differenzierte - Bedeutungsspektrum des Begriffs normaliser auf. Spater charakterisiert Foucault die disziplintire Ausrichtung an der Norm als Normierung (entsprechend auch die Ü bersetzung als "normierender Blick"). Insofern ich aber die biopolitisch modifizierten Disziplinen in der Nacktgymnastik Anfang des 20. Iahrhunderst analysiere, möchte ich in diesem Kontext nicht von einem normierenden, sondern von einem normalisierenden Blick sprechen. 36 ÜuS (1989), 264. An anderer Stelle heißt es: ,,11 decrit dans ('utopie d'un systeme general des mecanismes particuliers qui existent reellement" (DiE, rrr, 207). Zum Panoptismus als ,,strate gische[m] Feld der kOnftigen Wahrnehmung", das besonders den psychologischen und padago gischen Blick bestimmt habe, vgl. G. C. Tholen, "Das eingebildete Selbst", in: G. Dane u.a. (Hg.), AnschlOsse: Versuche nach Michel Foucault TObingen 1 985, 57-62, 58. 1. Goldstein, "Foucault and the Post-Revolutionary Self: The Uses of Cousinian Pedagogy in Nineteenth Century France", in: Ders. (Hg.), Foucault and the Writing ofHistory. Cambridge, MA 1994, 991 15, 109, beschreibt den Disziplinarapparat aus "Ü berwachen und Strafen" insgesamt als ,haupt sachIich okular', dem Foucault im ersten Band von "Sexualitat und Wahrheit" auditiv ausge richtete Machttechniken zur Seite stelle, die nicht einen gelehrigen Körper sichtbar machten, sondern ein Subjekt zum Sprechen brachten. 37 ,,Einer vielseitigen Selbstkontrolle muß sich die Scholerin ehrlich und streng unterwerfen unter Leitung von atemtechnisch und anatomisch geschulten Lehrerinnen"; so F. Wirth Winther, Kör perbildung als Kunst und Pflicht MOnchen 1919, 56. 38 Vgl. Suren, Selbstmassage, 11 (Anm. 1 8). Auch Mensendiecks Devise lautete: "Scharf im Spie gel beobachten"; Mensendieck, Frauenturnen, 1 8 (Anm. 27). Der Spiegel bzw. das Individuum -
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größte Freude an seinem Spiegelbilde haben" und "ganz gewiß seinen Lebenswandel " so einrichten werde, "daß man sich vor dem Spiegel nicht zu schämen braucht,,?9 Die geforderte Selbstbeobachtung hat Foucault in "Überwachen und Strafen" als unendliche Generalisierung und als Internalisierung der panoptischen Überwachung beschrieben.40 Die Denkfigur der Internalisierung, die auf der Vorstellung einer Ho mologie zwischen ,äußerer' und ,innerer' überwachender Ordnung basiert, ist aber äußerst problematisch. Die strategische Bedeutsamkeit der SelbstUberwachung im Rahmen der Normalisierungsmacht liegt meines Erachtens gerade nicht in ihrer Identität mit, sondern in ihrer Eigenart und Differenz gegenüber der panoptischen Überwachung. Somit ist es sinnvoller, nicht von der Praxis, sondern von je spezifi schen Praktiken der Überwachung zu sprechen.4 1 Im Nacktkultur-Diskurs richtete sich die Forderung nach Selbstbeobachtung auch gegen das Blickprivileg von Experten. Mensendieck beispielsweise fragt: "Warum sollen nur Ärzte und Künstler schauen? Weshalb nicht auch Laien?,,42 Der künstleri sche und ärztliche Blick auf den nackten Körper sollte eine entsexualisierte Lesart der Nacktheit garantieren. Zugleich stellten Gesundheit und Schönheit die zentralen Normen der nacktkulturellen Körperbildung dar. Eine mögliche These wäre, dass die vielfach konstatierte Entsexualisierung der Nacktheit in der FKK-Bewegung durch eben diese Verfilgbarmachung der Nacktheit rur Normalisierungsprozesse erzielt wurde. Eine "sorgflUtige Erziehung des Auges rur ein normales Relief" galt es zu erlernen, das "Eigenurteil rur das Normale" musste ausgebildet werden;43 hierfilr galt Nacktheit als unabdingbar. Die Blickschulung in ästhetischer und medizinischer Hinsicht erfolgte über den Anblick nackter Körper im Lichtluftbad, über die - an Winckelmann orientierte -
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selbst übernahm damit die Rolle des von Foucault skizzierten ,,NonnaIitatsrichter[s)"; OuS (1989), 392. Suren, Gymnastik, 59 (Anm. 6). "Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Machtverhaltnis, in welchem er gleichzeitig heide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung"; OuS (1 989), 260. Eine ähnliche Kritik an Foucault äußert Etienne Balibar, wenn er die Bedeutung der Familie in ihrer Differenz, nicht ihrer Ahnlichkeit zum Staat sieht und damit das Konzept der ,Familie als kleiner Staat' ablehnt; vgl. E. Balibar, "Foucault und Marx: Der Einsatz des Nominalismus", in: Ewaldl Waldenfels (Hg.) (Anm. 8), 39-65, 48. Nach Balibar (ebd., 49), ist Foucault nach "Ober wachen und Strafen" selbst zur Analyse von Praktiken (im Plural) übergangen, "deren jede durch eine eigene ,Technologie' spezifiziert wird". Mensendieck, Körperkultur, 93 (Anm. 25). Mensendieck, Körperkultur, XlI (Anm. 25); ebenso B. M. Mensendieck, ,,Mein System", in: L. Pallatl F. Hilker (Hg.), Künstlerische Körperbildung. Breslau 1923, 37-40, 39.
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Betrachtung antiker Statuen und nicht zuletzt über Aktfotografien, die alle nacktkul tureIlen Publikationen in großer Zahl schmückten.
III. Der fotografische Blick Die Fotografie lässt sich als das Medium der Nacktkultur bezeichnen.44 Durch die massenhafte Verbreitung von Nacktfotos trug auch die FKK-Bewegung zu der ver änderten öffentlichen Sichtbarkeit des nackten Körpers bei. Die im vorigen Abschnitt skizzierte Sichtbarmachung durch Nacktheit, die Aufdeckung der , Wahrheit' durch Nacktheit partizipierte dabei an der Autorität des fotografischen Mediums, das als "unmittelbare Wiedergabe der Natur" diskursiviert wurde.4s Wie in dem einleitenden Zitat des Theologen Walter zu lesen war, erfolgte die " Werbung rur die Nacktkultur "in Wort und Bild .46 Auch das Genre des Gymnastik buches zeichnet sich durch die Verbindung von Text und Foto aus. Dabei sollten die Abbildungen von Müller, Mensendieck und Suren bei der Gymnastik demonstrieren, wie bestimmte Körper(haltungen) auszusehen hatten. In diesem Sinne autoritativ, präzisierten die Fotografien die ,normalschöne' Bewegung wie den ,normalschönen' Körper. Abgesehen davon, dass sie rur die reale Existenz ,normalschöner' Körper und damit rur die Erreichbarkeit der Norm bürgen sollten, wurden Fotografien als Mittel der Vereindeutigung eingesetzt. Anders als ein Text mit seinen schrittweisen " Darlegungen, "mit seinen Ausschweifungen, Auslassungen und Redundanzen ,47 versprachen die Fotos, klare Vorgaben rur die gymnastische Bewegung zu liefern und den trainierten Körper in seiner sichtbaren Gestalt zu zeigen. Die in den Nackt kultur-Publikationen zu sehenden Fotografien schöner nackter Menschen sind dabei 44 So etwa Schneider, 421 (Anm. 3). Zur reich illustrierten Nacktkultur-Zeitschrift "Die Schönheit" vgl. J. Frecot, "Die Schönheit: Mit Bildern geschmuckte Zeitschrift ftlr Kunst und Leben", in: Fotogeschichte 15 (1995), 36-46. - Die Fotografien in nacktkulturelIen Publikationen sind pro fessionelle wie Amateur-Fotografien. Zum Genre der FKK-Fotografie vgl. u.a U. Erdmann Ziegler, Nackt unter Nackten: Utopien der Nacktkultur, 1906-1942. Berlin 1990. 45 G. Fritsch, Die Gestalt des Menschen: Mit Benutzung der Werke von E. Harless und C. Schmidt. FUr KUnstier und Anthropologen dargestellt. Stuttgart 1 899, VII. Die fotografische Wiedergabe zu verwerten, ist bei Fritsch dabei gleichbedeutend mit dem Studium "am lebenden Menschen" (ebd., 91). - Zur zentralen Funktion der Fotografie innerhalb disziplinärer Sichtbarkeitsregime vgl. S. Lalvani, Photography, Vision, and the Production of Modem Bodies. Albany, NY 1996, 34. 46 Walter, 434 (Anm. 1). 47 P. Sarasin, Reizbare Maschinen: Hygienediskurse, bUrgerliehe Körper und die Sorge um sich, 1765-1914. FrankfurtlM. 2001, 250.
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als bildliche Gegenwelt zu den Archiven ,abnormer' Körper der Kriminologie, Me dizin oder Anthropologie zu verstehen. Die Sichtbarmachung der Norm ist - parasi tär - an diese Sichtbarmachung der Abweichung von der Norm gebunden.48 Wenn der künstlerische und ärztliche Blick auf den nackten Körper an Fotografi en geschult wird, dann ist dieser normalisierende Blick ein technisch vermittelter, ein prothetischer Blick.49 Den in der Freikörperkultur propagierten nackten Naturkörper in seiner historisch-spezifischen Sichtbarkeit möchte ich in diesem Sinne als ein " Produkt der "Kultur des fotografischen Sehens so verstehen. Für das Verhältnis von Körperkulturbewegung und Film hat Inge Baxmann gezeigt, dass sich die "Kör peremphase der Moderne" nicht nur als "Abwehr der Funktionalisierung des Körpers in einer industriellen Welt", sondern gleichzeitig als eine "positive Reaktion auf die neuen Möglichkeiten von Verkörperung" mittels der neuen Medien begreifen lässt.s l In ihrer begeisterten Aufnahme der Fotografie und später des Films erweist sich die bis vor kurzem noch als antimodern charakterisierteS2 - Nacktkultur (auch) in me-
48 Zur Sichtbarmachung von Devianz in der Fotografie vgl. Lalvani, Photography, insb. 87-137; J. Pultz, The Body and the Lens: Photography 1 839 to the Present. New York 1 995, Kap. I, bes. 26-3 1 ; sowie S. Regener, Fotografische Erfassung: Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen. MUnchen 1999. Zur parasitären Konstruktion des Normalen über das Abnorme vgl. J. Urlal J. Terry, "Introduction: Mapping Embodied Deviance", in: Dies. (Hg.), Deviant Bodies: Critical Perspectives on Difference in Science and Popular Culture. Bloomingtonl Indianapolis 1 995, 16. 49 Bei Fritsch, 76 (Anm. 45), heißt es sogar, das Auge sei, technisch betrachtet, "eine kleine photo graphische Kamera", in der ein "dioptrischer Apparat auf der empfindlichen, einer photographi schen Platte entsprechenden Netzhaut das Bild der äusseren Gegenstände entwirft". Später wur den auch Netzhaut und Filmstreifen analogisiert. - Zur Transformation des modemen Selbstver ständnisses durch das fotografische Sehen vgl. C. Lury, Prosthetic Culture: Photography, Memo ry and Identity. Londonl New York 1 998, 3. 50 T. Schlich, "Die Repräsentation von Krankheitserregern: Wie Robert Koch Bakterien als Krank heitsursache dargestellt hat", in: H.-J. Rheinberger u.a. (Hg.), Räume des Wissens: Repräsentati on, Codierung, Spur. Berlin 1 997, 1 65-190, 1 75. 51 I. Baxmann, Mythos: Gemeinschaft. Körper- und Tanzkulturen in der Modeme. München 2000, 174. Zum Zusammenhang von "medientechnologische[n] Entwicklungen und theoretische[n] Auseinandersetzungen in bezug auf Körperlichkeit und Geschlechteridentitäten" vgl. M.-L. An gerer, "THE BODY OF GENDER: Körper. Geschlechter. Identitäten", in: Dies. (Hg.), Tbe Body of Gender: Körperl Geschlechter/ Identitäten. Wien 1 995, 1 7-34, 17f. 52 Den Antimodernismus der Lebensreformbewegung insgesamt konstatieren z.B. G. L. Mosse, Nationalism and Sexuality: Respectability and Abnormal Sexuality in Modem Europe. New York 1985, 48, und B. Wedemeyer, "'Zum Licht' : Die Freikörperkultur in der wilhelminischen Ära und der Weimarer Republik zwischen Völkischer Bewegung, Okkultismus und Neuheiden tum", in: Archiv filr Kulturgeschichte 8 1 (1999), 1 73-197, 1 73; dagegen M. Grisko, "Freikörper-
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dialer Hinsicht keineswegs als modernitätsfeindlich. Das ,ZurUck zur Natur' fand einen Ausdruck in der Vorliebe rur dasjenige Medium, dem eine besonders große ,Naturtreue' zugeschrieben wurde.
IV. Wie beurteilt man männliche Körperschönheit? Ein Beispiel rur die Schulung des normalisierenden Blicks bietet Gustav Möckel, der Herausgeber der Nacktkultur-Zeitschrift "Kraft und Schönheit" in einem 1 905 er schienenen Aufsatz mit dem Titel "Wie beurteilt man männliche Körperschönheit?". Möckel analysiert hier die Fotografie mehrerer Nacktgymnasten im Lichtluftbad. Die Abbildung ist prominent in der Mitte der zweiten Seite von Möckels Aufsatz und damit der Anfangsseite und der Überschrift direkt gegenüberliegend plaziert und stellt die erste Illustration - dass sie lediglich als solche fungieren soll, wird zu zei gen sein - seines Aufsatzes dar. Die Bildunterschrift lautet: "Eine Musterkarte von Menschenkörpern aus einem deutschen Luftbad, wie man sie selten wieder findet".
kultur und Lebenswelt: Eine Einleitung", in: Ders. (Hg.), Freikörperkultur und Lebenswelt: Stu dien zur Vor- und Frühgeschichte der Freikörperkultur in Deutschland. Kassel 1999, 9-41, 9.
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Mit didaktischer Intention nimmt Möckel einen Vergleich innerhalb der fotogra fierten Gruppe vor: ,,Dieses Bild zeigt nun eine ganze Reihe Typen, wie man sie wohl selten in gleicher ,Schönheit' bekommen hatte, wenn man sie hatte zusammensuchen sollen. Da ist rechts z.B. ein Mann im Stroh hut, der direkt unter Muskelschwund leiden muß, weil sein Körper aus fast nichts anderem als Haut und Knochen besteht. Die dOnnen Ärmchen sind vielleicht kaum noch im Stande, die leichten Han teln zu halten, und der heraustretende Rippenkorb zeigt deutlich, dass hier von einem Muskelansatz geschweige denn von einem Fettansatz gar nicht die Rede sein kann. Etwas weiter von ihm, etwa in der Mitte des Bildes, steht eine Figur, die etwas mehr Fleischansatz hat, aber auch noch weit unter dem Normaldurchschnitt steht. Das Gegenteil dieser beiden zeigt der dicke, wohigefllliige Mann im Vordergrund des Bildes, der gerade das zu viel an Fleisch und Fett hat, was die anderen beiden zu wenig haben. Die vierte Figur mit den über den Kopf verschrankten Armen, die sich an den Baum lehnt, dürfte eher dem Normaltypus entsprechen [ ... ]. Man dürfte also [... ] selten ein Bild sehen, das derartig ausgeprägte Figuren auf solch' kleinem Ausschnitt vereinigt, wie es dieses Bild tut.,,53
Möckel baut hier ein Vergleichsfeld zwischen den abgebildeten Individuen auf; er liest die Gruppenfotografie als disziplinäres Tableau. Die Anordnung der Individuen im Bild legt eine solche Lesart durchaus nahe.54 Das Medium der Fotografie, in dem die abgebildeten Individuen fest-gestellt sind und sich dem Blick nicht entziehen können,55 ermöglicht es Möckel, in aller Ruhe jeden einzelnen zu begutachten und " die Körper nach ihrer Abweichung vom "Normaltypus hierarchisch zu ordnen. Die ausfUhrlichen Erläuterungen Möckels zu dieser Gruppenfotografie - ich habe nur einen kurzen Ausschnitt zitiert - machen deutlich, dass das Dargestellte alles andere als evident ist. Implizit weist Möckel selbst, wenn er seine "Bilder mit Erklä rungen sprechen lassen" will, darauf hin, dass die Bilder nicht von alleine sprechen.56
53 G. Möckel, "Wie beurteilt man männliche Körperschönheit?", in: Kraft und Schönheit 5 (1905), 2-14, 5. 54 Allerdings wird die Vergleichbarkeit der Individuen dadurch gestört, dass einige der abgebilde ten Lichtluftbad-Besucher liegen, andere stehen. Möckel bezieht die Liegenden denn auch gar nicht in seine Betrachtungen ein; sein Interesse gilt den vier in der Mitte positionierten Mannern, die allesamt den Betrachter anschauen, sich des Fotografiertwerdens also durchaus bewusst zu sein scheinen. 55 Geral3mt und in einer Pose eingefangen, eignet dem fotografierten Körper etwas Lebloses. Diese Halblebendigkeit verbindet die Fotografie mit der Körperpraktik des tableau vNant, dem Nach stellen von Bildwerken durch lebendige Körper. Das in dem im 18. Jahrhundert (und erneut um 1 900) beliebten tableau v;vant vollzogene unbewegliche Posieren im Licht macht nachträglich den Eindruck, als "ginge es bereits um die Erfordernisse der erst zu erfindenden Medientechnik Photographie"; so C. Reiche, ,:Lebende Bilder' aus dem Computer: Konstruktionen ihrer Medi engeschichte", in: M. Schuller u.a. (Hg.), BildKörper: Verwandlungen des Menschen zwischen Medium und Medizin. Hamburg 1998, 123-1 65, 127. 56 Möckel, 3 (Anm. 53).
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Möckel formuliert daher eine ,Lese'-Anleitung, die das ,richtige' Sehen dirigieren soll.s7 Wenn in der Bildunterschrift sogar noch auf Möckels ausruhrliche - sprachli che - "Erklärung" der Fotografie verwiesen wird ("Siehe Erklärung Seite 5"), dann wird das Bedürfnis deutlich, das Bild allein als Illustration der im Text gemachten Ausftlhrungen gelten zu lassen und eindeutig festzulegen.s8 Es soll nicht ohne Mök kels Anleitung betrachtet werden. Durch die Versprachlichung wird die Konzentrati on dabei auf einen bestimmten Punkt gelenkt; der Blick soll nicht (mehr) unwillkür lich umherschweifen, sondern die Gegenstände nach einer vorgegebenen Rangfolge wahrnehmen.59 Dabei geht es allerdings bei Möckel - wie Foucault rur den ärztlichen Blick herausgearbeitet hat - weniger um eine sukzessive Lektüre als vielmehr um ein Erspähen, das auf Anhieb "den zentralen und entscheidenden Punkt" trifft.60 Komprimiert finden sich derartige Seh-Anweisungen in den Bildunterschriften, über die eine besonders enge Text-Bild-Relation hergestellt wird. Die Unterschrift fungiert dabei als Kommentar, der das Bild erschließen SOll.61 Das hier untersuchte Foto der Nacktgymnasten wird durch den Titel "Musterkarte von Menschenkörpern" in den Kontext industrieller Typisierung gestellt; damit ist ebenfalls - wenn vielleicht auch ungewollt - die Warenilirmigkeit des (modernen) Körpers angesprochen. Wenn man nun davon ausgeht, dass die Fotografie nicht in der Lage ist, "verallgemeinernde Aussagen zu machen", weil sie immer "einen einzigen Augenblick je singulärer
57 Dass Begriffe wie die "Lektüre" oder das "Lesen" von Bildern eine metaphorische Verschleie rung der Wahrnehmung von Bildwerken und eine - unzulassige - Vermengung von Sprechen und Sehen bedeuten, konstatiert O. Batschmann, ,,Bild-Text: Problematische Beziehungen", in: Fachschaft Kunstgeschichte München (Hg.), Kunstgeschichte - aber wie? 10 Themen und Bei spiele. Berlin 1989, 27-46, 29. 58 Diese lIIustrationsfunktion zeigt sich auch in der zwar prominenten Platzierung der Abbildung, die aber dennoch keine Gleichrangigkeit von Text und Bild, sondern eine Einbettung des Bildes in den Text bedeutet. 59 Vgl. A. Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr: Mediologie des 18. Jahrhunderts. Mün chen 1999, 412, der diese Art von Blickftlhrung als ..Blickdiatetik" beschreibt. 60 GdK, 136. Die Lektüre der Körperzeichen seitens des zu Beginn des 1 9. Jahrhunderts entstande nen klinischen Blicks ist als völlig transparente Übersetzung des Gesehenen konzipiert, als eine Art Wiederherstellung des natürlich Gegebenen in einer ..mit dem entziffernden Blick solidari sche[n) Sprache" und stellt damit eine totale Umstrukturierung der Wahrnehmung dar, die zu ei ner neuartigen Konfiguration des Sicht- und Sagbaren gehört (vgl. ebd., 19, 1 10 und 130). 61 Zu dieser Funktion von Bildunterschriften, die das Bild auf eine Illustration des Textes reduzie ren, vgl. M. Rutschky, ..Foto mit Unterschrift: Über ein unsichtbares Genre", in: A. Volk (Hg.), Vom Bild zum Text: Die Photographiebetrachtung als Quelle sozialwissenschaftlicher Erkennt nis. Zürich 1996, 1 17-134, 1 19. Dort auch zur Autonomie des Bildes ohne Unterschrift (vgl. ebd., 130f.).
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Objekte" wiedergibt,62 dann lässt sich die Betitelung des Bildes als "Musterkarte" als Versuch lesen, diese Einzigartigkeit des Abgebildeten aufzuheben. Über die Bildunterschrift wird diskursiv eine Beziehung zwischen Fotografie und den Textaussagen etabliert. Im Wechselspiel von Text und Bild kommt damit der Sprache ein privilegierter Status zu, zumindest was die Bedeutungsgenerierung be trifft. Das Bild wird abgesucht nach Propositionen, die mit der Bildunterschrift kor relieren.63 Aber wie Sarah Kofman betont hat, ,will das Bild nichts aussagen': "Wenn das sein Vorhaben wäre, wäre es tatsächlich dem Wort unterlegen und müßte von der Sprache ,aufgehoben' werden, um eine Bedeutung, eine klar umrissene Bedeutung zu erhalten." Es sei aber vielmehr die Eigenständigkeit des Bildmediums zu betonen: "Zwischen der figurativen Ordnung des Bildes und der diskursiven Ordnung der Sprache gibt es einen Spielraum, der durch nichts auszuftlHen ist".64 Die Frage nach dem ,Medienverbund' in der Körpernormalisierung stellt sich insbesondere deshalb, weil der Nacktkultur-Diskurs als kuIturkritischer Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts an einer Rhetorik der ,Entdiskursivierung' partizipierte. Sichtbarkeit und Verkörperung wurden gegen die ,abstrakte Sprache' ins Feld ge ftlhrt.6s Möckels Leseanleitungen machen deutlich, dass eine solche Entdiskursivie rung nicht funktioniert, dass das Bild durch die Schrift supplementiert werden muss wie auch der Text durch die Bilder. So wie Bilder durch Texte eine Semantisierung erfahren, so erhalten Texte durch Bilder eine Rejerenlialisierung.66 Die eingangs benannte Funktion von Bildern, eine optische Vereindeutigung ,normalschöner' Körper vorzunehmen, ist damit als Referentialisierungsfunktion zu präzisieren. Denn ein Bild kann zwar ,normalschöne' Menschen darstellen, aber es bedarf der sprachli chen "semantische[n] Klassenbildung und Abstraktion", um zu wissen, dass diese Körper ,normalschön' sind.67 Wenn nun von Referentialisierung die Rede ist, muss bedacht werden, dass Aussagen sichtbar machen, aber "etwas anderes [...] als das,
62 B. Fritzsche, "Das Bild als historische Quelle. Über den (Nicht-)Gebrauch von Bildern in der historischen Forschung", in: Volk (Hg.) (Anm. 61), 1 1-24, 19. 63 Vgl. M. Tietzmann, "Theoretisch-methodologische Probleme einer Semiotik der Text-Bild Relationen", in: W. Hanns (Hg.), Text und Bild, Bild und Text: DFG-Symposion 1988. Stuttgart 1 990, 368-384, 375t: und 380. Nach Tietzmann kann (im Unterschied zum diskreten, lexikali sierten sprachlichen Signifikanten) die Linie, die Form, die Farbe eine bedeutungsdifferenzie rende oder bedeutungstragende Funktion besitzen, sie muss es aber nicht; vgl. ebd., 377. 64 S. Kofinan, Melancholie der Kunst, hg. v. P. Engelmann. Wien 1998, 2 1 . 6 5 Zur neuen Wahrnehmungskultur i n den 1920er Jahren, die ,,gegen ,Buch- und Schriftkultur' auf das mimetische Vermögen setzte", vgl. Baxmann, 8 (Anm. 5 1 ). 66 Tietzmann, 380 (Anm. 63). 67 Ebd.
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was sie sagen".68 So heißt es in der "Ordnung der Dinge", dass man vergeblich das ausspreche, "was man sieht" und das, "was man sieht", nie in dem liege, "was man sagt".69 Möckel versucht, diese Kluft zu verwischen, wenn er Sagen und Sehen in Form einer transparenten Übersetzung des Gesehenen in Sprache zu verketten sucht.
V. Eine KörperBILDungsgeschichte Ein anderer und doch auch wieder ähnlicher Umgang mit dem Medium der Fotogra fie lässt sich bei Richard Ungewitter (1 868- 1958) beobachten, einem Protagonisten der frühen Nacktkultur, der zugleich ihr auflagenstärkster Autor war. Ungewitter hat ebenfalls 1905 in "Kraft und Schönheit" einen Artikel publiziert, der den Titel trägt: "Was energisch durchgefilhrte vernünftige Leibeszucht zu leisten vermag". Ungewitter schildert hier sein nacktgymnastisches Training, das unbedingt vor dem Spiegel auszufilhren sei. Er dokumentiert sehr genau seine Körper Bildungsgeschichte. Er be-schreibt sie nicht nur, sondern notiert auch in Tabellen form die Ergebnisse der Körpermessungen, die er in regelmäßigen Abständen an sich selbst durchfilhrt.70 Vor allem aber hält er seine körperliche Entwicklung in Fotogra fien fest. In den Vorher-Nachher-Bildvergleichen, die sich auch in anderen nackt kulturellen Publikationen großer Beliebtheit erfreuen, geht es um eine Verifizierung des neugeschaffenen Körpers, vor sich selbst und anderen.'· Dem Medium der Foto68 Deleuze, Foucault, 96 (Anm. 8). 69 OdD (1999), 38. Foucaults Überlegungen zur Kraft von Bildem, die die Sprache als vermeintlich
geschlossenes System irritieren, skizziert M. Jay, Downcast Eyes: The Denigration of Vision in Twentieth-Century French Thought Berkeley, CA u.a. 1 993, 413. Dass Sichtbarkeit dabei nicht mit Visualisierung gleichzusetzen ist, betont T. Holert, "Bildfähigkeiten: Visuelle Kultur, Reprä sentationskritik und Politik der Sichtbarkeit", in: Ders. (Hg.), Imagineering: Visuelle Kultur und Politik der Sichtbarkeit Köln 2000, 14-33, 20. 70 Dass diese Art von Aufzeichnungen Ober den eigenen Körper bereits in der Nacktgymnastik bzw. dem Bodybuilding um 1900 Oblich war, zeigen A. Mertensl T. Vahl, "Fitness Anleitungsbocher: Von Sandow Ober Pearl bis in unsere Zeit", in: A. Krüger! B. Wedemeyer (Hg.), Kraftkörper - Körperkraft: Zum Verständnis von Körperkultur und Fitness gestern und heute. Göttingen 1995, 32-51 . 71 Die Körperbildung galt dabei als Ausdruck geistig-seelischer Entwicklung. Anhand (der Foto grafien) des Körpers, an .,seinen Leistungen lesen wir den Fortschritt unserer Selbst ab"; so F. Giese, "Körperseele und Gymnastik", in: Die Schönheit 17 (1921), 450-462, 452. Dass Foucault in seinen Texten (auch) mit Vorher-Nachher-Bildern arbeitet, stellt J. Rajchman, "Foucaults Kunst des Sehens", in: Holert (Hg.), 40-63, 4 1 (Anm. 69), heraus. Foucault nutzt die ses wirkungsvolle Mittel jedoch nicht, um eine kontinuierliche Entwicklung zu visualisieren, -
1 66
grafie wird dabei eine Beweisfunktion zugeschrieben, die weit über das von Roland Barthes als Charakteristikum der Fotografie bestimmte: "daß die Sache dagewesen " ist n hinausgeht. Über die Montage von Vorher-Nachher-Fotos, über die Bilderfolge wird zudem eine Verzeitlichung des Bildmediums angestrebt, gleichsam eine Narra tivierung vorzunehmen versucht.73 Ungewitter schreibt seine eigene Fallgeschichte. Sich selbst vermessend und damit eine - im Verhältnis zu den zeitgenössischen Kör pervermessungen in Ethnologie und Rassenkunde - privilegierte Stellung einneh mend, registriert er den sich laufend verringernden Abstand von der Norm. Zugleich ist die kontinuierliche nacktgymnastische "Arbeit am Leib", diese "Autoplastik", auch eine Selbstausarbeitung, die, begleitet von autobio-grafischen und foto-grafischen Notizen, als Selbsttechnik zu verstehen ist.74 Fotografie und Spiegel konvergieren dabei als Medien der (narzisstischen) Selbstvergewisserung im Eben bild.7S Spiegel und Fotografie lassen sich als Apparaturen beschreiben, die das Spie gelstadium konkretisieren.76 In (dem Spiegel) der Fotografie tritt der Körper dem Selbst aber auch als etwas Anderes, Fremdes entgegen, das den Selbstbesitz in Frage stellt. Identitäre "Versi cherung" und "Verunsicherung" sind demnach schon dem Medium eingeschrieben, wie Gunnar Schmidt gezeigt hat.77 In der Veräußerlichung und Verdinglichung des Selbst in der Fotografie78 liegt - neben und in ihren normalisierenden Momenten die Möglichkeit auch eines experimentellen Umgangs mit dem Selbst. Gerahmt und
72 73
74 75
76 77 78
sondern um durch diese Kontrastierung auf markante BrUche hinzuweisen. Zur Bedeutung von Bildzeichen, Bildmetaphern und Text-Bild-Relationen in Foucaults Texten vgl. auch H.-J. Lüse brink, "Iconotextes: Über Bilder und Metaphemnetze in den Schrifttexten Michel Foucaults", in: K. Dirscherl (Hg.), Bild und Text im Dialog. Passau 1993, 467-486. R. Barthes, Die helle Kammer: Bemerkungen zur Fotografie. FrankfurtlM. 1985, 86. Die Zeit ist aber "das Element der Unsichtbarkeit selbst"; so J. Derrida, Falschgeld: Zeit geben I. München 1993 (Paris 1991), 1 5 . Das Bild besteht, anders als der Text, aus einer Menge simultan gegebener Elemente. Allein die Bildserie ermöglicht eine Art von Temporalisierung. Zum Selbst als traditionsreichem "Thema oder Gegenstand des Schreibens" vgl. Lmsl, 38. Zur neuen Selbstwahrnehmung durch die Verbreitung großflächiger Spiegel am Ende des 19. Jahrhunderts vgl. O. Penzl W. Pauser, Schönheit des Körpers: Ein theoretischer Streit ober Bo dybuilding, Diät und Schönheitschirurgie. Wien 1995, 55; rum Medium der Fotografie, das ,je dem BOrger sein Abbild" verschaffte, vgl. K. Schambach, "Photographie - ein bürgerliches Me dium", in: D. Heini A. Schulz (Hg.), Borgerkultur im 19. Jahrhundert: Bildung, Kunst und Le benswelt. Lothar Gall zum 60. Geburtstag. München 1996, 66-81, 66. Vgl. B. Stiegier, "Verkehrte Aufzeichnungen und photographische Wiedergabe", in: M. WetzeV G. Agamben (Hg.), Ethik der Gabe: Denken nach Jacques Derrida. Berlin 1993, 193-210, 198. G. Schmidt, ,,Ästhetik des Schreckens: Zu einigen Aspekten der medizinischen Fotographie im 19. Jahrhundert", in: Fotogeschichte 15 (1995), 23-35, 34. Vgl. Penzl Pauser, 56 (Anm. 75).
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damit in einen neuen Kontext gestellt, ermöglicht das Photo andersartige Sichtweisen auf das abgebildete Obj ekt.79 Der fotografische Blick bestimmt dabei nicht nur die Wahrnehmung des Ich als Objekt, sondern bereits dessen Konstitution. Den fotogra fischen Blick antizipierend und voraussetzend, ist j ede Geste auch Pose, jede Selbst
präsentation ein Posieren - als Andere/r.80 Das fotografische (Selbst-)Porträt als eine vielschichtige und ambivalente Selbsttechnik zeigt hier seinen performativen, poten tiell offenen Charakter. Das Problemfeld Nacktheit - Sichtbarkeit - Fotografie habe ich hier nur anreißen können. Es ging mir darum, die Nacktheit in der Freikörperkultur als normalisierende Sichtbarrnachung und diese (neue) Sichtbarkeit als Produkt historisch-spezifischer Praktiken des Sehens herauszustellen. Das Medium der Fotografie hat an der Kon stitution wie an der Bestätigung dieser sichtbaren Nacktheit einen wesentlichen An teil gehabt. Im Zentrum meiner Überlegungen stand der (selbst-)normalisierende Blick, der
begrenzend - hervorbringt, was überhaupt gesehen werden konnte.BI Er trifft weniger auf ein Obj ekt als vielmehr auf ein epistemisches Feld, das linguistisch wie visuell
konstruiert iSt.B2 Der normalisierende B lick in der Nacktkultur, der - diskursiviert zum Gegenstand der historischen Analyse wurde, ist informiert von einem auch in Worte gefassten Normalisierungswissen. Dem Verhältnis von Sicht- und Sagbarem
im
normalisierenden Blick kann man sich vielleicht nähern durch eine gemeinsame
Analyse von Text- und Bildquellen83 sowie den Verknüpfungen, die in nacktkultu rellen Texten zwischen Bild und Text hergestellt wurden. Dabei lässt sich allerdings keine eindeutige Zuordnung des fotografischen Mediums zur Ordnung des Sichtba ren und des Textes zur Ordnung des Sagbaren vornehmen. Denn auch der Text be sitzt ein sichtbares Textbild und die Foto-Grafie als Licht-Schrift stellt auch - zu mindest ansatzweise - ein codiertes und codierendes Aufzeichnungssystem dar. Zu fragen bleibt, wie sich die historisch-spezifische Konfiguration von Sicht- und Sag barem in den unterschiedlichen Medien jeweils artikuliert - und inwiefern Theorien zur Inter-Medialität, mit deren Hilfe sich das "Inter" als ein unüberbrückbares Zwi-
79 Vgl. Lury, 3 (Anm. 49). Dort ausflIhrlieh zu "the advent-ure ofthe self-as-other" ; ebd., 43. 80 Dass hier auch eine Selbstprasentation jenseits von Intentionen, eine nicht kontrollierbare Selbstpreisgabe mitzudenken ist, betont D. Mersch, "Körper zeigen", in: E. Fischer-Lichte u.a (Hg.), Verkörperung. Tübingenl Basel 2001, 75-89, 81f. Es ist die "Differenz zwischen Etwas Zeigen und Zeigen-als", die es zu bedenken gilt; ebd., 84. 81 Für eine Geschichte "nicht nur dessen, was gesehen wurde, sondern auch dessen, was gesehen werden konnte, was ersichtlich und sichtbar war', plädiert Rajchman, 42 (Anm. 7 1). 82 Vgl. Jay, 393 (Anm. 69). 83 Zur Fotografie als Bildquelle vgl. J. Jäger, Photographie: Bilder der Neuzeit. Einfilhrung in die Historische Bildforschung. Tübingen 2000.
168
sehen konzeptualisieren ließe, Anregungen rur eine Klärung dieser Frage bieten
könnten.84 Notwendig sind diese Überlegungen gerade rur eine Körpergeschichte, die
es immer auch mit Siehtbarkeiten zu tun hat.
84 Auch das Verhältnis von Medium und Diskurs ware genauer zu diskutieren. Vgl. dazu S. An driopoulos, Besessene Körper: Hypnose, Körperschaften und die Erfindung des Kinos. MUnchen 2000, 23.
1 69
Der Orgasmus der Wohlgeborenen: Die sexuelle Revolution, Eugenik, das gute Leben und das biologische Versuchslabor Heiko Stoff
Der Orgasmus, Triumph des Lebens, Moment der Befreiung, geheimer Ort der Nor mierung, erscheint im Laufe des
20. Jahrhunderts als der einzige Sinn des Sexes.
Wäre es allzu waghalsig zu behaupten, dass die Trennung von Sexualität und Fort pflanzung als das herausragende körperpolitische Charakteristikum des derts die Existenz zweier Körper generiert? Ein
Lustkörper als
20. Jahrhun
Sender und Empfän
ger von Sensationen und ein expertisch angeleiteter, bevölkerungspolitisch konstitu ierter und kollektivierter
Fortpjlanzungskörper.
Was das biologische Zeitalter her
vorgebracht hat sind zwei Arten der Verkörperung: ein individuell (er-)Iebbarer, im hormonellen Gleichgewicht gehaltener physiologischer Körper und ein genetisch bestimmter Volks- oder Bevölkerungskörper. Privatisierung der Lüste und Verstaat lichung der Fortpflanzung - ist es nicht das, was Michel Foucault als Bio-Macht bezeichnet? Um
1 900 bestimmen zwei neue Imperative die von ebenso neuen Experten, den
Sexualwissenschaftlern, angeleitete Debatte über Fortpflanzung und Sexualität. Der Imperativ tur den modemen Menschen, und das schloss auf besondere Weise Frauen mit ein, lautete: Hab einen Orgasmus! Der Imperativ tur die Bevölkerung der Indust riestaaten hieß hingegen: Verhütet die Geburten unerwünschten Nachwuchses! Die moderne Geburtenkontrolle und das universelle Anrecht auf sexuelle Befriedigung sind zum gleichen Zeitpunkt entstanden. Die Wahrheit über das Begehren und die Fortpflanzung generiert zugleich individuell erlebte und staatlich kontrollierte Exis tenzen. Lebensintensivierung und Bevölkerungsregulierung sind zentrale Elemente bei der Konstituierung neuer Subjekte: Disziplinierte Individuen, aufgeklärt und mündig, versehen mit dem Recht auf die Befriedigung ihrer Wünsche, und verant wortlich tur die individuell und gesellschaftlich vorteilhaften oder nachteiligen Fol gen ihrer Sexualität. Diese neuen Menschen sind zufrieden befriedigte Herrscher über ihre Lüste, aber niemals Unterworfene des biologischen Schicksals. Es soll im Folgenden auf einen diskursiven Widerstreit hingewiesen werden, et was, was Foucault als "taktische Polyvalenz der Diskurse" bezeichnet, welcher die Relation von staatlichem Zugriff und individuellen Wünschen zu Beginn des
1 70
20.
Jahrhunderts in Bewegung versetzte. Es handelt sich um differente Diskurse, denen die strategische Funktion in einem Dispositiv zukommt, ,,zu einem gegebenen Zeit Notstand (urgence) zu antworten". 1 Mit Hilfe des amerikanischen
punkt, auf einen
Kulturwissenschaftlers Lawrence Birken werde ich die widerstreitenden Diskurse des Sexualitäts-Dispositivs als "produktivistisch" und "konsumistisch" bezeichnen. Bir ken postuliert fUr den ökonomischen und sexologischen Diskurs der Jahrhundert wende die Ablösung eines einen
Konsumismus
Produktivismus
von Arbeit, Geschlecht und Bedarf durch
von Lust, Geschlechtslosigkeit und Begehren. Damit verkündet
Birken weniger eine Merkantilisierung des Sexuellen als eine Sexualisierung des Ökonomischen durch ein idiosynkratisches Begehren.2 Es ist von großer Bedeutung fUr eine Körpergeschichte zu zeigen, dass der
konsumistischen Neuordnung der Bio
Macht neue Körper korrespondieren, die in den Laboratorien der Biomedizin eta bliert wurden: der hormonelle Lustkörper und der genetische Fortpflanzungskörper.
1. Bio-Macht Es muss mittlerweile wieder daran erinnert werden, dass Michel Foucault keine Geschichte der Herrschaft, sondern der Machtverhältnisse schrieb.3 Die problemati sche Identifizierung der Macht mit staatlicher Herrschaft hat allerdings Foucault selbst mit der Dramaturgie seines Bio-Macht-Konzeptes provoziert, wenn er die Frage, wie das Leben zum privilegierten Ort der Macht werden konnte, in der totali tären Herrschaft münden lässt. Foucault behauptet einen im klassischen Zeitalter positionierten historischen Einschnitt, bei welchem das bloß negative Verhältnis von
2
3
"Taktische Polyvalenz", das ist die "Vielfllltigkeit von diskursiven Elementen, die in verschie denartigen Strategien ihre Rolle spielen können"; SuWI (1983), 122-124. Zum Begriff des Dis positivs siehe SudP, 1 19-125. Die These vom "Widerstreit der Diskurse", die im übrigen nicht an Lyotard gemahnen soll, entspricht also nicht Foucau1ts eigener Ausfilhrung, bei der eine ständige "Readjustierung" heterogener Elemente verlangt wird. Es handelt sich vielmehr um antagonisti sche Diskurse, die differente Entwicklungsmöglichkeiten eines Dispositivs erlauben. Siehe L. Birken, Consuming Desire: Sexual Science and the Emergence of a Culture of Abun dance, 187 1 -1914. Ithaca, NY! London 1988, 47, 1 1 1 . Es muss an dieser Stelle betont werden, dass Birkens Konzept des Konsumismus keineswegs die Ideologie der Konsumgesellschaft ist, auch wenn diese sozusagen den Nahrboden des Konsumismus darstellt. Auch Giorgio Agarnben, der Foucaults Bio-Macht-Konzept fortschreibt, betont zwar die Wich tigkeit der Loslösung der Machtanalyse von deren ,juridisch institutionellem Modell", ohne dies jedoch konsequent umzusetzen. Was immer bleibt, sind der kontrollierende Staat und das zwangsweise oder freiwillig kontrollierte Individuum. Siehe G. Agarnben, Homo sacer: Die sou veräne Macht und das nackte Leben. FrankfurtlM. 2002 (Turin 1995), 1 5.
171
Macht und Recht zum menschlichen Leben in ein positives Verhältnis transformiert wurde.4 Noch bis in das 1 7. Jahrhundert, so Foucault, war das charakteristische Pri vileg der souveränen Macht die Verfilgungsgewalt über Leben und Tod der Subjekte, die in dem Vorrecht gipfelte, sich des Lebens zu bemächtigen, um es auszulöschen. Das Recht und die Macht über das Leben zeigte sich in der Realisierung oder Nicht Realisierung des Tötens. Wie Foucault hervorhebt, ist dieses Recht über Leben und Tod ein asymmetrisches Recht, denn es funktioniert nur über den Tod, über den Akt des Tötens oder Nicht-Tötens. Es lag keineswegs in der Macht des Herrschers, das Leben ebenso zu gestalten wie das Sterben. Der souveräne Wille bestand darin, "sterben zu machen oder leben zu lassen".s Dieser Geschichte der souveränen Herr schaft vom Leben und Sterben widerfuhr eine gewichtige Umformung, welche im Jahrhundert in der Installation eines neuen Rechts kulminierte:
19.
der Macht, leben zu
machen und sterben zu lassen. Nach Foucault handelt es sich dabei um eine "biologi sche Modernitätsschwelle". An die Stelle der souveränen Morddrohung trat die mo deme Verantwortung ftlr das Leben. Dabei, so ftlgt er an, handelte es sich um eine umfassende und grundsätzliche Wandlung, welche alle menschlichen Beziehungen, nicht nur die des Staates zu seinen Untertanen, erfasste.6 War der Tod im klassischen Zeitalter das Absolute der Macht, sollte er in der Modeme ganz aus dem Machtbe reich verschwinden. War das Leben im klassischen Zeitalter außerhalb des Machtbe reiches, sollte es in der Modeme zum Absoluten der Macht werden. Das Kennzei chen dieser neuen Macht, der Disziplinierung des Individuums und der Regulierung der Bevölkerung, ist es, das Leben zu intensivieren und den Tod vergessen zu ma chen. Die höchste Funktion der Macht ist seit dem
1 8. Jahrhundert nicht mehr das
Töten, sondern die vollständige Durchsetzung des Lebens. Das, was die B io-Macht der Modeme alleine interessiert, ist es, im Leben zu intervenieren, das Leben zu steigern und die Unfälle, die Zufälle, die Schwächen, also den Tod als Endpunkt des Lebens zu kontrollieren.1 Foucault selbst konstruiert j edoch eine logische Konsequenz der Bio-Macht, ei nen Paroxysmus der Disziplinar- und Regulierungsmacht, der in der eugenischen und rassenhygienischen Bevölkerungspolitik gipfelt. An dieser Stelle wird es offenbar, dass Foucault das Konzept der B io-Macht vor allem deshalb einftlhrt, um eine Mög lichkeit zu eröffnen, den Rassismus neu zu denken. Der rassistische Normalismus ist danach der grundlegende Machtmechanismus der modemen Gesellschaften, ein
4 5 6 7
Siehe Lmsl, 27-50, 28. Foucault ftIhrte dieses Konzept am 1 7. März 1976 in einer Vorlesung am "College de France" aus und formulierte es erstmals im letzten Kapitel von SuWl . Lmsl, 28 und SuW l(1983), 161f. SuWl (1983), 170. Siehe Lmsl, 35.
172
Mittel der Selektion zwischen dem, was leben muss und dem, was sterben muss. Genauer existiere ein biologisiertes Kausalitätsverhältnis zwischen Sterben und Le ben, denn je mehr von den einen sterben, desto besser wird das Leben der anderen sein: "Der Tod des anderen, der Tod der schlechten Rasse, der minderwertigen Rasse (oder des Degenerierten oder des Anormalen) wird das Leben im allgemeinen gesün s der und reiner machen." Es ist nicht schwer, diese Denkfigur, welche das Leben der einen, als das Leben
sich,
an sich, mit dem
Sterben der anderen, als den Lebensfeinden
an
in ein kausales Verhältnis setzt, in den Texten der langen Jahrhundertwende
ausfindig zu machen. Modellhaft schlugen der Jurist Karl Binding und der Psychiater Alfred Hoche
1 920 einflussreich vor, das "Rechtsgut Leben" vor der Bedrohung
durch den negativen Wert des "Iebensunwerten Lebens" zu schützen und diese wis senschaftliche Erkenntnis in ein Euthanasieprogramm zu übersetzen. 9 Die Konse quenz der Bio-Macht, so behauptet neuerdings Giorgio Agamben, das sind die Lager des Totalitarismus. Dies ist j edenfalls die Geschichte, die im Rekurs auf Bio-Macht und B io-Politik erzählt und wiederholt wird: Die Bio-Macht konstituiert die Existenz des nackten Lebens, auf welches selektierend, disziplinierend, regulierend eingewirkt werden darf. Zwischen individualistischen Selbsttechniken und totalitaristischem Zugriff besteht nur ein gradueller Unterschied. Der Körper ist sowohl Ort der Unter 1 werfung als auch der individuellen Freiheit. 0 Eine solche Verwendung des Bio Macht-Konzepts kann den positiven Lebensbegriff des modernen Individualismus nur als unzuverlässige Ableitung totalitärer Herrschaft begreifen. Aber weder kann damit die nationalsozialistische Vernichtungspolitik erschöpfend erklärt werden, und droht sogar der moderne Antisemitismus einer allgemeinen Logik der Moderne un terworfen und damit nivelliert zu werden, noch lassen sich die zahlreichen Varianten biologischer Politik und politischer Biologie.
die Macht Leben zu machen,
so diffe
renzieren, wie es notwendig wäre, um deren elementare, die nazistische Herrschaft 1 übersteigende Bedeutung rur das 20. Jahrhundert zu analysieren. 1 Agamben selbst verwendet rur die Lebensvernichtungspolitik den Begriff "thanatopolitisch". Es wäre sinnvoll, damit die wichtige Differenz zu j ener Biopolitik zu betonen, welche im
8
Lmsl, 43. Unabhllngig und mit einem methodisch differenten Ansatz kommt auch Zygmunt Bauman zu einem ahnlichen Ergebnis. Siehe Z. Bauman, Modeme und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Harnburg 1992 (Carnbridge 1991). 9 K. Binding! A. Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens: Ihr Maß und ihre Form. Leipzig 1 920. Siehe dazu unter vielen anderen auch Agamben, 145-1 52 (Anm. 3). 10 Agamben, 127-134 (Anm. 3). 1 1 Diese Kritik richtet sich mehr an die Foucault-Rezeption als an Foucault selbst. Agamben als deren prominentester Protagonist betont selbst, dass er keinerlei historiografischen Anspruch er hebe. Es ist also eine geschichtswissenschaftliche Aufgabe, dieses historisch-philosophische Projekt kritisch zu prüfen. Siehe Agamben, 20f. (Anm. 3).
1 73
Gegenteil ein universelles Recht auf Lebendigkeit als Menschenrecht hervorhebt, welches die individuelle Wohlgeborenheit und das individuelle Recht auf Befriedi gung zum obersten Lebensprinzip erklärt. 12 Der Orgasmus sollte zugleich Mittel und Zweck dieses vitalen Widerstandes darstellen.
