LASST UNS KÖNIG SPIELEN Monsieur Héristal, letzter Sproß der merowingischen Hausmeier, lebt als bescheidener, ruhiger S...
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LASST UNS KÖNIG SPIELEN Monsieur Héristal, letzter Sproß der merowingischen Hausmeier, lebt als bescheidener, ruhiger Spießbürger in Paris. Als bei einer Regierungskrise keine der zwei Dutzend französischen Parteien ein Kabinett zu bilden vermag, verfällt man auf die Idee, es wieder einmal mit einer Monarchie zu versuchen. Die Wahl fällt auf Monsieur Héristal. Mit großem Pomp, Grandiosität und – Improvisation wird dieser brave Bürger, als Pippin IV., in der Kathedrale zu Reims zum König gekrönt. Monsieur Héristal, ein ebenso anständiger wie verständiger Mann, möchte nun einige dringende Reformen einführen. Aber bei diesem Vorhaben stößt er sofort auf Widerstand. Die Monarchie ist erneut in Frage gestellt … um so wichtiger und persönlicher auch für den heutigen Leser. Über alle Geographie und alle Jahreszahlen hinweg bleiben die Wahrheiten und Schönheiten dieser Erzählung gültig, denn es geht um den Kampf für die Freiheit und gegen die Unterdrückung. Ein Kampf, der heute aktueller ist als jemals zuvor. DER MOND GING UNTER Der Nobelpreisträger schildert in dieser Parabel den heldenhaften Kampf eines kleinen Volkes gegen die Unterdrückung, der sich aber nicht auf der Ebene der Gewalt, sondern auf der des Geistes abspielt. Der mächtige Feind, gewohnt zu siegen und zu beherrschen, versucht, mit ausgeklügelten Methoden den Willen des besiegten Volkes zu unterdrücken. Aber die Menschen des kleinen Landes bleiben in ihren Herzen frei und unabhängig. Zwar müssen sie sich äußer-
lich dem Willen ihrer Feinde unterordnen, sich den Gegebenheiten der Stunde anpassen, aber die Hoffnung auf eine bessere Zukunft und ein Leben in Freiheit verlieren sie nie. Geprägt von tiefer Weisheit wissen sie, daß irgendwann auch für sie die Sonne wieder aufgehen muß. Daß John Steinbeck die Handlung ins lebendige Heute verlegt hat, macht die Geschichte
In meisterhafter Weise verbindet John Steinbeck in diesen beiden Romanen äußere Schlichtheit mit tiefem allgemeingültigen Wahrheitsgehalt, der an die ältesten Probleme des menschlichen Daseins innerhalb einer sozialen Gesellschaft rührt.
John Steinbeck wurde am 27. Februar 1902 in Salinas/Kalifornien geboren. Er verbindet in seinen Werken einen deterministischen Realismus mit Romantik und Religiosität. Wenn auch Kritiker bisweilen den Mangel an intellektueller Tiefe kritisieren, leben doch die Romane Steinbecks gerade vom Reiz der ungekünstelten Einfachheit. 1962 bekam Steinbeck den Nobelpreis für Literatur. Er starb am 20. Dezember 1968 in New York.
John Steinbeck
Laßt uns König Spielen Der Mond ging unter Zwei Romane
DIANA VERLAG ZÜRICH
LASST UNS KÖNIG SPIELEN Aus dem Amerikanischen übersetzt von Harry Kahn Titel der Originalausgabe THE SHORT REIGN OF PIPPIN IV. © John Steinbeck, 1957 © renewed Elaine Steinbeck, Thorn Steinbeck and John Steinbeck JV., 1985 © der deutschsprachigen Ausgabe 1958 und 1989 by Diana Verlag AG, Zürich
DER MOND GING UNTER Aus dem Amerikanischen übersetzt von Anna Katharina Rehmann-Salten Titel der Originalausgabe THE MOON IS DOWN © John Steinbeck 1942 © renewed Elaine Steinbeck, Thorn Steinbeck and John Steinbeck IV. 1970 © der deutschsprachigen Ausgabe 1943 by Humanitas Verlag, Zürich und 1989 by Diana Verlag AG, Zürich
Printed in Austria ISBN 3-905414-82-1 Umschlagabbildung: Bildarchiv preussischer Kulturbesitz, Berlin Satz: Fotosatz Knab, Lintach Druck und Bindung: Wiener Verlag, Himberg bei Wien
INHALT
ERSTER BAND
LASST UNS KÖNIG SPIELEN Seite 9
ZWEITER BAND
DER MOND GING UNTER Seite 215
Laßt uns König spielen Ein fabriziertes Märchen
MEINER SCHWESTER ESTHER
1. Kapitel Das Haus Avenue de Marigny Nummer 1 in Paris ist eine große, viereckige, düster und ehrwürdig wirkende Baulichkeit. Es steht an der Ecke, wo die Avenue de Marigny die Avenue Gabriel kreuzt, nur ein kleines Häusergeviert von den Champs-Élysées entfernt, dem Palais de l’Élysée gegenüber, in dem der französische Präsident residiert. An das Haus Nummer 1 stößt ein glasgedeckter Vorhof, auf dessen anderer Seite sich ein hohes, schmales Gebäude erhebt, einstmals Stallungen und Kutscherwohnungen enthaltend. Die Stallungen zu ebener Erde, hochelegant anzusehen, mit fein gemeißelten Marmorkrippen und -trögen ausgestattet, sind noch immer vorhanden, doch darüber liegen drei freundliche Stockwerke, als kleine freundliche Wohnung im Zentrum von Paris. Im zweiten Stock tun sich große Glastüren nach dem unverglasten Teil des Hofes auf, der die beiden Gebäude verbindet. Es heißt, das Haus Nummer 1 sei, zusammen mit dem Kutscherhaus, seinerzeit von den Johannitern als Pariser Hauptquartier des Ordens errichtet worden; jetzt indes besitzt und bewohnt es eine französische Adelsfamilie, die seit einer Reihe von Jahren das umgebaute Kutscherhaus (mit dem Recht zur Benutzung des Hofes sowie der einen Hälfte des flachen Zwischendachs) Herrn Pippin Arnulf 11
Héristal und seiner Familie, bestehend aus seiner Gattin Marie und seiner Tochter Clotilde, vermietet hat. Bald nach seinem Einzug im Kutscherhause hatte Monsieur Héristal seinem vornehmen Hausherrn einen Besuch abgestattet und dabei um die Erlaubnis nachgesucht, auf dem Teil des Flachdaches, dessen Betreten ihm vertraglich zustand, Unterbau und Sockel eines Spiegelfernrohrs errichten zu dürfen. Diesem Ersuchen wurde stattgegeben; da Monsieur Héristal seine Miete pünktlich zahlte, beschränkte sich der Verkehr der beiden Familien von da an auf kühlhöflichen. Grußwechsel, wenn man sich im Hofe begegnete, der selbstverständlich durch ein Gitter aus starken Eisenstangen gegen die Straße hin abgeschirmt war. Ein Hausherrn und Mieter gemeinsames Zubehör war der Concierge, ein mürrischer Provinzler, der seit Jahren in Paris lebte, aber das noch immer nicht zur Kenntnis nehmen wollte. Seitens des vornehmen Hausbesitzers wurden niemals irgendwelche Beschwerden gegen Monsieur Héristal laut, da dessen Himmelsritte auf seinem Steckenpferd nächtlicherweile und geräuschlos vor sich gingen. Doch wiewohl sie nicht mit Geräusch verbunden, geht die Leidenschaft für die Sterne darum nicht minder tief. Die Héristals lebten von einem Einkommen, das als geradezu vorbildlich für eine französische Familie bezeichnet werden darf. Es stammte nämlich von gewissen nach Osten zu liegenden Hängen bei Auxerre an der Loire, auf denen die Reben die von der Morgensonne gespendete wohltätige Milde einzusaugen, aber den schädlichen Einflüssen der Abendluft zu entgehen vermochten. Diese Lage, ein ausgezeichneter Boden sowie ein vortrefflich tem12
perierter Keller brachten einen Weißwein hervor, der frisch und würzig gleich dem Geruch von Feldblumen im Frühling schmeckte, einen Wein, der zwar nicht den Versand vertrug, das aber auch nicht nötig hatte, da seine Verehrer von weit her zu ihm wallfahrteten. Dieses Weingütchen, so klein es war, stellte wohl das beste Stück Boden eines einst sehr großen Grundbesitzes dar. Überdies wurde es bestellt und gepflegt von Pächtern, deren Sachverständnis an Zauberkunst grenzte und die zudem, eine Generation wie die andere, pünktlich ihren Pachtzins zahlten. Monsieur Héristals Einkommen war beileibe nicht groß, doch es war ein regelmäßiges Einkommen, das ihm erlaubte, im Kutscherhause von Avenue de Marigny Nummer 1 ein behagliches Leben zu führen, sorgsam ausgewählte Theatervorstellungen, Konzerte und Ballettabende zu besuchen, die benötigten Bücher anzuschaffen, einem angesehenen Cercle und drei gelehrten Gesellschaften anzugehören und als hochgeachteter Amateur der Astronomie die unwahrscheinlichen Himmelsgefilde über dem Achten Arrondissement von Paris zu beäugen. In der Tat, wenn Pippin Héristal sich hätte aussuchen dürfen, welches Leben er am liebsten führen möchte, dann würde er sich wohl – mit nur geringfügigen Änderungen – für das ausgesprochen haben, das er im Februar des Jahres 19.. führte. Er war vierundfünfzig Jahre alt, ein schlanker, gutaussehender Mann; auch von guter Gesundheit, soviel er wußte. Mit andern Worten: Seine Gesundheit war so gut, daß er sich nicht bewußt wurde, sie zu haben. Seine Ehefrau Marie war eine gute Gattin und eine gute 13
Hausfrau, die den ihr zukommenden Bereich kannte und sich in dessen Grenzen hielt. Sie war von wohlausgefüllter Statur und angenehmem Naturell und würde sich unter andern Umständen nicht übel am Schanktisch einer ausgezeichneten kleinen Gaststätte gemacht haben. Wie die meisten Französinnen ihrer Schicht verabscheute sie Verschwendung und Ketzerei, welch letztere sie als Vergeudung guten himmlischen Materials erachtete. Ihren Gatten bewunderte sie, ohne ihn verstehen zu wollen, und stand auf einem Fuß so echter Freundschaft mit ihm, wie das nie in jenen Ehen zu finden ist, in deren Seelenfrieden die Liebesleidenschaft den Feuerbrand wirft. Sie sah ihre Pflicht darin, für Gatten und Tochter einen guten, sauberen, sparsamen Haushalt zu führen, so viel wie möglich für ihre eigene Leber zu tun und die geistlichen Anzahlungen auf das ihr im Himmelreich verschriebene Besitztum zu leisten. Diese Tätigkeiten nahmen ihre ganze Zeit in Anspruch. Was an überschüssigem Temperament bei ihr vorhanden war, wurde aufgezehrt durch einen gelegentlichen Streit mit der Köchin Rose sowie durch ihren ständigen Krieg mit dem Wein- und dem Kolonialwarenhändler, die für sie als Gauner und Schweine galten, zu gewissen Zeiten im Jahre auch als uralte Kamele. Madames beste Freundin war Schwester Hyacinthe, von der später noch die Rede sein wird. Monsieur Héristal war durch und durch Franzose, aber doch auch noch etwas darüber. Er erachtete es, beispielsweise, nicht als eine Sünde, nicht Französisch zu sprechen, und nicht als Affektiertheit für einen Franzosen, fremde Sprachen zu lernen. Er konnte Deutsch, Italienisch und 14
Englisch. Er interessierte sich, sozusagen wissenschaftlich, für modernste Jazzmusik und war ein großer Liebhaber der Karikaturen im »Punch«. Er bewunderte die Engländer um ihrer Energie und ihrer Leidenschaft für Rosen, Pferde und gewisse Formen des Benehmens willen. »Ein Engländer ist eine Bombe«, pflegte er zu sagen, »aber eine mit einem verborgenen Zünder.« Oder er ließ sich vernehmen: »Bei Engländern soll man nie verallgemeinern; jede Verallgemeinerung über sie erweist sich mit der Zeit als unrichtig«, und ergänzte dies durch den Satz: »Wie verschieden sie von den Amerikanern sind!« Die Lebensführung der Héristals war sorgfältig auf das Familieneinkommen abgestimmt, das für das angenehme, aber genügsame Dasein ausreichte, welches Monsieur Pippin und Madame als gute Franzosen zu leben vorzogen und das alles in allem behaglich, wenn auch ohne Extravaganz war. Die einzige eigentliche Extravaganz, die sich Monsieur leistete, war sein astronomisches Instrumentarium. Sein für Amateure ungewöhnlich starkes Fernrohr war mit einem genügend schweren und festen Unterbau ausgerüstet, um Oszillation hintanzuhalten, und mit einem Mechanismus versehen, der die Erddrehung ausglich. Einige von Pippins Himmelsaufnahmen sind in der Zeitschrift »Match« erschienen, und zwar mit Recht, da ihm das Verdienst der Entdeckung des Kometen von 1951 – der die Bezeichnung Komet Élysée erhielt – zukommt. Allerdings teilte er den Ruhm dieser Entdeckung mit dem in Kalifornien ansässigen, japanischen Amateur-Astronomen Walter Haschi, der den Kometen gleichzeitig mit Héristal beobachtet und darüber berichtet hat. Haschi und Héristal 15
korrespondierten noch immer regelmäßig miteinander und tauschten Fotografien und technische Hinweise aus. Wie jeder anständige, aufgeweckte Bürger las Pippin unter normalen Umständen vier Tageszeitungen. Eigentlich war ihm Politik gleichgültig, außer insofern, als er allen Regierungen, namentlich aber der am Ruder befindlichen, mißtraute, doch auch das darf wohl mehr als eine französische denn eine persönliche Eigenschaft bezeichnet werden. Die Ehe der Héristals war nur mit einem einzigen Kinde gesegnet: der jetzt zwanzigjährigen, dynamischen, temperamentvollen, hübschen, aber etwas zu fülligen Clotilde. Sie hatte bereits eine interessante Vergangenheit hinter sich. In frühester Jugend schon hatte sie auf jedem nur erdenklichen Gebiet Opposition gemacht. Mit vierzehn Jahren beschloß sie, Ärztin zu werden, mit fünfzehn schrieb sie einen Roman, betitelt »Adieu ma vie«, der viele Auflagen erlebte und verfilmt wurde. Auf Grund ihres großen Buch- und Filmerfolgs wurde sie zu einer Tournee durch Amerika verpflichtet; nach Frankreich zurückgekehrt, trug sie nur noch Jeans – blaue Drillichhosen –, dazu ein Männerhemd und absatzlose Schuhe, ein Stil, der sofort von Millionen französischer Backfische angenommen wurde, die ein paar Jahre lang unter dem Namen »Les Jeannes Bleues« ihren Eltern unsägliche Leiden bereiteten. Es wurde behauptet, die Jeannes Bleues seien noch liederlicher und ungepflegter als die Existentialistinnen, und manch ein französischer Vater hob über ihre mit stockernsten Mienen absolvierten Jitterbug-Verrenkungen die geballten Fäuste zum Himmel. 16
Von der Kunst wechselte Clotilde direkt zur Politik. Mit sechzehneinhalb trat sie der Kommunistischen Partei bei und erwarb mit einem ununterbrochenen Dienst von zweiundsechzig Stunden vor der Citroën-Fabrik den Rekord im Streikpostenstehen. Während dieses Umgangs mit den niederen Klassen machte Clotilde die Bekanntschaft von Père Méchant, des bekannten ArmeleutePriesters, der sie so stark beeindruckte, daß sie ernsthaft erwog, den Schleier zu nehmen und in einen Nonnenorden einzutreten, dessen Regeln Schweigen, Schwarzbrot und an armen Leuten zu vollziehende Fußwaschungen vorschrieben. * Am 14. Februar begab sich ein Himmelsereignis, das einschneidende Folgen für die Familie Héristal heraufbeschwor. Ein prääquinoktialer Sternschnuppenregen trat unzeitig und unvorhergesehen in Erscheinung. Wie besessen mühte sich Pippin mit dem lodernden Himmelsgewölbe ab, belichtete Film nach Film, aber noch ehe er sich in seine Dunkelkammer neben dem Weinkeller begab, wußte er, daß seine Kamera nicht ausreichte, die feurigen Weltraumgeschosse im Fluge festzuhalten. Der entwickelte Film bestätigte seine Befürchtung. Leise fluchend begab er sich zu einer renommierten Firma optischer Geräte, konferierte mit der Direktion, telefonierte mit mehreren gelehrten Freunden. Widerstrebend wanderte er danach zum Hause Avenue de Marigny Nummer 1 zurück; so tief in Gedanken war er, daß er die Gardes Républicaines in glän17
zendem Küraß und vom roten Federbusch geschmückten Helm nicht bemerkte, die vor dem Tor des Élysée-Palastes herumritten. Madame beendigte gerade eine Auseinandersetzung mit der Köchin Rose, als Pippin die Stiege heraufkam. Mit der Siegermiene auf dem leicht geröteten Gesicht und gefolgt von dem mürrischen Gemurmel der geschlagenen Rose, entschritt sie der Küche. Im Salon sodann erklärte sie ihrem Eheherrn: »Schließt die Person doch das Fenster über dem Käse – ein ganzes Kilogramm Käse, das bei geschlossenem Fenster ungelüftet bleibt. Und wissen Sie, was sie als Entschuldigung vorgebracht hat? Es sei ihr zu kalt gewesen. Damit sie es behaglich hat, muß der Käse ersticken. Auf Dienstboten ist heutzutage kein Verlaß mehr!« Monsieur äußerte: »Man befindet sich in schwieriger Lage.« »In schwieriger Lage … Natürlich ist es schwierig bei dem Gesindel, das sich Köchinnen nennt …« »Madame … der Sternschnuppenregen hält an. Das ist erwiesene Tatsache. Ich sehe mich gezwungen, eine neue Kamera zu erwerben.« Geldausgabe fiel unbedingt in Madames Bereich. Sie blieb stumm; aber ihre sich zusammenziehenden Brauen und ihre Hände, die sich langsam hoben, um sich schließlich in die Hüften zu stemmen, verhießen Monsieur nichts Gutes. Er sagte unsicher: »Man muß sich entscheiden. Niemanden trifft ein Vorwurf. Man könnte sagen, die Anforderung kommt vom Himmel selbst.« 18
Die Stimme Madames war stählern. »Was kostet diese … diese Kamera, Monsieur?« Er nannte eine Ziffer, die den kräftigen Bau Madames erschütterte, als ob darin eine Explosion stattgefunden hätte. Doch sie faßte sich alsbald und sammelte sich zum Gegenangriff. »Vorigen Monat, M’sieur, war es eine neue … wie nennen Sie das doch? Die Kosten für Filmmaterial sind bereits ruinös. Darf ich Sie an das Schreiben erinnern, M’sieur, das jüngst von Auxerre eingelaufen ist, an die Notwendigkeit neuer Fässer, an die dringende Forderung, daß wir die halben Spesen tragen?« »Madame«, rief Monsieur Pippin, »ich habe den Sternschnuppenregen nicht herabgerufen.« »Und ich habe die Fässer in Auxerre nicht verdorben.« »Mir bleibt keine andere Wahl, Madame.« Madame schien zu einem zinnenbewehrten Turm emporzuwachsen, um den sich das Dunkel ballte wie ein Privatgewitter. »Monsieur ist Herr im Hause«, sagte sie. »Wenn es M’sieurs Wunsch ist, daß durch die Sternschnuppen der Bankrott auf die Häupter seiner Familie herabbeschworen wird – wie dürfte ich dagegen Einspruch erheben? Ich muß zu Rose gehn und mich bei ihr entschuldigen. Ein Kilo muffig gewordener Käse ist eine lächerliche Bagatelle verglichen mit den Lichtflecken auf Filmen. Kann man Sternschnuppen essen, M’sieur? Kann man sie anziehen, um die Nachtfeuchtigkeit abzuhalten? Kann man Weinfässer aus den kostbaren Schnuppen herstellen? M’sieur, ich überlasse es Ihnen, Ihre Wahl zu treffen.« 19
Damit ging sie ruhigen, schicksalhaften Schrittes von dannen. In Pippin Héristal kämpfte der Zorn mit der Angst. Durch die doppelte Glastüre konnte er sein von der wasserdichten Seidenhülle geschütztes Fernrohr erkennen. Da siegte der Zorn. Finster ging er die Stiege hinab, stülpte sich den Hut auf den Kopf, riß seinen Stock aus dem Schirmständer und Clotildes Aktentasche vom Tisch. Mit zorniger Würde schritt er durch den Hof und wartete darauf, daß der Concierge das Eisentor öffne. In einer Anwandlung von Schwäche blickte er sich um und sah Madame am Küchenfenster stehen, die beglückt schielende Rose an ihrer Seite. »Ich besuche Onkel Charlie«, sagte Pippin Héristal und schlug das eiserne Tor hinter sich zu. * Charles Martel war der Besitzer eines kleinen, aber gutgehenden Antiquitätengeschäfts nebst Kunstgalerie in der Rue de Seine. Es war ein dunkles, gemütliches Lokal, in dem angemessen schlechtbeleuchtete und aufreizende Bilder hingen. Er verkaufte unsignierte Gemälde, für die er nicht als frühe Renoirs garantieren wollte, sowie allerhand Bric-à-brac aus Kristall, mit Vergoldung, Chinoiserien, von denen er mit Recht behauptete, daß sie aus alten Adelspalästen Frankreichs stammten. Ein roter Plüschvorhang im Hintergrund der Galerie verdeckte den Eingang zu einer der behaglichsten und diskretesten Junggesellenbuden von Paris. Auf den Sesseln 20
lagen mit Daunen gefüllte Sammetkissen, so daß es ein Genuß war, darauf zu sitzen. Seine Bettstelle war ein Wunderwerk des Empire; sie war massiv vergoldet, ihr Kopf- und Fußende hoch geschweift wie Bug und Heck eines Wikinger-Drachenschiffs. Tagsüber verwandelten eine Decke und Kissen aus leicht verschossenen Altartüchern die Lagerstatt in einen reizenden Winkel, von dem eine leise Lockung zu sündigem Tun ausging. Grünverschirmte Lampen verbreiteten gerade genügend Licht, um die Schönheiten des Gemachs zum Vorschein zu bringen und seine Mängel zu verheimlichen. Ein chinesischer Wandschirm, dessen Farben mit den Jahren die Tönung schwarzer Perlen und zerlassener Butter angenommen hatten, verbarg die aus einem Schüttstein und einem kleinen Gasring bestehende Kücheneinrichtung. Ein Bücherschrank beherbergte in goldgeprägtes Leder gebundene Bände, die dem Auge wohlgefällig waren, ohne gelesen werden zu wollen. Charles war immer ein Mann von Welt gewesen, liebenswürdig, aber unnachgiebig, von untadeligem Auftreten und Anzug. Er brachte jetzt, als später Sechziger, noch immer Damen seine Verehrung entgegen, und er behandelte alle weiblichen Wesen als Damen, bis sie auf dem Gegenteil bestanden. Selbst jetzt noch, da sein Naturtrieb doch mehr auf Schlaf denn auf Schäferstunden eingestellt war, behielt er einen so hohen Stil von Galanterie bei, daß sogar junge Damen der besten Kreise einen angenehmen Schauder verspürten, wenn sie zu einem Aperitif hinter den roten Plüschvorhang eingeladen wurden. Daß sie nicht enttäuscht von dannen gingen, dafür sorgte Charles 21
nach besten Kräften. Eine kleine Tür führte zu einer Seitengasse hinter dem Laden; ein nebensächliches Moment, gewiß, das jedoch seine Gäste mit Vertrauen erfüllte. Wenn der Erbe eines uralten Namens und eines von Fledermäusen durchschwirrten Stammschlosses einen erholsamen Tag in Auteuil oder ein neues Futter für seinen Pelzmantel brauchte, wo wäre der Kristallkronleuchter aus dem Ballsaal oder der eingelegte Kartentisch, der einmal einer königlichen Mätresse gehört hatte, besser aufgehoben gewesen als in der Galerie von Onkel Charlie? Und ein gewisser, sorgfältig gesiebter Teil seiner Kundschaft wußte, daß Charles Martel, wenn man ihm heftig zusetzte, mit einem ganz seltenen Stück herausrücken würde. So richtete sich der Filmproduzent Willie Chitling die Bar in seinem Landhaus bei Palm Springs vollkommen mit Möbeln, Pannelen und dem Altar aus dem dreizehnten Jahrhundert der Kapelle von Schloß Vieilleculotte ein. Charles gewährte aber auch in vernünftigen Grenzen gehaltene Darlehen. Es hieß, er besitze sogar persönlich ausgestellte Schuldscheine von neun der zwölf Pairs von Frankreich. Charles Martel war der Onkel und Freund von Pippin Arnulf Héristal. Er war auch der Berater seines Neffen in geistlichen wie weltlichen Dingen. Als Monsieur Héristal nun Hals über Kopf in der Rue de Seine erschien, schloß Charles aus dem Umstand, daß dies in einem Taxi geschah, es müsse sich bei diesem Besuch um etwas Ernstes handeln. So gab er dem Neffen durch einen Wink zu verstehen, er solle sich hinter den Plüschvorhang verfügen, während er sich beeilte, den 22
Verkauf einer Louis-Quinze-Schminkschatulle an eine ältliche Touristin, für die das Stück keinerlei praktischen Wert hatte, zum Abschluß zu bringen. Und zwar beendete er die Unterhandlungen nicht, indem er den Preis herab-, sondern indem er ihn plötzlich hinaufsetzte, wodurch die Dame die Überzeugung gewann, sie müsse sich das Stück auf der Stelle sichern, sonst werde sie es überhaupt nicht mehr bekommen. Schließlich war es denn auch soweit, daß Charles die Dame zur Tür geleiten, diese zuschließen und ein stark abgenutztes Pappdeckelschild davor aufhängen konnte, auf dem stand: »Wegen Renovierung geschlossen«. Worauf er sich ebenfalls hinter den Plüschvorhang begab und seinen dort auf und ab laufenden Neffen begrüßte. »Du bist aufgeregt, mein Sohn«, sagte er. »Nimm Platz, setze dich. Ich gebe dir einen Tropfen Cognac zur Beruhigung deiner Nerven.« »Ich bin wütend«, sagte Pippin, setzte sich jedoch und nahm den Cognac. »Über Marie?« fragte Onkel Charlie. »Oder etwa über Clotilde?« »Über Marie.« »Wegen Geld?« »Jawohl«, sagte Pippin. »Wieviel?« »Ich komme nicht, um zu borgen.« »Du kommst also, um zu klagen.« »Jawohl, richtig, um mich zu beklagen.« »Sehr gescheit. Dadurch wälzt man sich die Last vom Herzen. Wenn du wieder heimkommst, bist du besserer 23
Laune, kurz, ein besserer Ehemann. Wünschst du dich über deine Beschwerden näher auszusprechen?« »Ein unvorhergesehener Meteorregen«, sagte Pippin, »ist in die Erdatmosphäre eingebrochen. Meine Kamera ist dem Ereignis nicht gewachsen … kurz, ich benötige eine neue Kamera.« »Die ist kostspielig, und Marie findet die Ausgabe unnötig?« »Du hast die Sachlage ausgezeichnet erfaßt. Marie hat ihr gekränktes Gesicht aufgesetzt. Sie läuft mit ihrer beleidigten Miene herum und sinnt auf Rache.« »Hast du denn die Kamera gekauft?« »Noch nicht.« »Aber du bist dazu entschlossen.« »Du mußt begreifen, lieber Onkel: daß Meteorregen in dieser Jahreszeit auftreten, ist ganz ungewöhnlich. Gott weiß, was da oben vorgeht. Vergiß nicht, daß ich der erste war, der über den Kometen Élysée berichtete. Ich wurde von der Akademie ausgezeichnet. Es wird gemunkelt, in nicht allzu ferner Zukunft könnte ich möglicherweise hineingewählt werden.« »Herzlichen Glückwunsch, mein Sohn. Welche Ehre! Die Betrachtung des Himmels ist nicht gerade meine Leidenschaft; aber ich habe Nachsicht mit jeglicher Leidenschaft, welcher Quelle sie auch entstammen mag. Nun denn, mein lieber Neffe, beginne mit der Beschwerdeführung. Ich bin also jetzt Marie, und du bist du. Wir wollen vielleicht von der unleugbaren Tatsache ausgehen, daß deinem Einkommen dein Besitz zugrunde liegt, nicht eine Mitgift.« »Richtig.« 24
»Der Grund und Boden hat seit unvordenklichen Zeiten deiner Familie gehört.« »Seit die salischen Franken vom Osten eingebrochen sind.« »In Tat und Wahrheit sind deine Rebhügel die letzten Überbleibsel eines Königreichs.« »Eines Kaiserreichs.« »Du stammst von einer so alten, so edlen Familie ab, daß du dich nicht dazu herablässest, den Emporkömmlingsadel durch Führung der dir rechtmäßig zustehenden Titel an deine Abkunft zu gemahnen.« »Vortrefflich ausgedrückt, Onkel Charlie. Dabei will ich nichts weiter als eine Kamera.« »Eben«, sagte Charles. »Ist dir schon besser?« »Tatsächlich.« »Ich werde dir also das Geld leihen, mein Sohn. Du kannst es mir in kleinen Raten zurückzahlen. Die bringen Marie nicht aus der Ruhe … nur große Ausgaben ängstigen sie.« »Ich bin nicht gekommen, um Geld zu borgen.« »Du hast mich nicht darum ersucht. Ich habe es dir angeboten. Du wirst die Kamera kaufen. Du wirst Marie mitteilen, du habest dich entschlossen, sie nicht zu kaufen. Kann Marie eine Kamera von der andern unterscheiden?« »Natürlich nicht. Aber werde ich damit nicht meine Stellung im Hause verlieren?« »Ganz im Gegenteil, mein Sohn. Du versetzest Marie in die Stellung einer Schuldigen. Sie wird dich zur Anschaffung einer Menge von Kleinigkeiten drängen. So wirst du das Darlehen zurückzahlen.« 25
