Leise spielen die Bouzukis Anne Hampson Mittelmeerträume 62 / 1 2 1999
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Leise spielen die Bouzukis Anne Hampson Mittelmeerträume 62 / 1 2 1999
gescannt von suzi_kay korrigiert von Geisha0816
Bei einem Unfall findet Colin Walling, Sallys Mann, den Tod. Ihre kurze Ehe war durchaus glücklich - die junge Witwe beschließt, nie wieder einen anderen Mann zu lieben. Selbst den Vorschlag von Colins ehemaligem Chef, dem Großgrundbesitzer Nicos Huntly, ihn zu heiraten, nur um ihm einen Erben zu schenken, lehnt sie empört ab. Doch dann erfährt sie etwas, das alles verändert: Colin hat sie betrogen, sogar ein Kind hatte er mit der anderen. Gekränkt, verletzt - plötzlich sieht Sally den Antrag von Nicos mit anderen Augen und willigt ein. Nach ihrer Blitzhochzeit besuchen sie Nicos' Großvater auf Kos. Eine zauberhafte Zeit beginnt für Sally, denn ihr Mann umwirbt sie auf romantischste Weise. Wird er ihr Herz gewinnen?
1. KAPITEL Wie ein mattgelber Ball schob sich die Sonne durch die schmale Lücke in den tiefliegenden Wolken. Dunkel und schroff zeichneten sich die heidebewachsenen Berge gegen den düsteren Horizont ab. Northumbria war vor Jahrhunderten einmal das Bollwerk gegen Schottland gewesen und konnte auf eine wilde, blutige Vergangenheit mit Raubrittern, Heldentaten und feindlichen Übergriffen zurückblicken. Die Grenzbewohner hatten damals die grausige Verwüstung nicht nur hingenommen, sondern sogar gebilligt. Überall waren Burgen entstanden, bewohnbare Festungen, hinter denen man sich verschanzen konnte. Eine von diesen Burgen war Schloß Warendyke. Das Schloß stand hoch auf einem Berg und war von prächtigen Gärten, üppigem Weideland und dichten Wäldern umgeben. An einigen Stellen ergossen sich Wasserfälle aus den Cheviotbergen in den Fluß, der sich durch das Gelände schlängelte. Schloß Warendyke ... Jetzt gehörte es Nicos Huntly, einem Nachkommen John de Feyntons, dessen Grausamkeit gegen seine Leibeigenen und Lehnsmänner sprichwörtlich war und der immer noch als John der Folterer bekannt war. Unglücklicherweise hatte Nicos Huntly nicht nur Feyntons Blut in den Adern, sondern auch noch heidnisch Griechisches in seinem Charakter, das auf George Kleanthes, seinen Großvater
mütterlicherseits, zurückging. George Kleanthes, ein steinreicher Reeder, war auf Kos, dem Geburtsort des Hippokrates, ansässig. Nicos Huntly, jetzt fünfunddreißig Jahre alt und immer noch unverheiratet, hätte es mit jedem seiner kriegerischen oder heidnischen Vorfahren aufnehmen können. Sally Walling, deren verstorbener Mann bei ihm angestellt gewesen war, kam er immer etwas ungezä hmt vor, wenn er hocherhobenen Hauptes durch die Gegend schritt. Das dichte schwarze Haar war straff aus der Stirn gebürstet. Das scharf geschnittene Gesicht hatte die hohen Backenknochen der Griechen, aber auch die kühnen Züge eines Raubvogels, die John der Folterer schon gehabt haben sollte. Nicos Huntly gehörte nicht in die heutige Welt. "Der gehört in die Zeit, als man seine Leibeigenen noch auspeitschen und seine Frau noch prügeln konnte", hatte der alte Joseph Norton einmal zu Sally gesagt. "Gut, daß er nicht verheiratet ist. Der würde jeder Frau das Leben zur Hölle machen!" "Man sollte annehmen, daß er gern einen Erben hätte. Was soll später einmal aus seinem Besitz werden?" "Den erbt seine griechische Verwandtschaft, die ohnehin schon ein riesiges Vermögen von seinem Großvater erbt!" Eigentlich schade, dachte Sally. Aber Joseph hatte recht. Nicos Huntly würde einen rücksichtslosen und herrschsüchtigen Ehemann abgeben. Er könnte eine Frau wahrscheinlich gar nicht richtig lieben und schätzen. Seine langen braunen Hände würden gewiß niemals liebevoll streicheln können. Und wie sollte sich dieser harte, schmale Mund jemals zärtlich auf die Lippen einer Frau legen? Wie wichtig das war, wußte Sally aus ihrer dreijährigen Ehe mit Colin, den sie, kurz nachdem ihre Eltern bei einem Autounfall umgekommen waren, kennengelernt hatte. Drei himmlische Jahre. Aber nun war Colin tot - schon über achtzehn Monate.
Tief in Gedanken versunken stand Sally am Fenster ihres Bungalows, der ihnen damals zugeteilt worden war, als Colin seinen Posten bei Nicos Huntly angetreten hatte. Sie mußte zugeben, daß es anständig von ihm gewesen war, sie weiter darin wohnen zu lassen. Schließlich war das Haus für Angestellte bestimmt. Die graue Januarstimmung paßte gut zu ihrer eigenen. Niedergedrückt blickte sie auf die kahlen Bäume, die trübe, vom Wind gepeitschte Landschaft und den unfreundlichen Himmel mit seinen schneebeladenen Wolken. Sally seufzte tief. Würde es in ihrem Herzen von nun an ewig Winter bleiben? Oder würde es eines Tages wieder Frühling werden? So glücklich wie vor dem Tode ihrer Eltern konnte sie natürlich niemals wieder werden. Ihre Ehe war der Himmel auf Erden gewesen, aber anfangs hatte sie auch damals ihren Kummer nicht immer ganz vergessen können. Colin hatte ihr geholfen. Und im letzten Jahr ihrer Ehe hatte sie tatsächlich wieder fröhlich lachen können. Ja, der Verlust ihrer Eltern war schlimm gewesen, aber der Tod ihres Mannes hatte sie noch viel schwerer getroffen. Manchmal war ihr, als wollte ihr das Herz brechen. Dann hatte sie plötzlich große Angst vor der Zukunft. Der Gedanke, mechanisch weiterleben zu müssen, ohne wirklich lebendig zu sein, war entsetzlich. Sie hatte ihren früheren Posten wieder erhalten. Das hatte ihr etwas geholfen und sie vor einem Zusammenbruch bewahrt. Aber die einsamen Abende, die leeren Nächte und die langen Wochenenden waren oft mehr, als sie ertragen konnte. Sally wandte sich entschlossen vom Fenster ab. Der Ausblick war zu trübselig. Das Zimmer war bedeutend gemütlicher. Den dicken roten Teppich hatten sie noch zusammen ausgesucht, ebenso die Vorhänge an den Fenstern. An der Wand über dem Kamin hing ein Bild von Bangkok in einem seidenen Rahmen.
Das Bild hatten sie in einem Antiquitätenladen aufgetrieben, wo sie auch noch einen Messingkessel gekauft hatten. Der Kessel war fast schwarz gewesen, aber Colin hatte ihn geputzt, bis er wieder wie neu aussah. Ein behagliches Heim, das sie liebevoll eingerichtet und gleich nach ihrer Hochzeitsreise bezogen hatten. Beide hatten ihre Ideen verwirklicht, beide ihm ihren Stempel aufgesetzt und alles harmonisch abgestimmt. "Nur gemütliche Sachen", hatte Colin immer wieder gesagt. "Nur Dinge, die einem mit der Zeit immer mehr ans Herz wachsen." Und nun war er tot. Für Sally war Liebe etwas, das es nur einmal gab. Colin war der erste Mann in ihrem Leben gewesen und würde auch der letzte sein, Sally sah durch die offene Küchentür und ließ den Blick über ihre blitzsaubere Küche schweifen. Die andere Tür im Zimmer führte zum Korridor, von dem die beiden Schlafzimmer abgingen. Das Haus war nur klein und sah aus wie all die anderen auf dem Rittergut - abgesehen von den alten Katen. Sally hätte viel lieber eine von den malerischen Katen gehabt, aber die waren alle vergeben gewesen, als Colin seine Stellung auf Warendyke antrat. Irgend etwas trieb Sally ins Schlafzimmer. Langsam und fast zaghaft ging sie auf das Foto auf dem Schränkchen zu. Sein liebes Gesicht mit den leuchtend blauen Augen und offenen, unkomplizierten Zügen. Kein ausgesprochen starkes Gesicht. Aber wie gut er aussah! Sally wußte, daß sie sich glücklich preisen konnte, daß ein Mann, dem die schönsten Mädchen zugeflogen waren, gerade auf sie verfallen war. Er habe eine Schwäche für goldenes Haar, hatte er ihr einmal gesagt. Und Sally hatte tatsächlich blaßgoldenes Haar, das in gewissem Licht eher silbern als golden schimmerte. Außerdem hatten es ihm ihre großen, ernsten Augen angetan.
"Diese Wimpern!" hatte er bei ihrem ersten Treffen geschwärmt. "Sind die echt?" Eine Woche später hatte er Sally geküßt. Und nun war er tot. Noch immer wollte sie es nicht wahrhaben, machte sie sich vor, daß sie aufwachen und ihren Mann friedlich schlummernd neben sich vorfinden würde. "Eigentlich müßtest du doch jetzt allmählich etwas darüber hinweg sein", hatte Leono ra, die junge Frau von nebenan, in ihrer sachlichen Art gemeint. "Die Toten sind keine Lebensgefährten." Sally war entsetzt gewesen. Ihr wären auch jetzt wieder die Tränen gekommen, wenn eine helle Kinderstimme ihre trüben Gedanken nicht unterbrochen hätte. "Darf ich reinkommen, Tante Sally?" rief ein blonder, blauäugiger Knirps. Sally wandte sich um. Das Kind hatte ihre Antwort gar nicht erst abgewartet, sondern Stand schon neben ihr. Blond und blauäugig ... War das Kind ihr womöglich deshalb so ans Herz gewachsen, weil es Colin ähnlich sah? Sie warf noch einmal einen schnellen Blick auf das Bild ihres Mannes. "Du bist ja schon drinnen, Timothy", sagte sie lächelnd und griff nach der kleinen, nicht allzu sauberen Hand. "Mummy möchte wissen, ob du eine Stunde auf mich aufpassen kannst. Sie muß Einkäufe machen." Eine Stunde? Der Bingopalast war in der Stadt, und Maria mußte mit dem Bus hineinfahren. "Ja, natürlich. Lauf und sag ihr Bescheid." "Darf ich mein Gewehr mitbringen?" "Wenn es unbedingt sein muß." Sally fiel auf, daß die Ärmel seiner Wolljacke ausgefranst waren. Sie hatte ihm die Jacke erst vor kurzem gekauft. Was hatte seine Mutter nur damit gemacht? "Und meinen Teddybären?"
Sally mußte lächeln. Es hatte ihr Spaß gemacht, ihm den Teddybären zu kaufen. Er sah genauso aus wie der, den sie früher als Kind gehabt hatte. "Ja, den kannst du mitbringen." "Ich bin gleich wieder da!" Und schon war er aus der Tür, der kleine Kerl, der mit seinen vier Jahren schon weit überdurchschnittlich intelligent war. Seine Mutter war unverheiratet und lebte mit ihrem Vater zusammen, der eine schöne alte Kate bewohnte. Die ganze Haustür war von dunkelroten Rosen umrankt. Mr. Endersley war stolz auf seinen Garten. Er war Nicos Huntlys Hauptgärtner, ließ aber seine eigenen Blumen so natürlich wie möglich wachsen. Sally mochte ihn; Außerdem tat er ihr leid. Es mußte ein ziemlicher Schlag für ihn gewesen sein, als seine Tochter plötzlich ein Kind erwartete. Sie hatte ihre Stellung aufgeben müssen und führte jetzt ihrem Vater den Haushalt. Die meisten Leute auf dem Gut behaupteten, Maria sei faul, lese zu viele Zeitschriften, rauche zu viele Zigaretten und verbringe jeden Samstagnachmittag im Bingopalast. Oft mußte Mr. Endersley, wenn er müde von der Arbeit nach Hause kam, noch die Fenster oder den Messingklopfer an der Haustür putzen. Timothy sah immer vernachlässigt aus. Und dabei kaufte Sally ihm dauernd neue Kleidung und neue Schuhe. Jedesmal, wenn er sie besuchte, mußte sie ihn erst einmal gründlich waschen. Maria selbst dagegen war immer adrett und elegant gekleidet, wenn sie ausging. "Siehst du, es hat gar nicht lange gedauert." Timothy kam in die Küche gerannt und warf sein Gewehr und seinen Teddybären auf den Boden, "Ich habe Hunger, Tante Sally", fügte er mit einem sehnsüchtigen Blick auf den Küchenschrank, in dem die Kekse aufbewahrt wurden, hinzu. "Ich mag doppelte Kekse am liebsten. Hast du noch welche?"
"Ja, da sind noch ein paar." Sallys Augen blickten traurig. Wenn sie doch nur ein Kind gehabt hätte, dann wäre das Leben vielleicht lebenswert. Dann hätte sie eine Aufgabe. "Gibst du mir welche, Tante Sally?" Timothy schaute sie erwartungsvoll an. "Und Milch möchte ich auch gern haben." "Sollst du auch." Sally ging an den Küchenschrank. "Wo ist denn dein Großvater heute?" : "Er arbeitet. Mr. Huntly hat ihn darum gebeten. Ich freue mich, daß er arbeiten muß. Ich mag es, wenn du auf mich aufpaßt. Am liebsten würde ich ganz bei dir wohnen. Wie viele Kekse sind noch da? Ich kann zählen ... Ich kann schon bis ... Oh, da sind ja noch andere. Die haben obendrauf auch Füllung." "Das ist Zuckerguß!" "Was ist Zuckerguß?" "Probier mal. Dann weißt du es." Sally beobachtete sein Gesicht, dann ging sie an den Kühlschrank und holte eine Flasche Milch heraus. "Die schmecken gut." "Hier, deine Milch. Sei schön vorsichtig damit." Er setzte sich auf den kleinen Schemel, der extra für ihn bestimmt war, und betrachtete das Stückchen Keks, das er in der Hand hielt. "Könnten wir Spazieren gehen, wenn ich die Kekse aufgegessen und meine Milch getrunk en habe?" "Ja, natürlich." Sally ging zum Fenster und schaute zum grauen Himmel hinauf. "Weit können wir aber nicht laufen. Es sieht nach Schnee aus." "Ob Mummy wohl naß wird?" "Hoffentlich nicht." Sally stand dicht neben dem Schemel. Timothy hob die Hand und legte sie liebevoll gegen ihren Rock. Automatisch umfaßte sie die kleine Hand, die noch immer den Keks festhielt. "Du bist schon ein Schatz", sagte sie leise vor sich hin. "Mummy sagt, ich bin ein Quälgeist!" Timothy schob den Keks in den Mund. "Sie hätte mich lieber meinem Vater geben
sollen, hat sie neulich zu Mrs. Kirkwood gesagt. Ist mein Vater genauso ein Daddy wie Noels Daddy?" Er nahm sich noch einen Keks vom Teller. "Noels Daddy ist nett. Ich möchte auch so einen haben. Dann könnte er mich auch Huckepack tragen!" Sally wußte, daß Maria sich bisher noch keinem Menschen anvertraut hatte. Die ganze Sache war überhaupt ein Rätsel. Zu der Zeit, als Timothy geboren wurde, soll Maria gar keinen festen Freund gehabt haben. "Beeil dich, Timothy! Trink deine Milch. Wenn wir noch Spazierengehen wollen, müssen wir jetzt gleich los." "Bin schon fertig!" Er leerte den Becher und hielt ihn Sally hin. "Darf ich die Kekse mitnehmen?" "Natürlich. Aber du hättest dir deinen Mantel anziehen sollen. Wir holen ihn lieber noch schnell. Versteckt Mummy den Haustürschlüssel noch immer im Schuppen?" "Ich glaube, ja." Maria, die Sally häufig bat, nach Timothy zu sehen, hatte ihr gesagt, daß der Schlüssel im Schuppen lag, und ihr erlaubt, jederzeit ins Haus zu gehen. Es war kalt draußen und roch nach Schnee, trotzdem schlugen sie den schmalen Pfad am Waldrand ein. "Oh, da vorn geht Mr. Huntly!" rief Timothy plötzlich. "Ob der wohl auch spazierengeht?" Der Mann hatte die helle Kinderstimme gehört und sich umgedreht. Erstaunlicherweise blieb er stehen und wartete, bis sie ihn eingeholt hatten. "Guten Tag, Mrs. Walling", begrüßte er Sally mit seiner tiefen Stimme, die zu dem strengen Gesicht und den stechenden dunklen Augen paßte. "Wie gut, daß ich Sie treffe. Ich hätte nämlich gern etwas mit Ihnen besprochen." Sein Ton klang eigentlich ganz unpersönlich, und doch hatte er etwas an sich, das alles andere als unpersönlich war. "Wäre es Ihnen möglich, heute abend zum Schloß hinaufzukommen?"
"Sie wollen etwas mit mir besprechen?" fragte Sally verdutzt. "Ist es etwas Wichtiges?" Das Schloß reizte sie nicht im geringsten. Scheußlich ungemütlich sollte es von innen sein, ungemütlich und dunkel und kalt. "Genau wie der Schloßherr selbst", hatte der alte Joseph Norton gesagt, "grimmig und kalt wie der Wind vom Nordpol." "Wenn es nicht wichtig wäre, Mrs. Walling", unterbrach Mr. Huntly ihre Gedanken, "hätte ich Sie nicht darum gebeten." Ungeduldig und mit einem merkwürdigen Blick auf das Kind setzte er noch hinzu: "Sehr wichtig sogar." Er war ein Mann, der einen einschüchtern konnte. Keine Spur von Nächstenliebe, keine Spur von Verständnis, keine Spur von Mitleid. Er war ein harter, gefühlloser Mensch, der sich selbst genügte und den nur interessierte, was ihn selbst oder sein eigenes Leben betraf. Mit seinen Angestellten verhandelte sein Verwalter. Persönlichen Kontakt zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gab es nicht. "Also gut", willigte Sally zögernd ein. Was er wohl mit ihr besprechen wollte? Ob er ihren Bungalow für einen seiner Leute benötigte? Sie wußte natürlich, daß sie kein Recht darauf hatte. "Im Augenblick braucht er ihn nicht", hatte der alte Joseph sie damals schon gewarnt. "Sobald er ihn braucht, kündigt er Ihnen, mein Kind." "Bis heute abend also?" Nicos Huntly sah zuerst sie und dann das Kind noch einmal forschend an. Warum interessierte ihn ihre Beziehung zu Timothy? Sally umschloß die kleine Hand, die so vertrauensvoll in ihrer lag, fester. "Ja, wenn Ihnen das am besten paßt", erwiderte sie und versuchte die Tatsache, daß sie nun ihr trautes kleines Heim verlassen mußte, beiseite zu schieben. "Um wieviel Uhr soll ich kommen?" "Kommen Sie doch bitte zum Abendessen", schlug er vor. "Zum Abendessen?" Sally war sofort auf der Hut. Warum in aller Welt sollte er sie zum Abendessen einladen wollen?
"Kann ich auch mitkommen?" meldete sich Timothy plötzlich aufgeregt. "Nein, Schatz", murmelte Sally beschwichtigend. "Bis dahin bist du längst im Bett." "Großvater läßt mich bestimmt aufbleiben." Sally mußte unwillkürlich lächeln und war sich der Gegenwart des Mannes im Augenblick gar nicht mehr bewußt, "Das mag sein, Timothy, aber deine Mutter erlaubt dir das ganz bestimmt nicht." "Ich möchte aber auch gern auf dem Schloß essen!" Timothy hatte der strenge, düstere Ausdruck auf dem kantigen Gesicht überhaupt nicht gestört. "Ich habe Hunger, Mr. Huntly. Warum kann ich nicht auch bei Ihnen essen?" "Es fängt gleich an zu schneien", sagte Sally hastig. "Komm, Schatz, wir sollten sehen, daß wir schnell nach Hause kommen." "Ich erwarte Sie dann also um halb acht", sagte er ihr kurz und machte sich wieder auf den Weg. Warum habe ich mich eigentlich so feingemacht? fragte Sally sich etwas unsicher. Hatte sie vielleicht unbewußt seine gesellschaftliche Stellung mit in Betracht gezogen? Er war schließlich nicht gerade unbedeutend. Er war wohlhabend, gebildet und der Nachkomme einer alten, aristokratischen Familie. Man schuldete ihm eben doch einen gewissen Respekt, mochten sich die Leute auf seinem Gut noch so sehr über ihn beklagen. Er wäre zu herablassend, meinten sie immer wieder, nähme sich selbst zu wichtig und verhielte sich ihnen gegenüber so, als wären sie alle Lehnsmänner, die ihm zu Gehorsam verpflichtet wären. Und doch hatten sie Achtung vor ihm und mußten zugeben, daß er seine Leute gerecht behandelte und nicht mehr von ihnen verlangte, als sie leisten konnten. Außerdem gab er ihnen längeren Urlaub und zahlte höhere Löhne als die anderen Gutsbesitzer in der Gegend. Und wenn jemand krank oder in Not war, zeigte er sich immer großzügig. Ja, gab Sally im stillen
zu, während sie sich das Haar mit Parfüm besprühte, Nicos Huntly hatte auch seine guten Seiten und wurde darum allgemein respektiert. Das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegensah, hatte einen schönen Teint, war aber etwas schmal und blaß. Die großen grauen Augen, deren Glanz Colin immer so bewundert hatte, blickten traurig und versonnen. Nur wenn sie Timothy um sich hatte, konnte Sally ihren Kummer manchmal für kurze Zeit vergessen. Oft konnte sie es kaum fassen, daß sie so begeistert mit ihm lachen und spielen und in den Wäldern herumtollen konnte. Und wie gern sie ihr Geld für ihn ausgab. Kurz vor Weihnachten, als sie ihm all das Spielzeug gekauft hatte, war sie ganz wehmütig geworden und hatte sich vorgemacht, daß sie für ihr eigenes Kind kaufte. Sally warf einen letzten Blick in den Spiegel und mußte plötzlich an den Tag zurückdenken, an dem sie das Kleid zum letzten Mal getragen hatte. Das dunkellila Samtkleid. "Wie eine Königin siehst du aus", hatte Colin geflüstert, als er sie vor dem Spiegel im Schlafzimmer stehen sah. "Eine Königin, die nur mir gehört und die mir lieb und teuer ist." Ein Kollege des alten Mr. Walling hatte damals zu Ehren seiner Tochter ein Essen mit anschließendem Ball gegeben. Die Tochter hatte im Ausland geheiratet und wollte ihren Mann vorstellen. Mr. Walling hatte Sally und Colin eine Einladung zu diesem Fest verschafft. "Du stellst bestimmt alle in den Schatten", hatte Colin vorausgesagt und recht behalten. Das Kleid war lang, hatte einen ganz weiten Rock und eine enge Taille. Es war am Hals hochgeschlossen und wirkte mit seinen langen, lose fallenden und mit Goldborte verzierten Ärmeln geradezu mittelalterlich. Wahrscheinlich ist das Kleid genau richtig für heute abend, sagte Sally sich, als sie nach der passenden Abendtasche griff, die auf dem Stuhl neben ihr bereitlag.
Sally hatte einen kleinen Wagen, fuhr damit aber nur ins Büro und wieder nach Hause. Fünf Kilometer hin und fünf Kilometer zurück. Der Wagen hatte Colin gehört, und jedesmal, wenn sie sich ans Steuer setzte, spürte sie den Schmerz ungeweinter Tränen hinter den Augen. Heute abend plagte sie plötzlich ein ganz anderes Gefühl eine Art Vorahnung. Kaum hatte sie sich in den Wagen gesetzt und den Motor angelassen, als sie unwillkürlich an ihre Eltern denken mußte. Hemmungslos hatte sie sich damals ihrem Schmerz ergeben, sich verzweifelt und willenlos treiben lassen bis Colin in ihr Leben getreten war und sich alles geändert hatte. Sie hatte Colin die Führung übergeben, ihm alle wichtigen Entscheidungen überlassen. Sie war von Natur aus ausgesprochen schüchtern, aber unter seiner liebevollen Obhut war sie aufgeblüht. Doch jetzt war sie wieder allein und wehrlos - wie ein Blatt im Wind. Und nun, während sie den Wagen vorsichtig aus der Garage fuhr, ha tte sie diese seltsame, unerklärliche Vorahnung, daß sie von jetzt an dem Leben mehr denn je preisgegeben sein würde. Es schneite schon eine Zeitlang. Dicke, weiche Flocken schwebten herunter, glitzerten im Scheinwerferlicht und sammelten sich auf der Wind schutzscheibe. Wie ein weißes Band schlängelte sich die Straße durch die dunklen Hecken zu beiden Seiten. Nur das Motorengeräusch ihres Wagens durchbrach die Stille. Was für ein trostloser Abend, ging es Sally durch den Kopf. Warum habe ich die Einladung überhaupt angenommen? Trotz der erleuchteten Fenster und grellen Lampen über dem Vorhof hatte das Schloß etwas Unheimliches an sich. Sally war, als hätte eine unsichtbare Hand in ihr Schicksal eingegriffen. Ihr graute vor dem finsteren Schloß, das früher einmal die Burg der grausamen Ritter von Warendyke gewesen war. Und doch lenkte sie den Wagen weiter die Allee mit den uralten Eiben entlang, die alles noch dunkler machten.
Trotz des warmen Kleides und des langen schwarzen Samtcapes war ihr kalt. Das Cape hatte eine Kapuze, die aber das goldene Haar nur halb bedeckte. Sally wußte nicht, daß sie wie ein Wesen aus einer längst vergangenen Welt wirkte. Jetzt hatte sie das alte schmiedeeiserne Tor erreicht. Kaum hatte sie den Wagen geparkt, als der Butler auch schon das riesige Portal öffnete. "Guten Abend, Mrs. Walling", begrüßte er sie. "Kein schöner Abend, wenn man ausgehen muß." Während er die schwere Tür wieder schloß, sah Sally sich in der großen Halle um. Ringsum an den Wänden hingen Waffen, Rüstungen, Geweihe und alte, wertvolle Gobelins. Möbliert war die Halle mit wuchtigen Truhen und schweren antiken Möbeln. Sally dachte an ihr gemütliches kleines Heim und erschauerte unter ihrem Cape. Der Butler wollte es ihr gerade abnehmen, als der Schloßherr ihm zuvorkam.
2. KAPITEL "Guten Abend, Mrs. Walling", begrüßte Nicos Huntly Sally mit seiner ruhigen, aber wie immer etwas scharfen Stimme. "Sind Sie gut hergekommen?" "Es schneit noch nicht allzu lange", entgegnete Sally befangen, als hätte sie eine Art Gott vor sich. Sie mußte daran denken, daß er auch griechischer Abstammung war. Sie hatte keine Ahnung, wie es heutzutage in Griechenland zuging, aber in der griechischen Mythologie wußte sie ziemlich gut Bescheid. Schüchtern schaute sie zu dem braunen Gesicht auf. Die harten, dunklen Augen musterten sie, als entginge ihnen nichts, nicht einmal, was sich in den tiefsten Tiefen ihrer Seele abspielte. Der leicht zitternde Mund verriet, wie unsicher sie sich fühlte. Trotzdem blieb das Gesicht des Mannes streng, die Augen ungerührt, als er die Hand nach ihrem Cape ausstreckte. Sally wich zurück, damit seine Finger ihren Hals nicht berührten. Er hatte die Antwort auf seine Einladung gar nicht erst abgewartet. Sie hatte gehorcht, obgleich sich innerlich bei ihr alles dagegen gesträubt hatte, einen ganzen Abend in dieser beklemmenden Umgebung zuzubringen - noch dazu mit einem Mann, den noch niemand hatte lächeln sehen. Ob er als Kind wohl mal gelächelt hatte? "Hier hinauf", sagte Nicos Huntly und führte Sally erst die prächtige Treppe hinauf und dann durch eine reichgeschnitzte Tür in das getäfelte Speisezimmer.
"Wie schön", murmelte Sally überrascht und blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen. Ihr Blick war an der wunderbaren Deckenmalerei haftengeblieben. Der Maler hatte es an Gold nicht, fehlen lassen. Überall blitzte und leuchtete es. An den Wänden hingen Gemälde von Rubens, Tizian und van Jyck. Die schmalen Streifen zu beiden Seiten der großen Fenster waren mit dunkelroter Seide tapeziert. Unten in der Ecke eines kostbaren Brüsseler Gobelins konnte man die Jahreszahl 1614 lesen. Auf zwei Tischen mit reichen Intarsien standen wertvolle Bronzevasen, in einer Vitrine Sevre- und Chelsea-Porzellan. "Sie sehen so verwundert aus", unterbrach Nicos Huntlys Stimme Sallys verträumtes Staunen. "Man hat mir immer erzählt", entgegnete sie schüchtern lächelnd, "daß das Schloß düster und ziemlich deprimierend sei." "Der größte Teil ist auch düster", meinte er und bot ihr einen Stuhl an. "Aber ein paar Zimmer sind - sagen wir - bewohnbar." Sally setzte sich auf die äußerste Stuhlkante. "Dieses Zimmer ist wirklich schön." "Sie finden dies alles schön?" fragte er mit einem Blick auf die Ölgemälde, die Gobelins und den marmornen Kamin. "Sie würden also all dies gerne um sich haben?" "Immer um mich haben möchte ich es nicht, Mr. Huntly", erwiderte Sally zögernd, aber aufrichtig. "Aber bewundern kann ich es deshalb trotzdem." Nicos Huntly trug einen schwarzen Smoking, der seine große, kräftige Erscheinung gut zur Geltung brachte. Trotz des finsteren, strengen Ausdrucks hatte das Gesicht etwas Anziehendes an sich, das Sally bisher noch niemals bemerkt hatte. "Was möchten Sie trinken, Mrs. Walling?" fragte er sie höflich.