H. Produktivismus und Konsumismus Lawrence Birken hat in seiner ausdrücklich als Erweiterung des Foucaultschen An satzes bestimmten Veröffentlichung über die Sexualwissenschaft der Jahrhundert wende auf einen epistemischen Wechsel des Körperkonzeptes hingewiesen. In Kon kurrenz zum Primat des ökonomisch und sexuell produktiven Körpers trat zumjin
siecle
de
der ökonomisch und sexuell konsumierende Körper. Birkens Grundaussage
lautet dabei, dass die neoklassische Ökonomie die vorrangige Bedeutung des Kon sums und nicht der Produktion als eine anthropologische Konstante behauptete, die das Begehren der Erzeugung von Gütern voranstellt. Zur gleichen Zeit lösten implizit die Sexualpathologie und explizit die Sexualwissenschaft die
riationen von der Heterogenitalität. 1 l begann zu Beginn des die produklivistische
Perversionen
als
Va
Mit der Sexualwissenschaft, so schreibt Birken,
20. Jahrhunderts eine konsumistische (consumerist) Ideologie
(productivist)
Ideologie der Sexualpathologie abzulösen. Wäh
rend letztere prinzipiell zwischen sexuellen Akten unterschied, die der Fortpflanzung dienten oder nicht dienten, fragte erstgenannte nach der homo- oder heterosexuellen Präferenz. Entscheidend war nunmehr das Subjekt-Objekt-Verhältnis, der Wunsch der Konsumierenden schon im
(consumer choices). 14 Dies
soll nicht bedeuten, dass nicht auch
1 9. Jahrhundert der sexuellen Befriedigung eine bedeutungsvolle Rolle in
der Stabilisierung nur allzu leicht destabilisierbarer Geschlechtskörper zugewiesen wurde, jedoch etablierte der
konsumistische
Diskurs ein der Reproduktion vorrangi
ges Primat der Suche nach Befriedigung. An die Stelle des (aufgestauten) Bedarfs
12 Agamben, 130f. (Anm. 3). Es ist der Widerstand selbst, der sich im Namen des Lebens, im Namen der Bio-Macht, gegen die Herrschaft erhebt: "Das ,Recht' auf das Leben, auf den Kör per, auf die Gesundheit, auf das GlOck, auf die Befriedigung der BedOrfnisse, das ,Recht' auf die Wiedergewinnung alles dessen, was man ist oder sein kann". Siehe SuWI (1983), 173. 13 Birken behauptet dabei einen dreistufigen graduellen und unvollendeten Prozess der Transfor mation des Begehrens von einer grundsatz.lichen Unterscheidung von Heterosexualitllt und Per version, Ober eine umfassende Heterosexualisierung auch der Homosexualität im Prinzip der In version bis zum Entstehen eines hetero- und homosexuellen tendenziell verallgemeinerten Be gehrens. Siehe Birken, 30f., 92-1 12, 122 (Anm. 2). 14 Birken, 92, 1 1 1 (Anm. 2). 1 74
trat das kaum zu befriedigende Begehren. Aus der Sicht der Konsumierenden gibt es nur die Befriedigung oder Nicht-Befriedigung ihrer Wünsche:s Aus Warenprodu zenten, so bestimmt der Soziologe Zygmunt Bauman diesen Vorgang, wurden Wa renkonsumenten, "deren Rolle im
Sammeln
von
Lust
- genauer
Erregung
- be
steht,,: 6 Für die sinnvolle Organisation der Orgasmen, die adäquate Deckung der Nachfrage, die Befriedigung der Konsumwünsche, so wussten in den zwanziger Jahren bereits sozialistische Sexualreformer, war deren Kollektivierung und Ver trustung notwendig. Ein Ausbleiben der wirklichen sexuellen Revolution musste schließlich zu jenen Verteilungsproblemen fUhren, unter denen
am Ende des 20.
Jahrhunderts die Protagonisten in Michel Houllebeques Romanen so schrecklich leiden. 17 In Birkens Geschichte folgt auf die "männlich-weiblich Ideologie" des 1 8. und 19. Jahrhunderts eine "egalitäre Ideologie von Konsumenten, die unter der einen
Funktion des Begehrens vereint sind" . 18 Zur Jahrhundertwende etablierten sich sub stanziell instabile Körper - sexuelle Zwischenstufen, Objektbeziehungen, Mischwe sen - in einer neuen sexual-ökonomischen Ordnung, die bei allen Anpassungen an die hegemoniale hierarchische Gliederung alleine noch
quantitativ
unterschiedlich
sind: Männer und Frauen, Alte und Junge, Weiße und Schwarze, Normale und Anormale - all das waren von nun an nichts anderes als subtile Abstufungen und normale oder normalisierbare Mischungen. Das Begehren, so lautet die neue Se xualmoral, kennt keine Unmoral oder Degeneration, sondem nur Variationen und polymorphe Perversität als eine Form individualisierter Lust. Der Konsum kennt
1 5 Birken, 25f., 31-35, 50f. (Anm. 2). Tim Armstrong unterschlägt Birkens diskurstheoretische Fassung der Relation von Ökonomie und Sexualität, wenn er dessen These auf die Behauptung eines desublimierten, begehrenden Körpers als ökonomischen Motor reduziert. Siehe T. Arm strong, Modernism, Technology and the Body: A Cultural Study. New York/ Cambridge 1998, 9. 16 Z. Bauman, "Über den postmodernen Gebrauch der Sexualität", in: G. Schmidtl B. Strauß (Hg.), Sexualität und Spätmoderne: Über den kulturel1en Wandel der Sexualität Stuttgart 1998, 17-35, 20, 28f. Es sind dies die "orgasm addicts", von denen die Buzzcocks 1 977 sangen. 1 7 Siehe etwa die sexualökonomische Vision des radikalen Jungsozialisten Helmut Wagner: "Wie das individuel1e Privateigentum an den Produktionsmitteln abgelöst wurde durch ein kol1ektives Privateigentum der Aktiengesel1schaften und Trusts, so wird das sexuel1e Privateigentum in der Ehe abgelöst durch sexuel1es Kol1ektiveigentum: ,Sexuel1e Freiheit', kapitalistische Weiber- und Männergemeinschaft, vertrustete Sexualität"; siehe H. Wagner, "Die neue Moral", in: Urania 5 (1 928129), 349-351, 3 5 1 . Mit dieser sexuel1en Planwirtschaft wäre jene Anarchie der kapitalisti schen Sexualökonomie aufgehoben, welche Michel Houl1ebeque zum Fluch der sexuel1en Re volution erklärt; Houl1ebeque, Elementarteilchen. Köln 1 999 (paris 1998), 7 1f., 1 29f., 182. 18 Siehe Birken, 132 (Anm. 2).
175
1 prinzipiell keine Amoralität. 9 Kann mit dieser Unterscheidung widerstreitender Diskurse das Geftlge von Macht-Leben-Herrschaft nicht vielleicht ertragreicher erfasst werden? An der Verwandlung des Orgasmus vom Zeichen der Eugenik zum Symbol leistungsfähiger Lebenskraft einerseits, zur sammelbaren Lustempfindung andererseits lässt sich dieses Dispositiv widerstreitender Diskurse exemplifizieren und als Körpergeschichte des
20. Jahrhunderts verfassen.
III. Sexuelle Revolution Ende des
1 9. Jahrhunderts schienen sich promiskuitive Sexualpraktiken von den
Winkeln der Bohemia, den Geheimverstecken der herrschenden Klasse und gewissen übelbeleumdeten Vierteln aus in die transatlantischen Gesellschaften zu verbreiten. Zugleich schufen die Klassiker der Sexualpathologie ein erstaunlich variantenreiches Repertoire der Lüste. Die Sexualwissenschaft wiederum reformulierte die pathologi sche Ordnung in einem System der Variationen sexueller Identitäten und Praktiken. Die Sexualreformbewegung sollte schließlich in den zwanziger Jahren eine "Magna Charta der sexuellen Menschenrechte" ausformulieren: Ein sexuelles Selbstbestim mungsrecht und das Recht auf den eigenen Körper, eine selbstbestimmte Fortpflan zung, das Recht auf Befriedigung des Geschlechtstriebs auch außerhalb der Ehe 0 sowie die Gleichberechtigung der Geschlechter und der sexuellen Minderheiten.2 An die Stelle der monogamen Fortpflanzungsgemeinschaft trat die polymorphe Lustbe frledigung, aus den verfemten Perversionen wurden Variationen der Lust. Sexualität, das war nicht länger der ungebrauchte Besitz notorisch unbefriedigter Ehepaare, sondern das Privileg der ewigen Jugend der transatlantischen Metropolen. In die Geschlechterbeziehung, so bemerkte zeitgenössisch der Psychoanalytiker Otto Gross, trat neben die alte Sorge der Frau, ob der Mann sie am Leben lasse, die neue Frage, ob dieser Mann auch in der Lage sei, das Leben der Frau zu machen, es zu intensivie-
19 Siehe auch dazu Birken, 3 1 f., 48-52, 65-67 (Anm. 2). Für Zygmunt Bauman vollzog sich eine ..erotische Revolution", die zum Entstehen einer ..postmodernen Kultur" beitrug. Siehe Bauman, ..Gebrauch", 20-29 (Anm. 16). Anthony Giddens wiederum bezeichnet die Trennung von Fort pflanzung und Sex, welche die sexuelle Revolution begrOndet, auch als ..plastic sexuality". Siehe A. Giddens, The Transformation of Intimacy: Sexuality, Love and Eroticism in Modem Socie ties. Cambridge 1 992, 27. 20 Eine solche ..Magna Charta" formulierte der Soziologe Rudolf Goldscheid. Siehe M. Hirschfeld, ..Was will die Zeitschrift ,Sexus'?", in: Sexus 1 , 1 (1933), 1-6, 4f.
1 76
ren. Die souveräne Herrschaft über das Sterben, so müsste dies mit Foucault ausge drUckt werden, wurde durch die Frage nach dem Leben ersetzt.2 1 Die sexuelle Emanzipation der Frau, die Befreiung des Geschlechtstriebs von der Sünde, ein bewusster und disziplinierter Umgang mit der Sexualität - das waren die Kernpunkte einer neuen Ethik, welche die Basis einer
sexuellen Revolution der zwanziger Jahre bilden ker, welche diese "sexuelle Ethik"
neuen Sexualmoral
und der
sollte. Die Philosophin Helene Stök
1 905 proklamiert hatte, setzte j edoch über ihre
aufsehenerregende Schrift das Nietzsche-Motto "Nicht nur fort Euch zu pflanzen, sondern hinauf - dazu helfe euch der Garten der Ehe". So wie der Mensch alle ande ren Dinge seiner vernünftigen Einsicht unterworfen habe, so verkündete sie, müsse er auch immer mehr Herr werden über die Schaffung eines
neuen Menschen.
Und mit
unproblematischer Selbstverständlichkeit schloss sie daraus: "Man wird Mittel finden müssen, um unheilbar Kranke oder Entartete an der Fortpflanzung zu verhindern.,,22 Auch der Wiener Soziologe Rudolf Goldscheid, eben jener Autor einer "Magna Charta rur sexuelle Menschenrechte", erlangte vor allem aufgrund der von ihm ent worfenen "Menschenökonomie" BerUhmtheit, mit der er die optimale Nutzung der Arbeitskraft mit einer ebenso ökonomisch sinnvollen und rationalen Bevölkerungs politik verknüpfte. Was der Staat benötige, so Goldscheid, sei ein qualitativ hoch wertiges menschliches Produkt, aus dem alle negativen Faktoren und Eigenschaften ausgeschlossen sind. Ökonomie und B iologie, so lautete Goldscheids Lehrsatz, gehö ren unmittelbar zusammen und verlangen nach einer eugenischen Regulierung, nach einer, wie Goldscheid dies nannte, "Biotechnik" und "Soziobiologie".23 Die
sexuelle Ethik,
die Helene Stöcker vor dem Weltkrieg noch gegen großen
Widerstand verteidigen musste, war in den zwanziger Jahren j enseits klerikaler und konservativer Kreise als Naturrecht etabliert und wurde in linksliberalen Publikatio nen und biomedizinischen Fachartikein wenn nicht immer propagiert, so doch zu-
2 1 Auch dieser Wandel, so sei also noch einmal betont, ist Teil der Bio-Macht. Siehe O. Gross, "Anmerkungen zu einer neuen Ethik ( 1 9 1 3)", in: K. Kreiler (Hg.), O. Gross: Von geschlechtli cher Not zur sozialen Katastrophe. FrankfurtlM. 1 980, 22-24, 23. 22 Siehe H. Stöcker, ..Von neuer Ethik". In: Mutterschutz 2 (1906), 3-1 1 , 9. Die Geschichte der ..Eugenik" ist zum Ende des 20. Jahrhunderts so ausftlhrlich geschrieben worden, dass ein Re zensent bereits von einer ..Eugenics Industry" spricht. Siehe P. J. Pauly, ..Essay Review: The Eugenics Industry - Growth or Restructuring?" In: Journal of the History of Biology 26 ( 1993), 1 3 1 -145. Als Klassiker siehe P. Weindling, Health, Race and German Politics between National Unification and Nazism, 1 870-1945. Cambridge 1989 und P. Weingart u.a., Rasse, Blut und Ge ne. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland. FrankfurtlM. 1988. 23 Siehe R. Goldscheid, "Die Generative Revolution", in: N. Haire (Hg.), Sexual Reform Congress, 8.-14.4.1929. London 1 930, 534-550, 534, 537, 541 . Siehe R. Goldscheid, Höherentwicklung und Menschenökonomie: Grundlegung der Sozialbiologie. Leipzig 1 9 1 1 .
1 77
mindest als notwendigerweise vernünftig und naturgemäß akzeptiert. Aber der "schrankenlose Individualismus", das "Recht des Sichauslebens, des rücksichtslosen Sichbehauptens des Einzelnen", wie dies eine Kritikerin der
neuen Ethik 1908
be
klagt hatte, bezeichnete auch in den zwanziger Jahren ein keineswegs problemloses Anrecht. "Sich ausleben", die Ideologie des
Konsumismus, verblieb als eine pejorativ
gebrauchte Kampfvokabel, der schrankenlose und unproduktive Konsum galt auch weiterhin als ein pathologisches Zeichen der
Degeneration.
Weder die sexuelle Ethik
noch eine sexuelle Menschenrechtserklärung wollten darauf verzichten, die sexuelle und generative Verantwortlichkeit der Einzelnen zu betonen. Der sexuelle Individua
lismus fand seine Grenze in den menschenökonomischen Bedürfnissen des Staates?4
Die Historikerin Atina Grossmann hat ausführlich darauf hingewiesen, dass die Se xualreformbewegung selbst die sexuelle Entgrenzung mit einer strikten Ethik der Selbstkontrolle, der Vernunft, der Rationalisierung einzudämmen versuchte. Die neue Ethik funktionierte durchaus im Bezugsrahmen einer staatlich-medikalischen Eugenik. Der Diskurs der Sexualreformbewegung, so resümiert Grossmann, ist ein Mutterschaft-Eugenik-Konsens ("motherhood-eugenics consensus,,).2S Aber es macht einen gewichtigen Unterschied, ob der eugenische Imperativ des "es sollte nicht allen gestattet sein, sich fortzupflanzen" als herrschaftliche, juridisch fixierte Forderung formuliert wird oder als universalisierbares individuelles Anrecht auf ein gutes Leben funktioniert, ob also Entitäten selektiert oder Qualitäten ausgewählt werden, ob Mütter eine neue Rasse gebären oder Frauen zur rechten Zeit nach eigenem Willen
gesunde
Kinder zur Welt bringen. Über den Konnex von Lustbefriedigung und Ge
burtenkontrolle bot sich die Substitution der Mutterschaft durch den Orgasmus an. Die
produktivistische
Verbindung von Mutterschaft und Eugenik war längst kein
24 Zur Kritik an Helene Stöckers Ethik siehe P. Mueller, ..Die ,Neue Ethik' und ihre Gefahr ( 1908)", in: M. Janssen-Jurreit (Hg.), Frauen und Sexualmoral. FrankfurtlM. 1 986, 1 2 1-128, 125. Der sich-auslebende konsumistische Mensch musste ein ,,Anti-Typus" sein, ein ,,Antisozia ler", wie ihn Emil Kraepelin 1 9 1 5 in seinem Psychiatrie-Lehrbuch als entartete Figur des "Ge seIlschaftsfeindes" beschrieb: "Schon als Kinder pflegen sie zu naschen, das ihnen in die Hand fallende Geld rur Karusselfahrten, den Besuch von Kinos, rur Süßigkeiten, Zigaretten, Bier aus zugeben. Sie sind anspruchsvoll, wollen überall dabei sein, sich nichts versagen, haben ,Lust, mal ein schönes Leben zu ruhren', wie ein Kranker zur BegrUndung seiner von ihm begangenen Scheckflllschungen erklärte." Siehe E. Kraepelin, Psychiatrie: Ein Lehrbuch rur Studirende und Ärzte. Leipzig 81915, 2084. 25 Atina Grossmann schreibt, dass die Sexualreformbewegung einen Mutterschaft-Eugenik Konsens verkündet habe, "which assumed that motherhood was a natural and desirable instinct in all women, only needing to be properly encouraged, released, and regulated, and which under stood the bearing of healthy offspring as a crucial social task"; A. Grossmann, Reforming Sex: The German Movement for Birth Control & Abortion Reform, 1920-1950. New York/ Oxford 1995, 1 5 .
178
Konsens mehr, das gute Leben, das individuelle und universelle Anrecht auf Orgas men und fakultativ geregelte Geburten etablierte sich als eine gewichtige Alternative. Im Spiel der sexualreformerischen Sexualberatung und Menschenökonomie einer seits und der Individualisierung und Demokratisierung des Begehrens und der Lust befriedigung andererseits eröffnete sich Raum fUr staatliche Zugriffe und individuelle Entscheidungen. Die epistemische Trennung von Sexualität und Fortpflanzung er laubte rassenhygienische Zwangssterilisationen ebenso wie sorgenfreie Promiskuität. Aldous Huxleys Dystopie totalitärer staatlich-medizinischer Eugenik kann sich auf das Entstehen der zwei Körper ebenso berufen, wie Marge Piercys
1976 veröffentli
che feministische Utopie der Befreiung der Frau vom Gebärzwang.26 Seit den zwanziger Jahren organisierte sich ein
konsumistischer Diskurs, der das
universelle Recht auf Lustbefriedigung, das Primat des Erotischen, wenn nicht gar Pornografischen, auch gegen die Widerstände der Sexualwissenschaft und -reform offensiv vertrat.27 Eine eindrucksvolle Streitschrift der logie verfasste bereits um
konsumistischen
Sexualideo
1 900 der eher obskure, aber vielgelesene Flugpionier und
freigeistige Naturphilosoph earl Buttenstedt. Die eigenwillige Theorie dieses Auto didakten besagte, dass es nur eine Sünde gebe, und das sei die, eine Handlung zu begehen, welche ein unangenehmes GefUhl verursache.28 Da einzellige, also ge
schlechtslose Wesen unsterblich seien, bestehe der tödliche Sündenfall der Mensch heit in der Geschlechtertrennung. Die Hauptschuld an der Misere von Geburt und Tod gab Buttenstedt dabei der weiblichen Begierde zur Fortpflanzung. Erst wenn Geburt und Tod durch Geburtenkontrolle und künstliche Fortpflanzung aus dem Leben ausgeschaltet seien, so lautete Buttenstedts utopischer Umkehrschluss, würde ein endlich glückliches geschlechtsfreies menschliches Wesen die Erde bevölkern.29 Buttenstedt verknüpfte das sozusagen entmütterlichte ewige Leben auf sehr modeme Weise mit der Programmatik der Geburtenkontrolle. Den Menschen von unange-
26 Siehe M. Piercy, Frau am Abgrund der Zeit. Berlin 1996 (New York 1976) und A. Hux1ey, Schöne neue Welt. FrankfurtlM. 1953 (London 1 932). 27 Diese Geschichte der zwanziger Jahre ist noch gar nicht ausreichend erfasst worden. Als Aus nahme siehe etwa Karl Toepfer, der vor allem die Schriften Ernst Scherteis Würdigt, eines um triebigen Propagandisten der Pornografie. Diese war fIlr Schertel eine urmenschliche Wesensart, die erst von der zivilisatorischen kleinbürgerlichen Sittlichkeit der Puritanismus unterdrückt worden sei. Scherteis vitalistischer und hedonistischer Ansatz ging dabei weit über die ethischen Grenzen der Reformbewegung hinaus und knüpfte ein erstaunliches Netz von Modernismus, Pornografie, Mystizismus, Körperkult und Individualismus. Siehe K. Toepfer, Empire of Ecstasy. Nudity and Movement in German Body Culture, 1910-1935. Berkeley, CA U.a. 1 997, 59-66. 28 Siehe C. Buttenstedt, ,,Ewige Jugend und Schönheit. Die instinktive Lebensanschauung", in: Die Schönheit 3 (1905), 4 1 9. 29 Buttenstedt, 3 12 (Anm. 28).
1 79
nehmen GefUhlen zu befreien, musste zugleich bedeuten, die Liebe von "unange nehmen Nachwehen fUr das Weib und in zweiter Linie fUr den Mann" zu befreien. Das sorgenfreie und glückliche Ausleben des Geschlechtstriebs in der dank Gebur tenkontrolle zumeist kinderlosen "Glücks-Ehe" habe schließlich den Effekt, die
Frauen zu verschönern und zu verjüngen.30 Buttenstedt verkündete bereits um 1 900 eine
konsumislische
Utopie, welche das Recht auf ein glückliches, jugendliches und
schönes Leben über die Pflicht zur Reproduktion stellte. Ja, mehr noch, galt ihm die Geschlechtertrennung und die Fortpflanzung im Sinne August Weismanns als Ursa che des Alterns und Sterbens. Eine Gesellschaft, bewohnt von geschlechtsfreien und auf die Fortpflanzung verzichtenden Menschen, musste dementsprechend zwangsläu fig ein glückliches Leben in ewiger Jugend fUhren.
IV. Hormonkörper Die biologische Versuchsanstalt war der Ort, an dem die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung an das Körperliche delegiert wurde. Die Stabilität der Geschlech ter war zur Jahrhundertwende fraglich geworden, die Anatomie konnte keinen ein deutigen Urteilsspruch über den Geschlechtsdimorphismus fllllen. In den Laboratori en forschten Wissenschaftler darüber, wie die beklagten Verschiebungen und Ver wandlungen der Geschlechter, die Existenz von "sexuellen Zwischenstufen", die sozialen und biologischen Phänomene der Verweiblichung und Vermännlichung erklärt werden konnten. Es war vor allem der österreichische Physiologe Eugen Steinach, der im berühmten Wiener "Vivarium" eine Lösung fUr dieses Rätsel gefun den zu haben behauptete, indem er die Geschlechtsausbildung und -erhaltung nicht den Nerven, sondern der inneren Sekretion der (Sexual-)Hormone zusprach.3 1 Im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts wurde über die Frage, welcher Teil der Keimdrüse rur die Hormonproduktion zuständig sei, ein dauerhafter wissen schaftlicher Streit ausgetragen, der zugleich die Funktion eines unwiderruflichen Urteilsspruches über die Geschlechterordnung annehmen sollte. Steinach experimen tierte vornehmlich in den 1 9 1 0er Jahren mit Vermännlichungs- und Verweibli chungseffekten durch die Transplantation von Hoden und Ovarien. Weltweite Be rühmtheit erlangte er, als er im Sommer 1 920 verkündete, durch die Unterbindung
30 Buttenstedt, 424, 610f. (Anm. 28). 3 1 Zu den Forschungen in der Wiener Biologischen Versuchsanstalt, dem Vivarium, siehe W. L. Reiter, ,.zerstört und vergessen: Die Biologische Versuchsanstalt und ihre Wissenschaft ler/innen", in: Österreichische Zeitschrift rur Geschichtswissenschaft 1 0 ( 1999), 585-614. 1 80
des Samenleiters beim Mann und Röntgeneingriffen bei der Frau eine deutliche Verjüngung hervorgerufen zu haben. Seine Pioniertaten zur Etablierung einer Lehre von der inneren Sekretion und der Endokrinologie waren rur die biomedizinische
Debatte der zwanziger und dreißiger Jahre so unumgehbar wie umstritten.32 Ver männlichung, Verweiblichung, Verjüngung waren adäquate Antworten auf die Ver
mischung der Geschlechter, die nervöse Gesellschaft, die Auflösung von Entitäten, die Schwächung des
Steinachs Vorschlag, die Sexualhor
leistungsstarken Volkes.
mone als transformierende und verjüngende Akteure anzusehen, war dabei in der Tat ein Vor-Urteil, dessen Validität sich im Zusammenwirken der beteiligten Akteure beweisen musste. Zunächst war da nur
etwas,
was Geschlechter herstellt, Organis
men vitalisiert, rur Krankheit und Gesundheit sorgt und den Körper formt. Die For schungsbewegung, so der Wissenschaftssoziologe Bruno Latour, geht von solchen Attributen zur Substanz. Die ÜberfUhrung von bestimmten Performanzen in die Substanz der Sexualhormone könne dabei nur gelingen, wenn es zu möglichst wenig Substitutionen, Einschränkungen und Relativierungen käme. Substanz wäre demnach der Name, "der die
Stabilität einer Zusammensetzung
bezeichnet". Da in dieser Zu
sammensetzung Faktoren wie die historische Situiertheit und das Forschungsinteres se eine bedeutende Rolle spielen, sind sie per
definitionem
in dem Obj ekt enthalten.
Ohne diese Faktoren wäre das Objekt ein anderes. Es ist mit Latour durchaus sinn-
32 Zu Eugen Steinach siehe vor allem C. Sengoopta, ..Tbe Modem Ovary: Constructions, Mea nings, Uses", in: History of Science 38 (2000), 425-488 und ders., ..Glandular Politics: Experi mental Biology, Clinical Medicine, and Homosexual Emancipation in Fin-de-Siecle Central Eu rope", in: Isis 89 (1998), 445-473. Zu den Verjongungsoperationen siehe H. Stoff, ..Vermännli chung, Verweiblichung, Verjongung. Neue Körper zu Beginn des 20. Jahrhunderts", in: U. Hei dei U.& (Hg.), Jenseits der Geschlechtergrenzen: Sexualitäten, Identitaten und Körper in Per spektiven von Queer Studies. Hamburg 2001, 275-290; A. Seeck, ..VerjOngungsoperationen nach Steinach: Hinweise auf ein verändertes Verhältnis von Sexualitat, Fortpflanzung und Leistungs flIhigkeit", in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft 29130 (1999), 5-24; H. Stoff, ,,Die hormonelle und die utopische Geschlechterordnung: VerjOngungsoperationen und der neue Mensch in den zwanziger Jahren", in: U. Ferdinand u.a. (Hg.), Verqueere Wissenschaft? Zum Verhältnis von Sexualwissenschaft und Sexualreformbewegung in Geschichte und Gegenwart. MOnster 1998, 245-260; und D. Schultheiss u.a., "Rejuvenation in the Early 20th Century", in: Andrologia 29 (1997), 3 5 1 -355. Auch Sander Gilman und Tim Armstrong widmen Aspekte ihrer kulturwissenschaftlichen Forschungen den VerjOngungsoperationen, siehe S. L. Gilman, Making the Body Beautiful: A Cultural History of Aesthetic Surgery. Princeton, NJ/ Oxford 1999, 295328, und Armstrong, 143-150 (Anm. 1 5). Meine Dissertation ,,Die Verbesserung des Menschen: Kilnstliche und natilrliche Verjüngung, 1 889-1936" wird im Frühjahr 2003 erscheinen.
181
voll, es ist sogar notwendig, auch eine (Sozial-)Geschichte der Objekte, der Zellen, Gene und Hormone, zu schreiben.3J Die französischen Anatomen Pol Bouin und Paul Ancel hatten
1 903 die Ge
schlechtsdrUse in eine ,,seminale DrUse", eine ,,zwischenzellendrUse" und "Sertoli zellen" unterteilt. Der experimentelle Beweis, den sie antreten wollten, galt der Be hauptung, dass die Ausbildung der männlichen sekundären Geschlechtsmerkmale unabhängig sei von den spermatogenen Elementen. Steinachs markanter Beitrag zu dieser höchst umstrittenen Forschungsmeinung war es, diese hormonell aktiven Zwi schenzellen mit dem Namen "PubertätsdrUse" zu belegen und deren Wirksamkeit in seinen Tierexperimenten einzusetzen. Die Pubertät und die sexuelle Entwicklung in körperlicher wie seelischer Entwicklung, so verkündete er, seien abhängig von hor monalen Wirkungen, die von den "inkretorischen Elementen der KeimdrUse" abge
sondert werden.34
Steinach hatte jungen Rattenmännchen in frühester Jugend die Hoden herausope riert, um festzustellen, dass diese auf einer "kindlichen Stufe" stehenblieben. Als er die Hoden an anderer Stelle des Körpers wieder einpflanzte, seien die Nagetiere trotzdem zu voller Männlichkeit herangewachsen. Die histologische Untersuchung der transplantierten Hoden habe dann ergeben, dass keine einzige Samenzelle zur Entwicklung gekommen sei. Die Transplantation habe zu einer völlig reinen Isolie
rung und Darstellung der innersekretorischen Drüse geftlhrt. 3 s Die Steinachsche Verjüngung wiederum beruhte auf der Ausweitung der ftlr die Sexualhormonproduk tion maßgeblichen Zwischenzellen bei gleichzeitiger ZurUckdrängung der Samen zellen. Verjüngung, die zunächst als Virilisierung des Mannes verstanden wurde,
geschah gerade auf Kosten der reproduktiven Fähigkeiten. Steinach fand im ver jüngten Hoden neben einer wuchernden Pubertätsdrüse eben nur atrophische Samen kanälchen: Die Samenzellen, so resümierte Steinach, seien hormonal belanglos, die
33 Latour spricht allerdings nicht von "Objekten" sondern von "nichtmenschlichen Akteuren". Siehe B. Latour, Die Hoflhung der Pandora: Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. FrankfurtlM. 2000 (Carnbridge, MA 1 999), 161-174, 181-183. Ebenso, fugt Latour an, mUsse natUrIich auch eine ,,'dingliche' Geschichte der Menschen" geschrieben werden; ebd., 29. 34 E. Steinach, "VerjUngung durch experimentelle Neubelebung der alternden Pubertlltsdrnse", in: Archiv ftlr die Entwicklungsmechanik der Organismen 46 (1920), 557-610, 557 sowie inaugurie rend ders., "Pubertlltsdrnsen und Zwitterbildung", in: Archiv ftlr Entwicklungsmechanik der Or ganismen 42 (1916), 307-332. Als "Pubertlltsdrnse" firmierten bei Steinach allein mikroskopisch erfassbare, von der Wissenschaft bis dato ignorierte oder als bloße Stntzsubstanz angesehene ,,zwischenzellen" in den Keimdmsen; siehe Steinach, Verjungung, 587f. Als männliche Puber tätsdrnse galten die "Leydigschen Zellen", als weibliche Pubertlltsdrnse die "Luteinzellen". 35 E. Steinach, "WiIlkUrliche Umwandlung von Säugetiermännchen in Tiere mit ausgeprägt weibli chen Geschlechtscharakteren und weiblicher Psyche", in: PflUgers Archiv 144 (1912), 71-108, 72f.
1 82
pubertätsdrUsenzeIlen hingegen von außerordentlicher hormonaler Wirksamkeit. Die von Steinach Verjüngten konnten ruhig ihr Sperma vergeuden, entscheidend war die Ausdehnung der Zwischenzellen.
,,Die primäre Einwirkung der Unterbindung", so "ist die Wucherung der Pubertätsdrüse und die weitgehende Rückbildung der Samendrose ,,?6 Dies konnte nichts anderes bedeuten, als dass die definierte Steinach,
Samenzellen für Vitalität und Virilität vollkommen bedeutungslos waren. Pol Bouin
brachte diese neue Ontologie der Männlichkeit auf die einfache Formel, dass die Samenzellen vollständig verschwinden könnten, ohne dass die Männlichkeit dadurch 3 irgendwie beeinflusst werde. 7 Steinachs Pubertätsdrüsenlehre war eine entscheiden de Relativierung und Schwächung des Primats der Reproduktion. Wenn die Ge schlechtsausbildung schon histologisch in keinem Zusammenhang mit der Fortpflan zung stand, dann konnte es auch keine biologischen Grunde rur die Koppelung der Sexualität an ein Fortpflanzungsgebot geben. Bei der Pubertätsdrüsentheorie hatten Männlichkeit und Fortpflanzungsfiihigkeit keinen direkten Zusammenhang mehr. Eines der bedenklichen und dramatischen Ergebnisse von Steinachs Experimenten war die Loslösung des sexuellen
Konsums
von der sexuellen
(Re-)Produktivität.
Es
kann nicht erstaunen, dass über die "PubertätsdrUsenlehre" eine der erhitztesten bio medizinischen Debatten der zwanziger Jahre entbrannte und namhafte Forscher viel Energie auf die Rettung des Spermas verwendeten.38
Während die spärliche geschichts- und kulturwissenschaftliche Forschung Stein achs Experimente einer spermatischen Ökonomie unterzuordnen versucht, dem (re-)
produktivistischen Dogma des sparsamen Umgangs mit den Körperenergien, wäre es also viel einleuchtender, seine Neubestimmung der physiologischen Funktionen als
36 Steinach, Verjongung, 581, 587, 590f. (Anm. 34), Hervorhebungen von Steinach. 37 P. Bouin, "Neue Untersuchungen Ober die endokrine DrOse des Testikels", in: Endokrinologie 9 ( 1 93 1), 1-7, 2. Bouin formulierte auch den Umkehrschluss: Ein Hoden der ausschließlich sper matogene Elemente aufweise, sei nicht in der Lage Männlichkeit herzustellen; ebd., 7. 38 Vor allem der Anatom Hermann Stieve sprach den Zwischenzellen im Hoden jegliche Ober die Rolle eines Bindegewebes hinausgehende Bedeutung ab und sah deren Aufgabe allein in der Nlihrstoffiieferung ftlr die Keimzellen. Siehe B. Romeis, "Geschlechtszellen oder ZwischenzeI len? Kritisches Referat Ober die Ergebnisse der einschlägigen Arbeiten der letzten Jahre", in: Klinische Wochenschrift 2 (1922), 960-964, 1 005-1010, 1064-1067, und H. Stieve, Entwicklung, Bau und Bedeutung der KeimdrOsenzwischenzellen. Manchen 1 92 1 . Gängige Forschungsmei nung war hingegen, dass die inkretorische Funktion von spezifischen Eiweißsubstanzen der ge nerativen Zellen ausgeobt werde, der Grad der Ausprägung der Geschlechtscharaktere also von dem spermatogenen Anteil des Hodens und dessen spezifischen zellulären Eiweißsubstanzen ab hänge. Siehe dazu H. Tiedje, "Unterbindungsbefunde am Hoden, unter besonderer BerOcksichti gung der PubertätsdrOsenfrage", in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 47 (192 1 ), 35.
1 83
Verkörperlichung des
Konsumismus zu betrachten.J9 Sperma an sich
ist rur Steinachs
Theorie belanglos, von Bedeutung nur deshalb, weil die Samenzellen den viel wich tigeren Pubertätsdrüsen nach der Sterilisation Platz machen. Just diese Abwertung der Samenzellen, des Spermas und der Reproduktion war es, welche Steinachs ,,künstliche Verjüngung" mit dem Schreckensbild des ,,'verjüngten' weibersüchtigen Genußmenschen" als Sendboten einer neuen
(konsumistischen)
Welt, in welcher die
Werte von Männlichkeit, Arbeit und Jugend auf schreckliche Weise umgewertet zu sein schienen, versah. Es war der mangelnde Samenerguss, der, so beklagte ein Kri tiker von Steinachs ersten Tierversuchen, ein Kennzeichen von Steinachs "tierischen
Scheinmännchen und Übermännchen" sei, der die Naturordnung destabilisierte.40
Kann es dann überraschen, dass zu Beginn der zwanziger Jahre auch der Orgasmus nichts mehr mit dem Sperma zu tun hatte und als "chemischer Rauschzustand" defi niert werden konnte?4 1
Steinachs Relativierung der spermatischen Macht wurde zeitgenössisch durchaus als eine Gefllhrdung der sexuellen und ethischen Ordnung verstanden. Die Verjüng ten waren wohl entgegen der Intention der VerjUnger weniger leistungsstarke Ge schlechtskörper, potente Männer und zur erneuten Mutterschaft verjüngte Frauen, als Sendboten jener
konsumistischen
Sexualität, die das ewig jugendliche Begehren
begehrt und die Geburten kontrolliert.42 Es verweist auf die Wirkungsmacht des
konsumistischen Diskurses und die stabile Evidenz konsumistischer Körper, dass sich gerade Steinachs Theorie als endokrinologisches Faktum langfristig durchsetzen sollte. Die Konstituierung des Hormonkörpers, die Sozialisierung der Sexualhormone
39 Zum Begriff der ,,spermatischen Ökonomie" siehe G. J. Barker-Benfield, "Tbe Spermatic Eco nomy: A Nineteenth Century View ofSexuality", in: Feminist Studies 1 (1972), 45-74. Eine sol che Deutung der Steinachschen Verjüngung findet sich etwa bei Tim Armstrong, der es eigent lich besser wissen müsste; siehe Armstrong, 147f. (Anm. 1 5). 40 Siehe A. Kohn, ,,Einige kritische Bemerkungen zur Verjüngungsfrage", in: Medizinische Klinik 17 (192 1 ), 1, 7-9 41 So etwa K. Urbach, "Ober die zeitliche Geruhlsdifferenz der Geschlechter wahrend der Kohabi tation", in: Zeitschrift rur Sexualwissenschaft 8, (192 1/22), 124-137, 125f. Vom "chemischen Rauschzustand" sprach M. Hirschfeld, Geschlechtskunde. 2. Band: Folgen und Folgerungen. Stuttgart 1928, 14. 42 Bei der Verjüngung der Frau wurde zunächst entgegen aller Evidenz die Wiederherstellung der Gebartllh igkeit bei zu früh gealterten Frauen behauptet. Ende der dreißiger Jahre hingegen er schien die verjüngte Frau gerade nicht als mütterlich, sondern als relibidonisiert. Erst die ver jüngte Frau besitzt den optimierten Konsumkörper. Der verhinderte Wunsch zu begehren und begehrt zu werden konnte durch hormonelle Manipulationen und chirurgische Eingriffe befrie digt werden.
1 84
ist durch Diskurse geregelt worden.43 Steinachs Forschungen selbst zeigen dabei in aller WidersprUchlichkeit den Widerstreit des So wie der
konsumistische
Produktivismus und des Konsumismus.
Diskurs die. Sexualhormone als Triebstoffe des Lebens,
des Begehrens und der Vermischung etablierte, brauchte der
produktivistische
Dis
kurs die Sexualhormone als Botenstoffe der Zweigeschlechtlichkeit, als Akteure der Renormalisierung destabilisierter Geschlechtskörper.44 Fragen der Vererbung spielen rur den Hormonkörper nur noch dann eine Rolle, s wenn ' sie lamarckistisch eingeruhrt werden.4 Aber die hegemoniale, von August Weismann durchgesetzte Auffassung des Evolutionismus trennte auf einschneidende Weise die Keimzellen vom Soma, etablierte diese als zwei strikt demarkierte Kör perbereiche. Der lebendige Körper, dessen Transformationen und Sensationen, konnten danach niemals Einfluss auf das Keimplasma haben. Das flüchtige, begeh rende Individuum stand in striktem Gegensatz zur Kontinuität und Historizität des Keimplasmas. Der genetische Körper erreicht den hormonellen Körper ebensowenig wie letzter Einfluss auf ersteren erlangen kann.46
43 Ich folge hier Bruno Latours Versuch, dem Konstruktivismus und der Subjekt-Objekt-Trennung zu entgehen. Wissenschaftlich sei es nach Latour, "durch Experimente und Berechnungen Zu gang zu Entitäten zu gewinnen, die zunachst nicht die gleichen Merkmale wie die Menschen aufweisen." Es handle sich um "nichtmenschliche Entitäten", "die anfangs dem sozialen Leben fremd sind und langsam in unsere Mitte sozialisiert werden; das geschieht Uber die Kanale der Laboratorien, Expeditionen, Institutionen usw., wie sie von unseren Wissenschaftshistorikern so oft beschrieben worden sind." Sexualhormone sind danach nicht konstruiert worden, sondern sind einem Kollektiv beigetreten, dass sich ebenso wie sie selber in diesem Akt verandert hat; Latour, 3 1 7f. (Anm. 33) 44 Siehe dazu A. Fausto-Sterling, Sexing the Body. Gender Politics and the Construction of Sexua lity. New York 2000; H. Stoff, "Vermannlichung und Verweiblichung. Wissenschaftliche und utopische Experimente im frOhen 20. Jahrhundert", in: U. Paserol F. Braun (Hg.), Wahrnehmung und Herstellung von Geschlecht. Perceiving and Performing Gender. Opladenl Wiesbaden 1 999, 47-62; und Sengoopta, G1andular (Anm. 32). 4S Mit der Vererbung erst kam die Höherentwicklung ins VerjUngungsspiel, die aus der Optimie rung des Individuums die Menschen- und Rassenverbesserung macht. Serge Voronoff, ein in Pa ris praktizierender russischer Chirurg, der durch seine Verjungungsversuche vermitteis Affen drUsentransplantationen berUhmt und berUchtigt wurde, war davon Uberzeugt, dass sich erworbe ne Eigenschaften vererben WUrden. Die durch die Einpflanzung einer dritten KeimdrUse erwor bene Lebenskraft wurde sich von Generation zu Generation vererben und schließlich eine hö herwertige Rasse, den "DreidrUsenmenschen", hervorbringen; S. Voronoff, Die Eroberung des Lebens: Das Problem der VerjUngung. Stuttgart 1928 (Paris 1928), 52-56, 1 0 1 . 4 6 August Weismanns durch Gregor Mendels Experimente gestärkte These Uber die "Kontinuitat des Keimplasmas" rechtfertigte sowohl eine ZurUckweisung direkter außerer Einflusse auf das Erbgut als auch eine Vemachlassigung des Individuums selbst zu Gunsten der durch das Keim-
1 85
v.
Der Orgasmus
Der Orgasmus als bei Mann und Frau verschiedene, aber adaptierbare psychophy siologische Erregung, als Kontraktion der Unterleibsmuskulatur, ist eine Erfindung des
20. Jahrhunderts.47 Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, dies zeigt Thomas
Laqueur, wurde die Fortpflanzung als Folge beiderseitiger WoIIlust, wenn nicht sogar Ej akulation erklärt, war die Empflingnis abhängig von männlicher
und weibli
cher Erregung und Befriedigung. So sehr die psychologische Wichtigkeit des gleich zeitigen Höhepunktes betont wurde, verblieb dann j edoch im biomedizinischen Dis kurs des späten
1 9. Jahrhunderts allein der männliche Samenerguss als zwar stö
rungsanflllliges, aber unzweifelhaftes reproduktives Ziel des Koitus. So beschrieben zur Jahrhundertwende Albert Moll und Havelock Ellis den Koitus als unisexuell wirksamen Effekt von lustvoller Anschwellung sexuellem Höhepunkt
(Detumeszenz).
(Tumeszenz) und Abschwellung als Detumeszenz hatte wohl große
Die weibliche
psychologische Bedeutung bei der Aufrechterhaltung einer glücklichen Ehe, erschien j edoch als im reproduktiven Sinne durchaus überflUssig.48 Mit der wissenschaftlichen Ablehnung eines zur gelungenen Befruchtung notwendigen beiderseitigen Höhe punktes der WoIIlust, erhielt das leidenschaftslose oder hysterische Weib, die Frau als Gebärende oder pathologisches Mangelwesen, erst eine evidente Existenzberech tigung. Zugleich aber erlaubte diese Entwertung der reproduktiven Funktion der weiblichen
Detumeszenz auch die Existenz eines
vom "Gebärzwang" befreiten, aliei
ne begehrenden und begehrt werdenden weiblichen Drittel des te.49
Lustkörpers,
wie er im ersten
20. Jahrhunderts als jugendliche Flapper oder Girl Karriere machen soll
plasma konstituierten Erbgemeinschaft namens das Volk oder die Rasse; A. Weismann, Das Keimplasma: Eine Theorie der Vererbung. Jena 1892. 47 So nachdrücklich T. Walter, "Pladoyer filr die Abschaffung des Orgasmus: Lust und Sprache am Beginn der Neuzeit", in: Zeitschrift filr Sexualforschung 12,1 (1999), 25-49. 48 T. Laqueur, Auf den Leib geschrieben: Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. FrankfurtlM. 1992 (Cambridge, MA 1990), 58-68, 207-219. Walter filhrt aus, dass der "Orgasmus" erst nach 1900 Eingang in den sexologischen Sprachgebrauch fand; Walter, "PUl doyer", insb. 3 1 -33 (Anm. 47). 49 Rachel P. Maines betont, dass weibliche Lust bis ins 20. Jahrhundert von den mannlichen Ex perten nur als biomedizinisches Problem wahrgenommen wurde. Der medizinische Einsatz von Vibratoren zur Lösung der "Hysterie" ließe sich sonst nicht anders erklaren. Die gemeinsame Geschichte vom "Orgasmus" und von "Vibratoren", die Maines schreibt, ist auch eine des Pro duktivismus, des expertisch indizierten therapeutischen Einsatzes der Vibratoren, und des Kon sumismus, des lustvollen Einsatzes der Vibratoren zur sexuellen Befriedigung. Seit den 1920er Jahren war es jedenfalls nicht mehr möglich, diesen Gebrauch der Gerate zu ignorieren; R. P.
1 86
Die noch in den 191 0er Jahren spärlichen Texte zum Orgasmus waren eine di rekte Antwort auf die Krise der weiblichen Detumeszenz, indem sie dessen eugeni sche Funktion betonten und den Orgasmus direkt mit männlicher Ejakulation und weiblichem Uterinreflex identifizierten.5o So sorgte sich die Soziologin Mathilde Vaerting über die dysgenischen Folgen des Ausbleibens des weiblichen Orgasmus und reetablierte eine eugenische Version des synchronisierten Orgasmus. Ihr Lob des weiblicpen Orgasmus, das durchaus auch als Rechtfertigung weiblicher Lustfliliigkeit verstanden werden kann, benötigte eine physiologische Begründung. Denn wenn der weibliche Genitalapparat mithelfe, so Vaerting, dann werde der Same "vollkräftiger und leistungstUchtiger", das Zeugungsprodukt an sich werde besser. Vaerting schloss daraus, dass nur orgasmusfliliige Frauen gebären sollten und nur solche Männer ein Anrecht auf Fortpflanzung hätten, die dazu in der Lage seien, Frauen genügend zu erregen. Das wohlgeborene Kind war das Produkt leistungs- und orgasmusfliliiger Eltern.5 1 In den maßgebenden Einlassungen von Theoder van de Velde und Wilhelm Reich war der Orgasmus hingegen nichts anderes mehr als eine Muskelkontraktion als Endlust, die idealerweise beiderseitige Lustläsung. Der Orgasmus hat wenig mit Fortpflanzung, aber alles mit dem Begehren und der nur allzu oft durch mangelnde Technik und gesellschaftliche Zwangssituationen verhinderten Befriedigung zu tun.52 Sowohl van de Velde als auch Reich dämmten dabei die Potenziale eines konsumisti sehen Orgasmus, als Moment eines geschlechtsfreien, universell polymorph perver sen Begehrens, wieder ein und verwendeten die ganze Mühe ihrer Grundlagenwerke der Orgasmustechnik auf die Konstituierung des produktivistischen Orgasmus der Leistungsfähigkeit, der ZweigeschlechtIichkeit, des Bedarfs. Van de Veldes Ret tungsversuch der monogamen Ehe durch die Anpassung der männlichen und weibli chen Orgasmuskurven, die "ideale Vergattung", und Reichs psychoanalytische Maines, The Technology ofOrgasm: "Hysteria", the Vibrator, and Women's Sexual Satisfaction. Baltimore 1 999. 50 So M. Vaerting, ,,Die eugenische Bedeutung des Orgasmus", in: Zeitschrift fUr Sexualwissen schaft 2 (1915/16), 1 85-194 und im Anschluss Urbach, "GefUhlsdifferenz" , 132f. (Anm. 41). 5 1 Vaerting behauptet, dass ,Je sttirker also die unterstützenden Momente des weiblichen Genita lapparates einwirken, um so vollkrtijtiger und leistungstiJchtiger wird der Same zum Amphimixis gelangen, um so besser wird das Zeugungsprodukt ausfallen"; Vaerting, "Bedeutung", 189 (Anm. 50), Hervorhebungen von Vaerting. Dieses biologistische Argument einer Soziologin sprach im übrigen auch gegen die künstliche Befruchtung, was zu einem energischen Streit mit der etablierten Sexualwissenschaft fUhrte. Siehe H. Rohleder, ,,1st die künstliche Befruchtung ein Verbrechen gegen die Eugenik?" In: Zeitschrift fUr Sexualwissenschaft 2 (1915/16), 333-336. 52 Siehe T. van de Velde, Die vollkommene Ehe: Eine Studie über ihre Physiologie und Technik. Locamo 1 926. W. Reich, FrOhe Schriften 2: Genitalität in der Theorie und Therapie der Neurose. FrankfurtlM. 1985. Das Original erschien als Wilhelm Reich, Die Funktion des Orgasmus: Zur Psychopathologie und zur Soziologie des Geschlechtslebens. Wien 1927.