»Warum hast du eigentlich nie geheiratet?« »Ich sehe lieber andere Leute glücklich. Nun … auf welchen Betrag soll ich den Scheck ausschreiben?« * Als Monsieur Héristal das Eisentor hinter sich zugeworfen und zum Taxistandplatz an der Avenue Gabriel gestürmt war, wurde es Madame Héristal, einen so glatten, vernichtenden Sieg sie auch errungen hatte, doch beklommen und unsicher zumute. In solchen Stunden pflegte sie ihre alte Freundin Schwester Hyacinthe in deren Kloster unweit der Porte de Vincennes aufzusuchen, einem weitläufigen, niederen, guterhaltenen Gebäude, von dem aus man das Bois de Vincennes sah. Madame zog sich also um, nahm ihre Handtasche und die schwarze Einkaufstasche und bestieg die Metro. Mit Schwester Hyacinthe war sie von frühester Jugend her befreundet und außerdem zusammen in die Schule gegangen. Suzanne Lescault war ein hübsches Kind mit einem dünnen, aber reinen Singstimmchen und einer natürlichen Tanzbegabung, weshalb sie stets die erste Rolle bei den festlichen Aufzügen oder den Theateraufführungen der Schule spielte. Es war nur folgerichtig, daß Suzanne vom kleinen Waldkobold zur Feenkönigin vorschritt, um, über die Pierrette, zur Jungfrau von Orléans zu gelangen, die sie drei Jahre hintereinander zur höchsten Zufriedenheit der Verfasserin des Spiels, der Schwester Oberin der Klosterschule, verkörperte. Marie, die weder singen noch tanzen konnte, vergötterte ihre begabte Freundin 26
völlig neidlos, ja sonnte sich in deren Triumphen, an denen sie etwas wie persönlichen Anteil zu haben glaubte. Wenn alles seinen normalen Verlauf genommen hätte, so würde sich Suzanne wohl verheiratet und ihre Talente samt ihrer knospenden Figur unter den Scheffel gestellt haben. Doch irgendwo fern von ihr begab sich eine Transaktion mit dem Crédit Lyonnais, derzufolge Suzannes Vater, der Beamter in diesem Institut war, sich entleibte und Suzanne mit einer kränklichen Mutter, einem Knirps von Bruder in langem schwarzem Schulkittel und der Notwendigkeit, sich und die Ihren zu ernähren, zurückließ. Nun erst bekam die oft gehörte Redensart, sie gehöre auf die Bühne, für Suzanne und ihre Mutter einigen Sinn. Bei der Comédie Française bestand im Augenblick keine Vakanz in Suzannes Fach, doch merkte man dort ihren Namen vor. Während der Wartezeit wurde sie von den Folies Bergère engagiert, wo ihre Stimme, ihre Anmut und ihr tadelloser fester Busen ohne weiteres die entsprechende Bewertung und Verwendung erfuhren. Die gewohnheitsmäßige Krankheit ihrer Mutter, die endlos scheinende Erziehung des Bruders, die dann doch durch einen Unfall mit dem Motorrad ein plötzliches Ende nahm, all dies ließ es Suzanne wirtschaftlich nicht rätlich erscheinen, die gutbezahlte Dauerstellung wegen der ungewissen Hoffnung auf höhere Kunst aufs Spiel zu setzen. So war sie denn viele Jahre hindurch eine Zierde der Folies, nicht nur in der Reihe der schönen, spärlich bekleideten Mädchen, sondern auch in kleinen Sprech-, Sing- und Tanzsolorollen. Als, nach zwanzig Jahren klagereicher, komplizierter, aber medizinisch undefinierbarer 27
Krankheit, die Mutter starb, war Suzanne schon zur Ballettmeisterin aufgerückt. Sie war sehr müde. Ihr Busen war straff geblieben, aber ihr Spann war schlaff geworden. Sie hatte, wie die meisten Französinnen, ein vergleichsweise tugendhaftes Leben geführt. Jungen Amerikanern, die über diesen Punkt durchwegs falsch unterrichtet sind, gereicht es immer wieder zur Enttäuschung, wenn sie entdecken, daß die Franzosen ein moralisches Volk sind (nach dem in amerikanischen Golf- und Landclubs üblichen Maßstab beurteilt). Suzanne wollte endlich ihren Füßen Ruhe gönnen. Sie verließ eine Welt, über die sie allzugut Bescheid wußte; nach dem üblichen Noviziat nahm sie, unter dem Namen Schwester Hyacinthe, den Schleier in einem Nonnenorden, der eine vornehmlich sitzende Lebensweise pflegte. Als Schwester Hyacinthe strahlte Suzanne so viel Friede und Frömmigkeit aus, daß sie auch eine Zierde ihres Ordens wurde, während ihre Vorgeschichte und Lebenserfahrung sie ebenso duldsam wie hilfreich gegenüber jüngeren Schwestern in Seelennöten machten. Während all der Jahre ihrer beider Lebensabschnitte hatte sie stets die Verbindung mit ihrer Jugend- und Schulfreundin Marie aufrechterhalten. Selbst zwischen den Besuchen führten sie einen ausführlichen, langweiligen Briefwechsel, in dem sie Klagen und Rezepte austauschten. Marie verehrte nach wie vor ihre begabte und jetzt heiligmäßige Freundin. So war es denn nur selbstverständlich, daß sie sich auch in der Angelegenheit der Kamera an Schwester Hyacinthe wandte. In dem reinlichen und behaglichen kleinen Besuchs28
zimmer des Klosters bei Vincennes sagte Marie: »Ich bin mit meinem Latein zu Ende. In den meisten Dingen ist Monsieur so besonnen, wie man es sich nur wünschen kann, aber wenn es um seine unseligen Sterne geht, dann wirft er das Geld einfach zum Fenster hinaus.« Schwester Hyacinthe lächelte ihre Freundin an. »Warum gibst du ihm keine Schläge?« fragte sie munter. »Wie bitte? Ach so, ich verstehe, du machst einen Scherz. Aber ich versichere dir, es handelt sich um eine ernste Sache. Die Kellereien in Auxerre …« »Habt ihr genug zu essen? Ist die Miete bezahlt? Ist der elektrische Strom abgestellt worden?« »Es geht um ein Prinzip und um einen Präzedenzfall«, sagte Marie ein wenig steif. »Meine liebe Freundin«, sagte die Nonne, »bist du zu mir gekommen, um dir Rat zu holen oder um dich zu beklagen?« »Natürlich um deinen Rat einzuholen. Ich klage niemals.« »Natürlich nicht«, sagte Schwester Hyacinthe und fuhr leise fort: »Ich habe viele Menschen gekannt, die um Rat baten, aber sehr wenige, die ihn wirklich wünschten, und gar keine, die ihn befolgten. Trotzdem werde ich dir raten.« »Bitte sehr«, sagte Marie etwas zurückhaltend. »In meiner Berufstätigkeit hatte ich Umgang mit vielen Männern. Ich bin daher wohl in der Lage, einige Allgemeinheiten über sie zu äußern. Erstens: Sie sind wie Kinder, manchmal wie verwöhnte Kinder.« »Da kann ich dir nur beipflichten.« 29
»Diejenigen, die wirklich richtig erwachsen werden, Marie, taugen zu nichts, denn Männer sind entweder Kinder oder Greise – dazwischen gibt es nichts. Doch in ihrer kindlichen Unvernunft und Verantwortungslosigkeit liegt manchmal Größe. Bitte verstehe mich recht: Ich weiß, daß die Frauen größtenteils intelligenter sind; aber Frauen werden erwachsen, Frauen sehen der Wirklichkeit ins Auge … aber sie sind sehr selten groß. Eines der wenigen Dinge, die ich in meinem jetzigen Beruf vermisse, ist die männliche Torheit. Sie bietet zumindest Kontrastwirkung.« »Er hat einen Kometen entdeckt«, sagte Marie. »Die Akademie hat ihn lobend erwähnt. Aber diese Sache mit der neuen Kamera … das geht zu weit.« »Ich frage dich noch einmal: Wünschst du meinen Rat?« »Natürlich.« »Dann rate du ihm, die Kamera anzuschaffen, ja dränge ihn dazu.« »Aber ich habe doch schon Stellung bezogen. Wenn ich sie aufgebe, verliert er die Achtung vor mir.« »Im Gegenteil«, sagte Schwester Hyacinthe, »wenn du ihm zu der Ausgabe rätst, ja eine noch größere vorschlägst, so wirst du wahrscheinlich bei ihm das Widerstreben zu dieser Geldausgabe feststellen können. Dann muß er sich mit der Wirklichkeit auseinandersetzen, statt dir bloß zu widersprechen. Die Männer sind höchst wunderliche Geschöpfe.« »Ich habe dir ein paar Taschentücher mitgebracht«, sagte Marie. 30
»Ach, das ist aber schön! Marie, in deinen Fingern steckt Genie. Wie halten deine Augen nur diese minutiöse Stickerei aus?« »Meine Augen waren immer gut«, sagte Marie. * Als Madame in die Avenue de Marigny Nummer 1 zurückkehrte, sah sie die Flügeltüren des Salons offenstehen und ihren Gatten mit kleinen blitzenden Instrumenten eifrig an seinem Fernrohr hantieren. »Ich habe es mir überlegt«, sagte sie. »Ich bin zur Ansicht gekommen, Sie sollten die Kamera kaufen.« »He?« machte er. »Nun, es kann möglicherweise Ihre Aufnahme in die Akademie zur Folge haben.« »Das ist lieb von Ihnen«, sagte der Gatte. »Ich habe jedoch ebenfalls überlegt und bin zu der Ansicht gelangt: Immer eins nach dem andern. Ich werde also mit dem, was ich habe, auszukommen suchen.« »Ich flehe Sie an.« »Nein.« »Ich befehle es.« »Meine Liebe, wollen wir doch darüber keinen Irrtum aufkommen lassen, wer hier der Herr im Hause ist. Wollen wir doch hier nicht, wie bei den Amerikanern, die Hennen krähen lassen.« »Ich bitte um Verzeihung«, sagte Marie. »Schon gut, Madame. Nunmehr aber muß ich die Vorbereitungen für die Nacht treffen. Der Meteorregen geht 31
weiter, meine Liebe. Für die Sterne sind unsere Probleme ohne Belang.« Vom oberen Korridor her schallte ein metallisches Krachen. Ängstlich blickte Monsieur Héristal auf. »Ich wußte nicht, daß Clotilde zu Hause ist«, sagte er. »Der kupferne Tisch im Vorplatz«, sagte Madame. »Er springt sie geradezu an. Ich muß ihn woanders hinstellen.« »Bitte, erlaube ihr nicht, auf die Terrasse zu gehen, Marie. Mein Fernrohr könnte sie anspringen«, sagte Monsieur Héristal. Clotilde, das Kleid etwas zu prall über ihre sich entwikkelnden Formen gezogen, kam die Treppe heruntergeschlendert. Ein grimmig dreinschauendes kleines Pelztier, das sich wütend in den Schwanz biß, hing ihr schlaff von den Schultern. »Du gehst aus, liebes Kind?« fragte Madame. »Jawohl, Mama, ich habe einen Test für eine Filmrolle.« »Doch nicht schon wieder!« »Man muß sich den Weisungen des Regisseurs fügen«, sagte Clotilde. Monsieur trat schützend zwischen sein Fernrohr und seine Tochter, als diese durch die Flügeltür schwebte und dabei leicht auf der Schwelle ausglitt. »Du hast also einen Regisseur?« fragte er. »Es geht um die Rollenverteilung für die ›Lumpenprinzessin‹. Da ist nämlich ein Waisenmädchen, das …« »Herauskriegt, daß es eigentlich eine Prinzessin ist. Ein amerikanischer Roman.« »Hast du ihn gelesen?« 32
»Nein, mein Kind, aber ich kann es mir denken.« »Woher weißt du, daß es ein amerikanischer Roman ist?« »Einmal, weil sich die Amerikaner wohl etwas zu übertrieben für Prinzessinnen interessieren, und zum andern, weil sie eine Vorliebe für den Aschenbrödelstoff haben.« »Aschenbrödel?« »Wie wär’s, wenn du es einmal läsest, mein Kind?« »Gregory Peck soll den Prinzen spielen.« »Na, selbstverständlich«, sagte Monsieur. »Wenn es ein französischer Roman wäre, dann würde die Prinzessin herausbekommen, daß … Vorsicht, Kind, bitte komme dem Fernrohr nicht zu nahe. Es ist bereits für die Beobachtung der heutigen Nacht eingestellt.« Als die Tochter im Treppenhaus verschwunden, dann das Hoftor klirrend hinter ihr zugefallen war, sagte Madame: »Es war mir beinahe lieber, als sie noch Romane schrieb. Da war sie häufiger zu Hause. Eigentlich wäre ich froh, wenn sie einen netten Jungen aus guter Familie fände.« »Zuerst muß sie Prinzessin sein«, sagte der Gatte. »Das muß eine jede.« »Sie sollten sich nicht über sie lustig machen.« »Das war wohl doch nicht meine Absicht. Ich kann mich an ähnliche Träume erinnern. Sie wirkten höchst echt.« »Sie sind liebenswürdig, Monsieur.« »Ich bin merkwürdig aufgeregt und glücklich, Marie. Eine ganze Woche lang werde ich von meinen Freunden« – er hob leicht die Finger hoch – »dort oben unterhalten werden.« 33
»Und dabei die ganze Nacht aufbleiben und den ganzen Tag über schlafen.« »Bestimmt«, sagte Monsieur Héristal. * Die Ereignisse des Jahres 19.. in Frankreich sind genauerer Betrachtung wert, und zwar nicht so sehr um ihrer Einzigartigkeit, wie um ihrer Unvermeidlichkeit willen. Das Studium der Geschichte verleiht zwar keine Prophetengabe, verschafft jedoch die Möglichkeit zur Berechnung von Wahrscheinlichkeiten. Der Sturz einer französischen Regierung mangels eines Vertrauensvotums war und ist zu keiner Zeit etwas Neues. Was man in andern Ländern »Instabilität« nennt, ist in Frankreich eine Art der Stabilität. Lord Cotten hat einmal gesagt: »In Frankreich ist die Anarchie bis zum Grade der Reaktion verfeinert« und »Stabilität ist für den Franzosen eine unerträgliche Tyrannei«. Ach, allzu wenig Leute sind vom Gefühl her imstande, Lord Cotten zu begreifen. Über die jüngste Folge von französischen Regierungskrisen sind Millionen Wörter geschrieben worden, die leidenschaftlich für und wider Partei nahmen. Hier nun soll der Vorgang mit dem kühl bewertenden Auge des Historikers nachgezeichnet werden. Als Monsieur Rumorgue sich am 12. Februar 19.. gezwungen sah, über die monegassische Angelegenheit die Vertrauensfrage zu stellen, war er sich zweifellos von vornherein über den Ausgang dieses Schrittes klar. Tatsächlich war man in seiner Umgebung durchwegs der An34
sicht, daß er das Ende seiner Ministerpräsidentschaft nur begrüßen würde. Neben seiner Stellung als nomineller Leiter der Protokommunistischen Partei – die überlieferungsgemäß zwei Grad rechts vom Zentrum steht – ist Monsieur Rumorgue eine Autorität auf dem Gebiete der Psychobotanik. Um den Posten des Ministerpräsidenten überhaupt übernehmen zu können, mußte er mit großem Widerstreben einstweilen die Experimente über die Schmerzempfindlichkeit der Pflanzen aufgeben, die er seit vielen Jahren in seinem Versuchsgarten bei Juan-les-Pins betrieb. Sein in der Akademie für Hortikultur gehaltener und als Sonderdruck erschienener Vortrag, betitelt »Tendenzen und Symptome der Hysterie beim gemeinen Wiesen- oder Rotklee«, ist leider über die Fachkreise kaum hinausgedrungen. Sein hiermit errungener Sieg über seine wissenschaftlichen Kritiker, von denen einige so weit gingen, ihm vorzuwerfen, er sei noch hysterischer als sein Klee, muß die widerstrebenden Gefühle, mit denen er nicht nur die Leitung seiner Partei, sondern die Ministerpräsidentschaft Frankreichs übernahm, verdoppelt haben. Die Zeitung »Frieden durch Krieg«, die zwar sonst zu den Protokommunisten in Opposition stand, hat Monsieur Rumorgue doch wohl richtig zitiert, als sie seinen Ausspruch wiedergab, daß die gemütvolle Behandlung von weißem Klee, trotz all seinen Fehlern, leichter sei als die der gewählten Vertreter des französischen Volkes. Die Frage, über die die Regierung Rumorgue stürzte, war zwar ganz interessant, jedoch von geringem nationalen Belang. Es ist freilich die Überzeugung weiter Kreise, daß ohne die monegassische Frage eine andere Schwierig35
keit an ihre Stelle getreten wäre. Jedenfalls ging Professor Rumorgue mit Ehren daraus hervor und konnte sich fortan wieder in Ruhe seinem neuen Buche über »Ererbte Schizophrenie bei Gemüsen« (eine Ergänzung zum Mendelschen Gesetz) widmen. Wie dem auch sei, Frankreich war wieder einmal ohne Regierung. Man wird sich noch entsinnen, daß die Christlichen Atheisten, als Präsident Sonnet sie mit der Bildung eines Kabinetts beauftragte, sich nicht einmal innerhalb der eigenen Reihen zu einigen vermochten. Auch die Sozialisten versagten ihm die Unterstützung, und die Christlichen Kommunisten brachten trotz Zuzug seitens der Liga der Steuerverweigerer keine Mehrheit zustande. Erst nach dem Fehlschlag dieser Versuche berief der Präsident alle Parteiführer zu der historischen Konferenz ins Élysée. Die daran beteiligten Parteien müssen hier in einem genauen Verzeichnis aufgeführt werden, da einige von ihnen inzwischen verschwunden und von andern ersetzt sind. Die Aufzählung erfolgt hier nicht nach der Macht der einzelnen Gruppen, sondern einfach nach dem topographischen Gesichtspunkt ihrer Einstellung vom Zentrum aus gesehen. Im Élysée-Palast waren also versammelt: die Konservativ-Radikalen die Radikal-Konservativen die Royalisten die Rechts-Zentristen die Links-Zentristen die Christlichen Atheisten die Christlichen Christen 36
die Christlichen Kommunisten die Protokommunisten die Neokommunisten die Sozialisten und die Kommunisten Die Kommunisten ihrerseits zerfielen in: Stalinisten Trotzkisten Chruschtschowniks und Bulganinianer Drei Tage lang wütete der Kampf. Die Parteiführer nächtigten auf den brokatbezogenen Chaiselongues des großen Festsaals und nährten sich von Brot, Käse und algerischem Wein, welche durch den Herrn Präsidenten der Republik bereitgestellt wurden. Es herrschte viel Umtrieb und Lärm. Im Festsaal des Élysée-Palastes sind nicht nur die Wände, sondern auch die Decken mit Spiegeln verkleidet, was den Eindruck hervorrief, daß nicht zweiundvierzig, sondern buchstäblich einige tausend Parteiführer zugegen waren. Jede erhobene Faust wurde zu fünfzig Fäusten, während der Widerhall jedes Lauts von den harten Spiegelwänden ebenso vervielfältigt zurücktönte. Inmitten der Verhandlungen mußte der gestürzte Ministerpräsident und Führer der Protokommunisten die Versammlung verlassen und nach Juan-les-Pins heimfahren, da er von Madame Rumorgue ein Telegramm erhalten hatte des Inhalts, daß die polnisch-chinesische Muttersau, die auf den Namen »Sorgenkind« hörte, geferkelt habe. 37
Nach siebentägiger Sitzung war noch keinerlei Ergebnis erzielt. Präsident Sonnet stellte den Herren Delegierten das Badezimmer des Palastes zur Verfügung, weigerte sich jedoch, die Wäsche zu stellen. Die Pariser Presse begann sich mit der »Sackgasse«, in die man geraten war, zu beschäftigen und deren Ernst hervorzuheben. Das Witzblatt »Alligator« seinerseits schlug vor, die gegenwärtige Situation zum Dauerzustand zu machen, da sich keinerlei nationale Krise ereignet habe, seit die Parteiführer aus dem Verkehr gezogen waren. Große historische Entscheidungen ergeben sich oft aus kleinen, ja lächerlichen Ursachen. Als die zweite Woche bereits vorgeschritten war, merkten die Führer der bedeutenderen Parteien, daß ihre Stimmen, die immer leiser, und ihre Kehlen, die immer heiserer geworden waren, schließlich gänzlich den Dienst versagten. Und da geschah es, daß die Royalistenpartei das Heft in die Hand bekam. Da sie sich überhaupt nicht der Hoffnung hingegeben hatten, in die neue Regierung aufgenommen zu werden, hatten die Royalisten davon abgesehen, Reden zu halten, und damit ihre Stimmbänder geschont. Nach dem Getümmel der mehr als achttägigen Verhandlungen wirkte die Ruhe der Royalisten durch den Kontrast geradezu explosiv. Der Comte de Terrefranque schritt zur Rednertribüne und nahm das Wort trotz einer gerade vom RadikalKonservativen Triflet mit Feuer, jedoch nur mit Flüsterstimme gehaltenen Ansprache. Mit klarer, lauter Stimme dagegen verkündete der Herr Graf, die Royalisten hätten ihre Reihen geschlossen. Er 38
selbst, sagte er, trotz seiner zutiefst verankerten, unwandelbaren Treue zum Hause der Merowinger, auf deren Zeiten sein Adel zurückgehe, habe sich damit einverstanden erklärt, mit den Bourbonen gemeinsame Sache zu machen, nicht etwa aus Mangel an Achtung und Liebe für die eigene große Überlieferung, sondern weil die Merowinger nicht imstande seien, einen Fürsten von klarer und direkter Abstammung zu präsentieren. Er erlaube sich daher, den Duc des Troisfonts vorzustellen, dessen Antrag auf die Unterstützung nicht nur der übrigen royalistischen Parteien, sondern auch des edlen Volkes von Frankreich werde zählen können. Der Duc des Troisfonts, den unter normalen Umständen sein Wolfsrachen – seit vielen Generationen das charakteristische Merkmal seiner Familie – vor dem Auftreten in der Öffentlichkeit bewahrte, erklomm nunmehr die Rednertribüne und brachte es fertig, sich nicht nur vernehmbar, sondern sogar verständlich zu machen. Frankreich, sagte er, stehe am Kreuzweg. Unter der zerlumpten Flagge der Unbehosten und Ungewaschenen, der Unersättlichen und Unzulänglichen, habe Frankreich zusehen müssen, wie es von der ruhmreich führenden Weltmacht zu einer verbitterten, hadernden Macht dritten Ranges herabgesunken sei, zu einem feigen Kleinstaat, der sich in erfolglosen Versuchen erschöpfe, einerseits England und Amerika und andererseits den Kommissaren die Stiefel zu lecken. So erstaunt war der Herr Herzog selbst darüber, daß es ihm gelungen war, all dies vorzubringen, daß er sich hinsetzte und daran erinnert werden mußte, er habe noch 39
nicht zur Sache gesprochen. Worauf er sich denn wieder zu erheben geruhte und die Anregung, nein, den Befehl erteilte, die Monarchie wiederherzustellen, auf daß Frankreich aufsteigen möge gleich dem Phönix aus der Asche der Republik und sein Licht wieder über die Welt leuchten lasse. Seine Schlußworte gingen unter in Tränen, er stürzte danach sofort aus dem Saal und rief den Gardes Républicaines am Palasttor zu: »Ich habe versagt, ich habe versagt!« Doch, wie heute allbekannt, hatte er keineswegs versagt. Die Rede des Herzogs von Troisfonts hatte die Parteiführer so vor den Kopf geschlagen, daß sie danach in eisigem Schweigen verharrten. Nur ganz allmählich wurden wieder Flüsterstimmen vernehmlich, und zwar aus den Grüppchen, zu denen sich die Parteiführer zwecks Meinungsaustauschs zusammengeballt hatten. Es scheint, daß Monsieur Deuxcloches, derzeitiger Führer des kommunistischen Blocks – wiewohl er in der Partei nur die bescheidene Stellung eines mit der Wahrung der kulturellen Belange Beauftragten einnimmt – zuerst die Tragweite des Antrags von Troisfonts erkannt hat. Auf seine Veranlassung verließ die kommunistische Gruppe den Festsaal und trat im Badezimmer des Präsidenten zusammen. Hier ergab sich jedoch eine Protokollschwierigkeit. Es waren zwei Parteibeamte und zwei Sitzgelegenheiten vorhanden. Parteisekretär war nominell Monsieur Douxpied, der Kulturbeauftragte Monsieur Deuxcloches jedoch war der Mann, der die eigentliche Macht ausübte. Es erhob sich also die Streitfrage, ob Toilette oder Bidet die vornehmere Sitzgelegenheit sei und wem diese zukomme. Eine Debatte darüber würde die Versammlung auf unabseh40
bare Zeit beschäftigt haben, wäre nicht Monsieur Gustave Harmonie feurig und tapfer in die Bresche gesprungen. Gewiß, sagte er, die Kommunistische Partei sei die Kommunistische Partei, aber – Frankreich sei Frankreich. Monsieur Deuxcloches strich sich nervös über das Kinn und traf dann die historische Entscheidung, indem er auf dem Bidet Stellung bezog. Im Hinblick auf etwaige spätere Berufungen hob er jedoch hervor, daß die augenscheinliche Abweichung nur ortsbedingt sei. Die deutsche Bruderpartei könne sich möglicherweise, gab er zu bedenken, bewogen fühlen, eine andere Linie einzuschlagen. Stürmischer Beifall gab ihm den Mut, seinen Gedankengang auseinanderzusetzen. Dieser war der folgende: Die natürliche Funktion der Kommunistischen Partei sei, sagte Monsieur Deuxcloches, die Revolution. Jede Veränderung, die der Revolution Vorschub leiste, sei zum Vorteil der Partei. Die französische Politik befinde sich in einem Zustand der Anarchie. Es sei sehr schwer, gegen Anarchie zu revoltieren, da für den dialektisch ungeschulten Verstand der großen Masse Revolution und Anarchie identisch seien. Für die dialektisch Ungebildeten liege kein Sinn darin, eine Anarchie durch die andere zu ersetzen. Andererseits, fuhr er fort, sei Monarchie der natürliche Magnet für Revolution, wie sich historisch belegen lasse. Es sei deshalb von Vorteil für die Kommunisten, wenn die französische Monarchie wiederhergestellt werde. Das sei dann eine Sachlage, von der man sich abschnellen könne wie von einem Sprungbrett, so daß die Revolution dadurch eine Beschleunigung erführe. Hier unterbrach Monsieur Douxpied den Redner mit 41
dem Hinweis darauf, daß die Weltmeinung erstaunt sein würde, wenn sie höre, daß die französische Kommunistische Partei sich für die Rückkehr eines Königs einsetze. Monsieur Deuxcloches gab dem Parteisekretär die Versicherung ab, es würde darüber nichts verlauten. Die französische Partei werde sich an der Wahl nicht beteiligen. Wenn der König erst gekrönt sei, dann sei es Zeit, zu verkünden, daß Frankreich durch ungehaltene Versprechungen und imperialistische Erpressungen in die Irre geführt worden sei. Inzwischen könne aber die auf die Revolution abzielende Arbeit vorangetrieben werden. Nach einigen Sekunden der Überlegung erhob sich Monsieur Douxpied und drückte Monsieur Deuxcloches herzlich die Hand, eine schlichte, sinnbildliche Geste des Einverständnisses. Die übrigen Anwesenden folgten dem Beispiel unverzüglich. Ein einziger Delegierter gab zu bedenken, daß womöglich die Sozialisten bei Stimmenthaltung der Kommunisten sich mit den Christlichen Atheisten und den Protokommunisten zusammentun würden, um die Maßnahme zu Fall zu bringen. »Dann müssen wir eben alles daransetzen, daß sie das nicht tun«, erwiderte Monsieur Deuxcloches. »Wenn die Sozialisten nicht von selbst daran denken, so muß es ihnen eingeflüstert werden, daß ein König die Kommunisten in Schach halten würde.« Die Erklärung wurde beifällig aufgenommen, und die Versammelten begaben sich wieder in den Festsaal. Weitere Besprechungen hatten mittlerweile zwischen andern Parteien stattgefunden. Die Sozialisten, zum Beispiel, bedurften keinerlei Einflüsterung; für sie lag es auf 42