Sally wollte schon den Kopf schütteln, fing aber seinen ungeduldigen Blick auf und bat um einen Sherry. Er brachte ihr einen trockenen, gut gekühlten Sherry in einem Kelchglas. Sie sah, daß er dasselbe trank, und beobachtete ihn, wie er das Glas zur Seite neigte und das Licht darin auffing. Sie war immer noch befangen und wünschte, er würde endlich zur Sache kommen. "Schmeckt Ihnen der Sherry, Mrs. Walling?" erkundigte er sich höflich. "Ja, danke, sehr gut." "Wir unterhalten uns lieber später beim Essen etwas gründlicher", meinte er, als hätte er ihre Gedanken erraten. "In etwa zehn Minuten wird aufgetragen. Mögen Sie Entenbraten, Mrs. Walling?" "Sehr gern", erwiderte Sally. "Fein. Meine Köchin versteht sich nämlich auf Entenbraten." Und auf jedes andere Gericht wahrscheinlich auch, setzte Sally im stillen hinzu. Denn sonst hätte sie ihren Posten längst nicht mehr. Für Nicos Huntly mußte alles erstklassig sein. Auch das Speisezimmer war eine Überraschung. Es war sehr viel kleiner, als Sally es sich vorgestellt hatte. "Ist dies das Zimmer, in dem Ihr Vater seine berühmten Essen gegeben hat?" fragte sie erstaunt, als Nicos Huntly sie hineinführte. "Nein, Mrs. Walling, das eigentliche Speisezimmer ist zwanzig Meter lang", entgegnete er. "Ein riesiger Speisesaal aus dem vierzehnten Jahrhundert. Mir persönlich gefällt dieses Zimmer, das früher einmal das Boudoir der Schloßherrin gewesen ist, bedeutend besser!" Hatte das Wort Schloßherrin höhnisch geklungen? Nicos Huntly sollte noch niemals verliebt gewesen sein, sollte alle Frauen für leichtsinnig und kokett halten und ihre Eitelkeit unerträglich langweilig finden. All dies hatte er einmal in
Gegenwart eines Pächters verlauten lassen. Und der Pächter hatte es natürlich prompt weitererzählt. "Einen zwanzig Meter langen Speisesaal kann man sich kaum vorstellen", meinte Sally überwältigt. "Eigentlich ist es unser Festsaal. Sie sehen ihn nachher noch." "Aber warum denn?" fragte sie unwillkürlich. Der ganze Abend war ihr ein Rätsel. Er hatte völlig unpersönlich gesprochen, als er sie einlud, und doch hatte seine Stimme verraten, daß die Angelegenheit alles andere als unpersönlich war. Ohne auf ihre Frage einzugehen, zog Nicos Huntly schweigend ihren Stuhl heraus und bedeutete ihr, Platz zu nehmen. Sally, der die Knie ein wenig zitterten, setzte sich hastig. Irgendwie spürte sie, daß das, was er mit ihr besprechen wollte, nichts mit ihrem Bungalow zu tun hatte. Sie konnte aber im Augenblick nicht weiter darüber nachdenken, denn Carson, der Butler, servierte den ersten Gang. Da Nicos Huntly sich freundlich und gelassen mit ihr unterhie lt, schmeckte der geräucherte Lachs Sally besser, als sie es für möglich gehalten hätte. Aber die Härte in seiner Stimme hatte sich keineswegs verloren, und als ihr der zweite Gang, die Suppe, vorgesetzt wurde, kam auch die Frage, die sie vollkommen aus der Fassung brachte. "Ihr Mann ist jetzt achtzehn Monate tot, nicht wahr, Mrs. Walling?" Sally zerkrümelte ihr Brötchen zwischen den Fingern. "Ja, das stimmt, Mr. Huntly." "Dann sind Sie wohl schon etwas darüber hinweg?" Es war eher eine Feststellung als eine Frage. Er hatte es derartig sachlich gesagt, daß Sally, die sonst sehr gutmütig war, es ihm gründlich übelnahm. "Bei einer Liebe, wie sie zwischen uns bestand, kommt man niemals darüber hinweg, Mr. Huntly", entgegnete sie steif und
wunderte sich, warum sein Blick plötzlich so ärgerlich geworden war. Sie nahm ihren Löffel und kostete die Suppe. "Sie lieben Colin also immer noch?" fragte er, als ob er es kaum glauben könne. Aber wie sollte er sie denn auch verstehen können? Er war doch noch niemals verliebt gewesen - und könnte sich wahrscheinlich auch niemals verlieben. "Gefühle sind wichtig", fuhr er fort. "Aber man darf nicht vergessen, daß sie immer von der geistigen Einstellung abhängig sind." "Wenn Sie einsehen, daß Gefühle wichtig sind, sollten Sie mich eigentlich verstehen können, Mr. Huntly." "Woher wissen Sie denn, daß ich Sie nicht verstehe, Mrs. Walling?" Er hatte den Blick abgewandt und beobachtete Carson, der gerade eine Flasche Wein aus dem Eiskübel nahm und sie geschickt entkorkte. "Sie können mich nicht verstehen. Sie waren doch niemals verheiratet", erwiderte Sally ruhig. Er probierte den Wein und konzentrierte sich voll und ganz auf sein Glas. "Vielleicht haben Sie recht, Mrs. Walling", sagte er schließlich betont gelassen. "Nachfühlen kann man Ihnen den Schmerz, den Sie durchgemacht haben, wohl nur, wenn man selbst lieben könnte." Diesen Schmerz empfinde ich heute noch, wollte Sally hinzufügen, sagte sich aber, daß es zwecklos sein würde, ihn darauf aufmerksam zu machen. Nachdem Carson den Wein eingeschenkt und das Zimmer wieder verlassen hatte, hob Nicos Huntly sein Glas und blickte Sally in die Augen. "Auf die Zukunft!" sagte er. "Für mich gibt es keine Zukunft mehr, Mr. Huntly." "Auf die Zukunft, Mrs. Walling ... Ihre und meine." Ersah sie an. "Wie bitte?"
"Trinken Sie!" befahl er leise. Sally gehorchte ihm stillschweigend. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich jemandem so ausgeliefert gefühlt. Dieser Mann beherrschte die ganze Situation, in die sie völlig gegen ihren Willen hineingeraten war. "Ich hoffe, Sie werden eines Tages wieder heiraten wollen, Mrs. Walling." Beinahe beiläufig hatte er das gesagt. Sally war fassungslos, wußte aber sofort, was er mit den Worten gemeint hatte. Bestürzt starrte sie ihn an. Das Glas in ihrer Hand begann gefährlich zu schaukeln. Seelenruhig nahm er es ihr ab. "Das ist doch nicht Ihr Ernst, Mr. Huntly?" fragte sie leise, als sie endlich wieder etwas klarer denken konnte. "Sie wissen genau, daß es mein Ernst ist. Ich muß bald heiraten. Ich möchte einen Erben haben. Aber das ist nicht der einzige Grund, Mrs. Walling. Sie stehen ganz allein auf der Welt, und..." "Bitte, Mr. Huntly!" Sally schüttelte energisch den Kopf und hob abwehrend die Hand. "Sie können mich doch nicht einfach so heiraten wollen. Sie kenne n mich ja nicht einmal. Außerdem bin ich Ihnen nicht ebenbürtig. Und ich liebe meinen Mann und werde ihn bis in alle Ewigkeit weiterlieben..." Sie stockte. "Ich werde niemals wieder heiraten ..., niemals." "Sie sagen, Sie lieben Ihren Mann." Seine Stimme klang entsetzlich nüchtern. "Aber Sie haben keinen Mann mehr." Er beobachtete sie ungerührt, als ihr die Tränen in die Augen traten. "Wenn Sie, wie Sie sagen Colin immer noch lieben, lieben Sie seinen Geist. Er selbst ist nicht mehr da." "Bitte", flehte Sally und wischte sich schnell eine Träne ab, die sie trotz aller Selbstbeherrschung nicht zurückhalten konnte. "Sie tun mir weh. Sie haben keine Ahnung, wie weh Sie mir tun!" Jetzt mußte sie ihren Tränen freien Lauf lassen. Immer wieder entschuldigte sie sich, während ihr die Tränen die Wangen hinunterliefen.
Nicos Huntly war unbeeindruckt geblieben, aber als er sprach, war seine Stimme nicht mehr ganz so schroff, der Blick in den dunklen Augen nicht mehr ganz so hart. "Man soll seinem Herzen manchmal Luft machen, Mrs. Walling. Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Aber trocknen Sie sich lieber jetzt die Tränen. Carson bringt gleich den nächsten Gang." Sally nahm ihr winziges Spitzentaschentuch aus der Abendtasche und tupfte sich die Augen ab. Es war viel zu klein, aber sie behielt es krampfhaft in der Hand. Plötzlich reichte Nicos ihr sein großes Taschentuch. Sie konnte es kaum glauben, nahm das Tuch aber dankbar an. "Danke, Mr. Huntly", stotterte sie. "Es tut mir wirklich furchtbar leid." Ihre Auge n schimmerten immer noch feucht, aber sie warf ihm einen dankbaren Blick zu. Wie hätte er ihr ihren schweren Verlust auch nachfühlen können? Wie hätte er wissen können, wie lebenslustig sie früher gewesen war? "Sie hätten meinen Mann nicht erwähnen sollen, Mr. Huntly. Sie können sich nicht vorstellen, was die Erinnerung an ihn mir bedeutet. Wir haben uns sehr geliebt ..." Sally unterbrach sich. Dieser Mann, so objektiv er sich auch geben mochte, mußte die Worte, die sie da eben ausgesprochen hatte, lächerlich finden. "Ganz so herzlos, wie Sie annehmen, bin ich nicht, Mrs. Walling", erwiderte er kurz, aber keineswegs vorwurfsvoll. "Aber eins steht fest: Sie können nicht Ihr ganzes Leben einer Erinnerung weihen. Das wäre nicht nur unnatürlich, sondern würde Sie auch zugrunde richten." Er hob gebieterisch die Hand, als Sally ihn unterbrechen wollte. "Begreifen Sie denn nicht, daß Sie einen langsamen Tod sterben dort unten in Ihrem Bungalow?" "Ich möchte aber doch gern sterben!" "Ich glaube Ihnen, daß der Tod Ihnen willkommen wäre. Aber ist Ihnen noch gar nicht aufgegangen, daß dieser Wunsch auf Feigheit beruht?" Die dunklen Augen musterten sie kritisch.
Sally war tief gekränkt, wollte ihn aber lieber nicht beleidigen. Schließlich wohnte sie auf seinem Besitz. "Was in mir vorgeht, Mr. Huntly", sagte sie ruhig, aber bestimmt, "geht nur mich etwas an. Könnten wir jetzt nicht von etwas anderem reden?" Als Carson erschien, hatten weder Nicos Huntly noch Sally ihre Suppe angerührt. Nicos schickte ihn vorläufig wieder zurück. "Wie gesagt, Mrs. Walling, ich habe es ernst gemeint, als ich Ihnen vorschlug, daß wir heiraten sollten. Ich hätte diesen Schritt schon längst unternommen. Aber eine Frau, die sich an mich klammern würde, die dauernd beachtet werden müßte, würde mich nicht nur langweilen, sondern mich zu Maßnahmen treiben, die ich möglicherweise bereuen könnte." Er hielt inne, als wollte er ihr Gelegenheit geben, seine Worte zu überdenken - was Sally auch prompt tat. Was meinte er mit Maßnahmen? Würde er seine Frau schlagen? Ob er ein solches Verhalten jedoch bereuen würde, wollte Sally lieber dahingestellt sein lassen. "Sie sehen", fing er schließlich wieder an, "daß ich eine Frau brauche, die lediglich meinem Haushalt vorsteht und meinen Kindern eine Mutter ist!" Sally konnte die Dreistigkeit, mit der er das sagte, einfach nicht fassen. Doch was sie am wenigsten begreifen konnte, war die Tatsache, daß er es wirklich ernst meinte. Sie mußte ihn ein für allemal von dem Gedanken abbringen. "Ich kann Sie nicht heiraten, Mr. Huntly", sagte sie entschieden. "Es wäre lächerlich!" "Lächerlich kommt es Ihnen nur vor, weil Sie noch nicht darüber nachgedacht haben. Lassen Sie es sich durch den Kopf gehen. Und nun wollen wir uns unser Essen schmecken lassen!" Sein Ton war anmaßend und ließ keine Widerrede zu. Warum stehe ich eigentlich nicht einfach auf und gehe? fragte
Sally sich, während sie ihn verstohlen beobachtete. Er war die Ruhe selbst, und er war sich seiner Sache viel zu sicher. Als er ihr zutrank, fiel Sallys Blick unwillkürlich auf das störrische schwarze Haar. Es war typisch griechisches Haar und würde sich bestimmt wie Draht anfühlen, wenn man es berührte. Und die Stirn ... Man mußte sofort an die Statuen in den Museen denken. Ob er sich wohl manchmal als Grieche betrachtete? Er war nur zum Teil griechisch, aber der griechische Einschlag ließ sich nicht leugnen. Wie im Traum kam sie sich vor, als die üppig garnierte, knusprig gebratene Ente serviert wurde und Carson ihr eine große Portion vorlegte. Und jetzt sollte sie sogar auch noch essen. Wie konnte sie? Sie war doch ganz durcheinander. Aber genau wie früher gab sie nach, ließ sich auch jetzt wieder führen - nur daß es diesmal gegen ihren Willen geschah. Es war anders als damals, als sie Colin, dem zuliebe sie alles getan hätte, die Führung überlassen hatte. Oder war sie etwa auch damals schon zu nachgiebig gewesen? Nein, eher apathisch nach dem Tod ihrer Eltern. Und nun war sie schon wieder apathisch. Bei Colin hatte es nichts ausgemacht. Sie hatten sich ja geliebt, und da hatte es sie nicht gestört, daß er sie gelegentlich ein bißchen auf Trab gebracht hatte. "Schmeckt Ihnen die Ente?" unterbrach Nicos Huntlys Stimme ihre Gedanken. "Ja, danke, Mr. Huntly." "Nennen Sie mich Nicos." Wieder klang seine Stimme so, als erteile er ihr einen Befehl. "Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß ich Ihnen nicht ebenbürtig bin, Mr. Huntly", lehnte Sally sein Angebot ab. "Und wer entscheidet, wer wem ebenbürtig ist?" Sally blinzelte ihn mißtrauisch an. "Sie halten sich bestimmt für hoch erhaben über mich", sagte sie etwas zu voreilig.
"Hielte ich mich für hoch erhaben über Sie, hätte ich Sie nicht gebeten, mich zu heiraten." Er blickte vorwurfsvoll auf ihren Teller. "Ihr Essen wird kalt." Sally holte tief Luft und versuchte, sich nur noch auf ihr Essen zu konzentrieren. Sie wollte nicht mehr an seinen absurden Vorschlag denken. Und doch konnte sie ihre Phantasie nicht in Schach halten. Sie sah sich schon auf diesem düsteren Schloß mit seinen trostlosen, feucht und modrig riechenden Räumen. Abend für Abend würde sie diesem strengen, abweisenden Mann gegenübersitzen, diesem hochmütigen Aristokraten, der selbst zugab, daß er sie bestrafen würde, wenn sie sich ihm widersetzen oder gar eigene Ansprüche stellen würde. Jahrelang würde sie hier immer mehr verkümmern und nur noch an Colin zurückdenken. Und was die physische Seite betraf ... Sally war unwillkürlich zusammengezuckt. Nein, das würden ihre Nerven nicht durchhalten. Von einem Mann geliebt zu werden, der überhaupt nicht in sie verliebt war! Und nur weil dies grausige Schloß, in dem es soviel Mord und Totschlag gegeben hatte, einen Erben haben mußte. Als Nicos Huntly sie forschend ansah, schnitt sie betroffen ein Stückchen Ente ab und steckte es hastig in den Mund. Sie hatte Angst vor ihrer eigenen Phantasie - und vor einem völlig neuen Gedanken: Wenn sie ein Kind hätte, das sie liebhaben könnte ... Nein! Nicht von ihm! Sie wollte kein Kind, das von Barbaren abstammte! "Fehlt Ihnen etwas?" unterbrach Nicos' Stimme ihre schaurigen Gedanken. "Nein, Mr. Huntly", beruhigte sie ihn und lächelte krampfhaft. "Die Ente ist herrlich." "Dann gefällt Ihnen also unser Abendessen hier?" "Sehr sogar!" Und solange es sich nur um das Essen handelte, war die Antwort durchaus ehrlich gemeint. Was jedoch seine Gegenwart betraf ... Hoffentlich ging der Abend bald zu Ende.
"Tante Sally, bist du zu Hause?" "Ja, Schatz, komm herein!" Es war Samstag, und Maria wollte wie gewöhnlich in die Stadt. Mr. Endersley mußte heute nachmittag arbeiten. Sally hatte ihn vorhin schon auf dem Feld gesehen. "Mummy sagt, ich darf eine Stunde bei dir bleiben. Sie muß Fleisch für morgen kaufen. Sonntags kocht Großvater immer. Und das schmeckt!" "Ja, Schatz, du kannst bleiben? " "Können wir draußen spielen, Tante Sally? Im Wald ist noch eine ganze Menge Schnee!" Sally mochte den dunklen Tannenwald nicht. So ganz ohne Unterholz kam er ihr manchmal geradezu heimtückisch und unheimlich vor mit all seinen Sümpfen und Teichen, die jetzt zugefroren waren. "Wir wollen lieber Spazierengehen, ja?" "Die Kekse mit dem Zuckerguß mag ich am liebsten!" Timothy setzte sich auf seinen Schemel und sah sie erwartungsvoll an. Wieder versetzte ihr die unbegreifliche Ähnlichkeit mit Colin einen Stich. "Hast du noch welche davon, Tante Sally?" "Ja, Herzchen, ich habe noch welche." "Und einen Becher Milch bitte. Ich habe Mummy gesagt, daß ich Durst habe, aber sie hatte keine Zeit!" Sally reichte ihm die Kekse und gab ihm einen Becher Milch. Sie beobachtete ihn liebevoll, wie er sich auf seine Milch stürzte. Hätte sie ein eigenes Kind, würde es bestimmt genauso viel Liebe ausstrahlen wie dieser kleine Kerl hier, der leider bei seiner Mutter so leer ausging. Glücklicherweise liebte sein Großvater ihn heiß und innig. Außerdem hatte er auch noch eine Tante, die er gern hatte und die die Endersleys mindestens einmal im Monat besuchte. "Du hast ja schon wieder keinen Mantel an, Timothy!" "Mummy sagte, ich sollte so loslaufen. Sie hatte es sehr eilig!" Timothy kaute geräuschvoll seinen Keks. "Sie cremt sich
immer das Gesicht ein. Die Creme riecht gut, aber essen kann man sie nicht!" "Nein, ganz bestimmt nicht", sagte Sally lächelnd. "Ich hole dir schnell deinen Mantel und lieber auch noch eine Wolljacke. Bleib schön artig sitzen und iß deinen Keks!" Timothy lächelte sie verschmitzt an. "Du meinst, daß ich das hübsche kleine Pferd im Wohnzimmer nicht anfassen soll, weil ich es hinfallen lassen kann." "Genau, Timothy." "Weil dein Daddy es dir zum Geburtstag geschenkt hat. Das hast du mir doch schon gesagt. Das Bild von deine m Daddy mag ich gern, aber ich habe ihn noch nie gesehen, weil er immer verreist ist. Er ist doch verreist, Tante Sally?" . "Ja, Schatz." Sally nickte eifrig. "Ich habe Mummy erzählt, daß er verreist ist, aber sie sagt, er ist tot." Sally drehte ihm schnell den Rücken zu. "Ich mache die Tür zu. Es ist kalt draußen. Ich bin gleich wieder da." Als Sally die Kate erreicht hatte, wollte Maria gerade gehen. "Tag, Sally", rief sie. "Kann er heute nicht bei dir bleiben?" "Doch, natürlich. Ich will nur seinen Mantel und eine Wolljacke holen. Wir wollen etwas laufen, und es ist furchtbar kalt draußen." Maria hatte ein hübsches ovales Gesicht, große blaue Augen und einen schön geschwungenen Mund. Der Kragen ihres eleganten Mantels war geschmackvoll mit Pelz besetzt, und die Schuhe und Handtasche paßten genau zu dem schicken kleinen Wildlederhut. Ein schönes Mädchen. Ein Jammer, daß irgendein Mann ihr so das Leben verpfuscht hatte. "Timothy ist abgehärtet: Der braucht keine Wolljacke." Maria hatte es offensichtlich sehr eilig, aber Sally bestand auf der Wolljacke. "Ich hole mir die Sachen schon, wenn du es eilig hast, Maria."
Maria streifte Sally, wie oft in letzter Zeit, mit einem merkwürdigen Blick. "Sein Mantel hängt im Schrank unter der Treppe." "Und die Wolljacke?" Sally ließ nicht locker. "Er hat im Augenblick keine. Jedenfalls keine, die er anziehen kann. Sie müssen alle erst gestopft werden. Heute muß es eben mal ohne gehen!" Unwillkürlich ließ Sally den Blick über Marias elegante Aufmachung gleiten. "Aber ich habe ihm doch neulich erst eine neue gekauft, Maria. Soviel ich weiß, ist sie an den Ärmeln etwas ausgefranst, aber sonst geht sie doch noch. Ich bessere sie gern aus, wenn du willst." "Sie ist mir beim Trocknen verbrannt!" "Verbrannt?" wiederholte Sally. "Wie ist denn das passiert?" "Ich habe es nicht so modern wie du, Sally", entgegnete Maria gehässig. "Ich muß meine, Wäsche auf einem Ständer vor dem Kamin trocknen. Wenn du so um ihn besorgt bist, kannst du ihm ja eine neue kaufen. Du hast deinen Wagen. Du bist in zehn Minuten in der Stadt. Ich bin auf den Bus angewiesen und habe weder eine Stellung noch Geld." Sie brach ab und lief wütend den Pfad zur Straße hinunter. Sally war fassungslos. Maria hatte gesprochen, als täte Sally nur ihre Pflicht und Schuldigkeit, wenn sie Timothy Kleidung kaufte. Betroffen ging sie durch die Tür, die Maria für sie offengelassen hatte, in das winzige Wohnzimmer. Der riesige Kater, der sich vor dem Kamin räkelte, sah sie verschlafen an. Sally holte den Mantel, schloß die Haustür ab und legte den Schlüssel in den Schuppen. Als sie die Schuppentür hinter sich zumachte, war sie immer noch tief in Gedanken. Warum war Maria so unfreundlich zu ihr gewesen? Eigentlich hatte sie schon eine ganze Weile irgend etwas gegen sie gehabt, aber heute war es richtig mit ihr durchgegangen. Und dabei hatte Sally großes Mitleid mit dem Mädchen, das unverheiratet ein Kind großziehen mußte. Man
konnte es ihr kaum verdenken, daß sie manchmal unzufrieden war. Aber das entschuldigte ihr ungezogenes Benehmen nicht. "Das hat aber lange gedauert", begrüßte Timothy sie befangen, als sie durch die Hintertür ins Haus kam. "Ich bin ganz artig gewesen", fügte er hinzu, hockte aber ziemlich verängstigt auf seinem Schemel. Sofort fiel Sally das Porzellanpferdchen ein. Timothy ließ sie nicht aus den Augen, als sie auf die Wohnzimmertür zuging. "Es ist von allein runtergefallen!" rief er schon kläglich, als sie noch gar nicht im Zimmer war. "Ich habe es gar nicht angefaßt, Tante Sally." Das Pferdchen war auf der gekachelten Kaminumrandung gelandet und lag zerbrochen am Boden. Sally kamen die Tränen, als sie die Scherben aufsammelte. Es war das erste Geschenk, das Colin ihr gemacht hatte, und das erste Stück, das ihr in ihrem Heim zerbrochen war. "Timothy ..." Sie sah ihn vorwurfsvoll an. Er war von seinem Schemel aufgestanden und war offensichtlich genauso traurig wie sie. "Du hast mir doch versprochen, daß du es niemals anrühren würdest wenn ich nicht da bin." Timothys Unterlippe zuckte verdächtig. "Ich wollte es doch nur streicheln ..." Sally wußte, daß sie selbst Schuld hatte, und doch machte sie irgendwie Maria dafür verantwortlich. Warum hatte sie Timothy nicht gleich seinen Mantel angezogen? "Bist du böse, Tante Sally?" fragte Timothy, dem Weinen nahe. "Nein, Timothy, ich bin nicht böse", entgegnete sie und gab ihm rasch einen Kuß. "Aber du darfst es nicht wieder tun!" "Nein, Tante Sally, ich fasse nie wieder was an. Gehen wir nun spazieren?" Sally legte die Scherben auf das Lackbrett. Ob man sie wohl wieder zusammenkleben könnte? Sie konnte sich einfach nicht überwinden, die Scherben in den Ascheimer zu werfen.
Wie froh sie war, daß sie das Kind nicht gescholten hatte. Wie könnte man den Lebenden den Toten zuliebe weh tun? Nein, das durfte man nicht. Einem kleinen Jungen weh tun, weil er aus Versehen ein Geburtstagsgeschenk zerbrochen hatte? Nein, das hätte Colin niemals zugelassen.
3. KAPITEL "Komm, Schatz, zieh deinen Mantel an." Sally hielt ihm den Mantel hin. "Wollen wir jetzt Spazierengehen, Tante Sally?" "Nein, Timothy, wir gehen in die Stadt - zum Einkaufen." "Kaufst du mir dann auch Bonbons?" "Wenn du artig bist." "Geleebonbons mag ich am liebsten. Und eine Tafel Schokolade möchte ich auch gern haben." Timothy knöpfte sich umständlich den Mantel zu. Sein Gesicht und seine Hände waren heute ausnahmsweise sauber. "Fahren wir mit dem Bus in die Stadt, Tante Sally?" "Nein, mit dem Wagen." Timothy strahlte. "Darf ich neben dir sitzen, Tante Sally?" "Das kannst du." Sally holte ihren Mantel und ihre Handtasche. "Aber nur, wenn du ganz stillsitzt." "Wenn ich nicht stillsitze, machen wir einen Unfall und kommen ins Krankenhaus." Sally strahlte beinahe ebenso glücklich wie Timothy. Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich plötzlich so froh wie schon lange nicht me hr. Wenn sie Timothy um sich hatte, kam sie sich nicht mehr ganz so einsam und verlassen vor, war ihr Leben nicht mehr ganz so kalt und dunkel. Eine Stunde später hatte sie ihm zwei neue Wolljacken gekauft, ein Paar Schuhe und einen kleinen Samtanzug mit
Goldknöpfen. Timothy war entzückt von dem Anzug und wollte ihn am liebsten gleich anbehalten. Da das aber nicht ging, durfte er zum Trost die Tüte selbst zum Wagen tragen. "Du hast mir meine Bonbons noch nicht gekauft", ermahnte er Sally, als sie auf ein kleines Cafe zugingen, in dem Sally manchmal zu Mittag aß. "Die mit Gelee, und ... Oh, da ist Mummy! Mit einem Mann!" Timothy zeigte aufgeregt mit dem Finger, und Sally konnte Maria noch gerade im Kino verschwinden sehen. Sie hatte einen Mann neben sich. Aber ob die beiden zusammengehörten, konnte man nicht genau sagen. Ins Kino ... Und dabei hatten sie alle gedacht, daß Maria jeden Samstag Bingo spielte. Auf Dorfklatsch war eben kein Verlaß. "Komm, Schatz, wir trinken jetzt gemütlich eine Tasse Tee und essen ein Stück Kuchen dazu." "Gibt es da auch Sahnestücke, Tante Sally?" "Wenn du gern ein Sahnestück essen möchtest, kannst du sogar ein ganz großes haben." Das Cafe war voll besetzt und Timothy schwer enttäuscht. "Können wir nicht in ein anderes Cafe gehen?" fragte er kläglich. "Es gibt hier kein anderes", fing sie an, aber dann schaute sie zu dem eleganten Hotel auf der anderen Straßenseite hinüber. Das Harthorpe war teuer, aber man konnte ein Kind doch nicht enttäuschen ... Das Restaurant selbst war geschlossen. Tee wurde in der Halle serviert. Der Kellner führte Sally an einen Tisch, an dem auf der einen Seite ein Sofa und an der anderen ein großer Sessel stand. Timothy war in seinem Element. Er setzte sich in den Sessel und schlenkerte die Beine im Takt zu der dezenten Hintergrundmusik. Sally bestellte und sah sich um. Sie war früher oft mit Colin hier gewesen, aber die Halle war inzwischen neu dekoriert und
nicht mehr wiederzuerkennen. Die Tapete mit den Vögeln und der blaugemusterte Teppich waren verschwunden. Und die bequemen, verblichenen Samtmöbel waren auch nicht mehr da. Sogar das Service war neu und die meisten der Kellner ebenfalls. Und das alles in kaum achtzehn Monaten. Timothy wartete geduldig auf seinen Kuchen. "Oh, das ist ja Mr. Huntly!" rief er plötzlich. Sally war rot geworden vor Schreck und hätte vielleicht sogar die Flucht ergriffen, wäre er nicht schon auf dem Weg zu ihrem Tisch gewesen. "Guten Tag, Mrs. Walling", sagte er kühl und höflich. "Darf ich mich zu Ihnen setzen?" Sally bat Timothy, sich zu ihr auf das Sofa zu setzen, und errötete schon wieder. Nicos Huntly hatte natürlich gemerkt, daß sie ihn lieber gegenüber als neben sich haben wollte,, und spöttisch die Augenbrauen hochgezogen. "Haben Sie schon bestellt?" fragte er und ließ sich in den Sessel fallen. "Ja", sagte sie steif. Der Mann machte sie unsicher. Vielleicht war es das angeborene, übertriebene Selbstbewußtsein. Sie fühlte sich ganz einfach nicht wohl in seiner Gegenwart. Außerdem war ihr der Gedanke an den Abend im Schloß immer noch peinlich. Nach jenem Essen hatte er versucht sie davon zu überzeugen, daß die Ehe mit ihm ihr Rettungsanker sein könnte, daß neue Interessen auftauchen und die schmerzlichen Erinnerungen auslöschen würden. Die Zeit heile jedes Leid, hatte er ihr versichert, und mochte sie sich auch noch so dagegen wehren. Die Erinnerung an Colin würde immer mehr verblassen, ihr Schmerz immer mehr nachlassen; Sally hatte wohl gemerkt, daß er fast die Geduld verloren und sie am liebsten gründlich geschüttelt hätte. Viel hatte nicht mehr daran gefehlt. Später hatte er dann das Thema gewechselt, aber Sally hatte deutlich gespürt, daß ihre Absage ihn schwer getroffen hatte und
zwar nicht nur seinen Stolz. Er hatte ehrlich zugegeben, daß er einen Erben brauchte, aber ihr auch versichert, daß das nicht der einzige Grund wäre. "Mr. Huntly, kaufen Sie mir Bonbons?" kam es plötzlich von Timothy. "Ich mag am liebsten ..." "Du darfst Mr. Huntly doch nicht um Bonbons bitten, Schatz", unterbrach Sally ihn rasch. "Wenn du Geduld hast, bekommst du später schon deine Geleebonbons," "Und eine Tafel Schokolade?" "Und eine Tafel Schokolade", wiederholte Sally und versuchte krampfhaft dem Blick, mit dem Nicos Huntly sie musterte, auszuweichen. "Darf ich Mr. Huntly meine neuen Wolljacken zeigen?" Sally biß sich auf die Unterlippe. Der Mann brauchte nicht zu wissen, daß sie Marias Kind neu eingekleidet hatte. Sie wüßte nicht warum, aber der Gedanke war ihr peinlich. "Die will er ganz bestimmt nicht sehen!" "Im Gegenteil, Mrs. Walling, sehr gern sogar. Sind sie in der Tüte dort, Timothy?" "Ja, und im Auto ist noch ein Anzug und Schuhe und Socken und ..." "Timothy, du ..." "Ja, Timothy", schnitt Nicos Huntly ihr das Wort ab, "Schuhe und Socken und was denn sonst noch?" "Ein Hemd mit Taschen!" Timothy rutschte vom Sofa herunter, griff nach der Tüte mit den Wolljacken und zog eine heraus. "Sie ist blau." Er hielt sich die Jacke an und merkte gar nicht, wie amüsiert die Leute an den anderen Tischen ihn anschauten. "Die andere ist grün. Ich wollte gern eine weiße haben, aber Tante Sally sagt, Mummy hat schon genug zu tun. Sie will nicht jeden Tag Wolljacken waschen." Timothy hielt Nicos die Wolljacke hin. "Fühlen Sie mal. Ganz dick und warm" Mögen Sie sie leiden?"
"Sehr sogar. Genau das richtige für einen kleinen Jungen wie dich!" "Das hat die Dame im Laden auch gesagt." Er strahlte und versuchte die Wolljacke wieder in die Tüte zu stopfen. Sally nahm sie ihm aus der Hand, legte sie sorgfältig zusammen und steckte sie wieder in die Tüte. Timothy kletterte auf das Sofa zurück. "Ich habe solchen Hunger. Bin ich jetzt lange genug geduldig gewesen, Tante Sally?" Sally lächelte. Sie sah tatsächlich glücklich aus, wäre aber höchst erstaunt gewesen, wenn jemand sie darauf aufmerksam gemacht hätte. "Ja, Schatz, du bist wirklich sehr geduldig gewesen." Timothy lachte vergnügt vor sich hin. "Mummy sagt immer, ich kann keinen Moment stillsitzen." Sally war es keineswegs entgangen, wie aufmerksam Nicos Huntly das Kind beobachtete - und wie scharf die dunklen Augen sie selbst immer wieder musterten. Zum Glück kam in diesem Augenblick der Kellner mit dem Tee. Sally griff nach ihrer Handtasche, aber Nicos Huntly war ihr schon zuvorgekommen. "Danke schön", hörte sie sich murmeln, während sie den Tee einschenkte und Timothys Sahnestück in vier Teile schnitt. "Du mußt dich nun aber etwas beeilen", sagte sie zu ihm. "Wir sind schon viel zu lange fort!" "Mach ich, Tante Sally. Aber Mummy ist doch mit dem Mann in das Haus da gegangen. Vielleicht ist sie noch gar nicht wieder zu Hause. Aber wenn du es gern willst, esse ich ganz schnell." "Was für ein Herr war denn das?" fragte Nicos Huntly leise. Die Frage war an Sally gerichtet, aber sein Blick ruhte auf Timothys reich mit Sahne verziertem Gesicht. "Ich habe keine Ahnung", erwiderte sie, sofort auf der Hut, und griff nach dem Zuckertopf.