1 87
"Neuordnung der Triebe", die in der Steigerung der Arbeitsflihigkeit gipfelt, waren zwar ganz und gar auf die sexuelle Befriedigung, die orgastische Potenz, ausgerich tet, reetablierten aber zugleich den Orgasmus als Marker des produktiven Ge schlechtskörpers. Die befriedigte Sexualität wurde zum Sinnbild der Optimierung, zum Triumph des Lebens und der Lebendigkeit, einer in Kurven nachvollziehbaren Figur der Leistungsflihigkeit. Ein vielleicht letzter Triumph der Heterogenitalität, der Mann und Frau im erlernbaren orchestrierten Orgasmus lustvoll aneinanderband und die Verbesserung der Welt als abgestimmte Muskelkontraktion bestimmte.53
Dieser Orgasmus war ein heterosexuelles und koitales Ereignis. Der geheimnis volle Punkt, an dem der männliche und weibliche Körper vermittels der Penetration zu ihrer eigentlichen Bestimmung finden, wurde zum Zählwerk der Sexualität und zum Messpunkt der Lebendigkeit. In den filnfziger Jahren sollte sich der Orgasmus zwar sukzessive vom heterogenitalen Primat emanzipieren und in den statistischen Studien Alfred Kinseys und den Laborforschungen von WiIliam Masters und Virgi nia Johnson zu wissenschaftlich generalisierbaren polymorphen sexuellen Praktiken ausweiten, verblieb dabei allerdings als eine normale Form der individuellen und der kollektiven Lustkurve. Der Orgasmus hat sich namentlich mit den Arbeiten Kinseys als zentrales Moment der Bio-Macht, als flexible Methode der Leistungssteigerung und Optimierung des Individuums etabliert. Der Orgasmus ist das empfindliche Zeichen individueller Spitzenleistungen.54 Gerade van de Veldes und Reichs Normierung des Orgasmus als anpassbare Lustkurve, die durchaus als Orgasmuszwang bezeichnet werden darf, fand bereits zeitgenössisch eine subtile Kritik. Der Hamburger Arzt Rudolf Elkan bezweifelte 1 933 in einem im "Archiv filr Frauenkunde" veröffentlichten Aufsatz die physiologi schen Bedingungen eines weiblichen Orgasmus. Die Verwirrung und die Unzuläng lichkeitsgefilhle, die sich durch die Trennung der "Fortpflanzung von den sexuellen Freuden" ergeben hätten, und gerade die Behauptung einer "Naturnotwendigkeit des weiblichen Orgasmus", so Elkan, haben die insuffizienten Männer und frigiden Frau-
53 Noch die Orgasmuskurve selbst konnte Reich dabei geschlechtsspezifisch ausdeuten: Die männ liche Lust verweist auf die Pflicht zur Zeugung, die weibliche auf die Pflicht zur Kinderaufzucht; W. Reich, "Der Koitus und die Geschlechter', in: Zeitschrift rur Sexualwissenschaft 8 (1921/22), 343-352, 3S I . S4 JOrgen Link spricht davon, dass mit Kinsey der dynamisch, flexibilisierte Normalismus sozusa gen sportiv wird: Die Leistungssteigerung lasst sich an der Anzahl der Orgasmen pro Zeiteinheit messen und etabliert ein Konkurrenzbewusstsein. Dies gilt bei den in diesem Sinne stabilen Ge schlechterkonstruktionen im 20. Jahrhundert vor allem, aber nicht ausschließlich rur den Mann; J. Link, Versuch ober den Normalismus. Wie Normalitllt produziert wird. Opladen 1996, 94-1 00, insb. 9Sf. Was Link "flexiblen Normalismus" nennt, wurde ich als Reaktion des Widerstreits des produktivistischen und konsumistischen Diskurses bezeichnen.
1 88
en erst hervorgebracht.55 Ontogenetisch und phylogenetisch, so behauptet er, sei der weibliche Orgasmus die Ausnahme und nicht die Regel. Es gibt danach keinen euge nischen oder anti-neurotischen Sinn des Orgasmus, seine Funktion ist einzig repro duktiver Art. Anstatt zu fragen, warum viele Frauen keinen Orgasmus hätten, so Elkan, müsse danach geforscht werden, warum einige ihn überhaupt erleben wUr den.56 Elkan bekundete keinen physiologischen, sondern einen psychologischen Grund rur die "Orgasmussehnsucht der Frauen". Der Orgasmus, so konstatiert er, sei das "Sich-Selbst-Bewußt-Werden" der Frau im (modernen) Prozess der Individuati on. Der Kampf um den Orgasmus, als Eroberung des an sich männlichen Orgasmus ein emanzipatorischer Akt, sei zu einem "integrierenden Bestandteil der Geistes- und Sexualgeschichte der Frau" geworden.57 Handelt es sich beim Orgasmusneid nicht doch nur um die alte Geschichte vom Penisneid? Fehlt den Frauen nicht das orgasti sche Organ, erscheint die Vagina nicht als ein Mangelorgan? Die von Elkan konsta tierte Orgasmusunfiihigkeit der Frau, so hieß es dann in den siebziger Jahren, liegt eben darin begründet, dass die männlichen Wissenschaftler, allen voran Sigmund Freud, das wirkliche orgastische Organ der Frau, die Klitoris, gar nicht kannten oder aus androzentrischen Gründen ignorierten. Erst mit der Emanzipation der Klitoris sollte die Frau zu einem wirklich selbstbewussten und autonomen Sexualkörper werden. Der klitorale Orgasmus, von Freud als der jugendliche Orgasmus definiert, von Reich als zweitrangig und impotent abgekanzelt, ist zugleich auch der konsumi stische Orgasmus, unabhängig von reproduktiven Zwecken, von heterogenitalen Praktiken, von bestimmten Stellungen.58 Wohlgemerkt aber: das Sich-Selbst Bewusst-Werden der Frau liegt nicht in der Mutterschaft, sondern im Orgasmus. Liest sich Elkans Einlassung zunächst als unzweifelhaft misogyn, entwickelt er damit eine überraschende Pointe. Der (konsumistische) Zwang zum Befriedigen und Be friedigt werden ist die Quelle des modernen Sexualleidens. Es besteht ein Primat der Reproduktion, so lautet Elkans zweite These, welches den männlichen Orgasmus obligatorisch und den weiblichen Orgasmus fakultativ macht. Wohl aber dürften Orgasmus und Libido nicht verwechselt werden. Die weiblichen Empfindungsinten55 R. Elkan, "Über die Orgasmus-Unfllh igkeit der Frau", in: Archiv filr Frauenkunde 19, 1 (1933), 27-5 1 , 30 56 Elkan, 44 (Anm. 55). 57 Elkan, 48 (Anm. 55). 58 Siehe A. Koedt, "Der Mythos vom vaginalen Orgasmus", in: M. Vaerting, Frauenstaat und Männerstaat Berlin 1975 (1921 u.d.T.: Die weibliche Eigenart im Männerstaat und die männli che Eigenart im Frauenstaat), I-lX. Anders als Freud betonten Sexologen wie Hirschfeld das Primat des klitoralen Orgasmus. Hirschfeld konstatierte sogar eine Art weibliche Ejakulation, das Herausspritzen des Kristellerschen Schleimpfropfens; M. Hirschfeld, Geschlechtskunde. Band 1 : Die körperseelischen Grundlagen. Stuttgart 1 926, 5 1 0. 1 89
sitäten erschöpften sich eben nicht im normierten Orgasmus, wie ihn der Mann in ermüdender Monotonie empfinde, sondern seien vielflUtiger. Das Kennzeichen der weiblichen Libido, so lautete Elkans quasi postmoderne These, sei ein nicht befrie digtes Begehren, keine Detumeszenz als Triebentladung, sondern die stets erneuerte Lust. Elkan installierte die Frau als Akteurin konsumistischer Sexualität. Diese Libi do ist immer neu und zugleich immer wiederholend, im Akt des Konsums schon verbraucht und alt, zu stetiger Erneuerung verpflichtet. Der klitorale Orgasmus ist Konsum an-sich, er verlangt nicht nach (re-)produktiven Folgen, nach spezifischen Handlungen, nach geschlechtlicher Eindeutigkeit, er ist eine Technik, die universal zugänglich ist, erlernbar und/oder durch biomedizinische Therapien und Eingriffe (wieder) herstellbar. Er ist sich Ziel genug, reinster Konsum!59 Es verbleibt der Mann als qua des Samenergusses prädestinierter Bewahrer der (re-)produktiven Ideologie. Kein Wunder, dass die Potenz des Mannes im 20. Jahrhundert durch so zahlreiche organotherapeutische und hormonelle Maßnahmen behandelt und stabilisiert werden sollte.60 Der Orgasmus als per se folgenloser, keinem äußeren Zweck dienender Konsum ist nicht denk- und auslebbar ohne Praktiken der Geburtenkontrolle. Markant könnte es heißen, dass der Orgasmus erst mit der Pille zu sich gekommen ist. Es ist das Glücksversprechen der Pille, der Lust ohne Last, welche die materielle Bedingung der sexuellen Revolution darstellt, indem sie die Angst und den Zufall aus dem Le ben (kurzfristig) verbannte. Der konsumistische Orgasmus entstand erst mit der Eta blierung allgemein zugänglicher, einfach handhabbarer und relativ sicherer Verhü tungsmittel.61 Mit den Demarkationen von Keim- und Somazellen, Samenzellen und Zwischenzellen, Fortpflanzung und Orgasmus, Volkskörper und Lustkörper trennen sich kollektive (Re-)Produktion und individueller Konsum. Nur vermittels ihrer Trennung lässt sich überhaupt erst ein konsumistisch individuelles Leben und eine produktivistisch regulierte Fortpflanzung denken. Begehrende, orgasmussuchende Hormonkörper und selektierte Genetikkörper, dies waren die Daseinsweisen des modernen Körpers im 20. Jahrhundert. Ende des 20. Jahrhunderts jedoch hat diese Zweiteilung nur noch bedingte Gültigkeit. Der Orgasmus als mess- und zählbare Lustkurve, wie er von den Sexualwissenschaftlern 59 So auch S. Lewandowski, ..Ober Persistenz und soziale Funktion des Orgasmus(paradigmas)", in: Zeitschrift filr Sexualforschung 14 (2001), 193-213, 206f. Lewandowski betont in einem an Luhmanns Systemtheorie geschulten Essay, dass der Orgasmus auch als Kommunikationsmedi um von Individualität funktioniere. Der "Orgasmus" sichert intime Beziehungen; ebd., 204. 60 Siehe etwa M. Hirschfeld/ B. Schapiro, ..Ueber die Spezifität der mllnnlichen Sexualhormone". in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 53 (1927), 1344-1346 61 Siehe die Beiträge in G. Staupe! L. Vieth (Hg.), Die Pille. Von der Lust und von der Liebe. Berlin 1996. 1 90
der zwanziger Jahre erfunden wurde, erscheint als viel zu eingeschränkt und nor miert, um "größtmögliches VergnUgen" zu garantieren.62 Dieser normalisierte Or
gasmus erlaubt keinen wirklich universellen, allgemein zugänglichen und stets er neuerbaren Konsum, er ist tatsächlich zu einer billigen Ware der
degradiert worden. Das
konsumistische
Konsumgesellschaft
Recht auf körperliche Sensationen verlangt
nach einer erheblichen, demokratisierten Ausweitung der Begehrensmöglichkeiten. Ende des
20. Jahrhunderts scheint zudem die Fortpflanzung selbst konsumistisch
geworden zu sein. Es ist der Wunsch nach einer terminierten, schmerzfreien Geburt, die "Wunsch-Sectio", das Recht auf ein gesundes, schönes und vielleicht auch ge schlechtsbestimmtes Kind, die
konsumistische
Fortpflanzung, welche in den transat
lantischen Gesellschaften die Praxis des Gebärens zu dominieren beginnt. Foucault selbst hat mit der "Gouvernementalität" bereits ein eng an den Entwurf der Bio Macht angelehntes Konzept entworfen, um den Zusammenhang von Macht, staatli cher Herrschaft und Subjektivierungen zu denken. Die, wie Thomas Lemke sie nennt, "genetische Gouvernementalität" selektiert nicht nach rassischen Einheiten, sondern pränatal und präimplantiv nach genetisch spezifizierbaren Qualitäten, nach prozentual bestimmbaren Risiken.63 Es sind die Wünsche der Eltern nach einem
perfekten Dasein, welche die Auslese und die Vorauswahl als ein Lebensrecht ein fUhren. Das Recht auf ein Kind, so Lemke, wurde zur Pflicht zu einem Wunschkind. Der so unschuldig wirkende Wunsch nach dem guten Leben scheint untrennbar mit einer staatlich-medikalischen Herrschaftstechnologie verknUpft.64 Aber mir scheint es so, als ob Birkens These vom Widerstreit produktivistischer und
konsumistischer
Diskurse es erlaubt, die Veränderungen der Körperkonzepte,
Körperpolitiken und Körper etwas behutsamer zu erfassen. Lässt sich mit Birkens Analysevorschlag zum einen auch eine Ökonomisierung des Sozialen durch eine Sexualisierung des Ökonomischen ergänzen, erlaubt sie es zum anderen, die Wir kungsmächtigkeit von Diskursen zu ermitteln ohne dabei gleich das Menetekel der Herrschaftseffekte zu bemühen. Bio-Macht und Gouvernementalität bleiben wichtige Instrumentarien, um sowohl staatlich-medikalische Eugenik als auch die subjekti vierten WUnsche nach wohlgeborenen Kindern zu erklären, reichen aber nicht aus,
62 Siehe Walter, "Plädoyer", 44 (Anm. 47). 63 Siehe T. Lemke, "Die Regierung der Risiken. Von der Eugenik zur genetischen Gouvememen talität", in: U. Bröcklingl S. Krasmannl T. Lemke (Hg.), Gouvemementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. FrankfurtlM. 2000, 227-264, 230, 248. "Diese ,gene tische Gouvemementalität"', so Lemke, "etabliert eine neue Körperpolitik, die uns anhält, mit dem eigenen Körper, der Gesundheit oder der ,Lebensqualität' möglichst ökonomisch umzuge hen. Genelijizierung als Selbsllechnologie"; ebd., 230. Siehe auch den Beitrag von Susanne Krasmann in diesem Band. 64 Lemke, 255 (Anm. 63).
191
um die Evidenz und Attraktivität dieser Subjektivierungen zu begreifen. Subjektivie rungen sind niemals entweder frei oder unfrei, sie vollziehen sich in einem komple xen Netz der Machtbeziehungen. Subjektivierungen gibt es Uberhaupt nur durch Machtbeziehungen, aber deshalb sind die Subjekte nicht unbedingt StUtzpunkte von spezifischen Machtinteressen. Konsumkörper mitsamt ihrer emanzipatorischen Kraft, der Auflösung demarkierter Entitäten wie Geschlecht und Rasse zugunsten eines universellen Begehrens, und ihren konstitutiven Ausschließungen, der Selektion von spezifischen Qualitäten, sind Produkte interdiskursiver Verschiebungen, welche WUnsche, Substanzen, Körperteile, gesellschaftliche Formationen und Ökonomien verbinden. Wenn ich auch vorschlage, konsumistische Subjektivierungen nicht als vorder- oder hintergrUndig herrschaftlich kontaminiert zu denken, so soll dies nicht in einer Glorifizierung konsumistischer Körper als neue Menschen mUnden. Politisch wäre es allerdings, die Selektionen zu benennen und das naturwissenschaftliche Monopol auf die Sozialisierung von Entitäten zu demokratisieren.65
65 Letzteres ist das Projekt Bruno Latours; siehe Latour, 290-326 (Anm. 33). Und auch Donna Haraway verkündete ja nur, dass es besser sei ein (konsumis/ischer) Cyborg zu werden als (pro duk/ivis/ische) Göttin zu bleiben, nicht, dass sich damit die Tore Utopias öffueten. Es geht um hoffuungsvolle Optionen und Potenziale. Siehe D. Haraway, ..Ein Manifest rur Cyborgs: Femi nismus im Streit mit den Technowissenschaften (1985)", in: D. Haraway, Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. FrankfurtlM.lNew York 1995, 33-72.
1 92
IV.
Subjekt
F oucault, Burckhardt, Nietzsehe und die Hygieniker
l
Philipp Sarasin
Auf wen bezieht man sich, wenn man Geschichte schreibt? Der historiographische Text ist eine ziemlich unstabile Form des Schreibens: Während die geforderte Nähe zu, ja die Verpflichtung auf die Quellen und ihre "Wahrheit" jede philosophische Spekulation über den historischen Gegenstand zu verbieten scheinen, droht zugleich eine Geschichtsschreibung ohne Referenz auf "Theorien" und "Methoden" und ohne Bezug auf intellektuelle Gewährsleute sich im Dickicht der Belege zu verlieren. Die Proseminar-Weisheit, dass es keine Quellen ohne sie erschließende Fragen gibt, ist ein klein wenig abgründig. Sie impliziert, dass sich auch quellennahe Historiographie immer nur im Netz von Fragen entfaltet, die ohne übergreifende, dem Gegenstand primär feme, vielleicht gar philosophische Diskurse undenkbar wären - Diskurse oder auch nur Debatten, in denen sich die Stichworte und Konzepte kristallisieren, die als Denkwerkzeuge die empirische Arbeit von Historiker/innen anleiten. Aber nicht nur das: Auch diese theoretischen lools sind immer durch und durch historisch, sie haben eine Geschichte, die als Geschichte des Denkens nur unreine Ursprünge kennt und auf eine vielflUtige, oft ganz untergründige Weise wiederum mit jenen Gegenständen verknüpft sein kann, die als "empirische" von Historikern bearbeitet werden. Ein solcher Zusammenhang, der allenfalls in einem unfreiwilligen Sinne ein "hermeneutischer" genannt werden könnte, soll hier untersucht werden. Ich habe über die Texte der Hygieniker des 1 9. Jahrhunderts gearbeitet, die das bürgerliche Lesepublikum den Umgang mit dem eigenen Körper lehrten? Dabei hat mich Foucault "angeleitet", die Hygieniker zu verstehen, und zwar auf eine doppelte Wei se: Zum einen, indem sich die Foucaultschen Konzepte der Materialität von Diskur sen, deren Oberflächen und Regelmäßigkeiten als brauchbar erwiesen, Texte zu
2
Dieser Text beruht auf dem Manuskript rur einen Vortrag, den ich auf der Hamburger Foucault Tagung vom Oktober 2001 halten wollte; weil ich verhindert war, nach Hamburg zu fahren, wurde daraus dann meine Antrittsvorlesung an der Universität ZUrich vom 14. Januar 2002. Vgl. P. Sarasin, Reizbare Maschinen: Eine Geschichte des Körpers 1765-1914. FrankfurtlM. 200 1 .
1 95
Serien zu verknüpfen und diese als Diskurse zu analysieren; das ist mittlerweile zumindest als methodisches Postulat schon fast trivial und soll hier nicht weiter be sprochen werden.3 Zum andern aber lehrte mich Foucault die Hygieniker zu lesen,
indem er mit seinem an griechischen und römischen Texten entwickelten Konzept des
souci de so;
einen Blick auf die modemen Gesundheitslehren ermöglichte, die
den Hygienikern des
19.
Jahrhunderts - die sich explizit auf die Antike bezogen -
ausgesprochen angemessen erschien. Dieser verwickelte "hermeneutische" Zusam menhang ist es, der mich hier interessiert, j ener spekulative Punkt, in dem meine Quellen und Foucaults Konzeptualisierungen konvergieren - und damit auch die modemen Phantasmen, die im hygienischen Diskurs ebenso sehr als sein Ankerpunkt sichtbar werden, wie sie gleichermaßen, so meine Vermutung, auch in Foucaults philosophischem Spätwerk noch erkennbar sind. Ich werde argumentieren, dass Foucaults genealogische Rekonstruktion der Antike wie auch alle seine anderen Texte nicht einfach nur als historische zu lesen sind, sondern immer auch als philo sophische. Das bedeutet nicht, Foucault ontologische Absichten zu unterschieben; es geht allein darum, dass man Foucaults Text auch unabhängig davon lesen kann, ob seine historische Darstellung j eweils "richtig" oder "falsch" ist; das erst ermöglicht die Frage nach den theoretischen Implikationen bestimmter historischer Thesen. Foucaults dritte theoretische Verschiebung zielte auf ein grundlegendes Ver ständnis dessen, was in unserer Zivilisation "das Subjekt" genannt wird, und genau das ist es, was man auch den Fluchtpunkt seiner ganzen Arbeit nennen könnte. Dar auf, und nicht auf Foucault als Historiker im engen Sinne des Begriffs, habe ich mich im meiner Rekonstruktion der hygienischen Körper- und Subjektkonstruktionen des Jahrhunderts bezogen - auf Foucault den Philosophen, dessen genealogische
1 9.
Sichtweise des Subjekts rur mich ein Denkwerkzeug war. Dass sich dieses Werkzeug im Laufe der Arbeit selbst historisierte, möchte ich hier ebenso zeigen, wie ich mit Burckhardt und Nietzsehe andeuten will, in welche Richtung das Konzept der
soue;
de so; über Foucault hinaus getrieben werden mUsste.
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Vgl. dazu P. Sarasin, .,Diskurstheorie und Geschichtswissenschaft", in: R. Keller u.a. (Hg.), Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Bd. 1 : Methoden und Theorien. Opladen 2001, 29-52 sowie P. Sarasin, "Subjekte, Diskurse, Körper: Überlegungen zu einer diskursana
lytischen Kulturgeschichte", in: W. Hardtwigl H.-U. Wehler (Hg.), Kulturgeschichte Heute (Ge schichte und Gesellschaft, Sonderheft 16). Göttingen 1996, 131-164.
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I. Eine Referenz Foucault, Burckhardt, Nietzsche - die Zusammenstellung dieser Namen mag zwei fellos überraschen, weil Foucault nie mit dem Basler Kulturhistoriker Jacob Burck hardt in Verbindung gebracht wird, während die anderen Relationen in diesem Drei eck bekannt sind. So die Beziehung Foucaults zur Philosophie Nietzsches - sie war nichts weniger als eine jener machtvollen Wahlverwandtschaften französischer In tellektueller mit deutschen Philosophen, die filr die Geschichte des Denkens im 20. Jahrhundert maßgebend geworden sind.4 Foucault hat sich sehr explizit aufNietzsche bezogen, als er 1 97 1 seinen programmatischen Text "Nietzsche, la genealogie, I'histoire" veröffentlichteS - Nietzsche steht hier als Gewährsmann filr die zweite große Verschiebung in seinem Werk. Während ihn die erste Verschiebung von sei nen frühen psychologischen Schriften zu den großen Studien über Diskursformatio nen und zu einer Geschichte des Wissens ftlhrte, unternahm er in den 1 970er Jahren den Versuch, die Geschichte des abendländischen Subjekts nicht mehr ausgehend von Diskursen und Wissensregimes, sondern ausgehend von Machtverhältnissen zu analysieren, die Foucault nicht nach dem Muster "der Sprache und der Zeichen" analysieren wollte, sondern nach der Logik, "des Krieges und der Schlacht".6 Die wichtigsten beiden Studien, die er unter dem Titel einer Analytik der Macht publi zierte, waren zwei Theorieereignisse: "Überwachen und Strafen" von 1973 sowie der "Wille zum Wissen" von 1976, der erste Band seiner "Histoire de la Sexualite", auf den ich zurückkommen werde. Ebenso bekannt ist die Beziehung Burckhardts zu Nietzsche. Curt Paul Janz hat gezeigt, dass der ältere der beiden eine anfänglich von Faszination, dann zunehmend von Unverständnis, bis zum Schluss aber von Sympathie und Mitgefilhl geprägte Beziehung zu seinem jüngeren Basler Professorenkollegen pflegte.' Aber die Bezie hung von Foucault zu Jacob Burckhardt? Sie ist lapidar - die dritte "theoretische
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Vgl. K.-H. Geiß, Foucault-Nietzsche-Foucault: Die Wahlverwandtschaft. Pfaffenweiler 1993; M. Mahon, Foucault's Nietzschean Genealogy: Truth, Power, and the Subject. Albany, NY 1 992. NGH. WuM, 29. C. P. Janz, Friedrich Nietzsche: Biographie. München 1981 (3 Bde.), insb. Bd. 1, 565-566, 613, 771-772, 8 1 5, speziell Burckhardts Brief an Nietzsche über den Wanderer auf ..schwindelnden Felsgraten" vom 6.4.1879 (845; vgl. dazu Jacob Burckhardt, Briefe, hg. von M. Burckhardt, Bd. VII, BaseV Stuttgart 1969, 25-26), Bd. 11, 494-495 (vgl. dazu Burckhardt, Briefe, Bd. IX. BaseV Stuttgart 1980, 50-5 1 ), Bd. III, 35-38, 74; vgl. auch A von Martin, Nietzsche und Burckhardt: Zwei geistige Welten im Dialog. München 1 947, 1 1-17; L. Gossmann, Basel in the Age of Burckhardt: A Study in Unseasonable Ideas. Chicagol London 2000, 414-415, 434.
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Verschiebung"S im Foucaultschen Werk schließt mit einer expliziten Referenz direkt an Burckhardt an! Das mag besonders dann überraschen, wenn einem bewusst ist, dass Jacob Burckhardt in Frankreich als Historiker de facto kaum wahrgenommen wurde.9 Seine 1 860 erschienene "Kultur der Renaissance in Italien" und der "Cicero ne" von 1 855 wurden zwar beide 1 885 ins Französische übersetzt; die "Kultur der Renaissance" erschien aber erst 1964 und dann 1986 wieder in Frankreich, was mit den häufigen Editionen des Originals während dem ganzen 20. Jahrhundert nicht vergleichbar ist. Sein übriges Werk hingegen liegt mit der Ausnahme der Überset zung der "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" von 1 972 bis heute nicht auf Franzö sisch vor.IO Während etwa Hayden White Burckhardt zu den vier wichtigsten Histori kern des 1 9. Jahrhunderts zählt und die angelsächsische cultural history ihn zusam men mit Johann Huizinga als ihren Ausgangspunkt versteht, 1 1 war und ist Burckhardt in Frankreich keine Referenz. 12 Foucault aber beruft sich bei seiner dritten großen "Modifizierung,,1 3 seiner Ar beit auf niemand anderen als auf Burckhardt, um den Begriff der "Selbsttechniken" einzuftlhren: ,,Darunter sind gewusste und gewollte Praktiken zu verstehen, mit denen sich die Menschen nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern sich selber zu transformieren, sich in ihrem besonde ren Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen, das gewisse IIsthetische Werte tragt und gewissen Stilkriterien entspricht. Diese ,ExistenzkOnste', diese ,Selbsttechniken' haben zwar einiges von ihrem Gewicht und von ihrer Autonomie verloren, als sie mit dem Christen tum in die Ausübung einer Pastoralmacht integriert wurden und spater in erzieherische, medizinische oder psychologische Praktiken. Nichtsdestoweniger ware die lange Geschichte jener Ästhetiken der Existenz und jener Selbsttechnologien - wieder - in Angriff zu nehmen. Es ist lange her, dass Burck-
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SuW2 ( 1986), 12. Der Aufsatz von P. Vaisse, "Burckhardts Rezeption in Frankreich", in: A. Cesanal L. Gossman (Hg.), Begegnungen mit Jacob Burckhardt ( 1 8 1 8- 1 897) (Beitrage zu Jacob Burckhardt, Bd. 4). Basel 2002, stand mir bei Abgabe des Manuskripts noch nicht zur Verfllgung. Vgl. M. Ghelardi U.a., Relire Burckhardt. Paris 1997, Bibliographie, Ouvrage de Jacob Burck hardt, 239f. H. White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert. FrankfurtlM. 199 1 (Baitimore 1973), 302-346; A . Munslow, The Routledge Companion to Historical Studies. Lan donl New York 2000, 64-67. Siehe zum Beispiel die deutlich abwertende, einzige Bemerkung zu Burckhardt von R. Chartier in seinem Aufsatz von 1983 "Histoire intellectuelle et histoire des mentalites", in: Ders., Au bord de la falaise: L'historien entre certidues et inquietude. Paris 1 998, 33; vgl. auch A. Burguiere (Hg.), DictioMaire des Sciences Historiques. Paris 1986, Art. "Burckhardt, Jacob", 101-102. SuW2 ( 1986), 9.
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hardt ihre Bedeutungfiir die Renaissance unterstrichen hat; aber ihr Fortleben, ihre Geschichte, ihre Entwicklung sind damit nicht zuende."··
11. Die hygienische "Sorge um sich" Foucault erwähnt Jacob Burckhardt nur ein einziges Mal; dabei ist auffallend, dass er dessen "Kultur der Renaissance in Italien" als bekannt voraussetzt, ohne diesen Titel auch nur zu nennen, und zugleich, dass er die letzten beiden Bände der "Histoire de la Sexualit6" als scheinbar bloßen Anschluss an das von Burckhardt begonnene ge nealogische Projekt darstellt. Ich werde am Schluss dieses Aufsatzes zu Burckhardts Text zurückgehen - allerdings erst, nachdem ich zu zeigen versucht habe, welche philosophischen Implikationen Foucaults Darstellung der Antike hat. Dann lässt sich mit Burckhardt und auch mit Nietzsche dasjenige andeuten, was in Foucaults Dar stellung dennoch auf bezeichnende Weise fehlt. Es ist mit anderen Worten notwendig, Burckhardt rur eine Weile aus den Augen zu verlieren, und zuerst zu fragen, was diese "Selbsttechniken" sind, von denen Foucault spricht. Seine Rekonstruktion der Geschichte des "Gebrauchs der Lüste" und der "Sorge um sich", die er insgesamt als die antiken Formen der abendländi schen "Selbsttechniken" bzw. der "Künste der Existenz" und damit trotz aller nach folgenden Verwerfungen auch als "Ursprung" der westlichen Form der Subjektivität auszuweisen versucht; S ist relativ verwickelt; sie differenziert verschiedene histori sche Etappen und parallele Ausformungen und sie erstreckt sich über rund sechs Jahrhunderte, von der Zeit der hippokratischen Schriften bis ins 2. Jahrhundert unse rer Zeitrechnung. 16 Foucault betont verschiedentlich, dass die Aufmerksamkeit sich selbst gegenüber rur die antiken Autoren von Platon bis Seneca eine stark spirituelle Dimension hatte, das heißt eine Sorge um die innere Seelenruhe, um die Teilhabe der eigenen Vernunft an der göttlichen Wahrheit war. 1 7 Zugleich aber - und in der Dar stellung der Bände 2 und 3 der "Histoire de la Sexualit6" vorrangig - kreisten die vielfiiltigen Praktiken des sauci de sai um den eigenen Körper und um die Lüste, wie
14 SuW2 (1986), 18 (Hervorhebung durch mich). 1 5 SuW2 (1986), 12f. 16 Es ist auch bekannt, dass Foucault nach eigenem Bekunden große MUhe hatte, den unter dem Begriff der Selbsttechniken zusammengefassten Knäuel von Themen und Perspektiven analy tisch in den Griff zu bekommen; siehe dazu SuW2 ( 1986), 1 3-16; vgl. auch D. Eribon, Michel Foucault: Eine Biographie. FrankfurtlM. 1 99 1 (Paris 1 989), 458-468. 17 Siehe dazu vor allem TdS, 24-62.
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sie in der Beziehung zur Ehefrau, zu den Sklaven und vor allem zu den Knaben "ge braucht", das heißt wie sie bewusst eingesetzt, erlebt, problematisiert und beherrscht werden sollen. Ihr Ausgangspunkt, gewissermaßen ihre Basis war dabei die diäteti sche Aufmerksamkeit sich selbst gegenüber, wie sie sich in der antiken Gesund heitslehre als Diätetik oder Hygiene herausgebildet hatte: Es sei, so Foucault, "klar, dass die ,Diät' als Lebensregel, als Lebensweise, eine fundamentale Kategorie ist, in der menschliche LebensfUhrung gedacht werden kann; sie charakterisiert die Weise, in der man seine Existenz fUhrt, und ermöglicht es, die LebensfUhrung mit Regeln auszustatten: eine Problematisierung des Verhaltens im Hinblick auf eine Natur, die man zu bewahren und der man sich anzupassen hat. Die Diät ist eine ganze Lebens " kunst.,, 18 Ich muss hier Foucaults Darstellung der antiken Diätetik nicht referieren, sondern möchte bloß bemerken, dass genau diese Passage der Ausgangspunkt meiner eigenen Arbeit über die Hygieniker des 1 9. Jahrhunderts war: Die Diät ist eine ganze Lebenskunst, eine "Problematisierung,,19 des eigenen Verhaltens im Verhältnis zur Natur, zur inneren wie zur äußeren Natur des Menschen. Damit man versteht, um was es dabei geht, ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, dass Diät oder Hygiene, wie man auch sagen kann, weder in der Antike noch im 1 9. Jahrhundert sich wie heute bloß aufs Essen oder aufs Waschen beschränkt, sondern tatsächlich die gesamte menschli che Existenz umfasste. Hygiene war eine Form selbstauferlegter und selbstkontrol lierter Mäßigung, ein bewusster, selbstgesteuerter Versuch, "im Gleichgewicht" zu bleiben - und zwar in allen Feldern der sogenannten sex res non naturales: Also im Verhältnis zu Wasser und Luft, zum Essen und Trinken, zu den Bewegungen und zur Ruhe, im Verhältnis zu den Dingen, die auf die Körperoberfläche aufgetragen wer den, zu den Ausscheidungen und schließlich auch im Verhältnis zu den percepta, den Wahrnehmungen beziehungsweise schlicht den Bewegungen der Sinne und des Gei stes. Die Autoren des 19. Jahrhunderts, die sich noch lange auf dieses Schema bezo gen haben, um ihre Texte zu organisieren, haben geschwankt, ob sie die geschlechtli che Aktivität den gesta - den Bewegungen - oder den excreta - den Ausscheidungen - zuordnen wollen; klar war aber immer, wie ich noch ausfUhrlicher zeigen werde, dass die Regelung dessen, was seit dem Ende des 1 9. Jahrhunderts dann "Sexualität" genannt wurde, fUr die Hygieniker von großer Wichtigkeit war.20
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1 8 SuW2 ( 1986), 1 3 1 . 1 9 SuW2 (1986), 1 7 (Foucault setzt den Begriffbei der ersten Verwendung i n Anftlhrungszeichen). 20 VgI. dazu neben Sarasin, Maschinen, Kap. 1 und 3 (Anm. 2) vor allem A. Emch-oeriaz, "The Non-Naturals Made Easy", in: R. Porter (Hg.), The Popularization of Medicine, 1 650-1 850. " London 1 992; S. Jarcho, "GaIen's Six Non-NaturaIs: A Bibliographie Note and Translation , in: Bulletin of the History of Medicine 44 (1970), 372-377; L. J. Rather, "The ,Six Things Non Natural''', in: Clio Medica 3 ( 1968), 337-347.
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In all diesen Bereichen menschlicher Existenz, deren Katalog ich hier in der im 1 8. Jahrhundert modernisierten und 1 765 in der "Encyclopedie" kodifizierten Vari ante referierte,2 1 soll das Subjekt sich bewusst, rational und aufmerksam verhalten, soll es versuchen, sein persönliches Gleichgewicht, seine "Mitte" zu wahren, um in dieser Ausgewogenheit "gesund" zu bleiben.22 Die zentrale Frage dieses Regulati onsdenkens war, wie sich zwar die eigenen körperlichen Möglichkeiten an Leben digkeit, Kraft, Leistung und Genießen nutzen und steigern lassen, wie gleichzeitig aber der Exzess vermieden werden kann. Wie können die Bedürfhisse des Körpers richtig eingeschätzt werden? Was ist zu viel, was zu wenig? Wo liegt das richtige Maß im Essen, Schlafen, in körperlicher Anstrengung, bei geistiger Arbeit und beim Sex? Solche Fragen waren deshalb nicht so leicht zu beantworten, weil die Hygieni ker des langen 19. Jahrhunderts ihren Diskurs nicht an physiologischen Normen ausrichteten, sondern den Körper konsequent als je "individuellen" zu denken ver suchten. Und das bedeutet, dass das Subj ekt j e nach Temperament, Geschlecht, Alter, sozialer Lage und seinen Idiosynkrasien sein eigenes Gesetz rur den Umgang mit sich selbst finden müsse. Wie zentral dieser Punkt ist, der die physiologisch orientierte Schulmedizin im 1 9. Jahrhundert zunehmend von der klassischen Hygiene entfremdete und umge kehrt, wird besonders deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sich Nietzsehe in signifikanter Weise auf genau diesen Aspekt der seit dem 1 8. Jahrhundert refor mulierten antiken Gesundheitslehre bezog. In der "Fröhlichen Wissenschaft" findet sich eine Bemerkung, die besser als alles den radikal individualistischen Zug der hygienischen Gesundheitsvorstellung umreißt: Es gibt, wie es hier heißt, ,,[kleine Gesundheit an sich, und alle Versuche, ein Ding derart zu definieren, sind kläglich missraten. Es kommt auf dein Ziel, deinen Horizont, deine Kräfte, deine Antriebe, deine Irrtümer und namentlich auf die Ideale und Phantasmen deiner Seele an, um zu bestimmen w a s selbst rur deinen L e i b Gesundheit zu bedeuten habe.,al Heinrich Schipperges hat 1975 detailliert gezeigt, wie sehr die Philosophie Nietzsches insge samt und in radikaler Weise als ein Versuch verstanden werden muss, die überkom menen idealistischen und moralistischen Spekulationen dadurch zu überwinden, anstelle der Seele den Leib zum Ausgangspunkt und Zentrum des Denkens und der
2 1 Encyclopedie ou Dictionnaire Raisonne des Sciences, des Arts et des Metiers, par une societe des gens des lettres. Mis en ordre et publie par Mr • • • [Diderotl d' Alembert). Neufchastel 1 765, Bd. XI, Art. "Non-naturelles, choses", 2 1 8. 22 Vgl. auch A. Labisch, Homo Hygienicus: Gesundheit und Medizin in der Neuzeit. FrankfurtlM.I New York 1992. 23 F. Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, in: Ders., S8mtliche Werke, Kritische Studienausgabe, hg. von G. Colli u. M. Montinari. München U.a. 1 980, Bd. 3, 343-652, 477. .
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individuellen Existenz zu machen.24 Nietzsche hat sein Verhältnis zum Leib und dessen Gesundheit nicht anders als nach dem Muster der sex res non naturales ge dacht. Im "Ecce Homo" heißt es daher unter dem Titel "Warum ich so klug bin": "Diese kleinen Dinge - Ernährung, Ort, Clima, Erholung, die ganze Casuistik der Selbstsucht - sind über alle Begriffe hinaus wichtiger als Alles, was man bisher rur wichtig nahm.,,2S Nietzsches Bezug zur Hygiene - der ein wenig den Anschein erwecken soll, als habe er als Erster, Weitblickender nun endlich wieder das verschüttete Wissen der Alten ans Licht gebracht,26 während er de Jacto nur zusammenfasste und in eine philosophische Perspektive rUckte, was die Hygieniker seit rund hundert Jahren schon in ihren populären Ratgebern endlos wiederholt hatten... -, nun, sein Bezug zur Hygiene ließe sich zwar noch detaillierter darstellen, doch das ist in unserem Zu sammenhang nicht nötig. Denn jetzt schon wird deutlich, dass Nietzsches hygieni sche "Kasuistik der Selbstsucht" nichts anderes als eine modeme Sorge um sich nach hygienischer Art war. Mit anderen Worten: Nietzsche, die Hygieniker und Foucault passen wunderbar zusammen. Was Foucault in der Antike wiederfindet, ist nietz scheanisch durch und durch27 - und Nietzsche selbst war ein großer Hygieniker. Den hygienischen Diskurs also auf diese Weise mit Foucault und Nietzsche als ein In strument der Selbsttechnik zu verstehen, scheint ganz unproblematisch zu sein. Auch wenn Foucault sich in seinem Spätwerk wie gesagt mit keinem Wort auf Nietzsche bezieht - und was wäre näher gelegen als das? -, hat seine Darstellung der antiken Selbsttechniken als Beschreibungs-Modell bzw. philosophisches Konzept präzis gepasst rur meine Rekonstruktion des hygienischen Diskurses des 1 9. Jahrhunderts. Und tatsächlich: ohne Foucaults Konzept des souci de soi wäre es mir nicht möglich gewesen, die Hygiene des 1 9. Jahrhunderts anders zu verstehen denn als eine bloße ,,Mikrophysik der Macht", als bloße Ein- und Anpassung der Subjekte ins Räderwerk der medikalisierten und medikalisierenden Disziplinierungsagenturen der Modeme, als Teil des biopolitischen MachtlWissen-Dispositivs. Da half Foucault gegen Foucault ... Wo also liegt das Problem? An sich ist man als Historiker ja froh, Konzepte zu finden, die gut passen - aber dieses Konzept hat letztlich zu gut gepasst. Das Problem lag, wie ich im Folgenden zeigen will, schlicht darin, dass sich die Hygiene des 1 9. Jahrhunderts im Lichte von Foucaults Spätwerk im Grunde gar nicht analysieren, 24 H. Schipperges, Am Leitfaden des Leibes: Zur Anthropologik und Therapeutik Friedrich Nietz sches. Stuttgart 1 975. 25 F. Nietzsche, Ecce Homo: Wie man wird, was man ist, in: Ders., SlImtliche Werke (Anm. 23), Bd. 6, 255-321, 295. 26 Vgl. Schipperges, 160 (Anm. 24). 27 Vgl. Mahon, 157-175 (Anm. 4).
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sondern nur beschreiben und bestätigen ließ. Was das bedeutet und warum das so ist, wird verständlich, wenn man sich vor Augen hält, welches die Ausgangslage des "mittleren" Foucault der 1 970er Jahre war, die ihn 1982 mitten in der komplizierten Umschichtung seines Denkens und seiner geplanten Bücher sagen ließ: "Vielleicht habe ich die Bedeutung der Technologien von Macht und Herrschaft allzu stark betont".28
III. Die Archäologie des Begehrensmenschen Auch auf die Gefahr hin, nicht nur die Argumentationslinie dieses Aufsatzes nach den mit Burckhardt und Nietzsche ausgelegten Fährten nun noch komplizierter zu machen, sondern dabei auch Dinge zu referieren, die allgemein bekannt sind, muss ich hier dennoch auf den "mittleren" Foucault zurückkommen, genauer auf das viel leicht wichtigste Werk Foucaults überhaupt: "La Volonte de Savoir" von 1976. In durchaus direktem Anschluss an dieses Buch - und insofern gibt es tatsächlich kei nen "Bruch" in seinem Denken - schreibt Foucault dann acht Jahre später, das Ziel seiner "Geschichte der Sexualität" sei es, die Archäologie des "Begehrensmenschen" zu rekonstruieren, das heißt "eine Analyse der Praktiken, durch die die Individuen dazu verhalten worden sind, [ ...] sich als Begehrenssubjekte zu entziffern".29 1 976 schon stellte sich Foucault die Frage nach der Entstehung der "Sexualität" als dem, was das moderne Subjekt als sein Eigenstes, Innerstes begreift, als eine Frage da nach, ob m'1n das Begehren historisieren könne: Ist es denkbar, dass das, was ein Subjekt genannt wird, auch anders als über das zuerst christliche und - so Foucaults Darstellung - daran anschließend dann das psychoanalytische "Gesetz des Begeh rens,,30 gedacht werden kann? Beziehungsweise als genealogische Frage formuliert: Wann genau entstand jene Form von Subjektsein, die über den Modus des Begehrens funktioniert? Es ist unumgänglich, daran zu erinnern, dass 1976, auf dem Höhepunkt des Einflusses der Psychoanalyse Jacques Lacans, das "Begehren" (desir) nicht ein fach ein irgendwie körperliches, triebhaftes Drängen meint, sondern ein durch das "Gesetz" (Lacan), das heißt durch die Sprache bzw. die symbolische Ordnung indu ziertes Verhältnis des Subjekts zu seinem eigenen Mangel.3 1 "Dieses Machtverhält28 29 30 31
TdS, 27. SuW2 ( 1986), l l f. SuWI (1977), 103. Zum Konzept des Begehrens bei Lacan siehe zum Beispiel E. Grosz, Jacques Lacan: A Feminist Introduction. London 1 990, oder P. Widmer, Subversion des Begehrens: Jacques Lacan oder Die zweite Revolution der Psychoanalyse. FrankfurtlM. 1990.
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nis" zwischen Gesetz und Subj ekt, so Foucaults Paraphrase der Lacanschen Position, "ist immer schon da, wo das Begehren ist: es in einer nachträglich wirkenden Re pression zu suchen ist daher ebenso illusionär wie die Suche nach einem Begehren außerhalb der Macht.,,)2 Foucault beharrt aber darauf, dass die Vorstellung einer symbolischen Ordnung, die dem Subjekt gegenüber als Gesetz funktioniert, mit der Repressionshypothese eine "gemeinsame Repräsentation von Macht" teilt, nur in entgegengesetzter Weise: Während die Repressionshypothese eine mögliche Befrei ung von Macht und - im engeren Sinne - unterdrückter Sexualität verspreche, be haupte die psychoanalytische Theorie des Begehrens in "affirmative[m]" Sinne "ihr seid ja immer schon in der Falle", mit anderen Worten: ihr seid immer schon der Macht unterworfen.33 Das nun ist keine Paraphrase mehr, sondern Foucaults grundle gende Kritik an der Psychoanalyse, und in diesem Sinne auch der Ausgangspunkt seiner philosophischen Position: Er lehnt die Vorstellung, dass das Subjekt durch das Gesetz der Sprache konstituiert und dadurch "gespalten" wird, grundsätzlich ab.34 Während Lacans Subjekttheorie um die Idee kreist, wonach das Subjekt als "Subjekt des Unbewussten,035 zu denken ist, das eben gerade nicht im Gesetz "aufgeht", son dern dieses im Begehren immer zugleich bestätigt und unterläuft, zielt Foucaults Projekt darauf, das Verhältnis von Subjekt und Gesetz als historisches zu denken und das kann nur heißen: damit auch die Möglichkeit einer Alternative zu denken geben. Denn das Konzept eines Subjektes, das als Sprachwesen grundsätzlich dem "Gesetz", der symbolischen Ordnung unterworfen ist, ist rur ihn die "Falle", in die man nicht treten darf. Aus dieser Perspektive bekommt die Genealogie der Sexualität eine sehr grundsätzliche, eben philosophische Bedeutung, die Ober das bloß histori sche Interesse an einer Geschichte der Sexualität weit hinausgeht. Beziehungsweise: die Entscheidung, ob der Zusammenhang "Subjekt und GesetzlMacht" psychoanaly tisch oder genealogisch untersucht wird, ist schon die Differenz ums Ganze. Ich betone das, weil es sich zeigen wird, dass Foucaults Konzeption der "Sexualität" und dann des "Gebrauchs der LOste" nur im Lichte dieser Weichenstellung Oberhaupt zu verstehen ist, die Foucault selbst auf die knappe Formel bringt, "den Sex ohne das
32 SuWI (1977), 1 0 1 . 3 3 SuWI (1977), 103, vgl. 106. 34 Siehe dazu J. Lagrange, "Lesarten der Psychoanalyse im Foucaultschen Text", in: M. Marques (Hg.), Foucault und die Psychoanalyse: Zur Geschichte einer Auseinandersetzung. TUbingen 1 990, 1 1 -74, insb. 48-50; vgl. auch J.-A. Miller, ,,Michel Foucault et la psychanalyse", in: Mi chel Foucault philosophe. Rencontre internationale Paris 9, 10, 1 1 janvier 1988. Paris 1 989, 7782, insb. 8 1 t: (dt in: F. Ewaldl B. Waldenfels (Hg.), Spiele der Wahrheit: Michel Foucaults Denken. FrankfurtlM. 1991, 66-73, insb. 72). 35 J. Lacan, "Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten", in: Schriften, hg. von N. Haas u. H.-J. Metzger, Bd. lI. Berlin 1991 (paris 1 966), 1 65-204, 174.
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Gesetz und die Macht ohne den König zu denken".36 Im selben Maße also, wie die Macht nicht nach dem zentralisierten Muster von juridisch codifizierter und zentrali sierter Herrschaft verstanden wird,37 soll auch der "Sex" jenseits der symbolischen Ordnung gedacht werden können - frei vom "Gesetz". Bekanntlich radikalisiert Foucault im Verlauf des Textes diese Position noch weiter: Der Sex, der generell für Praktiken der Lust zu stehen scheint, gerät im Schlusskapitel selbst in den Fokus der genealogischen Dekonstruktion: Der Sex wird hier �um "spekulativsten Element" des Sexualitätsdispositivs,38 zur idee fIXe einer "künstlichen Einheit", in der "anatomische Elemente, biologische Funktionen, Ver haltensweisen, Empfindungen und Lüste" zusammengefasst werden, und damit schließlich auch zum merkwürdigen, allein noch genealogisch verstehbaren Anker punkt moderner Subjektivität.39 Das philosophische - und gewissermaßen auch "po litische" Programm stand damit fest: "Man muss sich von der Instanz des Sexes frei machen, will man die Mechanismen der Sexualität taktisch umkehren, um die Kör per, die Lüste, die Wissen in ihrer VielfiUtigkeit und Widerstandsfllhigkeit gegen die Zugriffe der Macht auszuspielen. Gegen das Sexualitätsdispositiv kann der Stütz punkt des Gegenangriffs nicht das Sex-Begehren sein, sondern die Körper und die Lüste.,,4o Foucaults Frage lautete also: Wie kann es als möglich ausgewiesen werden, der modemen Biomacht Widerstand entgegenzusetzen - und um was anderes, als diesen Widerstand zu denken, soll es denn hier gehen? -, wenn das Subjekt, wie in "La Volonte de Savoir" beschrieben, bis in den intimsten "Kern" seiner Sexualität ein Effekt der Macht ist? Während die psychoanalytische Theorie des dezentrierten Subj ekts des Unbewussten just das Begehren als "Stützpunkt" des Widerstandes gegen eine vereinnahmende Macht begreift, suchte Foucault seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre nach einem historischen Modellfall, der Taktiken des "Gegenangriffs" zu denken erlaubt: Gibt es den historischen Fall einer Form der Subjektkonstitution, der exemplarisch zeigt, ob und wie das Subj ekt von den "Körpern und den Lüsten" her gedacht werden kann, so dass es auch jenseits des Gesetzes, des Geständnis zwangs und schließlich der Biomacht vorstellbar wird?41 Ohne diese Frage macht Foucaults angestrengtes Ringen darum, den historischen Ursprung des Begehrens-
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SuWI (1977), 1 12. SuWI (1977), 1 1 1. SuWI (1977), 185. SuWI (1977), 184f. SuWI (1977), 187. Vgl. dazu 8uch U. Brieler, Die Unerbittlichkeit der Historizitat: FOUC8ult als Historiker. Köln U.8. 1998, 521f.