der Hand, daß ein König die Kommunisten in Schach halten werde. Wenn einmal dieser Stein des Anstoßes aus dem Wege sei, dann könnten die Sozialisten sich auf die allmähliche Veränderung Hoffnung machen, der sie das Wort redeten. Die Christlichen Atheisten waren sich einig darüber, daß bei der jetzigen Zersplitterung der Parteien mit dem daraus resultierenden Wirrwarr die von keiner Verwirrung behelligte Kirche sich Übergriffe erlaubte. Andererseits war die Monarchie der natürliche Feind der Streitbaren Kirche; das beste Beispiel für den erfolgreichen Widerstand einer volkstümlichen Monarchie gegen Anmaßungen Roms biete England. Die Christlichen Christen nahmen den Standpunkt ein, daß die Königsfamilie stets unzweideutig katholisch gewesen sei, während die Aristokratie, zumal deren aus dem Ancien Régime stammende Angehörige, soweit sie nicht in Not und Elend vom rechten Wege abgewichen seien, sich wahrscheinlich nicht so verhalten werde, sobald sie einmal ihren Traum erfüllt sähe. Die Linkszentristen stellen eine bedeutende Macht dar, zumal wenn sie sich auf gemeinsamem Boden mit den Rechtszentristen zusammenzufinden vermögen. Denn diese Parteien bilden das, was man früher »Les Cent Familles« nannte, was aber seit dem Zweiten Weltkrieg und der Wirtschaftshilfe der Amerikaner richtiger als »Les Deux Cents Familles« bezeichnet würde. Diese beiden Parteien vertreten nicht nur Bergbau und Industrie, sondern Bank- und Versicherungswesen sowie den Grundbesitz. Der einzige Unterschied zwischen ihnen besteht dar43
in, daß die Linkszentristen für Altersversorgung und Gesundheitsdienst sind, die Rechtszentristen dagegen nicht. Diese zwei Parteien waren fast auf der Stelle einhellig für die Restauration der Monarchie, weil ein König zweifellos sowohl den Sozialisten wie den Kommunisten die Kandare anlegen und dadurch den Forderungen höherer Löhne und kürzerer Arbeitszeit ein Ende bereiten würde. Die Liga der Steuerverweigerer kam zu dem Schluß, daß ein royalistisches Regime die Rechts- und Linkszentristen mit Steuern schröpfen würde, wozu diese ja auch auf der Welt waren. Sie waren sich dabei durchaus bewußt, daß die geplante Monarchie die Aristokratie mit Steuern verschonen würde, aber, so sagten sie sich, das ist eine sehr kleine Gruppe, außerdem größtenteils bankrott, so daß es kaum ins Gewicht fiel, wenn sie mehr oder weniger steuerfrei blieb. So entwickelte sich eine Einheitlichkeit der Zielrichtung zwischen den politischen Parteien, wie sie in der neueren Geschichte einzig dasteht. Jede Gruppe begünstigte die Restauration der Monarchie aus einem andern Grunde, der indessen jeweils für die betreffende Partei vorteilhaft erschien. Der von ihnen eingenommenen Haltung getreu, hüllten sich die Kommunisten in verbissenes Schweigen. Die Diskussion entzündete sich nun in der französischen Presse, die, bei steigender Auflage, ihre eigenen Beweggründe hatte, die Angelegenheit vor der Öffentlichkeit wachzuhalten. Der »Figaro« wies in einem Leitartikel auf der Titelseite nach, daß Frankreichs Würde und Größe besser gedient sei, wenn seine symbolische Figur ein König und nicht ein Damenschneider sei. 44
Die Pariser im allgemeinen begrüßten einen Vorschlag, der Abwechslung verhieß, während der Restaurateur- sowie der Hotelierverband und ebenso die Haute Couture der Ansicht waren, daß, bei der Vorliebe der Amerikaner für Könige und Fürsten, allein der dadurch zu erwartende Aufschwung des Tourismus nebst den damit verbundenen Mehreinnahmen die Veränderung rechtfertige. Was die Bauern angeht, die kleinen wie die großen Landwirte in der Provinz, so sind diese überlieferungsgemäß gegen jede am Ruder befindliche Regierung und daher von vornherein für einen Regierungswechsel, sei er gut oder schlimm. Jedenfalls verlangten die Enthusiasten in der Nationalversammlung die unverzügliche Abstimmung. Die Royalisten in Frankreich oder vielmehr die Royalisten aller Länder, wo das Königtum als Regierungsform abgeschafft ist, haben das Spiel nie verloren gegeben. Es gehört ja auch als integrierender Teil zum Charakter, ja zur sieggewohnten Tapferkeit einer Aristokratie, daß sie die Gewißheit ihrer Wiederkehr und in ihrem Gefolge der goldenen, glücklichen, höfischen Tage nicht fahren läßt. Dann wird wieder Ehre, Treue, Vertrauen einziehen, Pflichteifer, Ehrfurcht vor dem Thron; dann werden Diener und Bauern Schutz und Schirm genießen, nicht hinausgestoßen werden in die räuberische Welt; dann wird jeder Mann gekannt und geschätzt werden nach seiner illustren Vergangenheit und nicht nach seiner aggressiven, profitgierigen Gegenwart; dann wird Seine Allergnädigste Majestät wiederum als wohlwollender Schiedsrichter walten über die Feingebildeten und Hochgeborenen. Mit 45
sanfter Hand wird der König die anständigen Familien lenken und auf den rechten Weg führen, doch jeden strenge tadeln und züchtigen, der den Versuch macht, sich einzudrängen oder die Gesetze zu ändern. Dann werden die Herren wieder galant zu den Damen sein und die Damen liebenswürdig und anmutig mit den Herren verkehren. Wer aber nichts von all dem für wahr hält, der hat keinen Platz in den Reihen der vornehmen Welt. Die Royalisten bildeten etwas wie einen Pfropfen im Blutkreislauf der Republik. Ihre Partei, weder reich an Mitgliederzahl noch an Mitteln und auch nicht an Stimmmitteln, hielt zusammen wie Pech und Schwefel und war von einem leidenschaftlichen Opferwillen beseelt. Alle Schwierigkeiten zwischen ihren Angehörigen waren gesellschaftlicher Natur, waren verknüpft mit uralten Prestigefragen oder dem Schutze einer dauernd gefährdeten Kavaliersehre. Während sich die Nationalversammlung mit ständig zunehmender Begeisterung und Zustimmung der Debatte über die Wiedereinführung der Monarchie hingab, versammelten sich die Royalisten in einem Saal, der früher den Tschechischen Turn- und Gesangverein beherbergt hatte, jedoch nach der Sowjetisierung der Tschechoslowakei freigegeben worden war. Irgendwelche Schwierigkeiten konnten von niemand vorausgesehen werden. Der bourbonische Thronprätendent war jederzeit greifbar, war unbestreitbar und für sein hohes Amt vorgebildet. Zum Glück war er nicht zu der Versammlung gebeten worden. Bei dieser waren vertreten: 46
Vercingetorix die Merowinger die Karolinger die Kapetinger das Haus Burgund das Haus Orléans das Haus Bourbon ferner: Bonapartisten sowie noch zwei ganz kleine Gruppen: Angevinianer (von denen es hieß, daß sie von den Engländern unterstützt würden) und Cäsarianer (die sich der Herkunft von Julius Cäsar rühmten und mit Stolz den Schrägbalken der Bastarde im Wappen führten). Die Bourbonen schritten einher gleich Imperatoren und setzten ein feines Bourbonenlächeln auf, wenn die Gesundheit des Königs ausgebracht wurde. Doch als sie den Namen ihres Thronprätendenten, des Grafen von Paris, verkündeten, brach ein Höllenspektakel los. Mit wilden Blicken sprangen die Bonapartisten auf, der Comte de Jour, dessen Urgroßvater den Marschallstab im Tornister getragen hatte, schrie: »Ein Bourbon? Wozu ein Bourbon? Ist das geheiligte Blut des großen Napoleon denn versickert? Und im Verein mit Orléans? Meine Herren, sollen wir im Schatten der Bourbonen und Orléans’ leben, jener beiden Häuser, die am meisten zum Sturz des französischen Königtums beigetragen haben? Sollen wir …« »Non!« kreischten die Parteigänger der Anjous, aber mit 47
so schwachem Nasallaut, daß es wie ein englisches »No« klang. »Lieber die Merowinger, dann noch lieber die Rois Fainéants!« zeterten die Kapetinger. Einen Tag und eine Nacht lang wütete der Kampf, in dessen Verlauf edle Herzen hochauf schlugen und vornehme Stimmen heiser wurden. Nur die Merowinger-Fraktion saß bequem, ruhig, teilnahmslos, zufrieden und schlapp da. Der Morgen des zweiten Tages war schon ziemlich vorgeschritten, als die allgemeine Erschöpfung die unbestreitbare Tatsache hervortreten ließ, daß die Royalisten sich ebensowenig auf einen König zu einigen vermochten, wie die Republikaner imstande waren, eine Regierung zu bilden. In der Nacht hatten sie eine Ladung Degen kommen lassen und den Ehrenkodex durch Akklamation geändert. Kaum einer der edlen Herren war ohne Schramme oder Schmiß, was dartat, daß seine Ehre intakt sei. Nur die faulen Merowinger waren unzerzaust und unzerkratzt. Am 21. Februar 19.., 10 Uhr 37 vormittags, erhob sich der betagte Childéric de Saône schwerfällig und langsam und sagte mit seiner verstaubten Merowingerstimme – die jedoch eine der wenigen überhaupt noch vorhandenen Stimmen war: »Hochedle Freunde«, hub er an, »wie ihr wisset, gehöre ich einer Dynastie an, welche euer Vorhandensein mitnichten anerkennt.« Ein Bourbone tat einen müden Griff nach dem Schirmständer, in dem die Degen waren, doch Childéric hob die Hand, um ihm Einhalt zu gebieten. 48
»Unterlasset dies, lieber Marquis«, sagte er. »Meine Könige sind, so wird berichtet, infolge Trägheit dahingeschwunden. Wir Merowinger tragen keinen Wunsch nach der Krone. Wir sind daher in der Lage, Schiedsspruch wie Rat zu erteilen.« Er lächelte flüchtig. »Uns will es scheinen, als hätten die Jahre der Republik ihre Spuren bei den hier Versammelten hinterlassen. Sie, meine edlen Herren, haben sich mit der ganzen Torheit der erwählten Vertreter eines wenn möglich noch minder begabten Pöbels benommen, jedoch ohne deren Ausdauer. Ich bin froh, daß diese Versammlung unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattgefunden hat, und niemand uns beobachten konnte.« Schuldbewußtes Schweigen legte sich über die Versammlung. Die adligen Herren ließen beschämt die Häupter hängen, indes Childéric fortfuhr: »Zur Zeit meiner Vorfahren wurden derlei Erbfolgeangelegenheiten auf vornehmere Weise erledigt: durch Gift, Dolch oder die geschickten und barmherzigen Fäuste eines Würgers. Wir sind auf den Stimmzettel heruntergekommen. Wohl denn, lasset uns davon Gebrauch machen, wie es adligen Menschen geziemt.« Er hielt inne, schraubte den Griff seines Spazierstocks ab und trank einen Schluck von dem Cognac, den der Stock statt der ehemaligen Degenklinge enthielt. Dann fuhr er fort, indem er höflich fragte: »Wünscht jemand das Wort zu ergreifen? … Nun, sehr schön, so werde ich fortfahren. Es scheint klar zu sein, daß Bourbon, Orléans, Burgund, ja sogar das junge Haus Capet nur mittels der alten Methode der Dezimierung zu regieren vermögen. Ich schlage darum vor, daß wir weiter 49
zurückgehen. Was Anjou angeht …« Er spreizte den Zeige- und Mittelfinger zum Churchillschen V-Zeichen, hielt sie jedoch nicht aufwärts, sondern vorwärts, was der Gebärde einen andern Sinn gibt. Burgund sprang auf und schrie etwas, was jedoch aus seiner überreizten Kehle nur als ein krächzendes »Ih-ih?« herauskam und vermutlich als fragendes »Wie? Sie?« gemeint war. Denn Childéric entgegnete: »Nein; ich begnüge mich damit, zu leben, wie meine letzten Könige lebten, und die Frage zu lösen, wie sie sie lösten. Für den Thron Frankreichs schlage ich das heilige Blut Karls des Großen vor.« Da donnerte Bourbon flüsternd: »Sind Sie wahnsinnig? Das Haus ist doch ausgestorben!« »O nein«, erwiderte Childéric gelassen. »Sie werden sich entsinnen, edle Herren, wiewohl damals Ihre Ahnen noch die Schafe hüteten, daß Pippin II. von Héristal, unter Nichtachtung des salischen Brauchs der Teilung, sein gesamtes Reich seinem Sohn Karl, später zubenannt Martell, der Hammer, übergeben hat.« »Nun und …?« rief Bourbon heiser. »Es besteht keinerlei Nachkommenschaft mehr.« »Nein, von Karl Martell nicht. Aber ich bitte Sie zu bedenken, daß Karl unehelich war. Dies hat Ihnen vielleicht die Erinnerung daran getrübt, daß Pippin II. zwei eheliche Söhne hatte, die er de jure überging; aber konnte er das, hatte er die Macht dazu, dies in esse oder de facto zu tun? Hier in Paris lebt heutigen Tages Pippin Arnulf Héristal, ein liebenswürdiger Mann, Amateur-Astronom, und ein Onkel von ihm, Charles Martel, hat eine kleine Kunstgale50
rie in der Rue de Seine. Da er der legitimen Linie entstammt, führt er wohl den Namen Martel zu Unrecht.« »Können die Leute das beweisen?« »Jawohl, das können sie«, versicherte Childéric freundlich. »Pippin ist ein alter Freund von mir. Ein tüchtiger Mann. Sorgt für den Ausgleich meines Bankkontos. Ich nenne ihn meinen Hausmeier … was ein schwacher Scherz ist, über den wir jedoch gern lachen. Pippin lebt von den Erträgnissen zweier Weinberge, den letzten Überbleibseln des einst unermeßlichen Landbesitzes Pippins und Arnulfs. Ich habe die Ehre, zu beantragen, daß wir uns auf Seine Allergnädigste Majestät Pippin von Héristal aus dem Hause Karls des Großen einigen.« Der Würfel war damit gefallen, obschon das Geflüster noch weiterging, bis schließlich am späten Abend sich bei den abgespannten Teilnehmern die Überzeugung durchsetzte, daß auf andere Weise keine Einigung zu erzielen sei. Schließlich kam der gemeinsame Beschluß unter Dach und Fach. Man versuchte sogar ein Hoch … ein Hoch auf den König. Man brachte es tatsächlich fertig, einen Trinkspruch auf die Gesundheit Pippins auszubringen, dessen Namen und Herkunft alsbald der Nationalversammlung unterbreitet wurden, welch letztere erleichtert in Begeisterung ausbrach; denn es war den gewitzteren unter den Vertretern des französischen Volkes inzwischen eingefallen, daß 1789 eigentlich noch gar nicht so lange her sei. Aber wer konnte Haß aufbringen gegen einen Héristal oder gar gegen Karl den Großen? * 51
Unter normalen Umständen pflegte sich Monsieur Héristal über die Tätigkeit und die Maßnahmen der Regierung auf dem laufenden zu halten. Die zwiefache Aufregung jedoch über den Meteorregen und die neue Kamera mit ihrer fabelhaft verzwickten Technik hielten ihn zur Nacht auf der Dachterrasse und am Morgen im Dunkelraum des Weinkellers fest, aus dem er, erschöpft, doch glücklich, wieder zum Vorschein kam, um sich für die Anstrengungen des nächsten Abends zu stärken. So war Monsieur Héristal einer der sehr wenigen Menschen in Frankreich, ja wohl in der Welt, zu denen nicht die Kunde drang, daß die Republik durch Abstimmung aus der Welt geschafft und die Wiederherstellung der Monarchie verkündet worden war. Infolgedessen hatte er auch keine Ahnung davon, daß er selbst durch Akklamation zum König von Frankreich gewählt worden war, der, da der Anno Domini 768 verstorbene Pippin der Kurze, der Sohn Karl Martells, als Pippin III. betrachtet wurde, den Namen Pippin IV. führen sollte. Als das triumphierende Komitee sich um neun Uhr vormittags im Hause Avenue de Marigny Nummer 1 einstellte, um dem Gewählten offiziell den Willensentscheid des französischen Volkes bekanntzugeben, saß Monsieur Héristal in weinrotem Schlafrock in seinem Arbeitszimmer und trank eine Tasse (aus Amerika importierten) koffeinfreien Kaffee, nach dessen Genuß er zu Bett zu gehen gedachte. Höflich hörte er den Sprecher des Komitees an, nahm seinen Kneifer ab und rieb sich die geröteten Augen. Zunächst war er, soweit seine Müdigkeit es zuließ, belustigt. 52
Doch als er merkte, daß der Antrag ernst gemeint sei, war er tief erschrocken. Er befestigte seinen Kneifer rittlings auf dem Zeigefinger, wo er wie auf einem Sattel saß, und sagte: »Meine Herren, Sie machen einen Scherz, und, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten wollen, einen nicht sehr geschmackvollen Scherz.« Seine Ungläubigkeit fachte die Heftigkeit des Komitees an, dessen Mitglieder wieder im Vollbesitz ihrer Stimmen waren und diese entsprechend erschallen ließen. Um Frankreichs Sicherheit und Zukunft willen forderten sie unverzügliche Annahme des Thrones. Während der Tumult noch um ihn tobte, lehnte sich Pippin in seinen Sessel zurück und legte seine blaugeäderte Hand über die Stirn, wie um sich vor der unwirklichen Szene zu verschließen. Und er sagte: »Man bildet sich manchmal die merkwürdigsten Dinge ein, zumal wenn man ermüdet ist. Ich hoffe, meine Herren, daß Sie, wenn ich meine Augen wieder auftue, nicht mehr hier sind. Ich nehme dann etwas für meine Leber.« »Aber Eure Majestät …« Pippin riß die Augen auf. »Aha, jaja«, sagte er. »Diese Anrede ›Eure Majestät‹ macht mich mißtrauisch. Ich muß wohl annehmen, daß Sie, meine Herren, nicht im Begriff sind, Schabernack mit mir zu treiben – nein, so sehen Sie nicht aus –, aber wenn Sie nicht irrsinnig sind, von welcher Seite sind Sie zu diesem lächerlichen Antrag bevollmächtigt?« Nicht ohne rhetorischen Beiklang in der Stimme ergriff darauf Monsieur Flosse von den Rechtszentristen das Wort: »Frankreich sieht sich in die Unmöglichkeit versetzt, eine Regierung zu bilden, Sire. Seit einer Reihe von Jahren 53
sind alle Regierungen gestürzt worden, sobald sie sich über eine Politik geeinigt hatten.« »Ich weiß«, sagte Pippin. »Vielleicht haben wir Angst vor der Politik.« »Frankreich bedarf«, fuhr Monsieur Flosse fort, »eines Faktors der Kontinuität, der hoch und sicher über den Parteien und Fraktionen schwebt. Sehen Sie England an! In England mögen die Parteien abwechseln, doch durch die Monarchie bleibt die Einheitlichkeit der Richtung gewahrt. Auch Frankreich besaß dies einmal. Frankreich büßte es ein. Doch wir sind der Überzeugung, Majestät, daß es wiederhergestellt werden kann.« Leise entgegnete Pippin: »Englands Monarchen legen Grundsteine und nehmen unzweideutig Stellung zu Problemen wie dem, was für eine Kopfbedeckung auf dieser oder jener Rennbahn getragen werden muß. Haben Sie jedoch bedacht, meine Freunde, daß die Engländer ihre Regierung lieben und den größten Teil ihrer Zeit mit deren Verherrlichung verbringen, während die Franzosen von vorneherein jede am Ruder befindliche Regierung verabscheuen? Ich bin der gleichen Überzeugung. Das ist eben die französische Art, eine Regierung zu betrachten. Haben Sie denn auch schon die Schwierigkeiten bedacht, die mit Ihrem Vorhaben verbunden sind? Frankreich ist immerhin seit geraumer Zeit Republik. Seine Institutionen sind republikanisch, sein Denken ist republikanisch. Ich werde jetzt wohl zu Bett gehen. Sie haben mir noch immer nicht mitgeteilt, von wem diese Deputation ausgeht.« Da rief Monsieur Flosse aus: 54
»Der Senat und die Nationalversammlung Frankreichs warten nur auf Eurer Majestät allergnädigste Zusage. Wir sind von den Vertretern des französischen Volkes abgeordnet.« »Werden die Kommunisten für die Monarchie stimmen?« fragte Héristal freundlich. »Sie werden keinen Widerspruch erheben. Dazu haben sie sich verpflichtet.« »Und wie steht’s mit dem französischen Volk? Mir ist, als erinnere ich mich, daß dieses Volk mit Mistgabeln nach Paris hineinstürmte und daß gewisse Mitglieder des königlichen Hauses – zum Glück keine Anverwandten meinerseits – nicht mit dem Leben davonkamen.« Es erhob sich nunmehr der sozialistische Senator Veauvache. Es ist dies derselbe Veauvache, dessen Verhalten im Jahre 1948 im ganzen Lande großes Aufsehen erregte, als er eine Bestechungssumme zurückwies. Daher stammt sein Beiname »Honnête Jean«, ein Ehrentitel, den er in schlichter Bescheidenheit bis auf den heutigen Tag getragen hat. Dieser gab folgende Erklärung ab: »Angestellte Stichproben lassen den Schluß zu, daß das französische Volk wie ein Mann hinter Eurer Majestät steht.« »Bei wem wurden diese Stichproben gemacht?« fragte Pippin. »Das gehört nicht hierher«, sagte Honnête Jean. »Kein Mensch in Amerika, wo diese Sondierung der öffentlichen Meinung daheim ist, stellt eine solch beleidigende Frage.« »Verzeihen Sie«, sagte Pippin. »Es kam wohl daher, daß ich abgespannt, schläfrig und ein bißchen wirr im Kopfe bin. Ich bin nicht mehr der Jüngste …« 55
»Pff … aber … aber …«, meinte Monsieur Flosse schmeichlerisch. »Und zudem hatte ich viel zu tun mit …« Er machte eine Gebärde nach oben. »Madame stört mich nie, wenn ich stark beschäftigt bin. Sie sehen, meine Herren, Sie haben mich vollkommen überrumpelt.« »Sie müssen in Reims gekrönt werden«, schrie Monsieur Flosse, dem die Augen überliefen vor Bewegung. »Wir müssen die alten Bräuche befolgen. Frankreich bedarf Ihrer, Sire. Wollen Sie Ihrem Vaterlande die Festigkeit Ihres großen Geschlechts verweigern?« »Wie bitte? Meines Geschlechts?« »Stammen Sie nicht in direkter Linie von Pippin dem Zweiten ab?« »Ach so! Das ist des Pudels Kern! Aber es sind seitdem so viele andere Fürstenhäuser dagewesen …« »Sie verleugnen doch nicht Ihre Abstammung?« »Wie könnte ich das? Meines Erachtens ist das aktenmäßig belegt.« »Wollen Sie uns hindern, Sire?« »Törichte Frage«, sagte Pippin. »Wie kann ich eine Republik an etwas hindern, was sie sich in den Kopf setzt, und sei es ihre Selbstaufhebung?« »Frankreich braucht …« »Und ich brauche Schlaf, meine Herren. Bitte verlassen Sie mich jetzt. Wenn ich in einigen Stunden aufwache, hoffe ich, daß Sie nichts als Traumgestalten gewesen sind.« *
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Während nun Monsieur Héristal sich dem hingab, was die Presse späterhin das »historische Nickerchen« nannte, zogen die Studenten von der Sorbonne aus unter den Rufen »Vive le Roi!« und »Saint Denis pour la France!« über die Champs-Élysées und danach zum Eiffelturm. Dort kletterten ihrer vier auf die höchste Spitze und hißten eine uralte Königsstandarte, die sieghaft zwischen den Windmessern flatterte. Die Straßen wimmelten von tanzenden und singenden Bürgern. Aus den Lagerhäusern der Weinhändlergenossenschaft seineaufwärts wurden Fässer in die Innenstadt gerollt und an den Straßenecken angestochen. Die Beherrscher der Haute Couture eilten zu ihren Reißbrettern. Binnen einer Stunde bereits zeigte Schiaparelli ein neues Parfüm an mit Namen: »Rêve Royal.« Die Rotationspressen von »L’Espèce«, »Cormoran«, »Paris-Minuit«, »L’Ere« und »Monde-Dieu« spien Extrablätter aus, die den Camelots aus den Händen gerissen wurden. Wie auf Zauberschlag erschien in den Schaufenstern allenthalben die Königsstandarte Karls des Großen. Der von seiner Regierung entsprechend instruierte amerikanische Botschafter suchte vergebens nach einer Stelle, wo er seine Glückwünsche anbringen konnte. Die Woge der Begeisterung überschwemmte Paris und von hier aus in konzentrischen Ringen die Provinz, wo alsbald ebenfalls Flaggen gehißt und Freudenfeuer angezündet wurden. Während sich all dies begab, schlief der König den 57
Schlaf des Gerechten. Madame jedoch ging allstündlich zum Zeitungskiosk, erstand dort die neuesten Ausgaben und schichtete sie fein säuberlich auf dem Schreibtisch des Gatten zur Einsicht auf. Pippin hätte wohl die ganze Nacht hindurch geschlafen, wenn nicht gar tief in den nächsten Tag hinein, wären die im Weichbild von Paris aufgestellten Flakbatterien nicht um halb drei morgens dazu übergegangen, Salut zu schießen. (Durch niederfallende Geschosse wurden fünf Bürger getötet und zweiunddreißig verwundet, welch letztere von ihren Spitalbetten aus begeistert königstreue Erklärungen abgaben.) Das Geschützfeuer weckte Pippin. Sein erster Gedanke war: Clotilde muß nach Hause gekommen sein; worüber ist sie jetzt wieder gestolpert? Eine zweite Salve jedoch ließ ihn aus seiner liegenden Stellung hochfahren, wobei er, mit der linken Hand um sich schlagend, nach dem Schalter der Leselampe suchte. Gleichzeitig rief er: »Marie! Mar-ie-ie! Was ist denn los?« Madame öffnete die Tür und trat ein, in beiden Armen eine Ladung Zeitungsblätter tragend. »Der Königssalut«, sagte sie. »Laut ›L’Espèce‹ besteht er aus hundertundein Schüssen.« »Mon dieu!« sagte Pippin. »Ich dachte, es sei Clotilde.« Er sah auf die Uhr und schrie dann aus vollem Halse, um die Kanonen zu überbrüllen: »Es ist fünfzehn Minuten vor drei. Wo ist Clotilde?« Worauf Madame ebenfalls laut, doch kühl erwiderte: »Die Prinzessin führt hoch zu Roller ihre getreuen Un58
tertanen nach Versailles, wo sie die Wasserkünste in Betrieb zu setzen vorhat.« »Es war also kein Traum«, sagte Pippin. »Wenn der Minister der Öffentlichen Arbeiten davon Wind bekommt, dann wird wohl eher die Guillotine in Betrieb gesetzt. Marie, diese Leute scheinen den Unsinn ernst zu nehmen. Ich will einmal mit Onkel Charlie sprechen.« * Bei Tagesanbruch standen sich der König und sein Oheim in der Galerie der Rue de Seine Auge in Auge gegenüber. Pippin hatte an die Läden von Charles Martels Etablissement getrommelt, bis der Herr, angetan mit einem langen Nachtgewand und den Kopf bedeckt von einem Fez, verschlafen und schlecht gelaunt zu dem Störenfried hinausgespäht hatte. Nach längerem Brummen unter gleichzeitiger Bereitung seiner Morgenschokolade hatte Onkel Charlie seine Hosen angezogen, sich auf seinem verstaubten Maroquinsessel niedergelassen und sich auf die kommenden Dinge durch genaue Einstellung der grünbeschirmten Leselampe und Säuberung seiner Brillengläser vorbereitet. »Du mußt lernen, Ruhe zu bewahren, Pippin«, sagte er. »Seit Jahren empfehle ich dir dies. Als du damals mit deinem … Kometen hereingeplatzt kamst, sagte ich dir schon, daß die Sterne es abwarten könnten, bis man eine Tasse Schokolade zu sich genommen hat. Als Clotilde die kleine Unannehmlichkeit mit der Polizei hatte wegen des ungehörigen Gebrauchs von Feuerwaffen an der Schießbude, 59