"Sie haben das Kind sehr gern, nicht wahr? Es soll ja meistens bei Ihnen sein." "Wer hat Ihnen das erzählt?" Sally blinzelte ihn mißtrauisch an. "Ganz so von der Welt abgeschnitten, Mrs. Walling, bin ich nicht." Seine Stimme klang leicht sarkastisch. Woher kommt es, fragte Sally sich, daß er mit dem Kind so geduldig sein kann? Vielleicht gehörte er zu den wenigen Menschen, die sich in ein Kind hineinversetzen können. Dann würde er natürlich einen außergewöhnlich guten Vater abgeben. "Kann ich etwas mehr Milch in meinen Tee haben?" Timothy hatte nach dem ersten Schluck seine Tasse geräuschvoll auf die Untertasse zurückgestellt. "Er ist zu heiß!" Nicos nahm den Milchtopf und goß Timothy mehr Milch zu. "Sie widmen ihm nicht nur Ihre Zeit, sondern geben auch Ihr Geld für ihn aus", nahm er das Thema wieder auf. "Seine Mutter muß jeden Samstag in die Stadt. Dann bleibt er bei mir und leistet mir Gesellschaft." "Ein eigenes Kind würde Ihnen noch besser Gesellschaft leisten!" Er hob seine Tasse und trank gelassen einen Schluck Tee. "Mir genügt es ...", fing Sally an, bis sein vorwurfsvoller Blick sie ins Stottern brachte. "Sie lügen", sagte er leise. "Sie würden viel lieber ein eigenes Kind haben - oder mehrere. Mutterfreuden sind die Erfüllung jeder Frau." "Jede Frau muß zunächst einmal geliebt werden", entgegnete Sally traurig. "Die Erfüllung kommt an zweiter Stelle. Das können die meisten Männer nicht verstehen. Ein Mann, der einen wirklich liebt, und dann noch Kinder obendrein ..., das wäre natürlich der Himmel auf Erden. Es gibt eine Menge Frauen, denen dieses Glück beschert wird!"
Nicos Huntly blieb ungerührt. "Und wenn eine Frau nicht gleich beides haben kann, Liebe und Kinder, muß sie dann unbedingt ganz leer ausgehen?" Sally schaute ihn verwirrt an. Warum unterhielten sie sich überhaupt darüber? "Man sieht doch, daß Sie diesen kleinen Kerl hier liebhaben. Würden Sie Ihre eigenen Kinder nicht noch viel inniger lieben? Sie sind heute wie ausgewechselt, und nur, weil Sie den Kleinen um sich haben und für ihn sorgen können. Sie haben eine Menge Geld für ihn ausgegeben und den Nachmittag offensichtlich sehr genossen." Er sah sie erwartungsvoll an. "Sie haben Ihren Kummer vergessen, weil Sie das Kind umsorgen konnten." Sally senkte den Kopf. Er hatte recht. Sie hatte ihren Kummer für eine Weile vergessen. "Wenn Sie damit auf Ihren Heiratsantrag anspielen", meinte sie ärgerlich, "kann ich Ihnen nur sagen, daß es keinen Zweck hat. Eine Heirat ohne Liebe kommt für mich nicht in Frage." "Aber Sie behaupten doch, daß Sie niemals wieder lieben werden." "Das werde ich auch nicht - könnte ich gar nicht!" "Das ist eine unsinnige Einstellung, die nur auf Ihrem augenblicklichen Zustand beruht", entgegnete er ruhig. "Aber wenn Sie sich so sicher sind, daß Sie sich niemals mehr verlieben werden, warum wählen Sie dann nicht das Nächstbeste? Sie würden eine wunderbare Mutter sein. Warum wollen Sie nicht ein paar Kinder in die Welt setzen, die es wirklich gut haben würden?" Auf diese Frage würde sie gar nicht erst eingehen, entschied Sally und wandte sich energisch ab. Sie war ihr nicht nur peinlich, sondern flößte ihr auch Angst ein. Dieser Mann hatte eine gewisse Anziehungskraft, der sie sich nicht ganz entziehen konnte und gegen die sie dauernd ankämpfen mußte. Bemerkt hatte sie das schon an dem Abend, an dem er ihr den
Heiratsantrag gemacht hatte. Sollte sie ihm entfliehen, aus ihrem Bungalow ausziehen, solange sie sich noch retten konnte? Retten? Aber wovor denn? Er konnte sie doch nicht zwingen, ihn zu heiraten und seine Kinder zu gebären. Timothy hatte inzwischen seinen Kuchen verzehrt und meinte, er könne noch einen essen. "Nein, Schatz", fing Sally an, wurde aber sofort von Nicos Huntly unterbrochen. "Ich hole ihm noch einen. Aber wenn Sie der Meinung sind, daß er genug gehabt hat, kann er natürlich keinen mehr haben." "Aber ich habe noch nicht genug gehabt, Mr. Huntly", kam es sehr entschieden von Timothy. "Darf ich noch ein Sahnestück haben?" Seine Stimme klang so einschmeichelnd, daß Sally lachen mußte. Nicos musterte sie kopfschüttelnd. Sally wußte, warum. Er hatte sie lachen gehört und konnte nicht begreifen, warum sie unbedingt weitertrauern wollte. Männer hatten eben keine Ahnung. Selbst wenn sie es gewollt hätte, hätte sie es ihm niemals klarmachen können. "Er kann ruhig noch ein Sahnestück haben, Mr. Huntly. Heute ist ein Festtag für ihn. Den darf ich ihm doch nicht verderben." "Und ist es für Sie auch ein Festtag gewesen?" erkundigte sich Nicos so leise, daß seine Stimme plötzlich gar nicht mehr schroff klang. "Ja, Mr. Huntly", erwiderte sie ganz ehrlich. Schmunzelnd, als hätte er. einen Sieg davongetragen, winkte Nicos Huntly den Kellner heran. "Kann ich noch zwei Sahnestücke haben?" bestellte Timothy eifrig, bevor Nicos zu Wort kommen konnte. "Ein Sahnestück, bitte", verbesserte ihn Nicos Huntly. "Und noch zwei Kännchen Tee bitte. Und vielleicht möchte der Kleine noch ..." "O ja, eine Limonade bitte!"
"Und ein Glas Orangehsaft", vervollständigte Nicos seine Bestellung. Timothy summte zufrieden vor sich hin und beobachtete den Kellner. Nicos ließ kein Auge von dem Kind, wandte sich aber schließlich wieder an Sally. "Sehen Sie, Mrs. Walling, Sie sind sehr unglücklich, und ich könnte Ihnen helfen", fing er abermals an. "Wenn Sie sich von Ihrem Schmerz losreißen und zur Vernunft durchringen könnten, würden Sie sich meinen Antrag ernstlich überlegen. In zwei Jahren könnten Sie sich über Ihr eigenes Kind freuen, vielleicht über einen kleinen Jungen wie Timothy, und vielleicht schon über ein zweites ..." "Bitte!" unterbrach sie ihn errötend. "Ich habe Ihnen meine Antwort gegeben, Mr. Huntly. So, wie es um mich steht, könnte ich Sie gar nicht heiraten." Sie sah ihn beschwörend an, aber er nahm nur seelenruhig sein Taschentuch aus der Tasche und wischte Timothy die Schlagsahne aus dem Gesicht. Die Leute halten uns bestimmt für eine Familie, ging es Sally durch den Kopf. Auf einmal war ihr die ganze Sache viel weniger peinlich. Bisher war sie sich viel zu sehr seiner gesellschaftlichen Stellung bewußt gewesen, jetzt sah sie ihn in einem ganz anderen Licht. Er konnte also auch menschlich sein und sah plötzlich irgendwie anders aus. War der Ausdruck in den marmorharten Augen nicht etwas sanfter geworden? Wirkten die schmalen Lippen vielleicht nicht mehr ganz so verkniffen? "Sie sind ja so schweigsam, Mrs. Walling", wandte er sich plötzlich an sie, als ob er ihren Blick gespürt hätte. "Ich war in Gedanken", murmelte sie. "Woran haben Sie denn gedacht?" Was er wohl sagen würde, wenn er ihre Gedanken erraten hätte? "An nichts Besonderes", wich sie seiner Frage aus und blickte auf ihre Armbanduhr. "Wir müssen jetzt aber gehen. Es wird ja schon dunkel."
"Ich möchte aber noch nicht gehen", sagte Timothy kläglich. "Es ist so schön hier, Tante Sally. Mit dir und Mr. Huntly." "Komm, Herzchen, zieh deinen Mantel an." "Mr. Huntly, können wir uns in Ihrem Schloß mal die Gewehre angucken?" Timothy schaute gespannt zu ihm hoch. "Mein Großvater sagt, daß Sie eine ganze Menge großer Gewehre haben." "Möchtest du sie heute schon sehen?" ging Nicos zu Sallys Entsetzen sofort darauf ein. "O ja!" Timothy war vom Sofa gerutscht und ließ sich seinen Mantel anziehen. "Was Großvater wohl sagt, wenn er hört, daß ich auf Ihrem großen Schloß war." "Timothy, deine Mutter wird sich Sorgen machen, wenn wir zu lange fortbleiben. Wenn Mr. Huntly uns entschul..." "Sie wollen das Kind doch nicht enttäuschen, Mrs. Walling?" unterbrach Nicos sie. "Mummy ist vielleicht noch gar nicht zu Hause! "Er sah sie beide flehend an. "Ich möchte so gern die Gewehre sehen." Sally gab sich geschlagen. Genau wie vor vierzehn Tagen wollte sie auch heute gar nicht gern auf das düstere Schloß. Doch da Timothy jeden Augenblick in Tränen ausbrechen würde, mußte sie nachgeben. Ob Nicos Hunt ly wohl tatsächlich das Kind nicht enttäuschen wollte? Oder hoffte er, auf diese Weise seinem Ziel näher zu kommen? Tief in Gedanken fuhr Sally hinter Nicos' Wagen her. Schneeflocken glitzerten im Licht der Scheinwerfer. Timothy räkelte sich behaglich neben ihr, quietschte förmlich vor Begeisterung und redete schon von einer Schneeballschlacht. Unbewußt hatte Sally den Abstand zwischen den beiden Wagen so groß wie möglich gehalten, aber schließlich hatte sie doch das hohe Doppeltor zwischen den beiden Wacht häuschen vor sich. Grotesk und unheimlich wirkten die knorrigen Zweige der uralten Eiben im verschwommenen Licht der Scheinwerfer. Ganz in der Ferne zeichnete sich hoch oben in den Cheviots ein
grauweißes Schneefeld gegen den schwarzen Felsen ab. Sally erschauerte. Kein Wunder, daß hier Greueltaten verübt worden waren, in diesem Grenzland, wo nur der Tüchtigste mit dem Leben davongekommen war. Als Sally ihren Wagen in dem hell erleuchteten Hof anhielt, hatte Nicos seinen schon verlassen. Schön sah sie aus mit ihrem schimmernden Goldhaar, als sie ausstieg. Mechanisch strich sie sich eine Strähne, die der Wind ihr ins Gesicht geweht hatte, zurück. "Sie hätten eine Mütze aufsetzen sollen", fing er an, kam aber nicht weiter. Timothy war vom Beifahrersitz geklettert und schob seine kleine Hand in die Nicos'. "Gucken wir uns jetzt die Gewehre an?" "Ja, natürlich!" "Lange dürfen wir aber nicht bleiben", mahnte Sally. "Maria macht sich bestimmt schon Sorgen." "Maria weiß, daß er bei Ihnen gut aufgehoben ist", entgegnete Nicos Huntly unbekümmert. "Komm, Timothy, wir schauen uns die Gewehre an." Zaghaft und schüchtern machte Timothy sich selbständig. Vorsichtig berührte er hier eine Hellebarde, dort eine blanke Rüstung. Die blauen Augen strahlten, den kleinen Kindermund umspielte ein beglücktes Lächeln. Sally und Nicos beobachteten ihn. Wieder war Sally sich der Gegenwart Nicos' viel zu sehr bewußt, wieder hatte sie das Gefühl, daß sie einen Weg entlanggeführt würde, den sie eigentlich nicht gehen wollte. Sie versuchte das ungemütliche Gefühl abzuschütteln und sich auf das Kind zu konzentrieren, aber ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. "Haben Sie meinen Vorschlag inzwischen überdacht, Mrs. Walling?" hörte sie plötzlich Nicos Huntlys tiefe Stimme. "Nein, Mr. Huntly. Ich hatte Ihnen doch bereits klargemacht, daß ich niemals wieder heiraten werde."
Nicos bemühte sich kaum, seinen Unmut zu verbergen. "Ich habe das Gefühl, Sie werden sich doch noch anders entscheiden", sagte er mit einem Blick auf das Kind. "Nein!" erwiderte sie viel zu impulsiv. "Nein, ganz bestimmt nicht!" Sie sah auf ihre Uhr. "Wir müssen gehen", sagte sie energisch. "Komm, Timothy, es wird Zeit, daß wir nach Hause kommen." "Aber ..." "Es wird höchste Zeit", unterbrach sie ihn. "Komm schon." "Können wir mal wiederkommen, Tante Sally?" "Nein, Timothy. Du müßtest schon längst daheim sein", sagte sie viel zu hastig, weil Nicos Huntly sie nicht aus den Augen ließ.
4. KAPITEL Als Sally und Timothy in der Kate ankamen, war Maria noch nicht zurück. Mr. Endersley wusch gerade im Spülbecken in der Küche ein Oberhemd aus. "Ah, da seid ihr ja." Er nahm seinen kleinen Enkel Huckepack. "Seid ihr schön spazierengegangen, Timothy?" "Wir haben Einkäufe gemacht, Grandpa", rief er freudestrahlend. "Ich habe eine ganze Menge neuer Sachen. Und neue Schuhe. Und wir haben die Gewehre auf Mr. Huntlys Schloß gesehen." "Was habt ihr?" Mr. Endersley besann sich auf seine guten Manieren und holte Sally erst einmal einen Stuhl. "Sind Sie tatsächlich auf dem Schloß gewesen, Sally?" Sally nickte. "Wir haben Mr. Huntly zufällig in der Stadt getroffen ..." "In dem Cafe, wo wir Tee getrunken haben", unterbrach sie Timothy, der schon eifrig beim Auspacken war. "Ich habe zwei Sahnestücke gegessen und eine Tasse Tee und ein Glas Orangensaft getrunken. Den Saft hat mir Mr. Huntly bei einem Mann in einer weißen Jacke bestellt. Und dann habe ich Mr. Huntly gefragt, ob ich seine Gewehre sehen darf. Und dann hat er mich gefragt, ob ich sie heute schon sehen wollte ... Ach je, ich kann meine neuen Schuhe nicht aus dem Kasten kriegen." "Gib her, Schatz!" Sally schnitt mit einem Messer den Bindfaden durch und gab Timothy den Schuhkarton zurück.
Mr. Endersley war ein großer, hagerer Mann mit eisgrauem Haar. Er beobachtete seinen Enkel nachdenklich. "Sie sind viel zu großzügig, Sally. Und das schlimmste ist, daß Maria die Sachen, die Sie dem Kind kaufen, kein bißchen schont." Er zuckte ergeben die Schultern. "Aber sie hat nicht viel vom Leben. Man darf da nicht zu kritisch sein." "Ich habe doch sonst niemanden, für den ich mein Geld ausgeben kann, Mr. Endersley." "Aber eines Tages werden Sie wieder jemanden haben, mein Kind." Sally wehrte kopfschüttelnd ab. "Ich schmiede keine Pläne mehr, Mr. Endersley." "Ferien würden Ihnen guttun, Sally. Meine Schwägerin ist gerade in Griechenland gewesen." Er nahm einen Brief vom Küchenschrank. "Hier, lesen Sie mal, wie gut sie sich erholt hat. Ich mache uns inzwischen eine Tasse Tee." Sally wollte eigentlich gar keinen Tee, wußte aber, daß er gern eine Tasse mit ihr trinken wollte. Deshalb blieb sie sitzen und überflog Minna Endersleys Brief. Die Handschrift war etwas kindlich, aber der Inhalt las sich frisch und lebendig. Doch erst als die Insel Kos erwähnte wurde, las Sally wirklich gebannt weiter. Wie jeder andere hier auf dem Gut wüßte Sally, daß Nicos der Enkel eines Reeders auf Kos war. "Eine himmlische Insel", schrieb Minna. "Überall blüht es, und überall findet man Ruinen aus dem Altertum. Beides haben wir den Franzosen zu verdanken, die die Ruinen freigelegt und die vielen herrlichen Blumen angepflanzt haben. Kos müßte wirklich jeder einmal sehen!" Der Brief war ziemlich lang. Zum Schluß hieß es dann: "Ich komme demnächst auf ein paar Tage zu euch. Ja, Robert, ich habe mir deinen Vorschlag durch den Kopf gehen lassen. Ich will Maria nicht beleidigen, aber ich könnte nicht mit ihr zusammen wohnen. Sie war früher so sauber, aber seitdem sie Timothy hat, ist sie ganz anders geworden. Schade, daß sie
seinen Vater nicht geheiratet hat. Aber sie sagt ja, daß sie ihn nicht geliebt hat. Sollte sie doch einmal heiraten, heirate ich dich, Robert." Sally legte den Brief auf den Tisch. Maria hatte Timothys Vater nicht geliebt ... Und doch hatte sie ein Kind, das sie liebte, wenn sie es auch manchmal etwas vernachlässigte. Sally mußte sofort an Nicos denken, der annahm, daß sie ihm ein Kind ... "Sie wundern sich bestimmt darüber, daß ich Minna einen Heiratsantrag gemacht habe." Mr. Endersley goß das kochende Wasser auf den Tee. "Minna hat es schwer, und das Leben wird immer teurer. Wir sind beide Witwersleute, und hier haben wir ein Zimmer, das wir nicht benutzen. Das ..." "Guck mal, Grandpa - die Schuhe!" "Genau richtig für einen kleinen Jungen, was?" meinte Mr. Endersley. "Aber wie sollen wir das bloß wiedergutmachen, Sally?" "Das sollen Sie doch gar nicht, Mr. Endersley. Mir hat es soviel Freude gemacht." Sie hatten kaum angefangen, ihren Tee zu trinken, als Maria in die Tür trat. Ein Blick, und sie hatte das Bild erfaßt. Der frisch aufgebrühte Tee in den besten Tassen, die neuen Wolljacken auf dem Stuhl und die Schuhe auf dem Fußboden. Sie seufzte hörbar auf, begrüßte Sally aber freundlich und bedankte sich für die Sachen. "Wir haben dich gesehen, Mummy! Du warst mit einem Herrn zusammen." Mr. Endersley wurde blaß. "Wer war denn das, Maria?" fragte er streng. "Ich erzähle es dir nachher, Dad." "Es wird Zeit, daß ich gehe, Mr. Endersley", sagte Sally rasch. "Schönen Dank für den Tee." "Ich muß Ihnen danken, Sally. Wir stehen in Ihrer Schuld." "Mir macht es Spaß. Also sind Sie keineswegs in meiner Schuld."
Maria hatte Mantel und Hut abgelegt und streifte Sally mit einem arroganten Blick. "Es macht ihr Spaß. Warum sollen wir ihr also zu Dank verpflichtet sein?" "Maria!" rief ihr Vater empört. "Wie kannst du so etwas sagen?" Aber Maria hörte nicht mehr hin. Wieder konnte Sally sich ihr Benehmen nicht erklären. Sie warf Timothy eine Kußhand zu und verabschiedete sich hastig. Als sie wieder zu Hause war, schaltete sie erst einmal überall Licht an. Seit Colins Tod konnte sie Dunkelheit nicht ertragen. Sie war schon unglücklich genug gewesen, aber nun kam noch Marias rätselhaftes Benehmen dazu - und Nicos Huntly, der sich so sicher war, daß sie ihm schließlich doch noch nachgeben würde. Die kleine Küche blitzte. Hier hatten Colin und sie früher mit dem Kochbuch experimentiert. Ja, das waren glückliche Tage, fröhliche Abende und selige Nächte gewesen. Unwillkürlich griff sie nach dem Kochbuch. Sie hatte ein Hühnchen und eine Forelle im Kühlschrank. Was sollte sie nehmen? Das Hühnchen war einfacher. Colin und sie hatten da ein eigenes Rezept zusammengestellt. Sally suchte gerade die Zutaten zusammen, als es an der Tür klingelte. Sie ging in die kleine Halle hinaus und öffnete die Tür. "Maria ... Fehlt Timothy etwas?" "Das Kind ist immer dein erster Gedanke. Und das ist auch ganz in Ordnung so", fügte Maria anzüglich hinzu, während sie schnurstracks ins Wohnzimmer ging. Der elektrische Ofen, der in den Kamin eingebaut war, flackerte wie ein Holzfeuer und verbreitete rosiges Licht im Zimmer. Nachdem Sally die Stehlampe angeknipst hatte, bot sie Maria einen Stuhl an. Maria lehnte kopfschüttelnd ab. Von ihrer arroganten Unfreundlichkeit war nichts mehr zu merken. Die großen blauen
Augen blickten jetzt eher mitleidig. "Ich glaube, du solltest dich lieber setzen, Sally. Ich persönlich möchte lieber stehenbleiben." Damit kehrte sie Sally den Rücken zu. "Was ist denn nur los, Maria? Du bist heute so anders als sonst." "Es tut mir leid, daß ich so unfreundlich war, aber ich habe zuviel, womit ic h fertigwerden muß. Ich hoffe, daß ich heute endlich etwas davon loswerden kann." Sie hielt einen Augenblick inne. "Du hast Tim lieb, nicht wahr, Sally?" Sally sah sie erstaunt an. "Ja, natürlich. Er ist mir ans Herz gewachsen." "Weil er Colin so ähnlich sieht?" "Mag sein. Aber Timothy muß man ganz einfach liebhaben!" "Ich habe ihn auch lieb", sagte Maria leise vor sich hin. "Natürlich hast du ihn lieb." "Aber du denkst auch, daß ich ihn vernachlässige. Das brauchst du gar nicht abzustreiten, Sally. Ich weiß, was die Leute über mich reden. Aber es ist nicht leicht, wenn man ein Kind und keinen Mann hat. Wenn man heutzutage auch schon etwas freier darüber denkt. Außerdem behindert es einen. Man hat seine Freiheit verloren. Ich gehe zwar jeden Samstag aus, aber unsere Klatschbasen hier finden das ganz unerhört." "Sag mal, Maria, worauf willst du hinaus?" "Du wunderst dich wohl, warum ich so daherrede, wo ich doch sonst so verschlossen bin? Ich habe jemanden kennengelernt - einen Mann, der mich heiraten will. Es ist der Mann, den Timothy vorhin erwähnt hat. Ich bin jetzt schon seit ein paar Wochen jeden Samstag mit ihm ausgegangen. Er hat nur tagsüber frei. Darum konnte ich mich nicht abends mit ihm treffen. Ich habe es nicht absichtlich geheimgehalten, andererseits aber auch nicht gerade offen darüber geredet, nicht einmal mit Dad." Maria lächelte bitter. "Der hätte bestimmt gedacht, daß sich alles wiederholen und ich ihm noch ein zweites Kind aufhalsen würde. Aber so dumm ..."
"Maria", schnitt Sally ihr das Wort ab. "Warum erzählst du mir all das? Es ist uns beiden doch nur peinlich." "Wenn es mir nicht peinlich ist, warum sollte es dir dann peinlich sein? Du mußt mich zu Ende anhören. Und ich habe dir schon gesagt, daß du dich lieber setzen solltest, und ich würde es dir dringend raten." Maria brach ab und blickte Sally forschend an. "Mein Freund weiß nichts von Tim. Ich habe ihm noch nicht von ihm erzählt und habe, ehrlich gesagt, Angst davor. Er ist todanständig und verlangt natürlich auch ein todanständiges Mädchen." Maria biß sich nachdenklich auf die Unterlippe. "Aber du bist doch anständig, Maria", begehrte Sally auf. "Wenn er Timothy nicht haben will, liebt er dich nicht aufrichtig." Sally ärgerte sich bereits über diesen jungen Mann. "Dank dir, Sally, für die netten Worte", sagte Maria spöttisch. "Ich habe es ehrlich gemeint. Wenn du nicht anständig wärest, würdest du viel öfter ausgehen." "Ich habe Stan beim Bingospielen kennengelernt. Wir sind ins Gespräch gekommen und haben festgestellt, daß wir beide eigentlich nur hingegangen sind, weil wir einsam waren und Langeweile hatten. Stan sagt nicht viel. Er ist eher schüchtern und findet nicht so leicht Anschluß. Er ist irrsinnig glücklich darüber, daß ich mich in ihn verliebt habe. Wir brauchen einander. Ich möchte ihn nicht verlieren ..." Maria, die Sally schon wieder den Rücken zugekehrt hatte, schaute in die dunkle Januarnacht hinaus. Die Spannung zwischen ihnen war von Minute zu Minute gewachsen. Sally war betroffen. Warum erzählte Maria nicht weiter? Sally setzte sich auf die Couch. Sie mußte das Schweigen brechen. Und sie wollte Marias Gesicht sehen. "Was willst du mit all dem sagen, Maria?" fragte sie zaghaft. "Ich hatte vorhin das Gefühl, daß du mich bitten wolltest, dir Timothy abzunehmen. Für wie lange weiß ich natürlich nicht. Aber jetzt habe ich das undeutliche Gefühl, daß das noch nicht alles ist."
Maria hatte sich umgedreht. Ihre Lippen waren zusammengepreßt, ihre Fäuste geballt. "Nun, da ich es tatsächlich tun muß, habe ich nicht mehr den Mut dazu", sagte sie und warf einen sehnsüchtigen Blick auf einen Sessel. "Den Mut? Wozu, Maria?" Sally wurde immer unruhiger. "Warum erzählst du mir nicht, was du mir zu sagen hast?" Maria nickte. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen. "Hast du dich noch nie darüber gewundert, warum Timothy Colin so ähnlich sieht?" fragte sie, während sie sich endlich setzte. Sally war leichenblaß geworden. Sie hatte begriffen, was Maria da andeutete. "Willst du damit sagen, daß...?" Ihre Stimme verlor sich in einem unhörbaren Flüstern. Marias Blick blieb hart; lind entschlossen. Sie mußte das, was sie begonnen hatte, zu Ende bringen. "Dein Mann, Sally, war Timothys Vater." Man konnte nicht erkennen, ob Sallys Entsetzen ihr Mitleid erweckt hatte. "Das ..., das ist nicht möglich!" "Doch, Sally. Du mußt es mir glauben - weil es stimmt." Sally starrte Maria immer noch ungläubig an. "Ja, es stimmt", brachte sie schließlich gequält heraus. "Jetzt kann ich es selbst sehen." Ihr war, als liefen die beiden Gesichter ineinander - das blonde Haar, die blauen Augen, die gerade Nase in dem runden, gutmütigen Gesicht. "Und du hast es bis jetzt geheimgehalten? Warum habt ihr nicht geheiratet?" Sally fühlte sich am ganzen Körper eisig kalt und taub. Sie wußte gar nicht mehr, was sie sagte. "Weil ich ihn nicht geliebt habe." Ach ja, ging es Sally mechanisch durch den Kopf, Minna Endersley hatte so etwas in ihrem Brief geschrieben. "Und wann war das?" Sally schloß die Augen. Wann hatte Timothy Geburtstag? Sie fing krampfhaft an zu rechnen, aber sie war viel zu aufgeregt. "Ich will lieber von Anfang an erzählen." Maria lehnte sich in ihrem Sessel zurück und schlug ihre schönen Beine
übereinander. "Ich war gerade achtzehn geworden, als Colin und ich uns kennenlernten und uns wie toll ineinander verliebten. Wir hielten es für die wahre Liebe. Ein paar Monate war alles wunderbar, und wir schwebten im siebten Himmel. Ich hatte eine kleine Wohnung in Ridgewood und einen nicht gerade anstrengenden Posten als Empfangsdame bei einem Fotografen, wo ich auch Colin kennengelernt hatte. Er und der Fotograf waren Jugendfreunde. Colin und ich haben uns vom ersten Augenblick an gemocht, und nachdem wir vierzehn Tage zusammen ausgegangen waren, hat Colin sein ungemütliches möbliertes Zimmer aufgegeben und ist zu mir gezo gen. Bald darauf jedoch mußten wir beide zugeben, daß wir abgesehen von der physischen Seite eigentlich nichts gemeinsam hatten. Zum Glück sahen wir beide ein, daß für eine vernünftige, glückliche Ehe mehr erforderlich war. Da eine Heirat also nicht in Frage kam und aus Angst, daß unsere schöne Beziehung in etwas Häßliches ausarten könnte, beschlossen wir, uns rechtzeitig zu trennen. Es war kein einziges böses Wort gefallen, und wir waren beide etwas traurig. Ein Jahr lang haben wir uns überhaupt nicht gesehen. Colin war wieder in sein möbliertes Zimmer gezogen, und ich bin in meiner kleinen Wohnung geblieben. Als wir uns ganz zufällig wieder trafen, erzählte mir Colin, daß er ein nettes Mädchen kennengelernt hätte, aber erst zweimal mit ihr ausgegangen sei. Wir verabschiedeten uns, trafen uns aber kaum eine Woche später schon wieder rein zufällig. Diesmal war es in einem Restaurant, wo wir dann gemeinsam zu Mittag aßen. Er erzählte mir, daß er zwei Karten für einen Tanzabend hätte, daß seine Freundin jedoch krank sei und ihn nicht begleiten könne." Maria hatte gemerkt, daß Sally sich die Umstände damals wieder ins Gedächtnis zurückrufen wollte, und machte eine kleine Pause.
"Er hat mich gefragt, ob ich Lust hätte mitzukommen. Da ich nichts anderes vorhatte, nahm ich die Einladung an. Nach dem Tanzabend hat mich Colin nach Hause gebracht, und ich habe ihn hereingebeten." Maria zuckte vielsagend die Schultern. "Ich dachte mir nichts dabei. Zwei Monate später, als ich wußte, daß ein Kind unterwegs war, habe ich dann an ihn geschrieben. Frag mich nicht, warum. Heiraten wollte ich ihn auch jetzt nicht. Vielleicht hatte ich Angst und wußte nicht, was ich tun sollte." Sie sah versonnen vor sich hin. "Inzwischen hatte er sich wahnsinnig in dich verliebt. Es waren nur noch ein paar Wochen bis zu eurer Hochzeit. Colin meinte, ich sollte etwas unternehmen. Aber das konnte ich nicht. Ich wollte das Kind behalten!" Wieder starrte sie abwesend vor sich hin. "Das bedeutete natürlich, daß ich zu meinem Vater zurück mußte. Colin war tief gerührt, als ich ihm sagte, daß ich das Kind behalten wollte. Eigentlich verrückt, daß ich seinen Heiratsantrag damals nicht angenommen habe. Aber wie konnte ich, wenn ich ihn nicht liebte und er mich auch nicht?" "Er hat dir einen Heiratsantrag gemacht? Aber er war doch mit mir verlobt ..." Sally hatte die Worte nur leise vor sich hingeflüstert, aber Maria hätte sie doch gehört. Die Härte in ihren Augen verlor sich zwar ein wenig, aber was sie dann sagte, war so grausam, daß Sally zusammenzuckte. "Ja, er war verlobt mit dir, aber er hätte dich vor dem Altar noch sitzenlassen, wenn ich seinen Antrag angenommen hätte. Er war ein Ehrenmann. Wenn ich meinen Anspruch geltend gemacht hätte, wärst du niemals mit ihm verheiratet gewesen und würdest jetzt nicht dein ganzes Leben der Vergangenheit opfern." Beide waren in Schweigen verfallen. Sally mußte unwillkürlich an Nicos Huntly denken. Er hatte ihr denselben Vorwurf gemacht. "Ich ..., ich wünschte, du hättest ihn geheiratet!" Sally standen Tränen in den Augen. Die Ironie des Schicksals: Maria
wäre ohne Kind besser drangewesen, während sie, Sally, so gern ein Band gehabt hätte. Und was ihren Mann betraf ... Es war ein schwerer Schlag, aber böse konnte sie ihm nicht sein. Als er mit Maria befreundet war, kannte er sie noch gar nicht. Und die gewisse Nacht ... Da hatte er sie gerade erst kennengelernt. "Was ich nicht begreifen kann", sagte sie, nachdem sie sich wieder etwas gefaßt hatte, "ist, daß wir so dicht bei euch wohnen!" "Colin arbeitete in einem Büro und mochte die Arbeit dort überhaupt nicht. Er sehnte sich nach frischer Luft und wollte auf einer Farm arbeiten. Der Posten hier auf dem Gut war in einer Zeitungsannonce ausgeschrieben. Er bewarb sich, hatte aber keine Ahnung, daß mein Vater hier Obergärtner war. Mein Vater war damals gerade ein paar Tage bei Tante Minna. Und der Verwalter war auch nicht da. Mr. Huntly hat Colin engagiert. Und da ich noch in meiner Wohnung lebte, wußte ich nichts davon!" Maria lächelte schmerzlich. "Als ich zu meinem Vater zog, wart ihr schon verheiratet. Und als Colin und ich uns so unerwartet in die Arme liefen, waren wir beide entsetzt. Colin war fast verrückt vor Angst. Er sah seine Ehe schon in die Brüche gehen. Ich versicherte ihm hoch und heilig, daß ich weder, dir noch sonst jemandem verraten würde, wer der Vater meines Kindes ist!" Und ich habe nichts davon gemerkt, ging es Sally durch den Kopf. Während all dies sich abgespielt hat, war ich völlig ahnungslos. "Und wie hat er sich Timothy gegenüber verhalten? Er hatte ihn doch immerzu vor Augen!" Sallys Stimme klang hohl. Sie wollte die Antwort eigentlich gar nicht hören. "Er hat ihn vergöttert. Er war stolz darauf, daß er ihm immer ähnlicher wurde." "Glaubst du, es hat ihm leid getan, daß er mich ..." Sally stockte. "Nein, er hat mich geliebt", fuhr sie lebhaft fort, als müsse sie Maria davon überzeugen.