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menschen zu rekonstruieren, schlicht keinen Sinn.42 Nur wenn gezeigt werden kann, dass das Gesetz des Begehrens, welches das abendländische Subjekt konstituiert, nicht "grundsätzlich" gilt, sondern historisch kontingent ist, wäre ein "Gegenangriff' überhaupt zu denken.43 Foucaults Suche zwang ihn bekanntlich, weit zurückzugehen, und zu seiner Überraschung entdeckte er, dass schon im vorchristlichen Raum, genauer in den ersten beiden Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, eine "Strenge", eine rigorose Verpflichtung auf moralische Normen rur die Männer der römischen Elite vorge schriebenen den souc; de so; konturierte. Foucault deutete diese Strenge als tiefste Schicht seiner archäologischen Grabung nach den Anfängen des Begehrensmen schen, weil diese schon gleichsam Gesetzescharakter annahm.44 Zuvor aber, in einer Zeit, die bis ins 4. Jahrhundert v. Chr. zurückreicht, entzifferte er eine weit weniger stark reglementierte Form des Umgangs mit sich selbst, das heißt Formen des Selbst bezuges, in der die Suche nach einer Ästhetik der Existenz, ja der Selbststilisierung ein treibendes Motiv sind, und rur die die Freiheit der Wahl von gewissen Verhal tensweisen und "Normen" im Hinblick auf die angestrebte Ästhetik der Existenz konstitutiv sind.4s Foucault fasste in seinem "Resurne du Cours" rur das Studienjahr 1980-8 1 am College de France diese Existenzkünste in der Formel zusammen: "Es handelt sich um Akte und Lüste und nicht um Begehren. Es handelt sich um Selbst bildung anhand von Lebenstechniken und nicht um Verdrängung, um Verbot und Gesetz.,,46 Das war die präzise Antwort auf die Formel von 1976 "den Sex ohne das Gesetz denken", wie leicht erkennbar ist. Auch wenn die zusammenfassende Bemer kung von 198 1 auf die Kaiserzeit bezogen war, das heißt auf die Zeit der einsetzen den zunehmenden Strenge, so galt hier immer noch, auf was es Foucault ankam: Dass sich die Normen des Verhaltens, nach dem die Subjekte sich zu richten hatten, nicht von einem übergeordneten Gesetz herleiten, sondern selbstgewählt und in ei nem gewissen Sinne "den Körpern und den Lüsten" komplementär waren. Auch dort, wo es um ein "Ringen" mit den Lüsten ging, um die Frage ihrer Beherrschung, war das keine Ethik, die ihre Kraft vom Versprechen eines j enseits des individuellen Lebens und des eigenen Körpers liegenden essentiellen Guten her bezog, sondern die
42 Vgl. P. Macherey, "Foucault: Ethik und Subjektivität", in: W. Schmid (Hg.), Denken und Exis tenz bei Michel Foucault FrankfurtlM. 1991, 1 81-196, insb. 181, 1 88t: 43 Dass diese Überlegungen mit Foucaults vielfll1tigen kalifornischen Erfahrungen in Übereinstim mung zu bringen sind, ware leicht zu zeigen; ich will aber darauf verzichten, "biographisch" zu argumentieren. 44 SuW3 (1986), z. B. 57 oder 93f., zusammenfassend 301-307. 45 Siehe insbesondere SuW2 (1986), 38. 46 Rdc, 136t:, zitiert in Eribon, 460 (Anm. 16).
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ausschließlich darauf ausgerichtet war, das diesseitige Leben in Einklang mit dem 7 Körper zu regeln.4 Ich habe oben schon darauf hingewiesen, dass diese Normen einer Ethik und Ästhetik der Existenz der hygienischen souci des so; des 1 9. Jahrhunderts präzise entsprach, und zwar auch in der eben diskutierten Hinsicht: Auch die Hygieniker wollten den souci de so; von den Zwängen und Gesetzen des Christentums - von der "pastoralmacht" - befreien. Sehr programmatisch schrieb in diesem Sinne der Schweizer Hygieniker Gustav Custer 1 887: "Glücklich, wer sich ein Badekabinett im eigenen Heim einrichten kann mit Badewanne, Douche und Frottirhandschuh: ihm blühen Gesundheitsrosen auf kräftiger Haut. Wer aber in einem Orte mit gut einge richteter, das ganze Jahr hindurch offener Badeanstalt wohnt, versäume die herrliche Gelegenheit nicht und gehe ins Badehaus mit der gleichen Gewissenhaftigkeit min destens einmal wöchentlich, wie er zur Kirche pilgert; Anwendung solcher Gesund heitsregeln an sich selber ist auch eine Art Gottesdienst!,,48 Der Körper und die hy gienischen Selbstpraktiken wurden im Hygienediskurs des 19. Jahrhundert zur Alter native zu Gott und zum Gottesdienst: Der Körper sollte nicht einem fremden Gesetz unterworfen werden, sondern das Fleisch selbst so blühen können wie die ,,Rosen" auf der frottierten Haut. Man kann nun, nachdem sich zumindest in Umrissen Foucaults philosophische Frage an die Antike abgezeichnet hat, einen Schritt weitergehen und dieses sich selbst regulierende Subjekt, das nicht "dem Gesetz" unterworfen ist, noch etwas genauer untersuchen. Ich habe oben erwähnt, dass die Diätetik mit ihren Regeln der Mäßigung das eigentliche Feld der antiken Selbsttechnik darstellt: Der Umgang mit dem Körper, die Mäßigung, die das männliche Subjekt sich dabei abverlangt, sind das primäre Feld, in welchem das Subjekt sich selbst als moralisches konstituiert, weil es sich dabei selbst beherrschen muss. Foucault schreibt: "Der Akzent wird auf das Verhältnis zu sich gelegt, welches es ermöglicht, dass man sich nicht von den Begierden und Lüsten fortreißen lässt, dass man ihnen gegenüber Herrschaft und Überlegenheit wahrt, dass man seine Sinne in einem Zustand von Ruhe hält, dass man frei bleibt, von jeder inneren Versklavung durch die Leidenschaften und dass man zu einer Seinsweise gelangt, die durch den vollen Genuss seiner selber oder die
47 Paul Macherey hat diese Argumentationslinie Foucaults ausgehend von einer in "Wahnsinn und Gesellschaft" zitierten Bemerkung Spinozas über die ,,Einheit des Geistes mit der gesamten Na tur" rekonstruiert; es geht dabei um eine Ordnung, "die keine menschliche Ordnung, sondern ei ne natürliche Ordnung ist". (P. Macherey, "Für eine Naturgeschichte der Normen", in: Ewaldl Waldenfels (Hg.) (Anm. 34), 171 -192, 1 8 1 . 4 8 G. Custer, OefTentliche und private Gesundheitspflege in populären Vorträgen und AufSätzen. Zürich! Stuttgart 1887, 208-209.
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vollkommene Souveränität seiner über sich definiert werden kann.,,49 Und an anderer Stelle bemerkt er, dass die Kontrolle über die eigene Lust erst dazu fUhrt, "dass man sich als Moralsubjekt konstituiert", das heißt als "freie[r] Man[n] im vollen, positiven und politischen Sinn". Mit anderen Worten: "In dieser techne geht es um die Mög lichkeit, sich selber als Herr-Subjekt seines Verhaltens zu konstituieren, das heißt, sich [...] zum geschickten und klugen Führer seiner selbst zu machen, der das Maß und den Augenblick abschätzen kann.'.so Diese Technik meint im wörtlichen Sinn ein Sich-Regieren. Foucault verwendet den Begriff der gouvernementa[ite, um so erstens die älteren Studien über die Macht, zweitens die in den Vorlesungen der späten sieb ziger Jahre entfaltete Theorie des Staates sowie drittens die Theorie des sich selbst regierenden Subjekts miteinander verknüpfen zu können; die Selbsttechnik ist daher im Kern eine Regierungskunst: "L'on doit s'autogouverner comme un gouverneur gouverne ses suj ets.',S I Wenn wir hier ein Zwischenresultat formulieren wollen, dann in Form einer zweifellos sehr paradoxen Hypothese: Was Foucault ausgehend von seiner ursprUng lichen Frage nach dem "Stützpunkt des Gegenangriffs" entwickelt, läuft zumindest als genealogische Deskription auf nichts anderes als auf eine Ethik des autonomen Subjekts hinaus. In dem Maße, wie der griechische Mann nicht von seinen Lüsten und ihren Objekten bzw. Instrumenten abhängig werden will, verfUgt er buchstäblich als "Herr im eigenen Haus" (Freud) über seinen Körper sowie über die Körper seiner Frau, seiner Sklavinnen und seiner Lustknaben. In exakt dieser von Foucault hier beschriebenen Weise haben auch die bürgerlichen Ratgeberautoren seit der Aufklä rung in der Hygiene nichts weniger als das Modell des selbstgesteuerten und selbst verantwortlichen, kurz: des autonomen bürgerlichen Subjekts gesehen, das vor allem anderen seinen Körper beherrscht, um ihn zu genießen.s2 Pierre Macherey irrt daher, wenn er schreibt, dass das Foucaultsche Subjekt der Ethik, das seinem Leben selbst eine Form gibt, genau durch diese Aktivität der Hervorbringung "völlig im Gegen satz zur Darstellung eines autonomen Ichs steht, das dadurch, dass es sich durch sein ursprüngliches Wesen bestimmt, sofort mit einem Universellen kommuniziert und, bereits ganz von sich selbst erfUllt, seiner eigenen Geschichte vorhergeht.',SJ Das ist insofern falsch, als auch das bürgerliche "autonome Ich" - zumindest, solange es nicht mit dem idealistischen Konstrukt eines transzendentalen Ich gleichgesetzt wird 49 SuW2 (1986), 43. 50 SuW2 ( 1986), 102 und 178. 51 Ge, 403 (deutsch als: GE, 265-292); siehe dazu ausftlhrlich T. Lemke, Eine Kritik der politischen Vernunft: Foucaults Analyse der modemen GouvernementalitlU. Berlinl Hamburg 1 997, 1 5 1-194 und 295-3 15, insb. 1 10-125. 52 Vgl. dazu ausftlhrlich Sarasin, Maschinen (Anm. 2). 53 Macherey, "Foucault", 183 (Anm. 42).
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sich immer "bilden", das heißt sich immer schon durch Techniken der Gewissen sprUfung und der hygienischen Pflege seines Körpers erst als das konstituieren musste, was es dann als "ich selbst" bezeichnen konnte. Die Autonomie des bUrgerli chen Ichs liegt nicht in seiner angeblichen Universalität, sondern darin, dass es sich in der Lage wähnt, sich selbst bilden, sein Leben selbst gestalten zu können, weil es sich selbst besitzt, wie das in aller wünschenswerten Deutlichkeit schon im "Catechisme du Citoyen Franyais des ideologue" Constantin Volneys von 1 793 aus gesprochen wird und wie es dann die HygienehandbUcher endlos wiederholten:s4 FUr Volney war der Körper die grundlegendste Form des Eigentums, der Ausgangspunkt jeder Vorstellung von Eigentum - man "hat" einen Körper. Der BUrger ist, wie Vol ney schreibt, "der absolute Herr, der vollständige Besitzer seines Körpers"; das be deutet auch, dass das Individuum die vollständige Kontrolle über diesen Körper habe und auch vollumfanglich rur ihn verantwortlich sei.ss Volneys Konzeption ist bürgerlich im eigentlich Sinn und sie macht deutlich, wie wenig sich Foucaults griechische Männer vom Volneyschen citoyen unterscheiden: Einerseits wird hier ein autonomer Herr seines eigenen Körpers entworfen, der den Körper "hat", um ihn zu genießen. Andrerseits aber stellt Volney diesen seinen ge sunden Körper kultivierenden Bürger in einen gesellschaftlichen Zusammenhang mit anderen freien Bürgern - ein Zusammenhang, der vom Einzelnen gewisse Beiträge, Leistungen und Rücksichten fordert, was in Foucaults griechischer Antike nicht anders ist. Man könnte einwenden, dass Volney seinen Entwurf ja explizit ein "Ge setz" nenne und auch - wenngleich in sehr abstrakter Weise - von "Gott" spreche, der dieses Gesetz garantiere. Dies aber würde bedeuten, eine bestimmte Rhetorik zu überschätzen und zu übersehen, dass im Zentrum dieses "Natur-Gesetzes" der Bürger steht, der selbst entscheidet, was rur ihn gut ist und was nicht. Autonom, bürgerlich und sehr männlich. _
IV. Elemente der Kritik Die paradoxe Hypothese, dass Foucaults Entwurf einer Subjektivität, die nicht dem christlichen Gesetz des Verbots und des Geständnisses und auch nicht dem psycho54 C. Volney, "La Loi Naturelle, ou Principes physiques de la morale", in: Ders., CEuvres choisies. Paris 1 833 ( 1 793 u.d.T.: "La Lai Naturelle ou Catechisme du Citoyen Fran�ais"); vgl. dazu auch L. Jordanova, "Guarding the Body Politic: Volneys Catechism of 1 793", in: F. Barker U.a. (Hg.), 1 789: Reading Writing Revolution. Essex 1 982, 12-21. " 55 Volney, "Lai Naturelle , 406 (Anm. 54); vgl. dazu auch D. Outram, The Body and the French Revolution: Sex, Class and Political Culture. New Haven, CTI Landon 1 989, 50f., 53
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analytischen Gesetz des Begehrens unterworfen sei, dem modemen Entwurf des autonomen Subjekts auffallend ähnlich ist, den die Hygieniker seit der Aufklärung propagiert und popularisiert haben, lässt sich durch einige Hinweise auf die von der Forschung schon vorgebrachte Kritik an Foucaults Rekonstruktion der antiken Selbsttechniken noch ein wenig erhärten. Eine erste Ebene der Kritik stellt in Zweifel, ob die Foucaultsche Darstellung der antiken Selbsttechnik ihren Gegenstand Oberhaupt trifft. So haben David Cohen und Richard Salier eingewendet, Foucault unterschätze die normalisierende Funktion von geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen in der griechischen Antike massiv von Gesetzen also, denen sich auch freie Männer unterwerfen mussten und die fUr ihre Lebensfllhrung mehr Gewicht hatten als die Technologien der Selbstästhetisie rung durch Mäßigung. Grundsätzlich sei die ethische Position der Griechen nicht auf einer Ethik der Mäßigung und der Selbstbeherrschung aufgebaut gewesen; vielmehr verwechsle Foucault Platons Vision des idealen Staates und der dort regierenden Philosophen mit den Anforderungen des wirklichen Lebens, wie sie den Griechen klar vor Augen gestanden hätten: "Platon [ ...] repeatedly emphasizes that, as long as the world is as it is, precisely the virtue of moderation and self-mastery makes one 56 completely unsuited for public life.,, Ähnliche Vorbehalte formulierte der Althisto riker Pierre Hadot. Foucaults Beschreibung der Selbsttechniken sei "allzu sehr auf das ,Selbst' oder zumindest eine bestimmte Konzeption des Selbst zentriert" und vernachlässige den entscheidenden Zug, dass die antike Sorge um sich um das Pro 57 blem der Teilhabe des Subjekts an der transzendentalen, göttlichen Vernunft kreise. FOr unseren Zusammenhang. wichtiger ist eine zweite Ebene der Kritik; sie be trifft die soziale Kontur der antiken Selbsttechnik. Diese war ein männliches Konzept und basierte auf einer Ethik, die ausdrücklich Frauen und andere Unfreie ausschließt, wie Foucault selbst auch deutlich sagt: "Es ist eine Männermoral: eine Moral, die von Männern gedacht, geschrieben, gelehrt wird und an Männer - natOrlich freie gerichtet ist.
[...
S]ie ist eine Ausarbeitung des männlichen Verhaltens vom Stand s8 Und
punkt der Männer aus und mit dem Ziel, ihrer LebensfUhrung Form zu geben."
an anderer Stelle bemerkt er, dass die Kontrolle Ober die eigene Lust erst dazu fUhrt, "dass man sich als Moralsubjekt konstituiert", das heißt als, "freier Mann im vollen, 59 Feministische Historikerinnen haben diese Dar
positiven und politischen Sinn".
stellung scharf kritisiert: Foucault perpetuiere die schlimmsten Cliches Ober das
" 56 D. Cohenf R. Salier, ..Foucault on Sexuality in Greco-Roman Antiquity , in: J. Goldstein (Hg.), Foucault and the Writing ofHistory. Cambridge, MA 1994, 35-59, 43. 57 P. Hadot, "Ü berlegungen zum Begriff der ,Selbstkultur'", in: Ewaldl Waldenfels (Hg.) (Anm. 34), 219-228, 220f.. 58 SuW2 (1986), 33 vgl. 132. 59 SuW2 (1986), 103.
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Verhältnis der Geschlechter in der Antike;60 seine Konstruktion des "reflexive seIt" basiere ausschließlich und gegen jede historische Evidenz auf einem idealisierten Männlichkeitsbild, das die männliche Sexualität aus ihrem sozialgeschichtlich rekon struierbaren Zusammenhang reiße und systematisch alle anderen Formen von Sub jektivität ausblende.6 1 Foucault habe in den antiken Texten nichts anders als jene Gestalt bürgerlicher Männlichkeit erkennen können, wie sie seit der Aufklärung konstruiert worden ist; seine Theorie des Selbstverhältnisses sei daher vollständig ,, "gendered male .62 Die dritte Ebene der Kritik betrifft die Sexualität; auch Foucaults These, dass die Regulierung der LUste gleichsam den Kern, die "ethische Substanz,,63 der griechi schen Selbsttechnologien ausgemacht habe, scheint einer historischen ÜberprUfung nicht wirklich standzuhalten, wie Wolfgang Detel zeigt.64 Foucault schreibt, man finde seit dem 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung "die Idee ganz klar formu liert, dass die sexuelle Aktivität an sich gefährlich und kostspielig ist und dass sie so eng an den Verlust von Lebenssubstanz gebunden ist, dass eine sorgfältige Ökono mie sie begrenzen muss, soweit sie nicht unbedingt nötig ist".6s Er argumentiert, die "Unruhe", von der die antiken Texte zeugen, kreise um drei Brennpunkte: "die Form des Aktes, die Kosten, die er verursacht, der Tod, mit dem er verbunden ist".66 Foucaults Interpretation des antiken Verhältnisses zur Sexualität lässt sich allerdings, so Detels Urteil, "kaum auf die Texte der antiken wissenschaftlichen Diätetik stUt zen".67 Diätetische Regeln zur sexuellen Praxis kämen in den relevanten Texten nur marginal oder gar nicht vor; die sexuelle Diät habe "im Vergleich mit der Regulie rung durch Nahrung, Übungen, Bäder und Schlaf im Rahmen der hippokratischen Medizin eine entschieden untergeordnete Rolle" gespielt.68 Noch gewichtiger ist allerdings Detels Bemerkung, dass Foucaults Modell der Regulierung einer gefähr lich dynamischen Lust als Kern des souci de SOI.69 mit den "wenigen und verstreuten " 60 P. du Bois, "The Subject in Antiquity after Foucault , in: D. H. I. Larmour u.a (Hg.), Rethinking Sexuality: Foucault and Classical Antiquity. Princeton, NI 1 998, 85-103, insb. 86f. 61 L. Foxhall, ,,Pandora Unbound: A Ferninist Critique of Foucaults History of Sexuality", in: Larmour u. a (Hg.), 122-137 (Anrn. 60); vgl. auch A. Richlin, ,,Foucault's History of Sexuality: A Useful Tbeory for Wornen?", in: Ebd., 138-1 70. 62 L. Hunt, ,,Foucault's Subject in Tbe History ofSexuality", in: D. C. Stanton (Hg.), Discourses of Sexuality, frorn Aristotle to AIDS. Ann Arbor 1992, 78-93, 83, 85. 63 SuW2 (1986), 37. 64 W. Detel, Macht, Moral, Wissen: Foucault und die klassische Antike. FrankfurtlM. 1998. 65 SuW2 (1986), 3 14. 66 SuW2 (1986), 1 6 1 . 67 Detel, 1 4 6 (Anrn. 64). 68 Detel, 1 4 1 f. (Anrn. 64). 69 So deutlich SuW2 (1986), 68.
21 1
einschlägigen Bemerkungen" zur sexuellen Diätetik nicht in Übereinstimmung zu bringen sei; es sei nirgends davon die Rede, ..dass die sexuelle Aktivität von sich selbst her, aufgrund ihrer intrinsischen Natur, immer schon zum Exzess tendiert und daher durch geistige Zucht zu begrenzen ist".70 Es gibt, so Detels Beschreibung der hippokratischen Auffassung, in allen Feldern des körperlichen Verhaltens die Mög lichkeit zur Maßlosigkeit und die Gefahr von Pathologien, aber dem Sex kommt in dieser Hinsicht in keiner Weise eine privilegierte Rolle zu. Wieso aber steht der Sex in Foucaults Antike so sehr im Zentrum?
V. Den Exzess erkennen Die bürgerlich-individualistische Logik der Hygiene beruhte wie erwähnt darauf, dass Jeder und Jede selbst herausfinden musste, was ihm oder ihr gut tut. Das aber war in den Augen der Hygieniker auch eine geflihrliche Logik, wie Nietzsehe natür lich schnell erkannt hat. Vor allem in der zweiten Hälfte des
19.
Jahrhunderts haben
die Hygieniker daher immer besorgter die Frage gestellt, wie der Exzess in allen Feldern körperlichen Verhaltens vom Schlaf bis zur geistigen Arbeit erkanllt werden könne - der Exzess, der zuerst die Gesundheit ruiniert, dann die soziale Existenz des Subj ekts und der letztlich zum Tod ftlhrt. Welches ist, so die Frage, gleichsam der Modell-Exzess, der als Wahrnehmungsmuster die Erkennbarkeit aller Formen von Exzessen sichert?7 1 Die Antwort ist eindeutig: die Hygieniker haben den Exzess konsequent nach dem Muster der sexuellen Überschreitung gedacht. Nicht dass der Sex selbst grund sätzlich als Gefahr betrachtet worden wäre. Er wurde im
19. Jahrhundert vielmehr als
eine regelmäßige, oft beinahe tägliche Notwendigkeit angesehen, um den Körper ..gesund" zu erhalten - aber dieser gesunde Sex war auf eine paradoxe Weise gleich zeitig auch voller Gefahren. Konkret, und um es kurz zu sagen: Sexualität vor der Ehe, nicht-regelmäßige, übermäßige Sexualität in- und außerhalb der Ehe, und vor allem natürlich Onanie als die unmittelbare sexuelle ..Verschwendung" schlechthin. Diese Exzesse dienten im Hygienediskurs als Modell ftlr die Gefahr von Über schreitung auch auf anderen Gebieten, denn in der sexuellen ..Verausgabung" vor allem anderen verliert, so die Autoren, das männlich Subj ekt die Herrschaft über sich selbst.
70 Detel, 145, 147 (Anm. 64). 71 FUr ausftlhrliche Belege und zum Folgenden siehe Sarasin, Maschinen, Kap. 3 und 5 (Anm. 2).
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Der Grund daftlr ist ein somatischer, kein moralischer. GestUtzt auf eine altehr würdige physiologische Tradition, etablierte sich ftlr diesen Kontrollverlust im Raum des Hygienediskurses seit dem späten
18.
Jahrhundert eine Metapher, die als Be
schreibung körperlicher Realität auftrat: Namentlich die einflussreichen Autoren Samuel Auguste Tissot und Christoph Wilhelm Hufeland, Letzterer der Arzt Imma nuel Kants, formulierten die Theorie eines engen Zusammenhangs von Sperma,
Gehirn und "Lebenskraft".72 Hufeland schreibt
1797
in seiner berühmten ,,Makrobio
tik": "In den Zeugungssäften ist die Lebenskraft so concentrirt, dass der kleinste Theil davon ein künftiges Wesen zum Leben hervorrufen kann. Lässt sich wohl ein größerer Balsam zur Restauration und Erhaltung unserer eigenen Lebenskraft den ken?" Ja, ist der Zeugungssaft nicht "der größte Balsam ftlr unser eigenes Blut,,?71
Das ist ein Argument ftlr den sorgsamen Umgang mit diesem besonderen Saft, der eine direkte Verbindung zum Gehirn unterhält: "Je mehr wir die Zeugungskräfte reizen und ihre Säfte verschwenden, desto mehr verliert die Seele an Denkkraft,
Energie, Scharfsinn, Gedächtnis." 74 Aus diesem Grund also ist es primär der sexuelle Exzess, der das männliche Ich bedroht: Denkkraft, Energie, Scharfsinn, Gedächtnis dieses Subjekts sind abhängig von Säften, die auf eine geheimnisvolle Weise die Essenz des gesunden männlichen Körpers und Geistes zu sein scheinen. Bis ins
20.
Jahrhundert hinein drohte daher
jede Form von sexuellem Kontrollverlust zur "Gehirnerweichung" zu ftlhren, zur realen Schädigung des Gehirns.7s Aber nicht nur das: Selbstbeherrschung galt spezi fisch als Kontrolle des "männlichen" Gehirns über die seit der Aufklärung als "weib lich" konnotierten Nerven.76 Die Beherrschung der eigenen spermatischen Ökonomie war daher das Zeichen schlechthin ftlr die Herrschaft über sich selbst - sich selbst als dem bürgerlichen Besitzer eines Körpers; "Gehirnerweichung" hingegen war der phantasmatische Kern der hygienischen Sorge um sich - der phantasmatische Signi fikant einer namenlosen Angst, eines Unaussprechlichen. Es stellt sich daher die Frage, ob auch noch in Foucaults Darstellung der antiken Regulation der Lüste gleichsam ein Echo dieser insgesamt sehr modernen Angst zu
72 S. A. Tissot, L'onanisme: Dissertation sur les maladies produites par la masturbation. Lausanne 1 760; C. W. Hufeland, Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern. Jena 1 797. 73 Hufeland, Bd. I, 1 7 1, Bd. 2, 12 (Anrn. 72); vgl. ausfilhrlicher zu dieser um 1 800 von vielen Autoren vertretenen und von Hufeland arn prominentesten formulierten Blutbalsarn-Theorie C. Wernz, Sexualität als Krankheit: Der medizinische Diskurs zur Sexualität um 1 800. Stuttgart 1993, 100-107. 74 Hufeland, Bd. 2, 14 (Anm. 72). 75 Siehe dazu die Belege in Sarasin, Maschinen, 403-433 (Anm. 2). 76 Dazu grundlegend A. C. Vila, ,,sex and Sensibility: Pierre Roussels Systeme physique et moral de la femme", in: Representations 52 (1995), 76-93.
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vernehmen ist. Detels Kritik an der Foucaultschen Rekonstruktion lässt zumindest den Verdacht entstehen, dass die Konvergenz zwischen dem phantasmatischen Kern� der Mäßigkeitsvorstellung der Hygieniker und jener der Foucaultschen Griechen nicht nur auf der tatsächlichen Tradition der antiken Gehirn-Sperma-Theorien beruht, sondern dass die Verbindung von Sex, Verausgabung und Tod im griechischen Den ken von Foucault in einer Weise verstärkt und überzeichnet wurde, die nur als Rück projektion moderner Auffassungen von Männlichkeit in die Antike verstanden wer den könnte. In dem Maße, wie der phantasmatische Signifikant der "Gehirnerwei chung" im modemen Hygienediskurs dafUr stand, eine namenlose Angst vor dem Scheitern eben dieser kontrollierenden, sich selbst ästhetisierenden Männlichkeit abzuweisen, gibt es auch bei Foucault ein eigenartiges Schweigen über die soziale Kontur und das spezifische gendering des souei de soi. Diese Sorge um sich ist ein Modell rur die Selbstästhetisierung bürgerlicher Männer und niemanden anderen; sie ist dabei auf den Fluchtpunkt einer "vollkommenen" Beherrschung und des "voll kommenen" Genusses seiner selbst ausgerichtet, und sie operiert ebenfalls mit der Vorstellung einer spermatischen Ökonomie. Obwohl Foucault den Vorbildcharakter der antiken Selbsttechniken explizit bestritten hat, läuft sein ganzes philosophisches und genealogisches Projekt darauf hinaus, in der griechischen Antike das Modell eines Gegenentwurfs zur christlichen bzw. psychoanalytischen Konzeption des Sub jekts zu finden.71 Es ist daher auch kein Zufall, dass sich Foucault in keiner Weise rur das interessiert, was von diesem spezifischen Diskurs als sein Ungesagtes verdrängt wird - ein Verdrängtes, das die diskursive Identität dieser männlichen Subjekte über haupt erst konstituiert.78 Genau hier aber wird deutlich, dass Foucaults doppelte Anleitung, die Hygieniker zu lesen - diskursanalytisch und philosophisch - am Schluss auch in einem doppel ten Sinne ,,nicht ausreichte": Dass sich Diskurse von jenem Verdrängten her konsti tuieren, das Foucault verächtlich das "halbverschwiegene Geschwätz eines anderen Diskurses" genannt hat und das aufzuspüren er als der Methode einer Archäologie des Wissens entgegengesetzt empfand,79 ließ sich ebenso wenig mit Foucault verste hen, wie die Frage danach, wie das hygienische Ideal einer Selbstregulation in kriti scher Weise dekonstruiert werden müsste. Wie ließe sich, so ist nun zum Abschluss zu fragen, das Modell der hygienischen Selbsttechnik nicht einfach nur mit Foucault beschreiben, sondern auch "gegen Foucault" analysieren? Ich will das nicht "philo-
77 Rm, insb. 38. FUr den Hinweis danke ich erneut Martin Stingelin, der mich auf diese Stelle aufmerksam machte, um mich vor meiner Foucau1t-Interpretation zu bewahren. 78 J. Butler, KOrper von Gewicht: Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin 1 995 (New York 1993), z.B. 253. 79 AdW (198 1), 43; vgl. 293.
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sophisch" tun, sondern in dem ich nach einem historischen Modell suche, das daftlr die Anleitung bieten könnte. Dies ist nun exakt jenes Modell, auf das Foucault sich bezieht, wenn er Burckhardt erwähnt - und das er auf überaus signifikante Weise verfehlt. Aber mehr noch: Auch Nietzsehe hätte Pate stehen können ftlr ein Ver ständnis der Existenzkünste, das die Fallen der Foucaultschen Konzeption vermieden hätte.
VI. Gelächter und Missverständnisse (Burckhardt und Nietzsche) Das aber möchte ich erst zeigen, nachdem ich betont habe, was ich Foucault verdan ke. Auch wenn ich der Meinung bin, dass Foucaults Beschreibung der Antike in jeder Hinsicht radikal modem und er selbst ein großer Hygieniker ist, soll diese Kritik nicht falsch verstanden werden. Denn was wäre die Alternative zu diesem Modell? Ist es nicht sinnvoll, wie Foucault nach einem Diskurs zu suchen, der wie der hygie nische Diskurs die Subjekte dazu anleitet, eine Wahl zu treffen, ein Stück "Indivi dualität" zu etablieren - und zwar in der ganzen Paradoxie dieser Denkfigur, dass es eben ein Diskurs ist, der das Subjekt als freies konstituiert? Seine Fragen nach der Geschichtsmächtigkeit von Diskursen und von Machtpraktiken, die auf Körper zielen und Körper überhaupt erst als soziale hervorbringen, sind wohl erst in Verbindung mit der Frage danach, wie sich Subjekte konstituieren, die innerhalb des Rahmens von Macht-Wissen-Dispositiven ein bestimmtes Verhältnis zu sich selbst einnehmen, der Komplexität wirklicher gesellschaftlicher Verhältnisse und der Stellung von Subjekten in diesen Verhältnissen angemessen. Beziehungsweise: In dieser Kombi nation sind sie allen anderen historischen Analysemodellen überlegen. Was also ist dennoch schief an Foucaults Ansatz, der zugleich als unhintergehbar erscheint? Das ist nun der Punkt, an dem endlich Jacob Burckhardt als der ver schwundene Vermittler der dritten Verschiebung in Foucaults Werk in den Blick gerUckt werden muss, und an dem ich auch noch einmal auf Nietzsche zurUckkom men will. Auf was mochte sich Foucault bei Burckhardt bezogen haben, als er ihn in der Einleitung zu "L'usage des plaisirs" erwähnte? Am Anfang des berühmten zwei ten Abschnitts von Burckhardts "Kulturgeschichte der Renaissance in Italien" heißt es, dass "in Italien zuerst" der "Schleier aus Glauben, Kindesbefangenheit und Wahn", unter dem im Mittelalter das Bewusstsein "träumend oder halbwach" verbo gen lag, "in die Lüfte verweht", und dass der Mensch begann, sich als Individuum
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wahrzunehmen.so "Italien", so Burckhardt weiter, "weiß im 14. Jahrhundert wenig ' von falscher Bescheidenheit und von Heuchelei überhaupt; kein Mensch scheut sich davor, aufzufallen, anders zu sein und zu scheinen als die andern."B 1 Und wie ein Foucaultscher Genealoge schreibt Burckhardt: "Ein sehr geschärfter kulturgeschicht licher Blick dürfte wohl imstande sein, im 15. Jahrhundert die Zunahme völlig aus gebildeter Menschen schrittweise zu verfolgen. Ob dieselben das harmonische Aus runden ihres geistigen und äußeren Daseins als bewusstes, ausgesprochenes Ziel vor sich gehabt, ist schwer zu sagen; Mehrere aber besaßen die Sache, soweit dies" - wie der Basler Burckhardt bemerken muss - "bei der Unvollkommenheit alles Irdischen möglich ist."S2 Es müssen diese Passagen über das harmonische Ausrunden des geistigen und äußeren Daseins dieser Renaissance-Subjekte gewesen sein, worauf Foucault sich in seiner Burckhardt-Referenz bezogen hat. Burckhardts Text beginnt sich dann aber eigenartig zu verflirben; er bleibt nicht beim Lobpreis der Entstehung des Individu ums stehen, sondern kommt über die modeme Erfindung des Ruhmes in der Renais sance und den "kolossalen Ehrgeiz und Durst nach Größe"S3 Einzelner schließlich auf den Witz und Spott zu sprechen, der diese sich selbst ästhetisierenden Individuen bald getroffen hat. "Das Korrektiv nicht nur des Ruhmes und der modemen Ruhm begier" , schreibt er, "sondern des höher entwickelten Individualismus überhaupt ist der modeme Spott und Hohn, womöglich in der siegreichen Form des Witzes." Und weiter: "Ein selbständiges Element des Lebens konnte der Witz doch erst werden, als sein regelmäßiges Opfer, das ausgebildete Individuum mit persönlichen AnsprUchen, vorhanden war.,,84 Was also ist genau die Referenz bei Burckhardt, auf die Foucault sich bezieht? Zweifellos beschreibt Burckhardt die Stilisierung der Existenz - zuerst bei Gewalt herrschern, wie er sagt, dann auch bei anderen "Zelebritäten" -, aber er kann diese Geschichte nicht erzählen, ohne nicht zugleich die spöttische und ironische Antithese zur sich aufspreizenden, ästhetisierten Individualität darzustellen. Genau das aber fehlt bei Foucault. Ohne jede Ironie und anscheinend auch ohne Bewusstsein dafilr, dass die Ethik und Ästhetik der Existenz bürgerlicher Herren bei den nicht ganz so bürgerlichen Witzemachern nur Hohn und Spott hervorrufen kann, kehrt bei ihm die Selbsttechnik dieser Herren als Konzept einer Individualität wieder, die der "Physik
80 J. Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien. Leipzig [1936], 76. 81 Burckhardt, Renaissance, 77 (Anm. 80). 82 Burckhardt, Renaissance, 79 (Anm. 80). 83 Burckhardt, Renaissance, 87 (Anm. 80). 84 Burckhardt, Renaissance, 88 (Anm. 80).
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der Macht" entgeht.ss Auch in diesem Punkt ist Foucault ein Hygieniker - ganz im Gegensatz zum skeptischen Jacob Burckhardt, der verschwundene und missverstan dene Vennittler. Und Nietzsehe? Hat nicht Nietzsehe die Sache mit der Gesundheit und mit der hygienischen Selbstregulation vollkommen ernst gemeint, und hatte er, wie Curt Paul Janz gezeigt hat, mit seiner pennanent labilen Gesundheit nicht auch allen Grund dazu? Zweifellos - aber auch Nietzsehe war gewitzt. In Ecce Homo, jenem Text, von dem Friedrich Kittler sagt, er sei die Überwindung des bürgerlichen Romans, weil hier der Autor in vollkommener Offenheit von sich selbst spricht, ohne dabei noch Raum tur Interpretationen und Zwischen-den-Zeilen-Iesen zu lassen,s6 verrät Nietzsehe sein persönliches Geheimnis der "großen Gesundheit": "An dieser Stelle", so schreibt er, "ist nicht mehr zu umgehen die eigentliche Antwort auf die Frage, w i e m an w i r d , w a s m a n i s t zu geben. Und damit berUhre ich das Meisterstück in der Kunst der Selbsterhaltung - der Selbstsucht..." Die Antwort auf diese Frage lautet: "Dass man wird, was man ist, setzt voraus, dass man nicht im Entferntesten ahnt, w a s man ist. [...] Darin kann eine große Klugheit, sogar die oberste Klugheit zum Ausdruck kommen: wo noscere te ipsum das Recept zum Untergang wäre, wird Sich-Vergessen, Sich-M i s s v e r s t e h e n , Sich-Verkleinern, -Verengen, -Vennit telmässigen zur Vernunft selber." Und weiter: "Man muss die ganze Oberfläche des Bewusstseins - Bewusstsein i s t Oberfläche - rein erhalten von irgend einem gro ßen Imperative. Vorsicht selbst vor jedem großen Wort, jeder großen Attitüde! Lau ter Gefahren, dass der Instinkt zu frUh ,sich versteht' - _"S7 Was Nietzsehe hier als eigentliches Geheimnis der Lebenskunst und des Lebens aus seinem eigenen Körper heraus begreift, ist gerade keine Technologie, sondern eine ironische Haltung dem eigenen Scheitern und der eigenen Schwäche gegenüber, verknüpft mit der allerdings ziemlich teleologischen Gewissheit, dass sich so die eigene Wahrheit herausschälen werde. Das ist es, was schief ist an Foucaults Konzept des souci de soi: dass es so ernst gemeint ist. Es ist vollständig ironiefest, und diese bürgerlichen Subjekte - bei Foucault wie bei den Hygienikern - sind krampfhaft bemüht, sich ja nicht misszuver stehen.ss Es gibt, ich habe es angedeutet, keine Alternative zur paradoxen theoreti85 Zitiert in: B. H. F. Taureck, Michel Foucault. Reinbek b. Hamburg 1977, 123; vgl. dazu auch Eribon, 455 (Anm. 1 6). 86 F. Kittler, "Wie man abschafft, wovon man spricht: Der Autor von ,Ecce Homo"', in: 1. Derridal Kittler, Nietzsche - Politik des Eigennamen: Wie man abschafft, wovon man spricht. Berlin 2000, 65-100. 87 Nietzsche, Ecce Homo, 293 (Anm. 25). 88 Völlig ironiefest und zutiefst vom Phantasma der "autonomen Selbstsorge" (248) durchdrungen ist W. Schmid, Philosophie der Lebenskunst: Eine Grundlegung. FrankfurtIM. 1998.
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sehen Bemühung, die Freiheit des Subjekts zu denken und dabei gleichzeitig nicht zu vergessen, dass auch das Subjekt das Produkt von bestimmten Diskursen, von be- ' stimmten kulturellen Mustern ist, die diese Form von individueller Wahl überhaupt erst vorsehen. Foucault ist in dieser Hinsicht als Theoretiker unhintergehbar. Ge schichtsschreibung hat in seinem Sinne, aber auch im Sinne Jacob Burckhardts nach zuzeichnen, wann und wie sich solche historisch spezifische Formen von Individua lität und Freiheit manifestieren, indem jeweils eine Sprache auftaucht, die ihnen Existenz und Gestalt geben kann. Eine solche Sprache aber ist nie rein, sondern ist die Sprache von reichen Männern, von Gewaltherrschern und Zelebritäten, von Ärz ten und Hygienikern, und es ist immer eine Sprache, die von den Unterlegenen mit Spott kommentiert werden kann.
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"Erfahrungen" des Männlichen zwischen Sexualität und Politik ( 1 880- 1 920) : Annäherungen an eine Historiographie des Politischen mit Michel Foucault Claudia Bruns
Ausgehend von den Schriften der dritten Phase Foucaults,1 in denen er den Begriff des Regierens sowohl auf die ,Führung' des Staates wie auf die ,Selbstfiihrung' bezieht, möchte ich nach der historischen Rationalität von geschlechtlich und ras sisch codierten Subjektformationen fragen. Bezogen ist diese Frage auf den Diskurs der "Maskulinisten,,2 zu Beginn des 20. Jahrhunderts, mit dessen Analyse ich ver schiedene theoretische Positionen Foucaults exemplifizieren möchte. Fragt man nach der Verbindung von Politik und Männlichkeit im Deutschland des frühen 20. Jahr hunderts, so sieht man sich zunächst auf das Phänomen des Männerbunds verwiesen. Der Männerbund wird in der Forschung überwiegend soziologisch, psychoanalytisch oder literaturhistorisch erklärt. Was könnte eine foucaultsche Perspektive leisten? Für eine an Foucault orientierte Geschlechtergeschichte des Politischen scheinen mir folgende vier Aspekte zentral zu sein: Ein modifiziertes Verständnis von Macht, das sich erstens dem binären Schema von Unterwerfung und Widerstand entzieht und das zweitens nach ExkJusions- und Normalisierungsslrategien fragt, die rur Mecha nismen der ,Biologisierung des Politischen' sensibilisieren. Drittens lässt sich mit dem späten FoucauIt der herkömmliche Regierungsbegrifj erweitern, indem dieser als Verbindung zwischen der Regierung der einzelnen durch sich selbst und der Regierung anderer konzeptionalisiert wird, also zwischen Subjektkonstitution und Herrschaftsstrategien vermittelt. Und viertens eröffnet sich mit Foucault eine Per spektive der Kritik an einer Politik, die mit dem Rekurs auf "Wahrheit" gemacht wird.
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Mit der ,dritten Phase' Foucaults ist in etwa der Zeitraum zwischen 1976 und 1984 beschrieben. Der Begriff der "Maskulinisten" bezeichnet Vertreter bestimmter "maskulinistischer" Positionen im sexual-wissenschaftlichen Diskursfeld, die die Virilität des homosexuellen Mannes betonten. Vgl. A. Hewitt, Political Inversions: Homosexuality, Fascism, and the Modemist Imaginary. Stanford, CA 1 996, 79-129. 219
I. Macht - zwischen Unterwerfung und Widerstand Um die Jahrhundertwende kommt es zu einer verstärkten "Problematisierung,,3 von Männlichkeit. 1902 verlegte der Ethnologe Heinrich Schurtz die Grundlagen j eder Gesellschaft ins Männerhaus, 1912 diskutierte die junge Generation von Wandervö geln, ob ihre Bewegung auf mann-männlicher Erotik beruhte, und spätestens mit dem Ersten Weltkrieg verbreiten sich mit den Schriften Hans Blühers männerbündische Diskurselemente in verschiedene Spezialdiskurse hinein, in Politik, Ästhetik, Religi on und Pädagogik.4 Männlichkeit tritt ins "Spiel des Wahren und Falschen" ein und wird durch neue diskursive Praktiken zu einem "Gegenstand des Denkens". Eine solche Problematisierung erfolgt nicht zwangsläufig. Sie ist vielmehr eine der möglichen Antworten auf eine historisch reale schwierige Situation. Allgemein wird die qualitativ und quantitativ neue Thematisierung von Männlichkeit als (Macht-)Effekt der Frauenbewegung angesehen. Tatsächlich zeigt sich die Proble matisierung von Männlichkeit als ein komplexes Ensemble von Praktiken, die aus verschiedensten Diskurssträngen gespeist wurden. Die Verbindung von Männlichkeit mit sozialer Normalität und staatlicher Leistungsflihigkeit war nicht nur eine Antwort auf eine ,bedrohliche' Frauenbewegung,s sondern auch eine Antwort auf die (v.a. in den Sexualwissenschaften vorangetriebene) Konstruktion devianter Männlichkeiten. Zur als abweichend markierten Männlichkeit gehörte der sogenannte ,Homose xuelle'. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde dem männerliebenden Mann sein sexu elles Verhalten nicht mehr nur als Laster und Sünde der Sodomie vorgeworfen, son dern er wurde mit einer neuen Gesamtpersönlichkeit ausgestattet. Sexualität bzw. sexuelles Begehren und Charakter wurden aneinander gebunden. Nicht nur die Frau,
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"Problematisierung bedeutet nicht die Repräsentation eines präexistenten Objekts und auch nicht die diskursive Erschaffung eines nicht-existierenden Objekts. Es ist das Ensemble diskursiver und nichtdiskursiver Praktiken, das etwas ins Spiel des Wahren und Falschen eintreten lasst und es als Gegenstand rur das Denken konstituiert (sei es in Fonn moralischer Reflexion, wissen schaftlicher Erkenntnis, politischer Analyse etc.)"; GdS, 1 58; DuW, 179. Zur breiten Rezeption der Männerbundtheorien BlUhers vgl. auch B.-U. Hergemöller, "Hans Bluhers Mllnnerwelten. Fragmente, Widerspruche, Perspektiven", in: Invertito: Jahrbuch rur die Geschichte der Homosexualitaten 2 (2000), 58-84. Die verstärkte Wahrnehmung von Frauen im öffentlichen Raum blieb im strikt relationalen Geschlechterverhaltnis nicht ohne Effekt auf männliche Selbstdefinitionen. - Paradoxerweise hatte der Hinweis auf die Mächtigkeit der Frauenbewegung auch die strategische Funktion, eine bestimmte Fonn hegemonialer Mllnnlichkeit zu legitimieren, zu starken und entsprechende Strategien der Dominanz modifiziert, d.h. modernisiert, fortzusetzen.
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sondern auch der homosexuelle Mann wurde als weiblich, passiv und hysterisch charakterisiert.6 Ab
1 896
gab es von Seiten der so stigmatisierten Männer Versuche, sich gesell
schaftlich mehr Anerkennung zu verschaffen. Ein Teil der ,Homosexuellen' Emanzipationsbewegung7 favorisierte die (an UlrichsB u.a. orientierte) Theorie des "Dritten Geschlechts", die besagte, dass homosexuelle Männer ein "drittes Ge schlecht" zwischen Mann und Frau bildeten. Ihr (angeborenes) Begehren nach dem Mann qualifizierte sie zugleich als (bemitleidenswerte) Männer mit weiblicher Seele.
Gegen diese Einschätzung regte sich von Anfang an Widerstand.9 Spätestens ab O es über das Verständnis von Männlichkeit zum Bruch. I Die Verfechter der
1906 kam
Maskulinisten innerhalb der Bewegung wollten ,homosexuelle' Männer nicht als ein ,verweiblichtes' "drittes Geschlecht" verstanden wissen, sondern als staatspolitisch 11 Ihre Versuche der Einschreibung in den Diskurs
besonders nützliche, virile Männer.
hegemonialer Männlichkeii2 dienten nicht nur dem Widerstand gegen die herrschen-
Dies belegen zahlreiche medizinische Studien, wie auch die Betroffenen Bilder von sich entwar fen, die in diesen Kategorien funktionierten. 7 Der Mediziner Magnus Hirschfeld gründete zusammen mit drei anderen Männern das Wissen schaftlich-humanittlre Komitee in Berlin zur Mobilisierung einer breiteren Öffentlichkeit zur Ab schaffung des Paragraphen 175, der ,homosexuelle Handlungen' unter Strafe stellte. 8 Der Jurist Karl Heinrich Ulrichs (1825-1895) (Pseudonym: Numa Numantius) setzte sich seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts in seinen Schriften rur die Anerkennung des von ihm so genannten männerliebenden "Urnings" (mit Referenz auf Platons Symposion) ein, der eine "weibliche Seele im männlichen Körper" habe. Die zentralen Topoi der Sexualpathologie hin sichtlich der männlichen Homosexualität - die Begriffe des "dritten Geschlechts" und der ,,zwi schenstufen" - wurden von ihm entwickelt; S. Mehlmann, ..Das vergeschlechtlichte Individuum - Thesen zur historischen Genese des Konzepts männlicher Geschlechtsidentität", in: H. Bublitz (Hg.), Das Geschlecht der Moderne: Genealogie und Archäologie der Geschlechterdiffereoz. FrankfurtlM. u.a 1998, 95-1 18, 1 I0f. 9 Adolf Brand wollte mit seiner Zeitschrift Der Eigene eher auf die besondere Männlichkeit des ,mannliebenden' Mannes und seine kulturellen und staatlichen Leistungen von der Antike bis heute aufmerksam machen. 1 0 Für diesen Bruch spielte der Zoologe Benedict Friedlaender eine große Rolle; vgl. Anm. 16. 1 1 Zum Kreis ..homosozialer Opposition" gegen Hirschfeld siehe auch H. Oosterhuis, ..Homosocial Resistance to Hirschfeld's Homosexual Putsch: The Gemeinschaft der Eigenen, 1 899-1914", in: M. Duyves (Hg.), Among Men, Among Women: Sociological and Historical Recognition of Homosocial Arrangements. Amsterdam 1983, 305-321 . M. Keilson-Lauritz, Die Geschichte der eigenen Geschichte: Literatur und Literaturkritik in den Anfllngen der Schwulenbewegung am Beispiel des Jahrbuchsfür sexuelle Zwischenstufen und der Zeitschrift Der Eigene. Berlin 1997. 12 Zum Begriff "hegemonialer Männlichkeit" Vgl. R. W. Connell, Der gemachte Mann: Konstrukti on und Krise von Männlichkeiten. Opladen 1999 (Cambridge 1995). Zum Hegemoniebegriff vgl.