empfahl ich da nicht gleichfalls Ruhe? Und wie du dich entsinnst, es ging alles gut aus. Du hast dem Karussellbesitzer die paar zu Bruch gegangenen Bogenlampen bezahlt, und Clotilde verkaufte ihre Lebensgeschichte an ein amerikanisches Magazin. Ruhe, Pippin! Ich empfehle Ruhe!« »Aber man ist wahnsinnig geworden, Onkel Charlie.« »Nein, mein Junge; gib diese Theorie auf. Die Franzosen werden nur wahnsinnig, wenn sie sich einen Vorteil davon versprechen. Du sagst, die Deputation war aus Vertretern aller Parteien zusammengesetzt, und du sagst ferner, sie hätte von der künftigen Wohlfahrt Frankreichs gesprochen.« »Sie sagte, Frankreich müsse eine stabile Regierung bekommen.« »Hm-hm-hm«, machte Onkel Charlie. »Mir schien immer, das sei das Allerletzte, was sie wünschten. Möglich ist immerhin, Pippin, daß sich die Parteien auf eine bestimmte Linie geeinigt haben, jedoch aus verschiedenen Gründen. Jaja, so muß es wohl sein, und dich, mein armer Junge, haben sie ausgewählt zur Rolle des Prügelknaben.« »Was soll ich denn da tun, Onkel Charlie? Wie … wie kann ich mich dieser Rolle entziehen?« Onkel Charlie klopfte mit der Brille auf sein Knie, nieste, goß sich aus dem Kochtopf auf dem Gaskocher neben ihm eine frische Tasse Schokolade ein und wiegte bedächtig den Kopf hin und her. Schließlich sagte er: »Im Augenblick sehe ich dazu keine andere Möglichkeit, als daß du dich mit Würde in ein heißes Bad zurückziehst und dir dort die Pulsadern aufschneidest.« »Ich will nicht König werden!« 60
»Wenn du nichts übrig hast für Selbstmord, mein lieber Junge, dann kannst du dich mit der Gewißheit zufriedengeben, daß in nächster Zeit Attentate auf dich unternommen werden, von denen eines möglicherweise von Erfolg begleitet ist.« »Kann ich nicht einfach nein sagen, Onkel Charlie? Nein, nein, nein und noch einmal nein! Warum denn nicht?« Onkel Charlie seufzte, dann sagte er: »Im Augenblick kann ich dir nur zwei Gründe angeben. Später werden mir schon noch mehr einfallen. Also erstens wird dir gesagt werden, daß Frankreich dich braucht. Kein Mensch vermochte bisher, weder hierzulande noch sonstwo, einer derartigen Andeutung zu widerstehen. Mag ein Mensch alt, krank, blöde, müde, schnöde oder weise sein, ja mag er eine Gefahr für die Zukunft seines Vaterlandes bedeuten – wenn man ihm sagt, das Vaterland brauche ihn, gerade ihn, dann wird er dem Ruf nachkommen, und wenn er auf einer Bahre zur Tribüne geschleppt werden und gleich nach der Eidesleistung die Letzte Ölung empfangen muß. Nein, ich sehe kein Entrinnen für dich. Wenn man dir mitteilt, Frankreich brauche dich, dann bist du verloren. Dann kannst du nur beten, daß Frankreich nicht ebenfalls verloren ist.« »Aber vielleicht …« »Siehst du«, fiel ihm Onkel Charlie ins Wort, »du bist bereits gefangen. Die zweite Macht wirkt zwar verborgener und feiner, aber sie ist nicht weniger stark. Es ist das die überwältigende numerische Stärke der Aristokratie. Ich werde dir das näher erläutern. Die Aristokratie gedeiht 61
und vermehrt sich höchst üppig unter demokratischem oder republikanischem Regime. Während in Königreichen die Aristokratie in Schranken und unter Aufsicht gehalten, ja sogar aus diesem oder jenem Grund ausgeschaltet wird, vermehrt sich der Adel in republikanischem Klima wie die Kaninchen, während gleichzeitig die niederen Schichten geradezu steril zu werden scheinen. Den besten Beweis dafür bietet Amerika, wo es keinen einzigen Menschen gibt, der seine Abstammung nicht auf einen Aristokraten zurückführt, und wo es auch keinen einzigen Indianer gibt, der nicht Häuptling ist. In kaum geringerem Grade hat im republikanischen Frankreich die Aristokratie eine geradezu unglaubliche Fruchtbarkeit bewiesen. Die Aristokraten werden sich auf dich stürzen wie die Spatzen auf einen frischen … Nein, ich führe den Vergleich nicht zu Ende. Sie werden Privilegien verlangen, wie sie seit Karl dem Kahlen nicht mehr da waren, und vor allem, mein guter Junge, sie werden Geld verlangen.« »Also, was soll ich denn tun?« fragte Pippin wieder kläglich. »Onkel Charlie, hätte es damit nicht noch ein, zwei Generationen Zeit gehabt? Gibt es keinen Seitenzweig unserer Familie, in dem vielleicht …« »Nein, so etwas gibt es nicht«, sagte Charles bestimmt. »Und selbst wenn, dann würde die Summierung von Grund Nummer eins plus Madame plus Clotilde für dich erdrückend sein und dich besiegen. Es kommt noch etwas anderes hinzu: Selbst wenn alle Franzosen sich deiner Thronbesteigung widersetzen würden, so würden sämtliche Französinnen dich dazu zwingen. Zu lange haben sie mit sehnsüchtigen Blicken über den Kanal geschaut, die 62
Engländer wegen ihrer altmodischen Königsverehrung bespöttelt und … beneidet. Pippin, mein armer Junge, du bist zum Untergang verurteilt. Du bist der königliche Prügelknabe. Ich kann dir nur vorschlagen, daß du die ganze Situation nach Möglichkeiten zu Freude und Genuß durchforschest. Und nun entschuldigst du mich wohl. Ich erwarte einen Kunden mit drei unsignierten Renoirs.« »Nun«, meinte Pippin resigniert, »ich habe jedenfalls kein Gefühl der Verlassenheit, da ich weiß, daß auch du deine Titel wieder annehmen mußt.« »Sacré nom d’un nom!« rief Onkel Charles aus, »daran hatte ich gar nicht gedacht!« Betäubt, verstört ging Pippin fort. Blindlings wanderte er am linken Ufer flußaufwärts, an Notre-Dame vorbei, an Lagerhäusern, Weinlagern, Fabrikgebäuden vorbei, dann über eine Brücke, bis er schließlich nach Bercy kam. Während dieser langen, langsamen Wanderung muß sein Geist wohl in seinem Hirn herumgerast sein wie eine Ratte in einem Laboratoriumskäfig, muß er alles abgesucht haben, jedes Gänglein und Löchlein geprüft haben nach einem Fluchtweg, um aber immer wieder nur gegen das Drahtnetz der Tatsachen zu rennen. Oder besser gegen das Drahtnetz der einen unumstößlichen Tatsache: daß er König war und es kein Entrinnen gab. In Bercy stolperte er müde in ein Café, setzte sich an ein Marmortischchen, sah, ohne etwas zu erfassen, einer aufregenden Dominopartie zu und bestellte, obschon es noch nicht auf Mittag ging, einen Pernod. Er trank ihn schnell und bestellte so rasch danach einen zweiten, daß die Do63
minospieler ihn für einen ausländischen Touristen hielten und sich mit ihren Äußerungen Vorsicht auferlegten. Nach seinem dritten Pernod hörte man Pippin sagen: »Also gut; also gut denn!« Er goß das Glas hinunter, bestellte durch einen Wink ein viertes, und als dieses gebracht worden war, redete er das Glas an. »Ihr wollt also einen König, meine Freunde?« sagte er. »Habt ihr auch die Gefahr bedacht? Wißt ihr, was ihr möglicherweise damit heraufbeschwört?« Dann wandte er sich den Dominospielern zu und fragte: »Wollen Sie mir die Ehre geben, mit mir einen Trinkspruch auszubringen?« Mürrisch verstanden die beiden sich dazu. Für einen Amerikaner, dachten sie, spricht er ausgezeichnet Französisch. Als die beiden ihre Gläser bekommen hatten, hob Pippin das seine und sagte: »Man will einen König! Ich trinke auf den König! Lang lebe der König!« Worauf er das Glas in einem Zug austrank. »Sehr wohl, meine Freunde«, hub er dann wieder an, »es ist immerhin möglich, daß sie einen König bekommen … was sie überhaupt nicht wollen. Jaja, auf einmal merken sie dann, daß sie einen König auf dem Hals haben.« Damit stand er auf und ging zur Tür. Es wurde bemerkt, daß sein Schritt langsam und königlich war.
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2. Kapitel Gar so einfach, wie man sich das vielleicht vorstellt, ist es nicht, eine Monarchie wieder ins Leben zu rufen. Zunächst kommt es darauf an, was für eine Art von Monarchie man dabei im Auge hat. Pippin neigte sehr stark zur konstitutionellen Form, nicht nur, weil er ein liberal gesinnter Mann war, sondern weil er einsah, daß Absolutismus mit viel Arbeit und Verantwortung verbunden ist. Er gestand sich selbst, daß er zu faul war, sich mit allen Kräften um Erfolg zu mühen, und zu feige, um jedweden Tadel für Mißgriffe auf sich zu nehmen. Die zur Festsetzung einer Tagesordnung einberufene Versammlung konstituierte sich, auf Pippins Verlangen, als beratende Körperschaft. Nach kurzer Zeit warf der König eine knifflige, die Gemüter verwirrende Frage in die Debatte: Was werde die amerikanische Regierung von dem Wechsel halten, und würde das Staatsdepartement gutheißen, die Finanzhilfe in gleicher Höhe, wie sie der Republik Frankreich gewährt worden war, auch dem Königreich Frankreich zu gewähren? Monsieur Flosse, der sowohl die Rechts- wie die Linkszentristen vertrat, war in der Lage, allen derartigen Ungewißheiten ein Ende zu bereiten, indem er sagte: »Es ist ein Charakteristikum der amerikanischen Au65
ßenpolitik, liberalen Regierungen zu mißtrauen und autoritäre Regimes besonders zu begünstigen, da sie diese als stärker verantwortlich erachtet.« Zum Beweis für diese amerikanische Eigentümlichkeit nannte er als Beispiele: Venezuela, Portugal, Saudi-Arabien, Transjordanien, Ägypten, Spanien und Monaco. Er ging sogar noch weiter, indem er nachwies, daß die Volksrepubliken UdSSR, Polen, Tschechoslowakei, Bulgarien, China und Nordkorea in früherer Zeit ebenfalls eine stärkere Vorliebe für Diktaturen und absolute Monarchien als für demokratisch gewählte Regierungen gezeigt hätten. Es sei keineswegs notwendig, auf die Gründe dieser Vorliebe näher einzugehen, meinte Monsieur Flosse, ja das könne möglicherweise peinliche Folgen haben. Daß diese Vorliebe historische Tatsache sei, müsse und könne genügen. Im Falle Amerikas bestehe zudem eine gefühlsmäßige Bindung an den französischen Thron, sagte er und fuhr wörtlich fort: »Wer kam den amerikanischen Kolonien mit Menschen, Moneten und Material zu Hilfe, als sie in ihrem Kampf um die Unabhängigkeit völlig allein standen? Eine Republik? Nein, das königliche Frankreich. Wer fuhr übers Weltmeer hinüber, um sich in die Armee Amerikas einzureihen? Leute aus dem Volk? Nein, Aristokraten!« Monsieur Flosse beantragte darauf, die erste offizielle Handlung des Königs solle darin bestehen, Amerika um finanzielle Unterstützung seiner Regierung zu ersuchen, um Frankreich gegen den Kommunismus zu festigen, gleichzeitig aber auch die kommunistischen Staaten im 66
Interesse des Weltfriedens um Finanzhilfe in derselben Höhe anzugehen. Die begeisterte Zusage sowohl der Vereinigten Staaten wie der Union der Sowjetrepubliken darf als hinreichender Beweis dafür erachtet werden, daß Monsieur Flosse die Sachlage richtig beurteilt hatte. Es ist in die Geschichte eingegangen, daß nicht nur der amerikanische Kongreß Frankreich einen größeren Vorschuß gewährte, als es verlangt hatte, sondern daß auch der Lafayette-Fonds, der einer Sammlung bei den Schulkindern Amerikas entstammte, die ersten Schritte zur Renovierung der Königsgemächer im Schloß zu Versailles ermöglichte. Nach dem ersten Begeisterungsausbruch machte sich eine gewisse Besorgnis geltend, vornehmlich bei den staatlichen Angestellten: den Briefträgern, den Myriaden von kleinen Beamten, den Hütern und Hüterinnen der öffentlichen Bedürfnisanstalten, bei den Aufsehern der Nationalheiligtümer und -denkmäler, bei den Zoll- und andern Inspektoren sowie den Inspektoren der Inspektoren und so weiter, die bei nachträglicher Überlegung befürchteten, daß ihre Bezüge gekürzt werden könnten. Doch eine an alle gerichtete Kundmachung des Königs, wonach der Status quo eingefroren werden, will sagen: alles beim alten bleiben solle, beruhigte die Gemüter alsbald und trug zur Schaffung einer leidenschaftlichen Treugesinnung unter den Gehaltsempfängern bei. Bald danach präsentierte der Minister für die Nationalheiligtümer und -denkmäler dem König eine Rechnung über dreimal hunderttausend Franken zur Deckung der dadurch entstandenen Spesen, daß Prinzessin Clotilde 67
nicht nur die Springbrunnen von Versailles hatte in Gang setzen, sondern sie auch zwei volle Nächte hindurch mittels Scheinwerfern hatte anstrahlen lassen. Die Prinzessin selbst habe die ihr vorgelegte Rechnung mit königlicher Gebärde beiseite gewischt. Pippin vermochte den Nachweis zu erbringen, daß sein Gesamthabenkonto bei der Filiale der Chase-Bank in der Rue Cambon einhundertzwanzigtausend Franken betrug. Das alsbald aus Amerika eintreffende erste Darlehen erledigte die Angelegenheit jedoch zu allseitiger Zufriedenheit. * So verwickelt sich die Errichtung der Monarchie erwies, als noch weit schwieriger stellte sich die Königskrönung zu Reims heraus. Charles Martels Mutmaßung hinsichtlich der ziffernmäßigen Vermehrung der Aristokratie unter der Republik war richtig gewesen. Doch nicht damit genug, daß sich der Adel in schier unglaublichem Maß vervielfacht hatte, seine Angehörigen vermochten sich nicht über das Krönungsverfahren zu einigen. Daß die Krönung in der alten, überlieferten Form vor sich gehen solle, war ausgemacht; aber in welcher alten Form? Stark interessierte Gruppen forderten die Verschiebung der Krönung auf den Sommer. Die Haute Couture war überschwemmt mit Aufträgen für Hoftoiletten. Die keramische Industrie bedurfte Zeit zur Herstellung der Millionen Tassen, Teller und Aschenbecher, die nicht nur das Königswappen, sondern auch die Profile des Königs und 68
der Königin trugen. Und vor allem: für den Sommer war eine Sturmflut von Touristen zu erwarten, die allein die ganze Veranstaltung zu einem einträglichen Geschäft machen würde. Vorher nicht in Betracht gezogene Momente wurden auf einmal von eminenter Bedeutung. Es wimmelte von neuernannten Zeremonienmeistern, Wappenherolden, Kammerherren, Hofdamen; und in den Arbeitszimmern der Hofhistoriker brannte die ganze Nacht Licht. Die Museen wurden nach Kutschen, Kostümen und Standarten durchstöbert und geplündert. In den Bibliotheken wurde das Unterste zuoberst gekehrt. Das Münzwesen mußte umgeändert werden. Es gab keinen Maler, dessen Pinsel und Palette keine Verwendung bei der Verfertigung von Wappen und Schildern fand. Die der Fortpflanzung gewidmete Tätigkeit des Adels hatte ja solche Dimensionen angenommen, daß alle Wappen neugeviertelt werden mußten. Auf Grund allgemeinen Einvernehmens wurde der Linksschrägbalken abgeschafft, da seine Aufnahme den Wappenbildern der Lebenden eine langweilige Gleichförmigkeit verliehen und bei denen der Verstorbenen einen Mangel an Würde hervorgerufen hätte. Die ihr halbes Leben hindurch unbeschäftigt gewesenen Wagenbauer wurden aus der Muße ihres Greisenalters herausgerissen, um die Speichen und Felgen von Staatskarossen zu erneuern und die Ersetzung lederner Federungen zu leiten. Waffenschmiede lernten wieder das Polieren und Brünieren, Einfetten und Schmieren von Panzerhandschuhen, Beinschienen, Visieren und Sturmhauben; denn eine gan69
ze Reihe der jüngeren Pairs von Frankreich bestand darauf, der Krönung, ohne Rücksichtnahme auf die Witterung, von Kopf bis Fuß geharnischt beizuwohnen. Die Nylonfabriken mußten sämtlich Extraschichten einlegen, um der Nachfrage nach Samtstoffen und mottensicherem künstlichen Hermelin genügen zu können. Als eines der Hauptprobleme erwies sich die Krone, da eine solche nicht vorhanden war. Doch Van Cleef und Cartier sowie Harry Winston und Tiffany taten sich zusammen, und es gelang ihnen denn auch, unter gemeinsamem Einsatz ihrer Künstler und Handwerker, ihrer Geldmittel und ihres Lagers an Edelsteinen, einen knapp einen Meter hohen Stirnreif zu schaffen, der so dicht mit Juwelen besetzt war, daß an der Rückseite des Throns eine Stütze angebracht werden mußte, damit ihr Gewicht dem Monarchen nicht das Genick brach. Die Krone wurde von vier Geistlichen getragen, und als sie nach der Krönung auseinandergenommen und die einzelnen Steine mit gehöriger Beglaubigung zum Verkauf gestellt wurden, ergab sich ein Profit von rund zwölf Millionen Dollar. Die Firmen jedoch, die an der Herstellung beteiligt gewesen waren, erhielten das Recht, an ihren Häusern das königliche Wappen anzubringen und den Titel »Kronlieferanten Seiner Majestät des Königs von Frankreich« zu führen. Ganz abgesehen von den Folgen für die Staatsgeschäftsführung, das Finanzwesen, die internationalen Beziehungen, das Protokoll, wirkt sich eine Umstellung von Republik auf Monarchie auf unzählige Details aus, die dem Durchschnittsbürger entgehen dürften. In Paris schossen plötzlich wie Pilze Schulen empor, die 70
sich zur Aufgabe machten, langverschollene Künste und Stilformen wiederzubeleben: Schulen für Körperhaltung und Gang (mit oder ohne Stab), Schulen für Verbeugungen, Hofknickse, Handküsse; Schulen für Kränkung und Beleidigung, Schulen für Wahrung der Ehre. Die Stunden der Fechtmeister wurden überlaufen. Der steinalte General a. D. Victor Gonzel, der als die höchste Autorität der Welt im richtigen Gehrauch der Vorderladerpistole galt, erteilte einem halben Hundert Höflingen in spe Unterricht. Diesem ganzen Umtrieb sah Pippin mit Bestürzung zu. Wegen einer Deputation, die um seine Zustimmung zur Errichtung einer mit Hellebarden auszurüstenden Leibgardekompanie nachsuchte, versäumte er eine Mondfinsternis. Schließlich nahm er seine Zuflucht zu Onkel Charlies Behausung hinter der Kunstgalerie. Dort ließ er seinen Klagen freien Lauf: »Die Folies-Bergère haben einen Wettbewerb zwecks Wahl einer königlichen Maitresse ausgeschrieben. Onkel Charlie, als dergleichen in meinen jungen Jahren von mir erwartet wurde, betätigte ich mich in diesem Sinne, wie es sich für einen guten Franzosen geziemt, wiewohl es sich als teuer und nach einiger Zeit als langweilig erwies. Jetzt aber … weißt du, daß Meldungen aus allen Staaten der Welt vorliegen? Onkel Charlie, ich mache nicht mit. Selbst Marie hat mir deshalb zugesetzt. Sapristi, Onkel Charles, hast du diese Mädchen einmal reden gehört?« »Das habe ich stets durch Anwendung verschiedener Verfahren zu vermeiden gesucht«, sagte Onkel Charlie. 71
»Mein Sohn«, fuhr er dann fort, »du magst deinen königlichen Willen in manchen Dingen durchsetzen können, aber wenn du meinst, du könntest König von Frankreich sein, ohne eine Maitresse zu haben, die den Zauber ihrer Verschwendungssucht und charmanten Unzuverlässigkeit auf dein Volk strahlen läßt, dann bist du sehr auf dem Holzwege.« »Aber königliche Maitressen haben die Nation so gut wie immer in Teufels Küche gebracht.« »Selbstverständlich, mein Junge. Das gehört dazu. Bist du durch deine Sternguckerei um Augenmaß und Geschichtskenntnis gekommen?« »Ich werde mir einen Minister zulegen«, brach Pippin ungestüm aus. »Jawohl, das tue ich! Ich suche mir einen Mazarin oder Richelieu und lasse ihn die Arbeit tun.« »Dann wirst du merken, daß ein Minister, der was versteht, in der Maitressenfrage unerbittlich ist. Stelle dir das doch nur vor. Es wäre ja, als wenn du nackt einhergingst. Das erlauben die Franzosen nicht.« »Ich habe überhaupt kein Privatleben mehr«, sagte Pippin. »Ich bin noch nicht einmal gekrönt, und schon habe ich keine ruhige Minute mehr. Und ich muß sagen: Du nimmst es nicht sehr ernst mit deinen erblich überkommenen Pflichten. Ich habe einen Bericht erhalten, wonach du eine ganze Dachkammer voll unsignierter Bouchers entdeckt hast.« »Der Mensch muß doch leben«, sagte der Oheim. »Du mußt jedoch deshalb nicht glauben, daß ich dich im Stich gelassen habe. Ich habe mir deinetwegen den Kopf zerbrochen. Pippin, paß jetzt einmal genau auf! In Amerika hat 72
ein leitender Beamter, dessen Amtspflichten und -Obliegenheiten seinen eigenen Interessen zuwiderliefen, einen ebenso interessanten wie praktischen Ausweg gefunden. Er hat den ganzen Kleinkram seines Amts oder seiner Partei einer der großen Reklameagenturen übergeben. Diese Firmen mit ihrem Riesenpersonal und ihrem, nun, mit ihrem ›savoir-faire‹ vermögen das alles zu bewältigen: Public-Relations, Organisation, Korrespondenz, Zirkulare, Rendezvous. Wenn so eine Gesellschaft für einen Präsidenten oder eine politische Partei Propaganda machen kann, warum nicht für einen König? Bedenke, was für kluge Köpfe das sind! Auf dem Gebiet der auswärtigen Beziehungen wird ihre Politik nicht von irgendeinem interesselosen Staatsbeamten bestimmt, sondern davon, daß sie mit der betreffenden fremden Betriebsleitung möglichst vorteilhafte Geschäfte macht. Und wer kann zartfühlender und klüger sein als eine Agentur, deren Profite von ihrem Zartgefühl und ihrer Klugheit abhängen? Wenn sich eine solche Verbindung herstellen läßt, Pippin, dann kannst du dich wieder mit deinem Fernrohr befassen. Die Reklameagentur nimmt dann alles in die Hand und sorgt dafür, daß der Presse die richtigen Meldungen zugehen. Ja, sie würde wohl auch die Sorge für die Laufbahn deiner Maitresse übernehmen.« »Es klingt ideal«, sagte Pippin. »Ach, es kommt noch mehr hinzu, mein Junge. Denke nur mal an eine so einfache Sache wie eine Rede vor dem Fernsehschirm. Mir schwant, als König von Frankreich mußt du sicher für die Television auftreten.« »Nun, was würde die Firma dabei zu tun haben?« 73
»Nehmen wir an, der Präsident muß eine Rede halten. Da wird nichts dem Zufall überlassen. Alles wird mit ihm einstudiert und geprobt, und zwar von einer Autorität in Wortwahl, Aussprache, Gefühlsausdruck, kurz von einem Mann, von dem erwiesen ist, daß er, nun, … daß er ›zieht‹.« »Wie Marilyn Monroe …« »Na ja, ungefähr. Aber das ist noch nicht alles. Dann wird er erst einmal von Fachleuten geschminkt. Er redet auch nicht so einfach drauflos. O nein! Er kriegt einen Regisseur; die Szene wird aufgebaut. Sie wird geprobt. Sie wird gesteigert, bis zum höchsten, grandiosesten Effekt. Wenn der Mann einfach daherreden würde, dann wäre er vielleicht aufrichtig, aber es klänge nicht aufrichtig, und das ist wichtig, denn der Redner hat die Rede ja nicht geschrieben, siehst du. Das hat die Agentur getan. Die einem solchen Büro obliegenden Aufgaben sind mitunter so groß, daß der Präsident die Rede nicht einmal lesen kann, bis er zur Probe kommt. Ich überlege …« »Was?« »Hast du einen Hund?« »Marie hat eine Katze.« »Na, lassen wir’s gut sein. In Frankreich ist das ja wohl nicht so wichtig.« »Meinst du, eine dieser Agenturen würde die Sache übernehmen, Onkel Charlie? Würde es sich für sie lohnen?« »Ich werde einmal diskret sondieren, mein Sohn. Fragen schadet jedenfalls nichts. Selbst wenn die Sache nicht so einträglich wäre wie andere, so könnte eine renom74
mierte Agentur wohl der Ansicht sein, das Prestige, den König von Frankreich zu vertreten, sei auch etwas wert. Ich werde mich jedenfalls erkundigen, Pippin. Einstweilen können wir nur hoffen.« »Ich hoffe herzlich darauf«, sagte der König. * Überlieferungsgemäß ließ sich der Pariser Frühling wunderschön an. In den Fabriken, die spezifisch royalistische und spezifisch französische Artikel herstellten, mußten Nachtschichten eingelegt werden. Die durch den Umschwung hervorgerufene Stimmung von Wohlergehen und Sicherheit erlaubte auch eine Herabsetzung der Arbeitslöhne. Wie sich voraussehen ließ, begegnete Madame dem bei ihr eingetretenen Wechsel aller Lebensverhältnisse mit Realismus und Energie. Für sie war es eigentlich nur etwas wie ein Umzug von einer Wohnung in die andere; die neue hatte größere Proportionen, aber im Grunde dieselben Probleme. Madame klagte jedoch darüber, daß ihr Gatte es mit seinen Pflichten nicht so ernst nahm, wie es sich gehörte. »Du lungerst im Hause herum«, sagte sie zu ihm, »und dabei liegt es für jeden auf der Hand, daß tausend Dinge getan werden müßten.« »Ich weiß«, sagte Pippin in dem Ton, den sie an ihm kannte, wenn er nicht zugehört hatte. »Du sitzt da und liest.« »Ich weiß, meine Liebe.« 75
»Was liest du denn, was in diesem Augenblick so wichtig wäre?« »Wie bitte?« »Ich fragte, was du liest?« »Geschichte.« »Geschichte? In diesem Augenblick?« »Ich habe die Geschichte unseres Hauses durchgelesen und einige Aufzeichnungen anderer Herrscherhäuser, die uns nachfolgten.« Schnippisch sagte Madame: »Es hat mir immer so geschienen, als ob die französischen Könige bei ungewöhnlich geringer Begabung es verstanden hätten, für sich selbst recht wohl zu sorgen. Es gibt da natürlich Ausnahmen.« »Ich denke gerade über die Ausnahmen nach, meine Liebe. Ich habe etwa über den sechzehnten Ludwig nachgedacht. Er war ein anständiger Mann. Seine Absichten und Antriebe waren anständig.« »Aber er war wohl ein Trottel«, sagte Marie. »Kann sein«, sagte Pippin. »Aber ich begreife ihn, wenn wir auch nicht aus der gleichen Familie sind. In gewissem Sinn komme ich mir vor wie er. Ich bemühe mich, herauszubekommen, wo er Fehler gemacht hat. Ich würde ungern in die gleiche Falle geraten wie er.« »Du träumst da in den Tag hinein, aber hast du auch nur eine Sekunde lang an deine Tochter gedacht?« »Was hat sie jetzt wieder angestellt?« fragte Pippin. *
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Es kann nicht geleugnet werden, daß Clotildes Dasein sich bisher in ungewöhnlichen Formen abgespielt hatte. Als sie mit fünfzehn Jahren den Bestseller »Adieu ma vie« geschrieben hatte, war sie von den gefeiertsten und differenziertesten Geistern unserer Epoche aufgesucht und umworben worden. Es wurde ihr von den Reduktionisten, den Ressurrektionisten, den Protonisten, den NonExistentialisten und den Quantumisten zugejubelt, während der Tiefengehalt ihres Buches Hunderte von Psychoanalytikern veranlaßte, das Unbewußte seiner Verfasserin zu durchforschen. Sie hatte ihren Tisch im Café des Trois Puces, wo sie hof hielt und sich freimütig zu Fragen der Religion, Philosophie, Politik und Ästhetik äußerte. An diesem Tische auch hatte sie ihren zweiten Roman begonnen, der zwar nie zu Ende geschrieben wurde, dessen Titel jedoch bereits feststand: »Le Printemps des Morts«. Ihre Anhänger gründeten eine Schule, die Clotildismus genannt und von der Kirche verdammt wurde und achtundsechzig jugendliche Adepten veranlaßte, durch Absprung vom Arc de Triomphe Selbstmord zu begehen. Danach begann sich Clotilde in Politik und Religion zu verstricken, eine Periode, die ihren Abschluß fand durch Clotildes symbolische Vermählung mit einem weißen Stier im Bois de Boulogne. Ihre berühmten Ehrenaffären, in denen sie drei ältere Akademiker verwundete und selbst einen Degenstich in die rechte Hinterbacke erhielt, erregten weiteres Aufsehen. Und all dies, bevor sie noch das zwanzigste Lebensjahr erreicht hatte. In einem Artikel der Zeitschrift »Souffrance« schrieb sie, ihre berufliche Laufbahn habe ihr keine Zeit gelassen, Kind zu sein. 77