"Natürlich hat er dich geliebt. Und es hat ihm auch nicht leid getan, daß er Timothy nicht als seinen Sohn ..." Maria unterbrach sich plötzlich. Sally wußte, daß sie an die Zukunft gedacht hatte und wie leid es Colin getan haben würde, daß er Timothy als erwachsenen jungen Mann nicht als seinen Sohn hätte ansehen können. "Du sagst, daß du Colin hoch und heilig versprochen hast, es mir niemals zu verraten. Warum hast du es jetzt doch getan?" Die Frage war nicht unerwartet für Maria. Aber als die Antwort kam, hatte Sally das Gefühl, daß Maria etwas ausließ, irgend etwas Wichtiges. "Wenn Colin am Leben geblieben wäre, hätte ich dir niemals davon erzählt. Als ich kam, wollte ich dich eigentlich nur bitten, Timothy eine Weile zu dir zu nehmen. Ich wollte Stan nämlich erst von Timothy erzählen, wenn wir verheiratet sind. Stan hat so viel gespart, daß er uns ein kleines Haus kaufen kann. Aber nach dem vielen Reden heute abend weiß ich jetzt, daß ich das Risiko, Stan könnte Timothy ablehnen, auf mich nehmen muß." Maria sah Sally entschlossen an. "Ich werde Stan am Samstag alles sagen. Wenn er Tim nicht haben will, kommt die Hochzeit nicht mehr in Frage!" "Du wolltest mich bitten, Timothy eine Zeitlang zu mir zu nehmen. Hast du erwartet, daß ich meine Stellung so ohne weiteres aufgeben würde?" "Ich habe etwas Geld gespart. Das wollte ich dir anbieten. Ich hatte gehofft, daß du Tim zuliebe zu Hause bleiben "Würdest, bis er zu uns kommen könnte. Du hast deine Witwenrente. Und deine Miete ist, wie alle Mieten hier auf dem Gut, nicht besonders hoch!" "Du hast gespart?" Sally war so erstaunt, daß ihr die taktlosen Worte rausgerutscht waren. "Ja, ich habe geknausert und gespart. Was soll denn sonst aus uns werden, wenn Vater eines Tages stirbt? Und da ich dir sowieso schon alles gebeichtet habe, will ich dir auch nicht
verschweigen, daß Mr. Huntly mir anfangs beigestanden hat und mir indirekt auch jetzt noch hilft. Er zahlt meinem Vater einen höheren Lohn - damit er mir ein Taschengeld geben kann!" "Mr. Huntly hat dir beigestanden?" Colin hätte ihr doch helfen müssen. Vielleicht hatte er das ja auch getan, aber Maria würde ihr wohl kaum erzählen, ob Colin ihr Geld gegeben hatte. "Ja, er ist sehr gut zu mir gewesen. Die Leute schätzen ihn alle ganz falsch ein, Sally. Er ist gar nicht so ein Menschenfresser, wie du denkst." Wie du denkst... Warum sie wohl das Du so betont? ging es Sally durch den Kopf. Wollte Maria etwa ein gutes Wort für ihn einlegen? Aber das war ja alles Unsinn. Maria konnte es doch völlig egal sein, ob sie Nicos Huntly mochte oder nicht. "Ich riskiere eine ganze Menge", fing Maria wieder an, "wenn ich Stan von Timothy erzähle. Wir kennen uns nämlich noch nicht sehr lange." "Wenn Stan dich wirklich liebt, kann er Timothy gar nicht ausschließen." Und dann würde sie, Sally, das Kind niemals wiedersehen. Bisher hatte sie sich leidlich beherrschen können, aber nun wußte sie, daß sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen würde. "Ich ..., ich hoffe, daß Stan ihm ein guter Vater sein wird ..." Die Tränen liefen ihr über die Wangen. Maria erhob sich und zog ihren Mantel an. Wortlos verließ sie das Zimmer und ging in die kalte Nacht hinaus. Stundenlang grübelte Sally über alles, was Maria ihr erzählt hatte, nach. Immer wieder sagte sie sich, daß Colin sie niemals geheiratet hätte, wenn Maria ihren Anspruch auf ihn geltend gemacht hätte. Daß er sie, Sally, geliebt hatte, war plötzlich nicht mehr wichtig. Ein Wort von Maria, die sein Kind trug, und er hätte Sally ihrem Schicksal überlassen. Sally stand auf. Ihre Beine waren steif vom Sitzen, ihr Gesicht geschwollen vom Weinen. "Wenn er sie geheiratet hätte", sagte sie laut zu sich selbst, "wäre ich jetzt längst darüber
hinweg. Aber erst drei himmlische Ehejahre und dann ... Maria ist grausam. Warum hat sie mich nicht weiterträumen lassen? Warum hat sie mir alles zerstört?" Sie hielt erschrocken inne. Ihre Stimme war immer schriller geworden.
5. KAPITEL Es schneite immer noch, als Sally sich endlich ausgeweint hatte; Aber gerade darum zog es sie unwiderstehlich nach draußen. Sie wollte nicht nur seelisch leiden. Sie mußte seelisch und körperlich etwas durchmachen. Sie holte ihren Mantel, setzte eine wollene Zipfelmütze auf den Kopf und öffnete die Tür. Der Wind wehte den Schnee auf den Teppich. Wie trübselig alles aussah. Sie trat heraus und zog die Tür eilig hinter sich zu. Eine stumme weiße Welt tat sich vor ihr auf. Die hell erleuchteten Fenster der Bungalows ringsum waren ein tröstlicher Anblick. Aber Sally wollte keinen Trost. Im Schloß brannte kein Licht. Düster und geisterhaft reckte es sich in den grauen Himmel. Nicos Huntly wohnte ja nach hinten hinaus, da war bestimmt alles hell erleuchtet. Blindlings stapfte sie durch die schneebedeckten Felder. Die dunklen Umrisse der fernen Bergkette waren eben noch zu erkennen. Kalt und verlassen lagen die Weiden am Abhang unter ihrem dicken Schneeteppich. Immer weiter kämpfte sie sich vorwärts, während der Schnee ihr in die Augen wehte. Und ganz allmählich wurde ihr bewußt, daß sie das, was Maria ihr genommen hatte, nicht wieder heraufbeschwören konnte. Gerade als ihre Verzweiflung etwas nachgelassen hatte und nur noch ein tauber Schmerz übriggeblieben war, sah sie
plötzlich eine dunkle, unheimliche Gestalt auf sich zukommen. Zu Tode erschrocken wollte sie aufschreien, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Nur einen kümmerlichen kleinen Laut brachte sie heraus. "Ich bin es", hörte sie die schroffe Stimme Nicos Huntlys. "Was machen Sie hier draußen um diese Zeit und bei diesem Wetter?" Seine Stimme klang ungehalten und tadelnd, aber irgendwie väterlich. "Ich schaute zufällig aus einem der hinteren Fenster, und da sah ich, wie sich draußen im Schnee etwas bewegte ..." Er unterbrach sich, als sei er ihr keine Erklärung schuldig. "Wohin wollen Sie?" "Nirgendwohin", entgegnete sie völlig benommen. Im nächsten Augenblick hatte er ihren Arm ergriffen. Sie wehrte sich nicht, sondern ließ sich stillschweigend führen. Sie wußte kaum noch, wo sie sich befand. Ihr Mantel war triefend naß, ihre Schuhe vollkommen durchweicht. Aber sie hatte ja körperlich leiden wollen ... Im nächsten Moment verlangte die Natur ihr Recht. Sie spürte den eisigen Wind nicht mehr, die kalten Beine und die nassen Füße - es wurde schwarz um sie. Nicos Huntly konnte sie gerade noch auffangen. Sally schlug die Augen auf und blinzelte in das gedämpfte Licht. Wo war sie? Sie war durch den Schnee gelaufen ..., eine dunkle Gestalt war drohend auf sie zugekommen ... Nicos Huntly! Und nun war er schon wieder da, ein Riese, der sie streng und finster musterte. Jetzt fiel Sally alles wieder ein. Er hatte auf sie eingeredet und sie zurückgeführt. Und dann mußte sie ohnmächtig geworden sein. "Wo bin ich?" fragte sie, kannte die Antwort aber im voraus. "Im Schloß, Mrs. Walling." "Aber ...", stammelte sie entsetzt, als sie die Hand unter die Bettdecke schob. Das Blut schoß ihr in die Wangen. "Sie ... Sie ..., irgend jemand hat mich ausgezogen ..."
"Sie waren bis auf die Haut durchnäßt, Mrs. Walling", sagte er ruhig. "Sie mußten das Zeug loswerden." Sally weinte leise. "Sie hatten kein Recht dazu. Warum tun Sie mir all dies an?" Sie hatte schreckliche Angst vor diesem Mann und vor der Macht, die er auf sie ausübte. "Sie hätten mich in meinen Bungalow zurückbringen können." "Und Sie dort Ihrem Schicksal überlassen?" Er griff nach ihrer Hand, fühlte ihr den Puls urtd nickte befriedigt. Sally zog die Decke hoch und versuchte sich aufzusetzen. Nicos Huntly schob sie energisch zurück auf das Kopfkissen. "Bleiben Sie liegen. Ich hole Ihnen etwas zu trinken." Sally versuchte die Tränen zurückzuhalten. "Sie haben doch Dienstmädchen", sagte sie ärgerlich. "Hätte nicht eines von ihnen nach mir sehen können?" Der Gedanke, daß er. sie ausgezogen hatte, war ihr unendlich peinlich. "Die sind alle längst im Bett. Es ist nach Mitternacht." Mitternacht! War sie tatsächlich so lange umhergeirrt? Nachdem er das Zimmer verlassen hatte, sah Sally sich näher um. Das wuchtige, altmodische Bett hatte ein üppig geschnitztes Kopfende und am Fußende zwei Bettpfosten. Der Kleiderschrank und der Toilettentisch waren ebenso imposant. Schwere dunkelrote Samtvorhänge verliehen dem Zimmer eine gewisse Wärme, aber sonst wirkte es kahl und ungemütlich. Als Nicos ihr ein Tablett mit einem Glas heißer Milch und ein paar Keksen brachte, zog sie die Bettdecke bis ans Kinn. Der Ausdruck in seinen Augen war undefinierbar. Aber warum benahm er sich eigentlich so gelassen? Wieso hatte er sich kaum darüber gewundert, daß sie mitten in der Nacht mutterseelenallein und viel zu leicht bekleidet im Schnee herumgelaufen war? Es machte fast den Eindruck, als wüßte er, was sie dazu getrieben hatte. "Ich habe Ihre Sachen zum Trocknen aufgehängt", unterbrach er ihre Gedanken. "Inzwischen können Sie etwas von mir anziehen." Er verließ das Zimmer und kam mit einer eleganten
Pyjamajacke zurück, warf sie auf das Bett und verschwand wieder. Sowie sie etwas anhatte, fühlte Sally sich bedeutend wohler. Sie wurde nicht einmal mehr rot, als er zurückkam. Er verhie lt sich so kühl und unpersönlich. Er hatte ihren Körper bestimmt gar nicht beachtet. Die Milch war angenehm warm und gut gesüßt. Sie aß auch die Kekse, die er ihr anbot, denn wenn er der Meinung war, daß sie etwas essen müsse, hätte er sie ihr sowieso aufgezwungen. "Sind meine Sachen schon trocken?" fragte sie, als sie die Milch ausgetrunken und die Kekse aufgegessen hatte. Er würde sie sicher nach Hause bringen. Allein würde er sie bestimmt nicht gehen lassen. "Sie bleiben heute nacht hier", meinte er ruhig. "Es ist viel zu spät. Außerdem schneit es immer noch." "Das macht mir nichts", versicherte Sally aufgeregt. "Ich möchte lieber nach Hause, wenn es Ihnen recht ist." "Es ist mir keineswegs recht." Die kalten Augen musterten sie ungerührt. "Sie liegen hier sehr schön warm und trocken. Es wäre töricht, wenn ich Ihnen erlauben würde, in die Kälte hinauszugehen." Erlauben ... Wieder packte sie diese rätselhafte Angst. Gegen diesen Mann war man einfach wehrlos. Sie wollte sich durchsetzen, antwortete aber nur: "Ja, Mr. Huntly, es wäre töricht, jetzt wieder in die Kälte hinauszugehen." Als Sally am nächsten Morgen aufwachte, war die ganze Welt in Schnee gehüllt. Sie dachte an Maria und Timothy und fragte sich, warum sie plötzlich so apathisch geworden war und sich diesem Nicos Huntly so völlig ausgeliefert hatte. Das vernünftigste wäre natürlich, sie zöge um. Aber wohin sollte sie gehen? Sie hatte wenig Geld und keinen Menschen, der ihr hätte helfen können.
Ein leises Klopfen an der Tür unterbrach ihr Grübeln. Ein Mädchen brachte ihre Kleider. Sie waren nicht nur trocken, sondern auch sorgfältig gebügelt. "Mr. Huntly frühstückt immer um neun, Mrs. Walling." Marguerite, die Sally schon kannte, legte ihre Sachen über einen Stuhl und lächelte sie freundlich besorgt an. "Mr. Huntly sagt, daß Sie sich gestern plötzlich nicht wohl gefühlt hätten." Marguerite war also der Meinung, daß sie sich selbst ausgezogen hätte. So ein Glück, dachte Sally. "Ja, ich bin lange spazierengegangen, und da ist mir auf einmal furchtbar schlecht geworden. Es war nett von Mr. Huntly, daß er mir zu Hilfe gekommen ist." "Das Badezimmer geht links vom Korridor ab. Soll ich Ihnen ein Bad einlaufen lassen?" "Ja, bitte, Marguerite." Eine halbe Stunde später führte die Haushälterin Sally ins Frühstückszimmer. Nicos Huntly stand am Fenster. Er hatte die Hände in die Hosentaschen vergraben und blickte auf die weiße Schneelandschaft hinaus. Als er sie kommen hörte, drehte er sich um und ließ den Blick beiläufig über ihre schlanke Figur gleiten. "Guten Morgen", begrüßte er sie und rückte ihr ihren Stuhl zurecht. "Haben Sie gut geschlafen?" "Ja, danke, Mr. Huntly." Sally sah sich flüchtig um. Das Zimmer war behaglich sozusagen vornehm gemütlich. Es war mit antiken Möbelstücken eingerichtet, mit einem dicken Teppich ausgelegt, und vor den Fenstern hingen königsblaue Brokatvorhänge. "Warum sind Sie gestern abend im Schnee herumgelaufen?" wollte Nicos Huntly wissen, nachdem die Haushälterin das silberne Tablett mit dem Frühstück auf den Tisch gestellt hatte. "Ich wollte Spazierengehen", entgegnete sie kurz. "Aber Sie müssen doch einen Grund gehabt haben." Die dunklen Augen musterten sie erwartungsvoll.
Warum hatte sie wieder das Gefühl, daß er die Antwort schon kannte? Aber woher sollte er wissen, daß Maria sie gestern abend besucht hatte? Und von dem Geheimnis, das sie ihr anvertraut hatte, konnte er erst recht nichts erfahren haben. Dem Geheimnis, das all ihre Träume zerstört, der Vergangenheit all ihren Glanz genommen und sie, Sally, eine Zeitlang ihrer Vernunft beraubt hatte. "Es ist eine Privatangelegenheit." Nicos griff nach ihrem Teller und legte ein Spiegelei und eine Scheibe Speck darauf. "Sie weihen Ihr ganzes Leben also nach wie vor der Vergangenheit?" Der Vergangenheit... Ja, und wenn Maria ihn gewo llt hätte, dann hätte er sie, Sally, sitzenlassen. Nicht kaltblütig, das mochte schon stimmen. Auch ihm wäre wohl das Herz gebrochen. Aber fest stand, daß er lediglich zu ihr gehalten hatte, weil die Mutter seines Kindes ihn seiner Pflicht entbunden hatte. "Nehmen Sie, was sich Ihnen bietet", fing Nicos von neuem an. "Ich bin kein Mann, der große Ansprüche stellt. Aber ich hätte gern einen Sohn. Sie wahrscheinlich lieber eine Tochter. Warum versagen Sie sich Ihr Glück? Warum wollen Sie nicht wieder lieben und geliebt werden - von allen, die Sie brauchen?" Und warum verschwenden Sie Ihre Liebe an die Toten, wenn Sie sie den Lebenden schenken können? beendete sie seinen Satz im stillen. Sie musterte ihn unauffällig. Sie mußte an Timothy denken und daran, wie liebevoll er mit ihm umgegangen war. Er würde bestimmt einen guten Vater abgeben. Er hatte gesagt, daß er keine großen Ansprüche an sie stellen würde. Sie glaubte ihm das. Er wünschte sich einen Sohn und nahm an, daß sie gern eine Tochter hätte. Die Erziehung der Kinder würde natürlich auch bei ihm liegen, und damit wäre automatisch ein etwas herzlicheres Verhältnis zwischen den Eltern hergestellt.
"Ich muß es mir noch etwas überlegen", hörte sie sich plötzlich sagen und konnte kaum fassen, daß sie diese Worte gesagt hatte. Nicos legte sein Besteck hin. Sally konnte den Ausdruck in seinen zusammengekniffenen Augen nicht deuten. Hatte Genugtuung in seinem Blick gelegen? "Sie wollen sich meinen Vorschlag also wenigstens überlegen?" "Aber versprechen kann ich nichts", entgegnete Sally rasch. Sie war wie betäubt. Warum hatte Maria ihr alles verdorben? Sie hätte ihr Geheimnis bis in alle Ewigkeit hüten sollen. "Sie sind ein vernünftiger Mensch, Mrs. Walling", fuhr Nicos unbeirrt fort. "Sie werden einsehen, daß die Ehe ihre Vorzüge hat, und sich dementsprechend entscheiden." "Warum sind Sie gerade auf mich verfallen, Mr. Huntly?" fragte Sally, als sie wieder etwas klarer denken konnte. "Es gibt bestimmt viele Frauen, die bedeutend besser zu Ihnen passen würden." "Ich brauche eine Frau, die meinem Haushalt vorsteht und meine Kinder betreut. Ich bin ein sachlicher Mensch und fest überzeugt, daß Liebe eine geistige Einstellung ist, die künstlich erzeugt wird." Sein Ton war dermaßen gleichgültig, der Blick so steinhart, daß Sally unwillkürlich zusammenzuckte. "Was man unter Liebe versteht, Mrs. Walling", fügte er abfällig hinzu, "ist gemütsbedingter Unsinn, der die Frauen unvernünftig und die Männer charakterlos macht." Sally klopfte das Herz bis zum Hals. Wie konnte man nur so eine Einstellung haben? Und diesen Mann sollte sie heiraten. Sie sah, daß er sie beobachtete, und zwang sich, seinem Blick standzuhalten. "Woran denken Sie jetzt, Mrs. Walling?" fragte er sie eindringlich. "An Ihren verstorbenen Mann?" Sie schüttelte mechanisch den Kopf. "Nein, ich denke nicht an meinen verstorbenen Mann. Ich habe ganz einfach Angst."
"Vor der Heirat?" "Nicht nur davor. Angst vor dem Leben ..." Sie legte ihr Besteck aus der Hand und griff nach ihrer Serviette. "Es ist alles so kalt und trostlos ..." Wirkte sein Mund nicht plötzlich weniger hart und schmal? "Das wird sich geben", sagte er ruhig. "Als glückliche Mutter werden Sie in zwei, drei Jahren Besseres zu tun haben als der Vergangenheit, die Sie heute noch gefangen hält, nachzutrauern." "Wenn ich das nur glauben könnte." "Das können Sie! Gehen Sie nach Hause und denken Sie über meinen Antrag nach. Geben Sie mir Ihre Antwort erst dann, wenn Sie die richtige Entscheidung getroffen haben." "Komm herein, Maria", sagte Sally kühl, aber keineswegs unfreundlich, als Maria und Timothy den Pfad zu ihrem Bungalow heraufkamen. "Soll ich auf Timothy achten?" Es war Samstag, und Sally nahm an, daß Maria ihr Timothy bringen wollte. "Nein, ich nehme ihn mit. Ich wollte es dir nur lieber sagen." Sally hatte das Gefühl, daß Maria sie neugierig musterte. Ihr war, als wüßte sie, was sich vor ein paar Tagen zugetragen hatte. Ob Marguerite ihr etwas erzählt hatte? Die beiden waren ziemlich gut befreundet. "Ich lasse es darauf ankommen", fuhr Maria fort. "Stan kann sich heute schon entscheiden." Sally konnte es kaum glauben, aber Maria zitterten die Lippen. "Wenn er Tim nicht haben will, muß er auf mich verzichten. Ich will es hinter mir haben, und wenn ich Tim jetzt mitnehme, weiß ich wenigstens in zwei Stunden, woran ich bin!" Sally überlegte einen Augenblick und schüttelte dann energisch den Kopf. "Laß ihn heute bei mir, Maria. Erzähle Stan erst einmal von Timothy und nimm ihn das nächste Mal mit. Stan muß Tim ganz einfach liebhaben, aber du darfst ihn nicht dermaßen überrumpeln. Du mußt ihn vorbereiten."
"Du tust immer alles so überlegt", entgegnete Maria spöttisch. "Wenn ich damals überlegt gehandelt hätte, gäbe es Timothy jetzt gar nicht. Ich habe meinen Entschluß gefaßt: Stan und Timothy werden heute miteinander bekannt gemacht!" Maria winkte Timothy zu sich, und einen Augenblick später gingen sie schon auf die Bushaltestelle zu. Sally schloß die Augen und bat inständig, Stan möge das Kind liebgewinnen. Um halb zehn Uhr abends erfuhr sie, daß ihr Gebet erhört worden war und Stan Timothy adoptieren würde. "Ich war ziemlich überrascht", sagte Maria. "Soviel Verständnis hätte ich nicht erwartet. Nachdem er über den ersten Schock hinweg war, verhielt er sich wunderbar. Aber das meiste verdanken wir Timothy. Er mochte Stan sofort, und da hatte er ihn natürlich schon erobert." Sally mußte an Colin denken, und daß sein kleiner Sohn von nun an einen Vater haben würde. Und dabei fiel ihr ein, daß sie nun etwas verlieren würde. "Dann bringst du ihn wohl samstags nicht mehr zu mir?" fragte sie zögernd. "Nein, Sally. Stan möchte, daß wir sofort heiraten. Dad freut sich natürlich. Dann kann Tante Minna gleich zu ihm ziehen. Hoffentlich heiraten die beiden auch bald." Nun waren alle Probleme gelöst. Aber wie stand es um Sally? Timothy würde eine große Lücke zurücklassen. Sally konnte nicht genau sagen, wann sie den Entschluß gefaßt hatte. Es war ganz allmählich gekommen, aber plötzlich wußte sie, daß sie ihre Entscheidung getroffen hatte: Sie würde Nicos Huntly heiraten. Nicos nahm ihre Antwort gelassen entgegen, versicherte ihr, daß sie die richtige Entscheidung getroffen habe und sie niemals bereuen würde. Er betonte auch, daß die Erinnerung an Colin sie eines Tages nicht mehr belasten und sie wieder sorglos lachen
würde. "Eine Hochzeitsreise machen wir selbstverständlich nicht", fügte er zum Schluß noch hinzu. "Das hatte ich auch nicht erwartet." Hochzeitsreisen, dachte Sally, sind für Leute, die sich lieben, und nicht für Menschen, die so sachlich und nüchtern wie Nicos Huntly und sie ihre Ehe eingingen. Vierzehn Tage später waren sie bereits verheiratet. Jeder auf dem Gut war überrascht - abgesehen von Maria. Als Sally ihr kurz vor der Hochzeit alles erzählte, konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Maria lä ngst davon gewußt hatte. "Natürlich mußte Mr. Huntly irgendwann einmal heiraten. Ich freue mich, daß er dich gewählt hat, Sally." Die Hochzeit hatte in aller Stille stattgefunden. Während der Trauung in der Schloßkapelle, in der schon so viele Huntlys getraut worden waren, war Sally geistig vollkommen abwesend. Wieder ließ sie sich treiben, wie ein Blatt im Wind. Und die Führung hatte jetzt Nicos Huntly übernommen. Als sie aus der Kapelle kamen, ging Sally in ihr Schlafzimmer hinauf, während Nicos in seinem Arbeitszimmer verschwand. Stundenlang hatte sie auf dem Fenstersims gesessen und vor sich hingestarrt. Klar denken konnte sie immer noch nicht, aber sie spürte, daß ihr Schmerz nachgelassen hatte, seit dem Tag, an dem Maria sich ihr anvertraut hatte. Als sie Nicos im Nebenzimmer hörte, schüttelte sie die Wirren Gedanken ab, ging unter die Dusche und zog das Kleid an, das sie an dem Abend, an dem Nicos ihr den Heiratsantrag gemacht hatte, getragen hatte. Jetzt würde der Höhepunkt des Tages bald erreicht sein. Sie schloß die Augen. Sie mußte die Erinnerung an ihren ersten Hochzeitstag ausschalten, durfte nicht daran denken, wie glücklich sie damals gewesen war, wie selig sie in Colins Armen gelegen und sich gewünscht hatte, die Nacht möge nie zu Ende gehen. Schon beim Abendessen gingen die Nerven fast mit ihr durch. Und als sie später Nicos in seinem Zimmer hantieren
hörte, fürchtete sie, daß sie laut aufschluchzen würde, wenn die Verbindungstür aufging. Großer Gott, wie sollte sie das durchstehen? Warum hatte sie ihn geheiratet? Sally hatte sich ausgezogen und stand klopfenden Herzens mitten im Zimmer, als die Türklinke sich bewegte. Wie gebannt schaute sie auf die Tür, die sich langsam öffnete. Gemessenen Schrittes kam Nicos in seinem seidenen Morgenrock auf sie zu. "Ich dachte, du würdest schon im Bett sein", brach er das gespannte Schweigen und ließ seinen Blick über sie schweifen. Sally errötete. Warum hatte sie nicht ein etwas weniger durchsichtiges Nachthemd angezogen? Als Nicos ihre Hand ergreifen wollte, wandte sie sich hastig ab. Verzweiflung und Angst schnürten ihr die Kehle zu. "Ich ..., ich kann nicht, Nicos", brachte sie schließlich mühsam heraus. "Bitte habe Verständnis ... Ich möchte ..." Sie machte eine hilflose Handbewegung. "Ich habe mich geirrt. Ich hätte dich niemals heiraten dürfen." Das große, unfreundliche Zimmer wurde immer unheimlicher. Wie viele Menschen in diesem riesigen Himmelbett wohl schon gestorben sind? ging es Sally durch den Kopf. "Es ist durchaus verständlich, daß du jetzt etwas verwirrt bist, Sally. Aber, das geht vorüber. Bald nimmt das Leben hier seinen normalen Lauf, und wir beide ..." Er stockte. Sally hatte ihn entsetzt angestarrt. Wie konnte ein Mann in seiner Hochzeitsnacht so vernünftig daherreden? Das Leben würde seine n normalen Lauf ... Plötzlich mußte sie hysterisch auflachen. "Wie furchtbar komisch!" schrie sie. "Wie albern das alles klingt! Warum lachst du denn nicht, Nicos?" Weiter kam sie nicht. Er stand vor ihr, packte sie unsanft und schüttelte sie kräftig. "Reiß dich zusammen!" befahl er streng. "Du bist ein erwachsener Mensch und bereits einmal verheiratet gewesen. Warum diese übertriebene Angst? Ja, ich kann dir die Angst von
den Augen ablesen. Aber du hast einen Vertrag mit mir geschlossen, und ich erwarte, daß du dich danach richtest.", Sally schluckte verkrampft, mußte ihm aber recht geben. Sie hatte gewußt, auf was sie sich einließ, und sich seinen Antrag lange genug überlegt. Warum reagierte sie jetzt so kindisch? "Es tut mir leid", hörte sie sich schließlich zaghaft sagen. "Aber wir sind uns doch noch vollkommen fremd." Es klang so kläglich, aber Nicos' Miene war streng geblieben. "Ja, wir sind uns fremd", gab er zu. "Aber das muß nicht so bleiben." Sein Ton war unpersönlich, der Blick in den dunklen Augen ungerührt. Sally wußte, daß er bleiben und ihre Gefühle außer acht lassen würde. Er war ihr Mann und würde seine Rechte geltend machen. Seine Hände umfaßten ihre Arme immer noch, aber der Griff war sehr viel sanfter geworden. Auch der Zug um den Mund war nicht mehr ganz so hart. Er ließ den Blick von den bebenden Lippen zu dem schlanken Hals und den festen Brüsten hinuntergleiten. Sally schloß die Augen. Als sein Mund sich entschlossen auf ihre zitternden Lippen legte, gab sie schüchtern nach. Daß er sie hart und herausfordernd küßte und sie dabei immer fester an sich zog, erschreckte sie plötzlich gar nicht mehr. Im nächsten Augenblick hatte er sie schon auf den Arm genommen und zu dem großen Himmelbett hingetragen. Als er sie sanft auf das Bett legte, hielt sie ihre Augen immer noch fest geschlossen, aber ihre Nervosität war verschwunden. Die Nähe seines Körpers hatte sie entspannt. Und dann lag er neben ihr. Das Licht ging aus. Sie spürte, wie seine Hand suchend unter das leichte Nachthemd glitt und warm ihre Brust umfaßte. Der erste Monat ihrer Ehe war schon fast vergangen. Sally hatte sich inzwischen an das Leben im Schloß gewöhnt, nach außen hin jedenfalls. Innerlich jedoch konnte sie immer noch
nicht richtig warm werden, obwohl sich ihre Einstellung zu ihrer Heirat allmählich etwas geändert hatte. Es hatte sich überhaupt allerlei geändert. Mit jedem Tag lernte sie Nicos besser kennen. Er war streng und unnachgiebig. Aber das war er mit allen Menschen. In ihrer Ehe hatte er das Sagen, und da Sally eine intelligente, einsichtige Frau war, fügte sie sich. Allzu oft brauchte sie ohnehin nicht nachzugeben, denn sie kamen sehr gut miteinander aus. Er konnte jetzt manchmal geradezu sanft und warmherzig sein. Die dunklen Augen blitzten sogar gelegentlich humorvo ll, und die schmalen Lippen verzogen sich hin und wieder zu einem Lächeln. Sally hatte es an Beschäftigung nicht gemangelt. Die Möbel in den Zimmern, die sie benutzten, waren alle nach ihrem Geschmack umgestellt worden. Ab und zu fuhr sie zum Einkaufen in die Stadt. Nicos hatte gemeint, sie solle sich eine neue, elegantere Garderobe anschaffen. Aber nun, da es endlich Frühling wurde, zog es sie immer mehr ins Freie hinaus. Sie sah sich auf dem Gut um oder schlenderte durch die Wälder. Mitte April erzählte ihr Nicos, daß sie demnächst nach Kos aufbrechen und seine Verwandten dort besuchen würden. "Kos? Wann fahren wir?" fragte sie aufgeregt. Diese herrliche Insel, deren Geschichte bis ins Altertum zurückging! Aber durfte sie sich wirklich so freuen? Mußte sie dann nicht Liebe, echte Liebe, für ihren Mann vortäuschen? "Mein Großvater erwartet natürlich, daß wir uns wie ein neuvermähltes Paar benehmen", entgegnete er, als hätte er ihre Gedanken erraten. "Ich werde versuchen", brachte sie zögernd heraus, "mich so zu verhalten, als wäre ich sehr in dich verliebt." "Gut. Und ich mache es genauso." Groß und stattlich stand er dort vor dem flackernden Kaminfeuer, eine imponierende Erscheinung. Das hatte Sally auch niemals abgestritten. Aber jetzt war sie sogar manchmal
recht stolz auf ihn, wenn er sie gelegentlich in die Stadt begleitete. "Erzähle mir doch bitte etwas von deinen griechischen Verwandten", forderte Sally ihn auf. "Mein Großvater ist siebenundachtzig und schon seit zwanzig Jahren verwitwet. Er hat eine ziemlich imposante Villa in Kardamena, dem schönsten Dorf auf der Insel. Es liegt direkt am Meer und wird dir bestimmt gefallen. Ich liebe es jedenfalls sehr." "Würdest du lieber dort wohnen?" fragte sie gespannt. "Das heißt, wenn du dieses Schloß hier nicht hättest?" "Ich glaube, es würde sich dort sehr gut leben lassen!" "Hast du noch mehr Verwandte dort? Vettern oder ..." "Mehrere", entgegnete er mit plötzlich verändertem Tonfall. "Werde ich sie kennenlernen?" "Das will ich annehmen. Die warten schon alle gespannt auf das Mädchen, das ich geheiratet habe", meinte er in einem etwas seltsamen Ton. "Wohnt dein Großvater ganz allein?" "Ja. Abgesehen von den Dienstboten natürlich." "Dann hat er wohl gern Gäste?" "Mich hat er eigentlich immer gern um sich", erwiderte Nicos nachdenklich. Wieder hatte Sally das Gefühl, als ob er etwas ausgelassen hätte. "Du brauchst leichtere Kleidung", wechselte er das Thema. "Kos kann im Frühling schon sehr warm sein. Kauf dir in den nächsten Tagen ein paar Sommerkleider in den allerbesten Geschäften."