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de Diskriminierung und somit der Integration in den Normalisierungsdiskurs. J3 Sie lassen sich zugleich auch als ein Versuch lesen, die Strukturen hegemonialer Männ- ' Iichkeit zu stützen und mit historisch variablen Machttechniken zu stärken. Foucaults Machtanalysen schärfen den Blick filr die "taktische Polyvalenz" von Diskursen und relativieren die damit einhergehende Matrix polarer Zweiteilung in Opfer- und Tätergruppen, in Herrscher und Beherrschte. Macht wird von dem späten Foucault nicht mehr als rein repressiv oder rein produktiv aufgefasst, sondern in einem Doppelcharakter von Unterwerfungs- und Widerstandspotenzial begriffen. 1 4 Gerade am Beispiel der Maskulinisten lässt sich dies gut verdeutlichen: Einerseits sind sie an bestimmte Rationalitäten ihrer Zeit gebunden; so konnten sie sich nicht einfach außerhalb des Sexualitätsdispositivs bewegen und außerhalb eines sexuellen Begehrens definieren.1 s Zugleich waren sie nicht nur passive Opfer einer ihnen auf oktroyierten Subjektkonstitution, der Zuschreibung von Homosexualität. Es gelang ihnen durch neuartige diskursive Verknüpfungen, das zu prägen, was sie befreien sollte: Männlichkeit. Das heißt auch, ihr Bemühen um gesellschaftliche Anerkennung und Integration verband sich mit Strategien, die bestimmte Formen hegemonialer Männlichkeit nicht nur stützten, sondern überhaupt erst herstellten. Der Bezug auf auch E. Laclaul C. Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie: Zur Dekonstruktion des Mar xismus. Wien 2000 (1985). 13 Unter "Normalisierung" verstehe ich im Folgenden keine moralische Normativitat, sondern eine kultur- und subjektkonstitutive Kategorie, die sich seit dem Ende des 1 8. Jahrhunderts schritt weise in verschiedenen Diskursen ausgebreitet hat. Jürgen Link hat Foucaults Ansätze zu einer Normalisierungstheorie ausgebaut und erweitert. Vgl. ders., Versuch über den Normalismus: Wie Normalitat produziert wird. Opladen 1996, 5 1 -53, 185-312. 14 "Eben weil sich Macht und Wissen im Diskurs ineinander fugen, ist dieser als eine Serie diskon tinuierlicher Segmente zu betrachten, deren taktische Funktion weder einheitlich noch stabil ist. Genauer: die Welt des Diskurses ist nicht zweigeteilt zwischen dem zugelassenen und dem aus geschlossenen oder dem herrschenden und dem beherrschten Diskurs. Sie ist als eine Vielfllltig keit von diskursiven Elementen, die in verschiedenartige Strategien ihre Rolle spielen können, zu rekonstruieren. Diese Verteilung [ ... ] mit den Varianten und unterschiedlichen Wirkungen je nach dem, wer spricht, seiner Machtposition und seinem institutionellen Kontext, mit all ihren Verschiebungen und Wiederbenutzungen identischer Formeln zu entgegengesetzten Zwecken diese Verteilung gilt es zu rekonstruieren. Die Diskurse ebenso wenig wie das Schweigen sind ein fur allemal der Macht unterworfen oder gegen sie gerichtet" (SuWI, 101-124, 122). "Macht beziehungen sind bewegliche Beziehungen, [... ] umkehrbar und instabil. [...] Damit eine Macht beziehung bestehen kann, bedarf es also auf heiden Seiten wenigstens einer gewissen Form der Freiheit. Das heißt, dass es in den Machtbeziehungen gezwungenermaßen Widerstandsmöglich keiten gibt [ ... ]"; FuS, 19. 1 5 Die produktive Kraft von Macht zeigt sich z.B. darin, dass sie Homosexualitat nicht einfach unterdrückt oder Heterosexualitat vorschreibt, sondern ein Feld hervorbringt, innerhalb dessen sich die einzelnen im Verhaltnis zu ihrer Sexualitat definieren müssen.
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,Männlichkeit' verweist dabei seinerseits auf ein diskursives Umfeld, in dem hierar chische (heterosexuelle) Geschlechterdichotomien als wirkmächtige Wahrheit funk tionierten. Der (maskulinistische) Widerstand gegen die Macht bewegte sich also selbst in nerhalb der Macht, gegen die er antrat. Er ist selbst ein Effekt der Macht und nutzt die Macht seinerseits zu neuen Ausschlüssen: gegen feminine Männer, Frauen und Juden. Diese Exklusionsstrategien appellierten überdies an die Denormalisie rungsängste ,normaler' Männer und wurden somit zum Einsatz im Spiel um Verbün dete. Das heißt: Was sich einerseits als (homosexueller) Emanzipationsdiskurs lesen lässt, konnte andererseits zugleich hierarchische (Geschlechter-)Dichotomien stabili sieren. Und umgekehrt konnte filr die Maskulinisten aus hierarchischer Zweige schlechtlichkeit ein Medium zur Aufhebung gesellschaftlicher Devianz werden. Im Folgenden beziehe ich mich auf die Texte von Gustav Jaeger um 1 880, Bene dict Friedlaender, 1 904-08, und Hans Blüher, 1912-1920. 1 6 Die Schriften des Natur forschers Gustav Jaeger zur männlichen Homosexualität wurden eher von einem kleinen Kreis Interessierter1 7 wahrgenommen, begründeten aber dennoch so etwas wie einen maskulinistischen Diskurs. Der Zoologe Benedict Friedlaender brach 1906 mit Vertretern der "Zwischenstufentheorie" und gründete den "Bund filr männliche Kultur". 1 8 Doch erst die Schriften Hans Blühers popularisierten maskulinistische Positionen, indem sie die Wandervogelbewegung - skandalträchtigerweise - als homoerotisches, männerbUndisches Phänomen interpretierten. Die Vorstellung vom zunäc�st triebtheoretisch, dann ästhetisch begründeten staatenbildenden Männerbund wurde nicht nur im medizinischen und literarischen Diskurs aufgegriffen, sondern auch ein Element der Konservativen Revolution in der Weimarer Republik. Blühers Versuche, Männlichkeit wieder mit dem Nimbus der Stärke und mann männlichen Verbundenheit zu versehen, trafen 1912 auf große Resonanz. Mit dem Wahlsieg der SPD im Januar - also der Partei, die die Forderung nach dem Frauen wahlrecht seit langem unterstützt hatte - filrchteten nicht wenige akademisch gebil dete Männer um ihre gesellschaftliche Machtstellung. Um den "weiblichen Forde rungen Grenzen zu ziehen" und "um Mannesrecht und Manneswürde in Familie, 1 6 Analysiert werden V.a. G. Jägers "Entdeckung der Seele" von 1 880 im ,,Lehrbuch der allgemei nen Zoologie" (1 870), Benedict Friedlaenders Schrift über die "Renaissance des Eros Uranios" von 1904 und Hans Blühers Texte zur "Wandervogelbewegung als erotischem Phänomen" von 1912 und zur ,,Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft" von 1917 und 1919. 17 Jaeger wurde spätestens ab 1900 von den AutorInnen und AbonenntInnen des ,,Jahrbuchs fllr sexuelle Zwischenstufen" rezipiert. 1 8 Dass Friedlaenders "Bund fllr männliche Kultut' keine große Wirkung erzielte, hing U.a. mit seinem frühen Tod (20.06. 1908) zusammen, rund eineinhalb Jahre nach Gründung des Bundes. V gl. zur Organisation beider Gruppierungen ausfllhrlicher Keilson-Lauritz, 23-166 (Anm. 1 1).
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Gemeinde und Staat zu wahren", wurde 1912 der "Deutsche Bund zur Bekämpfung der Frauenemanzipation" gegründet, in dessen Umfeld auch Blühers Broschüre zum sogenannten "geistigen" Antifeminismus verbreitet wurde. Während des Krieges und spätestens zu Beginn der Weimarer Republik entwick elte sich Blüher zu einem der bekanntesten Antisemiten seiner Zeit, dessen Positio nen nicht zuletzt bei Kaiser Wilhelm 11. auf offene Ohren stießen und Blüher zu einer Audienz im holländischen Exil verhalfen. - Die antifeministischen Parolen waren nach der Einftlhrung des Frauenwahlrechts zunächst nicht mehr sehr zugkräftig. Blüher hatte heftige Angriffe wegen seiner homoerotisch geflirbten Männerbundtheo rien (v.a. durch den Münsteraner Professor Johann Plenge) einstecken müssen und nicht zuletzt geheiratet. Dennoch wiederholen sich die exkludierenden Strukturen, mit deren Hilfe Männ lichkeit konstituiert worden war. Waren zuvor Frauen die Gegner des Mannes, wurde nun Juden eine Weiblichkeit attestiert, die sie aus dem strikt binär organisierten Ge schlechtersystem herausfallen ließ.19 Im Focus der folgenden Analyse steht die Verbindung von Männlichkeit mit (se xueller) Normalität und (staatlicher) Sozialität sowie die historisch variablen Ab grenzungsstrategien gegenüber Frauen und Juden, die sich zwischen 1 880 und 1 920 im maskulinistischen Diskurs formierten.
11. Biomacht als Normalisierungsmacht: die Konstruktion einer
,sozialen Sexualität' verbunden mit binär codierten Exklusions mechanismen Um 1 880 machte Gustav Jaeger statt der ,richtigen' (also: heterosexuellen) Objekt wahl das Begehren selbst zum Maßstab gesunder Sexualität. Er betonte, dass jede sexuelle Bindung (und damit auch die gleichgeschlechtliche) ein soziales Element enthalte und daher etwas ftlr den Zusammenhalt des Ganzen Förderliches sei: "Der Normalsexuale schon co ipso, aber auch der Homosexuale jeder Sorte - sie bedürfen doch jedenfalls eines zweiten Wesens, um [...] ihre Gelüste zu befriedigen [... ]. Zweiheit [ ...] ist das starke Band, das auch den Homosexualen noch mit Gliedern der menschlichen Gesellschaft verbindet. 19 Dass es zugleich erhebliche Differenzen zwischen antifeministischen und antisemitischen Exklu sionen gab, soll nicht unterschlagen werden. Ohne diese Differenz an dieser Stelle aufschlÜsseln zu können, sei darauf verwiesen, dass Juden zunehmend als Fremdkörper im deutschen Volks körper diskursiviert wurden, wahrend Frauen zumindest in ihrer reproduktiven Funktion als ein Teil desselben anerkannt wurden und nicht derselben , Vernichtungslogik' ausgesetzt waren.
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Einzig der Monosexuale bedarf zwischen Himmel und Erde keines Wesens, als nur seiner selbst [ . .).,,20 .
Dass hier die Bindungsfähigkeit des einzelnen, seine Verbundenheit mit anderen Mitgliedern der Gesellschaft, zum Maßstab von Normalität erhoben wird, lässt sich als ein Effekt von ,,Bio-Macht" lesen. Diese wirkt nicht mehr (in erster Linie) wie die souveräne Macht durch das Recht zum Töten, sondern durch die Steigerung des Lebens, der Leistungsfähigkeit der Bevölkerung als ganzer. Sie bezieht sich nicht mehr auf das Territorium als Objekt von Herrschaft, sondern auf die Bevölkerung als eine biologische Entität.2 1 Eine Folge ist, dass die Subjekte nicht mehr an ihrer menschlichen Natur, sondern am Grad ihrer Gesellschaftlichkeit, ihrer ,zweiten' Natur, gemessen werden. Konformität bzw. Nonkonformität in Bezug auf das soziale Leben werden zur Grundlage von gesellschaftlicher In- und Exklusion. Dabei ent wirft die Gesellschaft eine "soziale Natürlichkeit", die sich von einer "natürlichen Natürlichkeit" markant unterscheidet.22 Diese Tendenz artikuliert sich 1904 auch bei Benedict Friedlaender in dem Be mühen, die "sociale Frage" "auf das engste mit der Frage des Eros" zusammenfallen zu lassen?3 Jede sexuelle Bindung zwischen Menschen - und somit auch die zwi schen Männern - habe ihre besondere soziale Aufgabe. Die eheliche Sexualität sei rur die Fortpflanzung da, die sexuelle Bindung unter Männern rur den Staat. Der normale Mann sei im Grunde bisexuell und erfillle daher immer beide Aufgaben, familiäre und staatliche, wobei der letzteren größeres Gewicht beigemessen wurde. 1 9 1 2 radikalisierte Hans Blüher die Umwertung des Begriffs des Sexuellen als des Sozialen im Anschluss an die neuen psychoanalytischen Theoreme Sigmund Freuds. Man müsse nicht mehr beweisen, dass (Homo-)Sexualität nützlich rur die Gesellschaft sei, weil jedes soziale Gebilde auf sexuellen (um nicht zu sagen: homo sexuellen) Bindungen beruhe.24 Dieser Trieb-Logik zufolge war ein Mann um so
20 G. Jaeger, Lehrbuch der allgemeinen Zoologie. Ein Leitfaden ftlr Vorträge und zum Selbststudi um. Bd. I , 111. Abteilung: Psychologie. Zugleich: Die Entdeckung der Seele. 3., stark verm. Aufl., Leipzig 1 884, 263. 21 SuWI , 1 6 1 - 1 90; VdG, 276-305; T. Lemke, Eine Kritik der politischen Vernunft: Foucaults Analyse der modemen Gouvernementalität Berlinl Hamburg 1 997, 1 34-139, 236. 22 Lemke, 232 (Anm. 2 1 ). 23 B. Friedlaender, Die Renaissance des Eros Uranios: Die physiologische Freundschaft, ein nor maler Grundtrieb des Menschen und eine Frage der männlichen Gesellungsfieiheit. In naturwis senschaftlicher, naturrechtlicher, culturgeschichtlicher und sittenkritischer Beleuchtung. Berlin 1908 (1904), 3 1 1 . 24 Wer kunftig unter Sexualität noch immer nur das verstehe, was "der Bauer tut, der seine Kuh zum Bullen ftlhrt oder selber heiratet", dUrfe nicht erwarten, dass "ihm je die feineren ZUge im Wesen des Menschen klar [werden] und die Struktur seiner Geselligkeit"; H. BIUher, Die Rolle
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besser rur Politik, Staat und Erziehung geeignet, je stärker seine erotischen Bindun gen an andere Männer waren, wodurch homosexuelle "Männerhelden" sich nur noch durch eine graduelle Differenz, eine graduelle Überlegenheit, von heterosexuellen Männern unterschieden. Der Staat bilde gerade kein Äquivalent zur Familie, sondern sei allein ein Produkt des Mannes.2S Die maskulinistischen Theoretiker versuchten also durch eine diskursive Über setzung sexueller Bindungsfähigkeit in soziale ihren Anspruch auf den Status eines nützlichen, wertvollen und (super-)normalen Gesellschaftsmitglieds zu legitimieren. Umgekehrt könnte man auch sagen, politische Formationen, wie der soziale Zusam menhalt einer Nation, werden in biologischen Termini diskursiviert. - Foucault hat in diesem Zusammenhang vorsichtig von einer "Umschreibung des politischen Diskur ses in biologische Termini" gesprochen, von einer starken Tendenz zur ,Biologisie rung des Politischen' im 1 9. Jahrhundert?6 Damit ist weniger eine ideologische ,Ver schleierung' des politischen Diskurses gemeint, als die Konstitution einer bestimm ten Rationalität, die es erlaubt, gesellschaftliche Probleme in einer bestimmten Art und Weise zu artikulieren und damit Handlungsfelder zu strukturieren?7 Die ,Normalisierungsstrategien', die die Maskulinisten einsetzten, um sich in he gemoniale Männlichkeit einzuschreiben, hatten ihrerseits gesellschaftliche Aus schlüsse und Fragmentierungen zur Folge und zur Voraussetzung. Das heißt, diese Normalisierungsstrategie (als eine auf binärer Ordnung fußende Homogenisierungs strategie) war mit neuen Fragmentierungen und Exklusionen verbunden, indem nun andere scheinbar oder tatsächlich schlecht sozialisierte Individuen als Gefahren rur den Bestand der Gesellschaft figuriert wurden. Aus politischen Gegnern wurden "äußere oder innere Gefahren in bezug auf oder rur die Bevölkerung".28 Der medizi nischen Wissenschaft kam dabei die Rolle einer politischen Interventionstechnik zu, die einerseits permanente Pathologisierungen voraussetzte (z.B. sexuelle Devianzen), andererseits aber auch ständig neue Pathologisierungen produzierte. Laut Foucault hieß es nicht mehr: ,,'Wir müssen uns gegen die Gesellschaft verteidigen', sondern:
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der Erotik in der männlichen Gesellschaft - 2 Bde., Bd. 1 (in späteren Auflagen mit dem Unter titel: Eine Theorie der menschlichen Staatsbildung nach Wesen und Wert und zur Bandangabe der Zusatz: Der Typus Inversus) Jena 1 9 17, 14. In seinem zweibändigen Hauptwerk "Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft" von 1917-19 erhebt B1üher die Familie dann doch zu einem Prinzip des Staates, wenn auch mit mar ginaler Bedeutung im Vergleich zum staatstragenden Männerbund. Diese Modifikation lässt sich U.a. als Reaktion auf eine kritische Rezeption seiner Thesen verstehen, wie auch auf ein gewan deltes innenpolitisches Klima. VdG, 297, vgl. auch 94-98, 73-75. Lemke, 226 (Anm. 2 1). VdG, 297. VdG, 296; vgl. auch Lemke, 224 (Anm. 21).
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, Wir müssen die Gesellschaft gegen alle biologischen Gefahren [ ...] verteidigen, die wir - wider Willen - immer wieder hervorbringen' .,,29 Entsprechend waren die Versuche der Nonnalisierung von Homosexualität im Diskurs der Maskulinisten mit der Einftihrung (bzw. Reaffinnation alter) gesell schaftlicher Fragmentierungen verbunden. Der Konstruktion des "Nonnalsexualen" stand bei Jaeger der "Monosexuale" gegenüber, dem es an jeglichem Objektbegehren fehle. Er sei sexuell einsam, sozial unverbunden, des integriert, mürrisch und un männlich, kurz: eine Gefahr rur die Bevölkerung. Und doch säßen gerade diese Mo nosexualen, so Jaeger, "in allen Ämtern [. .] inmitten der lebensfrohen Nonnalsexu alen, etwa auch der Homosexualen".lO Anders grenzte Friedlaender 1 904 seinen durch eine "erotische Renaissance" hervorgebrachten neuen Mann nicht von anderen (perversen) Männern ab, sondern von "einem übennässigen Weibereinfluss", der jede Fonn von Männererotik seit Jahrtausenden sabotiert habe.l l - Die virulent gewordene ,Geschlechterfrage' hatte hier die Möglichkeit eröffnet, sich über antifeministische Abgrenzungen Anerken nung zu verschaffen und neue Defensiv-Bündnisse im Namen einer innovativen Männlichkeit zu schließen. Entsprechend hieß es auch noch 1912 (angesichts der Debatte um das Frauenwahlrecht) bei Blüher:12 .
"Die Frau ist Familien-Wesen und nur das. Zu meinen, dass der Staat eine erweiterte Familie sei, ist ein abgründiger Irrtum. Tiergattungen, die nur die Familie in sich haben, können nur flüchtige Her den bilden, keine Staaten. Hierzu gehört noch ein anderes Gesellungsprinzip, an dem die Frau nicht teil hat."33
Während des Ersten Weltkrieges entwickelten sich neue Taktiken innerhalb der Strategien maskulinistischer Männlichkeit, in denen der ästhetische Diskurs eine neue Scharnierfunktion zwischen Sexualität und Politik einnahm. Blühers Vision des neuen deutschen Mannes verband j etzt weiblichen Eros und männlichen Logos zu einer genialen Synthese, aus deren Schöpfungspotenzial das Volk überhaupt erst hervorgehe. Die Integration des , Weiblich-Erotischen' in das Männliche lässt sich als 29 VdG, 75. 30 Dass Jaeger, 266 (Anm. 20) dem ,,Monosexualen" zugleich seine Mlnnlichkeit absprach, ver weist auf die implizite Koppelung von normaler Mannlichkeit mit gesellschaftlicher Integration. 3 1 Im Gegensatz zur familiären und staatlichen Doppelfunktion des (bisexuellen) Mannes sei die rein familiare Form der Sozialität die primitive und einzige Sozialität zu der die Frau als ,,ßexus sequior" gelangen könne. Friedlaender, 1 9 (Anm. 23). 32 "Vom Votum einer Frau darf im Staate niemals etwas abhingen." Daher forderte Blüher "das Verbot des Frauenstimmrechts und der gesamten politischen Tätigkeit der Frau". H. Blüher, "Der bürgerliche und der geistige Antifeminismus" (1916), in: Ders. (Hg.): Philosophie auf Po sten: Gesammelte Schriften 1916-1921. Heide1berg 1 928, 97-124, 1 12. 33 BIOher, ,,Bürgerlicher und geistiger Antifeminismus", 103 (Anm. 32).
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androgyne Erweiterung von Männlichkeit lesen, reduziert aber im gleichen Atemzug das ,Weibliche' auf eine Extension des männlichen Selbst.34 Zugleich gewann die Abgrenzung einer ,germanischen Männlichkeit' vom Jüdischen an Gewicht: Der Jude sei entweder dem Eros oder dem Logos verfallen. Entsprechend sei er nicht geistig-schöpferisch und weder zur Bildung von Männerbund noch Staat in der La ge.35 Der Signifikant verfehlter Männlichkeit verschob sich vom femininen Mann der Zwischenstufentheorie zumjüdischen Mann der "sekundären Rasse".36 Die Normalisierung von homosexueller (als homosozialer)37 Männlichkeit voll zog sich also über verschiedene Formen der Aus- und Abgrenzung. Das heißt, was einerseits der gesellschaftlichen Integration und Homogenisierung diente, produzierte andererseits neue Fragmentierungen. Es sind die Produkte der Gesellschaft selbst, die ihre Bedrohungen ausmachen. Dies zeige sich laut Foucault besonders deutlich am Wandel des "Rassenkampfdiskurses". Aus dem Kampf zweier Rassen gegeneinander wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts der Kampf der einen und einzigen Rasse gegen sich selbst und gegen die in ihr lauernden ,inneren Gefahren'. Es ist der Kampf jener Rasse, die "die Macht innehat und die Norm vertritt, gegen jene, die von dieser Norm abweichen und rur das biologische Erbe eine Gefahr darstellen".38 Der Rassismus
34 Das ,Weiblich-Erotische' fungierte als Teil von viriler Männlichkeit und begründete nach dem Vorbild des romantischen KOnstIersubjekts die omnipotente Androgynie des Mannes; vgl. aus filhrlicher C. Bmns, ,,(Homo-)Sexualitllt als virile Sozialität. Sexualwissenschaft1iche, antifemi nistische und antisemitische Strategien hegemonialer Männlichkeit im Diskurs der Maskulinisten 1 880-1920", in: U. Heidel u.a (Hg.), Jenseits der Geschlechtergrenzen: Sexualitäten, Identitäten und Körper in Perspektiven von Queer Studies. Hamburg 2001, 87-108, 100-106. 35 Entsprechend "litten" Juden laut Blüher unter einer signifikanten "Männerbundschwäche", die sich auch in ihrer Staatenlosigkeit ausdrUcke. "Mit den Juden steht es so: sie leiden an einer Männerbundschwäche und zugleich an einer Familienhypertrophie. [ ...] Daß die Juden kein Volk sind, bedeutet aiJer außerdem noch, daß sie keinem FOhrer folgen (denn Volksein heißt ober haupt: folgen), und daher kommt es, daß ihre Geistigkeit einen oberwiegend händlerischen, he donistischen, untragischen, aufklärerischen und Oberhaupt unproduktiven Charakter trägt." Blo her, Die Rolle der Erotik (Anm. 24), Bd. 2: Familie und Männerbund. Jena 1921 (1919), 170. 36 Hintergrund dieser Multiplikation von Grenzziehungen war die durch den Krieg gestärkte und zugleich äußerst fragile Fiktion eines einheitlichen deutschen Volkskörpers. 37 Mit Eve Kosofsky Sedgwick beziehe ich den Begriff homosozial auf die sozialen Bindungen zwischen mindestens zwei Personen desselben Geschlechts. Er wurde historisch in Abgrenzung zu homosexuell gebildet, um zwischen einem (in homophoben Gesellschaften verworfenen) ge nitalen und einem sozialen Begehren (vor allem von Männem) zu differenzieren. Sedgwick geht jedoch von einem kulturell kontingenten strukturellen Kontinuum der Begriffe aus und fragt v.a. danach, was historisch als (homo-)sozial und was als (homo-)sexuell markiert wurde; dies., Bet ween Men: English Literature and Male Homosexual Desire. New York 1985, 3-5. 38 VdG, 74-75.
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wird zu einem grundlegenden Mechanismus der modemen, konservativen Macht, die Zäsuren biologischen Typs in die Gesellschaft einfilhrt.39 Die Macht wirkt dabei weder über direkte Gewaltanwendung noch über ideologi sche Beeinflussung oder eine ,Verinnerlichung' von Normen. Vielmehr werden diskursiv erzeugte Wahrheiten zur Norm erhoben und als natürliche Gewohnheiten ausgegeben. Erst im Prozess ständiger Wiederholung40 werden die Klassifikationen des Wissens archivs (als Wahrheiten) zu einem wichtigen Deutungsmuster sozialen Handelns.41 Der Ausschluss von Unsozialen, Frauen und Juden aus dem Bereich staatlicher Nützlichkeit war ein Effekt der Normalisierungsmacht, die virile Männ lichkeit an staatliche Sozialität koppelte.42 Aus dem Projekt der Befreiung wurde die Sorge um virile, germanische Männlichkeit. Der revolutionäre Diskurs verkehrte sich in eine Konservative Revolution.43
39 VdG, 276-305. 40 Macht ist nicht als personifizierte Größe zu verstehen, sondern ein Prozess standiger Wiederho lung, durch den Subjekte wie Handlungen überhaupt erst in Erscheinung treten' "Nicht eine Macht handelt, sondern ein dauernd wiederholtes Handeln ist Macht in ihrer Bestllndigkeit und Instabilität", so J. Butler, Körper von Gewicht: Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frank furUM. 1997 (New York 1993), 32. Die Norm des Geschlechts (oder auch der Rasse) setzt sich in dem Maße durch, in dem sie als eine solche Norm zitiert wird und zugleich bezieht sie ihre Macht auch aus den Zitierungen, die sie erzwingt; ebd., 36-37. 41 H. Bublitz, "Diskursanalyse als Gesellschafts-,Theorie': ,Diagnostik' historischer Praktiken arn Beispiel der ,Kulturkrisen'-Semantik und der Geschlechterordnung um die Jahrhundertwende", in: Dies. U.a. (Hg.), Das Wuchern der Diskurse: Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults. FrankfurUM. 1999, 22-48, 40. 42 Bublitz, "Diskursanalyse", 32 (Anm. 4 1 ). So werden Diskurse zu historischen Denkkategorien, deren Effekt Praktiken der Integration und der Fragmentierung der Gesellschaft sind. Dieselben Teilungspraktiken dienen der Herstellung einer Ordnung und gefährden diese Ordnung, wobei die Unordnung eine stllndige Quelle der Gefährdung der Wissensordnung darstellt und zu immer neuen Differenzierungen anreizt; ebd., 3 8-39. 43 Der rassistische Diskurs greift laut Foucault alle Elemente des revolutionären Diskurses aufund verkehrt sie in ihr Gegenteil: "Der Rassismus ist buchstäblich der umgedrehte revolutionäre Dis kurs"; VdG, 95.
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IH. Veränderter Regierungs- und Staatsbegriff: Äquivalenzen
zwischen der Regierung des Selbst und der Regierung anderer Macht- und Teilungspraktiken44 bringen nicht nur die Gesellschaft als einheitliches Ganzes hervor, sie formieren auch das Individuum als Subjekt. Für eine veränderte politische Geschichtsschreibung sind Foucaults Analysen nicht zuletzt auch deswe gen interessant, weil sie den traditionellen Gegensatz von Individuum und Gesell schaft, Mikro- und Makroebene zu überwinden versuchen, indem sie Machtpraktiken zugleich auf individueller und gesellschaftlicher Ebene lokalisieren. Sie wollen For men der Selbstregierung und der Regierung anderer unter einer einheitlichen Per spektive betrachten und auf ihre Äquivalenzen hin befragen. Es geht Foucault also weniger darum, dass Subjekt abzuschaffen, als es als historische und daher wandel bare Form des Selbstverhältnisses zu beschreiben, das eingebettet ist in ein komple xes GefUge von Macht und Wissen.4s Dabei steht der Staat nicht als institutionell-administrative Struktur im Focus des Interesses, sondern als "Kombination von Individualisierungstechniken und Totali sierungsverfahren".46 "Machtausübung" bestünde dann weniger ausschließlich im Schaffen von Gesetzen als "im ,Führen der Führungen' und in der Schaffung der Wahrscheinlichkeit.,,47 Die mit viriler Männlichkeit verbundenen Prozesse der Sub jektkonstitution bilden demnach nicht die Grenze des Regierungshandeins, sondern werden selbst zu Instrumenten, um das Verhältnis der Subjekte zu sich selbst und zu
44 Unter "Praktik" lässt sich mit Foucault das systematische Zusammenspiel von Formen des Denkens und des HandeIns verstehen; vgt. bei Lemke die Anm. 72 auf338 (Anm. 2 1 ). 45 Lemke, 265 (Anm. 2 1); H. Bublitz, Foucaults Archäologie des kulturellen Unbewussten: Zum Wissensarchiv und Wissensbegehren moderner Gesellschaften. FrankfurtlM.I New York 1 999, 133. Der Tod des Subjekts bezieht sich vielmehr auf das ,wahre' Subjekt, das mit sich selbst identische Subjekt der idealistischen Subjektphilosophie; ebd., 6 1 . 46 SuM, 248. Entsprechend ist Regierung nach Foucault der "Kontaktpunkt, an dem die Form der Lenkung der Individuen durch andere mit der Weise ihrer Selbstftlhrung verknüpft ist" (ABHS, 203f.; vgl. auch T. Lemke/ S. Krasmannl U. BrOckling, "Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien: Eine Einleitung", in: Brocklingl Krasmann! Lemke (Hg.), Gouverne mentalität der Gegenwart: Studien zur Okonomisierung des Sozialen. FrankfurtlM. 2000, 7-40, bes. 29). Diese Perspektive konzentriert sich dabei eher auf die vielen einzelnen Regierungen, die dann zusammen den Staat bilden, als auf die eine institutionalisierte Regierung des Staates. 47 SuM, 255. Regierung meint weniger einen Unterwerfungsmechanismus als das bewegliche Verhältnis zwischen Zwangsmechanismen und Prozessen, "durch die das Selbst durch sich selbst konstruiert oder modifiziert wird" (ABHS, 203f.). Regierung bezieht sich also vor allem auf Pro zesse der (Selbst-)Produktion, die an Regierungsziele gekoppelt sein konnen; Lemke/ Krasmann! BrOckling, 29 (Anm. 46).
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den anderen zu verändern. Sie reizen zu einem Handeln an, das den einzelnen er mächtigt, individualisiert und sexualisiert und ihm zugleich mit dieser Ermächtigung die Auflage gibt, sich in eine (sexualisierte, rassistische, geschlechtliche) Ordnung einzufilgen. Die diskursiv produzierten, historischen Subjektivierungsweisen begren zen dabei den Handlungsspielraum der Individuen ohne ihn zu determinieren.48 Ich erläutere im Folgenden maskulinistische Weisen der Subjektkonstitution49 sowie der Fremd- und Selbstregierung exemplarisch (und kursorisch) anhand ver schiedener Texte Hans Blühers. Wesentlich ist es mir dabei, auf die äquivalenten Strukturen hinzuweisen, die zwischen der Konstruktion des männlichen Subjekts und des Kollektivsubjekts (Staat, Nation) bestehen. Hans Blühers männliches Subjekt zeichnete sich im Wesentlichen durch zwei Elemente aus: durch eine in der Triebstruktur begrUndete (Auto-)Genese und eine hierarchische (An-)Ordnung der Triebe. Die unbewusste, mehr oder weniger schick salhafte Triebstruktur wurde dabei als ,natürlich' figuriertSO und indizierte die eroti sche (und damit auch soziale) Grund-Energie des Mannes. So sah Blüher - in Übereinstimmung mit Freud - in einer bestimmten Hierarchi sierung der Triebe den Garant einer normalen sexuellen Entwicklung. Erst die "Rangerhöhung" des Penis aus der Masse der erotischen Körperzonen hin zu einem "Angriffsglied" (zum Phallus) indizierte Gesundheit. Ohne diese Hierarchisierung der Lustzonen drohte dem männlichen Subjekt Infantilität, Perversität und Einsam keit. sl Der Vorteil dieser Subjektkonstitution lag in der Möglichkeit, mannliebende Männer, sogenannte ,,Invertierte", als vollkommen gesund zu normalisieren. Diese "sexuelle Leitlinie" erfilllten auch die Invertierten mühelos, wie Blüher 1913 (wenn auch mit wenig Erfolg) gegenüber Freud argumentierte.52 Verbunden mit der Hierarchisierung und Zentralisierung körperlicher Lust war die Fähigkeit zur kontrollierten Sublimation von Triebenergien, die allein dem (ari schen) Mann vorbehalten war. Sublimation filhrte dieser Logik zufolge nicht nur zu
48 Bublitz, Foucaults Archäologie, 60 (Anm. 45). 49 "Das Wort Subjekt hat einen zweifachen Sinn: vermitteis Kontrolle und Abhllngigkeit jemanden unterworfen sein und durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identitllt verhaftet sein." SuM, 246-247; Lemke, 294 (Anm. 21). 50 "Eros [...] ist der Repräsentant der Natur innerhalb des Menschenwesens." Blüher, ,,Bürgerlicher und geistiger Antifeminismus", 1 15 (Arun. 32). 5 1 Blüher, Rolle der Erotik 1 (Anm. 24), 1 13. 52 Im Briefwechsel mit Blüher äußerte sich Freud zunächst sehr positiv über dessen Sexualtheorien, wenn er auch von seiner Überzeugung nicht abwich, dass Homosexualitllt eine pathologische Abweichung vom Normalfall, eine "Entwicklungshemmung", darstelle. J. Neubauer, "Sigmund Freud und Hans Blüher in bisher unveröffentlichten Briefen", in: Psyche: Zeitschrift rur Psycho analyse und ihre Anwendungen 50 (1996), 123-148, 1 38.
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"geistiger" und künstlerischer Produktion, sondern signalisierte auch einen autono men "Willen zur Macht", der als Voraussetzung des die Polis stiftenden Gemeinwil lens konzipiert war.53 Während ein bestimmtes Maß an Selbstbeherrschung bereits den ,normalen' Mann auszeichnen sollte, so wurde vom sogenannten "Männerhelden,,54 eine weit größere Disziplinierung seiner Triebe oder Nerven erwartet.55 Entsprechend wurde der GrUnder der Berliner Wandervogelbewegung, Karl Fischer, von Blüher gerade durch den Verweis auf dessen überdurchschnittliche Härte und Selbstdisziplin nach träglich zum männerbundstiftenden Heros stilisiert: "[Karl Fischers) Züge waren männlich und hart [ ...) es war als ob er seinen Körper mit Knuten hatte peitschen können, wenn es ihm etwa einfallen WUrde, ihm den Dienst zu versagen [...] man sah mitten auf dem Unterarm einen groschengroßen brand-blutartigen Knoten [... ] ,[I]ch habe sie mir bloß ins Fleisch gebrannt, wollte mal sehen, wie's mit meinen Nerven steht. Es geht noch.' So zog er gegen den Schmerz zu Felde und ähnlich machte er es gegen die Ermüdung und das Frostgefilhl. [... Er war eben eine] Herrschernatur. W6
Mit der Kontrolle seiner Nerven erhielt der ,Selbstbeherrschte' zum einen seinen (männlichen) Subjektstatus und zum anderen die Legitimation zur Beherrschung seiner Umwelt. Die Fähigkeit des männlichen Subjekts zur Triebkontrolle und Trieb hierarchisierung begründete die besonderen Qualitäten des Männerbunds: als eines Bundes, der trotz seiner erotischen Grundlage hierarchisch geordnet sei und die Basis von Kulturschöpfung und Staat bilde. Entsprechend herrschte der "echte Mann" mittels Triebbeherrschung nicht nur über sich selbst, sondern auch auf dem politi schen Feld - als "geborener Führer" - über andere. Der Verlust von Kontrolle über 53 Anders als Freud privilegierte Blüher nicht nur eine männlich strukturierte Libido, sondern auch den Mann als Objekt des Begehrens filr den Mann. Durch die sublimierten, erotischen Energien WUrden Männer andere Männer an sich binden und schöpferische Krllfte zur Produktion des Staates freisetzen. 54 Den Begriff des MtJnnerhelden Obernahm Blnher nach eigenen Angaben von Gustav Jäger. Der ,,Männerheld" sei das Äquivalent zum Typus des ,,Frauenhelden", nur mit "verllnderter Triebrichtung". H. Blüher, ,,Der Männerheld" (1912/13), in: Ders., Studien zur Inversion und Perversion: Das Uralte Phänomen der geschlechtlichen Inversion in natürlicher Sicht, hg. v. Hans Blüher Archiv, Schmidenl Stuttgart 1965, 1 01-1 16, 101; vgl. auch H. Blüher, Wandervo 2 Bde., Bd. 2: Blühte und Niedergang. Berlin gel: Geschichte einer Jugendbewegung Tempelhof 1912, 1 13. 55 Ähnlich den sexuellen Trieben galten das Nervensystem seit dem 18. Jahrhundert als Ober geordnetes Kontrollsystem des Körpers und die einzelnen Nerven als KontaktsteIle zwischen Geist und Körper. J. H. Smith, "Wie ,männlich' ist der Wille? Ein philosophischer Grundbegriff, andersherum gedacht", in: W. Erhart/ B. Herrmann (Hg.), Wann ist der Mann ein Mann? Stutt gart 1997, 1 14-133, 1 17. 56 Blüher, Wandervogelbewegung (Anm. 54), Bd. l : Heimat und Aufgang. Berlin 1912, 105-1 06. -
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die eigenen Triebe wurde nicht nur als bedrohlich fUr die ,,Einheit' der männlichen ,,Person,,S7 und seine Gesundheit empfunden, sondern auch als gefllhrlich fUr den Bestand des Staates und der Nation eingestuft.s8 Die Kunst der Selbstbeherrschung mutierte zum politischen Faktor,s9 wobei (mehr noch als der Sexualität) der Produk tion von Männlichkeit eine Schamierfunktion zwischen der Rationalität der Regie rung über sich selbst und der Rationalität der Regierung über die anderen zukam. Entsprechend wurde der Staat besonders im rechten politischen Diskurs, aber nicht nur hier, als natürlich figurierte (Auto-)Genese60 und hierarchisch strukturierte Ordnung diskursiviert. Im Verständnis Blühers bringt der Führer nicht nur sich selbst, sondern auch das Volk als männliche Einheit hervor. Der als männlich co dierte Prozess subjektiver ,Selbsterschaffung' und ,Selbstbildung' verschmilzt mit der Produktion eines Kollektivkörpers, welcher gerade durch den Akt seiner Produk tion sein Geschlecht vom weiblichen zum virilen transformiert.6 1 In einer imaginären Koppelung von Volk und Führer im männlichen deutschen Großindividuum berUhren sich die Prozesse von Individualisierung und Totalisierung, die laut Foucault moder ne Gesellschaften charakterisieren. Überdies sah sich nicht nur das männliche Subjekt, sondern auch das Kollektiv einer hierarchischen Struktur unterworfen: Im Gegensatz zur "Herdenbildung" als einer "höchst unverbindliche[n] und lockere[n] Art der Sozialisierung" formiere sich der "Staat" dadurch, dass in ihm das "Volk [großen Männern] folgt".62
57 H. BIUher, "Die latente Inversion" (erstmals 1 912113), in: Ders., Inversion und Perversion (Anm. 54), 129-148, 1 3 1-132. 58 Für den Zusammenhang zwischen sexuellem Kontrollverlust des "Einzelmenschen" (Regression, Verdrängung, u.a) und der damit verbundenen "Gefahr [...] fllr das ganzeVolk" siehe: H. Blüher, .,zwei psychosanitare Forderungen" (erstmals 1 913). in: Ders., Inversion und Perversion (Anm. 54), 149-159, 157. 59 Siehe auch E. Kreisky, "Geschlechtliche Fundierung von Politik und Staat", in: D. Janshen (Hg.), Blickwechsel: Der neue Dialog zwischen Frauen- und Männerforschung. FrankfurtlM. 2000, 167-192, 173. 60 Zur Figur der Selbstschöpfung vgl. P. Lacoue-Labarthe, Die Fiktion des Politischen: Heidegger, die Kunst und die Politik. Stuttgart 1990; C. Bruns, "Subjekt, Gemeinschaft, Männerbund: Hans B1ühers Wandervogelmonographien im Wilhelminischen Kaiserreich", in: G. Boukrifu.a (Hg.), Geschlechtergeschichte des Politischen: EntwUrfe von Geschlecht und Gemeinschaft im 19. und 20. Jahrhundert. MOnster 2002 (i.E.), 107-138, 127-130. 6 1 H. Blüher, Führer und Volk in der Jugendbewegung. Jena 1917, 5. Ausfllhrlicher Bruns, ,,(Ho mo-)Sexualitat", 1 00-106 (Anm. 34). 62 "Die Wahrheit [ ... ] lautet: es gibt große Männer und mäßige und kleine; wer nicht das Zeug hat, ein großer zu sein, der hat allein Sinn und Wert in der Gefolgschaft der Großen. [ ... ] Wenn ir gend eine Haltung deutsch genannt werden kann, so ist es die der Gefolgschaft. Wo kandet sich
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Dabei wurden Wissenspraktiken über Männlichkeit derart an die Alltagskultur gekoppelt, dass sie zu einem bedeutenden Teil des Kampfes um kulturelle Integration und Hegemonie werden konnten.63 Die im Macht-Wissenskomplex konstituierte Subjektivierung des männlichen Subjekts lässt sich bis in Blühers Selbstkonstitution hinein nachvollziehen. Dabei sind diskursiv produzierte (eher "programmatische") Subjektkonstitutionen analytisch nicht von vornherein mit Selbstverhältnissen gleichzusetzen, die einzelne zu sich selbst ausbilden, auch wenn beide Formationen wie im vorliegenden Fall - von strukturell ähnlichen Rationalitäten angeleitet sein können.64 So ist Blühers Autobiographie von 1 920 getragen von dem Bemühen, ein bestimmtes männliches (antibürgerliches, arisches, einzigartiges) Individuum zu fonnieren und sich als mit diesem Entwurf identisch zu konstituieren.6s So heißt es dort: "Die Abhärtung ist überhaupt etwas, was ich schon von Jugend auf mit großer Energie betrieben habe. [ ... I]ch habe es z.B. dadurch, daß ich jahrelang jede Winternacht, auch bei Schneesturm und grimmiger Kälte, nackt auf dem Balkon turnte, dazu gebracht, daß ich [ ... ] nicht einen einzigen Tag krank im Bett gelegen habe. Durch meine fast unbegrenzte Fälligkeit zu großen Märschen kam noch ferner hinzu, daß mein Körper auch nicht eine einzige weiche Stelle hat, sondern in gespanntem Zustande eisenhart ist und nur aus Muskeln, Sehnen und Knochen besteht. [... D]ie Namen [...großer Männer], die ich oft laut in den Sturm hinausrief, dienten mir in Minuten der Schwäche als Bannfor meln gegen die ankllmpfende Lust zu kapitulieren.'<66
Auch den bedrohlich-erotischen Verstrickungen mit männlichen Freunden sei er immer Herr geworden.67 Ein enger Freund habe sich dagegen den "heidnischen Wallungen" nicht gewachsen gezeigt: "Er war nicht Herr über sie, sondern sie knechteten ihn". Die Folge war, dass der Freund "schwächlich" wurde, "sein Leben
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jeder noch kommende noch unverständliche Geist? Im überlegenen Manne und nur dort"; H. Blüher, Ulrich von Wilamowitz und der deutsche Geist 1871/1915. Berlin 1916, 1 1. Bublitz, Foucaults Archäologie, 1 82 (Anm. 45). Politische Ordnung, Macht und (vorherrschen de) Denkmodelle sind eng miteinander verbunden und funktionieren in ähnlichen Rationalitäts strukturen; ebd., 73. Vgl. dazu K. PühV S. Schultz, "Gouvernementalität und Geschlecht: Über das Paradox der Festschreibung und F1exibilisierung der Geschlechterverhältnisse", in: S. Hesst R. Lenz (Hg.), Geschlecht und Globalisierung. Ein kulturwissenschaftlicher Streifzug durch transnationale Räume. FrankfurtlM. 200 1 , 102-127, 1 17. Denn die Praktik der Selbstthematisierung lässt sich ebenfalls als Funktion von Machttechniken lesen, weil sie kulturellen Regeln unterliegt, die von den Subjekten nicht individuell erfunden worden sind. Blüher ist z.B. Schemata unterworfen, "die [ ... er] in seiner Kultur vorfindet, die ihm von seiner Kultur, Gesellschaft, seiner sozialen Gruppe, vorgeschlagen, nahegelegt und auf gezwungen werden"; FuS, 19; Bublitz, Foucaults Archäologie, 72 (Anm. 45). H. Blüher, Werke und Tage: Geschichte eines Denkers. Jena 1920, 74. Blüher, Werke und Tage, 58 (Anm. 66).
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nicht in der Hand" hatte und "völlig ins Wanken" geriet - er ging am Eros zugrunde.68
IV. Regieren durch Wahrheitseffekte: Kritik an der Politik der Wahrheit Selbstbeherrschung, Triebhierarchisierung und körperliche Unempfindlichkeit wur den hier zu Konstanten der inneren Wahrheit des männlichen Subjekts. Der Körper Blühers ,gesteht' nicht nur seine ,eigene Wahrheit', sondern das, was die Rationalität der Humanwissenschaften an Wahrheiten produziert: sein Geschlecht, sein Begehren, seine Härte und Leistungsflihigkeit. Der Effekt von Macht reicht daher bis in die Seele, die psychische Struktur der Menschen hinein.69 In dieser ,Einkörperung von Diskurspositionen' liegt die produktive Kmft von Macht und der materielle Effekt von Diskursen. Aus der Fähigkeit zur Beherrschung des eigenen Bewusstseins und Körpers, einer aus der Pastoralmacht übertragenen Gewissensprüfung und Bewusst seinslenkung, entsteht die Mtinnlichkeit des Körpers - als einer Verkörperung von sozialer Macht. Wissen, Macht und Subjektivität konstituieren dabei jeweils eine eigene Dimen sion von Erfahrung, die nur in ihrem Verhältnis zueinander untersucht werden kön nen. Erfahrungen sind nicht Ausgangspunkt, sondern Resultat von Praktiken, die sie konstituieren. Diese Annahmen machen es unmöglich, von einer ursprünglichen, unmittelbaren Erfahrung auszugehen, vielmehr wird Erfahrung von Foucault ver standen als ,,Rationalisierung eines Vorgangs, der selbst vorläufig ist und in einem Subjekt mündet".70 Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit versorgt einzelne und Gruppen mit Erfahrungen, die sie - als Effekt der Macht - rur die eigene Erfahrung (als innere Wahrheit) halten: Entsprechend inszeniert sich Blüher als Erfinder und Schöpfer seiner Ideen, seiner inneren Wahrheit, die sich gerade darin von der bürgerlichen Nachahmung unterscheide. In der Entscheidung rur das Eigene sieht er dann auch das
68 Blüher, Werke und Tage, 43 (Anm. 66). 69 Mit dem Wissen über den Körper wird dieser als ge- und bewußter zum psychischen Organ. Dieses Wissen wird zur politischen Ökonomie des Körpers (Bublitz, Foucaults Archäologie, 43 (Anm. 45» . Der Körper steht "unmittelbar im Feld des Politischen"; ÜuS, 37. 70 Dies nennt Foucault "Subjektivierung" als "selbstverständlich nur eine der gegebenen Möglich keiten der Organisation des Bewusstseins seiner selbst"; RdM, 1 44; Lemke, 266 (Anm. 21).
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"Männlichste", was er jemals getan habe.71 Indem die Macht das Individuum an seine Identität fesselt, ihm ein Gesetz der Wahrheit auferlegt, macht die Macht aus Indivi duen Subjekte bzw. erlaubt es Blüher, männliches Subjekt zu werden.72 Die eigene Erfahrung nicht mehr als unmittelbar gegebene Wahrheit wahrzunehmen, ist dagegen eines der politischen Anliegen Foucaults.73 Hier liegen Anschlussmöglichkeiten zur dekonstruktiven Textlektüre, welche die (unweigerlichen) Verfehlungen der einen Wahrheit dechiffriert,74 die sich im vorlie genden Fall als das starre Bemühen um authentische Männlichkeit artikuliert. Ein Bemühen, das - zumindest aus der historischen Distanz - in seiner binären Struktur lesbar wird. Denn die Person Hans BlUher verortete sich (wie Dokumente des Nach lasses und seine Autobiographie belegen) überwiegend zwischen den Extremen, er sah sich entweder als Held oder "Trottel", beurteilte sich in Kategorien von Sieg oder Vernichtung, Herr- und Sklavesein, arischer Reinheit oder Unreinheit. Über die rigo rose Abwehr der leisesten Möglichkeit, diese binären Ordnungen zu verfehlen, ist das bedrohliche Verfehlen im Text ständig präsent.7S Nicht nur in den Gesten der Autogenese und der Selbstbeherrschung, sondern ge rade auch in ihrer fundamentalen binären Codierung ähnelt Blühers Selbstkonstituti on den Strukturen männlicher Subjektkonstitution.76 In dichotomer Gegenüberstel lung zum männlichen Subjekt wurde die Frau mit einem Triebleben ausgestattet, das
7 1 Blüher, Werke und Tage, 49 u. 57 (Anm. 66). Ganz allein gegen den Rest der bürgerlichen Welt zu stehen, sich filr ein ungesichertes, unabhängiges Leben unter schweren inneren ,,Kämpfen" zu
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entscheiden, sei das "Mannhafteste und Redlichste", was er jemals getan habe. In ahnlicher Wei se zitiert der Name der maskulinistischen "Gemeinschaft der Eigenen" die romantische Tradition männlich-künstlerischer Selbstschöpfung. Dass die Wahrheit als eigene, einzigartige Wahrheit, als authentische Erfahrung erscheint, ist ein Effekt der Macht. SuM, 246. Mit der Analyse des eigenen Bewusstseins konstitutiert sich das Subjekt als Subjekt seiner ,eigenen' Wahrheit und Erfahrung. Lemke, 268 (Anm. 21); MiE, 30t: "Für Foucault erzeugt das Symbolische seine eigenen Subversionen und diese Subversionen sind unvorhergesehene Effekte der symbolischen Anrufungen." Die lterabilität wird zum ,,Nicht-Ort" der Subversion. J. Butler, Psyche der Macht: Das Subjekt der Unterwerfung. FrankfurtlM. 2001 (Stanford 1997), 93-95. In einer Art ,Geständniszwang' filhlt sich Blüher genötigt, darauf hinzuweisen, dass er selbst nicht ,homosexuell' sei: "Ich habe niemals in meinem Leben pro domo gekämpft" (Blüher, Werke und Tage, 108 (Anm. 66», oder: "Für mich selbst war die Situation ja, wie ich schon sagte, persönlich gar nicht betont, aber ich habe das niemals verraten, sondern habe mich den Gegnern gegenüber stets und in allen Punkten mit meinen Freunden solidarisch erklärt. So kam es, daß ich wohl fast ein Jahrzehnt lang in den Ruf geriet, einer von jenen zu sein"; ebd., 1 19-29. Die binären Codierungen haben die Funktion von gesellschaftlichen Teilungspraktiken, die politisch wirkmächtig sind; Bublitz, Foucaults Archäologie, 125 (Anm. 45).