Es folgte nunmehr die Phase, während der sie ihre Nachmittage in den Kinos und ihre Abende damit zubrachte, über die Qualitäten von Gregory Peck, Marlon Brando und Frank Sinatra zu diskutieren. Marilyn Monroe fand sie zu drall und die Lollobrigida kuhdumm. Sie begab sich nach Rom, wo sie in drei Versionen von »Krieg und Frieden« und zwei von »Quo Vadis« spielte, doch über ihre Kritiken geriet sie in solche Verzweiflung, daß ihre Erhebung zur königlichen Prinzessin gerade recht kam. Auf diesem Gebiet war die Konkurrenz weniger erbittert. Clotilde fing nunmehr an, von sich selbst, zumindest fürwörtlich, im Plural zu denken. Sie sprach von »unserm Volk«, »unserer Stellung«, »unserer Aufgabe«. Ihrer ersten königlichen Handlung, dem Andrehen der Versailler Springbrunnen, folgte die Ausführung eines ihr besonders am Herzen liegenden, in der Geschichte nicht ohne Parallele dastehenden Projekts. In der nächsten Umgebung von Versailles ließ sie ein größeres Stück Gelände abgrenzen, das den Namen »Le Petit Round-up« führen und auf dem eine typische amerikanische Ranch mit Gutshaus, Unterkunftshäusern, Scheunen und Viehgehegen aufgebaut werden sollte. Auf Scheiterhaufen sollten ständig die Brandeisen mit ihrem Wappen glühen, und wilde Mustangs sollten in den Corrals herumtoben. Roy Rogers, Alan Ladd, Hoot Gibson und nicht zuletzt der schweigsame, ernste Gary Cooper sollten dorthin entboten werden. Sie würden sich wie zu Hause fühlen, und wenn es zu Schießereien kam – was natürlich nicht zu vermeiden war, wo hitzige Männer zusammenhausten, denen der Revolver lockerer 78
saß als die Zunge –, dann würde Prinzessin Clotilde, in ledernem Rock und schwarzem Hemd, es sich angelegen sein lassen, das Blut ihrer Wunden zu stillen und mit ihrer blaublütigen Hand die Stirn des schmerzverkrümmten, doch stummen Dulders kühlen. Das war jedoch nur eines von Clotildes Zukunftsprojekten. Es war dies um die Zeit, da Clotilde anfing, wieder ihren alten Teddybär mit ins Bett zu nehmen. Sie war damals wahnsinnig in Ted Johnson verliebt. Seine Bekanntschaft machte sie im »Ambassadeurs«, wohin sie mit Georges de Marine gekommen war, genauer: dem jungen Grafen de Marine, einem Weltverächter von siebzehn Jahren. Georges wußte sehr wohl, daß Tab Hunters Anwesenheit in Paris Clotilde bekannt war. Da er demselben Fan-Club angehörte, wußte er auch, daß Tab Hunter sein persönliches Erscheinen im »Ambassadeurs« für diesen Abend zugesagt hatte. Ted Johnson saß gleich neben Clotilde auf der Wandbank gegenüber der Tanzfläche. Beim ersten Seitenblick auf ihren Nachbarn ging ihr Atem schneller und schlug ihr Puls höher. Neugierig beobachtete sie ihn, und schließlich beugte sie sich zu ihm hinüber und fragte: »Sind Sie Amerikaner?« »Klar.« »Dann müssen Sie achtgeben. Sonst machen die eine Flasche Champagner nach der andern auf, wenn Sie ihnen das nicht verweisen.« »Danke sehr«, sagte Ted. »Das haben sie bereits getan. Sie sind Französin?« »Natürlich.« 79
»Ich hatte gemeint, Franzosen kommen nicht hierher«, sagte Ted. Georges versetzte Clotilde einen bösartigen Tritt an den Fußknöchel; vor Schmerz schoß ihr das Blut ins Gesicht. Doch Ted sagte: »Ich hoffe, Sie nehmen das nicht übel. Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Ted Johnson.« »Ich weiß, wie dies in Amerika gehandhabt wird«, sagte Clotilde. »Ich war in Amerika. Darf ich Ihnen den Comte de Marine vorstellen? So, und jetzt mußt du mich vorstellen«, sagte sie zu Georges. »So machen sie es drüben.« Georges kniff die Augen verschmitzt zusammen und sagte in gleichgültigem Ton: »Mademoiselle Clotilde Héristal.« »Der Name kommt mir bekannt vor«, sagte Ted. »Sind Sie Schauspielerin?« »Non, Monsieur«, sagte Clotilde, die Augen niederschlagend, »nur soweit alle Frauen Schauspielerinnen sind.« »Sehr gut«, sagte Ted. »Sie sprechen fabelhaft Englisch.« Ohne Abwandlung seines Tonfalls, den er für beleidigend hielt, fragte Georges: »Spricht Monsieur vielleicht Französisch?« »Princeton-Französisch«, sagte Ted. »Ich kann Fragen stellen, aber die Antworten nicht verstehen. Doch ich mache Fortschritte. Es geht mir nicht mehr alles so durcheinander wie noch vor einigen Wochen.« »Bleiben Sie länger in Paris?« »Ich habe keinerlei feste Pläne. Gestatten Sie, daß ich Champagner bestelle?« 80
»Ja, aber sagen Sie, es soll nicht dauernd neuer gebracht werden. Lassen Sie sich nicht neppen, als wenn Sie ein xbeliebiger Argentinier wären.« So fing es an. Ted Johnson war die Idealfigur des jungen Amerikaners: groß, schlank, mit straffem Haar und blauen Augen, gut angezogen, gebildet nach landläufigen Begriffen, mit guten Manieren, friedfertig. Auch im übrigen war er vom Glück begünstigt. Sein Vater war H. W. Johnson, der Eierkönig in Petaluma (Kalifornien), dessen Bestand an weißen Leghornhennen auf zweihundertunddreißig Millionen Stück geschätzt wurde. Noch erfreulicher lag die Sache insofern, als H. W. Johnson ein armer Mann gewesen war und sein Hühner-Königreich durch eigene Kraft aufgebaut hatte. Es wird sich zeigen, daß Ted Johnson, obschon er sehr reich war, nicht an Familiendünkel litt. Es war ausgemacht, daß er nach Beendigung seines halbjährigen Aufenthalts in Europa sich in seine Heimat Petaluma zurückbegeben, dort von der Pike auf das Hühnergeschäft erlernen, dann langsam bis zur Spitze aufrücken und es schließlich übernehmen würde. Über all dies, seinen Vater und dessen Eier-Königreich erzählte er Clotilde erst, nachdem sie mehrmals zusammengetroffen waren. Da war sie aber bereits so dumm und stumm vor Liebe, daß sie vollkommen vergaß, ihm von ihrer Familie zu berichten. Die Schriftstellerin, die Weltdame, die Kommunistin, die Prinzessin Clotilde war für den Augenblick von der Bildfläche verschwunden. Mit zwanzig Jahren taumelte sie in eine Backfisch81
Liebesgeschichte hinein mit Seufzern und einem Gefühl im Magen, als sei er voll Luft. Sie war so zerstreut und teilnahmslos, daß Madame ihr ein altes Bauernmittel eingab, das sie ernstlich bettlägerig machte, jedoch die Notwendigkeit, einen Psychiater zuzuziehen, abwendete. Ihre Physis wurde durch diese Kur auf eine so harte Probe gestellt, daß ihre Psyche sich selbst überlassen blieb und zusehen mußte, wie sie ihrerseits davonkam. * Das Jahr 19.. war das fabelhafteste Jahr seit Menschengedenken für das amerikanische Reklamewesen. Barton, Burtin, Durstin & Osborne hatten alle Hände voll zu tun mit der Neubearbeitung der amerikanischen Verfassung und der gleichzeitigen Verkaufswerbung für ein neues Golfmobil mit Schwimmern. Riker, Dunlap, Hodgson & Fellows würden den französischen Auftrag zum Herbst übernommen haben, konnten jedoch ihre Schlüsselfachleute nicht bei der Werbeaktion für Nudent – die neue Zahnpasta für das Wachstum neuer Zähne – entbehren. Merchison & Co. wiederum hatten vollauf zu tun mit einer transatlantischen Röhrenleitung, in der Presse nur »Tapal« (Transatlantic Pipe Line) genannt, eine vierundzwanzigzöllige Anlage, die unter Wasser von SaudiArabien nach New Jersey lief und alle fünfzig Seemeilen eine schwimmende Tankstelle aufwies. Die Angelegenheit wäre an sich nicht so schwierig gewesen, wenn sich nicht dauernd der demokratische Senator von New Mexico eingemischt hätte, um peinliche Fragen zu stellen hinsichtlich 82
der Verwendung von Personal und Material der Armee und der Flotte durch eine Privatgesellschaft. Die leitenden Persönlichkeiten der Firma weilten den Frühling und Sommer über meistenteils in Washington. Wenn einer dieser Betriebe Zeit gehabt hätte, sich damit zu befassen, so wäre die Krönung des Königs von Frankreich wahrscheinlich glatter vonstatten gegangen. Wer vermöchte den ganzen dramatischen Verlauf, all das Schaugepränge, allen Prunk und Glanz, und, jawohl, allen Wirrwarr der Krönung zu Reims am 15. Juli zu Papier zu bringen? Die darüber in die Welt gefunkten Zeitungsberichte gingen in die Milliarden Wörter. Farbfotos füllten in jedem Blatt mit einer Auflage von mehr als zwanzigtausend Exemplaren die halbe Titelseite. Die der New Yorker »Daily News« wies in vier Zoll hohen Lettern die Balkenschlagzeile auf: FROSCHKÖNIG PIPS KRÖNUNG Conrad Hilton nahm die Gelegenheit wahr, ein neues Hotel, das »Versailles-Hilton«, zu eröffnen. Louella Parsons hatte ihren »Kasten« auf der Titelseite überschrieben: WIRD CLOTILDE NACH HOLLYWOOD KOMMEN? Um sich ein Bild machen zu können von dem Verlauf des großen Tags in Reims und Paris, muß der Leser die Tageszeitungen heranziehen; da vernimmt er von der zum Bersten vollgepfropften Kathedrale, von dem Gebrüll der Bil83
lett-Schwarzhändler, von den Buden mit Keramiken, den Miniatur-Nachbildungen der Krönungskutschen, den auf dem Domplatz totgedrückten Menschen, der Verkehrsstockung auf der Landstraße nach Reims, die selbst beim Finish der Tour de France nicht ihresgleichen hat. Ein Fabrikant verdiente ein kleines Vermögen mit dem Verkauf von Miniaturguillotinen. Die Krönung selbst war ein Triumph der Desorganisation. In allerletzter Minute entdeckte man, daß keine Pferde zur Bespannung der Staatskarossen bereitgestellt waren; doch dieser Mangel wurde mit gütiger Hilfe der Schlachthausverwaltung behoben, wiewohl diese Geste verschiedene Stadtteile von Paris drei Tage lang der Beefsteaks beraubte. Neben dem Thron stand, das Banner in der einen und das Schwert in der andern Hand, Jeanne d’Arc darstellend, die letztjährige Schönheitskönigin – Miss France –, bis sie wegen der Hitze und der schweren Last der Rüstung während der Eidesleistung des Königs mit einem Geklirr wie zerscherbendes Porzellan in Ohnmacht fiel. Doch sechs Chorknaben hoben sie auf und lehnten sie an eine gotische Säule, wo sie bis zum späten Abend vergessen stehen blieb. Aus purer Gewohnheit malten die Kommunisten auf die Wände der Kathedrale »Geh heim, Napoleon«, aber diese Entgleisung sowohl auf dem Gebiet der Geschichte wie des Geschmacks wurde allseitig mit gutem Humor aufgenommen. Gegen elf Uhr vormittags war die Krönung zu Ende. Dann strömte die Flut der Zuschauer zurück nach Paris für den Festzug, der sich von der Place de la Concorde 84
zum Arc de Triomphe bewegen sollte. Der Abmarsch war auf zwei Uhr angesetzt. Er begann um fünf Uhr. Auf den Champs-Élysées waren sämtliche Fenster ausverkauft. Ein Platz am Randstein kostete bis zu fünftausend Franken. Die Eigentümer von Stehleitern konnten sich dieses Jahr einige zusätzliche Wochen Sommerferien leisten. Der künstlerisch arrangierte Festzug gab eine Darstellung von Vergangenheit und Gegenwart. Zuerst kamen die Staatskarossen der Pairs von Frankreich, die mit Goldlaub und purzelnden Engeln geschmückt waren. Dann kam eine Batterie schwerer Selbstfahrgeschütze; darauf ein Fähnlein Armbrustschützen in Schlitzwämsern und Federhüten; darauf ein Dragonerregiment in glänzenden Brustpanzern; danach eine Gruppe schwerer Tanks und Maschinengewehrwagen, gefolgt von jungen Adligen in voller Rüstung, an die sich ein Bataillon Fallschirmtruppen schloß; hinter diesen kamen die königlichen Minister in ihren Amtstrachten und nach ihnen eine Kompanie Musketiere mit Spitzenkragen, Kniehosen, Seidenstrümpfen und hochhackigen Schnallenschuhen. Schließlich kam knarrend und knirschend die königliche Karosse. Pippin IV., ein unbehagliches Bündel aus Purpursammet und Hermelin, mit der ebenso in Pelz eingewickelten Königin neben sich dankte für die Hochrufe seiner treuen Anhänger und mit gleicher höflicher Gebärde auch für die Pfiffe. An der Kreuzung der Champs-Élysées und der Avenue de Marigny feuerte ein geistesschwacher Antimonarchist, mittels eines Periskops über die Köpfe der Menge zielend, eine Pistole auf den König ab, traf jedoch nur ein königli85
ches Kutschenpferd. Ein tapferer Musketier der Leibgarde schnitt es von den Strängen und schirrte sich selbst als Ersatz an, so daß sich die Karosse weiterbewegen konnte. Dieser königstreue Dienst wurde dem Musketier, Raoul de Potoir mit Namen, auf sein Ersuchen durch eine lebenslängliche Pension gelohnt. Und so ging denn der Zug weiter: Musikkapellen, Gesandte, das Gewerbe, Veteranen, Bauern in Landestrachten aus Nylon, Partei- und Wirtschaftsführer, königstreue Gruppen. Als die Königskarosse am Arc de Triomphe haltmachte, drehte sich Königin Marie zu ihrem Gemahl hin, um ihm etwas zu sagen. Er war verschwunden. Die königlichen Gewänder standen steif und leer in den Wagenfond gestützt; der König war ihnen unversehens entschlüpft und ungesehen in der Menge untergetaucht. Als sie später heimkam, fand die sehr ärgerliche Königin Pippin IV. auf seinem Balkon, damit beschäftigt, das Okular seines Teleskops zu putzen. »Das ist mir ja eine schöne Sache«, rief sie. »In meinem ganzen Leben war ich noch nicht in solch peinlicher Lage. Was werden die Zeitungen sagen? Die ganze Welt wird sich über dich lustig machen. Was werden die Engländer sagen? Ah, ich weiß schon. Sagen werden sie nichts, aber schauen werden sie; man wird ihnen ansehen können, daß sie daran denken, wie ihre Königin stand und saß, stand und saß, dreizehn Stunden lang, ohne auch nur einmal … Pippin, hör auf, das blöde Glas zu putzen!« »Schweig«, sagte Pippin sanft. »Pardon …« 86
»Pardon sei dir gewährt, meine Liebe, aber schweige.« »Ich verstehe nicht!« rief Marie. »Woher in aller Welt nimmst du das Recht, mich schweigen zu heißen? Wer meinst du denn, daß du bist?« »Ich bin der König«, sagte Pippin, was Marie bisher anscheinend noch nicht aufgegangen war. »So merkwürdig es ist«, fuhr er fort, »ich bin es nun einmal.« Und das war so unbedingt zutreffend, daß Marie ihn nur mit erschrockenen Augen ansehen konnte. »Jawohl, Sire«, sagte sie und verstummte. »Aller Anfang ist schwer, meine Liebe«, sagte Pippin entschuldigend, »auch der des Königseins.« Mit großen Schritten ging der König in Charles Martels kleinem Gemach auf und ab. »Sie reagieren weder auf Telefonanrufe«, sagte er vorwurfsvoll, »noch auf Rohrpostbriefe. Ich sehe da bei der Napoleonsbüste drei durch Boten überbrachte Schreiben uneröffnet liegen. Wie erklären Sie das, Herr?« »Benimm dich gefälligst nicht so verdammt königlich mit mir«, sagte Onkel Charlie erbost. »Ich wage mich nicht einmal auf die Straße hinaus. Ich habe meine Fensterläden nicht aufgemacht seit der Krönung.« »Der du nicht beigewohnt hast«, sagte der König. »Der ich nicht beizuwohnen wagte. Ich bin der Verzweiflung nahe. Abkömmlinge des alten Adels meinen, ich sei dein geheimer Ohrenbläser. Ich bin froh, mit gutem Gewissen sagen zu können, daß ich dich überhaupt nicht gesehen habe. Jeden Tag stehen sie Schlange vor meinem Laden. Ist dir jemand hierher gefolgt?« »Gefolgt? Ich war eskortiert!« sagte Pippin. »Seit einer 87
Woche war ich keine Sekunde allein. Man hilft mir beim Anziehen. Man dringt in mein Schlafzimmer, ja geradezu ins Badezimmer. Wenn ich meine Eier aufschlage, kneifen sie die Lippen zusammen. Wenn ich meinen Löffel hebe, sehen sie ihm nach, bis er im Mund ist. Und da sprichst du von Verzweif …« »Ja, du gehörst ihnen auch«, fiel ihm Onkel Charlie ins Wort. »Du, mein lieber Neffe, bist ein Auswuchs deines Volkes, auf deine Person haben sie unübertragbare Rechte.« »Ich weiß gar nicht, wie ich dazu gekommen bin, mich darauf einzulassen«, sagte Pippin. »Ich wollte nicht nach Versailles übersiedeln. Ich wurde gar nicht gefragt. Ich wurde übersiedelt. Es ist dort furchtbar zugig, Onkel Charlie. Die Betten sind schauerlich. Die Böden quietschen. Was mixt du denn da?« »Einen Martini«, sagte Onkel Charlie. »Habe ich von Clotildes jungem Freund gelernt, einem Amerikaner. Der erste Schluck schmeckt scheußlich, aber dann schmeckt es immer köstlicher. Es wirkt einlullend, fast wie Morphium. Probiere einmal! Habe keine Angst vor dem Eis!« »Grausig«, sagte der König und trank das Gläschen aus. »Gieß mir noch einen ein, bitte.« Er leckte sich die Lippen. »Ich dachte nicht daran, daß der König Gäste hat, zum Inventar gehörige Gäste. Zweihundert Adlige hausen mit mir im Versailler Schloß zusammen.« »Na, Platz genug ist ja da für sie.« »Platz schon; aber sonst nichts. Sie schlafen auf dem Fußboden, in den Korridoren. Sie hacken die Möbel klein, um in den Kaminen Feuer anzuzünden.« »Im August?« 88
»In der Hölle wäre Versailles noch kalt«, sagte der König. »Was ist eigentlich da drin? Gin schmecke ich heraus, aber was noch?« »Vermouth. Gerade so ein Hauch Vermouth. Wenn sie anfangen, köstlich zu schmecken, so ist das ein Zeichen, daß man zu viele getrunken hat. Versuchen Sie, dieses Glas Schluck für Schluck zu sich zu nehmen, Sire. Du bist nervös, mein Sohn.« »Nervös? Da soll einer nicht nervös werden! Onkel Charlie, ich bin überzeugt, es muß in Frankreich auch noch zahlungsfähige Aristokraten geben, aber nicht unter meinen Gästen. Der Ruf muß ergangen sein an die, die bisher unter Brücken, umgestülpten Schubkarren und den Gittern der Untergrundbahn gehaust haben. Meine Umgebung besteht aus Leuten, die man, wären sie nicht so hochgeboren, Stromer nennen würde. Aber es sind vornehme Stromer. Majestätischen Gehabens stromern sie im Park herum. Sie betupfen sich die Lippen mit Spitzentüchern. Was sie sprechen, ist schierer Corneille. Ehrlich sind sie auch nicht, Onkel Charlie. Sie stehlen.« »Was soll das heißen?« »Kein Hühnerhof und kein Kaninchenstall auf zehn Meilen in der Runde ist sicher vor ihnen. Wenn sich die Bauern beschweren, dann lächeln meine Gäste nur und wedeln mit ihren Spitzentaschentüchern, die sie im ›Printemps‹ stibitzt haben. Auch darüber sind Beschwerden eingelaufen. Jedes Pariser Kaufhaus hat eine Spezialüberwachungsabteilung für Adlige eingerichtet, um seine Verkaufsstände zu sichern. Es wird mir berichtet, daß die Bauern ihre Sensen wetzen.« 89
»Lieber Neffe, du wirst wohl das Königtum modernisieren müssen; du wirst da die Initiative ergreifen müssen. Du siehst doch ein, daß das, was für den gemeinen Mann einfach Diebstahl ist, dem Adligen als sein angestammtes Recht gilt. Meinst du, du verträgst noch einen? Du hast einen ziemlich roten Kopf.« »Wie heißt das Getränk?« »Martini.« »Italienisch?« »Nein, nein«, sagte Onkel Charlie. »Pippin, ich möchte dich nicht fortschicken, aber ich halte es für richtig, dich darauf vorzubereiten, daß Clotilde ihren neuen Freund herbringt. Zu meiner eigenen Bequemlichkeit habe ich das Hintertürchen aufgeschlossen. Falls dir daran liegt, ungesehen wegzugehen …« »Was für ein Freund ist denn das?« »Ein Amerikaner. Ich dachte, er interessiere sich vielleicht für ein paar Skizzen.« »Onkel Charlie!« »Der Mensch muß leben, mein lieber Neffe. Mir ist bisher keine Apanage zugesprochen worden. Apropos: Gibt es Apanagen?« »Nicht daß ich wüßte«, sagte der König. »Das neue amerikanische Darlehen ist da, aber der Geheime Rat will davon nichts freigeben. Du mußt wissen, der Geheime Rat ähnelt einigermaßen dem früheren republikanischen Kabinett.« »Wie sollte er auch nicht?« sagte Onkel Charlie. »Es sind doch dieselben Leute. Also das Hintertürchen geht auf die Seitengasse hinaus.« 90
»Gedenkst du deine Stellung dazu auszunutzen, um den Amerikaner zu betrügen? Onkel Charlie, ist das adliges Tun?« »Allerdings«, sagte Charles Martel. »Das ist unsere Erfindung. Ich spiegele nichts vor. Wenn ein Bild ihm gefällt, dann kauft er es. Ich sage einfach: Boucher könnte es gemalt haben. Er könnte ja auch. Möglich ist alles.« »Aber du bist des Königs Oheim! Einen Bürgerlichen zu beschwindeln, dazu noch einen amerikanischen Bürgerlichen, das ist wie auf ruhende Vögel zu schießen. Den Briten ginge so etwas sehr gegen den Strich.« »Die Briten haben ihre eigenen Methoden und Formen der Verbindung von Aristokratie und Profit entwickelt. Sie haben darin eine jüngere Erfahrung als wir. Wir werden es zwar noch lernen, aber einstweilen, was ist gegen praktische Übungen an einem reichen Amerikaner einzuwenden?« »Ist er reich?« »Steinreich. Sein Vater ist der Eierkönig von Petaluma.« »Nun, wenigstens bestiehlst du nicht die unteren Stände.« »Wahrlich nicht, mein Sohn. In Amerika gehört man zu den unteren Ständen nur, wenn man nicht zahlungsfähig ist.« »Onkel Charlie, wenn du mir noch einen von den … Dingsda machst, dann werde ich wohl bleiben und einmal die Bekanntschaft dieses Eierprinzen machen. Ist es Clotilde ernst mit dieser … Freundschaft?« »Na, hoffentlich«, sagte Onkel Charlie. »Sein Vater, König H. W. Johnson, besitzt zweihundertdreißig Millionen Hühner.« 91
»Großer Gott!« rief Pippin aus. »Nun, dem Himmel sei Dank, daß Clotilde nicht in den Fehler verfallen ist – wie eine gewisse englische Prinzessin –, ihr Herz an einen Bürgerlichen zu verlieren. Danke, Onkel Charlie. Du hast den Dreh schon heraus. Der da ist weit besser als der erste.« * Ted Johnson war nicht mehr für den Purpur geboren als der erste Karl Martell. Im Jahre 1932 bedurfte es nur eines kleinen Stoßes durch die sogenannte »Große Depression«, daß der Kolonialwarenladen von Johnson in Petaluma (Kalifornien) eines sanften Todes verblich. Im Jahre 1933 wurde H. W. Johnson, Teds Vater, in die Listen des Bundesfürsorgeamtes eingeschrieben und dann dem Straßenbau zugeteilt. H. W. Johnson verdachte es Präsident Hoover nicht, daß er durch ihn seinen Kolonialwarenladen verloren hatte, aber Präsident Roosevelt verzieh er es nie, daß dieser ihn ernährt hatte. Als das Fürsorgeamt, mangels genügender Kühlanlagen, lebende Hühner verteilte, behielt Mr. Johnson diese eine Zeitlang, bevor er sie verzehrte. Er kam aus dem Staunen über diese Tiere nicht heraus, die bei all ihrer Dummheit ihren Lebensunterhalt auf dem unkrautüberwucherten Stück Land hinter seinem Haus zu finden wußten. Von da ab gingen ihm die zwei Jahre lang, die er noch beim Straßenbau verbrachte, die Hühner nicht aus dem Kopf. Als seine Großmutter starb und ihm dreitausend Dollar hinterließ, kaufte er sofort zehntausend Küken. Bei 92
diesem ersten Versuch ging der größte Teil der Tierchen am Pips ein; aber Johnson war kein Mensch, der sich durch einen Fehlschlag gleich entmutigen ließ. Es war schwer genug, ihn für einen Gedanken zu gewinnen, aber war er einmal gewonnen, dann war es noch schwerer, ihn davon abzubringen. Er ließ sich vom Landwirtschaftsministerium dessen Broschüre über Hühnerzucht kommen; dann machte er sich eifrig an das Studium. Vor allem lernte er daraus, daß, von Krankheiten ganz abgesehen, Hühnerzucht ein Luxusbetrieb bleibt, wenn man nicht mindestens fünfzigtausend Stück hat. Erst von dieser Zahl an kann man auf die Kosten kommen. Bei hunderttausend schaut vielleicht ein kleiner Profit heraus; aber zu richtigem Verdienst gelangt man erst, sobald die halbe Million überschritten ist. Es erübrigt sich hier, einen genaueren Überblick über Mr. Johnsons organisatorische Planung zu geben. Sie schloß kleine Kapitaleinlagen einiger Nachbarn sowie sämtlicher Verwandten Johnsons ein, die den Betrag für den Grundstock von zweihunderttausend Küken vorschossen. Als dann nach Erreichung der Halbmillionenziffer der Betrieb sich immer mehr zu rentieren begann, zahlte H. W. Johnson die geliehenen Gelder mit herzlichem Dank und spärlichen Zinsen zurück. Damit stand er auf eigenen Füßen. Als Ted drei Jahre alt wurde, lief bereits die erste Million Hühner in ihren kleinen, völlig aus Draht bestehenden Käfigabteilen herum. Damals erhielt Vater Johnson Getreide zur Fütterung aus den bei der Regierung angehäuften Überschüssen und belieferte Armee und Flotte mit Eiern und Brathühnern. 93
Ted besuchte die Schulen von Petaluma; in der HighSchool trat er dem 4-H-Club* bei, wo er eine Menge über Hühner lernte, über ihre Gewohnheiten und Krankheiten; aber er lernte auch den Abscheu vor ihrer Dummheit, ihrem Gestank und ihrer Unsauberkeit. Nach seiner Entlassung aus der High-School bestand jedoch keine Notwendigkeit mehr, daß er sich mit dem Geflügel abgab, auf dem das Familienvermögen beruhte. Das Ganze war längst ein Fabrikbetrieb geworden. Pfannenfertige Poulets und Millionen Eier wurden am Fließband versandbereit gemacht. Der Geruch sowie der Anblick von Hühnern drangen nicht bis zum Bürogebäude der Firma. Der private Grundbesitz Johnsons lag auf einer wunderschönen Anhöhe jenseits des Golfclubs. Johnson selbst verwandte seine Genialität und Energie kaum mehr auf Hühner, sondern auf Ziffern. Er dachte nicht mehr in Einheiten von einzelnen, sondern nur noch von fünfzigtausend Stück Hennen. Der Betrieb war in eine Gesellschaft umgewandelt worden, deren Aktien sich im Besitz von Mr. H. W. Johnson, Mrs. H. W. Johnson, Mr. Ted Johnson sowie Miss Hazel Johnson – einer bildhübschen jungen Dame, die bereits dreimal Eierkönigin beim Geflügelfestumzug von Petaluma gewesen war – befanden. Es war somit an der Zeit, daß die Familie sich – nach amerikanischem Muster – zu einer Dynastie erweiterte. Als Ted die Universität Princeton bezog, standen hinter den Aktien hundert Millionen Hühner. Man muß jedoch nicht glauben, daß dahinter nur Hühner standen. Die * ein Jugendverein für Landwirtschaft (Anm. d. Übers.)