6. KAPITEL "Brauche ich auch Abendkleider?" fragte Sally ein paar Tage später. "Ja, natürlich. Wir bleiben drei Wochen." Er unterbrach sich etwas unschlüssig. "Ich möchte", fuhr er leiser fort, "daß mein Großvater annimmt, daß du ein Kind erwartest." "Daß ich was ..:.?" Das Blut war Sally in die Wangen gestiegen. "Aber warum denn?" "Weil ich es wünsche", entgegnete er kurz. Sally schüttelte verzagt den Kopf. "Das wäre mir entsetzlich peinlich." "Du tust, was ich dir säge", erwiderte er, obgleich das Zucken um ihren Mund ihm verriet, wie bestürzt sie war. "Es würde mir gräßlich unangenehm sein", versuchte sie es noch einmal. "Ich würde ..." "Ich wünsche, daß du meinem Großvater zu verstehen gibst, daß du ein Kind erwartest." Die Sonne schimmerte noch golden, aber die Schatten der Palmen wurden schon länger, als Sally und Nicos auf Kos ankamen. Der Wagen, der sie vom Flughafen abgeholt hatte, rollte über den Kies der langen Auffahrt und kam in dem großartigen Vorhof der Villa zum Stehen. Vor dem hohen Portal, auf das Nicos Sally zuführte, erwartete sie schon ein Dienstmädchen im schwarzen Kleid.
"Kalispera, Astera", begrüßte er das Mädchen. Und weil sie fließend Englisch sprach, stellte er Sally auf englisch vor: "Dies ist meine Frau, Astera." Astera reichte Sally lächelnd die Hand. "Willkommen in Griechenland, Mrs. Nicos." Sally erwiderte den Gruß freundlich und warf Nicos einen fragenden Blick zu. "In Griechenland wird die Ehefrau immer mit dem Vornamen ihres Mannes angeredet", erläuterte er. Ein paar Minuten später stand sie schon seinem Großvater gegenüber. George Kleanthes war ein großer, hagerer Mann mit schneeweißem Haar und buschigen Augenbrauen. Seine Augen waren ebenso dunkel wie Nicos', sein Gesicht war gebräunt und runzelig. Er hatte etwas Abweisendes an sich, begrüßte Sally aber sehr herzlich. Er freue sich, versicherte er ihr, daß sein Enkel nun endlich geheiratet habe, und er hoffe, daß schon ein Baby unterwegs sei. Sally schoß das Blut in die Wangen, aber der alte Herr lachte nur. "Es wäre schön, wenn es der Fall wäre", wandte er sich an Nicos. "Wir hoffen, daß es ein Junge wird", meinte Nicos gelassen. "Natürlich", stimmte sein Großvater ihm bei, als könnte kein normaler Mensch sich ein Mädchen wünschen. Sally fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut. Sie kam sich vor wie eine Fremde in dieser neuen Umgebung. Selbst ihr Mann war plötzlich ganz und gar Grieche geworden und unterhielt sich angeregt nur noch mit dem alten Herrn. Es schien sich um etwas Wichtiges zu handeln, und sie hatte den Eindruck, daß Nicos sich über irgend jemanden ärgerte. Zum Glück erschien Astera, um sie auf ihr Zimmer zu führen. Der Blick aus ihrem Fenster auf das Ägäische Meer war einmalig, und ganz in der Ferne, in leichten Dunst gehüllt, lagen die Berge der Türkei.
"Soll ich Ihre Koffer jetzt auspacken, Mrs. Nicos?" fragte Astera mit einem Blick auf Sallys Gepäck. "Nein, danke, Astera noch nicht." Sally wollte allein sein. Sie war von Anfang an besorgt gewesen, daß man ihnen hier ein gemeinsames Schlafzimmer zuteilen würde. Im Schloß bewohnten sie zwei Zimmer mit einer Verbindungstür. Sie hatte Nicos eigentlich längst fragen wollen, sich aber nicht gewagt, das Thema anzuschneiden. Das Zimmer war luxuriös und sehr geschmackvoll eingerichtet. Die elegante Oberdecke auf dem großen Bett und die Vorhänge an den vier Fenstern waren aus violettem Atlas. Über der Decke lag noch eine zweite kostbare handgearbeitete Spitzendecke. In diesem hübschen Zimmer wurde ihr auf einmal viel leichter ums Herz. Konnte es sein, daß sie sich freute, ihren Mann mehr um sich zu haben? Wenn sie ehrlich war, mußte sie zugeben, daß es ihr kein einziges Mal unangenehm gewesen war, wenn ihr Mann sie in ihrem Zimmer aufgesucht hatte. Im Gegenteil, sie hatte sich eigentlich immer gefreut. Und sie freute sich auch jetzt, als sie seine Schritte im Korridor hörte. "Gefällt dir unser Zimmer?" fragte er, als er hereinkam. "Der Sonnenuntergang ist hier immer großartig", fuhr er fort und trat ans Fenster. "Jeden Abend sieht er anders aus. Dämmerung gibt es hier kaum. Aber das weißt du sicherlich schon." Er drehte sich um, und sein Blick fiel auf Sally. Wie schön sie aussah in den Strahlen der untergehenden Sonne. "Ja, daß ihr unsere langen Abende nicht kennt, wußte ich", entgegnete sie und wunderte sich, warum sie mit ihm redete, als wohne er dauernd hier - als wäre er in Griechenland und sie in England zu Hause. Aber er war eben auf einmal ganz griechisch geworden. "Astera wollte vorhin meine Koffer auspacken. Am liebsten würde ich es selbst tun. Aber das geht wohl nicht?"
"Astera erwartet, daß du das ihr überläßt. Hast du dir das Ankleidezimmer schon angesehen? Es hat zwei Kleiderschränke." Er ging auf die gegenüberliegende Tür zu. "Nein, das habe ich noch nicht gesehen. Und die andere Tür führt zum Badezimmer, ja?" "Ja, die ..." Er unterbrach sich plötzlich und schien seinen Blick nicht mehr von ihr losreißen zu können. "Komm her, Sally", sagte er leise. Sie gehorchte - wie sie ihm immer gehorchte. Er befahl ruhig, aber bestimmt und erwartete, daß seine Frau sich fügte. Er nahm sie in die Arme und beugte sich zu ihrem Mund. Sally war überrascht. Dies war bisher nur nachts geschehen. Irgend etwas in Sally sträubte sich und ließ sie zurückzucken, als sein Mund ihre Lippen berührte. Sie sah die dunklen Augen aufblitzen, spürte, wie er ihr Kann hochhob und seinen Mund fest auf ihre bebenden Lippen legte. Hart und unerbittlich war sein Kuß. Wollte er ihr beweisen, daß sie ihm voll und ganz ausgeliefert war? Sally wehrte sich nicht mehr. Sie schmiegt e sich in seinen Arm, ließ seine Hand ihre Brust streicheln und ließ sich abermals küssen. Und dann gab er sie ganz plötzlich frei. "Wir müssen hinunter." Er seufzte bedauernd auf. Sie konnte sehen, wie es in seinem Gesicht zuckte. Daß er sehr leidenschaftlich sein konnte, hatte Sally schon herausgefunden. Und hier in Griechenland würde sich das sicherlich noch steigern. Die Griechen galten nicht umsonst als ein leidenschaftliches Volk. "Ich möchte mich noch eben waschen und umziehen", erwiderte sie. "Geh du ruhig schon hinunter." "Nein, ich warte auf dich, Sally." Sie ging ins Badezimmer und holte sich anschließend ein ärmelloses Baumwollkleid aus ihrem Koffer. "George möchte dich besser kennenlernen", sagte er, während Sally sich das Haar bürstete. "Er findet dich sehr schön und hat mir zu meinem guten Geschmack gratuliert." Seine
Stimme klang jetzt vollkommen kühl, aber der Ausdruck in seinen dunklen Augen war alles andere als gleichgültig. "Wie nett von ihm", entgegnete Sally und legte die Bürste auf den Toilettentisch zurück. "George ist ein sehr aufrichtiger Mensch. Er sagt niemals etwas, was er nicht meint." "Ist es denn wirklich so wichtig, daß ich deinem Großvater gefalle?" Sally wußte nicht, warum sie es gesagt hatte, aber nun, da sie die Frage gestellt hatte, wartete sie gespannt auf eine Antwort. "Sehr wichtig sogar, Sally." Sie starrte ihn ungläubig an. "Sehr wichtig?" wiederholte sie, und dabei fiel ihr auf einmal der Dorfklatsch zu Hause wieder ein. "Weil du sein Erbe bist?" "Das steht noch nicht fest. George ist ein wunderlicher Kauz. Zu seinem Erben wollte er mich nur machen, wenn ich heiraten würde und ihm einen Sohn vorzeigen könnte." Sally war wie versteinert. "Dann war das der Grund, warum du mich unbedingt heiraten wolltest!" platzte sie heraus. Die schwarzen Augen blitzten ungeduldig auf. Er war tatsächlich mehr Grieche als Engländer. Sally lief es unwillkürlich kalt über den Rücken. "Ich habe dir ehrlich gesagt, daß ich einen Sohn haben wollte - und daß das nicht der einzige Grund ist. Aber dein Schluß liegt natürlich nahe. An sich hatte ich an einen Erben für meinen Besitz in England gedacht. Das Vermögen meines Großvaters interessiert mich nicht. Doch er selbst liegt mir am Herzen. Er macht sich in letzter Zeit zu viele Sorgen. Sein jetziger Erbe ist ein Verschwender." "Warum verteilt er sein Vermögen nicht an deine vielen Vettern?" Sally hatte ihren Unmut schon wieder vergessen. "Das habe ich ihm auch schon vorgeschlagen. Aber er will das Erbe nicht aufteilen. Dabei hat er genug, um ..."
"Aber du behauptest doch, daß dich das alles gar nicht interessiert." "Das stimmt auch. Aber er selbst interessiert mich. Ich möchte, daß er glücklich ist. Wir Griechen sind nun einmal so. George hält nichts von meinem Vetter, der ihn beerben soll. Er hat schon mehr als ein Vermögen verspielt, und George weiß natürlich, daß er es mit dem Kleanthes-Vermögen ebenso machen wird. Das will er vermeiden. Deshalb will er mich zu seinem Erben machen - wenn ich einen Sohn habe." Sally sah ein, daß Nicos es gut gemeint hatte. Er hatte nur seinen Großvater beruhigen wollen. Aber wenn sie nun kein Kind bekäme? Als sie herunterkamen, saß George bereits gemütlich in einem Korbstuhl auf der Terrasse. "Da seid ihr ja. Kommt, setzt euch", begrüßte er sie und klatschte in die Hände. "Kaffee, bitte", sagte er zu Siros, dem Diener, der auf das Händeklatschen hin erschienen war. "Und Kuchen." Während Nicos sich mit seinem Großvater unterhielt, ließ Sally den Blick über die herrliche Aussicht ringsum schweifen. Die untergehende Sonne ließ alle Farben intensiver erscheinen. Die rosa Blüten der Judasbäume leuchteten beinahe rot. Die üppigen dunkelroten Hibiskusblüten waren noch dunkler geworden. Die Berghänge schimmerten wie Gold, und die See glitzerte wie Bernstein. Doch sehr bald unterhielten sie sich schon zu dritt. Sally stellte fest, daß George ein fabelhafter Mensch war und daß sie sehr gut mit ihm auskommen würde. Später beim Abendessen erzählte er ihr dann, daß er am nächsten Tag zwei seiner Enkelkinder erwarte. "Maroula gefällt dir ganz bestimmt", versicherte er ihr eifrig. "Aber Adonis ... Na, ich weiß nicht recht. Er sieht besonders gut aus, und die Frauen fliegen ihm nur so zu."
Sally nahm an, daß dies der junge Mann sein mußte, von dem Nicos ihr erzählt hatte, der vorläufige Erbe. Als sie sich Maroula näher beschreiben ließ, erfuhr sie, daß sie neunzehn Jahre alt, sehr hübsch und mit einem schon etwas älteren Athener Kaufmann verlobt war. Es handelte sich hier offensichtlich um eine Vernunftehe. Sally hatte das Gefühl, daß Maroula selbst gar nicht gefragt worden war. Als Mitgift sollte sie eine großartige Villa, eine erhebliche Summe Geld und riesige Orangenhaine mit in die Ehe bringen. "Der bloße Gedanke an eine solche Ehe und eine derartige Mitgift widert mich an", meinte Sally, als sie kurz nach Mitternacht wieder in ihrem Zimmer waren. "Mich auch", erwiderte Nicos überraschenderweise. "Aber diese alten Sitten lassen sich nicht so schnell abbauen." "Aber du würdest Maroula doch nicht verbieten, jemanden zu heiraten, den sie liebt, nicht wahr?" fragte Sally gespannt. "Den sie liebt?" Er schmunzelte kaum sichtbar. "Ich würde ihr die Wahl selbst überlassen, aber was die Liebe betrifft ... Was ich davon halte, weißt du ja." "Mir tun Menschen, die noch niemals verliebt gewesen sind, aufrichtig leid." "Sally, mit mir mußt du kein Mitleid haben", versicherte er ihr gelassen. "Ich habe die Liebe noch niemals vermißt und werde sie auch in Zukunft nicht vermissen. Ich habe genau das, was ich brauche - eine Frau, die mich versteht und die nicht mehr von mir verlangt, als ich zu geben bereit bin." Als er langsam auf sie zukam, lief Sally ihm bereits entgegen. Er nahm sie in die Arme und zog sie an sich. Seine Küsse wurden immer inniger, immer leidenschaftlicher. Verlangender denn je strichen seine warmen Hände über ihren zarten Körper, glitten die Lippen von ihrem Mund zu ihrem Hals und den verlockenden Ausschnitt ihres Abendkleides hinunter.
Als er sie endlich zögernd freigab, starrte er sie noch lange merkwürdig verwundert an. "Es wird spät, mein Liebes", murmelte er und ging ins Ankleidezimmer. Sally trat ans Fenster und zog die Vorhänge zurück. Wie Diamantenstaub glitzerten die Sterne hoch am Himmel. Scharf und hell zeichnete sich der Mond gegen das tiefe Blau ab. Sie öffnete die Balkontür und trat in die Nacht hinaus. Wie wohltuend das tiefe Schweigen war, wie beruhigend die linde, dufterfüllte Luft. Dies war das Land der Götter, die schon längst der Vergangenheit angehörten und doch noch überall gegenwärtig zu sein schienen. Gelöst lehnte Sally an der Balkonbrüstung. Sie wußte, daß sie nach und nach immer zuversichtlicher geworden war und ihre Angst beinahe verloren hatte. Aber erst in diesem Augenblick wurde ihr klär, daß Colin tatsächlich in Vergessenheit geraten war und die Gegenwart ihr Recht verlangte. Sie lächelte verträumt vor sich hin, bis Nicos plötzlich neben ihr stand. Er trug einen Morgenrock über seinem Schlafanzug und duftete frisch und herb. "Eine herrliche Nacht", flüsterte sie. "So still." Nicos schwieg. Sie waren einander plötzlich so viel näher als zuvor. Ob es der Zauber dieser griechischen Nacht war? "Komm, Sally", sagte er schließlich leise. Er griff sacht, nach ihrer Hand und führte sie ins Schlafzimmer zurück. Am liebsten hätte Sally sich ganz eng an ihn geschmiegt, ganz, ganz eng. Aber sie war zu schüchtern. Sie ging ins Ankleidezimmer und dann ins Bad. Lächelnd kam er auf sie zu kaum daß sie wieder im Schlafzimmer war. In seinen Augen lag so viel Bewunderung, daß Sally aus dem Staunen gar nicht mehr herauskam. Sie mußte an seine frühere nüchterne Sachlichkeit zurückdenken. Der Zauber dieses Landes hatte sich scheinbar nicht nur auf sie ausgewirkt.
Im nächsten Augenblick lag sie schon eng an ihn geschmiegt in seinen Armen. Forschend und ungestüm tasteten seine Hände, suchte sein Mund ... Am nächsten Morgen führte Nicos sie an den Strand hinunter. Das Meer war wunderbar warm. Sally lag auf dem Rücken und ließ sich treiben. Sie starrte in den blauen Himmel und dankte Gott dafür, daß die Vergangenheit hinter ihr lag und es wieder eine Zukunft gab - wie Nicos von Anfang an vorausgesagt hatte. Sie ließ sich noch eine Weile treiben. Dann drehte sie sich entschlossen wieder auf den Bauch und schwamm an Land. Als sie sich auf das bunte Badetuch setzte, mußte sie an Timothy denken. Wie er den Strand und das Meer genossen hätte. Dabei fiel ihr Mr. Endersley ein, dessen Leben sich ja auch vollkommen ändern würde, nun, da Minna seinen Heiratsantrag angenommen hatte. Sie mußte an ihren Bungalow denken, der immer noch leerstand. Er war so viel moderner und so viel behaglicher als Mr. Endersleys alte, malerische Kate. Ob die beiden ihn wohl gern gehabt hätten? "Könntest du Mr. Endersley nicht meinen Bungalow anbieten?" fragte sie Nicos ganz spontan, während sie sich auf ihr Badelaken legte. "Ich glaube, er heiratet demnächst, und die Kate ist so furchtbar altmodisch." Die großen grauen Augen blickten erwartungsvoll zu ihm auf. Nicos, der sich noch abtrocknete, musterte sie erstaunt. "Dann würde es dir also nichts mehr ausmachen, wenn jemand anderes in deinen Bungalow einzöge?" fragte er vorsichtig. Sally schüttelte schweigend den Kopf. Sie wußte, die beiden würden ihn mögen, und hoffte, daß Nicos einwilligen würde. "Nein, es macht mir nichts mehr aus. Außerdem sind Mr. Endersley und Minna ganz besonders nette Menschen." Nicos trocknete sich weiter ab und merkte gar nicht, daß zwei hübsche Mädchen, die den Strand entlangschlenderten, ihn anstarrten. Ja, dachte Sally, als er das Handtuch lässig fallen
ließ, er sieht gut aus mit seiner schlanken, eleganten Figur und der braunen Haut, die er von seiner Mutter geerbt hat. Schade, daß die scharfen Züge und schmalen Lippen ihm etwas Rücksichtsloses geben. Aber gerade sie gaben dem Gesicht seine Kraft und Überlegenheit. "Kann Mr. Endersley ihn haben?" fragte sie noch einmal. "Ja, natürlich. Wenn es dir so wichtig ist, kann er ihn selbstverständlich haben." "Dank dir, Nicos", sagte sie und lächelte ihn an. "Die Teppiche liegen noch. Und die Gardinen sind auch noch da." Sally dachte an ihre Möbel, die sie mitgenommen hatte. Nicos hätte alles am liebsten gleich verkauft, hatte sie aber schließlich doch verstehen können und die ganzen Möbel ins Schloß schaffen lassen. "Alles, was jetzt noch im Bungalow ist", fing sie wieder an, "könnten doch eigentlich die beiden haben." "Ja. Aber solltest du es dir nicht lieber bezahlen lassen?" "Nein, ich möchte es ihnen schenken. Mr. Endersley besitzt nicht viel. Maria und Timothy müssen ihn eine Menge Geld gekostet haben." Ihr fiel ein, daß Nicos Mr. Endersleys Lohn damals erhöht hatte, aber er sollte die Sachen trotzdem haben. "Ein großzügiges Geschenk", meinte Nicos und ließ den Blick über Sallys schönes Profil gleiten. Zum ersten Mal in seinem Leben war ihm die Schönheit einer Frau nicht mehr gleichgültig. Er sah geradezu glücklich aus, jedenfalls sehr viel glücklicher als vor seiner Heirat. Wieder streckte er ihr verlangend die Arme entgegen, ergriff er zärtlich ihre Schultern. Sally fing seinen sonderbaren Blick auf. Ihr war, als suche er etwas in ihren Augen, als erhoffe er sich etwas. Sie erbebte unter dem leichten Druck seiner Hände. Die Schauer, die sie in dem Augenblick überliefen, waren ganz anders als die Gefühle, die Colin in ihr erweckt hatte. Jetzt fragte sie sich, ob sie nicht doch mehr als rein körperliche Zuneigung für ihn empfand.
"Komm, Sally", brach er schließlich den Bann, der sie beide gefangen hielt. "Großvater wartet bestimmt schon auf sein Frühstück. Und wie steht es mit dir? Bist du auch hungrig?" "Und wie! Vom Schwimmen!" "Das machen wir von nun an jeden Morgen." Nicos hob die Badelaken auf, schüttelte den Sand ab und nahm sie über den Arm. Dann schlenderten sie gemächlich auf das imposante weiße Haus mit seinen blauen Fensterläden zu. Sally stand tief in Gedanken versunken am Swimmingpool der Villa. Nicos' Großvater hatte sie in Verlegenheit gebracht. George Kleanthes war zwar hoch entzückt von der Frau seines Enkels, hatte sie aber völlig überrumpelt. Er hatte sie gefragt, wann das Baby fällig wäre. Heiße Röte war Sally in die Wangen gestiegen, als sie ihm vorlügen mußte, daß sie es noch nicht genau sagen könne. Glücklicherweise hatte der alte Herr es dabei bewenden lassen. Aber da er ein typischer Grieche war, schaute er, wenn er sie sah, immer unwillkürlich auf ihren Bauch. "Stört es dich, wenn George dich so von oben bis unten anguckt?" hatte Adonis, der inzwischen angekommen war, sie gefragt und herausfordernd gelacht. Sally hatte die Frage einfach überhört. Als er ihr vorgestellt worden war, hatte sie ihn für einen netten Menschen gehalten, mußte aber jetzt zugeben, daß er alles andere als nett war. Er sah zwar sehr gut aus, aber er war höchst oberflächlich und konnte einen entsetzlich langweilen. Außerdem war er so leichtsinnig, daß Sally gut verstehen konnte, warum George um sein Vermögen besorgt war. Er arbeitete im Hauptbüro in Athen, bekleidete jedoch einen Posten, den er für unter seiner Würde hielt. Aber George hatte eben kein Vertrauen zu ihm und deshalb auch Nicos gebeten, für zwei Tage nach Athen zu fahren. Er sollte die Bücher prüfen und einen ausführlichen Bericht zusammenstellen.
Adonis hatte in Athen natürlich eine elegante Luxuswohnung mit Blick auf die Akropolis und die Lykabittosberge. Warum sollte er als Enkel eines Millionärs nicht großzügig leben? Er wäre übrigens auch ohne seinen Großvater ein sehr reicher Mann gewesen, wenn er nicht das Vermögen seines Vaters in vier Jahren durchgebracht hätte. Es war kein Wunder, daß George Nicos zu seinem Erben machen wollte. Sally stand noch immer am Swimmingpool und starrte nachdenklich auf die von Palmen umsäumte Bucht hinaus, als sie plötzlich Nicos den Kiesweg hinter sich hinunterkommen hörte. Er sah etwas abwesend aus. Sally wußte sofort, daß er mit seinen Gedanken noch in Athen war. Zum ersten Mal wünschte sie, daß ihre Ehe so wäre, daß er sich ihr anvertrauen würde. " "Ganz allein?" fragte er und lächelte sie an. "Wo ist denn Maroula?" "Sie wollte Spazierengehen. Ich hatte das Gefühl, daß sie gern allein sein wollte. Deshalb bin ich lieber hiergeblieben." "Ihr versteht euch ja anscheinend schon blendend." "Ja, wir verstehen uns sehr gut. Maroula ist reizend ..." Sally hielt unentschlossen inne. "Aber sie kommt mir irgendwie unglücklich vor", fügte sie schließlich zögernd hinzu. "Unglücklich?" Nicos blickte sie forschend an. "Aber warum denn?" "Ihre Heirat ..." Sie unterbrach sich rasch. "Ich weiß, daß es mich nichts angeht und ich mir keine Gedanken machen sollte." "Du tust es aber trotzdem?" "Ja, ich mache mir Gedanken", gab sie zu. "Maroula ist, so ein liebes Mädchen. Es wäre tragisch, wenn sie jemanden heiraten müßte, den sie nicht liebt. Aber das kannst du natürlich nicht verstehen. Du hältst Liebe ja für ganz unwichtig." Ihr Ton war geradezu wehmütig geworden. Aber diesmal hatte es nichts mit Colin zu tun. Sie schaute Nicos direkt in die Augen. Er ließ sich nichts anmerken, und doch war ihr, als hätte
sie etwas ganz Neues in diesen dunklen Augen entdecken können, hätte er sich nicht so in der Gewalt gehabt. "Solche Ehen sind in Griechenland gang und gebe. Beide Partner kommen den Wünschen ihrer Eltern oder ihres Vormundes nach." Sally blickte ihn halb kritisch und halb fragend an. "Maroula hat Eltern, und doch liegt ihr Schicksal in den Händen ihres Großvaters." "Du beurteilst es etwas zu dramatisch, Sally", entgegnete er. "Gewiß, Maroula hat Eltern. Aber sie sind arm. Maroula braucht die Mitgift ihres Großvaters. Sonst findet sie bestimmt keinen Mann, und schon gar nicht jemanden, der so wohlhabend ist wie Petrakis. Maroula hat großes Glück." "Ich glaube aber trotzdem, daß sie sich ihren Mann lieber selbst ausgesucht hätte." "Hat sie dir gegenüber so etwas erwähnt?" "Nein, sie hat zu mir nichts dergleichen gesagt. Das ist es ja gerade." "Du mußt dich schon deutlicher ausdrücken, Sally." "Sie spricht überhaupt nicht von ihrem Verlobten. Ein Mädchen, das verlobt ist, erzählt doch immer gern von ihrem zukünftigen Mann." "Wo ist sie denn jetzt eigentlich?" fragte Nicos ganz plötzlich. "Am Strand. Sie wollte etwas am Wasser entlanggehen." Nicos' Blick hatte sich verfinstert. Hatte er wo möglich Verdacht geschöpft? "Ein junges Mädchen geht nicht allein spazieren." Seine Stimme war streng und tadelnd geworden. "Geh und sieh zu, ob du sie irgendwo auf treiben kannst." Sally sah ihn empört an. "Warum soll denn ein junges Mädchen nicht allein Spazierengehen? Und was würde sie von mir denken, wenn ich ihr nachspionierte? Mir persönlich wäre es nicht lieb, wenn man meinen Wunsch, allein zu sein, nicht respektierte."
"Hat sie gesagt, daß sie lieber allein sein wollte?" "Nein, aber ich hatte das Gefühl, daß sie lieber allein gehen wollte." "Als ich sagte, daß ein junges Mädchen nicht allein spazierengeht", fing Nicos wieder an, nachdem er eine Weile geschwiegen hatte, "meinte ich ein griechisches junges Mädchen. Hier gehört sich das ganz einfach nicht. Und wenn sie zufällig in der Gesellschaft eines Mannes gesehen würde, könnte sie auf ewig ihren guten Namen einbüßen." Sally schnappte hörbar nach Luft. Daß Griechenland so rückständig sein könnte, hätte sie niemals für möglich gehalten. "Auf ewig ihren guten Namen einbüßen! Ist das nicht ein bißchen übertrieben?" "Wenn jemand Maroula mit einem Mann zusammen sehen und ihr Verlobter davon erfahren würde, wäre das Verlöbnis sofort hinfällig." "Er traut ihr also nicht. Das ist ja kaum zu glauben!" "Es handelt sich hier nicht um Vertrauen, sondern um althergebrachte Sitten. Und Sitten sind oftmals strenger als das Gesetz, Sally." "Und dir macht das nichts aus, Nicos?" "Da ich ziemlich viel griechisches Blut in den Adern habe, eigentlich nicht." "Ich komme aus dem Staunen gar nicht mehr heraus." Ein winziges Lächeln umspielte seine Lippen. "Du lernst mich eben immer besser kennen, Sally", entgegnete er in einem ganz anderen Ton. "Und ich dich auch." Sally war rot geworden. Inwiefern lernte er sie immer besser kennen? Sollte sie das als gutes oder schlechtes Zeichen auffassen? War es ihr denn nicht gleichgültig, ob sie ihm gefiel? "Fährst du noch einmal nach Athen?" fragte sie zögernd. "Diese Woche nicht mehr. Aber nächste Woche wahrscheinlich. Und dann nehme ic h dich mit. Athen wird dir gefallen."
"Du nimmst mich mit?" rief Sally hell begeistert. "Das wäre eine wunderbare Abwechslung." "Abwechslung?" hakte er sofort nach. "Du findest es hier doch hoffentlich nicht langweilig, Sally?" "Natürlich nicht, Nicos", versicherte sie ihm rasch. "Bei all dem Schwimmen und all den herrlichen Spaziergängen!" "George erwartet selbstverständlich, daß ich dir Athen zeige. Ich habe da zwar allerlei zu tun, aber du wirst dir schon die Zeit vertreiben." "Bleiben wir über Nacht?" "Ja, zwei Nächte, vielleicht sogar drei." Sallys Mund stand vor lauter Begeisterung halb offen. Ihr blondes Haar war vom Wind zerzaust. Sie lächelte ihn glücklich an. Es zuckte verräterisch in seinem Gesicht, aber sein Blick blieb wie gewöhnlich undeutbar. Und doch lag etwas darin, das Sally seltsam berührte. Waren sie vielleicht beide auf der Suche, ohne daß sie es wußten? "Ich glaube, du siehst jetzt lieber nach, wo Maroula steckt", sagte er schließlich und deutete auf den Strand.