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während der Pubertät passiv wurde. Hierin sah Blüher in Anlehnung an Freud die "eigentliche Weibwerdung des weiblichen Menschen".TI Dieser "spontane Verdrän gungsschub" schloss eine selbstbestimmte Kontrolle ihrer Triebe aus und legitimierte nicht zuletzt eine ,,Bezwingung des Weibes" durch den ,Herrn der Triebe' .7B Eine weitere Konsequenz dieser Logik war die Annahme, dass Frauen wie "Ne ger" sich nicht "durch höhere Ich-Interessen" von ihrer Triebhaftigkeit lösen könnten und daher nicht in der Lage seien, einen Beitrag zur Kultur oder zum Staat zu leisten. Beide verstünden "den Verdrängungseinsatz nicht und den Kultur-Aufstieg im größe ren Stile".79 Frauen verkörperten dennoch oder gerade wegen des ihnen zugeschriebenen Mangels eine Bedrohung für die Homogenität der männlichen Gemeinschaft.Bo Äqui valent zum kleinen männlichen Subjekt mutierten sie auf der Ebene des Kollektiv subjekts zur nationalen Bedrohung.BI In ähnlicher und doch existenziellerer Weise fungierten Juden als das letztlich auch geschlechtlich unverortbare Negativ des männlichen Subjekts und der Männer gemeinschaft. Weder konnte der jüdische Mann eine ,echte Frau' werden, noch er füllte er Blühers Kriterien ,echter Männlichkeit'. Juden und Frauen fungierten als strukturell kongruente Metaphern des Periphe ren, Ungesunden, Dissoziierten und der nicht-geschlossenen Persönlichkeit. Dem Männerheld wurde dagegen eine "geschlossene Konstruktion einer einheitlichen Persönlichkeit"B2 zugesprochen, analog zu den "geschlossene[n] Männerbünde[n]".B3
77 Blüher, ,,Latente Inversion", 130 (Anm. 57). 78 H. Blüber, "Studien über den perversen Charakter (erstmals 1913)", in: Ders., Inversion und Perversion, 1 5-46 (Anm. 54). 79 H. Blüher, Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phllnomen - Ein Beitrag zur Erkenntnis der sexuellen Inversion. Mit einem Vorwort von Dr. Med. Magnus Hirschfeld und einem Nachwort von Hans Blüher. Berlin 1912, 95. 80 Der Wille zur Familie war auch filr Blüher persönlich: ,)a nun, und das war er auch zunächst bei mir, die weiche, unheldische träge Stelle im Wesen: [... 1 die eigentliche Verfilhrung zum Gering filgigen, Gewöhnlichen, Durchschnittlichen [...1, das dem Willen zur Höhe entgegenstand [... 1"; Blüher, Werke und Tage, 62 (Anm. 66). 81 Blüher, Deutsche Wandervogelbewegung, 1 17 (Anm. 79). Mit seiner Schrift "Was ist Antifemi nismus", die an prominenter Stelle als Beilage zu Sigismunds Pamphlet gegen das "Frauen stimmrecht" erschien, erwiesen sich die Positionen Bluhers als nicht unwesentliches Elemente des politischen Diskurses. F. Sigismund, Frauenstimmrecht, Leipzig 1912; als Beilage: H. Blü her, Was ist Antifeminismus? Sonderblätter des Aufbruchs 1 (4 BI. geheftet). Vgl. U. Planert, Antifeminismus im Kaiserreich: Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität. Göttingen 1998, 1 19-120. 82 Blüher, Deutsche Wandervogelbewegung, 1 05 (Anm. 79). 83 Blnher, ,,Bürgerlicher und geistiger Antifeminismus", 88 (Anm. 32).
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Zugleich verwies diese radikale Abgrenzung von dem geschlechtlich und ,ras sisch' Anderen auch auf die Umkehrung des gewaltsamen Ausschlusses von Homo sexuellen aus der Gesellschaft, die die Invertierten zu allererst als strafrechtlich ver folgte und gesellschaftlich geächtete Gruppe konstituierte. So lässt sich die starke affektive Besetzung von Exklusionsstrategien gegen Frauen und Juden zugleich als Strategie zur Nonnalisierung von Inversion lesen. Durch die Abgrenzung von ande ren Exkludierten wird die Imagination der eigenen Teilhabe an einem ,Ganzen' im Binnenraum der Gesellschaft produziert und aufrechterhalten.84 Dabei sind Praktiken der Unterwerfung und Praktiken der Befreiung zwar analy tisch zu trennen, aber keine substantiell voneinander geschiedenen Praxisfonnen. Der Passivität der Subjekte in den Unterwerfungspraktiken steht nicht ihre Aktivität in den Freiheitspraktiken gegenUber.85 Das "Paradox der Subj ektivierung" besteht darin, dass das Subjekt, das sich bestimmten Nonnen widersetzt, selbst von solchen Nor men befilhigt und hervorgebracht wird. Handlungsvennögen ist dabei nicht ausge schlossen,. aber in einer ständigen reartikulierenden Praxis verortet, die der Macht immanent ist und nicht als eine Beziehung des von außen gegen die Macht geftlhrten Widerstands.86 Dies zeigte sich u.a. in den "Gegenentwtirfen" von Frauen der 1 920er Jahre, die auf den "geistigen Antifeminismus" der Maskulinisten reagierten und entsprechend modifizierte Weiblichkeitsentwtirfe lancierten, nicht ohne häufig in den polaren Zuschreibungen, die sie kritisierten, selbst gefangen zu bleiben. Wissen, Macht und Subjektkonstitution griffen hier ineinander und konstituieren eine ,Erfahrung' des Weiblichen, die sich nur als das Andere des Männlichen definieren konnte.87 Diese Struktur ist auch konstitutiv ftlr ideologische Herrschaft, die eben nicht der Gegensatz zwischen herrschender und beherrschter Ideologie ist, sondern ein "para doxer Raum", in dem sich die "äußere Konfrontation bis in die innere Organisation der beherrschten Ideologie selbst durchsetzt" und noch den Gegensatz strukturiert.88
84 85 86 87
Bruns, ,,(Homo-)Sexualitl1t", 1 07-108 (Anm. 34). ÄdE, 137-138. Butler, Körper, 39-40 (Anm. 40). Entsprechend verweist der Versuch aus Teilen der Frauenbewegung, den ,,Eigenwert" und die "Eigenart" der Frau äquivalent zur männlichen "Eigenart" zu entwerfen und dadurch aufZuwer ten, auf die Grenzen einer Rationalitllt, deren binärer Struktur selbst Versuche des Widerstands noch verhaftet blieben. 88 M. Pecheux, ,,lu rebellieren und zu denken wagenl Ideologien, Widerstande, Klassenkampf', in: kultuRRevolution 6 (1984) 63-66, 63; Lemke, 3 1 3 (Anm. 2 1).
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V. Resümee Mit Foucaults Erweiterung des Macht-Wissens-Komplexes um die "Selbstkonstitu tionen" wurde Macht nicht mehr als rein repressiv oder rein produktiv aufgefasst, sondern in einem Doppelcharakter von Unterwerfungs- und Widerstandspotenzial begriffen.89 - So ließ sich zeigen, wie das Sexualitätsdispositiv historisch bestimmte Subj ektformationen (etwa den "Homosexuellen") produzierte, denen sich die als deviant Markierten kaum entziehen konnten. Dennoch konnte dieselbe Subjektfor mation auch zum Einsatz werden, um die bestehenden Machtverhältnisse zu ver schieben. Über die Affirmation einer besonderen Virilität schrieben sich die Masku Iinisten nicht nur in den Diskurs hegemonialer Männlichkeit ein, sondern prägten auch die Art der Diskursivierung von Männlichkeit selbst entscheidend mit. Der maskulinistische Diskurs zielte auf eine Normalisierung von Homosexualität, indem er u.a. die sexuelle Bindungsfiihigkeit in eine soziale zu transformieren ver suchte. Diese Koppelung von Sexualität und Sozialität verweist darauf, dass die Subjekte nicht mehr in Hinblick auf eine "menschliche Natur", sondern am Grad ihrer Gesellschaftlichkeit gemessen wurden. - Dass Normalisierung über Fragmen tierung funktioniert, zeigen die von den Maskulinisten eingesetzten (antifeministi schen, antisemitischen, antibürgerlichen) Exklusionsstrategien. Diese markierten, was zum Feld hegemonialer Männlichkeit gehörte und wer als potentiell anormal ausgeschlossen werden konnte. Der Begriff der Regierung kann rur eine veränderte politische Geschichtsschrei bung in dem Maße relevant werden, wie er eine Verbindung herstellt zwischen der Lenkung der Einzelnen durch sich selbst und der Lenkung anderer. Beide Vorgänge verbinden sich in der Frage: wie sich eine ,Erfahrung' konstituiert, in der die Bezie hung zu sich selbst und die Beziehung zu den Anderen miteinander verbunden sind. - So ließ sich ausgehend von den Schriften Hans Blühers die Konstruktion des männlichen Selbst mit den Formationen des männlichen (Trieb-)Subjekts und Kol lektivsubjekts (Führer, Nation) vergleichen. Ein Machteffekt der Männlichkeitsdiskursivierung war die verstärkte Produktion einer geschlechtlich codierten "Wahrheit" des Subjekts. Das binär strukturierte Den ken der Identität setzt ein Gegenüber, ein Abweichendes, Exkludiertes voraus, das es zugleich selbst erst produziert. Daher sind modeme Gesellschaften, die auf diesen Identitätskonstruktionen beruhen, strukturell rassistische Gesellschaften. Insofern
89 .,subjektivierung" war somit nicht mehr nur das Produkt eines Zwangsprozesses. sondern fand innerhalb eines strategischen Feldes statt. das Widerstandsmöglichkeiten einschloss.
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lässt sich Foucaults Kritik an der Wahrheit des mit sich selbst identischen Subj ekts als fundamental politisches Projekt lesen.90 Indes kann es einer an Foucault orientierten Geschichtsschreibung nicht darum gehen, alte, falsche Wahrheiten gegen eine aktuellere Wahrheit zu ersetzen. Vielmehr ist das Ziel, die historische Konstruktion bestimmter, möglicherweise noch aktueller Wahrheitseffekte zu markieren. Es gilt, nicht aus der sicheren Position der heutigen Rationalität vergangene Irrationalitäten aufzuspUren, sondern danach zu fragen, wie bestimmte Rationalitäten historisch funktionierten und eingesetzt wurden und damit auch die Möglichkeit zur Kritik an den Rationalitäten der Gegenwart zu eröffnen.
90 Wenn das Subjekt nicht mehr in Bezug auf eine Wahrheit verstanden werden würde, wUrde vielleicht der Kreislauf von Homogenisierung und Exklusion unterbrochen; Bublitz, Foucaults Archäologie, 1 64-165 (Anm. 45).
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Wort-Macht, S ichtbarkeit und Ordnung: Überlegungen
zu
einer Kulturgeschichte des
Denunzierens während der McCarthy-Ära ()lllyr�tie�litz
Die frühen Jahre des Kalten Kriegs hinterliessen vielfältige und bisweilen wunderli che Spuren in der Kultur der Vereinigten Staaten von Amerika - von eifernden Fern sehpriestern über "Rote"-jagende Romandetektive bis hin zum Baseballteam, dem man nahelegte, seinen Namen (Cincinnati Reds) aufzugeben: Besonders nachhaltig schlug sich der Red Scare damals in den Spielfilmen Hollywoods nieder - und trieb namentlich im sogenannten B-Film, billigen Produktionen, mit denen die Studios auf leichte, kostengUnstige Art und Weise ihren Beitrag zur antikommunistischen Sache leisten konnten und die Dank der Einrichtung der double features auch immer ihren Platz in den Kinoprogrammen fanden, bizarre Blüten? "Red Nightmare" ist einer dieser vielen antikommunistischen Propagandafilme des Kalten Kriegs, ein zugege ben schon eher später Vertreter dieses Genres.3 In ihm wird der Alptraum eines ty pisch amerikanischen Kleinstadtbürgers geschildert. Seine Gemeinde im Herzen der USA war über Nacht kommunistisch geworden. Soldaten mit finsteren, ,asiatischen' Gesichtern patrouillieren auf den Straßen, die Gefängnisse fllllen sich mit aufrechten Bürgern wie ihm. Was ihm jedoch am meisten zusetzt, ihn schließlich endgültig zum aktiven Widerstand veranlasst, ist eine andere, sozusagen private Erfahrung: der Beitritt seiner beiden gerade schulpflichtigen Kinder in den Verband der Jungen Pioniere sowie deren Wunsch, die öffentliche High School zu verlassen und von nun an auf eine Schule der Partei gehen zu wollen. Des Vaters kategorische Ablehnung dieser Vorhaben beantworten Sohn und Tochter mit der unverhohlenen Drohung, den Vater bei der Partei als Konterrevolutionär zu denunzieren.
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3
Für einen gelungenen Überblick vgl. S. J. Whitfield, The Culture of the Cold War. Baltimorel London 21996. Siehe einfilhrend N. Sayre, Running Time: Films of the Cold War. New York 1982, sowie L. May (Hg.), Recasting America: Culture and Politics in the Age ofCold War. Chicago 1989. Eine sehr hilfreiche Liste von zeitgenössischen Filmen mit antikommunistischem Inhalt, erg8nzt mit Literatur, findet sich im Internet unter: Tbe All Powers Project, <www.lib.washington.edu/ exhibits/Cinema studies/AlIPowers/film.html> (8.1 .02). Red Nightmare, 1962, Regie: George Waggner.
24 1
Soweit Hollywood. Blicken wir auf eine weitere zeitgenössische Quelle, diesmal ein Schulbuch, genauer ein verbreitetes Lehrbuch rur den Geschichtsunterricht an High Schools aus dem Jahre 1 955. Darin wurde den jungen LeserInnen folgender Rat gegeben: "The FBI urges Americans to report directly to its offices any suspicions they may have about Communist activity on the part of their fellow Americans. Tbe FBI is expertly trained to sift out the truth of such reports under the laws of our free country.,,4 Diese beiden Beispiele können Indizien darur sein, wie groß die Eindringtiefe dessen war, was der US-amerikanische Publizist und Journalist Victor Navasky schon zu Beginn der I 980er Jahre als das lnformer Principle jener Zeit gekennzeich net hat.s Sie zeigen indes auch, wie uneindeutig und umkämpft der Umgang mit denunziatorischer Rede und denunziatorischem Verhalten war und ist, wie wesent lich ihr Zusammenhang zu Teilhabe und Ausschluss in einem Gemeinwesen zu wer ten ist. Denn Denunzianten, bzw. - um im US-amerikanischen Kontext zu bleiben informers sind freilich stets die Anderen, während man selbst nur bestrebt ist, die Freiheit, das Recht, die Revolution oder was auch immer sonst zu verteidigen. Diese emotionale und moralische Aufladung des Begriffs wirkt sich auch überaus proble matisch rur die historische Forschung zu diesem Tbemenkomplex aus. Die Kenn zeichnung als informer bleibt stets stark an die Perspektive der Betrachtenden gekop pelt und ist abhängig von den diese Perspektive strukturierenden Wertmaßstäben ein Umstand, der beim historisch-forschenden Umgang notwendig weiter vorange trieben wird. Der folgende Beitrag basiert zunächst auf der Arbeit eines Bremer Forschungs projekts, das sich in den Jahren zwischen 1 998 und 200 1 mit "Denunziation in Deutschland" zwischen 1 933 und 1955 beschäftigt, also den Versuch unternommen hat, denunziatorisches Verhalten und denunziatorische Rede im Nationalsozialismus und in beiden deutschen Nachfolgegesellschaften miteinander zu vergleichen.6 Hier soll nun angestrebt werden, Erkenntnisse dieses Projekts auf die Geschichte der USA zu übertragen; mein Beitrag ist somit also keineswegs durch umfangreiche For schung gesättigt, sondern wird am Ende mehr Fragen offen lassen denn beantworten können. Ich möchte versuchen zu zeigen, dass der Fokus auf denunziatorisches Han deln und Reden einen Blick auf ein Feld eröffnen kann, das sich um die Begriffe
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R. H. Gabriel u.a., Exploring American History, hier zitiert nach Whitfield, 102 (Anm. 1). V. S. Navasky, Naming Names. New York 1980, xxi. I. Marszolekl O. Stieglitz (Hg.), Denunziation im 20. Jahrhundert: Zwischen Komparatistik und Interdisziplinarität. Sonderheft Historical Social Research! Historische Sozialforschung 26 (96/97) 200 I .
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Loyalität und Verrat gruppiert und das mir zentral rur die Konstituierung und Stabili sierung ,erfolgreichen' Regierens und Selbst-Regierens erscheint. Auf dem Wege dorthin skizziere ich zunächst kurz die zeithistorische Forschung, die sich bislang mit Denunziationen im Europa des 20. Jahrhunderts beschäftigt hat, und erläutere, in welchem Verhältnis der US-amerikanische McCarthyism zu diesem Themenkomplex steht. Danach werde ich zusammenfassen, welche Rolle Foucault sches Denken, seine Theorien und Methoden bislang in dieser Forschung gespielt haben, um schließlich in meinem dritten Teil, aufbauend auf Überlegungen des Bre mer Projekts, zu zeigen, dass das Analysepotenzial Foucaultscher Interpretationen damit noch nicht ausgeschöpft ist. Dies werde ich dann im vierten Teil im Hinblick auf die antikommunistische Welle in den USA seit den späten 1 940er Jahren konkre tisieren, um schließlich in einem Fazit zu argumentieren, dass der Forschung mit Hilfe dieser Perspektive erweiterte Einblicke in diese Epoche der US-Geschichte offenstehen, die schließlich in eine neue Kulturgeschichte des Kalten Kriegs münden können.
I. Denunziatorisches Verhalten ist nicht auf Diktaturen beschränkt.7 Diese Aussage ist zunächst nicht sonderlich überraschend, im Zusammenhang indes mit der beständig zunehmenden Anzahl von zeithistorischen Arbeiten, die sich dem Thema Denunzia tion zuwenden, bekommt dieser Hinweis doch eine gewisse Berechtigung. Dort überwiegt die Behandlung von Denunziationsformen in Diktaturen überdeutlich: Nationalsozialismus und Faschismus, Stalinismus, Militärregime und Besatzungssys teme stehen, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, im Mittelpunkt der Be trachtungen. 8 Hinzu gesellt sich der Umstand, dass diese Forschungsrichtung auch ihre Begrifflichkeiten und Definitionen eng an die Bedingungen diktatorischer Sys teme koppelte, diese namentlich insbesondere aus den Verhältnissen des nationalso7
8
Denunziationen umfassen in meiner Auffassung das gesamte semantische Feld und die Wortbe deutung "anzeigen" ebenso wie "anklagen" und "verunglimpfen". Die Definition verweist dar Ober hinaus auch sowohl auf freiwillig-spontane und formalisiert-regelmäßige Zuträgerschaft sowie deren sprachliche Verfasstheit. G. Jerouschek u.a. (Hg.), Denunziation: Historische, juristische und psychologische Aspekte. Tobingen 1 997; A. LOdtkei G. FOrmetz (Hg.), Denunziation in der Neuzeit: Politische Teilhabe oder SelbstOberwachung. Themenheft SOWI - Sozialwissenschaftliche Informationen 27 (1998); A. Landwehrl F. Ross, (Hg.), Denunziation und Justiz: Historische Dimensionen eines sozialen Phänomens. TObingen 2000.
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zialistischen Deutschland entwickelte. Ohne Frage drängt sich eine historiographi sche Untersuchung von Denunziationen in solch hochgradig autoritären Konstella tionen auf, doch mit ihr ging eine definitorische Engftlhrung einher, welche die Per spektive auf weniger eindeutige Varianten denunziatorischer Ausgrenzung so er schwerte, dass sie vielen AutorInnen gar unnötig oder unmöglich erschien. Trotzdem fehlt selten der Hinweis darauf, dass Denunziationen und verwandte Verhaltensmuster eben auch in Demokratien westlichen Musters vorzufinden (gewe sen) seien. Als Beleg ftlr diese Annahme hat sich der Verweis auf die anti kommunistische Repressionswelle in den USA seit den späten 1 940er Jahren fest etabliert. "Man denke nur an die McCarthy-Ära", mahnte erst kürzlich ein Autor, und auch andere Beiträge bemühen wie selbstverständlich US-Senator Joe McCarthy, um die Durchsetzung bestimmter Ordnungsvorstellungen mittels zweifelhaften Anzeige verhaltens auch in Demokratien aufzuzeigen.9 McCarthyism oder auch der berUch tigte "Kongressausschuss ftlr Un-Amerikanische Aktivitäten" fungieren offenbar als dankbare und akzeptierte Metaphern ftlr eine plausible Erweiterung der Perspektive auf denunziatorisches Verhalten außerhalb von Diktaturen. Ein Grund daftlr könnte sein, dass die jeweiligen nationalen Geschichtsschreibungen ähnliche Begriffe zur Beschreibung der in Frage kommenden Perioden verwenden: Inquisition, Hexenj agd, Schauprozesse, Säuberung, Atmosphäre der Angst und eben Denunziation. For schungspraktisch blieb diese Doppelung aber bislang eine Leerstelle, konkret aufein ander bezogen wurden die beiden Untersuchungsgebiete bislang nur selten. Dies hat - neben den fachdisziplinär üblichen Sprachlosigkeiten und Wahrnehmungsproble men - mit der bereits angesprochenen begrifflichen Festschreibung des Terminus Denunziation zu tun, der sich in der Europa behandelnden Forschung, und ich ver weise - etwas verkürzend - auf die häufig herangezogene Definition von Rohert Gellately und Sheila Fitzpatrick, auf spontane und unregelmässige Mitteilungen Einzelner von Fehlverhalten Anderer an staatliche Behörden mit dem Zwecke der Sanktionierung bezieht.1o Demgegenüber konzentrieren sich Studien zum naming names während dieser Phase des US-Antikornmunismus vor allem auf öffentliche Aussagen von sogenannten ,freundlichen Zeugen' vor den unterschiedlichen Aus schüssen und Gerichten, also auf hochgradig institutionalisierte und formalisierte Verfahren. Hierzu liegen seit langem zahlreiche, zumeist aus einer Opferperspektive
K. Sauerland, Dreissig Silberlinge. Denunziation: Gegenwart und Geschichte. Berlin 2000, 247; Landwehr! Ross, 17 (Anm. 8). l O S. Fitzpatrickl R. Gellately, "Introduction to the Practices of Denunciation in Modem European " History , in: Themenheft Denunziation Journal ofModern History 68 (1996), 747-767.
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heraus argumentierende Texte vor, die sich vor allem darum bemühen, möglichst viele und möglichst prominente Täter und Täterinnen bekannt zu machen. 1 1 Beide Ansätze greifen meiner Ansicht nach zu kurz, denn beide thematisieren nur jeweils einen Aspekt eines komplexen Geflechts von Aussagen und Praktiken, das sich zu einem Dispositiv der Loyalität und Wachsamkeitl 2 verdichtet und in meinen Augen erstens der Homogenisierung und symbolischen Reproduktion eines Kollek tivs dient und zweitens im Sinne von Foucaults Gouvemementalitätsanalyse Techni ken von Herrschaft und des Selbst bündelt. "Das ganze zweifelhafte Gemurmel [...], das jeden wie eine Wolke umgibt", 13 lässt ein vielschichtiges und heterogenes Feld von Sichtbarem und Sagbarem entstehen, in welchem sich Denunziant und Opfer, Zuschauer, Kommentator und Herrscher verhalten können und müssen. Diese Aspekte sollen im Folgenden herausgearbeitet werden.
11. Wie wurden die Gedanken Foucaults bislang in Hinblick auf diesen Komplex ,De nunziation' rezipiert und angewandt? Foucault selbst beschrieb Denunziationen anhand der Praxis der "Iettres des cachet" im Frankreich des 1 8. Jahrhunderts, jener königlichen Siegelbriefe, mit Hilfe derer der Herrscher an der langsam arbeitenden Justiz vorbei Personen ohne Gerichtsverfahren in Gefängnisse und Anstalten einwei sen konnte, als Herstellung von "Kontaktflächen" zwischen individuellem Verhalten und den Überwachungs- bzw. Sanktionsinstanzen des Staates. HerrschaftsansprUche drangen auf diese Weise bis zur privaten Ebene der sozialen Beziehungen durch. 14 Er betonte gleichermaßen die im Austausch mit der Macht liegende Wechselbeziehung zwischen Bevölkerung und Staat wie die in der alltäglichen Praxis entwickelten Handlungsspielräume der Aneignung. Politik verwebt sich demnach mit dem Ge flecht der sozialen Routinen, und im Effekt wird ein System erkennbar, in welchem 1 1 Vgl. beispielsweise F. ]. Donner, The Age of Surveillance: The Aims and Methods of America's Political Intelligence System. New York 1980; oder D. Caute, The Great Fear: The Anti Communist Purge under Truman and Eisenhower. New York 1978. 12 Ein Dispositiv ist ein "entschieden heterogenes Ensemble" und umfasst "Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes"; mit diesem Begriff sind mithin auch nicht-diskursive Praktiken fassbar, vgl. SudP, 1 19f. 13 LdiM, 32. 14 FK, 273. Vgl. hierzu und zur Bedeutung Foucaults in dieser Forschungsrichtung die Bremer Dissertation von Christoph Thonfeld, Sozialkontrolle und Eigen-Sinn: Denunziation im Span nungsfeld von Staat und Gesellschaft am Beispiel Thüringens 1933-1 949 (i.D.).
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keineswegs der König allein Macht ausübte, sondern das sich durch ein komplexes Kräfteverhältnis unterschiedlicher Akteure auszeichnete. ls In dieser Herrschaftsaus übung wird die Macht "gleichzeitig das Objekt von Begehrlichkeit und das Objekt von Verführung", denn ,jeder kann, wenn er das Spiel zu spielen weiß, rur den ande ren ein schrecklicher und übergesetzlicher Monarch werden.,"6 Im Resultat werden dadurch die traditionellen Zugehörigkeits- und Abhängigkeitsverhältnisse, also das Private, auf die administrativen und politischen Kontrollen hin geöfthet, mithin dem normierenden Blick der Allgemeinheit zugänglich gemacht. Es war eben diese auf den Machtbegriff zugespitzte Lektüre Foucaults, die seit Ende der 1980er Jahre einen sehr bedeutenden Einfluss auf die Betrachtungen zeit historischer Denunziationsphänomene in Europa gewann, namentlich durch die Ar beiten Gellatelys. Unter explizitem Rückbezug auf die Gedanken Foucaults zur Anatomie einer Überwachungsgesellschaft kommt er schließlich zur Charakterisie rung NS-Deutschlands als "a radical version of a self-policing society.,, \1 Das dient zur Problematisierung des gebräuchlichen Begriffs des Polizeistaats, der sowohl der Polizei wie dem Staat zu viel Macht zuschreibe und gleichzeitig den Eindruck er wecke, als könnten beide unabhängig von der Gesellschaft funktionieren. Daneben wird speziell rur das NS-System der NSDAP, der SA, HJ und anderen NS Organisationen eine praktische Bedeutung rur den Bereich der Überwachung und Selbstüberwachung zugeschrieben. Die Organisationen bzw. ihre Träger strukturier ten j e nach Stellung in der Hierarchie als Denunzianten, Hilfspolizisten, Informa tionsübermittler, AnlaufsteIle, Verfolgungs- oder Sanktionsinstanz ein Denunziati onsangebot, trugen zu seinem Funktionieren bei oder verschafften ihm gesellschaftli che Geltung. 18 Diese Analyse Gellatelys ist aber - zumindest aus dem Blickwinkel des Bremer Projekts - kritik- und ergänzungswürdig. Die Fixierung auf Kontrolle, auf Staat oder andere Autoritäten als Adressaten und auf einzelne, in diesem Feld individuell han delnde Menschen verstellt den Blick darauf, dass diese Denunziationen notwendig in ein weit größeres Netz von Diskursen und Praktiken eingebunden sind, in dem Loya Iitätsbeziehungen, Stabilität und Ordnung innerhalb eines Gemeinwesens verhandelt werden. Statt einzig den unleugbaren repressiven Charakter von Denunziationen zu 15 Vgl. hierzu M. Dinges, "Michel Foucault, Justizphantasien und die Macht", in: A. Blauertl G. Schwerhoff (Hg.), Mit den Waffen der Justiz: Zur Kriminalitlltsgeschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. FrankfurtlM. 1993, 1 89-212. 16 LdiM, 52. " 17 R. Gellately, "Denunciations in 20th Century Gerrnany ; in: S. Fitzpatrickl R. Gellately, Accu satory Practices: Denunciation in Modem European History 1789 - 1989. Chicagol London 1997, 219. 18 Ebd., 206.
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unterstreichen, wären im Sinne Foucaults eben auch deren ,positive', produktive Seiten bei Homogenisierung und Reproduktion eines Kollektivs mitzubedenken, denn die Macht "macht handeln und sprechen.,, 19 Welche Rolle, so wäre zu fragen, kommt denunziatorischer Rede und denunziatorischem Handeln bei der Konstitution von Nonnalität und Differenz zu? Es lohnt sich, an dieser Stelle die enge Verknüp fung des Foucaultschen Machtkonzepts mit Vorstellungen der Sichtbarkeit und der Sichtbannachung, den Panoptismus, in Erinnerung zu rufen; "das Sichtbare ist fUr Foucault .. , das Feld, auf dem sich Wissen und Macht neu konstituieren.'020 Das Kräftefeld der Macht wird dabei genauso von der polizeilichen Überwachung des Raumes wie von der Wachsamkeit des Einzelnen gegenüber dem Anderen immer wieder neu reproduziert. In diesem Sinne ist jede denkbare Fonn von Denunziation, sei es die zweifelhafte Anzeige, der versteckte Fingerzeig oder die öffentliche Diffa mierung, eine Art des Sagens und eine Weise des Sehens. DenunziantInnen erblik ken, erkennen und benennen das jeweils Andere, sie zeigen mit ihren Fingern auf sie und erzeugen "Ungeheuer": Sie stellen ihre Opfer in das beobachtende und sanktio nierende Licht der Öffentlichkeit.2 1 DenunziantInnen interpretieren die Worte oder Handlungen ihrer Opfer als falsch oder fremd, wozu sie sich auf einen vorgegebenen Ordnungsrahmen beziehen (müssen) und diesen performativ stets neu hervorbringen. Statt also nach Freiwilligkeit und Spontaneität bei denunziatorischem Verhalten zu fahnden, nach den EinzeltäterInnen und deren Motiven, stellt sich aus dieser Per spektive eher die Frage nach deren sprachlichen und kommunikativen Zusammen hängen. Erzielt eine Denunziation ihre Wirkung nicht vor allem daraus, weil "in [ihr] frühere Sprachhandlungen nachhallen und sie sich mit autoritativer Kraft anrei cher[t], indem sie vorgängige autoritative Praktiken wiederholt bzw. zitiert,,?22 Kurz: eine Untersuchung von Denunziationen kann aus diesem Verständnis heraus ohne einen Rückbezug auf ein weites Ensemble von Diskursen, Praktiken und Institutio nen - mithin auf das von mir sogenannte Dispositiv der Loyalität und der Wachsam-
19 LdiM. 43. 20 M. de Certeau. "Foucaults Lachen". in: Ders Theoretische Fiktionen: Geschichte und Psycho analyse. Wien 1997. 44-58. 48. Zentral herausgearbeitet wird der Zusammenhang von Sichtbar keit und Wissen von G. Deleuze. Foucault. FrankfurtlM. 1992. v.a. im Kapitel "Die Schichten oder historischen Formationen: das Sichtbare und das Sagbare (Wissen)". 69-98. Freilich muss mit Deleuze auch betont werden. dass das Sichtbare (die nicht-diskursiven Praktiken) und das Sagbare (der Diskurs) nie vollständig zusammen fallen. sondern das Gesehene von der Sprache neu gefasst wird. " 21 "Ungeheuer in LdiM. 27; zum Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit vgl. I. Marszolek. ",Die Zeichen an der Wand' - Denunziation aus der Perspektive des jüdischen Alltags im .Drit ten Reich· ... in: Dies.! Stieglitz (Anm. 6). 204-218. 22 1. Butler. Haß spricht: Zur Politik des Performativen. Berlin 1998. 78. .•
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keit - und ohne eine Ausweitung des Untersuchungsgegenstands über enge Defini tionen hinaus nicht geschrieben werden. Vielleicht war es der Umstand, dass im Bremer Projekt von Beginn an auch nicht-diktatorische Gesellschaften explizit mit beleuchtet wurden, der diese Erweite rungen sinnvoll und notwendig erscheinen ließ. So gesehen mag der trotz aller flos kelhaften Forschungsreferenzen ungewohnte Zuschnitt auf den US-amerikanischen Antikommunismus, das Füllen der bislang in diesem Zusammenhang leeren Meta pher McCarthyism, vielleicht ebenso nutzbringend sein, um die historische Betrach tung von Denunziationen in ihre jeweils kontingenten Denkzusammenhänge zu stel len.
III. McCarthyism gehört zu den schillerndsten Begriffen der US-Geschichte des 20. Jahrhunderts. Der republikanische Senator Joseph "Tailgunner" McCarthy aus Wisconsin gab einer breiten und facettenreichen politischen Bewegung seinen Na men und markierte durch seine medienwirksamen Auftritte zwischen Anfang 1 950 und Ende 1954 ihren Höhepunkt.23 Doch weder zeitlich, noch inhaltlich oder perso nell kann die antikommunistische Bewegung allein mit der Politik seiner bekanntes ten Gestalt identifiziert werden. Der McCarthyism war die weitreichendste und am längsten andauernde Welle politischer Repression in den USA. Seine Vorbilder rei chen bis in das 19. Jahrhundert zurück, seine eigentliche Geschichte beginnt späte stens 1938 mit der Einrichtung des "Kongressausschusses gegen Un-Amerikanische Aktivitäten" und wird das politische, gesellschaftliche und kulturelle Klima auf Jahre hinaus nachhaltig beeinflussen.24 Seine konsensbildende Kraft bezog er vor allem aus dem Zusammenspiel vieler unterschiedlicher Protagonisten, alle mit eigenen Vor stellungen, Zielen und Methoden, denen es mit Beginn des Kalten Kriegs nicht nur gelang, eine Mehrheit der Bevölkerung von der Dringlichkeit ihres Anliegens und dem konspirativen, un-amerikanischen wie kriminellen Charakter des Kommunismus zu überzeugen, sondern vor allem auch die Regierungen im Bund und in den Einzel staaten zum Handeln zu bringen.
23 Nützliche Biografien sind D. M. Oshinsky, A Conspiracy So Immense: The World of Joe McCarthy. New York 1983, sowie T. C. Reeves, The Life and Times of Joe McCarthy: A Bio graphy. New York 1982. 24 Vgl. Whitfield, (Anm. I), sowie L. May, Screening Out the Past: The Birth of Mass Culture and the Motion Picture Industry. New York 1980.
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Auf seinem Höhepunkt nutzte die antikommunistische Bewegung alle Ressour cen der Staatsgewalt, um nicht-konforme politische Meinungen als unloyal zu cha rakterisieren, sie zu verurteilen und so das Spektrum akzeptierter politischer Partizi pation drastisch einzuengen. Ausdruck dieser Repression waren nicht allein die be kannten ParlamentsausschUsse, die Prozesse gegen vermeintliche und tatsächliche Atomspione oder die Praxis der Schwarzen Listen in der Filmbranche. Darüber hin aus entwickelte sich ein enges Geflecht von Kontrollausschüssen, sogenannten Loyality Boards, die in allen Bereichen der öffentlichen Verwaltung, auf Bundes-, Staats- und lokaler Ebene sowie in der Privatwirtschaft die politische Gesinnung ihrer Bediensteten auf eventuelle Sicherheitsrisiken und Loyalitätsdefizite hin prüfte. Im Zuge dieser Verfahren verloren Tausende Menschen ihren Arbeitsplatz, nicht wenige wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt. 25 Soweit kurz die vertraute Geschichte des McCarthyism. Mir scheint aber, dass ih re historiographische Behandlung als "antikommunistische Bewegung", als "repres sive Welle", eine gewisse Entfaltungsrichtung der Macht, nämlich top down, sugge riert, welche allenfalls einen Teil ihres Wirkungspotenzials erklären kann. Der Blick auf das naming names j ener Jahre sowie auf die Rede von Loyalität und Wachsam keit vermag deutlich zu machen, dass die Repression nur eine, oberflächliche Dimen sion einer spezifischen Form des Regierens war. Sie setzte darüber hinaus aber vor allem auf die Installation von Techniken des Selbst-Regierens und war somit im wesentlichen eher fur die Binnenstruktur des Gemeinwesens von Bedeutung. Ich will das an zwei Facetten des McCarthyism andeuten, zwei recht bekannten und er forschten Komplexen, nämlich der Strategie der Personalisierung von Denunziation und Verrat sowie dem Ritual des öffentlichen Bekenntnisses. Der Selbstentwurf der US-Gesellschaft zeichnete sich damals - und nicht nur damals - stark durch einen Mythos der Gegenwelt aus, der vor allem durch das Denkmodell vom Kalten Krieg geprägt war.26 Diese Logik des Kriegs filhrte einer seits dazu, die Geflihrlichkeit und Entschlossenheit eines Gegners zu profilieren, dessen Vorstellungen von Vergesellschaftung den eigenen Konzeptionen diametral entgegenstanden. Andererseits half diese Fremdzuschreibung dabei, Loyalität zum von außen und innen bedrohten Selbst einzufordern und Repression zu rechtfertigen. Dies konnte auch deshalb gelingen, weil der gerade erst beendete Zweite Weltkrieg die Möglichkeit zu vielfliltigen inhaltlichen wie rhetorischen Anknüpfungspunkten
25 Eine ausftlhrliche Überblicksdarstellung jüngeren Datums bietet E. Schrecker, Many AIe the Crimes: McCarthyism in AInerica. Princeton, NJ 1998. 26 Siehe hierzu, wenn auch in einem anderen Zusammenhang, P. Becker, "Vigilanten als Informa tionsquelle im 19. Jahrhundert: Kriminalistischer Irrweg oder Königsweg im Kampf gegen ,or ganisiertes Verbrechen'?" In: Landwehr! Ross (Anm. 8), 1 17-140.
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bot. Es galt, mit Wachsamkeitsappellen - zusammengefasst unter dem Schlagwort vom alert citizenship auf die Bedrohung zu reagieren, mithin das Feld der legiti men Anzeige oder Benennung staatstragend auszuweiten. Seit den späten 1 940er Jahren durchdrang das Bild der kommunistischen Verschwörung die Nachrichten und die Populärkultur, Schulbücher ebenso wie Interviews und Reden von Politikern. Die Verwendung von Krankheits- und Seuchenmetaphern war - auch das wird nicht verwundern - prominent, wobei nun neben den poisonous germs der Kommunistln nen auch immer wieder deren vorgebliche "psychologische Defekte" thematisiert wurden.27 Die Logik des Kriegs bringt (wechselseitige) Spionage notwendig mit sich; jen seits ihres realen Umfangs diente sie der Gesellschaft als Denkmodell fUr den Nach weis sowohl der tatsächlichen Gefährlichkeit des Gegners als auch seiner Präsenz im Inneren des bedrohten Gemeinwesens. Wesentlich fUr die erfolgreiche Konstruktion gegnerischer Spionage sind zunächst deren aUen character sowie ihre Omnipräsenz. Für die USA der späten 1 940er und schließlich der 1950er Jahre lässt sich dies an einer Kette von Personalisierungen aufzeigen. An ihrem Anfang stand Gerhart Eisler, der in den 30er Jahren im Auftrag der Comintern in die USA gekommen war, nach dem Weltkrieg aber wohl keine offizielle Funktion mehr ausUbte. Zwischen 1 946 und 1949, als er das Land verlassen konnte, wurde er vielfach vorgeladen, verhört und verhaftet, sein Fall erlangte eine dauerhafte Präsenz in den Medien.28 Die Figur Eislers diente als perfekte Identifikation der Dominanz Moskaus über die KP der USA, er galt als Chefemissär des Kreml, als Kopf der Verschwörung. Als Ausländer fUgte er sich nahtlos in das etablierte, nativistische Bild vom Zusammenhang zwi schen Immigration und subversiver Tätigkeit. Wirkungsmächtig zur Seite stellte man ihm Alger Hiss, einen Mitarbeiter des US-Außenministeriums, den man nach 1 948 der Spionage fUr die Sowjetunion in den 1 930er Jahren bezichtigte,z9 Hiss stand fUr die Eindringtiefe kommunistischer Unterwanderung, denn, so ein Kommentator, ,,[he] wore no beard, spoke with no accent, moved casually in the best circles ... Hiss looked like the man down the block ... , the man in the office across the hall on Wall Street or State Street. If this man could be a spy, anybody could.,,30 Mit den Todes urteilen gegen Julius und Ethel Rosenberg schloss sich 1 95 1 die Kette der Personali sierungen: Die internationale Verschwörung hatte sich augenscheinlich des Kerns der -
27 Erstmals systematisch ausgearbeitet bei R. Hofstadter, The Paranoid Style in American PoJitics and Other Essays. New York 1965. 28 Schrecker, 1 22ff(Anm. 25). 29 Der Fall Alger Hiss wird in den meisten Beiträgen zum McCarthyism thematisiert, eine Einzel darstellung bietet A. Weinstein, Perjury: The Hiss-Chambers Case. New York 1 978. 30 So der Historiker John P. Roche, zitiert in Whitfield, 28 (Anm. 1).
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amerikanischen MilitärUberiegenheit bemächtigen können, womit die Notwendigkeit dauernder Wachsamkeit nachdrücklich unterstrichen wurde. Doch diese Strategie der Personalisierung beschränkte sich keineswegs nur auf die denunziationsrelevante Konstruktion von jolk devi/s. Mindestens ebenso weitrei chend und einflussreich war die Konturierung einer positiven Figur vom Denunzian ten als patriotischem Helden. Niemandem gelang dies besser als Whittaker Cham bers, dem Mann, der Alger Hiss denunzierte. Sein Erfolgsbuch "Witness" - das 1 952 acht Wochen lang in der "Saturday Evening Post" vorabgedruckt wurde und schließ lich auf Platz Eins der Bestsellerliste avancierte - beschreibt seinen inneren Kampf um die Frage, ob er seinen Freund Hiss anzeigen solle oder nicht, in melodramati scher Weise als eine persönliche Tragödie: "On the road of the informer it is always night. I who have traveled it from end to end, and knows its windings, switchbacks and sheer drops - I cannot say at what point the ex-Communist must make his deci sion to take it ...".3 \ Denunziation, so sein Fazit, beschmutze den Täter mehr als das Opfer, sie war indes die unausweichliche Hölle, durch die jeder Ex-Kommunist wie er auf dem Weg zurück zum Selbstrespekt gehen musste. Diese Erkenntnis in die kathartische Funktion der patriotischen Denunziation findet sich immer wieder, sei es beim zweiten sehr populären jolk hero-Denunzianten Matt Cvetic, dessen Autobio graphie "I Was a Communist for the FBI,,32 in Hollywood verfilmt wurde, oder auch in der fiktiven Geschichte des John Jefferson, die es gleichfalls - in "My Son John" auf die Leinwand brachte, und den schlussendlich sogar erst der Tod von seinem quälenden Leben als Denunziant erlöste.33 In diesen beiden letzten Fällen war es im übrigen einmal mehr die all-American jami/y, die das Umfeld der denunziatorischen Praktiken abgab, durch sie unterminiert und beinahe zerstört, schlussendlich aber auf einem höheren, stabileren Niveau wiederhergestellt wurde. Diese hier nur angedeutete Strategie der Personalisierung durchdrang weite Teile sowohl der öffentlichen Rede wie der Populärkultur dieser Jahre. Dass das Bild des Feindes der affektiven Aufladung wie der Mythisierung von Feindschaft dient, ist keine neue Erkenntnis, wie erst kürzlich Eva Horn anlässlieh der Anschläge vom 1 1 . September 200 1 richtig anmerkte, und die Beschäftigung mit Feindbildern ist auch in
3 1 W. Chambers, Witness. New York 1952, 456. 32 1 was a Communist for the FBI, 195 1 , Regie: Gordon Douglas. Siehe auch D. J. Leab, ,,Anti Communism, the FBI, and M. Cvetic: The Ups and Downs of a Professional lnformer", in: Pennsylvania Magazine ofHistory and Biography 1 1 5 (1991), 558-568. 33 My Son John, 1952, Regie: Leo McCarey. Sayre, 94-99 u. 145 (Anm. 2) verweist darüber hinaus auch auf die homophoben Elemente dieses Films, womit ein weiteres lohnenswertes, von mir bislang nicht untersuchtes Feld angezeigt wird.
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der Geschichtswissenschaft etabliert.34 Doch auch hierbei konzentrierte man sich bislang vor allem auf deren außenpolitische Dimensionen und den mit dieser Ebene einhergehenden Disziplinierungsvorhaben von Regierungen.3s Meine These ist, dass mit dieser Strategie nicht nur Typen von Gut und Böse, von Freund und Feind eta bliert wurden, an denen sich vorbildhaft Denunziationsenergien abarbeiten ließen, sondern durch diese besondere Imagologie auch sprachliche Muster verfestigt wur den, die den Blick auf sich und andere und die Rede über sich und andere nachhaltig prägten. Denunziationen reihen sich mithin in die vielfältigen panoptischen Verfah ren ein, indem sie das verborgene Gesicht des anderen und seine Untaten produktiv sichtbar machen. Vor dem Hospital und dem Gefängnis, diesen Orten des absoluten Blicks, liegen die vielfältigen Erscheinungsformen der Denunziation und tragen das panoptische Verfahren bereits in die alltäglichen Praktiken der Menschen hinein; auch sie sondern aus und parzellieren, sie dienen indes aber auch der Erfindung von Subjektivität. Dieser Aspekt tritt im Zusammenhang mit den öffentlichen Verfahren vor den Loyality Boards oder anderen Kontrollausschüssen besonders aummig zu Tage. Derlei Verfahren können als System ritualisierter Rede konzeptionalisiert werden, also als wiederholte, stilisierte, formalisierte, rollenhafte Kommunikation mit einer standardisierten und schematischen Sprache.36 In allen diesen Kontrollsitzungen fungiert die Denunziation - entweder der eigenen Person oder eines anderen Men schen - letztlich als Unterwerfungsritual. Denunziation als Mittel zur Informations gewinnung war oftmals nicht einmal mehr zweitrangig, sie war vielmehr ein "test of character", wie bereits Navasky festhielt.31 Das selbstdenunziatorische Geständnis ist das Ideal eines performatives Akts38 : Es tut, was es sagt, und trägt so notwendig zum 34 E. Horn, "Bilder des Feindes: Nur was nicht erkennbar ist, braucht einen enormen Aufwand an Bildgebung", in: Frankfurter Rundschau, 1 6. November 200 1 ; R. Fiebig-von Hasel
U. Lehmkuhl
(Hg.), Enemy Images in American History. Providence, RII Oxford 1 997. So etwa zusammenfassend in U. Beck, "The Sociological Anatomy of Enemy Images: The " Military and Democracy After the End ofthe Cold War , in: Fiebig-von Hasel Lehmhuhl (Anm.
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34), 65-87. 36 Vgl. R. Jessen, ,,Diktatorische Herrschaft als kommunikative Praxis: Überlegungen zum Zu sammenhang von ,BUrokratie' und Sprachnormierung in der DDR-Geschichte", in: A. LOdtkei P. Becker (Hg.), Akten. Eingaben. Schaufenster. Die DDR und ihre Texte. Erkundungen zu Herrschaft und Alltag. Berlin 1 997, 57-75. 37 Navasky, ix (Anm. 5). 38 Das gilt in einem anderen Sinne auch ftlr die eigentliche Denunziation: "Mit Worten töten", so heisst der Aufsatz GUnter Jerouschecks ftlr den Tagungsband des Bremer Projekts und in seiner Zuspitzung meint er genau das - sich selbst in den Subjektstatus zu erheben, indem der Andere verschwindet; vgl. G. Jerouschek, "Mit Worten Töten - Historische und psychologische Überle
gungen zur Denunziation", in: Marszolekl Stieglitz, 44-54 (Anm.6).