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Johnson AG führte auch Futter, Draht, Legekästen, Brutöfen, Kühlanlagen, kurz: die ganzen Materialien und Apparaturen, die ein kleiner Geflügelzüchter sich anschaffen muß, bevor er den Weg zum Bankrott einschlagen kann. Den Titel »Eierkönig« trug Johnson mit Grazie, und, als echter Magnat, kaufte er das Haus mit seinem früheren Kolonialwarenladen und richtete es als Museum ein. Es gab für ihn nur ein rotes Tuch: die Demokratische Partei, die zu hassen er allen Grund hatte. Ansonsten war er ein gutmütiger, freigebiger und weitblickender Mann. Auf den Rasenflächen seines Landsitzes »Johnson Vista« stolzierten Pfauen, und auf dem künstlichen Teich darin schwammen weiße Enten umher. Ted tauchte inzwischen in vier Universitäten unter: Princeton zwecks Erlernung, wie man sich anzuziehen, Harvard, wie man Englisch zu sprechen, Yale, welche Weltanschauung man zu vertreten, und die VirginiaUniversität, wie man sich zu benehmen hat. Er kam für das Leben mit allem gerüstet daraus hervor, außer mit Kenntnissen der schönen Künste und fremder Länder. Die ersteren erwarb er sich dann in New York, wo sein Geschmack für modernste Jazzmusik sich verfeinerte, für die letzteren sorgte seine »Grand Tour« während der Wiederherstellung der französischen Monarchie. Seine Freundschaft mit Clotilde wuchs wie ein Champignon in den Kellern von Paris und blühte wie die Pelargonien in den Blumenkästen der Caféterrassen. Clotilde nährte das bleiche Pflänzlein mit großer Vorsicht und ließ es sich nie über Fouquet nach der einen und das Hotel »George V.« nach der andern Seite hinaus verirren, einen 95
Umkreis, in dem die typische New Yorker Erscheinung nicht auffiel. Die Prinzessin wollte auch nicht durch Begegnungen mit Franzosen in Verlegenheit geraten. Clotilde stellte Onkel Charlie ihren neuen Freund als eventuellen Gatten vor, und Charles nahm ihn als eventuellen Käufer auf. Er sagte zu Ted: »Vielleicht haben Sie Interesse für eine Reihe von Gemälden, von der ich Kenntnis erhalten habe. Sie sind gerade wieder aufgetaucht; waren während der Besetzung versteckt …« »Onkel … bitte!« sagte Clotilde. »Ich verstehe nicht viel von Malerei, Monsieur«, sagte Ted. »Das lernen Sie schon noch«, sagte Charles Martel munter. Und als er dann mit der Pariser Filiale der ChaseBank telefoniert hatte, sagte er zu Clotilde: »Der junge Mann gefällt mir. Er hat so etwas. Bringe ihn nur wieder mit zum Besuch.« »Versprich mir, daß du ihm keine Bilder anhängen wirst«, bat die Prinzessin. »Liebes Kind«, sagte der Großoheim, »ich habe gewisse diskrete Erkundigungen eingezogen. Soll ich den jungen Mann Kunst und Schönheit entbehren lassen, nur weil er reich ist? Stell dir einmal vor, wieviel das ist: zweihundertdreißig Millionen Hühner. Wenn man ein Huhn mit etwa zwanzig Zentimeter Länge rechnet, so ergäbe das – warte mal! – sechsundvierzig Millionen Meter, will sagen: 46 000 Kilometer, das heißt: Wenn die Hühner im Gänsemarsch hintereinander gehen, so reicht der Zug zweimal um den Äquator herum … stell dir das vor!« 96
»Wozu sollen sie denn um den Äquator herumlaufen?« fragte Clotilde. »Wie bitte?« machte Onkel Charlie. »Ach so; jedenfalls bitte deinen Freund, er soll mir noch einmal zeigen, wie man die Martinis da mixt … Irgend etwas kriege ich dabei nicht heraus.« * Zu ihrer Überraschung fand Clotilde das nächste Mal ihren Vater im Hinterzimmer der Galerie Martel. Sie faßte sich jedoch und sagte: »Sire, darf ich Ihnen Mr. Ted Johnson vorstellen? Mr. Ted Johnson … mein Vater, der« – errötend – »König.« »Sehr erfreut, Mr. König«, sagte Ted. Taktvoll berichtigte Onkel Charlie: »Nicht Mister … der …« »Bitte noch einmal«, sagte Ted. »Er ist nicht Mr. König. Er ist der König. Le Roi!« »Scherz beiseite!« sagte Ted. »Er ist sehr demokratisch«, sagte Onkel Charlie. »Ich habe das letzte Mal für die Demokraten gestimmt«, sagte Ted. »Mein Alter … eh … mein Vater würde mich totschlagen, wenn er es erführe. Er ist ein Taftianer.« Zum ersten Mal tat nun König Pippin den Mund auf. »Sagen Sie mir ungeniert, wenn ich mich irre. Ich meine, ich hätte gehört, Monsieur Taft sei gestorben.« »Das ist meinem Vater ganz egal«, sagte Ted. »Gestatten Sie, daß ich das nur genauer feststelle: was für eine Art König sind Sie?« 97
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen«, sagte Pippin. »Tja, ich meine … eh … nun, meinen Vater nennt man den Eierkönig, und Benny Goodman ist der Swingkönig … so, eben.« »Sie kennen Benny Goodman?« rief Pippin aus. »Nun, nicht eigentlich … Ich saß einmal so nahe bei seiner Klarinette, daß mein Ohr ganz vollgespritzt wurde.« »Welche Freude!« sagte der König. »Ich besitze die Platte von der Carnegie Hall.« »Ich neige mehr zum modernsten Stil«, sagte Ted. »In gewisser Hinsicht haben Sie wohl recht«, sagte Pippin. »Da gibt es schöne, schöpferische Musik. Doch Sie geben wohl zu, Monsieur Ei, daß Goodman, nun, daß er klassisch ist, zumindest, wenn er sich auf die Schallplatte begibt.« »Sie sprechen wie ein Fachmann, Monsieur.« »Ich bin seit einer Reihe von Jahren auf ›Downbeat‹* abonniert«, sagte Pippin. »Ah, daher«, sagte Ted. Onkel Charlie machte sich durch ein Räuspern bemerkbar und sagte: »Vielleicht möchte Monsieur Ted die Gemälde ansehen, von denen ich kürzlich sprach. Sie waren anscheinend während der Besetzungszeit versteckt. Zwei davon werden Boucher zugeschrieben.« »Was soll das heißen: zugeschrieben? Sind sie nicht signiert?« fragte Ted. »Nun, das nicht … aber viele Anzeichen, Farbe, Pinselführung … deuten darauf …« * amerikanische Jazz-Zeitschrift (Anm. d. Übers.)
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»Ich will Ihnen reinen Wein einschenken, Monsieur«, sagte Ted. »Ich hatte sowieso vor, meinem Vater ein Geschenk zu kaufen. Ich möchte nämlich noch etwas länger vom Geschäft wegbleiben, und ich brauche Geld von ihm. Ein wirklich nettes Geschenk dürfte dazu beitragen, daß er die Pille leichter schluckt. Wenn er sich auch nicht hinters Licht führen läßt, er wird schon verstehen, was ich vorhabe, aber er wird sich damit abfinden. Es macht ihm nichts aus, hinters Licht geführt zu werden, wenn er es weiß.« »Diese Bilder …«, fing Onkel Charles wieder an. Doch Ted fiel ihm ins Wort: »Sie sprachen von Boucher. Ich erinnere mich dunkel an ihn aus dem Kunstgeschichtekolleg. Angenommen, ich kaufe einen unsignierten Boucher. Was geschieht dann? Mein Vater zieht einen Sachverständigen zu … Auf Sachverständige ist er versessen. Und angenommen der Boucher ist falsch. Sie sehen, in welche Lage ich dann komme … wenn ich meinen eigenen Vater hineinlege.« »Eine Signatur würde Ihnen dieses Risiko ersparen?« »Es wäre schon besser. Sie müssen verstehen, sicher wäre es auch dann nicht. Mein Vater läßt sich kein X für ein U vormachen.« »Dann müssen wir uns nach etwas anderem umsehen«, sagte Onkel Charlie. »Ich weiß, wo ich einen sehr netten Matisse mit Signatur herbekommen kann. Dann könnte ich Ihnen noch eine sehr feine ›Tête de femme‹ von Rouault verschaffen …« »Ich möchte mir alles ansehen«, sagte Ted. »Aber Bugsy sagt, Sie wüßten nicht recht Bescheid mit den Martinis.« »Ja, sie schmecken anders.« 99
»Lassen Sie sie kalt genug werden? MacKriendler hat einmal zu mir gesagt: ›Der einzige gute Martini ist ein kalter Martini.‹ Kommen Sie, ich mixe Ihnen einen. Auch einen für Sie, Monsieur?« »Danke sehr. Ich möchte mit Ihnen über Ihren Vater sprechen, den König.« »Den Eierkönig?« »Jawohl. Ist er das schon lange?« »Seit der Depression. Damals war er ganz auf dem Hund. Ich war noch nicht auf der Welt.« »Dann kam er mit der Zeit zu seinem Königreich?« »Das kann man wohl sagen, Monsieur. Und in seiner Branche kann ihm keiner das Wasser reichen.« »Ihr Vater herrscht also über ein Fürstentum?« »Nun, es ist eine Aktiengesellschaft … aber das kommt ungefähr auf dasselbe hinaus, wenn man sämtliche Aktien kontrolliert.« »Junger Freund, ich hoffe, Sie besuchen mich bald einmal. Ich möchte mit Ihnen über den Königsberuf sprechen.« »Wo wohnen Sie denn, Monsieur? Bugsy wollte mir das nie sagen. Mir kam vor, sie schäme sich.« »Vielleicht war das der Fall«, sagte Pippin. »Ich wohne im Schloß zu Versailles.« »Heiliger Strohsack! Wenn das mein Vater zu hören kriegt …«
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3. Kapitel Wie um auch zur Feier der Wiederkunft des Königs beizutragen, glitt der Sommer huldvoll über Frankreich hin: warm, doch nicht heiß, kühl, doch nicht kalt. Der Regen setzte erst ein, als die Rebenblüten den Staub gewechselt und ihre Trauben dicht angesetzt hatten, worauf das sanfte Naß das Wachstum anregte. Die Erde spendete Zucker und die warme Luft Würze. Ehe eine einzige Traube reif war, ließ sich ahnen, daß, falls die Natur keinen bösen Streich mehr spielte, ein Jahrgang bevorstand, von dem einst noch die Greise schwärmen würden. Auch der Weizen setzte voll und gelb an. Vom saftigen Gras nahm die Butter einen nie gekannten süßen Geschmack an. Die Trüffel drängten sich im Erdreich. Die Gänse stopften sich munter selber, bis ihre Lebern fast platzten. Die Bauern beklagten sich pflichtgemäß, aber auch ihre Klagen hatten einen vergnügten Beiklang. Aus den überseeischen Ländern strömten Fremde in Scharen herein; jeder Tourist war reich und freigebig, so daß man sogar – unglaublich, aber wahr – Gepäckträger schmunzeln sah. Selbst Taxichauffeure schimpften gutgelaunt, ja man hörte sogar den einen oder andern sagen, daß er dieses Jahr nicht Hungers sterben werde, ein Zuge101
ständnis, auf dessen Verbreitung die Betreffenden allerdings keinen Wert legen dürften. Wie aber war es um die politischen Gruppen bestellt, die nun im Geheimen Rat fest verankert waren? Selbst für sie war eine Zeit des Wohlgefallens angebrochen. Die Christlichen Christen stellten fest, die Kirchen seien voll; die Christlichen Atheisten sahen sie leer. Die Sozialisten gingen fröhlich daran, für Frankreich eine eigene Verfassung zu entwerfen. Die Kommunisten erläuterten einander eifrig eine Veränderung in der Parteilinie, die die Führung in die Hände des Volkes zu legen schien, eine Feinheit, die später ihre Ausdeutung und Ausbeutung finden solle. Übrigens hatte das Führerkollektiv des Kremls der französischen Krone nicht nur gratuliert, sondern ihr auch eine phantastische Anleihe angeboten. In der »Prawda« wies Alexander Krupoff jeden Zweifel entkräftend nach, daß Lenin diese Entwicklung bei den Franzosen vorausgesehen und ihn als einen weiteren Schritt zur endgültigen Sozialisierung gebilligt habe. Diese Erklärung erlegte den französischen Kommunisten die Verpflichtung auf, die Monarchie nicht nur zu dulden, sondern sie in jeder Weise zu unterstützen. Die Liga der Steuerverweigerer entschlief eines sanften Todes, da die amerikanischen und russischen Anleihen die Erhebung von Steuern überhaupt unnötig machten. Einige Pessimisten wandten zwar ein, es werde schon der Tag der Abrechnung kommen, aber sie wurden als Schwarzseher verlacht und in fast der gesamten französischen Presse durch Karikaturen angeprangert. 102
Der Rotary-Club Frankreichs nahm solche Dimensionen an, daß er zahlen- und machtmäßig fast einer Partei gleichkam. Die Hausbesitzer brachten einen Antrag ein, in dem außer staatlichen Subventionen die Aufhebung der Miethöchstpreise verlangt wurde. Die Rechts- und Linkszentristen hegten solches Vertrauen in die Zukunft, daß sie sich nicht scheuten, eine Steigerung der Preise bei gleichzeitiger Senkung der Löhne zu beantragen, ohne daß daraufhin ein Aufruhr erfolgte, was bei vielen Leuten als Beweis dafür galt, daß den Kommunisten tatsächlich die Krallen beschnitten seien. Einer so stabilen Regierung einen Vorschuß nach dem andern leisten zu dürfen, war eine Freude für Amerika. Der Zustrom von amerikanischem Geld trug sehr zur Stärkung der royalistischen Parteien in Portugal, Spanien und Italien bei. England sah finster zu. Zu Versailles war beim Adel ein munterer Streit im Gang über die demnächst zu verleihenden Auszeichnungen und Titel, für die nur viertausend Namen in Vorschlag gebracht waren. Eine Geheimkommission beriet inzwischen Pläne zur Rückgabe des französischen Bodens an seine ursprünglichen und daher zweifellos einzig richtigen Eigentümer. Wie Marie gleich zu Anfang gewarnt hatte, so kam es nun: der König muß dies, der König muß das … Was die Königin durchmachte, das wird niemand je erfahren. Königin sein, das erfordert Mühe und Arbeit, aber das Verständnis dafür wird man einem Mann nie beibringen. Na103
türlich hatte Marie Hofdamen; aber man verlange nur einmal etwas von solch einer Hofdame, dann wird man ja sehen, wo man bleibt. Außerdem war nicht genügend Hofpersonal vorhanden, und das, was vorhanden war, bestand aus Staatsbeamten, die eine Stunde lang Einwände machten, ehe sie einen Staublappen anfaßten, und dann gingen sie zum Mitglied des Geheimen Rats, das ihnen den Posten verschafft hatte, und beschwerten sich. Man stelle sich einmal die riesenhafte alte Mottenkiste von Versailles vor! Wie vermochte ein menschliches Wesen die sauberzuhalten? Die Gänge und Treppen, die Kronleuchter und Wandtäfelungen, die Ecken und Nischen, alle schienen sie den Staub nur so herbeizuziehen. Von Wasserleitung war in dem Gebäude kaum je die Rede gewesen; dafür waren Millionen Röhren für die Springbrunnen und die Fischteiche da. Die Küchen befanden sich meilenweit entfernt von den Wohngemächern, und einem Diener oder einem Dienstmädchen soll man heute einmal zumuten, ein Tablett mit warmen Speisen von der Küche in die königlichen Gemächer zu tragen! Der König konnte doch nicht ständig in einem der Galaspeisesäle Mittag- und Abendessen zu sich nehmen. Wenn das der Fall war, dann hatte er zweihundert Tischgäste, und die königliche Familie mußte mit dem vorliebnehmen, was übrig war. Bei der Zuteilung der königlichen Apanage hatte kein Mensch daran gedacht, der Königin ein Wirtschaftsgeld auszusetzen. So war sie von morgens bis abends auf den Beinen, aber sie kam mit der Haushaltung nicht nach. Die Verschwendung konnte eine gute Französin zum Wahnsinn treiben. 104
Zu all dem kam noch die Adelsgesellschaft, die sich im Schloß herumtrieb. Ihre Verbeugungen, Kratzfüße und wichtigtuerischen Manieren widerten Marie an. Alles stellten sie ihrem Urteil anheim, hörten aber gar nicht auf sie, zumal wenn sie sie bat – und zwar freundlich bat, wohlgemerkt –, doch bitte das Licht abzudrehen, wenn sie aus einem Zimmer gingen, ihre schmutzigen Kleider nicht herumliegen zu lassen und die Badewanne nach dem Gebrauch zu reinigen. Aber das war nicht das ärgste. Sie schenkten nicht einmal ihren Aufforderungen Beachtung, die Möbel nicht zu Feuerholz zu zerkleinern und in die Kamine zu stecken sowie ihr Nachtgeschirr nicht durch das Fenster in den Garten zu entleeren. Hörte denn der König auf sie? Ein schöner König! Er schwebte in den Wolken, schlimmer noch als in der Zeit, da er sich als Astronom aufgespielt hatte. An Clotilde hatte sie auch keine Stütze. Die war verliebt, aber nicht verliebt wie ein wohlerzogenes französisches Mädchen, sondern so verschlampt wie eine amerikanische Studentin an der Sorbonne. Sie war so hochtrabend oder so gedankenlos geworden, daß sie nicht einmal mehr ihr Bett machte oder ihr Unterzeug wusch. Das allerschlimmste aber war, daß Marie keinen Menschen hatte, mit dem sie sich aussprechen, mit dem sie schwatzen, bei dem sie sich beklagen konnte. Ohne Zweifel braucht jede Frau ab und zu eine andere Frau als Ventil für all den Druck, der auf der weiblichen Seele lastet. Das, womit sich der Mann austobt: das Töten von kleinen oder großen Tieren, das gewissermaßen stellvertretende Erlebnis des Menschenmords auf dem Fau105
teuil am Boxring – derlei kommt für die Frau nicht in Frage. Die Flucht ins geheimnisvolle Reich des Abstrakten ist ihr versagt. Kirche und Beichtstuhl können zur Lösung von Spannungen stark beitragen, aber auch das ist mitunter nicht ausreichend. Marie bedurfte der Zuflucht zu einer Geschlechtsgenossin. Ihr gesunder Menschenverstand behütete sie davor, sich mit den Hofdamen und dem unerträglichen Schwarm der übrigen Adelsdamen einzulassen. Sie scheute aber auch zurück vor den alten Freunden aus den früheren Tagen in der Avenue de Marigny, da diese unweigerlich versucht hätten, ihre Freundschaft mit der Königin und ihren vermeintlichen Einfluß im Interesse ihrer Ehemänner auszunutzen. Da fiel der Königin Marie wieder ihre alte Jugend- und Schulfreundin Suzanne Lescault ein. * Schwester Hyacinthe war zur ständigen Begleiterin der Königin wie geschaffen. Ihr Orden war imstande, eine Regel so auszulegen, daß die Nonne, in Anbetracht gewisser Vorteile, die sich daraus für das Kloster ergeben konnten, sowie der natürlichen Genugtuung, die teure Fürstin in guten Händen zu wissen, entlassen werden konnte. Schwester Hyacinthe übersiedelte also nach Versailles, wo sie in einem hübschen Kämmerlein untergebracht wurde, von dem aus man auf Taxushecken und einen Karpfenteich sehen konnte und das sich nur ein paar Schritte weit von den königlichen Gemächern befand. 106
Es wird wohl nie genau bekannt werden, wieviel Schwester Hyacinthe zum Frieden und zur Sicherheit Frankreichs beitrug. Zum Beispiel: Die Königin trat ein, machte fest die Tür zu, stemmte die Fäuste in die Hüften und sagte nach einigen so heftigen Atemstößen, daß ihre Nasenflügel weiß wurden: »Suzanne, ich lasse mir das nicht mehr gefallen von dieser dreckigen Herzogin von P …, diesem unverschämten, unerträglichen Weibsstück. Weißt du, was sie zu mir gesagt hat?« »Immer sanft, Marie«, sagte Schwester Hyacinthe. »Nur immer sanft, meine Liebe.« »Was soll das heißen: sanft? Ich brauche mir das nicht gefallen zu lassen …« »Selbstverständlich nicht, meine Liebe. Gib mir bitte eine Zigarette.« »Was soll ich denn tun?« rief die Königin. Schwester Hyacinthe klemmte die Zigarette in eine Haarnadel, um keine Tabakflecken auf die Finger zu bekommen, und blies den Rauch durch ihre wie zum Pfeifen gespitzten Lippen. »Frage die Herzogin einmal, ob sie noch etwas von Gogi gehört hat.« »Von wem?« »Von Gogi«, sagte Schwester Hyacinthe. »Das war ein berühmter Drahtseilkünstler; wirklich ein sehr schöner Mensch, aber leider nervös. Wie viele Artisten.« »Aha!« machte Königin Marie. »Ich verstehe. Das tue ich. Dann wollen wir doch mal sehen, was sie für eine Miene auf ihrem gespannten Gesicht macht.« »Du spielst auf die Narben an? Nein, meine Gute. Ihre 107
Gesichtshaut ist nicht gespannt, sondern sozusagen das Gegenteil. Gogi war sehr nervös.« Mit leuchtenden Augen stürzte die Königin zur Tür hinaus, und während sie zwischen den bemalten Wänden der langen Gänge hineilte, murmelte sie: »Meine liebe Herzogin … haben Sie mal wieder von Gogi gehört?« Oder ein anderes Beispiel: »Suzanne, der König macht Schwierigkeiten wegen der Maitressengeschichte. Der Geheime Kabinettsrat hat sich deswegen an mich gewandt. Meinst du, du könntest einmal mit dem König darüber sprechen?« »Ich habe die richtige Maitresse für ihn«, sagte Schwester Hyacinthe. »Eine Großnichte unserer Oberin … eine ruhige, wohlerzogene Person, ein bißchen untersetzt; aber, Marie, sie macht wunderbare Handarbeiten. Sie könnte dir sehr nützlich sein.« »Er wird sie nicht ansehen; ja nicht einmal etwas davon hören wollen.« »Er braucht sie nicht anzusehen«, sagte Schwester Hyacinthe. »Es ist wohl sogar besser, wenn er das nicht tut.« Drittes Beispiel: »Ich weiß nicht, was ich mit Clotilde anfangen soll. Sie ist schlampig und faul. Sie läßt ihre Kleider herumliegen. Immer ist sie zerstreut und nur mit sich beschäftigt.« »So was kommt bei uns im Orden auch manchmal vor, meine Liebe; besonders wenn junge Mädchen andere Regungen mit den religiösen durcheinanderbringen.« »Und was tut ihr da?« »Man tritt ruhig zu ihr hin und haut ihr eine herunter.« »Nützt das etwas?« 108
»Sie paßt dann jedenfalls auf«, sagte Schwester Hyacinthe. Die Königin bedauerte es nicht, ihre alte Freundin zu sich berufen zu haben. Und die aufsässige Adelsclique im Schloß wurde sich mit Unruhe einer geheimen Kraft, einer ehernen Macht bewußt, der man weder mit Nichtbeachtung noch mit Verspottung beikommen konnte. Zu ihrem Geburtstag beschenkte Marie Schwester Hyacinthe mit täglicher Fußmassage durch den besten Fachmann von Paris. Sie ließ eine große spanische Wand anfertigen mit zwei Löchern am unteren Rand, durch die Schwester Hyacinthe die Füße bis zu den Knöcheln vorstrecken konnte. »Ich wüßte nicht, was ich ohne sie anfangen sollte«, sagte die Königin. »Wie?« sagte der König. * Pippin war längere Zeit sehr niedergeschlagen. Von Staunen und Angst erfüllt, grübelte er: »Ich bin der König, aber ich weiß nicht einmal, was ein König ist.« Er las die Geschichte seiner Ahnen nach. »Aber die wollten auch Könige sein«, sagte er sich. »Bei den meisten von ihnen wenigstens war es der Fall. Manche wollten sogar mehr werden. Wenn ich nur die Empfindung einer Mission, eines göttlichen Zwecks erlangen könnte.« Er besuchte wieder den Onkel. Er fragte ihn: »Stimmt das, was ich mir einbilde: daß du froh wärst, nicht mit mir verwandt zu sein?« »Du nimmst es zu schwer«, sagte Onkel Charlie. 109
»Das ist leicht gesagt.« »Ich weiß. Verzeih, daß ich es gesagt habe. Ich bin dein getreuer Untertan.« »Nehmen wir an, es bricht ein Aufruhr aus?« »Willst du die Wahrheit hören oder einen Treuschwur?« »Ich weiß nicht … wohl beides.« »Ich will damit nicht hinterm Berge halten«, sagte Onkel Charlie, »daß meine Stellung als dein Onkel mein Geschäft gefördert hat. Ich habe gut zu tun, besonders mit den Touristen.« »Dann ist deine Treue mit deinem Nutzen verknüpft. Würdest du mir die Treue aufkündigen, wenn du Verluste erlittest?« Onkel Charlie begab sich hinter die spanische Wand und holte eine Flasche Cognac. »Mit Wasser?« fragte er. »Ist der Cognac gut?« »Ich rate zu Wasser … So. Nun, du willst Steinblöcke umdrehen und Käfer darunter finden. Man gibt sich immer der Hoffnung auf Tugend hin … geradezu bis zu dem Punkt, daß man ihr frönt. Ich hoffe, daß ich bis zum Tode zu dir halten werde. Ich hoffe aber auch, daß ich soviel Urteilsvermögen aufbringen würde, mich der Opposition anzuschließen, kurz bevor es allgemein den Anschein bekommt, daß sie die Oberhand gewinnt.« »Du bist sehr ehrlich, lieber Onkel.« »Kannst du mir mitteilen, was dich eigentlich beunruhigt?« Pippin nahm einen Zug von dem mit Wasser gemischten Cognac. Dann sagte er unsicher: 110