7. KAPITEL Als Sally den Strand erreicht hatte, kam Maroula ihr schon von weitem entgegen. Sie winkte Sally eifrig zu. Wie jung sie aussah, wie zart und verletzbar. Aber sie war ein ganz modernes Mädchen. Und das betraf nicht nur ihre Kleidung, sondern auch ihre Ansichten. Daß ihre Eltern arm waren, hatte in dieser Beziehung nichts ausgemacht. Die elegante Garderobe finanziert bestimmt ihr Großvater, schoß es Sally durch den Kopf. "War es schön?" fragte sie und war froh, daß sie Maroula so schnell gefunden hatte. "Wunderbar!" Maroulas Augen glänzten verträumt. War das ein Zeichen dafür, daß sie nicht allein spazierengegangen war? "Und was hast du gemacht, Sally?" "Ach, ich bin nur so im Garten herumgelaufen." "Du bist gern im Garten, nicht wahr?" "Ja, sehr. Mir gefällt hier überhaupt alles." "Und dabei hast du noch gar nicht viel von der Insel gesehen. Sag Nicos, er soll dir Asklepion zeigen. Das ist einmalig." "Das tut er bestimmt noch", meinte Sally, während sie auf das Haus zuschritten. Zwei junge Mädchen, die sich in kurzer Zeit ungewöhnlich gut angefreundet hatten. Beide waren in Schweigen verfallen. Sally fragte sich, ob Maroula tatsächlich einen Freund hatte. Wenn sie dann wirklich ihrem Herzen folgen würde, könnte das zu großen Schwierigkeiten führen. Sogar Nicos würde sie dann
im Stich lassen. Das hatte er vorhin deutlich zu verstehen gegeben. Sie streifte Maroula unauffällig mit einem Blick. Wenn sie richtig geraten hatte, würde Maroula sich ihrer neuen Freundin sehr bald anvertrauen. Sally hatte recht gehabt. Noch am, selben Abend bat Maroula sie, nach dem Abendessen noch etwas mit ihr zusammen im Garten spazierenzugehen. "Sally, ich muß dir etwas sagen", fing sie dann sofort an, als sie außer Hörweite waren. "Ich muß mich ganz einfach jemandem anvertrauen. Hoffentlich hast du nichts dagegen, wenn ich dich in mein Geheimnis einweihe." "Nein, natürlich nicht." Sally lächelte gezwungen. Wenn es sich um etwas handelte, das sie sowohl vor Nicos als auch vor George geheimhalten mußte, ließ sie sich auf ein gefährliches Spiel ein. "Du weißt doch, daß ich verlobt bin, Sally", setzte Maroula an. "Aber es ist eine Verlobung, die gegen meinen Willen zustande gekommen ist." "Das Werk deines Großvaters?" "Ja. Hauptsächlich jedenfalls. Du hältst ihn bestimmt für eine Seele von einem Menschen, dabei versucht er dauernd, andere zu bevormunden. Ich selbst bin überhaupt nicht gefragt worden. Die Verlobung war schon beschlossene Sache, als ich Peträkis noch gar nicht kennengelernt hatte." "Als du ihn noch gar nicht kanntest?" Sally starrte Maroula ungläubig an. "Hast du denn noch nichts von unseren alten Sitten hier gehört, Sally?" fragte Maroula bitter. "Ich wußte, daß Ehen arrangiert werden, wußte aber nicht, daß man die Mädchen dazu zwingen kann, jemanden zu heiraten, den sie nicht einmal kennen!" "Zwingen kann man mich auch nicht dazu, Sally. Aber wenn ich Peträkis ausschlage, sind mein Großvater und meine ganze
Familie gesellschaftlich ruiniert und werden mir niemals verzeihen. Und dabei kann ich ihn nicht ausstehen!" "Du liebst einen anderen, nicht wahr?" "Woher weißt du das?" Maroulas Kopf fuhr herum. "Einfühlungsgabe, würde ich sagen. Ich habe mich natürlich gefragt, warum du in den letzten Tagen lieber allein Spazierengehen wolltest. Und heute morgen sahst du so glücklich aus, daß ich den Eindruck hatte, du seiest verliebt." "Ich habe mich mit Davos getroffen. Er ist extra nach Kos gekommen, weil ich meinen Großvater hier besuche. Er wohnt in Athen. Und da selben wir uns sehr häufig." "Hast du denn keine Angst, Maroula?" "Manchmal schon." "Könntest du denn nicht Davos heiraten?" "Selbstverständlich. Aber man würde es mir niemals verzeihen, wenn ich die Verlobung mit Petrakis annullieren würde. Ich soll unbedingt eine gute Partie machen - meinem Großvater zuliebe. Ich weiß nicht, warum ich dir dies alles erzähle, Sally. Aber ich muß mich jemandem anvertrauen. Davos wird nämlich schon ungeduldig. Wenn ich es ihm erlauben würde, würde er schnurstracks zu meinem Großvater gehen und um meine Hand anhalten." "Eine schwierige Lage. Das kann man wohl sagen." "Was würdest du tun, Sally?" Sally fühlte sich in die Enge getrieben. Sie persönlich würde zweifellos ihrem Herzen folgen, hatte aber nicht die leiseste Absicht, Maroula dasselbe vorzuschlagen. Maroula mußte ihre Entscheidung selbst treffen. "Die Frage kann ich dir leider nicht beantworten", entgegnete sie. "Du hast wohl Angst, daß du etwas anstiften könntest?" Maroula lächelte spöttisch. "Aber du hast mir meine Frage ja schon beantwortet. Du selbst würdest bestimmt nur aus Liebe heiraten. Das kann man dir vom Gesicht ablesen."
Sally war bestürzt. Was hätte Maroula wohl dazu gesagt, wenn sie ihr jetzt erzählt hätte, daß sie Nicos nicht aus Liebe geheiratet hatte und daß von Liebe überhaupt niemals die Rede gewesen war? "Du darfst nichts übereilt tun", war der einzige Rat, den Sally ihr geben konnte. Eine ganze Zeitlang war nur das Zirpen der Grillen in den Fichten zu hören. "Letzten Endes", gab Maroula sich schließlich geschlagen, "werde ich wohl tun, was sie alle tun - mich fügen!" Ihre Stimme klang entsetzlich verzweifelt. "Wenn ich irgend etwas für dich tun kann ..." Sally machte eine hilflose Geste. "Du kannst mir nicht helfen, Sally." Sie brach einen kleinen Zweig von einem Judasbaum und drehte ihn abwesend mit den Fingern. "Ich weiß nicht mehr ein noch aus. Wie kann man jemanden heiraten, den man nicht liebt? Das wäre doch die Hölle auf Erden!" "Vielleicht solltest du deinem Großvater von dem jungen Mann erzählen, Maroula", schlug Sally schließlich vor, nachdem sie eine Weile schweigend darüber nachgedacht hatte. "Das ist jedenfalls das, was ich tun würde - und zwar bevor es zu spät ist. Für wann ist die Hochzeit angesetzt?" "Sie soll am elften Juni stattfinden." "Dann darfst du keine Zeit mehr verlieren. Was kann dir schon passieren, wenn du zugibst, daß du einen jungen Mann kennengelernt hast?" "Aber dann wollen sie doch sofort gleich alles wissen!" "Das stimmt. Aber du hättest dich auch eigentlich nicht heimlich treffen sollen." "Am liebsten würde ich davonlaufen", entgegnete Maroula mutlos. "Manchmal habe ich schon gedacht, ich könnte Nicos um Hilfe bitten. Er ist doch halb englisch, und die Engländer sind so viel fortschrittlicher in ihren Ansichten. Aber Nicos wird immer so griechisch, wenn er hier ist. Ich glaube nicht, daß er
mich verstehen wird. Er ist ziemlich hart. Und doch kann er manchmal geradezu weichherzig sein. Aber wem sage ich das? Du als seine Frau mußt ja oft genug gemerkt haben, daß er auch weichherzig sein kann." Weichherzig? Ja, das stimmte. Nicos konnte auch weichherzig sein. Sally mußte an Maria und ihren Vater denken. "Ich glaube, wir gehen jetzt lieber wieder zurück. Wir sind schon reichlich lange hier draußen geblieben." "Ich weiß nicht, ob es mir viel genützt hat, daß ich dir alles erzählt habe, Sally, aber ..." "Vielleicht hat es dir gutgetan, dir alles von der Seele zu reden." Eine schäbige Antwort, dachte Sally im stillen. Müßte sie nicht wenigstens einen Versuch machen, ihrer Freundin zu helfen? Fast hatten sie die kleine Terrasse hinter der Villa erreicht, als sie plötzlich Nicos aus der Tür treten sahen, der seine Kusine durchdringend musterte. "Wir haben einen wunderbaren Spaziergang gemacht, Nicos", versuchte Maroula unerwünschten Fragen zuvorzukommen, was aber leider nicht glückte. "Warum seid ihr so lange draußen geblieben?" fragte Nicos und warf einen fragenden Blick auf Sally. "Ihr müßt euch ja sehr interessant unterhalten haben. Darf ich wissen, worüber?" fragte er forschend. "Es war nichts Besonderes, Nicos", sagte Maroula verwirrt. "Wir haben uns nur ..., nur ..." Sie suchte nach Worten, die die Wahrheit hätten vertuschen können, konnte aber keine finden. "Ich gehe wieder ins Haus", sagte sie nur noch. "Gute Nacht, Sally. Gute Nacht, Nicos." Sally wußte natürlich, daß Nicos sie sofort ins Gebet nehmen würde. Er mußte gemerkt haben, wie verstört Maroula war. "Es ist schön hier draußen. Wollen wir noch ein paar Schritte laufen?" fragte er.
Sally überlegte sich schon angestrengt Antworten auf die Fragen, die er ihr stellen würde. Plötzlich wünschte sie, Maroula hätte sich ihr nicht anvertraut. Aber war das nicht feige? Sally war noch niemals Schwierigkeiten aus dem Weg gegangen. Wie konnte sie Nicos jetzt dazu bringen, Maroula beizustehen? Maroula hatte doch gesagt, daß er manchmal ein weiches Herz hatte. Eine ganze Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Der Wind vom Meer war angenehm kühl und wehte Sally ihr langes, leichtes Abendkleid um die Beine. "Warum wollte Maroula denn unbedingt mit dir in den Garten hinaus, Sally?" fragte Nicos schließlich ruhig, aber bestimmt. "Wir wollten etwas Spazierengehen", entgegnete sie, um Zeit zu gewinnen. "Wie wäre es, wenn wir uns nichts mehr vormachten, sondern zur Sache kämen?" fragte er streng und blieb vor der von Geißblatt und Bougainvillea umrankten Laube stehen. "Hat Maroula über ihre Verlobung gesprochen?" Einen Augenblick lang sagte Sally nichts. Sie spürte, daß Nicos ahnte, daß Maroula einen Freund hatte. "Ja, sie hat mir von ihrer Verlobung erzählt." "Und?" "Daß sie unglücklich ist. Aber ich habe dir ja schon gesagt, daß ich das Geführ hatte, daß ..." "Hat sie einen Freund?" Sally mußte es natürlich zugeben, versuchte aber krampfhaft, ihn nicht zu verärgern. "Verrate sie bitte nicht, Nicos!" beschwor sie ihn. "Bitte, sag mir, daß du ihr Geheimnis für dich behältst." Nicos' Miene war immer finsterer geworden. "Dies ist eine sehr ernste Angelegenheit, Sally. Sie muß Petrakis heiraten. Und nun hat sie sich allem Anschein nach mit einem anderen Mann getroffen. Wenn das herauskommt, ist sie erledigt!"
"Das weiß ich. Und deshalb mußt du es für dich behalten." Sally unterbrach sich. Ob er wohl etwas dagegen hatte, daß sie ihm Vorschriften machte? Zum Glück war er so tief in Gedanken, daß er es gar nicht bemerkt hatte. "Ich muß mit ihr reden", sagte er schließlich sehr energisch. "Wenn sie sich nicht in acht nimmt, ruiniert sie sich ihr ganzes Leben!" "Das Leben ruiniert sie sich, wenn sie den falschen Mann heiratet!" Sally war empört. Als er selbst heiratete, hatte Liebe keine Rolle gespielt. Aber das bedeutete nicht, daß er das auch von anderen Menschen verlangen konnte. Er sah sie ungehalten an. "Dies ist etwas, das du nicht beurteilen kannst. Außerdem verbitte ich mir diesen Ton." "Entschuldige bitte." "Das klingt eher bockig als bedauernd." Sally schwieg lieber. Sie wollte ihn nicht noch mehr verärgern. "Hat Maroula dir gesagt, wer der Mann ist?" Sally zögerte, ehe sie antwortete. "Diese Frage kann ich dir nicht beantworten, Nicos. Maroula hat sich mir anvertraut. Wenn es irgend möglich gewesen wäre, hätte ich sie nicht verraten. Aber du hast ja schon eine ganze Menge gewußt - oder erraten. Da hätten Ausflüchte keinen Zweck mehr gehabt. Aber mehr kann ich dir wirklich nicht sagen. Das kannst du doch verstehen, nicht wahr?" Sie hatte ihn so aufrichtig und ehrlich angesehen, daß der Ausdruck in seinen Augen sich auf einmal veränderte. "Ja, das kann ich verstehen. Aber es ist meine Pflicht, dafür zu sorgen, daß meine junge Kusine keinen Fehler macht, den sie nachher ihr Leben lang bereut. Ich bin verantwortlich für sie!" "Verantwortlich?" wiederholte Sally erstaunt. "Ja, als ihr Vetter." "Und ihre Eltern?"
"Normalerweise wären natürlich ihre Eltern für sie verantwortlich. Aber da George die Mitgift übernommen hat, trägt er jetzt die Verantwortung, das heißt, er hat sie auf mich übertragen. Darum hat er mich nämlich hergebeten. Er meinte, es wäre an der Zeit, in den Ruhestand zu treten, und zwar, nicht nur geschäftlich, sondern auch in bezug auf seine anderen Verpflichtungen." Sally freute sich, daß er sie ins Vertrauen gezogen hatte. Dadurch waren sie einander plötzlich viel näher. Sie faßte sich ein Herz und fragte ihn, ob er glaube, daß Petrakis einen guten Ehemann abgeben würde. "Ich habe ihn noch nicht kennengelernt", entgegnete Nicos gelassen. "Du kennst ihn noch gar nicht?" fragte Sally erstaunt. "Woher weißt du dann, was für ein Mensch er ist?" "George versicherte mir, daß er ein anständiger Mensch ist. Außerdem ist er sehr wohlhabend und hoch angesehen." "Und wie alt ist er?" "Eben unter vierzig, soviel ich weiß." "Er ist doch viel zu alt für Maroula!" "Deine Besorgnis in allen Ehren, Sally. Aber wenn ich dir einen guten Rat geben darf, versuche dir Maroulas Kummer aus dem Kopf zu schlagen!" "Du gibst also zu, daß sie Grund hat, bekümmert zu sein? Findest du nicht, du solltest dir Petrakis wenigstens einmal ansehen, bevor du Maroula dazu zwingst, ihn zu heiraten?" Etwas in ihrem Ton mußte ihn getroffen haben; Er sah auf einmal viel zugänglicher und lange nicht mehr so voreingenommen aus. "George ist ziemlich alt", fuhr sie tapfer fort. "Er kann den Charakter eines Menschen vielleicht nicht mehr ganz so gut beurteilen." Der flehende Blick ihrer großen grauen Augen und das unbewußte nervöse Flattern ihrer Hände hatten ein nie
gekanntes Gefühl bei ihm ausgelöst. "Wenn du es gern möchtest", meinte er nachsichtig lächelnd, "lade ich Petrakis zum Essen ein, wenn wir nächste Woche nach Athen fahren." "Wirklich? Danke; Nicos! Vielen;, herzlichen Dank!" "Versprochen habe ich dir aber noch nichts, Sally", ermahnte er sie. "Hier in Griechenland ist eine Verlobung, genau wie die Trauung selbst, eine kirchliche Angelegenheit. Nun siehst du, warum man sie nicht so leicht rückgängig machen kann. Und bei Maroula würde es ganz besonders unangenehm auf fällen." "Weil sie Georges Enkelin ist?" "Ja, Sally. Aber ich habe dir mein Versprechen gegeben und werde es natürlich halten." "Ich bin doch mit dir in Athen. Könnte ich ..., würdest du mir erlauben dabeizusein?" "Ich glaube", entgegnete er, nachdem er einen Augenblick gezögert hatte, "Ich lade ihn am besten zum Abendessen in unser Hotel ein. Dann kannst du den armen Mann den ganzen Abend unter die Lupe nehmen." Es machte ihr nichts aus, daß er sie ein wenig aufzog. Ihr war, als würde er sich vielleicht sogar auf ihr Urteil verlassen, wenn sie Petrakis nicht für den richtigen Mann für Maroula halten sollte. "Komm, Sally", brach Nicos das Schweigen, "Wir gehen noch etwas durch den Garten. George erwartet, daß wir ziemlich lange draußen bleiben." Sally wußte, was er meinte. Liebespaare gingen gern im Mondschein spazieren. Die Nacht war erfüllt von dem betäubenden Duft aus Tausenden von Blüten. Wie flüssiges Silber schimmerte das Meer unter dem hellen Mond, wie Sterne glitzerten die Lichter eines Dampfers am Horizont. Eine Nacht wie im Märchen, ging es Sally durch den Kopf. Verstohlen warf sie einen schüchternen Blick auf das strenge, scharfgeschnittene Profil, und sie seufzte zufrieden auf. Was hatte dieses warme, aufregende,
undefinierbare Gefühl zu bedeuten, das sich bei ihr eingeschlichen hatte? Es war nichts Welterschütterndes, und doch schlug ihr Herz höher, waren ihre Sinne wacher, nur weil sie sich der Gegenwart dieses Mannes bewußt war. Als hätte er ihre Gedanken erraten, lächelte er sie plötzlich an. Langsam glitt sein Blick über die zarte Figur, zu den aufgeregt zitternden Lippen und dem goldenen Haar hinauf, das das schöne Gesicht wie ein Heiligenschein umgab. "Laß uns hineingehen." Nicos legte die Hand unter ihren Ellenbogen und führte sie fürsorglich den dunklen Pfad entlang. "Wunderbar!" flüsterte Sally, als sie auf dem Weg vom Flughafen zum Hotel die Akropolis vom Taxi aus sehen konnte. "Das hätte ich mir nie im Leben träumen lassen, daß ich eines Tages in Athen sein würde." "Bist du überhaupt schon gereist, Sally?" "Nein, leider nicht." "Reisen bildet den Menschen außerordentlich, ganz abgesehen davon, daß es einem soviel Freude machen kann." Sally wußte nicht, wie ihr geschah. Die Vergangenheit war plötzlich vergessen, es gab nur noch eine Gegenwart und eine Zukunft. Sie konnte die Schönheit der Blumen, der herrlichen Landschaft und der Akropolis mit ihren Tempeln tatsächlich ohne jede Spur von Wehmut genießen. Das Hotel war natürlich das beste in ganz Athen. Aber das hätte sie sich eigentlich denken können. "Ich habe heute nachmittag noch allerlei zu erledigen, Sally", sagte Nicos, als sie in ihrer Suite waren. "Nimm dir ein Taxi, wenn du Lust hast. Ich hoffe, daß ich gegen sechs Uhr wieder zurück bin." Er sah auf seine Uhr. "Jetzt ist es halb eins. Wir können noch zusammen zu Mittag essen, aber dann muß ich los." Er nahm einen Anzug aus seinem Koffer und hängte ihn in einen Schrank. "Ich kann dich doch unbesorgt allein lassen, ja?" "Natürlich, Nicos. Ich nehme mir ein Taxi und fahre zur Akropolis."
Nach dem Mittagessen trennten sie sich, nahmen je ein Taxi und fuhren zu ihrem jeweiligen Ziel. Sally hatte ihres bald erreicht. Eine ganze Weile stand sie staunend auf der Terrasse unter den Propyläen, die im Altertum der feierliche Auf gang zu dem heiligen Hügel mit seinen Tempeln gewesen waren. Dann mischte sie sich unter die Menge der Touristen, die Sich langsam auf den Parthenon zuwälzte. Wenn er jetzt schon so überlaufen war, wie würde es dann erst im Sommer sein? Das Surren der Kameras hörte überhaupt nicht mehr auf. Die Schönheit des Parthenons war wahrhaft überwältigend. Dies war der Tempel der Athene, Tochter des Zeus, des mächtigsten aller Götter. Sogar in dieser Menschenmenge war die Stimmung auf einmal geradezu ehrfurchtsvoll geworden. Vom Parthenon ging es etwas mühselig über gestürzte Säulen und verfallene Statuen weiter zum Erechtheion mit seinen berühmten sechs Jungfrauen, den Karyatiden. Nach einer kurzen Pause und einem langen Blick auf die atemberaubende Aussicht auf die Stadt ging Sally in den kleinen Tempel der Athene Nike. Nachdem Sally sich auch noch das Akropolismuseum angesehen hatte, mußte sie wieder zurück ins Hotel. "Na, wie war es denn?" fragte Nicos, der schon in kariertem Hemd und weißer Leinenhose gemütlich am Fenster saß. Wie gut er aussieht, ging es Sally durch den Kopf. Ob sich wohl irgendwann einmal eine Frau in ihn verliebt hatte? Jetzt, da sie ihn ganz anders sah, hätte es sie nicht gewundert. "Es war herrlich!" sagte sie begeistert und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. "Die Akropolis ist noch viel großartiger, als ich gedacht hatte." "Wie schön, daß du nicht enttäuscht warst, Sally. Und die vielen Touristen, haben die dich nicht gestört?" "Am liebsten ginge ich ganz früh morgens noch einmal hin, aber es war auch so sehr schön."
"Ich habe Petrakis für morgen abend zum Essen eingeladen", wechselte Nicos das Thema. "Heute abend gehen wir in ein typisch griechisches Restaurant. Griechische Volkstänze, griechische Küche und Bouzoukimusik. Damit du das auch alles kennenlernst." "Oh, wie schön! Was soll ich anziehen? Ein langes Kleid?" "Ja, das Restaurant ist sehr exklusiv, mag es auch auf Touristen eingestellt sein. Wenn du eine typisch griechische Taverne auch kennenlernen möchtest, essen wir morgen in einer zu Mittag." "Hast du denn morgen nichts mehr zu erledigen?" "Nur ein paar Kleinigkeiten. Danach können wir dann zusammen die Stadt besichtigen." "Dann fahren wir morgen noch nicht wieder zurück?" . "Nein. Ich möchte noch etwas Zeit für dich haben und dich ein wenig mit der Umgebung bekannt machen. Vielleicht schauen wir uns Delphi an, und Sounion und Marathon." "Das hört sich wunderbar an!" Sally strahlte. "Du bist ganz anders geworden, Sally." Nicos sah sie merkwürdig erwartungsvoll an. "Habe ich recht gehabt, als ich dir versprach, daß du das Leben eines Tages wieder genießen würdest?" "Ja, Nicos, du hast recht gehabt. Ich kann jetzt wieder alles Schöne ehrlich bewundern. Früher sah alles immer nur grau aus." "Es war nur grau, weil du das Schöne nicht sehen wolltest. Es sollte dich nicht von der Vergangenheit, nicht von deinem Kummer ablenken." "Ich glaube, das stimmt." Nicos nickte befriedigt, sagte aber nichts mehr. Es wurde Zeit, daß sie sich umzogen.
8. KAPITEL Das Restaurant lag auf einem Hügel hoch über der Stadt und war eigentlich eine riesig große Terrasse, die mit einem von Weinlaub umrankten Gitterwerk überdacht war. Bunte, diskret im Laub versteckte Glühbirnen verbreiteten ein sanftes Licht. Die Tische mit ihren schneeweißen Tischdecken waren mit Kerzen und Blumen geschmückt. Überall blitzten Kristall und Tafelsilber im Kerzenlicht auf. Die Musik war gedämpft, die Ausstattung vornehm und ruhig. Ein Kellner führte sie an einen etwas abseits gelegenen Tisch und nahm ihre Bestellung entgegen. "Ein wirklich schönes Restaurant", meinte Sally. "Bist du schon oft hier gewesen, Nicos?" "Nein, nur ein paarmal. Zweimal mit Maroula." Maroula ... Warum George wohl nie versucht hatte, eine Heirat zwischen Nicos und Maroula in die Wege zu leiten? Sally wußte, daß wohlhabende griechische Familien ihren Reichtum gern in der Familie behielten. Aber selbst George, so mächtig er auch sein mochte, hätte wohl kaum Nicos etwas vorschreiben können. Als Vorspeise brachte der Kellner ihnen Melone. Darauf folgten verschiedene Steaks vom Grill mit interessanten Salaten und köstlichen Soßen. Sie tranken Rose-Wein und später zu den flambierten Pfirsichen einen nicht zu trockenen Champagner. Zum Schluß kamen dann noch Kaffee und Cognac und allerlei Süßspeisen, die Sally aber nicht mehr anrührte.
"Ich kann wirklich nichts mehr essen", sagte sie, als Nicos ihr das Schälchen reichte. "Dank dir für den herrlichen Abend, Nicos." Er antwortete nicht, schaute sie aber so liebevoll lächelnd an, daß ihr ganz warm ums Herz wurde. Sally war glücklich. Aber der Abend war noch nicht zu Ende, denn erst jetzt traten die Tänzer auf. Wie schön die übermütigen, dunklen Gesichter waren und wie hübsch die bunten Trachten. Sally hatte das Gefühl, daß das Tanzen ihnen mindestens ebensoviel Freude machte wie den Gästen das Zuschauen. Nach den Tänzern trat eine junge Sängerin auf. Nicos übersetzte Sally das wehmütige Lied. "Sie singen oft traurige Lieder", erklärte er, als das Mädchen unter rauschendem Beifall das kleine Podium verließ. "Aber dieses war ein besonders trauriges Lied vo n zwei jungen Menschen, die sich trennen müssen, weil das Mädchen den Wünschen seiner Eltern nachkommen muß." Sally mußte an Maroula denken. Sie wollte Nicos schon darauf aufmerksam machen, unterließ es aber dann doch. Es war besser abzuwarten, bis sie Petrakis kennengelernt hatte. Maroula mußte unbedingt den Mann ihrer eigenen Wahl heiraten. Sally mit ihren modernen Ansichten fand es unerhört, daß Eltern oder Verwandte entscheiden konnten, wen ein Mädchen heiraten sollte. Außerdem hatte die ganze Mitgiftangelegenheit schon so manchen kleineren Landbesitzer vollkommen ruiniert, weil jede Tochter ihrem Bräutigam ein Stück Land mit in die Ehe bringen mußte. "Du bist ja so schweigsam", unterbrach Nicos ihre Gedanken. Sally mußte unwillkürlich lächeln. Er hatte bestimmt angenommen, daß sie an Colin gedacht hatte. Aber diesen Eindruck sollte er auf keinen Fall gewinnen. "Ich habe über die Mitgiftsitte nachgedacht und über all das Unheil, das sie anrichten kann."
"Ich bin da durchaus deiner Meinung, Sally", entgegnete er unerwartet. "Es müßte gesetzlich verboten werden!" Ob er jetzt wohl auch bald der Liebe einen Platz in der Ehe einräumt, fragte sich Sally. Es hatte sich in letzter Zeit so viel an ihm fast unmerklich geändert. Doch schließlich war der Abend zu Ende. Sally hatte schon ein kleines Gähnen unterdrücken müssen, und im Taxi hatte sie vor lauter Müdigkeit aus Versehen den Kopf an Nicos' Schulter geschmiegt. "Ich weiß gar nicht, ob ich dich wieder ausführen darf", hatte er sie schmunzelnd geneckt. "Du siehst aus, als ob du schon längst ins Bett gehörtest!" Die Stadt war noch hellwach. Durch die offenen Wagenfenster klang die Bouzoukimusik aus den Tavernen, das fröhliche Plaudern und Lachen der Leute in den Straßencafes. An den Tischen draußen auf dem Pflaster wurde Tavli gespielt und Gyros frisch vom Grill gegessen. Sally freute sich, daß sie noch etwas vom nächtlichen Leben und Treiben der Stadt sehen konnte. "Hat es dir gefallen?" fragte Nicos, als sie ihre Zimmerflucht im Hotel erreicht hatten. "Jeden Auge nblick habe ich genossen", entgegnete sie. "Ich danke dir, Nicos, daß du mich so wunderbar ausgeführt hast." "Und ich danke dir, mein Liebes, daß du mir den Abend so schön gemacht hast." Die Worte waren sanft und leise gesprochen. Nicos' Stimme hatte die Schroffheit vollkommen verloren. Sallys Lächeln wurde immer inniger, ihre Wangen immer roter. "Ich freue mich, daß du es auch genossen hast, Nicos." Am liebsten hätte sie sich an ihn geschmiegt, ihm zu verstehen gegeben, daß sie in die Arme genommen werden wollte. Sie wußte nicht, was mit ihr geschehen war. Was war das für ein merkwürdig sehnsüchtiges Gefühl, ein Verlangen, das sie noch niemals gekannt hatte?
Und doch trat sie schüchtern einen Schritt zurück. Ja, er hatte sich über alle Maßen verändert, seitdem sie in Griechenland waren, aber würde dieses überwältigende, spontane Gefühl, das sie plötzlich gepackt hatte, ihn nicht vielleicht abstoßen? Nicos, der nicht begriffen hatte, was in Sally vorging, trat resigniert an den Schrank und hängte ihr Cape auf. "Ich gehe unter die Dusche", meinte er. "Ich bin gleich wieder da.," "Da kommt Petrakis", sagte Nicos, als sie am nächsten Abend in der Hotelhalle saßen. "Woher weißt du denn, wie er aussieht?" Nicos hatte doch gesagt, daß er Petrakis noch nie gesehen ha tte. "Ich habe eine Fotografie von ihm gesehen", erklärte er. "Er sieht übrigens ausgesprochen gut aus." Der Mann blickte sich suchend in der Halle um. Nicos ging rasch auf ihn zu, und im nächsten Augenblick schüttelte Petrakis Sally bereits die Hand. Als sie sich setzten und Nicos die Drinks bestellte, beschlich sie plötzlich ein seltsam unangenehmes Gefühl. Der Mann sah in der Tat außergewöhnlich gut aus, aber sein Blick war Sally geradezu peinlich. Ihr war, als zöge er sie mit den Augen aus. Die unverschämte Art dieses Mannes war ihr höchst unangenehm. Daß Nicos das Benehmen Petrakis' seiner Frau gegenüber ebenfalls als beleidigend empfinden könnte, war Sally noch gar nicht in den Sinn gekommen. Nachdem der Kellner ihnen die Speisekarte vorgelegt und sie ihre Wahl getroffen hatten, fingen sie an, sich zu unterhalten, Petrakis besaß Charme, das mußte Sally zugeben. Aber er setzte sein liebenswürdiges Lächeln nur deshalb ein, um seinen Gesprächspartnern über seine oberflächlichen Bemerkungen hinwegzuhelfen. Er war eingebildet, versuchte aber, eine gewisse Unsicherheit vorzutäuschen. Sally merkte sofort, daß er jede Frau zu Tode langweilen würde. Maroula, die Petrakis offensichtlich nicht ausstehen
konnte, durfte nicht dazu gezwungen werden, diesen Mann zu heiraten. Die Unterhaltung während des Essens verlief trotzdem angeregt, Petrakis war eben doch recht gewandt. "Sie bleiben wohl nicht bis zu unserer Hochzeit?" fragte er Nicos und ließ den Blick dabei über Sally gleiten. "Nein, wir kommen dann wieder." Nicos' Worte kamen nur zögernd. "Im Juni." "Ja, im Juni", entgegnete Petrakis. "Es ist bald soweit." Keinen Moment hatte er Sally aus den Augen gelassen - bis am Nebentisch eine bezaubernde Blondine auftauchte. Sie war mit einem Mann gekommen, den Sally entweder für ihren Verlobten oder ihren Mann hielt. Nachdem Petrakis sie entdeckt hatte und sie sein ganzes Interesse in Anspruch nahm, konnte er sich nicht mehr recht auf die Unterhaltung konzentrieren. Sally bemerkte, daß Nicos' Stirn immer krauser, seine Miene immer düsterer wurde. Innerlich war sie natürlich froh darüber, daß er alles andere als begeistert von dem Verlobten seiner Kusine war. Aber ob er sich tatsächlich einmischen würde, wollte sie lieber noch dahingestellt sein lassen. "Ein wirklich netter Abend", unterbrach Petrakis ihre Gedanken. Er hatte sich von seiner Blondine losgerissen. "Und ein herrliches Essen." Er lehnte sich satt und zufrieden in seinen Stuhl zurück. "Es freut mich, daß es Ihnen geschmeckt hat." Nicos' Stimme klang ungehalten. Er war ärgerlich und ließ es sich anmerken. "Darf ich Sie um diesen Tanz bitten, Sally?" Petrakis war bereits aufgestanden. Sally schaute Nicos unsicher an, sagte sich dann aber, daß sie Petrakis den Tanz nicht gut abschlagen konnte. "Tanzen Sie gern, Sally?" Sein Ton war viel zu vertraulich, sein Blick viel zu aufdringlich. "Für gewöhnlich ja", entgegnete Sally, die seit Colins Tod nicht mehr getanzt hatte. "Bewegung ist immer gut."