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inneren Funktionieren der Institution sowie zur Perpetuierung spezifischer gesell schaftlicher B lick- und Redeweisen bei. Doch: "Ein Luder zu sein, heißt rur das Subjekt noch lange nicht, sich auch damit zu identifizieren.'.39 Wie die Denunziationsforschung und andere Untersuchungen zu unterschiedlichen Formen der Justizaneignung immer wieder gezeigt haben, entsteht durch das Angebot zur Denunziation zwar ein Möglichkeitsfeld, in wie weit es indes . im gewünschten Sinne angenommen oder aber verformt wird, wird auch durch weite re Aspekte beeinflusst. Gerade Rituale bieten durch ihre Inhaltsleere nicht selten "Manövrierchancen", die dem Einzelnen Auswege aus der Spirale der Simultaneität von Loyalität und Verrat eröffneten.40 Dieses Manövrieren kann ganz unterschiedli che Formen annehmen, von der das Schweigen zugleich die interessanteste wie die am schwierigsten zu bewertende ist. Hier scheinen auch andere Formen von , Wider ständigkeit' durch, Abschweifungen etwa oder die Denunziation von Menschen, die ohnehin bereits in das Räderwerk der Sanktionen geraten waren. Doch auch diese Aussagen, welche der angebotenen Handlungsoption ganz oder teilweise auswei chen, bleiben Bestandteil des umfassenden Dispositivs und tragen es somit notwen dig performativ weiter; auch die dissidente Stimme bleibt auf ihre Umwelt verwie sen. Aufgrund der geschilderten Umstände und Sprechweisen wäre es darüber hinaus naheliegend, die zahlreich vorhandenen Protokolle solcher Ausschusssitzungen auf den unterschiedlichen behördlichen und privatwirtschaftlichen Ebenen einmal analog zu Foucaults Gedanken über die Beichte zu lesen - dem christlichen "Geständnisritu al, wo derj enige, der spricht, gleichzeitig derjenige ist, von dem man spricht.,,41 Geht man mit Foucault davon aus, dass die "einzige, augenblickliche und spurlose Stimme des BeichtgeStändnisses,,42 von den vielerlei Stimmen der Denunziation abgelöst wurde, so wird diese Verschiebung in den Verfahren der Nachkriegsjahre mögli cherweise neu bestimmt. Eine solche Überlegung wäre um so interessanter wenn man berücksichtigt, wie sehr die USA generell Patriotismus in quasi-sakrale Kleider hüllt, eine Entwicklung, die sich in den Jahren während und nach dem Zweiten Welt krieg übrigens erheblich beschleunigte und ihren Ausdruck auch in anderen Zeremo nien und Ritualen fand.43
39 M. de Certeau, .,Die Ernennung des Verderbten: ,Luder''', in: Ders. (Anm. 20), 142-161, 153. 40 "Manövrierchancen" bei A. LUdtke, "Sprache und Herrschaft in der DDR: Einleitende Überlegungen", in: Ders.l Becker (Hg.) (Anm. 36), 1 1-16, 15. 41 LdiM, 28. 42 Ebd., 29. 43 TdS, v.a. 5 1 ff. Zu Patriotismus und Sakralem siehe C. E. O'Leary, To Die For: The Paradox of American Patriotisrn. Princeton, NJ 1999, sowie R. M. Fried, The Russians Are Coming! The
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IV. Ich komme zu einem Fazit. Regieren im Sinne Foucaults, so Ulrich Bröckling, Su sanne Krasmann und Thomas Lemke in dem von ihnen herausgebenen Sammelband "Gouvernementalität der Gegenwart", setzt nicht in erster Linie auf Unterdrückung von Subjektivität, sondern vor allem auf "die Erfindung und Förderung von Selbst technologien, die an Regierungsziele gekoppelt werden können".« Mein Projekt das, ich weise noch einmal darauf hin, noch verfolgt werden müsste - begreift de nunziatorische Rede und denunziatorisches Verhalten als eine solche Selbsttechnolo gie, die sich mittels eines Ensembles von Diskursen, Praktiken und Institutionen in die Subjekte einschreibt und ihren "freien Handlungen" eine gewünschte Richtung zu geben versucht - nicht immer erfolgreich, aber unter bestimmten, noch zu ermitteln den Bedingungen mit größerer Wahrscheinlichkeit als bei anderen.4s Denunziation verliert dabei freilich ihre eindeutig repressive Zuschreibung, indem sie durch ihre Verwobenheit in einem Netz von intertextuellen Verweisen ubiquitär wird; aus top down wird so eine notwendig zirkuläre Perspektive, die klassische Opferffäter Dichotomien obsolet erscheinen lässt und exakte Antworten auf die Frage nach der Autorenschaft von Aussagen und Praktiken unmöglich macht - was aber andererseits unter moralischen und juristischen Fragestellungen höchst problematisch wird. Ge nau diese Problematik behandelt Judith Butler in ihrem Essay über die hate speech. Es "stellt sich die Frage, was genau rechtlich verfolgt wird, wenn man das verletzen de Wort vor Gericht stellt, und ob es sich letztendlich und vollständig verfolgen läßt.,,46 Denunziationen - in dem weiten Sinne, den ich hier einfUhren möchte - erschei nen so wie ein zentraler Bestandteil Foucaultschen Denkens, denn in ihnen vereinen sich seine Überlegungen zur Macht, zum Wissen wie zum Subjekt. Sie sind sprachliRussians Are Coming! Pageantry and Patriotism in Cold-War Arnerica. Oxfordl New York 1998. 44 U. Bröcklingl S. Krasmannl T. Lemke, Gouvernementalität der Gegenwart: Studien zur Okono misierung des Sozialen. FrankfurtlM. 2000, 29. Hilfreich beim Einstieg in die vergleichsweise neue Debatte um Gouvernementalität ist N. Rosel P. Miller, "Political Power Beyond the State: Problematics of Government", in: British Journal of Sociology 43, 2 (1992), 1 73-205. Eine gute Anwendung auf die USA, wenn auch v.a. aus Sicht eines Geographen, bietet M. G. Hannah, Go vernmentality and the Mastery of Territory in Nineteenth-Century Arnerica. Cambridgel New York 2000. 45 Zu fragen wäre also auch nach den Bedingungen zur Akzeptanz von Autorität, bzw. danach, wieviel Akzeptanz eine Autorität braucht, um Techniken des Selbst möglichst erfolgreich einzu setzen. 46 Butler, 76 (Anm. 22).
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cher Bezug auf ein Feld der Sichtbarkeit und Sichtbarmachung, mithin des Wissens, welches den Machtbegriff wesentlich stützt. Ihre Wirkung kann diese Macht aber nur in einem weiten Feld anderer Aussagen und Praktiken entfalten, auf das sie sich immer wieder neu beziehen und das sie immer wieder neu herstellen muss. Schließ lich erscheinen Denunziationen auch als Selbsttechnologie: Subjektivierung erfolgt hier nicht allein durch Unterwerfung, sondern aus einem Ensemble von eigener Er mächtigung und Herabsetzung des Anderen. Die Eröffnung und Befiirderung der Handlungsoption "Denunziation" bleibt freilich an Regierungsziele gekoppelt; dies wird um so eher gelingen, je akzeptierter eine Autorität auftritt. Was ist aus einer solchen Herangehensweise zu gewinnen? Ich möchte vier Aspekte nennen, die mir wichtig erscheinen: Zum ersten ermöglicht die vorgeschlagene Perspektive einen Vergleich von De nunziationsformen bzw. von Verfahren und Strategien der Loyalitätsdurchsetzung, der den herkömmlichen Rahmen der Denunziationsforschung aufbricht. Erkenntnis gewinne im Detail sind sicherlich noch zu erwarten, doch die historiographische Behandlung von Denunziationsphänomenen im 20. Jahrhundert ist durch ihre über triebene Zuspitzung auf diktatorische und autoritäre politische Systeme inzwischen beinahe ausgereizt. Unter kulturhistorischer Perspektive und durch eine explizite Einbeziehung liberaler politischer Systeme ist die komparatistische Geschichts schreibung in der Lage, dieses Forschungsfeld weiter innovativ voranzutreiben. 41 Zweitens dient eine solche Herangehensweise der in meinen Augen notwendigen Dezentrierung und Ausweitung des Untersuchungsgegenstands, ohne ihn dysfunktio nal zu machen. Die Rollen des Staats und seiner Repräsentanten werden relativiert, ohne dass sie in ihrer Bedeutung ausgehöhlt werden; im Gegenteil, sie gewinnen unter Zuhilfenahme von Foucaults Gedanken zur Gouvernementalität wieder eher an Bedeutung. Opfer und Täter erscheinen weniger als unvereinbare Pole auf einer moralischen Skala menschlichen Handeins, sondern werden in ihrer unabdingbaren, gerade auch sprachlichen Aufeinanderbezogenheit untersucht; beiden stehen Varian ten von Aussage- und Praxisformen zur VerfUgung, welche sich aber allesamt in einem strukturiertem Feld von Möglichkeiten gegenseitig stutzen und bedingen. Drittens lässt sich Regieren auf diese Weise als Prozess konturieren, der einer strategischen Ökonomie der Macht folgt, was mir gerade im Zusammenhang mit dem McCarthyism nicht unwesentlich erscheint. Seine Kennzeichnung als "Hysterie" oder "Paranoia" verschleiert mehr, als sie zu erklären vermag, vielmehr mUsste man sol che, ja auch schon zeitgenössisch vorgenommenen Markierungen selbst als Be-
47 Ausilihrlicher hierzu siehe O. Stieglitz, "Sprachen der Wachsamkeit: Loyalitätskontrolle und Denunziation in der DDR und in den USA bis Mitte der 1950er Jahre", in: Marszolekl Stieglitz (Anm. 6), 1 19-135.
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standteile des Dispositivs analysieren. Dies gilt meiner Ansicht nach übrigens auch rur den Topos der "Atmosphäre der Angst". Solche Zuschreibungen verweisen als Negativfolien auf eine subtile Regulierung und Rekonstituierung von gesellschaftli cher Ordnung, die auf scheinbar staatsfeme Art und Weise vollzogen werden soll.48 Viertens schließlich wird so eine kulturhistorische Behandlung solcher Phänome ne endlich in den ihr gebührenden Rang überftlhrt. Kulturgeschichten des Kalten Kriegs wird zumeist eine untergeordnete, wenig aussagekräftige, lediglich ergänzen de, manchmal gar rein anekdotenhafte Rolle zugewiesen, was einige AutorInnen auch dankbar anzunehmen scheinen. Meine Hoffnung wäre, dass eine theorieange leitete Kulturgeschichte dieses Manko beheben kann; eine Kulturgeschichte freilich in einem eminent politischen und viel fundamentaleren Verständnis, als dies allge mein gesehen wird, ,,nämlich auf der Ebene des wissenschaftlichen Selbstverständ nisses", wie es Ute Daniel kürzlich formuliert hat.49
48 Vgl. hierzu M. A. Henriksen, Dr. Strangelove's America: Society and Culture in the Atomic Age. Berkeley, CA u.a. 1 997, xxif. 49 U. Daniel, Kompendium Kulturgeschichte: Theorien, Praxis, SchlUsseiwörter. FrankfurtlM. 2001, 9.
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Gouvemementalität, der Moynihan-Report und die Welfare Queen im Cadillac Norbert Finzsch
I. Prolog In der Forschung zur Rolle Michel Foucaults in der Geschichtswissenschaft ist ver schiedentlich betont worden, Foucaults Ansätze seien vor allem von Historikerinnen angewandt worden, die zur Frühen Neuzeit oder allenfalls zum 1 9. Jahrhundert forschten. Foucaultsche Begriffe und Paradigmen seien hingegen in der Geschichts schreibung des 20. Jahrhunderts weniger häufig anzutreffen. Diese Beobachtung, deren empirische Fundierung ich hier nicht UberprUfen will, hat eine gewisse Plausi bilität, denn Foucault hat sich ja mit Bedacht der Sattelzeiten angenommen, die quer zur Uberkommenen Chronologie europäischer Geschichte lagen, hat sich mit der Entwicklung der Modeme und ihren Diskursen beschäftigt, deren Teil er selbst nicht mehr war, um so darüber schreiben zu können, so dass das 20. Jahrhundert mehr wegen Foucaults methodischer Vorsicht denn wegen Desinteresses aus seinen Unter suchungen herausgefallen ist. I Es gibt allerdings ein Konzept, das sich wie kein zweites einer Anwendung im 20. Jahrhundert andient, das Konzept der Gouverne mentalität.2
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Die Sammlung seiner nachgelassenen Schriften "Dits et Ecrits" (DeE) belegt neben anderen Dingen, wie sehr Foucault Anteil hatte an den politischen Diskussionen seiner eigenen Zeit. Bezeichnenderweise nehmen sich eher Nachbarwissenschaften der Geschichtswissenschaft wie die Soziologie und die Politikwissenschaft dieses Konzepts an: U. Bröcklingl S. Krasmann! T. Lemke (Hg.), Gouvernementalitat der Gegenwart: Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. FrankfurtlM. 2000. M. Dean, Govemmentality: Power and Rule in Modern Society. London! Thousand Oaks, CA 1999. G. Burchell u.a., The Foucault Effect: Studies in Govemmentality. Chicago 1 99 1 . M. G. Hannah, Governmentality and the Mastery of Territory in Nineteenth Century America. CambridgeJ New York 2000. T. Lemke, Eine Kritik der politischen Vernunft: Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalitat. Berlin 1997. E. Mbengalack, La gouver nementalite du sport en Afrique: Le sport et le politique au Cameroun. Lausanne [1995]. R. C. Smandych, Governable Places: Readings on Governmentality and Crime Contro!. Brookfield, VT 1 999. M. Tennberg, The Arctic Council: A Study in Governmentality. Rovaniemi 1998. Dies., Arctic Environmental Cooperation: A Study in Govemmentality. Aldershot, VT 2000.
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Im vorliegenden Beitrag möchte ich versuchen, das Konzept der "Gouvernemen talität" am Beispiel der US-amerikanischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts anzu wenden. Es soll gezeigt werden, wie Fremdlenkung und Selbstregierung im Hinblick auf die Gruppe der African Americans eine Verbindung eingegangen sind. Die Au ßensteuerung der African Americans vermittels der Selbstlenkung ist sowohl im gesellschaftswissenschaftlichen Diskurs wie auch in der politischen Praxis des 20. Jahrhunderts aus unterschiedlichen Motiven angegangen worden. Von den theoretischen Anfangen der "Chicago School of Sociology" zur Praxis der dreißiger Jahre (erste Krise des Fordismus) bis zu den neunziger Jahren hat die Gouvernementalität vor allem auch die rassistisch ausgegrenzten "Unterschichten" zu erreichen versucht. Mit der Einfilhrung neoliberaler Modelle in Politik und Wirt schaft seit der Epoche Reagan verschränken sich die Diskurse um Familie, Maskuli nität und Feminisierung zunehmend, werden aber durch die "harte" juridische Aus schließung der Unerwünschten ergänzt. Der Diskurs um den angeblichen Verfall der afroamerikanischen Familie nach dem Ende der Sklaverei hatte einerseits die Funkti on der Etablierung eines schwarzen Patriarchats durch Mediatisierung der angeblich "starken" Position der schwarzen Frauen und diente auf der anderen Seite der sozia len Kontrolle der seit den filnfziger Jahren des 20. Jahrhunderts aufbegehrenden schwarzen Mittel- und Unterschichten. Dass in diesem Diskurs die Stimmen schwar zer männlicher Intellektueller sehr deutlich im Vordergrund stehen, verleiht diesem Diskurs eben j enes Element von "Selbstregierung", das fur den Begriff der Gouver nementalität in meinen Augen zentral ist.
11. Was besagt der Tenninus Gouvemementalität? Susanne Krasmann und andere haben in der Erläuterung des Begriffes immer wieder auf die Opposition zu Foucaults juridischem Modell hingewiesen, wie er es in "Überwachen und Strafen" präsentiert hatte.3 Der Souveränitätsgesellschaft des An den Regime stellte Foucault die Disziplinargesellschaft gegenUber, in der Macht nicht von oben nach unten verläuft,4 sondern in der ein dynamisch-relationales Machtkonzept vorherrscht. Das Kontrolldispositiv des Souveräns war aufs Engste verbunden mit seinem "Recht", leben und sterben zu lassen. Dieses Recht wurde mit
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S. Krasmann, "Regieren Ober Freiheit: Zur Analyse der Kontrollgesellschaft in foucaultscher Perspektive", in: Kriminologisches Journal 3 1 , 2 (1 999), 1 07-121, 1 07. "Verlaufen" kennzeichnet hier intentional im dreifachen Sinne die prozesshafte Richtung der Ausübung, das Vom-Wege-Abkommen und die Diffusion der Macht.
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der Ablösung des Souveränitätsdispositivs durch die Bio-Macht und Biopolitik er gänzt.s In der Neuzeit reichte das Recht des Souveräns über Leben und Tod nicht mehr aus, es wurde ergänzt und verdrängt durch Techniken, Einzelne, Gruppen oder die Gesellschaft zu lenken, indem das Verhalten gelenkt wird. Gouvemementalität ist also nicht nur oder nicht in erster Linie als Politik des Staates gegenüber seinen Bür gern zu verstehen, sondern vor allem als Selbstregulation und Selbstregierung einer Gruppe ("the conduct of conduct"). Diese Selbstregulierung ist Teil von Mikrotech niken der Macht insofern, als hier vor allem Alltagspraxen innerhalb der Orte nicht staatlicher Diskurse wie Kirchen, Schulen, Krankenhäuser, Familien und der Aka demie behandelt werden. Diese Orte (die immer auch Institutionen sind) verändern die Wahrnehmung der Alltagspraxis und der sozialen Interaktion effektiv und wirken weicher, dafür aber um so nachhaltiger als staatliche Herrschaft.6 Regierungen, aber auch Institutionen und Subjekte verstehen diese Form der Regierung zunehmend 7 besser und machen sie sich zunutze. Die Nachhaltigkeit und die Weichheit so ver standener Herrschaft wirken auf das Verhalten Anderer ,,[ . ] in desired directions by acting upon their will, their circumstances or their environment".8 Individuelles Ver halten ist subj ektivierendes Verhalten, das gleichzeitig von anderen innerhalb dieser .
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"Or, pendant la seconde moitie du XVII' siecle, je crois qu'on voit appara'itre quelque chose de nouveau, qui est une autre technologie de pouvoir, non disciplinaire cette fois. Une technologie de pouvoir qui n'exclut pas la premiere, qui n'exclut pas la technique disciplinaire, mais qui I'emboite, qui I'integre, qui la modifie partiellement [ ... ] Cette nouvelle technique ne supprime pas la technique disciplinaire tout simple parce qu'elle est d'un autre niveau, elle est a une autre echelle, elle a une autre surface portante, et elle s'aide de tout autres instruments." IFDS, 215f. A. Crawford, The Local Governance of Crime: Appeals to Community and Partnerships. Oxford 1997. Foucault filhrte den Begriff erstrnalig 1979 in seinen Vorlesungen am College de France ein. Der Begriff stellt den Versuch dar, die Kritik, seine "Mikrophysik der Macht" ignoriere den globalen Charakter von Politik auf den Feldern des Staates und der Gesellschaft, zu entkräften. C. Gordon, "Governmental Rationality: An Introduction", in: Burchell u.a. (Hg.) (Anm. 2), 4. N. Rosel P. Miller, "Political Power Beyond the State: Problematics of Government", in: British Journal of Sociology 43 (1992), 1 73-205, 1 74. Nikolas Rose muss mit Peter Miller zu den er folgreichsten ,,Anwendern" des Governmentality-Ansatzes im englischen Sprachraum gerechnet werden. Vgl. A. Barry U.a. (Hg.), Foucault and Political Reason: Liberalism, Neo-Liberalism, and Rationalities of Government. Chicago 1996. P. Miller/ N. Rose (Hg.), Tbe Power of Psych iatry. Cambridgel New York 1986. N. Rose, Governing the Soul: The Shaping of the Private Self. London! New York, 1990. Ders., Inventing Our Selves: Psychology, Power, and Person hood. Cambridgel New York 1 996. Ders., Powers of Freedom: Reframing Political Thought. Cambridgel New York 1999. Ders., The Psychological Complex: Psychology, Politics, and So ciety in England, 1869-1939. London! Boston 1985. Rosel Miller, "Political Power", 1 75 (Anm. 7).
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Institutionen und Orte präfiguriert worden ist.9 Die erwähnten Mikrotechniken der Gouvernementalität beinhalten Texte, Dokumente, Denkschriften und Verlautbarun gen aller Art, die verschiedenste Sozialbeziehungen organisieren, koordinieren und überwachen. Der Begriff der Technik wird hier benutzt, ,,[to] suggest a particular approach to the analysis of the activity of ruling". 10 Dieser neue Zugang zum Pro blem des Regierens liegt vor allem im Bereich der "Repräsentationen", weniger im Bereich des "Realen", weshalb die Logik der Gouvernementalität eher die der Insze nierung und des "Enactment" und weniger die Logik des unmittelbaren Zwangs, der nur in Ausnahmefällen und da, wo das In-Szene-Setzen versagt hat, zur Anwendung kommt. Der Staat möchte die Diskursteilnehmer vor allem domestizieren, denn ge waltsame Lösungen (Herrschaft) fUhren zu Blockaden (die letztlich ökonomisch verlustreich sind), während die Wahrnehmung des (durch Diskurse modulierten und rationalisierten) Selbstinteresses in Übereinstimmung mit der gesellschaftlich "not wendigen" kanonischen Position gesellschaftliche Konflikte begrenzt und ein hartes Durchgreifen lediglich an den Rändern der Gesellschaft erforderlich macht. 1 1 (Frei willige) Subjektivierung und staatliche Kontrolle stehen somit nicht notwendig im Widerspruch. Durch Auto-Realisierung des "Bürgers" (Citoyen) im Sinne der "PflichterfUllung" wird soziale Kohäsion erst ermöglicht. 12 Der Staat bleibt hierbei weitgehend passiv und strukturiert das Aktionsfeld - im vorliegenden Falle mittels der Sozialwissenschaften. 13
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Hierin liegt möglicherweise ein Ansatzpunkt rur die Erklärung rur das langsame Absterben des Nationalstaates im Zusammenhang mit der "Globalisierung der MlIrkte und der Politik". Zentral hierzu A. Negril M. Hardt, Empire. New York 2000. P. Miller/ N. Rose, "Goveming Economic Life", in: Economy and Society 1 9,3 (1990), 1 -3 1, 8. P. Laurentl G. Paquet, Epistemologie et economie de la relation: Coordination et gouvemance distribuee. Paris! Lyon 1 998. I. Hacking, Representing and Intervening: Introductory Topics in the Philosophy of Natural Science. Cambridgel New York 1983. H. Laroche, "L'entreprise clo " se: une approche cognitive , in: P. Sesson (Hg.), Dedans, dehors: Les nouvelles frontieres de I'organisation. Paris 1997, 1 7 1-190. Millerl Rose, "Goveming" (Anm. 10). G. Procacci, "Notes on the Govemment ofthe Sodai", in: History ofthe Present 3 ( 1987), 12-15. " G. Paquet, "Evolutionary Cognitive Economics , in: Information Economics and Policy 10 " (1998), 343-357. G. Paquet, "La resilience dans I'economie , in: L'Agora, 7, 1 (1999), 14-17. " Ders., "Gouvemance distribuee, socialite et engagement civique , in: Gouvemance I , I (2000), 52-66. G. Paquet, E-gouvemance, gouvernementalitt et Etat commutateur, PDF-Text, http://www.unb.calGGElResearchlOceanGov/documents/e-gouvemance.pdf. I I .2.2002. 6f.
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III. Der Diskurs um schwarze Männlichkeit, Familie, Aufstieg und Devianz Lange Zeit ist von der historischen Forschung die Ansicht vertreten worden, dass es so etwas wie eine afroamerikanische Familie unter den Bedingungen der Sklaverei gar nicht gegeben habe, da diese schon im Ansatz zerstört worden sei. Einer der ausgewiesenen Spezialisten auf diesem Gebiet, der Historiker Stanley Elkins, hatte vier Gründe fIlr die Instabilität der Sklavenfamilie genannt: erstens die sexuelle Aus beutung der afroamerikanischen Frauen durch weiße Besitzer und Aufseher, zweitens die Trennung von schwarzen Männem und Frauen durch Weiterverkauf eines der Partner, drittens die Geburt von Mulattenkindern nach Beziehung zu einem weißen Mann und viertens und letztens die rechtliche Minderstellung der Ehe zwischen African Americans im Vergleich zur Ehe von Weißen. 14 In der Folge haben Soziologen und Historiker aus der Fragilität der afroamerika nischen Familie eine besondere, nämlich eine dominante Rolle der schwarzen Frau als Beschützerin und Emährerin konstruiert, die unter anderem heute noch mit als Erklärung dafllr dient, warum es so viele alleinerziehende schwarze Frauen in den USA gibt. 1s E. Franklin Frazier schrieb 1 939, ,,[ ...] the Negro woman as wife or mother was the mistress of her cabin, and, save for the interference of master and overseer, her wishes in regard to mating and family matters were paramount.,, 16 Die Sklaverei habe die afroamerikanische Frau die Bedeutung von Selbständigkeit und Eigeninitiative gelehrt und ihr frUhzeitig die Möglichkeit eröffnet, männliche Akti vität in Frage zu stellen. Der afroamerikanische Mann hingegen sei durch die Sklave rei in seiner Männlichkeit bedroht gewesen, da er die eigene Frau vor dem sexuellen Zugriff der Weißen nicht habe schUtzen können und noch nicht einmal seine biologi sche Vaterschaft habe geltend machen können. In den Untersuchungen des Soziolo gen Daniel Patrick Moynihan aus den sechziger Jahren, die im Laufe dieses Artikels noch eingehender besprochen werden, wurde deshalb die Schlussfolgerung gezogen,
1 4 S. M. Elkins, Slavery: A Problem in American Institutional and Iniellectual Life. Chicago 1959, 53f. Elkins Text ist nach 1959 und bis 1976 noch durch vier weiiere Auflagen gegangen und war also sehr wirkungsmächtig. Ähnlich äußerien sich R. C. Wade, Slavery in the Cities: The South, 1820-1 860. New York 1964, 1 17-121 und L. Rainwa\erl W. L. Yancey, The Moynihan Report and the Politics of Controversy, Cambridge 1%7, 61f., 414f. 15 E. F. Frazier, The Negro Family in the Uniied States. Chicago 1939, 125. 16 Die Trope der Afroamerikanerin als "mistress of her cabin" war außerordentlich langlebig. Noch 1 976 tauchte diese Redefigur ohne Zitat des "Ursprungstextes" in einer soziologischen Untersu chung auf. R. H. Rubin, Matricentric Family Structure and the Attitudes ofNegro Chrildren. San Francisco 1976, 5.
26 1
dass die Probleme der zeitgenössischen schwarzen Familie in Amerika auf diese Lebensbedingungen unter der Sklaverei zurUckzufllhren seien und dass sie zu einer Umkehrung der Rollendefinition von Männern und Frauen gefllhrt hätten.\1 Inzwi schen ist die These vom schwarzen Matriarchat unter der Sklaverei von Historikerln nen zu den Akten gelegt. IB Soweit die historische Ausgangslage bei der Abschaffung der Sklaverei.
17
D. P. Moynihan, The Negro Family: The Case for National Action. Washington oe 1965, 3 1 .
1 8 Neuere Forschungen entwerfen ein etwas anderes Bild von der afroamerikanischen Familie und von der Rolle der Frau innerhalb dieser Verbindung. Historiker wie Herbert Gutrnan, Robert Ab zug und lohn Blassingame betonten die dominante Rolle der männlichen Sklaven und unterstri chen die Schutzfunktion, die die Sklavenfamilie mit einem männlichen Vorstand tur alle Famili enangehörigen, vor allem auch tur Frauen und Kinder, ausgeübt habe. Die These von der beson deren Zerbrechlichkeit der Sklavenfamilie wird weiterhin dadurch fragwürdig, dass das Konzept der Familie sich stark unterscheiden konnte, je nachdem, wer es definierte. Aus historischen Untersuchungen über Plantagen in den 1 780er Jahren wissen wir, dass afroamerikanische Skla ven als "Familie" das begriffen, was Soziologen heute die "erweiterte Familie" nennen. Aus der Namensgebung der Sklaven tur ihre Kinder lässt sich eindeutig ablesen, dass zur Familie auch die erwachsenen Schwestern und Bruder mit ihren Kindern gerechnet wurden, während die Sklavenbesitzer von der Konstruktion einer Einheit ausgingen, die im wesentlichen einer moder nen Kernfamilie entsprach. C. A Cody, "Naming, Kinship, and Estate Dispersal: Notes on Slave Family Life on a South Carolina Plantation, 1786-1833", in: N. F. Cott (Hg.), History of Wornen in the United States: Historical Articles on Women's Lives and Activities - 20 Bde. München! New York 1993, Bd. 2: Household Constitution and Family Relationships, 57-76. Anders als in der Fra zierthese angenommen, war zudem das Aktionsfeld weiblicher Sklaven nicht auf das Haus oder auf normale Feldarbeit beschränkt. Sklavinnen flIllten Bäume, zerlegten das Holz, pflügten oder dirigierten die Zugochsen vor einem Wagengespann. D. G. White, "Females Slaves: Sex Roles and Status in the Antebellum Plantation South", in: Cott (Hg.) (Anm. 1 8), Bd. 2, 1 5 0-163, 1 52f., 1 57f. Aus der Rollendifferenzierung vermitteis der Arbeit kann also die These von der weiblichen Dominanz in Sklavenfamilien nicht abgeleitet werden. Vielmehr muss man sich fragen, ob Do minanz nicht eine von außen hereingetragene Kategorie ist und ob die beteiligten Afroamerika neriMen ihre Rolle nicht entlang der Kategorie Kooperation zwischen und iMerhalb der Ge schlechter definiert hätten. In Gesellschaften, in denen die Frauen nicht isoliert voneinander in einem Haushalt lebten, sondern ein Gutteil der Tätigkeit gemeinsam mit anderen Frauen ver richteten, erfolgt die Rangzuweisung nicht in Bezug auf die Männer, sondern innerhalb der weiblichen Peers. Andere Faktoren trugen allerdings zu einer gewissen Unabhängigkeit von den männlichen Sklaven bei. Es gab in Sklavengemeinschaften kein Eigentum, das durch männliche Haushaltsvorstände hätte kontrolliert werden müssen, und die Grundbedürfuisse wie Nahrung, Kleidung und Wohnung wurden nicht durch den männlichen Hauptverdiener gedeckt. Damit fiel das Eigentum als Mittel der Kontrolle der schwarzen Frau weitgehend weg.
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IV. Die besondere Rolle des Moynihan Report von 1 965 bei der Konstruktion der dysfunktionalen schwarzen Familie Aufsätze, Bücher, Memoranda und Traktate, die sich mit der sozialen Situation der schwarzen Familie auseinandersetzten, waren 1965 keine Neuigkeit. Der afroameri kanische Abolitionist Frederick Douglass, der anfangs gemeinsam mit Frauen rur die Ausweitung des allgemeinen Wahlrechts fur Frauen und Afroamerikaner gekämpft hatte, verließ die gemeinsame Auffassung in diesem Punkt. Nach 1 868/1869 setzte er sich in Zusammenhang mit den Debatten über die Verfassungszusätze 14 und 1 5 und deren Ratifizierung rur das ausschließliche Wahlrecht afroamerikanischer Männer ein, weil er Benachteiligungen wegen Geschlechtszugehörigkeit rur zweitrangig gegenüber der rassistischen Diskriminierung hielt. 1 883 hatte der afroamerikanische Theologe und Reformer Alexander Crummell den Reigen derjenigen eröffuet, die öffentlich und wirkungsvoll über die Mängel afroamerikanischer Frauen nach der Sklavenbefreiung sinnierten. 19 Er kritisierte einerseits den eklatanten und gewalttäti gen Rassismus im Süden, wollte aber afroamerikanische Frauen gleichzeitig auf die viktorianische häusliche Sphäre begrenzen.2o Die weiße Reformerin Elizabeth C. K. Hobson besuchte wenig später den Süden und machte in ihrem Bericht ähnliche Vorschläge wie zuvor Crummell .21 Der international renommierte schwarze Histori ker und Soziologe W.E.B. Du Bois hatte sich schon 1908, also rund vierzig Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs, über die Besonderheiten der afroamerikanischen Familie ausgelassen. Er hatte den eklatantesten Unterschied zwischen weißen und schwarzen Familien nicht auf dem Gebiet der Einkommen und der Vermögensver teilung, der strukturellen und faktischen Diskriminierung oder in der Klassenjustiz gegen African Americans gesehen, sondern auf Gebiet der Sexualmoral, also einem 19 A. Crurnrnell, The B1ack Wornan of the South: Her Neglects and Her Needs. Washington, DC [ 1883?]. 20 ,,1 ask for the equiprnent and the mission of ,sisterhoods' to the black wornen ofthe South. 1 wish to see large nurnbers of practical Christian wornen, wornen of intelligence and piety; wornen weil trained in dornestic econorny; wornen who cornbine delicate sensibility and refinernent with in dustrial acquaintance - scores of such wornen to go South; 10 enter every Southern State; to visit ,Uncle Torn's Cabin;' to sit down with ,Aunt Chloe' and her daughters; to show and teach thern the ways and habits of thrift, econorny, neatness, and order; to gather thern into ,Mothers' Mee tings' and sewing schools; and by both lectures and ,talks' guide these wornen and their daughters into the rnodes and habits of clean and orderly housekeeping." Crurnrnell, 1 0 (Anrn.
1 9). 21 E. C. K. Hobson, A Report Conceming the Colored Wornen of the South. Baltirnore 1 896. Gegenläufige Äußerungen waren selten. Vgl. den Text der Präsidentin der "National Association of Colored Wornen", M. C. Terrell, The Progress of Colored Wornen. Washington, DC
1898.
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Areal, das mehr oder weniger vom individualistischen Verhalten, von der sexuellen Praxis abhing?2 Diese Argumentationslinie wurde in den nächsten Jahren und Jahrzehnten weit gehend beibehalten, wobei zu beobachten ist, dass afroamerikanische und weiße Autorinnen und Autoren gleichermaßen die schwarze Familie als dysfunktional, weil ebenso "unvollständig" wie "matrizentrisch" konstruierten?] Dieser Diskurs be grenzte und überlagerte andere Diskurse, wie den um den triebgesteuerten und ani malischen afroamerikanischen Mann als Vergewaltiger, eine Sicht schwarzer Män ner, die durchaus auch von "aufgeklärten" und "liberalen" Frauen wie der Reforme rin und Sozialwissenschaftlerin Jane Addams geteilt wurde.24 Auch der afroamerika nische Soziologe E. FrankIin Frazier hatte sich in den dreißiger und vierziger Jahren mit der Situation der afroamerikanischen Familie beschäftigt und war zu ähnlichen Schlußfolgerungen wie W.E.B. Du Bois gekommen. In seiner 1 939 erschienenen Studie "The Negro Family in the United States" hatte E. FrankIin Frazier die These vertreten, die Erfahrung der Sklaverei habe schwarze Männer daran gehindert, in ihren Familien eine fUhrende Rolle einzunehmen. Nach dem Bürgerkrieg und der offiziellen Abschaffung der Sklaverei hätten afroamerikanische Männer begonnen, ihre eigentliche Funktion wahrzunehmen, aber Armut und Diskriminierung hätten schwarze Kinder zum Leben in sogenannten "broken families", d.h. Familien mit
22 "Without doubt the point where the Negro American is furthest behind modem civilization is in his sexual mores. This does not mean that he is more criminal in this respect than his neighbors. Probably he is not. lt does mean that he is more primitive, less civilized, in this respect than his surroundings demand, and that thus his family Iife is less efficient for its onerous socia! duties, his womanhood less protected, his children more poorly trained." W. E. B. Du Bois, The Negro American Family. New York 1969 (Atlanta, GA 1 908), 37. Man beachte die Vergeschlechtung des Wortes negro an dieser Stelle, das durchgängig männlich konnotiert ist und dem eine wo manhood zur Seite gestellt ist. Der Hinweis auf die Kriminalität im Zusammenhang mit der Se xualmoral ist nur als versteckter Hinweis auf den Vorwurf häufiger Vergewaltigungen (weißer Frauen) durch afroamerikanische Männer zu verstehen. Du Bois argumentiert in diesem Punkt erstaunlich ambivalent, wahrscheinlich weil selbst renommierte SozialwissenschaftIerinnen wie Jane Addams, die immerhin Mitgrfinderin der NAACP war, den Mythos des schwarzen Verge waltigers propagierten. 23 S. L. Flowers, The Black Family: Their [sic] Character and Influence, Keamey, NE 191 1 . Noch 1 966 war in einer Anthologie von Texten zur Armut in den USA zu lesen: "The matriarchical structure of nonwhite family Iife is weIl known and its relation to poverty is obvious. There are proportionately more than twice as many broken families among nonwhites as among whites." H. P. Miller, "Poverty and the Negro", in: L. Fishman (Hg.), Poverty amid Affluence. New Ha yen, CTI London 1966, 99-123, 108. 24 B. Aptheker (Hg.), lda B. WeIls, Jane Addams, Lynching and Rape: An Exchange of Views. New York 1 977.
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einem weiblichen Haushaltsvorstand, verurteilt.2S Die einzige Hoffnung bestand nach Frazier darin, das "House of the Father" wieder entstehen zu lassen, in dem afroame rikanische Männer wieder "wirkliche Männer" sein konnten. Um diesen Diskurs herum hatte sich ein weiteres Feld etabliert, das die Armut weiter Teile der afroamerikanischen Bevölkerung weniger durch Faktoren wie Ras sismus und den systematischen Ausschluss von Bildungsmöglichkeiten und vom Arbeitsmarkt erklärte, sondern die Gründe fUr die schwarze Armut in erster Linie bei den Betroffenen selber suchte. Die "schwarze Kultur" sei eine "Kultur der Armut", wurde von Sozialwissenschaftlern argumentiert, eine Kultur devianter Unterklassen, die sich nicht in den amerikanischen Mainstream einfUgen wolle. Teil dieser Kultur seien sexuelle Promiskuität, außereheliche Geburten, hohe Kriminalität, Gewalt, Alkoholmissbrauch und Arbeitslosigkeit und Verlust der väterlichen Autorität.26 Charles Henry hat diese zuweisende Konstruktion des "real ,Nigga'" trefflich kari kiert, indem er ihr die (weiße) "culture of wealth" gegenübergestellt hat, fUr die ,,[a] rejection or denial of physical attributes" charakteristisch sei, die zu "hazardous sessions in tanning parlors" fUhre sowie zu häufigen Ausflügen in Fitnessstudios; Entwurzelung, antisoziales Verhalten und die Unfähigkeit, praktische Entscheidun gen zu treffen, seien kennzeichnend fUr die Mitglieder einer Kultur des Reichtums. Oft besäßen sie deswegen mehrere Häuser, besuchten gesellschaftliche Klubs oder erwürben überflüssige und/oder nutzlose Gebrauchsgegenstände. "Finally the culture of the rich is engulfed in a web of crime, sexism, and poor health. Drug use and
25 "Since it is generally the father who is absent from the broken Negro family, the boys especially sulfer because there is no adult to provide the model or image of the values which should shape their personalities. Perhaps some psychiatrist will undertake to determine the elfect upon person ality ofNegro boys and youth of female dominance in so many families." E. F. Frazier, "Prob lems and Needs ofNegro Children and Youth Resulting from Family Disorganization", in: Jour nal of Negro Education 19 (1 950), 269-277, Zitat 274. "Broken" bedeutet nicht nur "unvoll ständig", sondern auch ,,zerstört, kaputt". 26 D. P. Dohan, Culture, Poverty, and Economic Order in Two Inner City Areas. Diss., Univ. of California, Berkeley CA 1997. E. B. Leacock, The Culture of Poverty: a Critique. New York 1 97 1 . Mental Health Committee Against Racism, The Culture of Poverty Revisited. New York 1 975. L. Schneiderman, The Culture of Poverty: A Study of the Value-Oriented Preferences of the Chronically lmpoverished. Minneapolis, MN 1963. P. M. Stephensonl MITI Center for Inter national Studies, The Culture of Poverty: An Inventory and Interpretation. Cambridge, MA 1 968. S. B. Van Til, Work and the Culture of Poverty: The Labor Force Activity of Poor Men. San Francisco 1976. J. A. Winterl N. Glazer, The Poor: A Culture of Poverty or a Poverty of Culture? Grand Rapids, MI 197 1 . Die beste Kritik an dem Konzept der Kultur der Armut stammt von R. D. G. Kelley, Yo' Mama's Disfunktional! [sic] Fighting the Culture Wars in Urban Ame rica. Boston 1997, darin besonders Kapitel l : Looking for the Real "Nigga": Social Scientists Construct the Ghetto, 1 5-42.
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white collar crime are rampant, according to every available index
[ ...]
In sum, this
group is engaged in a permanent cycle of divorce, forced child separations through boarding schools, and rampant materialism that leads to the dreaded Monte Carlo syndrome. Before they can be helped they must close tax loopholes, end subsidies, and stop buying influence.'027 Schwarze Literaten wie Ralph Ellison, James Baldwin und Claude Brown hatten schon lange auf die Bedingungen verwiesen, die African Americans an der Teilhabe am amerikanischen Traum hinderten, weil die schwarze Community selbst eine tragi sche Existenz fristete. Claude Browns "Manchild in the Promised Land" und die "Autobiography of Malcolm X" porträtierten eine schwarze Kultur und eine schwar ze Familie, die in allen Aspekten getrennt, entfremdet und unterdrUckt wurde.28 Die Arbeit des Staatssekretärs im Arbeitsministerium und späteren viermaligen demo kratischen Senators Daniel Patrick Moynihan mit dem Titel "The Negro Family: A
Case for National Action,029 zog allerdings eine stärkere Reaktion der amerikanischen Öffentlichkeit nach sich als vorhergehende Äußerungen, wurde also in der Öffent lichkeit stärker beachtet. Schließlich hatte hier ein anerkannter weißer Sozialwissen
schaftler, der obendrein hochrangiger Beamter der staatlichen Bürokratie war, ge o sprochen.l Die Repräsentanten der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und weite Teile des liberalen weißen Bürgertums bezeichneten das Buch als rassistisch, obwohl es in vielen Teilen nur das wiederholte, was von afroamerikanischen Autoren und Sozialwissenschaftlem auch gesagt worden war. Moynihan bekräftigte lediglich den kausalen Zusammenhang des Niedergangs der schwarzen Gesellschaft mit dem "Niedergang" der afroamerikanischen Familie.ll Weiße würden die wirkliche Pro blematik der schwarzen Familie nicht verstehen, denn sie konzentrierten sich in ihrer Perzeption der Situation der afroamerikanischen Bevölkerung auf die sichtbaren Manifestationen von Diskriminierung und Armut, wahrscheinlich, weil diese im
27 C. P. Henry, Culture and African-American Politics. Bloomington, IN 1990, 12 f., zit. in R. Kelley, 19 (Anm. 26). 28 R. Berman, America in the Sixties: An 1ntellectual History. New York/ London 1968, 73f. 29 Moynihan (Anm. 17). 30 Die Tatsache, dass Moynihan Demokrat war, sollte nicht zu der Annahme verfUhren, er sei "liberal", "links" oder "demokratischer" als seine republikanischen Kollegen. Schon in den sieb ziger Jahren wurde er kritisiert, weil seine Konzepte und Vorschläge weitgehend mit denen des republikanischen Präsidenten Richard Nixon Ubereinstimmten. G. Tyler, "Tbe Politics of Pat Moynihan", in: Tbe New Leader, 2.4. 1973, 6-10, abgedruckt in L. A. Coser/ l. Howe (Hg.), The New Conservatives: A Critique from the Left. New York 1974, 1 8 1 -192. 31 "At the heart of the deterioration of the fabric of Negro society is the deterioration of the Negro family. It is the fundamental source of the weakness of the Negro community at the present time." Moynihan, 5 (Anm. 17).
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Zentrum der Kritik durch die Bürgerrechtsbewegung ständen und weil Weiße hier die Möglichkeit eines eigenen Beitrags zur Lösung des Problems vermuteten.32 Es sei fUr Weiße schwieriger, so Moynihan, die Auswirkungen von drei Jahrhunderten Sklave rei und Ausbeutung auf die schwarze Gesellschaft selbst auszuloten, da diese sich "silent and hidden from view" manifestierten.J3 "The role of the family in shaping character and ability is so pervasive as to be easily overlooked. The family is the basic social unit of Arnerican Iife; it is the basic socializing unit. Sy and large, adult conduct in society is leamed as a child. A fundamental insight of psychoanalytic theory, for example, is that the child leams a way of looking at Iife in his early years through which all later experience is viewed and which profoundly shapes his adult conduct."34
Zu den Belegen seiner These von einer im Kern zerfallenen afroamerikanischen Familie zählte Moynihan hohe Instabilität, ja den vollkommenen Zusammenbruch der familiären Strukturen in den urbanen Zentren, vor allem unter den Familien der unteren Einkommensgruppen. Fast ein Viertel aller schwarzen Ehen in den Städten seien gescheitert, in Städten wie New York sogar ein Drittel.3s Zudem würden fast ein Viertel aller afroamerikanischen Kinder "illegitim" geboren und ein ebenso gro ßer Prozentsatz afroamerikanischer Familien habe einen weiblichen Haushaltsvor stand.36 Diese alarmierenden Fakten hätten zu einem starken Ansteigen der Abhän gigkeit der schwarzen Familien von der staatlichen Fürsorge (Welfare) gefUhrt.37 Das bloße Ansteigen der Zahlen von fUrsorgeabhängigen schwarzen Familien sei in sich schon der schlagende Beleg fUr die stetige Desintegration der afroamerikanischen Familie.38 Moynihans Thesen kam im weiteren Diskurs insofern eine besondere Bedeutung zu, als sich an diesen Text sowohl wissenschaftliche als auch populäre Diskurse anknüpften, dem Text also eine Brückenfunktion in der Erweiterung des Diskurses zukommt, ohne dass in diesem "Bericht" neue Argumente oder "wissen-
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Moynihan, 5 (Anm. 17). Moynihan, 5 (Anm. 17). Moynihan, 5 (Anm. 1 7). Moynihan, 6-8 (Anm. 1 7). Moynihan muss konstatieren, dass sich eine ähnliche Entwicklung bei den weißen Familien abzeichne, wenn auch in geringerem Ausmaß. 36 Moynihan, 9 (Anm. 17). 37 Moynihan, 12f. (Anm. 17). Moynihan fuhrt hier vor allem das staatliche Programm .,Aid for Families with Dependent Children" (AFDC) an. "The AFDC program. deriving from the long established Mothers' Aid programs, was established in 1935 principally to care for widows and orphans, although the legislation covered all children in hornes deprived of parental support be cause one or both of their parents are absent or incapacitated." 38 Moynihan, 12f. (Anm. 17).