»Die Funktion eines Königs ist, zu herrschen. Um zu herrschen, muß man Macht haben. Um Macht zu haben, muß man sich Macht nehmen …« »Nur weiter, mein Sohn.« »Die Leute, die mir die Krone aufnötigten, waren nicht gewillt, etwas herzugeben.« »Aha, du hast schon etwas gelernt, wie ich sehe. Du wirst das, was diejenigen, die Angst vor der Realität haben, einen Zyniker nennen. Du kommst dir vor wie ein Rad, das sich nicht dreht, eine Pflanze, die nicht blüht.« »Ungefähr. Ein König ohne Macht ist ein Widerspruch in sich selbst, und ein König mit Macht ist ein Greuel.« »Entschuldige mich«, sagte Onkel Charlie. »Mäuse gehen an den Speck.« Er ging nach vorne in den Laden. »Ja?« hörte Pippin ihn sagen. »Es ist wunderschön. Wenn ich Ihnen sagte, wer es, wie ich vermute, gemalt hat … Nein. Ich muß sagen, ich weiß es nicht. Beachten Sie den Strich hier, die schwebende Komposition … das Sujet, das Kostüm … Ach, das? Nichts von Bedeutung. Ist mit einem ganzen Haufen Mist aus dem Keller eines Châteaus gekommen. Ich habe es noch nicht näher angesehen. Ja, kaufen könnten Sie es schon, aber ob das klug wäre … Ich müßte dafür zweimal hunderttausend Franc verlangen; soviel würde mich die Reinigung und die Expertise kosten. Überlegen Sie sich’s noch einmal! Da, da ist, zum Beispiel, ein über absolut jeden Zweifel erhabener Rouault …« Ein paar Augenblicke war nur leises Gemurmel zu vernehmen; dann wieder Onkel Charlies Stimme: »Lassen Sie mich es einmal abstauben; ich sagte Ihnen ja, ich habe es noch nicht einmal angesehen.« 111
Kurz darauf kam er, sich die Hände reibend, zu Pippin zurück. »Ich schäme mich deiner«, sagte dieser. Charles Martel ging zu einer Ecke hin, wo ein ganzer Haufen schmutziger ungerahmter Bilder stand. »Ich muß es ersetzen«, sagte er. »Ich tue mein Bestes, um die Leute zu entmutigen. Vielleicht hätte ich ein schlechteres Gewissen, wenn ich nicht wüßte, daß sie sich einbilden, sie legten mich hinein.« Er nahm das verstaubte Bild mit nach vorne. »Ach, nur herein, Clotilde«, sagte er. »Dein Vater ist da.« Dann rief er: »Es ist Clotilde und der Eierprinz.« Die drei kamen durch die rote Sammetportiere herein. »Guten Abend«, sagte Ted. »Er unterrichtet mich in dem Geschäft. Wir wollen in Dallas, Cincinnati und Beverly Hills je eine Galerie aufmachen.« »Er sollte sich schämen«, sagte der König. »Ich versuche ihnen abzuraten, aber die Leute fragen …«, fing Onkel Charlie an, doch der König fiel ihm ins Wort: »Sehr pfiffig. Aber wer bringt sie mit List dazu, daß sie fragen?« »Das scheint mir nicht recht fair«, sagte Ted. »Die erste Aufgabe des Geschäftsmanns ist, die Nachfrage zu schaffen, und die zweite, sie zu erfüllen. Denken Sie an all die Dinge, die nie hergestellt würden, wenn man den Leuten nicht eingeredet hätte, sie brauchten sie … Arzneien, kosmetische, desinfizierende Mittel. Können Sie sagen, das Automobil sei überflüssig, und die Leute, die eines kaufen, stürzten sich in Schulden für ein unnötiges Verkehrsmittel? Selbst wenn diese Leute wissen, daß dem so 112
ist, können Sie ihnen das nicht erzählen, wenn sie nun einmal Autos wollen.« »Irgendwo muß die Grenze gezogen werden«, sagte Pippin. »Hat Ihnen mein vornehmer Onkel erzählt, warum die Mona Lisa gestohlen wurde?« »Nun halt mal, lieber Neffe!« Pippin rief: »Gewöhnlich fängt er so an: ›Ich kann keine Namen nennen, ich habe jedoch gehört‹ … Er hat gehört! So was!« »Ich habe das nie begriffen«, sagte Ted. »Die Mona Lisa wurde aus dem Louvre gestohlen. Das stimmt doch? Und nach einem Jahr wurde sie zurückgebracht. Meinen Sie, das zurückgebrachte Bild sei eine Fälschung gewesen?« »Kein Gedanke!« sagte der König. »Das Bild im Louvre ist echt.« »Müssen wir denn über Geschäfte sprechen?« schmollte Clotilde. »Einen Augenblick, Bugsy, ich möchte das hören.« »Fang nur an, lieber Onkel«, sagte der König. »Das ist deine Geschichte. Das ist …« »Ich kann nicht sagen, daß ich die Sache guthieß«, meinte Charles Martel, »übrigens keinem anständigen Menschen geschah ein Leid dabei.« »Ach, erzähle es ihm endlich«, sagte Clotilde ungeduldig. »Nun, ich kann keine Namen nennen, aber ich habe gehört, damals, während die Mona Lisa … verschwunden war, daß deren acht – acht Mona Lisas! – von reichen Leuten gekauft wurden.« »Wo?« 113
»Wo immer es reiche Leute gibt: in Brasilien, Argentinien, in Texas, in New York, in Hollywood …« »Aber warum wurde das Original zurückgebracht?« »Nun, wenn das Bild wieder da war, wurde nicht mehr gefahndet nach dem … eh … dem Dieb.« »Aha!« machte Ted. »Aber was taten die Leute, die die Fälschungen erworben hatten?« »Wenn man ein gestohlenes Meisterwerk erwirbt«, erklärte Onkel Charlie schlicht, »dann begeht man ein Verbrechen. Man muß seinen Schatz verbergen; aber es scheint trotzdem Leute zu geben, die dazu fähig sind. Wenn solche Leute nach der Erwerbung des Stückes merken, daß es eine, sagen wir mal: Kopie ist, selbst dann sind sie kaum geneigt, darüber zu sprechen. Es gibt reiche Leute, habe ich mir sagen lassen, die aus freien Stücken eine unehrliche Handlung begehen. Aber ohne Zweifel gibt es keine, die aus freien Stücken zugeben, daß sie Esel sind.« Ted lachte auf. »Wenn sie ehrliche Leute gewesen wären …« »Eben«, sagte Onkel Charlie. »Aber warum ist der König gegen sie?« »Aus Feinfühligkeit.« Ted sah den König an. Dieser sagte: »Meines Erachtens sind alle Menschen ehrlich, solange sie uninteressiert sind; die meisten aber sind verwundbar, wo ihr Interesse ins Spiel kommt. Ich glaube, daß einige wenige Menschen trotz ihres Interesses ehrlich sind. Mir scheint es verwerflich, die schwachen Stellen der Menschen aufzuspüren und auszubeuten.« 114
»Werden Sie da nicht in Ihrer Eigenschaft als König allerhand Schwierigkeiten haben, Monsieur?« fragte Ted. »Hat er schon«, sagte Clotilde bitteren Tones. »Er will nicht nur selbst über allem stehen, über allen menschlichen Schwächen, sondern verlangt das auch von seiner Familie. Alle sollen anständig sein … aber die Menschen sind nun einmal nicht anständig.« »Schluß damit, Mademoiselle!« herrschte Pippin sie an. »Ich dulde nicht, daß Sie dergleichen äußern. Die Menschen sind anständig … solange man sie anständig sein läßt. Im Grunde wollen sie alle anständig sein. Deshalb erbost es mich so, wenn man ihnen die Anständigkeit schwer oder gar unmöglich macht.« Rachsüchtig sagte Onkel Charlie: »Bevor die beiden kamen, sprachst du gerade über Macht. Dabei sagtest du, wenn mir recht ist, ein König ohne Macht sei ein Schwächling. Wenn dem so ist, mein lieber Neffe, was hältst du dann von der Behauptung, daß Macht korrumpiert und absolute Macht absolut korrumpiert?« »Macht korrumpiert nicht«, entgegnete der König. »Nur Angst korrumpiert, vielleicht die Angst vor einem Machtverlust.« »Aber ruft Macht nicht bei andern Menschen einen Trieb hervor, der bei dem Träger der Macht Angst erwekken muß? Kann Macht bestehen ohne die innerste Angst, die Korrumpierung erzeugt? Kann man das eine ohne das andere haben?« »Ach, du meine Güte!« sagte Pippin. »Ich wollte, ich wüßte das.« Doch Onkel Charlie bohrte weiter: 115
»Wenn du dir Macht anmaßen würdest, meinst du nicht, daß dann die gleichen Leute, die dich zum König gemacht haben, sich gegen dich wenden würden?« »Und du«, rief Pippin, die Arme in die Luft werfend, »und du hast zu mir gesagt, ich solle mir’s leichtmachen. Für dich sind diese Dinge nur Gedanken. Aber für mich … ich muß sie essen und mich in sie kleiden, ich atme sie ein und träume von ihnen. Für mich ist das keine Gehirnspielerei, Onkel Charlie. Es ist eine Qual.« »Mein armer Sohn«, sagte Onkel Charlie. »Ich wollte dir nicht weh tun. Warte, ich hole eine andere Flasche. Von der kannst du ohne Wasser trinken.« Ted, der den König beobachtete, während dieser den Cognac zu sich nahm, merkte, wie er wieder frische Farben bekam, seine Hände nicht mehr zitterten und sich seine Muskeln, von dem weichen Sammetsessel umfangen, entspannten. »Danke«, sagte Pippin zu Onkel Charlie. »Das ist ein ausgezeichneter Cognac.« »Kunststück! Er liegt hier seit dem Wiener Kongreß. Willst du noch einen Schluck? Beachte bitte, daß ich den Bürgerlichen da keinen angeboten habe.« Ted nahm jetzt Clotildes Hand, die in ihrem Schoß gelegen hatte, in seine beiden Hände. Dann fing er unsicher an: »Mich bedrückt etwas. Sie wissen, Monsieur, daß ich mit Ihrer Tochter … befreundet bin. Ich habe sie gern. Unter normalen Umständen würde ich mich einen Dre… ich meine, ich würde einfach tun, was ich wollte … aber, sehn Sie, ich habe Sie auch gern, und nun, da wollte ich … eh … Sie … fragen …« 116
Ihm zulächelnd, unterbrach Pippin: »Ich danke Ihnen. Eines der schmerzlichsten Momente im Dasein eines Königs ist es, daß sich niemand leisten darf, den König gern zu haben, und der König nicht wagen darf, jemand gern zu haben. Sie sind bedrückt, weil Clotilde königliche Prinzessin ist, nicht wahr?« »Nun ja, und Sie wissen ja, was für Unannehmlichkeiten jene beiden in England hatten. Ich möchte ihr nicht weh tun, und … eh … nun … ich möchte nicht weh getan bekommen.« »Teddy, willst du dich aus dem Staub machen?« warf Clotilde erbost ein. »Ich verstehe nicht. Was soll das heißen?« meinte Pippin. »Ob er sich zum Abschiednehmen vorbereitet«, erläuterte Onkel Charlie. »Ist das der Fall?« fragte der König freundlich. »Das weiß ich eben nicht. Was ich Sie fragen wollte, ist folgendes: Ich habe mal ein bißchen nachgelesen. Die französischen Könige haben stets das Salische Gesetz beobachtet, nicht wahr? Und das Gesetz besagt, daß Frauen kein Erbfolgerecht haben. Das stimmt doch auch, nicht wahr? Nun, deshalb ist es doch wohl für den Staat nicht so wichtig, wen diese oder jene hochadlige Dame heiratet? Nicht wahr?« Pippin nickte zustimmend und sagte: »Sie haben richtig gelesen. Es stimmt alles genau. Sie sind nur im Irrtum über einen Punkt, der nichts mit dem Salischen Gesetz zu tun hat: Frauen aus großen Häusern wurden stets als Magneten für andere große Häuser be117
nutzt, um deren Land- und sonstigen Besitz sowie ihre Titel anzuziehen.« »Sozusagen als Katalysatoren für Fusionen«, meinte Ted. Onkel Charlie mischte sich ein: »Das sogenannte Salische Gesetz ist kein Gesetz, sondern nur ein von den Germanen bei uns eingeführter Brauch. Lassen Sie sich davon nicht irremachen.« »Lieber Onkel«, sagte Pippin, »nach deiner Definition waren unsere Ahnen ebenfalls Germanen … Héristal ist ein germanisches Wort, Arnulf ebenfalls.« Wieder zu Ted aber sagte er: »Junger Freund, welche Beschlüsse hinsichtlich der Erbfolge getroffen werden, weiß ich nicht. Clotilde ist mein einziges Kind. Ich bin nicht geneigt, mich scheiden zu lassen, um einen Erben zu bekommen, und meine Frau ist über … Nun, Sie verstehen. Es ist durchaus möglich, daß der von der öffentlichen Meinung ausgeübte Druck Clotilde zwingt, sich zur Stammutter eines neuen Königsgeschlechts herzugeben. Ein Brauch, zumal ein sinnlos gewordener, ist in der Regel mächtiger als ein Gesetz. Würden Sie sich dazu verstehen können, noch ein wenig zuzuwarten … mit dem Staub?« »Sie meinen, ich solle noch eine Zeitlang hierbleiben?« »Jawohl«, sagte der König. »Sehn Sie, hübsche junge Hocharistokratinnen hatten und haben noch eine andere Funktion: Geld in die Familie zu bringen.« »Sollten Sie dabei an Petaluma denken, dann schlagen Sie sich das aus dem Kopf«, sagte Ted. »Wie ich meinen Vater kenne, hat er alles schon längst auf Treuhänderschaft festgelegt.« 118
»Aber bedenken Sie«, meinte Onkel Charlie, »daß er im Ruf steht, viel Geld zu besitzen, macht Sie zu einem nicht unerwünschten Bewerber. Was die Franzosen am wenigsten vertragen, ist, als Dummköpfe zu gelten. Aber einen reichen Mann zu heiraten, gleichviel mit welchen Nachteilen das verbunden ist, hat in Frankreich noch nie als dumm gegolten.« »Ich sehe, Sie treten für mich ein. Ich danke Ihnen. Das macht mich zu etwas wie einem Familienangehörigen … für eine Zeitlang zumindest. Deshalb habe ich vor allen Dingen gefragt. Ich weiß, Sie sind der König und sind älter als ich, aber Sie haben noch keine große Erfahrung im Königsein. Sie haben da eine großartige Sache an der Hand, aber sie kann platzen und Ihnen schwer ins Auge gehen, wenn Sie Ihre Karte nicht richtig spielen.« »Das ist früher schon vorgekommen«, sagte Pippin. »Es ist noch gar nicht so lange her.« »Darüber würde ich gern einmal mit Ihnen sprechen, Monsieur, wo ich jetzt doch sozusagen Familienangehörigkeitslehrling bin.« Clotilde schrie auf: »Dummes Zeug! Politik! Du bist ein Schlappschwanz!« Ted lachte auf und sagte: »Vielleicht hat sie recht. Es heißt, wir Amerikaner sprechen von Erotik im Büro und vom Geschäft im Schlafzimmer. Ich gehe jetzt mit ihr auf den Bummel. Aber ich möchte mit Ihnen gelegentlich noch sprechen.« »Es wird mich freuen«, sagte Pippin. »Wollen Sie nach Versailles kommen?« »Ich war schon einmal draußen«, sagte Ted. »Da wim119
melt’s von Schmarotzern. Wissen Sie was: Kommen Sie doch in mein Appartement im ›George V.‹.« »Einer der Nachteile meines Berufs«, sagte der König, »ist, daß ich nicht hingehen kann, wohin ich will. Da müßte die Direktion benachrichtigt werden, im stillen auch die Geheimpolizei und die Presse. Ihr Appartement würde durchsucht, und auf die Dächer in der ganzen Umgegend würden Wachen postiert werden. Fürst zu sein ist kein Spaß.« »Im ›George V.‹ ist das alles nicht notwendig«, sagte Ted. »Seit Jahren war dort kein Franzose mehr. Außerdem wohnen Ava Gardner und Ihre Durchlaucht Grace Kelly dort. Kein Mensch wird Ihretwegen auch nur eine Miene verziehen. Das ist der stillste und ausgefallenste Ort in ganz Frankreich für einen französischen König.« »Vielleicht stimmt das«, sagte Pippin. »Ich hatte übrigens schon daran gedacht, mich zu verkleiden.« »Um Gottes willen«, sagte Onkel Charlie. »Das liegt dir überhaupt nicht. Du hast keinerlei Talent zum Schauspieler.« * Die Königin rückte ihren Stuhl nahe an die Chaiselongue heran, auf der Schwester Hyacinthe in fromme Betrachtung versunken saß. »Ich habe dir immer gesagt, daß Pippin zerstreut sei«, sagte sie. »Mit seinem Fernrohr war es schon schlimm, aber es ist jetzt noch schlimmer. Die Hände auf dem Rükken verschränkt, läuft er auf und ab und murmelt vor sich 120
hin. Wenn ich ihn anspreche, hört er nichts. Er ist jammervoll unglücklich. Er hat etwas auf dem Herzen. Ich wollte, du würdest mit ihm reden, Suzanne. Du hast es immer gut mit den Männern verstanden … heißt es.« »So heißt es«, bemerkte Schwester Hyacinthe. »Aber vielleicht doch nicht gut genug. Was soll ich ihm sagen?« »Versuche herauszubekommen, was ihn bedrückt.« »Vielleicht nur das Königsein.« »Unsinn«, sagte Marie. »Jeder möchte König sein.« Marie geleitete ihren Gatten zu Schwester Hyacinthes Kämmerlein. »Das ist meine alte Freundin«, sagte sie zu ihm, und dann gewandt: »Ach, ich habe etwas vergessen. Entschuldigt mich einen Augenblick.« Und sie ging fort. Der König warf einen flüchtigen Blick auf die Nonne. »Nehmen Sie Platz, Sire.« »Ich habe es mit den Pflichten gegen die Kirche nicht immer sehr genau genommen«, sagte er, »seit meiner Kinderzeit.« »Das war auch bei mir so, kann man sagen. Ich war zwanzig Jahre lang auf der Revuebühne.« »Ja, Sie kamen mir auch bekannt vor.« »In dieser Tracht? Ich fühle mich geschmeichelt, M’sieur. Sehr wenige Leute haben je mein Gesicht beachtet.« Er versuchte, den Galanten zu spielen. »Dann müssen die unglaublichen Reize …« »Unter dieser Tracht? Danke. Ich bin mit Madame zur Schule gegangen. Sie haben von ihr wohl über mich unter dem Namen Mademoiselle Lescault gehört. Meinen Beruf wird sie wohl kaum erwähnt haben. Marie gehört zu den glücklichen Menschen, für die Dinge, die sie nicht 121
gutheißen, einfach nicht existieren. Ich beneide sie um die Gabe.« »Meine Frau zeichnet sich in mancher Hinsicht aus, aber nicht gerade durch Ränkeschmieden. Zwar weiß ich sehr oft nicht, was sie vorhat, aber ich merke es stets, wenn sie etwas vorhat.« Suzanne legte den Kopf in den Nacken und schloß die Augen. »Sie möchten wissen, warum sie Sie hergebracht und hier allein gelassen hat.« »Das wird es sein, was ich wissen möchte.« »Sie meint, es sei Ihnen nicht wohl in Ihrer Haut, Sie seien voller Unruhe.« »Es war mir oft nicht wohl in meiner Haut, und in Unruhe war ich fast immer. Bisher hat sie das nicht sehr gestört. Sie ging dem Übel mit Saucen und köstlichen Desserts zuleibe.« »Ja, das ist das gute alte Hausmittel. Hoffentlich hat es Sie kuriert oder haben Sie es wenigstens gesagt.« »Hoffentlich habe ich mir Mühe gegeben, Schwester.« »Sie sind liebenswürdig, M’sieur. Können Sie mir sagen, warum Sie sich jetzt nicht wohl fühlen? Etwas, was ich für Marie zurechtstutzen kann? Sie macht sich Sorgen um Sie.« »Ich wäre Ihnen gern behilflich, wenn ich könnte«, sagte der König. »Viele der einzelnen Ursachen kenne ich selbst nicht. Ich habe nicht verlangt, König zu werden. Ich wurde wie eine Beere vom Busch gepflückt und auf einen Platz gestellt, wo schon soundso viele gestanden haben, und so ziemlich alle dieser Präzedenzfälle sind schlecht ausgegangen.« 122
»Können Sie nicht, wie eine Beere, einfach alles geschehen lassen, was geschieht?« »Nein«, sagte der König, »es ist nun einmal die unglückliche Veranlagung des Menschen, daß er etwas gut ausführen will, selbst etwas, woran ihm überhaupt nichts liegt. Sie werden es nicht glauben, Schwester, aber einstmals hatte ich den Wunsch, gut zu tanzen. Es war lachhaft.« »Sie haben Angst, daß Sie Fehler machen?« »Liebe Schwester, der Weg ist gepflastert mit Fehlern. Selbst die besten Könige haben versagt.« »Sie tun mir leid.« »Ach, Sie brauchen mich nicht zu bedauern. Mein Onkel hat mir gesagt, es stehe mir frei, mir die Pulsadern aufzuschneiden. Ich habe davon keinen Gebrauch gemacht.« »Es hat Könige gegeben«, meinte Schwester Hyacinthe, »die die ganzen Staatsgeschäfte andern Händen überließen, einem Ministerium, einem Staatsrat, einer Mannschaft, und selbst nur ihrem Vergnügen nachgingen.« »Nun, das geschah wohl erst, nachdem sie aufgegeben hatten. Ein König steht unter einem starken Zwang, sich als König zu bewähren. Der Zweck eines Königs ist zu herrschen, und der Zweck des Herrschens ist, die Wohlfahrt des Reiches zu erhöhen.« »Das ist eine Falle«, sagte Schwester Hyacinthe, »wie jede andere Tugend auch – eine Falle. Wo Tugend mit im Spiel ist, hält es sehr schwer, sich selbst die Wahrheit einzugestehen, M’sieur. Es gibt zwei Arten von Tugend. Die eine ist leidenschaftlicher Ehrgeiz und die andere weiter nichts als der Wunsch nach der Ruhe, die daraus entsteht, daß man alle andern in Ruhe läßt.« 123
»Sie sind gedankenreich«, sagte der König, und sie merkte an dem Leuchten seiner Augen, daß sie ihn fesselte. »Auch ich habe mich diesem Problem gegenübergesehen«, sagte sie. »Als ich den Schleier nahm, nachdem ich zwanzig Jahre lang – einsamen Männern, wie ich hoffe, schöne Träume vorgaukelnd – nackt auf der Bühne gestanden hatte, wäre es sehr leicht gewesen, eine fromme Eingebung geltend zu machen …, ich könnte Ihnen alle entsprechenden Redensarten aufsagen. Ich wußte jedoch, daß es einfach Müdigkeit war.« »Sie sind ehrlich.« »Ich weiß nicht. Nachdem ich zugegeben hatte, daß mein Beweggrund weniger als rein war, fand ich in mir gütige, verständnisvolle Züge, an denen selbst ich keine Fehler finden kann – Nebenprodukte der angeborenen Faulheit – und so brauchte ich mir keine Sorge um Tugend zu machen, nachdem mir einmal die Last von den Füßen genommen war.« »Und wie ist es mit dem Ritual … dem Hersagen von magischen religiösen Formeln?« »Nach kurzer Zeit macht das nicht mehr Mühe als Atmen. Es ist leichter zu tun als zu unterlassen.« Der König stand auf, kratzte sich die Ellbogen, ging um seinen Sessel herum, setzte sich wieder hin. »Es ist immerhin ein großer Sprung von der Sünderin zur – Heiligen«, sagte er. Schwester Hyacinthe lachte auf. »Die Sünde im eigenen Innern zu erkennen, ist schwer«, sagte sie. »Bei andern läßt sie sich leicht unterscheiden, aber in uns selbst gibt sie sich immer als durch Notwendigkeit oder gute Ab124
sichten bedingt. Aber bitte, erzählen Sie das Marie nicht wieder …« »Verzeihung? … Ach so! Ich glaube nicht, daß mir das einfallen würde.« »Marie ist eine Ehefrau … da ist es etwas anderes.« »Sie ist sehr gütig zu mir«, sagte der König. Schwester Hyacinthe warf ihm einen erstaunten Blick zu. »Ich hoffe, das war nur eine höfliche Redensart, nicht die Wahrheit«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wie Sie das meinen.« »Bei Frauen gibt es keine Güte«, sagte die Nonne. »Es gibt Liebe, aber das ist etwas Subjektives. Wenn ich je geheiratet hätte, würde ich vielleicht anderer Überzeugung geworden sein.« Sie sah ihn aufmerksam an. »Was ist Ihr schönstes Erlebnis gewesen, Sire?« »Warum …« »Wenn Sie mir das sagen können, dann kann ich Ihnen vielleicht sagen, was Ihnen fehlt und was Sie betrauern.« »Tja, ich nehme an … ich denke, das war, als der Komet in meinem Reflektor auftauchte und ich begriff, daß ich das erste menschliche Wesen sei, der ihn je gesehen hatte. Da … da kam es über mich wie ein Wunder.« »Man durfte Sie nicht zum König machen«, sagte sie. »Ein König wiederholt nur wieder die alten Fehler, und wenn er das von vornherein weiß … ich begreife jetzt, Sire … aber ich kann Ihnen nicht helfen. Sie haben sich die Pulsadern nicht aufgeschnitten; jetzt ist es zu spät dazu.« »Sie gefallen mir, Schwester«, sagte der König. »Wollen Sie mir gestatten, Sie hin und wieder zu besuchen?« 125
»Wenn ich überzeugt wäre, daß Ihre Absichten rein intellektueller Natur sind …« »Aber Schwester …« »… dann müßte ich es mir verbitten«, sagte Schwester Hyacinthe mit einem Lachen, das die Erinnerung an eine Damengarderobe im Theater wachrief. »Sie sind ein braver Mann, Sire, und ein braver Mann zieht die Frauen an wie der Speck die Mäuse.« * Ein Umstand, der den König stark belastete, war, daß er kein Privatleben mehr hatte. Man lief ihm nach, begaffte ihn, umschwänzelte ihn, bewachte ihn. Er dachte schon daran, seine Zuflucht zu Verkleidungen zu nehmen wie Harun al Raschid. Mitunter schloß er sich einfach in seinem Zimmer ein, um den Blicken und Stürmen der ihn umgebenden Menschen zu entgehen. Da machte er auf einmal zufällig eine erfreuliche Entdeckung. Die Königin, die es nötig fand, sein Arbeitszimmer aufräumen zu lassen, schickte ihn einfach weg. Er trug seine an den Ellbogen etwas abgewetzte Hausjoppe aus Manchester, die des Bügeleisens dringend bedürftigen Flanellhosen und seine Espadrilles. Rasch steckte er ein paar Akten in eine Mappe und ging damit in den Park, um dort weiterzuarbeiten. Er saß auf dem Steinrand eines Fischteichs, als ein Gärtner auf ihn zutrat und sagte: »Das Sitzen ist hier nicht gestattet, M’sieur.« Der König stand auf und begab sich in den Schatten ei126