Petrakis lachte auf. "Unter diesem Gesichtspunkt sehen Sie das Tanzen?" Er sprach mit starkem griechischem Akzent. "Man tanzt nicht, um sich Bewegung zu verschaffen, Sally, sondern weil man sich eng aneinanderschmiegen kann; So!" Bevor sie sich versah, hatte er sie so fest an sich gezogen, daß sein harter, muskulöser Körper fast mit ihrem verschmolz. Entsetzt und empört versuchte sie, sich von ihm loszumachen. Sie fand es ekelhaft. "Schön, nicht wahr?" "Bringen Sie mich bitte an den Tisch zurück", entgegnete Sally eisig. "An den Tisch zurück?. " wiederholte er verwundert. "Aber warum denn?" "Weil ich nicht mehr tanzen möchte." Petrakis überhörte ihre Worte und drückte sie noch fester an sich. Sein Mund näherte sich ihrer Wange. Sein Atem war heiß und alles andere als frisch. Sally wurde es ganz übel. Die arme Maroula! "Tanzt Nicos oft mit Ihnen? Ich kenne ihn erst seit heute, aber er ist ein sehr kalter Mann, nicht wahr?" Diese Frage, ließ Sally unbeantwortet. Immer wieder berührte seine Wange ihr Gesicht, während sie weitertanzen mußte. "Es ist warm hier. Nicos unterhält sich gerade mit jemandem. Gehen wir nach draußen auf den Balkon, ja?" flüsterte er heiser und erregt, während Sally vor Wut kochte. "Ihr Mann hat bestimmt nichts dagegen, wenn wir nach draußen gehen." "Aber ich habe etwas dagegen", erwiderte sie eisig. Er sah sie begehrlich und herausfordernd an. "Sie sind doch Engländerin. Die Engländerinnen, die hier in Athen ihre Ferien verleben, mögen es immer gern, wenn die griechischen Männer freundlich zu ihnen sind."
Sally antwortete nicht. Sie hoffte nur, daß der Tanz bald zu Ende gehen möge. Als es endlich soweit war und Nicos sich immer noch unterhielt, versuchte Petrakis es noch einmal. "Wir gehen nach draußen, ja?" "Nein!" Auf dem Weg zurück zum Tisch beklagte Petrakis sich über die Hitze. Der Mann, mit dem Nicos gesproche n hatte, verabschiedete sich, und Sally bemerkte sofort, daß Nicos sich kaum noch beherrschen konnte. Er hatte natürlich gesehen, wie fest Petrakis sie an sich gezogen hatte, aber er mußte doch wissen, daß es nicht ihre Schuld gewesen war. Trotzdem warf er, als sie eine Stunde später wieder im Zimmer waren, die Tür wütend hinter sich zu. "Wie konntest du Petrakis erlauben, so eng mit dir zu tanzen?" "Das habe ich doch gar nicht!" verteidigte sich Sally. "Ich konnte nichts dafür, Nicos!" "Nichts dafür?" wiederholte er wutentbrannt. "Rede keinen Unsinn! Du hättest an den Tisch zurückkommen müssen." "Darum habe ich ihn ja auch gebeten." Daß Nicos sie so vorwurfsvoll und wütend anblickte, machte sie ganz elend. "Es ist ungerecht von dir, mir die Schuld geben zu wollen, wenn ich gar nichts dafür kann", verteidigte sie sich noch einmal. "Soll ich dir etwa nicht die Schuld geben, wenn du ihm so entgegengekommen bist?" Er schaute sie wütend an. "Entgegengekommen?" platzte sie empört heraus. "Ich habe versucht, mich von ihm loszumachen, aber er hielt mich viel zu fest." Ihr ganzer Körper bebte vor Wut. "Ich hatte keine Ahnung, daß er sich so benehmen würde - so unverschämt. Aber ich konnte ihn doch nicht beleidigen." "Warum denn nicht?" "Weil er dein Gast war und weil er mit Maroula verlobt ist."
"Das gibt ihm nicht das Recht, so eng mit dir zu tanzen." Sein Ärger ebbte ab, aber seine eisige Kühle war noch schlimmer. "Du hast dich ordinär benommen." "Das habe ich keineswegs. Und sage das bitte nicht noch einmal. Ich wollte an den Tisch zurückgehen. Und wenn du es mir nicht glaubst, kannst du ihn ja selbst fragen." "Wenn das noch einmal passiert, komme ich auf die Tanzfläche und zerre dich eigenhändig herunter", zischte er. "Also benimm dich gefälligst in Zukunft!" Wie ein eifersüchtiger Ehemann hat er sich aufgeführt, sagte Sally sich hinterher. Aber wie konnte es ohne Liebe so etwas wie Eifersucht überhaupt geben? Nicos selbst war am nächsten Morgen schweigsam und mißgestimmt gewesen, hatte aber doch eine Fahrt nach Delphi vorgeschlagen. Erst als sie im Taxi saßen und er Sally die Sehenswürdigkeiten zeigte, wurde seine Laune besser. Eine ganze Zeitlang ging es in Richtung Nordwest an der Küste entlang. Wie kostbare Edelsteine lagen die Inseln Salamis und Ägina im hellblauen Meer, die eine steil und felsig, die andere lieblich und grün. Doch bald schon ging es zum Parnassus hinauf. Sally war überwältigt von dieser großartigen Landschaft mit ihren schroffen Hängen und einsamen Tälern. "Dies ist das Wunderbarste, was ich je gesehen habe!" rief sie begeistert, als sie Theben hinter sich ließen und durch felsige Schluchten und in immer steiler werdenden Kurven den Hang hinauffuhren. "Ich wußte, daß es dir gefallen würde", meinte Nicos, der auch tief beeindruckt war, obgleich er schon etliche Male in Delphi gewesen war. "Dort ist der Parnassus, Sally." Er deutete auf die steilen Bergspitzen. "Wir sind jetzt schon nahe beim Tempel, aber wir essen erst noch zu Mittag." Er führte sie in ein Hotel, wo ihnen Stifado, ein Gericht aus marinierten Steaks und Zwiebeln, gereicht wurde. Dazu wurden Salate, Oliven und ein schöner dunkler Rotwein serviert.
Der Balkon, auf dem sie saßen, überblickte den Pleistos .Gorge und die Amphissa-Tiefebene mit dem sogenannten Olivenmeer. Wie Wasser schimmerte das silberne Laub der Bäume in der heißen Sonne. Aber was den Anblick so zauberhaft machte, waren die schneebedeckten Berge am Horizont und die herrliche Bucht von Itea im Golf von Korinth. Später besichtigten sie die heiligen Stätten. "Wollen wir uns das Amphitheater ansehen?" fragte Sally und zeigte auf die hohen Stufen, die zum Theater hinaufführten. "Die Aussicht von da oben muß wunderbar sein." Nicos ergriff ihre Hand und half ihr hinauf. Sally freute sich, daß er es ganz spontan getan hatte. Sie war so froh, daß er sie mit nach Griechenland genommen hatte. Ihre ganze Lebenseinstellung hatte sich geändert. Die Vergangenheit lag hinter ihr. Der Schmerz war schlimm gewesen, aber noch schlimmer war es gewesen, daß sie ihr Schicksal so fatalistisch hingenommen hatte. Jetzt fühlte sie sich wieder lebendig, konnte wieder alles Schöne in sich aufnehmen und der Zukunft freudig entgegensehen. Nicos' schlechte Laune war längst verflogen, und als sie oben im Amphitheater angekommen waren, brachte Sally das Gespräch auf Maroula. "Ich halte Petrakis nicht für den richtigen Mann für Maroula. Und ich glaube, du auch nicht, Nicos", fing sie an. Bei dem Namen Petrakis hatte sich seine Miene ein wenig verfinstert, aber richtig ärgerlich war er nicht geworden. "Was willst du damit sagen, Sally?" "Daß du dir Maroulas jungen Freund wenigstens einmal anschauen solltest." "Maroula hat mir gegenüber noch keinen jungen Mann erwähnt." "Das stimmt, und das macht die Sache natürlich etwas schwierig", entgegnete Sally nachdenklich. "Selbst wenn du das
Thema geschickt zur Sprache bringen würdest, würde sie sich dir nicht anvertrauen." Jetzt, sah Nicos plötzlich richtig besorgt aus. Sally beobachtete ihn und hatte das Gefühl, daß Maroulas Zukunft lange nicht mehr so schwarz ausschaut e. "Soll ich es einmal versuchen?" fragte sie. "Vielleicht kann ich Maroula dazu bringen, dir oder George zu gestehen, daß sie jemand anderen liebt." "Dann fragt George sofort, wo und wie sie den jungen Mann kennengelernt und ob sie sich schon mit ihm getroffen hat! Maroula hat etwas getan, das nicht nur ihr, sondern auch ihren Eltern zur Schande gereichen könnte. Hier in den Dörfern ist der gute Ruf der Mutter dahin, wenn ihre Töchter gegen die guten Sitten verstoßen haben." "Der Mütter?" Sally traute ihren Ohren nicht. "Das ist doch wohl nicht möglich!" "Doch, Sally. Maroula befindet sich in einer sehr schwierigen Lage. Sie weiß, daß man sie schwer bestrafen könnte, weil sie sich allein mit einem Mann getroffen hat." "Traut man ihr denn nicht?" Sallys Ton war sehr verächtlich geworden. "Ich finde es unerhört, daß eine Mutter ihrer Tochter kein Vertrauen schenkt - und ganz besonders, wenn es sich um ein Mädchen wie Maroula handelt. Maroula würde nie im Leben etwas Unrechtes tun." Nicos, der keinen Blick von Sallys aufgebrachtem, erhitztem Gesicht gelassen hatte, schmunzelte vor sich hin. "Du siehst hübsch aus, wenn du so böse wirst", sagte er unerwartet. "Aber lassen wir die Komplimente, kommen wir lieber auf Maroula zurück." "Du möchtest ihr also helfen?" "Ich mag Petrakis nicht", meinte er. "Soviel steht fest. Aber versprechen kann ich noch nichts. Dies alles geht eher George als mich etwas an."
"Aber du sagtest doch, daß du deinem Großvater schon soviel abgenommen hast", half Sally seinem Gedächtnis etwas nach. Sie seufzte enttäuscht auf. Dabei hatte sie schon geglaubt, die Schlacht gewonnen zu haben. Nun mußte sie erkennen, daß die Angelegenheit ziemlich kompliziert und eigentlich hoffnungslos aussah. Kurz darauf verließen sie das Amphitheater und gingen langsam auf den Tempel des Apollo zu, wo Pythia einst die rätselhaften Worte, aus denen die Priester die Zukunft deuteten, gesprochen hatte. "Wie konnten die Menschen nur so leichtgläubig sein?" Sally schaute Nicos fragend an. "Damals, mein Liebes, glaubte eben jeder daran. Das Orakel zu Delphi war das am meisten befragte in ganz Griechenland. Und die Gaben und Geschenke der dankbaren Kunden, wenn man sie so nennen will, haben Delphi zum reichsten Ort in ganz Griechenland gemacht." "Und doch ist es zugrunde gegangen." Sallys Stimme war wehmütig geworden. "Ich wünschte, ich hätte das alles damals sehen können." "Komm, Sally", sagte er und griff nach ihrer Hand. "Wir sind nun lange genug hier oben gewesen. Wir kommen bald einmal wieder." Irgend etwas in seinem Ton hatte sie aufhorchen lassen. "Was meinst du mit bald, Nicos?" "Vielleicht wohnen wir bald ganz auf Kos." "Ganz auf Kos? Und was wird dann aus dem Schloß und dem Gut?" "Die können verkauft werden." Er hatte es so sachlich gesagt, daß Sally wußte, er meinte es ernst. "Eine Menge Leute trennen sich von ihren Häusern." Auf ewig in Griechenland wohnen! Und noch dazu auf der himmlischen Insel Kos mit ihren Blumen, ihrem Sonnenschein und ihren fröhlichen Menschen. Sally, die nichts an England
band, war selig. Jetzt würde mit den alten Erinnerungen ein für allemal Schluß sein. Und in diesem Augenblick ging ihr plötzlich auf, daß sie sich in ihren Mann verliebt hatte.
9. KAPITEL Als Nicos und Sally nach Kos zurückkamen, hatten Maroula und Adonis die Insel schon wieder verlassen. George teilte ihnen mit, daß er während ihrer Abwesenheit seinen Anwalt hatte kommen lassen und Nicos zu seinem Erben bestimmt hatte. Großvater und Enkel zogen sich daraufhin für eine ganze Weile in Georges Arbeitszimmer zurück. Als Nicos endlich wieder herauskam, erfuhr Sally, daß er seine Entscheidung getroffen hatte und daß sie noch vor Jahresende nach Griechenland übersiedeln würden. Sally ahnte natürlich, was sich abgespielt hatte. George hatte die Führung all seiner Unternehmen auf Nicos übertragen, und Nicos mußte von nun an in Griechenland wohnen. "Freust du dich über unseren Umzug, Sally?" fragte er, als sie, mit Picknickkoffer und Reiseführer ausgerüstet, am nächsten Tag in Georges riesigem Wagen nach Asklepion fuhren. Er sah sie erwartungsvoll an. "Sehr sogar", entgegnete sie leise und meinte damit nicht nur den Umzug nach Kos, sondern auch die Tatsache, daß sie von nun an eigentlich überall auf der Welt mit ihrem Mann glücklich sein würde. Sally lehnte sich zurück und dachte über ihr neues Leben nach. Nur die Gegenwart und die Zukunft zählten noch. Sie wußte zwar, wie Nicos über Liebe und Ehe dachte, hoffte aber
im stillen, daß er sich eines Tages doch noch in sie verlieben würde. Während sie so dahinträumte, fiel ihr plötzlich Maroula wieder ein. Sie faßte sich ein Herz und schnitt das Thema wieder an. "Ich werde etwas unternehmen", versprach Nicos völlig unerwartet. "Maroula kommt zum Wochenende. Ich habe George gebeten, sie einzuladen." "Tatsächlich? Das hört sich ja schon sehr viel besser an. Willst du dann versuchen, die Sprache auf Davos zu bringen?" "Davos?" Nicos sah sie neugierig an. Sie hatte sich verplappert. Aber das war jetzt nicht mehr so tragisch. "So also heißt der junge Mann?" fuhr Nicos fort. "Wahrscheinlich ist er arm wie eine Kirchenmaus. Das macht die Sache schlimmer, als du dir vorstellen kannst. Jeder wird annehmen, daß er es auf Maroulas Mitgift abgesehen hat. Und die kann sich sehen lassen: Wenn sie jemanden heiratet, der so reich ist wie Petrakis, muß sie besonders groß sein. Heiratet sie einen armen Mann, wird George natürlich nicht so großzügig sein. Aber er muß immer bedenken, daß sie seine Enkelin ist. Jeder weiß, daß sie die Enkelin des Millionärs Georgios Kleanthes ist, und erwartet, daß sie standesgemäß lebt." Sally fand das ganz falsch, sagte aber nichts. Außerdem hatte Nicos gerade auf einer mit Zypressen umsäumten Lichtung angehalten. Kurz darauf schlenderten sie schon gemächlich auf die heilige Stätte zu. Sie war Äskulap, dem Gott der Medizin und der Heilung, geweiht und lag im heiligen Wald des Sonnengottes Apollo. Der Wald war über zweitausend Jahre alt und unbeschreiblich schön. Die heilige Stätte selbst war mit Palmen, Zypressen und Oleander bewachsen und der Blick auf die weite Tiefebene, die sich bis zur Straße von Hälikarnassos erstreckte, einmalig. "Wenn wir zum Tempel hinaufgehen wollen, haben wir eine Menge Stufen vor uns. Schaffst du die, Sally?"
Sally nickte lächelnd. Als er fürsorglich nach ihrer Hand griff, spürte sie seine Kraft und Wärme. Wieder fragte sie sich, warum er wohl diese seltsamen Ansichten über die Liebe hatte. In diesem Augenblick war sein Lächeln geradezu zärtlich, sein Blick sanfter, als sie ihn je gesehen hatte. Es tat ihr weh, daß sie ihm nicht sagen konnte, wie sehr sie ihn liebte. Aber sie fürchtete, es würde ihn abstoßen. Eine Zeitlang gingen sie schweigend weiter. Die Sonne schien ihnen heiß ins Gesicht und auf die Arme. Ein leichter Wind wehte den Duft des Oleander und der Rosen, die in den Tempelruinen wuc herten, auf sie zu. Hand in Hand, wie ein Liebespaar, durchwanderten sie den Tempel. Und dann mußten sie wieder zurück zum Wagen. Nicos fuhr nur eine kurze Strecke und bog dann in einen einsamen Feldweg ein. Auf einer blühenden Wiese, wo Granatapfelbäume Schatten spendeten, packten sie ihren Picknickkoffer aus. "Ich freue mich, daß wir hierher ziehen", murmelte Sally, als sie zu Ende gegessen und das Geschirr wieder verstaut hatten. "Es ist alles noch so unverdorben hier." "Teilweise hat sich das Land natürlich auf Touristen eingestellt; aber im großen und ganzen ist es noch so, wie du sagst, unverdorben." Die Sonne ging langsam unter. Sie verwandelte den Himmel in ein Flammenmeer und warf tiefe Schatten über die Berge und die Täler. Das Meer schimmerte wie ein rosiger Spiegel. Dieser wundervolle Anblick und die friedliche Stimmung waren nicht in Worte zu fassen. Als Nicos zum Aufbruch mahnte, stieß Sally einen kleinen Seufzer aus. "Was ist denn, Sally?" fragte er behutsam. Sally stutzte. Ob sie sich eine Gelegenheit entgehen ließ? Sie hatte fast das Gefühl, er würde sich freuen, wenn sie ihm ihre Liebe gestand. Aber der erste Schritt mußte von ihm kommen. Wenn er seine Ansichten tatsächlich geändert hatte, würde er es
ihr schon zu verstehen geben. Nein, sie durfte nichts von sich aus unternehmen. Wie würde sie sich schämen, wie peinlich würde es ihm sein, wenn ihm ihre Liebe nicht willkommen wäre. "Gar nichts, Nicos", entgegnete sie, seufzte aber noch einmal tief auf. "Es ist hier so friedlich, daß ich die ganze Nacht bleiben könnte." "Wir können wiederkommen, Sally", tröstete er sie. "Wenn wir erst hier wohnen, können wir die ganze Insel auskundschaften." Sie gingen zum Wagen zurück und fuhren durch duftende Felder auf den Sonnenuntergang zu. "Und wo werden wir wohnen?" brachte Sally das Gespräch auf prosaische Dinge zurück, nachdem sie lange geschwiegen hatten. Sie hatte den Verdacht, daß Nicos gern bei George wohnen wollte. Aber jetzt, da sie sich in ihren Mann verliebt hatte, wollte sie lieber ein eigenes Heim haben. "Das kannst du entscheiden, Sally", erwiderte er völlig unerwartet. "Vielleicht schauen wir uns, noch während wir hier sind, ein paar Villen an, die zu haben sind. Oder sollen wir uns lieber unser eigenes Haus bauen?" "Bauen wäre herrlich, Nicos!" Sie hatte vor lauter Aufregung ihre Stimme kaum noch in der Gewalt. "Und wo werden wir in der Zwischenzeit wohnen?" "Wahrscheinlich bei George. Aber wenn wir gleich ein passendes Stück Land finden, kann ein Architekt, den George sehr gut kennt, sofort einen Entwurf machen. Dann würde man mit den Bauarbeiten beginnen können, während wir in England alles abwickeln." "Das wird bestimmt ein paar Monate in Anspruch nehmen." "Ja, wenn alles verkauft werden soll, dauert es bestimmt drei bis vier Monate.". "Willst du denn wirklich alles verkaufen, Nicos?"
"Nicht jedes Möbelstück, aber die meisten schon." Er blickte sie fragend an. "Ich habe das Gefühl, daß sie dir sowieso nicht besonders gefallen." "Sie wirken so groß und gewaltig", entgegnete sie ehrlich. "Und einige von ihnen sind wirklich nicht gerade schön, jedenfalls nicht für meinen Geschmack.'' "Für meinen auch nicht, Sally. Aber sie sind nun mal seit Generationen in der Familie und passen ins Schloß. Ich persönlich würde viel lieber leichtere, hellere Sache n um mich haben. Etwas Silber und ein paar wertvolle alte Stücke nehmen wir natürlich mit!" Wir besprechen diese Dinge, als wären wir ein ganz normales Ehepaar, schoß es Sally plötzlich durch den Kopf. Ein Ehepaar, das umzieht. Die Arroganz und Selbstherrlichkeit, die früher so ein Unternehmen bestimmt hätten, schienen sich vollkommen verloren zu haben. "Weißt du schon, in welchem Teil der Insel du am liebsten wohnen möchtest? Viel hast du ja noch nicht gesehen, aber vielleicht weißt du es doch schon", fing Nicos wieder an. "Ich habe das Meer so gern, Nicos. Wenn wir ein etwas höher gelegenes Grundstück finden könnten, mit Blick auf die See?" Nicos lächelte sie an. "Wir werden sehen, ob wir so etwas finden können", versprach er. "Und dabei fällt mir ein, daß George überall auf der Insel Grundstücke besitzt. Vielleicht hat er etwas, das uns zusagt." "Ich finde seine Villa wirklich schön. Könnten wir nicht seine Pläne auch für unser Haus benutzen?" "Das wäre möglich. Dir haben es natürlich all die Bogengänge und die luftigen Räume angetan." "Stimmt! Und die Terrassen und der schattige Vorhof mit seinem Springbrunnen." "Das kannst du alles haben", meinte er und schmunzelte sie von der Seite an. "Bist du nun glücklich und zufrieden?"
Sally mußte erst einmal kräftig schlucken. Wenn sie ihm doch nur sagen könnte, warum sie so glücklich war. "Sehr glücklich und zufrieden, Nicos", entgegnete sie. "Wer wäre das nicht, wenn er auf einer herrlichen griechischen Insel ein nagelneues, phantastisches Haus bekommt?" "Wir müssen aber auch ein Haus oder eine Wohnung in Athen haben", fuhr Nicos fort, "denn wir werden allerhand gesellschaftliche Verpflichtungen wahrnehmen müssen." George war begeistert, daß sie selbst bauen wollten, und holte sofort Karten, auf denen große Flächen umrandet waren. Zu Sallys Entzücken hatte er ein Grundstück, das all ihren Wünschen entsprach: eine Art Plateau am Hang eines dicht bewaldeten Hügels mit einem wunderbaren Blick auf das Meer. Und das Grundstück ging sogar bis an den Strand hinunter. "Genau richtig", meinte Nicos, der ebenso begeistert war wie Sally. "Außerdem", setzte George hinzu, "seid ihr nicht allzuweit von mir entfernt, und doch nicht so nahe, daß wir uns gegenseitig auf die Nerven fallen könnten." Als Nicos und Sally später auf der Terrasse saßen, fiel Sally plötzlich Maroula wieder ein. "Maroula, Nicos ...", fing sie vorsichtig an. "Hast du dir schon etwas durch den Kopf gehen lassen? Viel Zeit hast du nicht mehr." "Ich habe dir versprochen, daß ich tun werde, was ich kann. Wenn sie morgen kommt, werden wir die ganze Sache gründlich besprechen. Rechne aber bitte nicht gleich damit, daß ich das Verlöbnis so ohne weiteres auflösen kann, Sally", warnte er sie ernst. "Aber ich weiß, daß es dich sehr unglücklich machen würde, wenn Maroula Petrakis doch noch heiraten müßte." "Das würde es, Nicos", erwiderte sie. "Ihr Leben darf nicht ruiniert werden. Sie ist ein viel zu lieber und guter Mensch."
"Die meisten Mädchen in Griechenland finden sich mit ihrem Schicksal ab. Sie wissen von vornherein, daß ihre Ehe eine unglückliche wird." Sally biß sich die Lippen und schüttelte energisch den Kopf. "Ich bitte dich, Nicos, Maroula darf so ein Schicksal nicht treffen." Der Ton ihrer Stimme hatte ihn mehr beeindruckt, als sie es für möglich gehalten hätte. Er sah besorgt aus und seufzte sogar. "Sally, du weißt nicht, was die Auflösung einer Verlobung alles nach sich ziehen kann." . Seine Stimme klang ungeduldig. Aber sie wußte, daß sein Unmut nicht ihr, sondern den althergebrachten Sitten und Bräuchen ga lt. Sie hatten das heikle Thema fallenlassen, aber am nächsten Morgen beschäftigte Nicos schon wieder ein Problem. "So wie die Dinge jetzt stehen, da wir bald hier auf Kos wohnen werden, hätte ich George nicht vortäuschen dürfen, daß du ein Kind erwartest. Er wird entsetzlich enttäuscht sein, wenn keins kommt." Einen langen Augenblick erwiderte Sally nichts. Verlegen wandte sie sich ab, damit Nicos nicht sah, daß ihr das Blut in die Wangen gestiegen war. "Vielleicht kommt es ja doch noch", meinte sie schließlich leise. "Tatsächlich?" fragte Nicos überrascht. "Ist das dein Ernst, Sally?" "Ich bin mir ziemlich sicher", flüsterte sie. Nicos war auf gestanden. Sally kam ihm schon entgegen und hob das Gesicht zu ihm. Er beugte sich zu ihr herunter und küßte sie sanft und zärtlich. "Freust du dich, mein Liebes?" "Aber natürlich!" "Und wenn es erst soweit ist, dann freuen wir uns beide noch viel mehr!"
Maroula kam kurz vor dem Mittagessen an und bat Sally sofort, nach dem Essen mit ihr in den Garten zu gehen. "Ich brauche Hilfe, Sally!" fing Maroula flehend an, sobald sie außer Hörweite waren. "Davos will mich entführen! Wir wollen ausreißen." "Entführen! Ausreißen!" wiederholte Sally entsetzt. "Das kannst du deinem Großvater nicht antun, Maroula. Der Schreck könnte ihn ..." "Warum soll ich auf ihn oder sonst jemanden Rücksicht nehmen? Ich liebe Davos, und er liebt mich! Uns bleibt doch nichts anderes übrig." Völlig verzweifelt umklammerte sie Sallys Hand. "Hilfst du mir, Sally? Ich flehe dich an, bitte ..." "Das geht nicht, Maroula", fiel Sally ihr ins Wort, war aber beinahe ebenso unglücklich wie sie. "Ich wünschte, ich könnte dir helfen, aber es ist ganz unmöglich, und vielleicht ist es auch gar nicht mehr nötig ..." Sally verstummte entsetzt. Sie hätte sich nicht verplappern dürfen. "Was soll das heißen, Sally?" Maroula sah sie gespannt an. "Was soll das heißen, Sally?" fragte sie noch einmal aufgeregt. "Ich ..., ich hätte ..." Sally hatte Schritte gehört. Nicos hatte sie eingeholt. "Ich wollte euch nicht belauschen", sagte er ernst und sah Maroula streng an. "Ich bin euch nachgekommen, weil ich geahnt habe, was ihr miteinander besprechen wolltet. Und du, Sally, läßt uns jetzt wohl besser allein." "Ja, ich gehe lieber", sagte sie leise. Sie hatte gespürt, wie erschrocken und verwirrt Maroula war, und warf Nicos noch einen beschwörenden Blick zu, bevor sie ging. Am nächsten Morgen erfuhr Sally von Maroula, daß Nicos sich bereit erklärt hatte, mit George zu reden und sich durch den Kopf gehen zu lassen, auf welche Weise man das Verlöbnis lösen könnte.
"Aber George will Davos bestimmt erst einmal kennenlernen", meinte sie schließlich bedrückt. "Und ich fürchte, er wird ihm zu arm sein." "Ist Davos denn hier auf Kos?" "Ja, er ist zum Wochenende hier. Wir treffen uns morgen draußen auf der Landzunge. Da ist es völlig einsam." Von Nicos hörte Sally dann, daß Maroula richtig geraten hatte, daß George den jungen Mann erst einmal kennenlernen wollte. "Aber das ist doch schon etwas", meinte Sally, merkte aber, daß Nicos nicht ganz so optimistisch war. "George sieht in Petrakis die ideale Partie für Maroula von der finanziellen Seite gesehen natürlich!" Sally wollte schon aufbegehren, tat es dann aber doch lieber nicht. Nicos versicherte ihr, daß George an sich gar nicht so hart wäre. Er hatte Maroula sehr gern, und Maroulas schwierige Situation und ihre unglückliche Liebe waren ihm durchaus nicht gleichgültig. "Glaubst du, es ist dir gelungen, ihn umzustimmen?" fragte Sally gespannt. "Ich habe getan, was ich konnte. Die Entscheidung liegt bei George. Aber er weiß, was ich von Petrakis halte." Einen Augenblick lang sah er ungehalten aus. Sally wußte, daß er an Petrakis' ungehöriges Verhalten dachte. "Wenn Davos wirklich so ist, wie Maroula ihn beschreibt", fuhr Nicos schließlich fort, "ist es möglich, daß er einen guten Eindruck auf George macht. Morgen wissen wir Bescheid." "War George ärgerlich, als er hörte, daß sie sich schon allein mit ihm getroffen hat?" "Das habe ich versucht, so gut wie irgend möglich zu bemänteln." Sally hätte liebend gern gewußt, wie er das fertiggebracht hatte, wurde aber nicht eingeweiht. "Du mußt es ja ziemlich schlau angestellt haben", meinte sie anerkennend.
"Hoffentlich war ich schlau genug", erwiderte er so bescheiden, daß Sally unwillkürlich lächeln mußte. Am nächsten Morgen ging Maroula früh aus dem Haus und kam dann später mit einem hochgewachsenen, gut aussehenden jungen Mann wieder zurück. Sally pflückte gerade Blumen im Garten und war darum die erste, die ihn kennenlernte. Er gefiel ihr auf den ersten Blick: das offene, aufrichtige Gesicht, die klaren Augen und der unerschrockene Ausdruck in ihnen. Sein Händedruck war fest, aber nicht unangenehm fest. Er sprach ausgezeichnet Englisch und war tadellos angezogen. Maroula mit ihren dunklen Augen, ihrem schwarzen Haar und dem hellen Teint sah etwas blaß, aber bildschön aus. Die beiden sind wie füreinander geschaffen, dachte Sally. Nachdem sie ein paar höfliche Worte mit Sally gewechselt hatten, führte Maroula Davos auf die Haustür zu. Sie wirkte sehr bedrückt und ängstlich. "Es muß furchtbar sein, wenn man so in der Luft hängt", sagte Sally nachher zu Nicos, als sie auf das Urteil warteten. "Warum muß George sich die Sache so lange überlegen?" "Daß er sich die Sache so lange überlegt, ist ein gutes Zeichen, Sally. Wenn Davos ihm unsympathisch wäre, hätte er ihn nach zehn Minuten vor die Tür setzen lassen." Sally war entsetzlich aufgeregt. Wenn Nicos recht hatte, war Maroula gerettet. "Glaubst du, daß Petrakis Schwierigkeiten machen wird?" "Eine ganze Menge sogar. Aber George wird schon mit ihm fertigwerden. Das Schlimme ist nämlich, daß Petrakis, wenn Maroula ihm den Laufpaß gibt, nicht nur vor seiner ganzen Familie, sondern auch vor seinen Freunden blamiert ist. In Griechenland läßt ein Mädchen einen Mann nicht einfach sitzen. Aber wie dem auch sei, Petrakis muß deutlich gemerkt haben, daß er mir nicht imponiert hat. Mag sein, daß er sogar stillschweigend zurücktritt."