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schaftliche" Erkenntnisse vorgelegt wurden, die vorher nicht verhandelt worden w!lren.39 Die Wirkungsgeschichte des Moynihan-Reports dauert bis in die unmittelbare Gegenwart an. Der renommierte Sozialhistoriker Herbert G. Gutman, ein ausgewie sener Spezialist rur die Geschichte der Sklaverei, bekannte im Vorwort seiner 1 976 erschienenen Studie "The Black Family in Slavery and Freedom, 1 750- 1 925", er sei zum Schreiben seines Buches angeregt worden durch die "bitter public and academic controversy surrounding Daniel P. Moynihan's The Negro Family in America: A Case for National Action".40 Von der Publikation dieses Berichts bis zum "Million Men March" im Jahre 1 995 und weiter zur "Reform" der Sozialhilfegesetze im Jahre 1996 scheint sich eine diskursive Formation verfestigt zu haben, die erstens die defi zitäre schwarze Familie ursächlich verantwortlich rur die Misere der afroamerikani schen Gemeinschaft macht und zweitens die Rolle der Frauen innerhalb dieser Fami lie kritisch beurteilt. Im Zentrum der afroamerikanischen Familie steht demnach die alleinerziehende matriarchale Frau, die sexuelle Bindungen zu verschiedenen Män nern eingeht, die aber fiir die pädagogische und sexuelle Orientierung der Kinder, die diesen Bindungen entstammen, unbedeutend sind. Dem Diskurs zufolge fehlen in nerhalb der Familie nicht nur die Vaterfigur und seine leitende Hand: Väter seien auch insgesamt rur die Erziehung der Kinder und die FUhrung der schwarzen Ge meinschaft nicht nur wichtig, sondern insgesamt besser geeignet als Frauen. Gleich zeitig begann eine Kampagne der "Remaskulinisierung" afroamerikanischer Männer auf unterschiedlichsten Terrains, ein Diskurs, der von verschiedenen Nachbardiskur sen in Schwingungen versetzt, angeregt und verstärkt wurde. So fanden gegen Ende der sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre mit Eldridge Cleavers autobiogra phischem Text "Soul on Ice" und George Jacksons autobiographischem Briefroman "Soledad Brother" zwei BUcher weite Verbreitung, in denen afroamerikanischen Frauen eine klar subalterne Position zugewiesen wurde.41 Darin unterschieden sich
39 Rainwaterl Yanccy, 427-478 (Anm. 14). 40 H. G. Gutman, Tbe Black Family in Slavery and Freedom, 1 750-1925. New York 1976, xvii. 41 N. Finzsch, ,,'Picking up the Gun': Die Black Panther Party zwischen gewaltsamer Revolution und sozialer Reform, 1966-1984", in: Amerikastudien 44, 2 ( 1999), 223-254. E. Cleaver, Soul on lee. New York 1968. Eldridge Cleavers misogyne Position ist nur zum Teil aus seiner latenten homoerotischen Position zu verstehen. Er strukturierte seine Geschlechtlichkeit nicht nur entlang der Achse der sexuellen Orientierung, sondern auch entlang der Achse "Rasse". Sein Buch .,soul on Icc", das wahrend eines Gefllngnisaufenthaltes entstand, sollte zunächst den Titel "White Woman, Black Man" tragen. Siehe den BriefCleavers and seine Anwältin Beverly Axelrod vom 26.5.1965: "The title ofmy book is: WHITE WOMAN, BLACK MAN.[ ...] Att[orne]y. Axelrod: it is my firm belief that my book is very important and that it constitutes a contribution towards a better America.[ ...] I believe that my book is ofvalue and has social significance; it contains im-
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radikale schwarze Politiker wie Cleaver und Jackson, die beide herausgehobene Mitglieder der Black Panthers waren, nicht von moderaten politischen Führern wie Martin Luther King.42 Jackson veröffentlichte Sätze wie "as a women, you do not (and I guess never will) understand what it means to be a man in this particular situation here in the V.S. Womenjust do not suffer the mental mortification of defeat and emasculation that we men do.''''3 Nicht nur hätten afroamerikanische Frauen den Platz eingenommen, der eigentlich afroamerikanischen Mlinnern gebühre, sie konnten die männlich defmierte Rolle auch nicht adäquat ausfUllen und sollten sich deshalb auf die Rolle als Hausfrau und Mutter beschränken, so wie dies auf dem Kontinent der afrikanischen Vorfahren gewesen sei eine Rückprojektion auf eine mythische Vorzeit, die die willkürliche Setzung dieser Geschlechterordnung nachträglich legitimieren sollte, gleichsam eine Naturalisierung und Historisierung in einem.44
portant and socially useful insights into the psych[0]-sociocultural and psychic mechanisms of the following social iIls: I) Frigidity in American Females 2) Female Homosexuality 3) Male Impotence 4) Male Homosexuality". Eldridge Cleaver Papers, MS, Bancroft Library, University ofCalifomia, Berkeley, CA. BANC MSS 91/213 C, Negative Number: BEG Box 2165. 42 B. Waldschmidt-Nelson, From Protest to Politics: Schwarze Frauen in der BUrgerrechtsbewe gung und im Kongreß der Vereinigten Staaten. MUnchen 1 998, 47. L. Olson, Freedom's Daughters: The Unsung Heroines of the Civil Rights Movement from 1 830 to 1970. New York 2001. 43 G. Jackson, Soledad Brother, The Prison Letters of George Jackson. New York 1970, 136. G. Arrnstrong, Papers Relating to the Publication of Soledad Brother: The Prison Letters of George Jackson: ca. 1 970-1 97 1 . MS, Bancroft Library, University of Califomia, Berkeley, CA, BANC MSS 84/27 c. 44 In der gedruckten Fassung des Buches findet sich die folgende Passage: "In the society of our fathers and in the civilized world today, women feel it their obligation to be ever yielding and obedient to their men. Life is purposely made simple for them because of their nature, and they are happy. When women outnumber the men in the black societies, the men take as many wives as they can afford, and care for them equally. In the white [world] for some nebulous reason the men can take only one... the rest are left to become prostitutes, nuns, or lesbians. In the civilized societies [Le. Africa, N.F.] the women do light work, bear children, and lend purpose to the man's existence. They train children in the ways of wisdom that history has shown to be correcl. Their job is to train the children in their early life to be men or women, not confused psychotics! This is a big job, to train and propagate the race!! Is this not enough? The rest is left to the men: govemment adminstration, the providing of means of subsistence, and defense, or maintenance of Iife, and property against any who would deprive us of it, as the barbarian [i.e. White, N.F.] has and is still attempting to do. The white theory of ,the emancipated woman' is a false idea. You will find it, as they are finding it, the/actar in the breakdown of the family unit. Mama, all this struggle is unnecessary. Let's not create an atmosphere of competition among ourselves as they have done. Life is too short. There is too much for us to restore to its proper order and we
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Während in "authentischen" Texten und Praktiken afroamerikanischer Aktivisten und Revolutionäre, Bürgerrechtler und Pfarrer den afroamerikanischen Frauen eine subalterne Position zugewiesen wurde, nahmen sich die Sozialwissenschaften ver stärkt des Themas der unvollständigen, defizitären schwarzen Familie an. Wenn man - wie Foucault dies im Zusammenhang mit der Diskursanalyse getan hat - die Rolle eines "glücklichen Positivisten" übernimmt und einfach nur "misst", wie massiv verschiedene Diskurse um diese Themen in der Mitte der sechziger Jahre auf dem Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung und zu Beginn des zweiten liberalen Femi nismus gewesen sind, so kann man schon überrascht sein.4s Die Problematik der "instabilen", "geschädigten" oder "unvollständigen" Familie tauchte vor Moynihans Buch nur vereinzelt in den Werken von außerhalb der schwarzen Gemeinschaft wenig beachteten Sozialwissenschaftlern auf, mit der Aus nahme FrankIin E. Fraziers. Nach 1 965 weitet sich dieses Untersuchungsfeld auf dem Niveau der Monographien schlagartig aus: Von 1 1 8 erfassten Büchern sind 1 15 nach 1 965 erschienen, darunter auch mehrere Bibliographien. Etliche der Titel sind so programmatisch, dass sie rur sich selbst sprechen.46 Mehr als die Hälfte der themaare too wise. What do you think made the white guy write that Iife is ,a tale told by an idiot, full of sound and fury, signifying nothing' - he feit frustrated and stupid." Jackson, 45f. (Anm. 43). Jackson hatte die Entfernung dieser Passage aus der Neuauflage des Textes verlangt, zu der es aber wegen seines gewaltsamen Todes nicht mehr gekommen ist Der Text der gedruckten Fas sung ist durchgestrichen, am unteren Seitenrand 45 und am oberen Seitenrand 46 steht in Jack sons Handschrift "OUT". Genauso sollte mit der folgenden TextsteIle verfahren werden. "I un derstand her [his mother, N.F.] and a11 black women over here. Women Iike to be dominated, love being strong-armed, need an overseer to supplement their weakness. So how could she re ally understand my feelings on self-determination. For this reason we should never allow women to express any opinions on the subject [ofpolitics, N.F.], butjust to sit, listen to us, and attempt to understand. It is for them to obey and aid us, not ot attempt to think." Ebd., 1 0 1 . Ein gleiches Schicksal sollte einer typischen Stelle widerfahren, in der sich Jackson mit seiner Rolle als (fik tivem) schwarzen Vater beschäftigte: "I'm going to fulfill my roIe as the man, even if it kills me. I will provide the material goods and protect my family with every ounce of energy and resource that I can call up. Tbe woman's role though will go unfulfilled because you folks don't seem to be able to change, or reestablish the values and cultural entities of our antecedents." Ebd., 139. Amstrong, Papers, BANC MSS 84/27 c. 45 "Wenn man an die Stelle [ ... ] der Suche nach dem Ursprung die Analyse der Häufungen stellt, ist man ein Positivist, nun gut, ich bin ein glücklicher Positivist, ich bin sofort damit einverstan den." AdW ( 1 988), 182. 46 J. H. Scanzoni, Tbe Black Family in Modern Society: Patterns of Stability and Security. Chicago 1977. E. Engram, Science, Myth, Reality: Tbe Black Family in One-Half Century of Research, Contributions in Afro-American and African Studies. Westport, CT 1 982. Dies., Will the Real Black Family Please Stand Up? Oakland, CA 1985. N. Harel J. Hare, The Endangered Black Family: Coping with the Unisexualization and Coming Extinction of the Black Race: A Black
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tisch einschlägigen Texte ist nach 1 993 erschienen, das heißt, der Diskurs um die Zukunft der afroamerikanischen Familie hat sich in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts sehr verdichtet. Ganz ähnlich verhält es sich mit der monographischen Literatur, die von Sozialwissenschaftlern oder "Ratgebern" zum Thema des afroame rikanischen Mannes innerhalb der Familie geschrieben worden ist: Auch hier ist der überwiegende Teil der Literatur nach 1 990 entstanden.
V. Staatliche Sozialhilfe Einen zentralen Stellenwert im Zusammenhang mit dem Diskurs um die schwarze Familie nahm und nimmt die staatliche Sozialhilfe ein, die zwischen 1939 und 1976 im wesentlichen aus "Hilfe tur Familien mit abhängigen Kindern" (AFDC) bestand.47 Dieses Programm war 1 935 auf der Höhe der Weltwirtschaftskrise in den USA auf gelegt worden und hatte ein ganzes Areal von privaten, städtischen, halbstaatlichen und einzelstaatlichen Hilfsmaßnahmen zusammengefasst. Mit der Verabscheidung des "Social Security Act" aus dem Jahre 1 935 wurde allen AmerikanerInnen zum ersten Mal eine rudimentäre Sozialversicherung zuteil, indem ein Rentensystem fllr Erwerbstätige geschaffen wurde. Die Novelle des Gesetzes aus dem Jahre 1 939 sah Zahlungen an die Ehepartner und Kinder im Falle der Verrentung eines Erwerbstäti gen vor und eine Hinterbliebenenrente im Falle des Todes eines Erwerbstätigen, sogenannte Zahlungen an "Dependent Benefits". Damit änderte sich der Charakter der Sozialversicherung drastisch, denn sie hatte sich von einem Rentensystem eines einzelnen Arbeitnehmers zu einem wirtschaftlichen Sozialhilfesystem auf der Basis der gesamten Familie entwickelt. Gleichzeitig wurde der Bundesanteil an den staatli chen Zahlungen vor allem tur den Unterhalt von Familien unterhalb der Armutsgren ze erhöht und der monatliche Wohlfahrtsscheck eingefllhrt.48 Die folgende Entwick lung der Ausgaben des Bundes tur das staatliche Sozialversicherungssystem legt
Male/Female Relationships Book. San Francisco, CA 1984. G. Abatso u.a., How to Equip the African American Family: Issues and Guidelines for Building Strong Families. Chicago 1991. 47 "Aid for Families with Dependent Children". 48 E. D. Berkowitz/ K. McQuaid, Creating the Welfare State: The Political Economy ofTwentieth Century Reform. Lawrence, KS 1 992, 106-146. E. Amentaf T. Skocpol, "Redefining New Deal: World War 11 and the Deve10pment of Social Provision in the United States", in: M. Weir u.a. (Hg.), The Politics of Social Policy in the United States. Princeton, NJ 1988, 81-122, 83-86. Zur Vorgeschichte des staatlichen Sozialversicherungssystems R. Lubove, The Struggle for Social Security 1 900-1935. Pittsburgh, PA 1 986. W. I. Trattner, From Poor Law to Welfare State: A History ofSocial Welfare in America. New Yorkl London 1974.
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nahe, dass auch hier die Mitte der sechziger Jahre einen Einschnitt darstellte: Wäh rend in den Jahren 1 932 bis 1 965 die durchschnittlichen Aufwendungen des Bundes rur das staatliche Wohlfahrtssystem bei rund 72 Millionen Dollar lagen, stieg dieser Betrag im Zeitraum 1 966 bis 1970 schlagartig auf 2045 Millionen Dollar/anno an.49 Der Grund fllr diese explosionsartigen Zuwächse lag im Wohlfahrtsprogramm der Regierung des alten New Dealers Lyndon B. Johnsons, der 1 964 mit der Verabschie dung des "Economic Opportunity Act" (EOA) einen "Krieg gegen die Armut" lan cierte.so Das Gesetz stellte insofern eine Neuerung der amerikanischen Wohl fahrtspolitik dar, als nicht mehr der Bundesstaat oder die Bundesregierung die Ver gabe der Gelder organisierte, sondern die staatliche Hilfe mittels der Intervention der "community" verteilt wurde. Grundlage der Vergabe von Geldern waren die "com munity action programs". Der Kongress bewilligte zudem Mittel fllr "community school programs", die die fmanzielle Kontrolle des Schulsystems in die Hände der Gemeinde legten. Als wichtigstes Programm des nationalen "Kriegs gegen Armut" auf dem Weg zu einer "Great Society" sollte das EOA Ausbildungsplätze bereitstel len, Erwachsenenbildung ermöglichen und Kredite fllr kleine Geschäftsinhaber in den Ghettos der Städte ennöglichen. Dieses Gesetz war nicht etwa nur wegen der liberalen Gesinnung der demokratischen Administration verabschiedet worden, son dern es reflektierte den steigenden Unwillen weiter Teile der städtischen afroameri kanischen Bevölkerung, sich mit Segregation, Arbeitslosigkeit, strukturellem Ras sismus und Annut abzufinden. Seit Mitte der fllnfziger Jahre hatte die Bürgerrechts bewegung Unterstützung auch unter weißen Wählerinnen und Wählern gefunden, und ein erstarkendes Selbstbewusstsein der African Americans ließ es geraten er scheinen, auch in der Sozialpolitik neue Wege zu beschreiten. Nach der Wahl des ultrakonservativen Richard M. Nixon in das Präsidentenamt 1 968 wurde der "Eco nomic Opportunity Act" stark beschnitten und damit eine hoffnungsvolle politische Neuerung im Ansatz beendet. Ursprünglich wurden die Mittel vom "Office of Eco nomic Opportunity" verwaltet, aber nach der Rücknahme des Gesetzes wurden Überbleibsel des alten Gesetzes auf andere Bundesbehörden übertragen und somit teilweise gerettet. Mit der Beseitigung oder Aushöhlung der bisherigen Gesetzge bung durch die konservativen Republikaner einher ging jedoch ein neues Moment der Politik. Der Versuch, Politik durch die Selbststeuerung der Betroffenen zu im plementieren, anstatt sie nur von "oben" zu dekretieren, erschien sinnvoll in einem politischen Klima, das noch weitgehend von Ansätzen der politischen Selbstbestim mung (Black Power) beeinflusst war. Neben der Politik der harten Hand wurde zu-
49 U .S. Department of Commerce. Bureau of the Census: Historical Statistics of the United States: Colonial Times to 1 970, Part 2. White Plains, NY 1989, Series Y 605-637, 1 123f. 50 E. F. Goldman, The Tragedy of Lyndon Johnson. New York 1969, 1 83.
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nehmend der Versuch unternommen, eine Außensteuerung von African Americans vermittels Selbstienkung zu erreichen. Diese Selbstienkung wurde diskursiv veran kert in zahlreichen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen, mitunter im Auftrag der nicht eben filr ihre Neutralität bekannten "RAND Corporation" und "Brookings Institution", deren Ergebnisse dann öffentlichkeitswirksam publiziert wurden.sl
VI. Der Sozialstaat nach Nixon: Die Erfindung der "Welfare Queen" Die seit der Nixonadministration einsetzende "Reform" des "liberalen Wohl fahrtstaates" erging sich zwar einerseits in der Abschaffung zentraler Institutionen der Versorgung der verarmten Bewohner urbaner Ghettos, "federte" diese Politik der harten Hand aber geschickt ab, indem sie auf unterschiedlicher Ebene Diskurse er öffnete, die zu einer Selbstregulierung der Betroffenen filhrten. So wurde zumindest
51
S. C. Morton, Statistics and Public Policy: Case Studies from RAND. New York Williams, Making Research Useful to Policymakers. Santa Monica, CA
[1987]. I.
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2000.
B. R.
C. C. Graham/
1948-1966.
Eine Übersicht der von dem vergleichsweise großen "Social Science
Department" der RAND Corporation durchgeftlhrten und öffentlich gemachten Untersuchungen zwischen
1965
und
200 I
zeigt, dass die RAND Corporation in a\1en, die Sozialpolitik der USA
betreffenden Problemen sozialwissenschaftliehe Forschung betrieben hat. Diese Studien schlie ßen so wichtige Arbeiten ein wie die folgenden: A. J. Alexanderl United Statesl Office of Eco nomic Opportunity, Structure, Income, and Race: A Study in Intemal Labor Markets. A Report
1970. K. J. Arrow, Some Mo 197 1 . D. M. De Ferranti, The Welfare and Nonwelfare Poor in New York City. New York 1974. D. N. De Tray, A Con ceptual Basis for tbe Study of Welfare Refonn Effects. Santa Monica, CA 1972. Ders., A Gene Prepared for Office of Economic Opportunity. Santa Monica, CA
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1979.
J. J. McCall, Racial Discrimination in tbe Job
1970. Die ältere Brookings In ab Mitte der sechziger Jahre auch mit den
Market: The Role of Infonnation and Search. Santa Monica, CA stitution mit Sitz in Washington, DC beteiligte sich
folgenden Studien zur Lebenswelt der Afroamerikaner und zu Problemen des Sozialstaats an der öffentlichen Diskussion: R. Fein, An Economic and Social Profile of tbe Negro American. Wa
1966. Siehe auch J. A. Pechman u.a, The Objectives of Social Security. Wa 1968. E. J. Dionne, Community Works: The Revival of Civil Society in America. oe 1998. Ebenfalls schaltete sich die ultrakonservative "Heritage Foundation" ab
shington, DC shington, DC Washington,
Mitte der sechziger Jahre in die Diskussion ein.
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die Bereitschaft, Forderungen notfalls gewaltsam Nachdruck zu verleihen, stark herabgesetzt.52 Die Rücknahme der staatlichen Wohlfahrtsprogramme, die unabhän gig von der parteipolitischen Zugehörigkeit der amerikanischen politischen Klasse in demokratischen wie republikanischen Administrationen in gleichem Maße vorge nommen wurde, gipfelte 1996 in dem "Personal Responsibility and Work Opportu nity Reconciliation Act" (PRWORA) der Clintonregierung, mit der Zahlungen an Wohifahrtsempfllnerinnen eingestellt wurden und eine neue Institution geschaffen wurde, das "Temporary Assistance to Needy Families Program" (T ANF). TANF geht von der Annahme aus, das jeder Arbeitswillige eine Arbeit finde und in der Lage sei, sich und seine Familie selbst zu versorgen, unterstellt also Sozialhilfeemp fllngem generelle Arbeitsscheu und verlagert einen Teil der staatlichen Sozialhilfe in den Zuständigkeitsbereich religiöser Organisationen und Kirchen.53 Auch hier spiel ten Sozialwissenschaftier eine entscheidende Rolle bei der diskursiven Vorbereitung der gesetzlichen Maßnahmen, vor allem das "Michigan Panel Study of Income Dy namics".54 Vorbereitet wurden die dramatischen Änderungen unter der Regierung Clinton durch Richard Nixons "Family Assistance Plan" (FAP),55 der allerdings im Kongress scheiterte, dem "Food Stamp Program", das Zahlungen an Sozialhilfeemp52 Diese Bereitschaft war spätestens 1967 durch die Sommerunruhen eines Teils des schwanen Proletariats deutlich geworden und eine von Präsident Johnson eingesetzte Untersuchungskom mission unter Vorsitz Otto Kerners kam zu dem Ergebnis, die Gesellschaft der USA zerfalle zu nehmend in zwei inkompatible Teile, einen weißen und einen schwanen. D. J. Farmer, Civil Di sorder Control: A Planning Program of Municipal Coordination and Cooperation. Chicago [1968]. P. Meranto (Hg.), The Kerner Report Revisited: Final Report and Background Papers. Urbana, IL 1970. F. R. Harris! R. W. Wilkins (Hg.), Quiet Riots: Race and Poverty in the United States. New York 1988. United States. Kerner Commission, The Kerner Report: The 1968 Re port ofthe National Advisory Commission on Civil Disorders. New York 1968. 53 Der Gesetzgeber ignorierte damit zahlreiche Studien, die belegen, dass der Bedarf an ungelern ten oder angelernten Arbeitern in den neunziger Jahren deutlich zurückgegangen ist. R. B. Free man! P. Gottschalk (Hg.), Generating Jobs: How to Increase Demand for Less-Skilled Workers. New York 1998. F. Levyl R. J. Murnane, "U.S. Earnings Levels and Earning Inequality: A Re view of Recent Trends and Proposed Explanations", in: Journal of Economic Literature 30 (1992) 1333-1381. Die Reimplementierung einer kirchlichen Armenhilfe geschah 1996 durch die "Charitab1e Choice Provision". 54 M. J. Bane! D. T. Ellwood, "Slipping into and out of Poverty: The Dynamics of Speils", in: Journal of Human Resources 2 1 , 1 (1986), 1 -23. J. Gueron! E. Pauly, From Welfare to Work. New York 199 1 . 5 5 FAP sollte AFDC ersetzen, indem ein minimales Unterstützungsprogramm mit dem Arbeits zwang der Sozialhilfeempflingerln gekoppelt wurde. Allerdings waren Mütter mit Kleinkindern von diesem Arbeitszwang explizit ausgenommen. R. M. Nixon, Welfare Reform: A Message from the President of the United States. House Document No. 91-146, Congressional Record, Vol. 1 15, no. 136, The House ofRepresentatives, 9 1 · Congress, First session, H7239-7241 .
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flingerinnen weitgegehend durch Naturalleistungen ersetzte, James E. Carters "Pro gram for Better Jobs and Income" (PBJI),56 den "Omnibus Budget Reconciliation Act" von 1 98 1 und den "Family Support Act" von 1 988.57 Insgesamt ist diesen An sätzen gemein, dass sie die Kosten für staatliche Sozialhilfe durch budgetäre Begren zung der Ausgaben, Bereitstellung von Arbeitsanreizen und Einforderung von Ar beitsleistungen absenken wollten. Besonders betroffen davon waren die alleinstehen den MUtter kleiner oder schulpflichtiger Kinder, deren Arbeitsvermögen eher unela stisch war, weil sie sich der Kindererziehung widmen mussten. Aus der Forschung der Sozialwissenschaftier in diesem Zusammenhang ging eindeutig hervor, dass die Umstellung von Sozialhilfezahlungen auf "Workfare" möglich, aber schwierig sein wUrde.58 Entscheidende Bedeutung auf dem Weg zur "Reform" der staatlichen Sozialfhilfe bekam nach den gescheiterten Versuchen unter Nixon und Carter die Reagan Administration, indem zum einen Arbeitsbeschaffungsprogramme, wie die unter dem der "Comprehensive Employment and Training Act" (CETAi9 geschaffenen, gestri chen wurden, andererseits durch den "Omnibus Budget Reconciliation Act" von 1 98 1 zur Sozialhilfe hinzu verdientes Geld zu einer Reduktion der staatlichen Zah lungen führte.60 Ronald Reagan war schon vor seiner ersten Amtszeit mit dem Wahlkampfver sprechen angetreten, das Sozialhilfesystem zu verändern. In einer Rede führte er eine Sozialhilfeempflingerin ("Welfare Queen") in Chicago an, die 1 1 5.000 Dollar an Leistungen erschwindelt hatte, indem sie 80 verschiedene Identitäten, 30 Adressen, ein Dutzend Sozialhilfeausweise benutzt habe und sich als Witwe von vier Ehemän56 Das Programm stellte den Versuch dar, bis zu 1 ,4 Millionen "Billigjobs" zu schaffen, wobei auch hier Mütter mit Kindern von dem Zwang, sich eine solche Stelle zu suchen, ausgenommen werden sollten. Dieses Programm, das ebenfalls im Kongress scheiterte, hätte zwar die staatli chen Ausgaben um 8,8 Milliarden Dollar/anno ftlr 1980 und 14 Milliarden ftlr 1 982 erhöht, hätte aber wahrscheinlich zu einer deutlichen Reduktion der Sozialhilfeabhängigen geftlhrt. Gleich zeitig wären unter PBJI zum ersten Male Sanktionen gegen "Arbeitsunwillige" verhängt worden. L. E. Lynn! D. Whitman, The President as Policymaker: Jimmy Carter and Welfare Reform. Philadelphia, PA 198 1 . 5 7 S . Danziger, Welfare Reform Policy from Nixon to Clinton: What Role for Social Science?, MS. University ofMichigan 1998, 3, http://www.ssw.umich edu/povertvlisrconference.pdf. 3.2.2002. 58 M. J. Bane! D. T. Ellwood, Welfare Realities: From Rhetoric to Reform. Cambridge 1994. 59 CETA wurde 1973 verabschiedet und entwickelte sich nach seiner Novellierung 1976 schnell zu einem wichtigen Programm, das Mittel ftlr Bildung und Ausbildung von hilfebedürftigen Famili en bereitstellte. 1978 wurden mit diesem Programm 750.000 Menschen gefbrdert. W. Mirengoff u.a., CETA: Assessment of Public Service Emp10yment Programs. Washington, oe 1 980. Dan ziger, 9 (Anm. 57). 60 L. M. Mead, The New Politics of Poverty: The Nonworking Poor in America. New York 1992.
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nem ausgegeben habe. Die Stimmung im Lande schlug um. Reagan versprach dar aufhin, derartige Praktiken abzustellen und seit dieser Zeit gehört die "Welfare Queen" im "Welfare Caldillac" zum festen Bestandteil amerikanischer politischer Folklore.61 Allen Behauptungen der Konservativen zum Trotz gab es keinen Hinweis rur den weitverbreiteten Betrug von Wohlfahrtsempfiingem.62 Auch lässt sich mit Zahlungen aus den Wohlfahrtsprogrammen kein aufwendiger Lebensstil entfalten, denn die durchschnittlichen Zahlungen aus AFDC und Food Stamps, den beiden größten Posten des Budgets, betrug 1992 zusammengenommen knapp 7050 Dollar im Jahr. Da die Armutsgrenze rur eine durchschnittliche Familie in diesem Jahr bei über 1 1 .000 Dollar lag, kann man davon ausgehen, dass die beiden Leistungen nicht mehr als 63 Prozent der absolut notwendigen Lebenshaltungskosten deckten.63 Es war im Zusammenhang mit der zitierten "Welfare Queen" nicht notwendig, diese als afroamerikanisch zu markieren, da dies im Diskurs um Wohlfahrt schon eindeutig geschehen war und die symbolische Bedeutung der Automarke Cadillac als "typisch schwarz" von den Diskursteilnehmem stillschweigend vorausgesetzt werden konn te.64 In den neunziger Jahren wurde die Demontage des staatlichen Wohlfahrtssy stems auch unter dem Demokraten William Jefferson Clinton fortgesetzt. Schon während seines Wahlkampfs 1992 propagierte Clinton, er werde "welfare as we 6 1 Diese Frau konnte trotz intensiver Suche durch die Medien nie gefunden werden und muss wohl als geschicktes Märchen von Reagans Wahlkampfteam gelten. 62 1991 erhielten nur 5 Prozent aller Empfllnger unberechtigterweise Zahlungen, wie das VS-House of Representatives herausgefunden hat. V.S. House of Representatives, Where Your Money Goes: The 1994-1995 Green Book. Washington, oe 1994. 63 U.S. Bureau ofthe Census, Poverty in the United States, Series P-60, No. 1 85. Washington, oe 1993. Federal Register, 1992 - Vol. 57, No. 3 1, February 14, 1992, 5455-5457. Siehe auch Pov erty Thresholds 1992, in: http://www.census.govlhhes/poyerty/threshld/thresh92.htrn1, 8.2.2002. Die Zahlen waren auch 1997 noch nicht dramatisch anders: In diesem Jahr erhielt ein durchschnittlicher Sozialhilfeempfllnger $ 7906 im Jahr (Medianwert), wobei auf durchschnittli che Weiße $ 8 1 13 und auf African Americans $ 6712 entfielen. Table 3.C7, Number and Per centage Distribution of Persons Aged 1 5 or Older with Social Security Benefits or with Supple mentai Security Income, by Age, Sex, Race, March 1998, and Median Amount, 1997, U.S. Bu reau of the Census, Income Supplement, Current Population Survey, V.S. Census Bureau. Wa shington oe 1998, http://www.ssa.gov/statistics/SupplementlI999/tables/t3c7.pdf, 8.2.2002. 64 In den dreißiger Jahren diskriminierte General Motors gegen KundInnen auf Grund von Hautfar be und wies seine Händler an, keine Cadillacs an African Americans zu verkaufen. Als die Ver kaufszahlen während der Depression immer weiter fielen, begann man bei GM Cadillacs speziell tur wohlhabende schwarze KundInnen auf dem Markt zu platzieren, mit dem Erfolg, dass der Verkauf der begehrten Statussymbole unter African Americans steil anstieg. Vgl. das Kinder buch von M. D. Taylor, The Gold Cadillac. New York 1987. Afroamerikanerinnen stellen auch heute noch rund 25 Prozent aller Käuferinnen von Cadillacs in den USA, sind also klar Oberre präsentiert. Automotive History, 1930-1939, www.aaca.org/historv/cars 40,htrn, 8.2.2002.
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" know it beenden. Nach seiner Inauguration beeilte sich der demokratische Senator Daniel Patrick Moynihan (NY), derselbe Mann, der 1965 schon gegen Sozialhilfe polemisiert hatte, den "Work for Welfare Act" zu fordern, ein Gesetz, das das "Job Opportunities and Basic Skills Training Program" (JOBS) durchsetzen sollte. Nach einem Veto des weitgehend auf den Vorstellungen der republikanischen Mehrheit beruhenden Gesetzentwurfs im Jahre 1 996 kam es zu einem Kompromiss, dem "Per sonal Responsibility and Work Opportunity Act" von 1996. Beide Häuser des Kon gresses stimmten diesem Entwurf zu, und Clinton unterzeichnete ihn am 22.8.1996. Was besagt nun dieses Gesetz, das das "Ende des Sozialstaats, wie wir ihn kennen", einläuten sollte? 1) Wohlfahrtsmaßnahmen der Einzelstaaten werden nicht mehr, wie bisher, durch Bundesmittel um 1 00 Prozent aufgestockt (Ende der "open-ended federal mat ching funds"). Stattdessen erhalten die Staaten Bundeshilfe auf dem Niveau von 1 994/95. 2) Damit Einzelstaaten Bundesmittel erhalten, müssen sie nachweisen, dass sie ihre Sozialhilfezahlungen auf 75-80% des vorigen Niveaus abgesenkt haben ("main tenance of etTort obligation"). 3) Den Staaten wird weitgehend freie Hand bei der Bemessung der Barzahlungen an UnterstUtzungsempflingerInnnen gegeben. 4) Ziele der Bundespolitik werden weitgehend durch finanzielle Sanktionen gegen die Einzelstaaten durchgesetzt. Zahlt Z.B. ein Staat einer Familie länger als 60 Monate Unterstützung, so riskiert dieser Staat eine Strafe. Belohnungen werden ausgezahlt, wenn die Zahl der ledigen minderjährigen Mütter zusammen mit der Zahl der Abtreibungen in einem Einzelstaat sinkt, ganz im Sinne der oben er wähnten Biopolitik.
Mit dieser wirkungsvollen Initiative gegen (afroamerikanische) Sozialhilfeempfänge rinnen einher ging der Diskurs um die Remaskulierung afroamerikanischer Männer und ihrer Rolle als Patriarchen und Väter. Dies geschah einerseits affirmativ, indem afroamerikanische Männer zunehmend diese Rollen einklagten und vertraten. Nur eine starke Vaterrolle könne die afroamerikanische Kultur vor der Verweibli chung/Verweichlichung retten. Andererseits wurden durch Normierungsdiskurse, die die sogenannten "Deadbeat Dads", also Väter, die ihren Unterhaltszahlungen nicht nachkommen, herausgriffen und öffentlich bloßstellten, eine ähnliche Wirkung er zielt.6s Eine Organisation mit dem Acronym MAFIA zum Beispiel postiert seit den
65 United States. An Act to Establish Felony Violations for the Failure to Pay Legal Child Support Obligations, and for Other Purposes. Washington, OC 1998. O. Arnneus, The Garbage Generati on: Tbe Consequences of the Oestruction of the Two-Parent Farnily and the Need to Stabilize It
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neunziger Jahren die Namen wirklicher oder vermeintlicher unterhaltssäumiger Väter auf dem Internet. 66 Beide Diskurse liefen parallel, überlagerten sich aber an be stimmten Stellen und können als Beispiel rur Gouvernementalität im Sinne von "Self-government" gelten. Diesen Diskursen vorgelagert ist das "Good Men Movement", das einerseits in affirmativer Reaktion auf die Frauenbewegung der siebziger Jahre entstand, andererseits die angebliche umgekehrte Diskriminierung (reverse discrimination) von Männern zu korrigieren wUnscht.67 Diese Bewegung hat einerseits Berührungspunkte mit christlich-fundamentalistischen Initiativen (vor allem weißer Männer) wie den "Promise Keepers,,68 und den (ebenfalls theologisch geprägten) afro-amerikanischen Bemühungen im Zusammenhang mit dem Million Men March von 1 995.69
66 67
68
69
by Strengthening Its Weakest Link, the Father's Role. Alhambra, CA 1990. D. Blankenhorn, Fatherless America: Confronting Dur Most Urgent Social Problem. New York 1995. W. F. Horn! D. Blankenhorn, The Fatherhood Movement: A Call to Action. Lanham, MD 1999. M. M. Bou miV 1. Friedman, Deadbeat Dads: A National Child Support Scandal. Westport, CT, 1996. C. 1. Hoffinan, Deadbeat Dads: How to Find Them and Make them Pay. New York 1996. D. Reichert, Broke but Not Deadbeat: Reconnecting Low-Income Fathers and Children. Denver, CO 1999. L. J. Rose! R. Malone, Make the Jerk Pay: Tracking Down a Deadbeat Dad and Getting Child Sup port. St. Louis, MO 1999. S. Spence, 1-800-Deadbeat: How to Collect Child Support. Wilming ton, DE 1999. Deadbeat Parents of America, http://www.mafia-usacom/deadbeatslpage1.htm. 8.2.2002. Die Debatte um die "Feminisierung" der amerikanischen Kultur und/oder Arbeitswelt ist älter, als hier ausgeftlhrt werden kann. C. Bradford, The Feminization of the World. Boston 1930. M. W. Davies, Woman's Place Is at the Typewriter: The Feminization of Clerical Workers and Changes in Clerical Work in the United States, 1 870-1930. Diss. Univ. ofCalifomia, UCI 1979. A. Douglas, The Feminization of American Culture. New York 1977. E. Lenz, The Feminization of America: How Women's Values Are Changing Dur Public and Private Lives. Los Angeles/ New York 1985. Man kann ftlr die sechziger Jahre eine Zunahme des Schriftguts zur "Desexua lisierung" konstatieren. C. Winick, The New People: Desexualization in American Life. New York 1968. P. M. Amold, Wildmen, Warriors, and Kings: Masculine Spirituality and the Bible. New York 1991. S. B. Boyd, The Men We Long to Be: Beyond Domination to a New Christian Understan ding of Manhood. [San Francisco] 1995. Ders. u.a, Redeeming Men: Religion and Masculini ties. Louisville, KY 1996. 1. E. Dittes, Driven by Hope: Men and Meaning. Louisville, KY 1 996. Ders., The Male Predicament: On Being a Man Today. San Francisco 1985. Frederick G. Grosse, The Eight Masks of Men: A Practical Guide in Spiritual Growth for Men of the Christian Faith. New York 1998. D. D. James, What Are They Saying about Masculine Spirituality? New York 1996. G. Baker-Fletcher, Black Religion after the Million Man March: Voices on the Future. Mary knolI, NY 1998. R. P. Byrd/ B. Guy-Sheftall, Traps: African American Men on Gender and Se xuality. Bloomington, IN 2001. M. H. Cottman/ D. Willis-Thomas, Million Man March. New York 1995. R. Gibral-Tarik u.a., One in a Million: Messages from the Historie Million Man
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In ein angrenzendes diskursives Feld gehört die landesweite Kampagne gegen Schwangerschaften minderjähriger MUtter, die einerseits in ihrer "progessiven" Vari ante mit einer Kampagne für sexuelle Aufklärung und Verteilung von Kontrazeptiva, andererseits in ihrer "reaktionären" Variante in einem Feldzug für sexuelle Enthalt samkeit und Jungfräulichkeit (vor allem von Mädchen) und gegen Abtreibungen mUndete.70 Die letzte Variante mUndete ein in "freiwillige" Versprechen, bis zur Ehe sexuell enthaltsam zu leben und dieses Versprechen wurde durch bestimmte Acces soires wie Ringe oder Abzeichen auch nach außen materialisiert.71 Die "Jungfräu lichkeitsbewegung", an der sich in den neunziger Jahren mehr als zweieinhalb Mil lionen amerikanische Jugendliche beteiligt haben, wurde usprUnglich von der "Southem Baptist Church" initiiert, dann aber vom staatlichen "National Institute of Health" und vom ebenfalls aus öffentlichen Mitteln finanzierten "National Institute of Child Health and Human Development" (NICHHD) kooptiert. In einer soziologi schen Studie des NICHHD wurde "nachgewiesen", dass derartige "virginity pledges" den Effekt haben, den ersten sexuellen Kontakt, sehr eng definiert als "vaginal inter course", um durchschnittlich 1 8 Monate hinauszuschieben.72 Die "National Cam paign to Prevent Teen Pregancy" fasste mehrere gesellschaftliche Gruppen zusam men. Die Präsidentin dieser Bewegung ist Isabel V. Sawhill, eine bekannte konser vative Wissenschaftlerin der "Brookings Institution", die sich wissenschaftlich vor allem mit allgemeiner Sozialpolitik, säumigen Unterhaltszahlern ("deadbeat dads"), den positiven Effekten der "Reagan Revolution" in der Sozialpolitik und alleinste-
March. Berkeley, CA 1996. F. M. Reid u.a, When Black Men Stand up for God: Reflections on the Million Man March. Chicago 1 996. 70 Für Jungen fokussiert sich die Autklärungsliteratur seit den ftlnfziger Jahren bezeichnenderweise um die Begriffe "Manhood" oder ,,Masculinity", während bei den ftlr Mädchen bestimmten lite ratur Begriffe wie "Schwangerschaft" und ,,Abtreibung" im Vordergrund stehen. H. N. Bun desen, Toward Manhood. Philadelphia 195 1 . H. Shryrock, On Becoming a Man: A Book for Teen-Age Boys. Mountain View, CA 195 1 . R. E. Dickerson, Into Manhood. New York 1954. W. W. Bauer, Moving into Manhood. Garden City NY 1963. S. T. Whelan/ E. M. Whelan, Making Sense out of Sex: A New Look at Being a Man. New York 1975. W. J. Bausch, Becoming a Man: Basic Information, Guidance, and Attitudes on Sex for Boys. Mystic, CT 1988. 71 "Purity Rings" oder "Chastity Rings", die jüdische oder christliche Symbole tragen (1 Timothy 5 :22), werden auf dem Internet vertrieben. 72 Nach oralem oder analem Sex wurde ausdrücklich nicht gefragt. P. S. Bearman/ H. Brückner, "Promising Future: Virginity Pledges and First Intercourse", in: American Journal of Sociology 1 06, 4 (200 I ), 859-912. P. S. Bearman u.a., Peer Potential: Making the Most of How Teens In fluence Each Other. Washington, DC 1999. Dass derartige Techniken des Selbst nicht von unge flIhr implementiert werden, sondern Ergebnis sorgfältiger Planung sind, zeigt eine ältere Studie des gleichen Autors. P. S. Bearman, Adolescent Peer Pressure: Theory, Correlates, and Program Implications for Drug Abuse Prevention. Rockville, MDI Washington, DC 198 1 .
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henden MUttern beschäftigt hat. Unter den Vorstandsmitgliedern sind so illustre Personen wie die afroamerikanische Schauspielerin Whoopi Goldberg und der ehe malige UN-Botschafter der USA und afroamerikanische Bürgerrechtler Andrew Young, aber auch Vertreterinnen der Kirchen wie Sister Mary Rose McGeady zu finden.73 Diese "Bewegung", der sich internationale Popidole wie Britney Spears anschlossen, ist nicht nur "gendered" in dem Sinne, dass "vaginaler Geschlechtsver kehr" mit einer möglichen Schwangerschaft als Folge im Mittelpunkt des Diskurses steht,74 sondern auch "racialized", weil - ohne dass dies explizit aufgefilhrt wird schwarze Frauen und Mädchen besonders herausgegriffen werden.7s 73 Sawhill fasst die Agenda der konservativen Familien- und Sozialpolitik zusammen, wenn sie in einer Verlautbarung der "Brookings Institution" schreibt: "When welfare reform was enacted in 1996, Congress placed high priority on reducing out-of-wedlock birtbs and encouraging the for mation oftwo-parent families. These goals remain somewhat controversial, but there is an emer ging consensus that ifwe knew how to achieve them, children's Iives would be improved. This brief argues that one of the least controversial and most effective ways of achieving these goals is to focus on preventing teen pregnancy. Almost everyone is in favor of reducing teen pregnan cy and new evidence suggests that a variety of programs have achieved this objective. For this and other reasons, teen pregnancy and birtbrates have declined during the 1990s, which in turn has contributed to the leveling off of the proportion of all children born to unwed mothers. When Congress reauthorizes the Personal Responsibility and Work Opportunity Reform Act in 2002, it should build on this success by providing additional funds for teen pregnancy prevention efforts while maintaining the emphasis on work and child support enforcement. The evidence suggests that this emphasis, rather than any ofthe more specific provisions ofthe law, is the reason for re cent progress in reducing unwed childbearing." I. Sawhill, "What Can Be Done to Reduce Teen Pregnancy and Out-of-Wedlock Births?", in: The Brookings Institution, Policy Brief No. 8, Oc tober 200 I , 1 -12, 1 . An anderer Stelle heißt es: "What is needed in addition to sex education and family planning services is a change in the culture to make abstaining from sex as weil as using birth control seem more attractive, even ,cool.' But how do we create these new attitudes? Partly by building on the growing realization among teens that sex has more serious consequences than ever before. [ ...] But the messages about consequences being delivered by the 1996 welfare law are also important. To young women, the law says that ifthey have babies out of wedlock, they will be required to work and will receive time-Iimited assistance from the welfare system. To young men, it says that if they father a child, they will be expected to contribute to its support. Research is now beginning to suggest that these messages matter. An Urban Institute study, for example, shows a bigger decline in single parenting among subgroups most Iikely to have been affected by reform than among those least Iikely to have been affected." I. Sawhill, ,,Abstaining from Sex", in: Blueprint: Ideas for a New Century 14 (2002) [o.S.]. 74 "The increase in teen pregnancy rates between the early 1970s and 1990 was largely the result of a change in attitudes about the appropriateness of early premarital sex, especially for young wo men." Sawhill, What Can Be Done, 7 (Anm. 73). 75 E. W. Freemanl K. Rickels, Early Childbearing: Perspectives of Black Adolescents on Pregnan cy, Abortion, and Contraception. Newbury Park 1 993. L. E. Hendricksl T. A. Montgomery,
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Wie sehr diese Politik der gouvernementalen Einbindung der Subjekte auf einer Alltagsebene diskursiv vermittelt ist, kann jede/r sehen, der/die sich die entsprechen den Diskussions-Threads auf dem Internet ansieht.76 Der ,,Erfolg" der gouvernemen talen Techniken im Konzert mit einer Politik der juridischen Ausgrenzung überrascht selbst die konservativen Architekten dieser Politik und legt es nahe, diesem Aspekt der Foucaultschen Theorie mehr Beachtung als bisher zukommen zu lassen.77
VII. Fazit Fremdlenkung und Selbstregierung der African Americans sind seit 1 965 verstärkt durch eine Verbindung von diskursiven Praktiken und juridisch-politischer Herr schaftsausübung angegangen worden. Hierbei sind Diskurse über die Familienstruk tur, Weiblichkeit und Männlichkeit, Devianz sowie Sexualmoral verwoben worden mit einer Diskussion der Sozialhilfegesetzgebung und dem Abbau des Sozialstaats. Die politische Herrschaftsausübung musste im Zeichen einer während der sechziger Jahre an Momentum gewinnenden afroamerikanischen Identitätspolitik abgefedert
Teenage Pregnancy from a Black Perspective: Some Reflections on Its Prevention. Washington, oe 1986. United States. Congress. House. Committee on Ways and Means. Subcommittee on Public Assistance and Unemployment Compensation, Pregnancy among Black Teenagers: Hea ring before the Subcommittee on Public Assistance and Unemployment Compensation of the Committee on Ways and Means, House ofRepresentatives, Ninety-Ninth Congress. Washington DC 1986. M. Whitel 1. Wal ton, The Attitudes of Black Unwed Pregnant Teenagers and Teenage Mothers Regarding their Unwed Pregnancy. Los Angeles 1 974. C. W. Williarns, Black Teenage Mothers: Pregnancy and Child Rearing from their Perspective. Lexington, MA 199 1 . 7 6 "Between 1997 and 1999 alone, the number of states conducting media campaigns increased from 1 5 to 36. Typically, such campaigns use both prin! and electronic media to reach large numbers ofyoung people with messages designed to change their behavior." Sawhill, What Can Be Done, 7 (Anm. 73). 77 "The great transformation of the welfare system set off by state reforms in the early 1990s and by the 1996 federal welfare reform law had as its primary goal the encouragement of work by mothers on welfare. This goal has been achieved to a much greater degree than anyone expected. Employment rates among single mothers have increased dramatically; former welfare recipients have experienced average employment levels of around 60 to 75 percent, far higher than antici pated and much greater than their work levels while on welfare. While a strong economy and ex panded work incentive programs (especially in the tax code) have helped fuel these employment gains, the welfare reforms ofthe 1990s have produced significant progress in meeting the prima ry goal of encouraging mothers on welfare to work." R. A. Moffitt, From Welfare to Work: What the Evidence Shows, in: The Brookings Institution, Policy Brief 13 (January 2002), 1 -8, I .
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und vermittelt werden und amerikanische SozialwissenschaftIerinnen haben wesent liche Beiträge zur inhaltlichen Füllung der Diskurse geliefert. Gleichzeitig haben sie damit ihre eigene Macht etabliert, sich also in einem Professionalisierungsdiskurs als "kompetent" und "wissenschaftlich unabhängig", aber "unpolitisch" (im Sinne von non-partisan) positioniert. Patrick Moynihans Beitrag war dabei zwar zunächst nur eine Stimme im Murmeln des Diskurses, doch hat er (mit anderen) eine wichtige BrUckenfunktion eingenommen, die den sozialwissenschaftlichen Diskurs Ober die engen Grenzen der Soziologie und Politikwissenschaft hinaus in die öffentliche Ebe ne gehoben hat.
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Verzeichnis der verwendeten Texte Michel F oucaults
ABHS: "About the Beginnings of the Hermeneutics of the Seit", in: Political Theory 2 1 , 2 ( 1 993), 198-227. AdW: Archäologie des Wissens. FrankfurtlM. 1973/1981/1 988/1994 (Paris 1 969). ÄdE: "Eine Ästhetik der Existenz" (Gespräch mit Alessandro Fontana vom Juli 1 984), in: Von der Freundschaft als Lebensweise: Michel Foucault im Ge spräch. Berlin 1984, 133- 1 4 1 . "Anti-Retro", in: Dits et Ecrits H. Paris 1994, 646-660. AR: "Autobiographie", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42 (1994), 699Au: 702. CwMF: "Conversation with Michel Foucault", in: Threepenny Review 1 (1980), 4f. DdM: Dispositive der Macht: Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin 1 978. DeE l : Dits et Ecrits: Schriften: Band 1 : 1954- 1969. FrankfurtlM. 2001 . DeE: Dits et Ecrits 1954-1988. Paris 1994, 4 Bde. (I. 1954-1 969 H. 1970- 1975 IIl. 1 976-1979 IV. 1 980-1988). DuW: Diskurs und Wahrheit: Die Problematisierung der Parrhesia. Berlin 1996. ELB: "Einleitung", zu: Ludwig Binswanger, Traum und Existenz. Bem! Berlin 1 992 (Paris 1954). ESP: "Espace, savoir et pouvoir", in: Dits et Ecrits IV. Paris 1994, 270-285. Familiäre Konflikte: Die "Lettres des cachet"; aus den Archiven der Bastille FK: im 1 8. Jahrhundert. FrankfurtlM. 1 989 (mit Arlette Farge; Paris 1982). Der Fall Riviere: Materialien zum Verhältnis von Psychiatrie und Strafjustiz. FR: Frankfurt/M. 1 975. FuS: "Freiheit und Selbstsorge: Gespräch mit Michel Foucault am 20. Januar 1984", in: Michel Foucault, Freiheit und Selbstsorge: Interview 1 984 und Vorlesung 1982, hg. von H. Becker u.a. FrankfurtlM. 1985, 7-29. FV: "Die Folter, das ist die Vernunft", in: Literaturmagazin 8 (1977), 60-68. GdS: "Geschichte der Sexualität" (Gespräch mit Franyois Ewald von 1984), in: Ästhetik und Kommunikation 57/58 ( 1985), 157-164. GdK: Die Geburt der Klinik: Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. FrankfurtlM. 1 988 (Paris 1 963). Ge: "A propos de la genealogie de l'ethique: un aperyu du travail en cours" (Ge spräch mit Hubert Dreyfus und Paul Rabinow in Berkeley), in: Dits et Ecrits IV. Paris 1994, 3 83-4 1 1 . GE: "Zur Genealogie der Ethik: Ein Überblick über laufende Arbeiten", in: H. L. -
-
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Gouv: GYT: IFDS: LdiM: Lmsl: MdM: MdR: MiE: MiE2: MuK: MuN: NFM: NGH: NzKS: NzM: OdD: OdDis: PHS: PPP: PuE: QoM: Rdc:
/ RdM:
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Rm: RüS: Sg: SKP: SudP: SuM: SuW1 : SuW2: SuW3 : TdS: TR: ÜH: ÜuS: VAM: VdG: VLK: WiA: WiA2: WieA: WiK: WuG: WuM:
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Autorinnen und Autoren
Brie/er, U1rich, Dr., Angestellter bei der Stadt Leipzig, aktuell Fellow am Kulturwis senschaftlichen Institut des Landes Nordrhein-Westfalen, Lehrbeauftragter an der Universität Leipzig. Forschungsschwerpunkte: Geschichtstheorie, Geschichte der französischen Intellektuellen im 20. Jahrhundert Bruns, C/audia, HistorikeriniStaatsexamen, Wissenschaftliche Mitarbeiterin der "Interdisziplinären Arbeitsgruppe Frauen- und Geschlechterforschung" der Uni versität Kassel; Forschungsschwerpunkte: Politische Geschichte des 1 9.120. Jahr hunderts (insb. Romantik und Konservative Revolution), Antifeminismus, Anti semitismus im 20. Jahrhundert, Geschlechter- und Männlichkeitsgeschichte, Ju gendbewegung, Sexualitätsgeschichte, Diskurstheorie, Subjekttheorie Bublitz, Hanne/ore, Professorin tur Allgemeine Soziologie, Sozialphilosophie und Grundlagen der Sozialwissenschaften an der Universität Paderbom; Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Poststrukturalistische (Diskurs-/Gesellschafts- und Ge schlechter)Theorie; Konstruktionen und Technologien von Gesellschaft, Körper und Geschlecht Dinges, Martin, Prof. Dr., stellvertr. Leiter des Instituts tur Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Stuttgart und apl. Professor tur Neuere Geschichte an der Universität Mannheim; Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Kulturge schichte der Frühen Neuzeit, Geschlechtergeschichte, Gesundheitsgeschichte der Neuzeit Finzsch. Norbert, Prof. Dr., Direktor der Anglo-Amerikanischen Abteilung des Hi storischen Seminars, Universität zu Köln; Forschungsschwerpunkte: Geschichte der African Americans, des Rassismus in den USA Krasmann, Susanne, Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut tur Kriminolo gische Sozialforschung der Universität Hamburg Martschukat, Jürgen, Dr. phiI. habil, Privatdozent und Heisenbergstipendiat am Historischen Seminar der Universität Hamburg; Forschungsschwerpunkte: Ge schichte von Gewalt und insb. Todesstrafe vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, Ge schichte der Familie, Diskurstheorie
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Möhring, Maren, Dr. des., Wissenschaftliche Assistentin am Historischen Seminar der Universität zu Köln (Lehrstuhl Neuere Geschichte); Forschungsschwerpunk te: Kulturgeschichte, Geschlechtergeschichte, Körpergeschichte Sarasin, Philipp, Prof. rur Neuere Allgemeine Geschichte an der Universität Zürich (Forschungsstelle fur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte); Forschungsschwer punkte: Körpergeschichte, Geschichte der Sexualität, Geschichte der Bakteriolo gie, Theorie der Geschichte Stieglitz, Ola/, Dr., Wissenschaftlicher Assistent an der Anglo-Amerikanischen Ab teilung des Historischen Seminars, Universität zu Köln, Forschungsschwerpunk te: Sozial- und Kulturgeschichte der USA, v.a. im Zusammenhang mit Konzepten von Geschlecht und Generation; Denunziation Stoff, Heiko, Dr. des., Postdoc-Stipendiat im Forschungsprogramm "Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus" der Max-Planck-Gesell schaft und Lehrbeauftragter am Historischen Seminar der Universität Hamburg; Forschungsschwerpunkte: Interdisziplinäre Wissenschaftsgeschichte, Körperge schichte
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