"Hoffentlich sind wir nicht zu optimistisch, Nicos. Vielleicht will George ..." Sally stockte. Maroula und Davos waren aus dem Haus gekommen und kamen strahlend auf sie zu. "Davos bleibt zum Mittagessen", sagte Maroula glückselig. "George hat ihn eingeladen."
F
10. KAPITEL Sally war glücklich, daß Nicos ihr den Arm unter den Ellenbogen legte, als sie auf das imposante Schloßportal zuschritten. Er war in letzter Zeit immer unerwartet fürsorglich und galant. Nein, verbesserte Sally sich energisch, nicht unerwartet. Sie rechnete bereits damit und hätte es sehr vermißt, wenn er es aufge geben hätte. "Und nun sind wir wieder zu Hause", sagte Nicos lächelnd. "Ich muß zugeben, so leicht wird mir der Abschied vom Schloß doch nicht fallen." "Weißt du auch wirklich genau, Nicos, daß du es später nicht bereuen wirst?" fragte Sally. "Ganz genau, Sally", erwiderte er sehr bestimmt, als sie die Halle betraten und Carson ihnen mit seinem diskreten Lächeln die Mäntel abnahm. "Es gibt zu viele gewichtige Gründe dafür, Sally. Schon deinetwegen müssen wir hier fort. So richtig heimisch würdest du dich hier niemals fühlen. Ich hatte es von Anfang an gewußt, nur daß es mir damals noch nichts ausgemacht hatte, und ..." Er unterbrach sich hastig. Sally merkte, daß er eigentlich ein Selbstgespräch geführt hatte und daß die letzten Worte nicht für ihre Ohren bestimmt waren. Sie hatte sie aber trotzdem gehört. Nicos hätte sich nicht nur in seinem Wesen, sondern auch in seinen Ansichten geändert. Aber in sie verliebt hatte er sich keineswegs. Sally fürchtete, daß ihre eigene Liebe zu ihm auf
ewig einseitig und une rwidert bleiben würde. Aber ab und zu war sie doch etwas zuversichtlicher. In solchen Momenten hoffte sie, daß er, genau wie es ihr mit ihm passiert war, sich ganz allmählich in sie verlieben würde. "Es ist so ganz anders hier als bei George", sagte Sally unwillkürlich, als sie abends beim Essen saßen. Das Eßzimmer war ab sich hübsch, aber sie dachte an ihr kahles Schlafzimmer mit den schweren Möbeln. Selbst Carson wirkte langweilig und ungelenk im Vergleich zu Georges freundlich lächelnden Dienstboten in Griechenland. "Das kann man wohl sagen", pflichtete Nicos ihr bei. "Aber das Schloß wurde gebaut als Festung gegen feindliche Angriffe. Georges Villa dagegen soll nur Freude bereiten." Und unsere auch, dachte Sally bei sich. Hoffentlich würde es nicht zu lange dauern, bis sie nach Griechenland umziehen konnten. Am nächsten Morgen besuchte Sally Mr. Endersley in seiner kleinen Kate. Minna war inzwischen bei ihm eingezogen, aber die Hochzeit sollte erst in einem Monat stattfinden. Minna begrüßte Sally begeistert und wollte sofort wissen, ob Kos ihr gefallen hätte; "Himmlisch war es!" schwärmte Sally, sagte aber noch nichts von dem geplanten Umzug. "Jeden Augenblick habe ich restlos genossen." "Das habe ich mir gedacht. Es wäre eine schöne Hochzeitsreise für uns, aber Robert meint, wir können uns das nicht leisten. Vielleicht geht es im nächsten Jahr." "Was würden Sie davon halten, wenn ich Ihnen meinen Bungalow überließe, jetzt, wo Sie bald verheiratet sind? Ich würde mich freuen, wenn Sie die Teppiche und Vorhä nge als Geschenk von mir annehmen würden." "Als Geschenk?" fragte Minna aufgeregt. "Aber das ist doch viel zu großzügig. Der Bungalow wäre herrlich, aber ..."
"Und was wird aus meinen Rosen?" fiel Mr. Endersley ihr ins Wort. "Es hat Jahre gedauert, bis ich sie soweit hatte, daß sie am ganzen Haus hochklettern." "Du könntest doch wieder neue anpflanzen", meinte Minna etwas kleinlaut. "Ein, neuer, moderner Bungalow. Stell dir das doch nur mal vor. Könntest du dich nicht von deinen Rosen trennen und Mrs. Huntlys gütiges Angebot annehmen?" Sally hätte ihnen so gern erzählt, daß das Schloß verkauft werden sollte, aber Nicos hatte es ihr noch nicht erlaubt. Sie durfte noch nicht darüber reden. Wenn Mr. Endersley und Minna in den Bungalow einziehen würden, dürften sie auf Lebenszeit darin wohnen bleiben. Denn wer auch immer den Besitz kaufen würde, konnte ,an den Pachtverhältnissen nichts ändern. Als Sally ihnen den Schlüssel zum Bungalow geben wollte, bestanden sie darauf, daß sie mitgehen sollte. "Doch erst trinken wir noch eine Tasse Tee, Sally", schlug Mr. Endersley vor und schüttelte den Kopf. "Ich müßte Sie eigentlich mit Mrs. Huntly anreden", fuhr er etwas befangen fort, "aber ich habe mich so daran gewöhnt, Sie Sally zu nennen." "Es wäre mir auch gar nicht lieb", erwiderte Sally prompt. "Behandeln Sie mich bitte genauso wie früher, Mr. Endersley", setzte sie lächelnd hinzu und nahm am Küchentisch Platz. Während sie gemütlich ihren Tee tranken, unterhielten sie sich über Maria, die seit vierzehn Tagen verheiratet war. Timothy war selig und redete nur noch von seinem neuen Daddy, der sich wiederum über seinen kleinen Sohn freute. Immer wieder mußte Sally daran denken, daß sie niemals Colins Frau geworden wäre, wenn Maria nicht auf ihn verzichtet hätte. Aber der Gedanke tat ihr nicht mehr weh. Die Vergangenheit hatte ihre Macht über sie verloren. "Besser hätten Maria und Stan es gar nicht treffen können", hörte sie Minna sagen. "Wenn man bedenkt, daß Mr. Huntly
ihnen das Haus gekauft und das Geld für die Möbel gegeben hat ..." Minna stockte, als sie merkte, wie bestürzt Sally war. "Was ist denn, Sally?" fragte sie besorgt. "Gar nichts." Eigentlich wollte sie ihnen sagen, was Maria ihr damals erzählt hatte: daß Stan das Haus von seinen Ersparnissen kaufen wollte. Aber das hätte womöglich zu Fragen geführt, die sie nicht hätte beantworten können. Warum hatte Maria ihr etwas vorgelogen? Sie hatte ihr doch schon gesagt, daß Nicos sowohl ihr geholfen als auch Mr. Endersleys Lohn erhöht hatte. Sally war mißtrauisch geworden. Warum hatte Nicos Maria so übermäßig beigestanden? Ein Haus war wirklich ein sehr teures Geschenk. Und er sollte ihr nicht nur das Haus, sondern sogar noch die Einrichtung beschafft haben. Es war alles so rätselhaft. Wie war es überhaupt dazu gekommen, daß Maria ihm ihre Privatangelegenheiten anvertraut hätte? Sie mußte ihm von Stan und von ihren Heiratsplanen erzählt haben. Zu der Zeit war Nicos zudem noch der gestrenge Gutsherr, der alles von seinem Verwalter erledigen ließ. Nicos und Maria konnten sich ganz einfach nicht gut gekannt haben. Und doch sprachen die Tatsachen dafür. Aber im Augenblick konnte sie nicht weiter darüber nachdenken. Minna wollte den Bungalow besichtigen. Als Sally den Schlüssel in die Tür steckte, wurde ihr ganz wehmütig zumute. Sie liebte Nicos, aber die Vergangenheit ließ sich doch nicht einfach beiseite schieben. "Wie herrlich! Du mußt dieses Haus nehmen", redete Minna auf Mr. Endersley ein. "Du bringst dir Ableger von deinen Rosen mit und pflanzt sie rings um die Haustür. Ach, Sally, wie muß es hier schön gewesen sein!" "Ja, wir hatten es hübsch hier", gab Sally bescheiden zu. "Und wie schön die Teppiche und Vorhänge sind! Sie haben wirklich einen guten Geschmack, Sally."
Sally dachte an ihr zukünftiges Haus auf Kos und freute sich, daß sie bald wieder ein Haus nach ihren Wünschen und Vorstellungen würde einrichten können. "Ob Sie den Bungalow nun nehmen oder nicht, die Teppiche und Vorhänge gehören Ihnen. Ich möchte sie nicht gern fremden Leuten überlassen." "Das kann, ich verstehen", meinte Minna, die schon in der Tür zur Küche stand und Mr. Endersley begeistert heranwinkte. "Sieh dir dies mal an, Robert!" "Sehr schön", meinte Mr. Endersley in seiner ruhigen Art. "Und du hättest einen herrlichen Blick aus dem Fenster." "Wir nehmen das Haus, ja?" entschied Minna und schaute Mr. Endersley gespannt an. "Die Kate ist sehr gemütlich, macht aber eine Menge Arbeit. Hier ist alles modern, und für mich wäre es lange nicht so anstrengend." Mr. Endersley murmelte noch etwas von seinen Rosen, gab sich dann aber geschlagen. Im nächsten Augenblick überlegten sie sich schon, wie sie die Möbel stellen wollten. "Wir bauen uns hier ein Nest, auf das wir stolz sein können", hörte Sally Minna ihrem zukünftigen Mann zuflüstern. Ein Nest, auf das wir stolz ... Wie lange war es her, seit Colin etwas Ähnliches zu ihr gesagt hatte? Sally ließ die beiden allein und trat in den hellen Sonnenschein hinaus. Sie warf einen Blick zum Schloß hinauf. Wer wollte so etwas sein Heim nennen? Aber irgend jemand würde es schon kaufen. Der Makler, den Nicos nach der Rückkehr aus Griechenland mit dem Verkauf des Schlosses beauftragt hatte, war ziemlich optimistisch gewesen. Der Gedanke an Maria und was Minna ihr unfreiwillig verraten hätte, ließ Sally nicht mehr los. Außerdem war ihr plötzlich eingefallen, daß Maria sich so gar nicht darüber gewundert hatte, daß Mr. Huntly ausgerechnet sie, Sally, heiraten wollte. Man hätte fast glauben können, daß sie es bereits gewußt hatte.
Ein paar Tage darauf traf sie Maria und Stan zufällig in der Stadt. Maria stellte ihr Stan vor und erzählte ihr, daß er sich freigenommen hätte, weil er zwei Zimmer neu tapezieren wollte. "Wir wollen uns gerade Tapeten und Farbe aussuchen", erzählte sie aufgeregt. "Ein Zimmer ist für Timothy. Hoffent lich finden wir etwas Hübsches mit Tieren oder Spielzeug." "Ja, das würde ihm Spaß machen. Wie geht es ihm denn? Minna sagt, er besucht jetzt den Kindergarten. Gefällt es ihm dort?" "Und wie! Er fragt immer noch nach dir, Sally. Du scheinst ihm doch sehr zu fehlen. Aber sonst ist er selig, und ich auch." "Das freut mich, Maria." Schließlich schlug Stan vor, irgendwo zusammen zu Mittag zu essen. "Ja, ins Bridge-Cafe", meinte Maria. "Wir gehen immer schon um zwölf. Dann bekommt man leichter einen Tisch." "Fein, eine gute Idee", stimmte Sally zu. "Bis um zwölf dann", verabschiedete sie sich und machte sich wieder auf den Weg. Sally beeilte sich mit dem Einkaufen und war schon vor zwölf da. Das Cafe war bereits erstaunlich voll. Während sie an der Garderobe warten mußte, schaute sie sich nach Maria und Stan um, konnte sie aber nicht entdecken. Die Stuhllehnen waren zu hoch. "Sie sieht tatsächlich glücklich aus", hörte sie plötzlich Marias Stimme ganz in ihrer Nähe. "Hoffentlich erfährt sie nie, was er getan hat, um ihr Colin aus dem Sinn zu schlagen." Sallys Mund war auf einmal trocken. Was hatte Maria da eben gesagt? Aber schon hörte sie Stans Stimme. "Wir persönlich können uns nicht beklagen. Es muß ihm enorm viel an der Heirat gelegen haben. Wenn man bedenkt, daß er dir das Geld für das Haus gegeben hat, nur weil du ihr ... Aber woher wußte er denn, daß Colin Timothys Vater war?"
"Ich habe es ihm damals selbst erzählt. Mir war ziemlich elend zumute, und er hatte mir Geld angeboten. Ich habe mich ganz einfach jemandem anvertrauen müssen." "Wollen Sie Ihren Mantel denn gar nicht abgeben?" hörte Sally plötzlich die Garderobenfrau sagen. "Sie warten doch schon so lange." Mechanisch hielt Sally ihr' den Mantel hin und ging dann an den Tisch. Wie versteinert starrte sie Maria an, bis sie sah, daß Stan ihr einen Stuhl bereitgestellt hatte. "Danke", sagte sie völlig abwesend. Endlich wußte sie Bescheid. Nicos mußte immer alles haben, was er begehrte. Daß sein Plan sie verletzen würde, hatte ihm nichts ausgemacht. "Was möchtest du bestellen, Sally?" hörte sie Marias Stimme wie aus weiter Ferne. "Der Fisch ist immer gut hier." "Ja, ich nehme Fisch." "Fehlt dir etwas, Sally?" "Aber nein." Sie nahm die Speisekarte, die Maria ihr hingelegt hatte, konnte sie aber kaum lesen. Wenn Nicos nicht so gemein und hinterlistig gewesen wäre, hätte sie weiter von Colin träumen können ... Daß sie die Tatsachen entstellte und in ihrer Wut auch das Schöne, das Nicos' energisches Handeln mit sich gebracht hatte, mit verurteilte, ging ihr gar nicht auf. Sie konnte nur noch sehen, daß er sie überlistet hatte und vor nichts Halt machte, wenn er sich durchsetzen wollte. Und, Maria? Wie hatte sie sich dazu hergeben können, sie, Sally, so zu demütigen? Wenn Nicos sie wenigstens geliebt hätte, wäre es vielleicht noch verzeihlich gewesen, aber so, wie die Dinge standen, gab es keine Entschuldigung für ihn. Wie sie das Mittagessen durchgestanden hatte, wußte sie hinterher nicht mehr. Aber schließlich waren sie alle drei draußen vor dem Cafe und verabschiedeten sich. Sally war zum Wagen zurückgegangen und völlig benommen nach Hause gefahren. Sollte sie Nicos zur Rede stellen? Ja, sollte es ruhig
Krach geben! Sie hätte es sowieso nicht für sich behalten können. Die nächsten Wochen verliefen ziemlich eintönig. Der .Verkauf des großen Besitzes nahm doch viel Zeit in Anspruch. Ab und zu tauchte der Makler oder einer seiner Angestellten auf, und dauernd wurden Interessenten von den Dienstboten durch das Schloß geführt. Oft waren es nur Schaulustige, die das Schloß nur einmal von innen besichtigen wollten. Sally und Nicos lebten seit dem Tag, an dem sie Maria und Stan getroffen und ihn zur Rechenschaft gezogen hatte, wie Fremde nebeneinander her. Sally hatte sich in ein winziges Zimmer, das sie mit ihren eigenen Möbeln aus dem Bungalow möbliert hatte, zurückgezogen. Nicos war wieder ebenso streng und unnahbar wie früher. Die schroffe Seite seines Wesens, die in Griechenland fast verschwunden war, beherrschte sein Verhalten völlig. Er hatte zugegeben, daß er Maria Geld angeboten und sie gebeten hatte, Sally reinen Wein einzuschenken. Aber da sein Verhalten Sally letzten Endes nur genützt hatte, hielt er es für durchaus verzeihlich. Doch Sally, die für keine vernünftige Argumentation mehr zugänglich war, hatte seine Worte gar nicht beachtet. Sie sagte ihm nur noch, daß alles aus wäre, daß sie sein Kind gebären und bis dahin noch bei ihm bleiben würde. Wofür sie sich nach der Geburt entscheiden würde, könnte sie noch nicht sagen. Es wäre jedoch wahrscheinlich, daß sie ihn verlassen und auch das Kind mitnehmen würde. Nicos antwortete kaum. Die neue Villa in Griechenland hatte er niemals wieder erwähnt, aber doch eines Tages wie zufällig ein paar Fotos auf dem Tisch in der Halle liegenlassen. Sally hatte sie sich natürlich angesehen. Die Villa versprach traumhaft schön zu werden. All die Gärten ringsum waren auch schon angelegt.
Sally wußte, daß Nicos dauernd an seinen Großvater schrieb und alles, was den Bau des Hauses und die Gartenanlagen betraf, mit ihm besprach. Sie bedauerte es sehr, daß sie nicht mehr hinzugezogen wurde. Die Villa war ganz offensichtlich nur noch für ihn bestimmt. Und dann kam endlich der Tag, an dem das Haus verkauft werden sollte. Sally wollte nicht dabeisein. Sie fuhr in die Stadt. Immer deprimierter wurde sie, während sie ziellos durch die Straßen wanderte. Als sie schließlich wieder zu Hause war, traf sie Nicos in der Halle. Das Schloß sei an einen Hotelkonzern verkauft worden, sagte er ihr beiläufig. Und die Möbel würden in vierzehn Tagen versteigert werden. "Ziehen wir dann in ein Hotel?" erkundigte sich Sally. "Wahrscheinlich." "Tut es dir jetzt leid, das Schloß verkauft zu haben?" "Nicht im geringsten", entgegnete er. Sein Gesicht verriet nichts, aber seine Stimme klang, als wäre er ebenso traur ig wie sie. Eine ganze Weile wechselten sie kein Wort mehr. "Als Privatwohnung wäre es wohl auch etwas zu groß gewesen", bemerkte Sally schließlich, um das unerträgliche Schweigen zu brechen. "Wir ziehen in ungefähr drei Wochen um", entgegnete er mit eisiger Höflichkeit. "Was willst du mit deinen eigenen Möbeln machen?" "Ich weiß nicht." Sallys Lippen fingen an zu zittert. "Ich weiß es wirklich nicht." "Möchtest du sie behalten?" Der Blick der dunklen Augen war ebenso hart wie der Ton seiner Stimme. "Nein, ich will mich lieber von ihnen trennen." "Und mit ihnen auch von der Vergangenheit?" Es sollte höhnisch klingen, aber Sally konnte auch Verbitterung heraushören. "Du bist grausam."
"Das hast du schon öfter gesagt." "Um auf die Möbel zurückzukommen", wechselte Sally das Thema. "Vielleicht könnten sie mit deinen Sachen zusammen versteigert werden." "Das geht jetzt nicht mehr. Sie stehen nicht mit auf der Liste." Sally konnte kaum noch die Tränen zurückhalten. Aber das hatte nichts mit den Möbeln zu tun. War sie womöglich deshalb so deprimiert, weil sie ein Kind erwartete? "Was soll ich denn nun mit den Möbeln machen?" "Mitnehmen und dir dein eigenes Reich einrichten, wie du es hier getan hast. Dann kannst du dich da einnisten und weiter von der Vergangenheit träumen." "Hör auf", rief sie heftig. "Mußt du mich so quälen?" "Das Quälen besorgst du selbst", entgegnete er gelassen, und ging. Bleich und verstört blieb Sally wie angewurzelt stehen. Als sie sich endlich gefangen hatte, lief sie verzweifelt in den Schloßhof hinaus. Wie in jener kalten Winternacht, in der Nicos sie durchnäßt gefunden und im Schloß zu Bett gebracht hatte, stürmte sie blindlings durch den riesigen Besitz. Damals hatte sie noch nicht gewußt, daß sie sich in ihn verlieben würde. Ja, sie hatte sich in ihn verliebt! Und so sehr sie auch versucht hatte, diese Liebe in Haß umzuwandeln, es war ihr nicht gelungen. Sie würde ihn bis in alle Ewigkeit lieben, aber verzeihen würde sie ihm niemals! Und wie würde es weitergehen, wenn sie erst auf Kos waren, wenn George so dicht bei ihnen wohnte und sie immer Theater spielen müßten? Sally stöhnte laut auf. Der Gedanke an die Zukunft war ihr unerträglich. Sie mußte sich müde laufen, mußte laufen, bis sie nicht mehr denken konnte. Daß sie sich völlig verlaufe n hatte, ging ihr erst etliche Stunden später auf. Planlos war sie durch die hügelige Landschaft geirrt. Meilenweit war sie gegangen, ohne sich einen
einzigen Anhaltspunkt zu merken. Immer wilder und unwegsamer wurde die Landschaft, immer dunkler und unheimlicher die Wälder, wo selbst der Schrei eines Vogels einen in Panik versetzen konnte. Welche Richtung sollte sie einschlagen? Sie konnte keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen. Diesmal würde Nicos sie nicht suchen. Die Sonne fing an unterzugehen, aber wirkliche Angst hatte sie eigentlich nicht. Dazu war sie viel zu apathisch. Irgendwann würde sie schon wieder zum Schloß zurückfinden. Mühsam schleppte sie sich weiter und blieb sogar stehen, um einen Wasserfall zu bewundern. Wie Feuer glühte und flimmerte das Wasser im Licht der untergehenden Sonne. Der ganze Himmel brannte. Hügel, Hänge und Schluchten waren wie in rotes Gold getaucht. Und dann verließen sie die Kräfte. Sie mußte sich unter einen Baum setzen. Sie mußte sich jetzt ernstlich bemühen, wieder nach Hause zu finden. Was sollte sie machen, wenn es dunkel wurde? Aber es war ja Juni, und die Tage waren lang. Sie gähnte schläfrig und lehnte sich gegen den Baum. Es war so friedlich hier, und der leichte Wind, der ihr Gesicht umspielte, duftete nach Tannen ... Als Sally wieder aufwachte, war es dunkel. Plötzlich war sie nicht mehr so ruhig und gelassen. Ob sie wohl die ganze Nacht hier draußen, so weit entfernt vom Schloß zubringen mußte? Aber wie weit war es eigentlich zum Schloß? Sie war meilenweit gelaufen, konnte aber auch gut im Kreis gegangen sein. Fest stand nur, daß sie einen langen Weg vor sich hatte und daß es einem Wunder gleichkäme, wenn sie sich im Dunkeln zurechtfinden würde. Aber vielleicht würde Nicos ja einen Suchtrupp ausschicken. Und dann kam ihr plötzlich ein furchtbarer Gedanke. Hatte er womöglich ihre Andeutungen ernst genommen? Dachte er, daß sie ihn verlassen hätte? Dann würde er warten, bis sie sich
wieder mit ihm in Verbindung setzte - wann immer das auch sein mochte. Zu Tode erschrocken versuchte sie, sich einen Weg durch das Unterholz zu bahnen. Wie hatte sie nur so töricht blindlings loslaufen können? Sie stolperte über Baumwurzeln, Dornen von Ginster und Brombeerbüschen bohrten sich in ihre Haut. Naßkalter Nebel stieg auf. Das nächtliche Schweigen war nicht mehr friedlich, sondern drohend. Es war wie etwas Fremdes, etwas Unbegreifliches aus einer anderen Welt. Immer weiter wagte sie sich vor in der Hoffnung, daß sie endlich ein Licht sehen würde. Immer verzweifelter hoffte sie auf ein Lebenszeichen - bis plötzlich der Boden unter ihr nachgab. Sally war auf loses Geröll geraten. Sie konnte sich nicht mehr halten, konnte sich an keinen rettenden Zweig mehr klammern und stürzte in eine bodenlose, dunkle Tiefe. Als Sally die Augen aufschlug, fiel ihr als erstes der Krankenhausgeruch auf. Dann vernahm sie kurz und knapp geflüsterte Befehle und eine Männerstimme, die eigentlich hätte schroff und ungeduldig klingen müssen, die sich aber heiser und tief besorgt anhörte. "Kommt sie denn immer noch nicht zu sich, Schwester?" "Doch, ja, Mr. Huntly." "Ein wahres Wunder, daß ihr nicht mehr passiert ist." Mehr hörte Sally nicht. Sie war gleich darauf wieder bewußtlos geworden. Als sie wieder zu sich kam, hörte sie die heisere Stimme abermals, aber diesmal wie aus weiter Ferne. Erst ganz allmählich reagierten ihre Augen und Ohren. Als sie Nicos endlich erkennen konnte, sah sie tiefe Falten um den Mund, ein nervöses Zucken in der sonnengebräunten Wange und einen unglücklich gespannten Ausdruck auf seinem Gesicht; "Das Baby ...", flüsterte sie besorgt.
"Du bist sehr tief hinuntergestürzt. Unser Baby ..." Er konnte nicht weiterreden. "Mein Liebes", brachte er schließlich heraus, "wir haben es verloren." "Mein Liebes" hatte so zärtlich und liebevoll geklungen, daß es Sally alles verriet. Außerdem konnte sie ihm alles, was sie wissen wollte, von den Augen ablesen. "Ich hätte nicht einfach loslaufen dürfen", sagte sie und weinte um ihr Baby. Plötzlich erkannte sie, daß sie alles falsch gesehen und sich vor lauter Groll gegen Nicos krankhaft in die Vergangenheit zurückversetzt hatte. "Das ist meine Strafe", fing sie mit bebenden Lippen wieder an. Aber bevor sie ausreden konnte, hatte Nicos ihr sanft die Finger auf den Mund gelegt. "Wo hast du mich gefunden?" fragte sie, als er seine Hand wieder fortgenommen hatte. "Ich habe einen Suchtrupp ausgeschickt." "Und ich bin mit ein paar blauen Flecken davongekommen. Ich muß großes Glück gehabt haben, wenn man bedenkt ..." "Unglaublich großes Glück ..." Wieder konnte er nicht weiterreden. "Sally, mein Liebling, wenn dir etwas passiert wäre, ich hätte es nicht ertragen können." War dies derselbe Mann, der ihr jenen seltsamen Heiratsantrag gemacht hatte? Sie sah ihn liebevoll an. "Du liebst mich, Nicos?" Es war eher eine Feststellung als eine Frage, aber sie wollte gern seine Antwort hören. Er sah erschöpft und mitgenommen aus, aber der harte Ausdruck war nicht mehr da. "Ja", sagte er, "ich liebe dich, Sally." Sally zitterten vor Aufregung die Lippen. Sie wollte sich aufsetzen, sich an ihn schmiegen, aber seine Hand schob sie auf ihr Kissen zurück. "Du hast behauptet, du würdest dich niemals verlieben können." "Ja, mein Liebling, wir haben beide Dinge gesagt, die uns jetzt unglaublich dumm vorkommen."
So ein Geständnis von dem gestrengen Schloßherrn, dem edlen Nachkommen der Warendykes! "Ach, Nicos, es tut mir alles so leid ..." Sally stockte. "Das klingt so unzulänglich, wenn man bedenkt, was ich getan habe. Ich liebte dich so sehr, und doch wollte ich dich nur noch hassen, als ich von der Abmachung mit Maria erfuhr. Ich wußte auf Kos schon, daß ich mich in dich verliebt hatte." "Ich hatte so etwas geahnt, wollte es aber vorsichtshalber noch nicht glauben", sagte er ruhig. "Denn auch ich hatte mich in dich verliebt, und ci h hätte es dir eigentlich sagen müssen. Aber ich wußte nicht, ob du die Vergangenheit endgültig überwunden hattest und ..." Er unterbrach sich und schaute sie nachdenklich an. "Und jetzt vergessen wir das alles. Es gibt so viel Schöneres, an das wir zurückdenken können." "Ja, an Kos zum Beispiel." "Ja, an Kos. Immerzu wollte ich dich in die Arme nehmen und dir sagen, daß ich dich liebe." "Mir ging es genauso, Nicos", gestand Sally leise und seufzte bedauernd auf. "Ich hätte dir so gern zu verstehen gegeben, was in mir vorging." "Wenn du das doch nur getan hättest!" "Ich hatte Angst, du könntest mich abweisen." Er blickte sie zärtlich an. "Das hätte ich bestimmt nicht getan, Liebling", sagte er überzeugt, fügte dann aber etwas kleinlaut "Ganz früher vielleicht" hinzu. "Du hast dich so verändert", sagte sie glücklich. "Mehr, als ich es je für möglich gehalten hätte. Jetzt kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, daß es für mich so etwas wie eine Ehe ohne Liebe überhaupt gegeben hat." Sally fühlte sich plötzlich entsetzlich müde. Nicos merkte es sofort. Sally wollte ihn zurückhalten, aber er kehrte ins Schloß zurück und arbeitete noch bis spät in die Nacht hinein. Er wollte so schnell wie möglich nach Kos aufbrechen.
Trotz des Unfalls waren Nicos und Sally am festgesetzten Tag reisefertig. Sie wollten mit dem Wagen bis Athen fahren und sich dort übersetzen lassen. "Eigentlich ist es doch traurig." Sally schaute noch einmal zu den hohen Türmen des Schlosses hinauf. "Ein Hotel! Nach so viel Ruhm und so viel Geschichte, nachdem so viele Menschen im Schutz dieser Mauern gelebt haben." "Aber nun können eine Menge Leute das Schloß genießen, Sally. Mir ist es lieber, es wird ein Hotel, als daß es, wie so viele alte Schlösser, verfällt." Sally streifte ihn mit einem liebevollen Blick. Seitdem er sich so verändert hatte, schien sein Gesicht von Tag zu Tag schöner zu werden. "Aber etwas muß es dir doch leid tun." "Kein bißchen, mein Liebling! Auf Kos habe ich dir doch schon zu verstehen gegeben, daß es mir nur anfangs gleichgültig war, ob du dich im Schloß wohl fühlen würdest. Hast du das denn gar nicht begriffen?" "Doch, Nicos, aber ich wußte nicht genau, was du damit meintest." "Ich meinte, daß es mir auf Kos keineswegs mehr gleichgültig war. Ich hatte dich schon so liebgewo nnen, daß mir dein Glück die Hauptsache geworden war. Meine wundervolle Frau gehört nicht in dieses alte Schloß. Wir wären schon allein deinetwegen nach Kos gezogen." Und vielleicht auch deswegen, setzte Sally im stillen hinzu, weil die Umgebung mich nicht immer wieder an Colin erinnern sollte. Aber darüber hätte er sich keine Sorgen zu machen brauchen. Sie liebte ihren Mann, liebte ihn viel inniger, als sie Colin geliebt hatte, der ihr ja niemals allein gehört hatte. "Komm, mein Liebes", unterbrach Nicos ihre Gedanken und griff nach ihrer Hand. "Wir schlagen einen ganz neuen Weg ein, zum erstenmal gemeinsam. Und wenn wir noch einmal einen neuen Weg einschlagen müssen, schaffen wir es wieder
zusammen und weinen dem, was gewesen ist, keine Tränen nach." Er schaute noch einmal auf die hohen, spitzen Türme, die sich scharf gegen den Himmel abzeichneten. Dann drehte er ihnen entschlossen den Rücken zu. Sally hatte sich nicht gerührt. Sie wartete noch auf einen Kuß. Nicos, der ihren Wunsch sofort erraten hatte, schloß sie fest in die Arme und küßte sie. Eine ganze Weile hielten sie sich so umschlungen. Schließlich gab er sie frei und sah ihr tief und zärtlich in die Augen. Sally lächelte ihn glücklich an, warf noch einen schnellen Blick zum Schloß hinauf und stieg dann in den Wagen. Nicos setzte sich neben sie in den Fahrersitz, und kurz darauf ließen sie schon die Auffahrt mit ihren uralten Eiben und das finstere Schloß der Warendykes hinter sich zurück.
-ENDE-