ner großen Freitreppe. Sogleich berührte ein Gendarm seinen Ellbogen. »Die Besuchsstunden sind von zwei bis fünf, M’sieur. Bitte gehen Sie zum Eingang und warten Sie dort auf den Fremdenführer.« Pippin sah ihn offenen Mundes an; dann packte er seine Papiere zusammen und schlenderte zum Eingangstor. Dort bezahlte er das Eintrittsgeld inklusive Führung, kaufte einige Ansichtskarten und beschaute sich mit der Menge die durch Sammetseile abgesperrten Gemächer. Überall im Schloß kam er an Lakaien, Hofherren und Ministern vorbei, aber keiner von ihnen erkannte den Mann in der Manchesterjoppe und den Espadrilles. Selbst die Königin eilte, von der geführten Gruppe angegafft, geschäftig vorbei, ohne ihm Beachtung zu schenken. Hochentzückt trottete er mit den Touristen zum Eingang zurück und bestieg den für diese reservierten Autobus nach Paris. Es war ihm leicht ums Herz. Um die Probe ganz durchzuführen, schlenderte er die Champs-Élysées hinauf; niemand bemerkte ihn. Er setzte sich an einen Tisch im Café »Select«, bestellte einen Pernod mit Wasser und betrachtete die vorbeiströmenden Menschen. Er lauschte auf das Geschwätz der Touristen, und seine Freiheit trug ihn wie auf Schwingen. Mit einem Korrespondenten des Magazins »Life« ließ er sich auf eine leicht antimonarchistische Diskussion ein, die der Amerikaner mit der Bemerkung abschloß: »Es scheint, dem König ist es bisher nicht gelungen, die Kommunisten gänzlich auszurotten.« Pippin lachte sich ins Fäustchen, bat ihn um eine Ziga127
rette und bummelte dann über die Champs-Élysées hinüber, an Fouquets vorbei in die Avenue George V., dann am Hotel »Prince de Galles« vorbei zum Hotel »George V.«. Als er das Vestibül betrat, wurde er von einem Angestellten aufgehalten. »Sie wünschen?« »Ich möchte zu Mr. Ted Johnson.« »Haben Sie etwas abzuliefern? Dann hinterlassen Sie es beim …« »Ich bringe diese Aktentasche hier«, sagte Pippin. »Er hat mich gebeten, sie ihm persönlich auszuhändigen.« »Der Portier …«, fing der Herr wieder an und heftete seine Blicke auf die Espadrilles. »Bitte rufen Sie Mr. Ted Johnson in seinem Appartement an und sagen Sie ihm, Monsieur König bringe seine Aktentasche von Onkel Charlies Galerie.« Ted begrüßte Pippin an der Türe des Appartements, gab dem argwöhnischen Führer ein Trinkgeld und schlug dem König auf die Schulter! »Ja, da soll mich doch gleich der und jener holen«, sagte er. »Großartig, nicht? Ich hatte die größte Mühe, überhaupt eingelassen zu werden«, sagte der König. »Ich habe einen Freund«, sagte Ted, »der immer behauptet, um sich zu verstecken, solle man eine Kellnerstelle in einem guten Restaurant annehmen. Kein Mensch schaut einen Kellner an. Nehmen Sie Platz. Darf ich Ihnen etwas zu trinken geben?« »Ja, einen … eh … wie heißt das doch … einen Mar … Mart …« 128
»Martini?« »Richtig, einen Martini«, sagte der König gutgelaunt. »Wissen Sie, daß mich ein Tourist beinahe wegen Majestätsbeleidigung hätte verhaften lassen?« »Wird man nicht nach Ihnen suchen?« »Hoffentlich«, sagte der König. »Aber hier sucht man mich nicht. Sie sagten doch selbst, Franzosen verirren sich nicht hierher … Nun, junger Freund, der ist besser, als ihn mein Onkel braut.« »Er kann sich nicht zu genug Eis entschließen«, sagte Ted. »Einer meiner Parkwächter hat mich aus meinem eigenen Park hinausgeworfen«, sagte der König selig. »Es ist ja wohl so, daß die Menschen immer nur sehen, was sie zu sehen erwarten. Und sie erwarten nicht, einen hutlosen König mit einer beginnenden Glatze zu sehen. Haben Sie sich das ausgedacht?« »Ach nein. Es war ein Zufall. Marie wollte mein kleines Arbeitszimmer putzen lassen. Und dann ließ mich der Gärtner nicht auf dem Teichrand sitzen.« »Sind Sie gekränkt darüber?« »Gekränkt? Was soll das heißen? Ich war nie glücklicher.« »Nun, ich kenne Stars in Hollywood, die sich hinter blauen Brillen und heruntergezogenen Hutkrempen verstecken. Aber dann ärgern sie sich sehr, wenn niemand sie erkennt. Dann kenne ich den Besitzer der drei größten Magazine Amerikas. Er hat einen wahren Abscheu vor Reklame, aber immer wieder passiert es ihm, daß er fotografiert wird. Oder mein Vater, zum Beispiel …« 129
»Ja«, fiel ihm Pippin ins Wort, »über ihren Vater wollte ich gerade mit Ihnen sprechen.« »Ich hatte heute früh einen langen Brief von ihm. Er sieht es nicht gern, daß ich mit Bugsy, ich meine: mit der Prinzessin, verkehre.« »Er sieht es nicht gern?« »Nein. Er ist ein Snob. Er ist doch ein Selfmademan, und es gibt keine größeren Snobs als Selfmademen. Die blicken zu niemandem auf als zu ihrem Schöpfer. Die zweite Generation kann’s damit schon leichter nehmen … die kann sogar schon wieder demokratisch sein. Der Brief von meinem Vater ist komisch. Er interessiert sich für die hiesigen Zustände. Ich soll Ihnen von ihm ausrichten, es bestünden gute Aussichten für Sie, vorausgesetzt, daß Sie Ihre Karten richtig zu spielen wissen. Aber daran zweifelt er.« »Meinen Sie, er würde vielleicht herkommen, um mich zu beraten?« »Nein, nein!« rief Ted aus. »Er ist doch ein Snob. Vielleicht kommt er später einmal her, um zu kritteln. In der Sache steckt immerhin Geld.« Ted goß dem König frisch ein. »Ich bin hergekommen, um Ihnen ein paar Fragen zu stellen. Stimmt es, daß Ihr Vater zuerst tatsächlich Hühner züchtete?« »Ja, dabei haßt er Hühner wie die Pest.« »Stimmt es auch, daß viele von den Chefs Ihrer größten Betriebe von der Pike auf gearbeitet haben? Mir ist, ich erinnere mich …« »Sicher. Knudsen war Eisengießer. Ich könnte Ihnen 130
noch haufenweise andere nennen. Etwa Charlie Wilson … haufenweise …« »Die verstehen also ihr Geschäft von Grund auf und in allen Sparten …« »Richtig«, sagte Ted. »Aber glauben Sie nur nicht, daß sie das zu Demokraten macht. Gerade im Gegenteil.« »Ich habe Amerika nie verstanden«, sagte der König. »Wir verstehen es ja auch nicht. Man kann sagen, daß wir zwei Regierungen haben, die einander überschneiden. Einmal die aus den Wahlen hervorgegangene Regierung. Sie ist entweder demokratisch oder republikanisch, der Unterschied ist nicht sehr groß; und dann die Regierung der großen Konzerne.« »Kommen die zwei denn miteinander aus?« »Manchmal schon«, sagte Ted. »Ich begreife es selbst nicht. Sehen Sie: Die gewählte Regierung bildet sich ein, demokratisch zu sein, ist aber in Tat und Wahrheit autokratisch. Die Regierungen der Konzerne bilden sich ein, autokratisch zu sein, und werfen den andern dauernd Sozialismus vor. Sie hassen den Sozialismus.« »Davon habe ich schon gehört«, sagte Pippin. »Nun, da liegt die Komik. Nehmen Sie irgendeinen großen Konzern in Amerika, sagen wir: General Motors oder Du Pont oder United Steel. Was die am meisten hassen, ist Sozialismus, und dabei sind sie selbst sozialistische Staatswesen.« Der König schoß in die Höhe. »Wie bitte?« sagte er. »Nun, schauen Sie mal genau hin. Die Konzerne gewähren ihren Angestellten und deren Familien ärztliche Betreuung, Unfall- und Altersversicherung, bezahlte Feri131
en – sogar auf eigenen Ferienplätzen – und sie fangen jetzt schon an, den Lohn fürs ganze Jahr zu garantieren. So gut wie überall können die Arbeiter mitreden, sogar darüber, mit welcher Farbe die Fabrikräume angestrichen werden sollen. Tatsächlich besteht bei ihnen ein Sozialismus, vor dem sich der der UdSSR verkriechen kann. Im Vergleich mit unsern Konzernen wirkt die Regierung in Washington wie eine absolute Monarchie. Wenn die amerikanische Regierung auch nur ein Zehntel dessen tun wollte, was die General Motors machen, dann würden die General Motors einen bewaffneten Aufstand unternehmen. Sie können das paradox nennen, wenn Sie wollen, Monsieur.« Pippin schüttelte den Kopf. Er stand auf, trat zum Fenster und blickte auf die von Bäumen beschattete Avenue George V. hinunter. Schließlich fragte er: »Können Sie mir erklären, warum sie all das tun?« Ted goß nach dem Augenmaß Gin in den großen Schüttelbecher, spritzte ein paar Tropfen Vermouth hinein und rührte die Eiswürfel dauernd in der Mischung um. »Das ist ebenso sonderbar wie vernünftig«, sagte er. »Möchten Sie ein Stückchen Zitronenschale?« »Ja, bitte. Wieso das?« »Sie tun das nicht aus Menschenfreundschaft, sondern nur, weil sie herausgefunden haben, daß sie dadurch mehr Waren erzeugen und verkaufen können. Früher haben sie sich mit ihren Angestellten herumgeschlagen. Das war kostspielig. Auch kranke Arbeiter sind kostspielig. Meinen Sie, mein Vater gibt seinen Hühnern aus Liebe Vitamine, Lebertran und allerhand Mineralien zu fressen und hält 132
sie warm, trocken und vergnügt aus Liebe zu ihnen? Beileibe nicht! Nur weil sie dann mehr Eier legen. Ach, rasch ging das nicht, und es ist auch noch keineswegs ganz soweit; aber ist das nicht seltsam, daß aus dem autokratischsten System der Welt der einzig wirklich funktionierende Sozialismus zu entstehen scheint? Wenn mein Vater mich so reden hörte, würde er mich an den Daumen aufhängen. Er bildet sich ein, daß er die Entscheidungen trifft.« »Und wer tut das, Ted?« »Umstände und Zwangslagen. Wenn er sich nicht den Zwangslagen angepaßt hätte, ginge sein Geschäft nicht.« Er goß den neugemischten Cocktail vorsichtig in die Gläser. »Ich lasse ein Sandwich kommen. Das Zeug bringt einen um, wenn man nichts dazu ißt.« Der König nippte an seinem Glas. »Diese Veränderungen sind nicht leicht vonstatten gegangen?« »Beileibe nicht. Es hat rund ein Jahrhundert gedauert und vieler Kämpfe bedurft; und es wird noch immer darum gekämpft.« Ted lachte leise auf. »Wissen Sie, mir scheint, meinen alten Herrn juckt es, die Finger in die Geschichte hier zu stecken. Sein Brief hat neun Seiten, meistens voll mit Fragen, die ich Ihnen stellen soll. Wenn mein Alter eine Frage stellt, dann will er einem etwas mitteilen.« Träumerisch sagte der König: »Es ist wohl besser, wenn ich erst das Sandwich esse, bevor ich die Fragen höre. Wie kommen Sie aus mit … wie nennen Sie sie doch? … Bugsy?« »Es geht auf und ab. Ich habe sie sehr gern, aber jedes133
mal, wenn sie sich als Prinzessin aufspielt, möchte ich ihr am liebsten einen Tritt in die Kehrseite versetzen.« »Sie ist zu frühreif gewesen«, sagte Pippin. »Als sie achtzehn war, hatte sie schon verschiedene Leben gelebt.« »Eben, das ist es ja. Sie hat keine richtige Jugend gehabt, als sie vierzehn, fünfzehn war, und das schlägt jetzt zurück. Sie springt von einem Extrem ins andere, vom kleinen Backfisch zu Mrs. Astor und umgekehrt.« Mit ein bißchen schwerer Zunge sagte Pippin: »Ich bin im Grunde ein Gelehrter, und Gelehrte sind Beobachter oder sollten es sein. Nun, mein junger Herr, die künstlerische, die schöpferische Seite des Gelehrten frönt der Hypothese. Durch die Beobachtung Clotildes und ihrer Freunde bin ich dazu gelangt, eine Hypothese der Reife aufzustellen.« Er sprach so langsam und abgezirkelt, wie das leicht Angeheiterte tun. »Diese Drinks sind sehr stark«, sagte er. »Also, wie ist das mit Ihrer Reifetheorie?« Pippin hatte die Augen zugemacht, doch jetzt öffneten sie sich um einen Spalt, und er schüttelte den Kopf, als ob er Wasser in den Ohren hätte. »Der menschliche Fötus«, sagte er feierlich, »kommt mit dem Kopf nach unten zur Welt. Aber es trifft nicht zu, daß das Kind nach der Geburt gleich aufrechte Stellung hat. Beobachten Sie die Füße von Kindern und jungen Menschen, wenn sie sich ausruhen. Die Füße liegen dann so gut wie immer höher als der Kopf. So sehr sich das heranwachsende Kind auch bemüht, zumal das Mädchen, es kann die Füße nicht unten halten. Die vom Fötus eingenommene Lage wirkt stark nach. Es dauert achtzehn, ja zwanzig Jahre, bis die Füße endlich den Erdboden als normale Heimstatt annehmen. Und so stelle ich 134
die Hypothese auf, daß man die Reife eines Menschen nach dem Verhältnis seiner Füße zum Erdboden genau beurteilen kann.« Ted sagte lachend: »Ich habe eine Schwester …« Doch der König unterbrach ihn, vom Stuhl aufspringend: »Bitte … ach … bitte … zeigen Sie mir das …« Ted sprang auf und nahm Pippin beim Arm. »Hier, bitte … kommen Sie, ich helfe Ihnen. Passen Sie auf die kleine Stufe da auf.« * Bei Tagesanbruch erwachte der König und fand sich in einem der Doppelbetten eines Hotelzimmers liegen. »Où suis-je?« fragte er kläglich. »Schon gut, König«, sagte Ted vom andern Bett neben ihm. »Wie geht’s Ihnen?« »Wie es mir geht?« fragte Pippin. »Nun … gut geht’s mir, sehr gut.« »Ich habe Sie auch mit Aspirin und Vitamin B vollgestopft«, sagte Ted. »Das verhütet mitunter den Katzenjammer.« »Um Gottes willen«, rief der König auffahrend. »Marie … Die macht die ganze Polizei mobil!« »Nur ruhig Blut!« sagte Ted. »Ich habe Bugsy telefoniert.« »Was haben Sie ihr gesagt?« »Daß Sie einen Schwips haben.« »Ja, aber Marie …?« »Keine Angst! Die Prinzessin hat Ihre Majestät die Kö135
nigin benachrichtigt, daß Eure Majestät eine streng geheime Konferenz mit Dero Ministern haben … über eine Angelegenheit von weltpolitischer Bedeutung.« »Sie sind ein tüchtiger Junge«, sagte der König. »Ich sollte Sie zum Minister ernennen.« »Ich habe schon genug Scherereien«, sagte Ted. »Wissen Sie, was eine ›Bloody Mary‹ ist?« »Nein.« »Ja, der Name mußte in Frankreich geändert werden, da es in der französischen Geschichte keine ›Blutige Maria‹ gibt. Die Bezeichnung klang also ein bißchen lästerlich. Hierzulande nennt man so was ›Marie Blessée‹.« »Verwundete Maria? Ja, was ist denn das?« fragte der König. »Lassen Sie mich nur machen. Das ist ein Elixier, fast so etwas wie eine Bluttransfusion.« Er nahm den Hörer vom Telefonapparat und sprach in die Muschel: »Louis? … Oui … c’est Ted Johnson. Quatre Maries Blessées, s’il vous plaît. Vite. Oui … quatre. Très bien. Merci.« »Sie haben eine scheußliche Aussprache«, sagte der König. »Ich weiß schon.« Aber er schien doch etwas gekränkt; denn er setzte hinzu: »In New York würden Sie wohl auch ein bißchen Schwierigkeiten mit der Sprache haben, König.« »Wieso? Ich spreche doch Englisch.« »Aber die New Yorker nicht«, sagte Ted. Worauf er zur Tür ging, um das Tablett mit den »Blutigen Marien« in Empfang zu nehmen. Gegen neun Uhr hatte sich der König wieder erholt, ja noch etwas mehr als das. »Ich müßte jetzt eigentlich nach Haus gehn«, sagte er. 136
»Nutzen Sie die Gelegenheit aus«, meinte Ted. »Vielleicht kommen Sie nie wieder heraus.« »Hüten Sie sich vor meinem Onkel Charles«, sagte Pippin. »Zeitweise habe ich das Gefühl, er sei nicht ganz …« »Natürlich ist er das nicht … Aber er hat mir bisher noch kein einziges Bild verkauft. Mein Widerstand macht ihm großen Spaß. Er bewundert mich. Nun, fühlen Sie sich wohl genug, einige der Fragen meines Vaters anzuhören?« Seufzend sagte Pippin: »Ich denke schon. Ach, wenn ich doch nur eine Weile nicht mehr an den Thron zu denken brauchte. Ich wäre lieber ein Konzern als ein König. Sind alle Ihre Schlafanzüge aus Seide, junger Freund?« »Nein. Der, den Sie anhaben, dient nur zu gesellschaftlichen Zwecken. Schlafen tue ich in der Unterjacke; die beengt mich nicht. Also, mein Vater sagt, man muß der Sache auf den Grund gehn. Allem muß man auf den Grund gehn, sagt er immer. Was haben Sie zu verkaufen, wer soll es kaufen, und haben Sie das Kapital dazu?« »Zu verkaufen?« »Klar … wir verkaufen Eier, Brathühner und allerhand Zubehör.« »Was hat eine Regierung zu verkaufen? Es ist eine Regierung.« »Klar, das weiß ich auch. Aber sie muß den Leuten etwas zu verkaufen haben, sonst brauchte man keine.« Der König runzelte die Stirn. »So hatte ich die Sache noch nie betrachtet. Nun, vielleicht Ruhe und Ordnung … oder Fortschritt, Glück.« »Na, das ist schon allerlei«, sagte Ted. »Mein Vater 137
möchte nun wissen, ob Sie das Kapital und die Organisation dazu haben.« »Ich habe den Thron.« »Mir scheint«, sagte Ted, »der Thron hat gewisse Aktiva, aber auch Passiva. Zum Beispiel der Schwarm von Schmarotzern da in Ihrem Schloß. Sie sollten schauen, daß Sie die loswerden. Die zehren den ganzen Nutzen auf.« »Aber das ist doch der Adel, die Stütze des Throns.« »Die sind schon eher Termiten, die die Stützen wegfressen. Wenn Sie einen Reservefonds hätten, dann könnten Sie sie einfach pensionieren. Eines ist sicher, arbeiten lassen können Sie die nicht.« »O Gott, nein!« »Wie sind die denn eigentlich Adlige geworden?« »Durch ihre Dienste für den Thron«, sagte der König. »Geistige, militärische, finanzielle Dienstleistungen.« »Da haben Sie’s! Diese alten Knaben waren gar nicht dumm. Nun, das Geistliche wird jetzt von anderer Seite verwaltet, das Militärische ist aus Ihren Händen genommen … aber das Finanzielle, das könnten Sie ausnutzen.« »Der größte Teil des Adels ist durch Mißgeschick leider …« »… pleite«, ergänzte Ted. »Also, schicken wir die alten Gäule hinaus auf die Weide und nehmen wir eine neue Zucht in den Stall.« »Ich verstehe nicht …« »Hören Sie, König, in Texas und Beverly Hills könnte ich zu jedem Preis Titel verkaufen. Ich kenne Leute, die den letzten Dollar von einem dicken Haufen hergeben würden für einen Adelsbrief.« 138
»Das ist nicht recht.« »Was heißt recht? So haben diese Burschen seinerzeit doch ihre Titel bekommen. In England geschieht das noch immer. Man braucht keine Schnapsbrennerei zu besitzen, um ins Oberhaus zu kommen, aber es hilft dabei.« »Junger Freund, es handelt sich um Tradition.« »Herzogtum Dallas?« sagte Ted. »Na, zehn Milliardäre würden sich die Finger danach lecken. Auf Blindangebot würde ich das los. Die einzige Unannehmlichkeit dabei ist, daß der Graf von Fort Worth dem Herzog von Dallas den Krieg erklären würde. Hören Sie, das ist großartig. Ich sehe schon, wie die Damen übereinander die Nasen rümpfen. Bisher können sie sich immer nur Petroleumquellen und Klimaanlagen an den Kopf werfen.« »Sie scherzen, junger Freund.« »Glauben Sie das ja nicht! Trinken Sie aus, König. Ich lasse eine neue Lage kommen. Das Zeug geht einem nicht so in den Kopf wie die Martinis.« »Sollten … eh, wollen wir nicht lieber etwas frühstücken?« »Da ist das Frühstück schon drin … guter, bekömmlicher Tomatensaft und Leber in der Worcestersauce.« »Nun, in diesem Fall …«, sagte Pippin. »Also, wie wär’s? Wir könnten das auf privatem Wege in Umlauf bringen … wie die Nachricht über eine neuausgegebene Aktie … durchaus würdig.« »Ich dachte doch«, wandte der König ein, »Ihren Staatsbürgern sei die Annahme und Führung von Titeln durch Gesetz verboten?« »Lassen Sie das gut sein«, sagte Ted. »Wenn die Öl- und Viehbrüder die Steuergesetzgebung und die Gesetze für die 139
Gebrauchsgüter zurechtdeichseln können, dann werden sie sich nicht wegen so einem guten kleinen Gesetz über Titel den Kopf zerbrechen. Wir könnten jedem Kongreßabgeordneten, der dafür stimmt, einen Rittertitel gewährleisten … aber Geld ist nur aus den hohen Titeln zu holen.« »Ich habe einmal einige Texaner kennengelernt«, sagte der König. »Sie schienen mir durchaus demokratisch gesinnt. Ja, sie bezeichneten sich sogar mit Vorliebe als die schlichten kleinen Burschen vom Lande.« »Ja, und diese schlichten kleinen Burschen vom Lande besitzen in der Regel eine halbe Million Morgen Land, drei Flugzeuge, eine Yacht und eine Villa in Cannes. Aber wir brauchen uns nicht auf Texas zu beschränken. Denken Sie an Los Angeles, und dann, wenn wir das ganz beackert haben, an Brasilien, an Argentinien … das Feld ist unbegrenzt.« »Die ganze Sache riecht sehr nach meinem Onkel«, sagte der König. »Nun ja, ich habe mit ihm darüber gesprochen. Da steckt ein Haufen Geld drin. Ich kann das Ganze in die Wege leiten.« Der König verstummte darauf so lange, daß Ted ihn schließlich beunruhigt betrachtete und fragte: »Wird Ihnen wieder schlecht?« Pippin starrte vor sich hin, doch obwohl er leicht schielte, zuckte es nicht um seinen Mund, und seine Haltung blieb königlich. »Sie haben vergessen, junger Freund, daß das Ziel eines Königs die Wohlfahrt seines Volkes ist … des ganzen Volkes.« 140
»Das weiß ich ja«, sagte Ted. »Aber es ist so, wie mein Vater sagt: Sie müssen Kapital und Organisation haben. Die Leute, von denen Sie auf den Thron gesetzt wurden, haben das nicht umsonst getan. Über kurz oder lang werden Sie sich mit ihnen auseinandersetzen oder gemeinsame Sache machen müssen.« »Was ist mit der schlichten Ehrlichkeit … der einfachen Logik?« »Die haben nie verfangen«, sagte Ted. »Ich tue es nicht gern, aber ich muß Sie an die französische Geschichte erinnern. Ludwig XIV. war ein Verschwender. Er hat das Land bankrott gemacht. Dauernd führte er Kriege, zehrte den Staatsschatz auf und vernichtete eine Generation junger Menschen. Aber er war der Sonnenkönig und wurde angebetet, während Frankreich auf dem trockenen saß. Dann kam Ludwig XVI., ein einfältiger, anständiger Mensch. Er ließ Sachverständige kommen, berief Versammlungen ein, bemühte sich zuzuhören, zu verstehen, versuchte alles mögliche und …« Ted fuhr mit der waagrecht gehaltenen Hand über seine Gurgel. Pippin ließ den Kopf auf die Brust sinken und sagte kummervoll: »Warum mußte man mich zum König machen?« »Es tut mir leid«, sagte Ted. »Mir scheint, ich habe nicht viel ausgerichtet. Aber wenn man etwas wie einen Thron in die Hand kriegt, dann hat man doch bald den Wunsch, etwas damit anzufangen.« »Ich habe einzig den Wunsch nach Ruhe und nach meinem Fernrohr.« »Sie werden doch noch etwas damit anfangen wollen«, 141
sagte Ted. »Das tut jeder. Hören Sie, ich bin abscheulich zu Ihnen gewesen. Wir wollen zusammen in die Stadt gehen und sehen, wie die andere Hälfte lebt.« »Ich muß heim.« »Aber Sie werden vielleicht nie wieder ausbrechen können. Außerdem sind Sie es Ihrem Volke schuldig, sich unter es zu mischen.« »Nun, wenn Sie es so darstellen …« »Ich leihe Ihnen einen Anzug«, sagte Ted. »Niemand wird Sie erkennen.« »Wollen Sie nicht Clotilde anrufen?« »Nein«, sagte Ted. »Wir zwei Hagestolze wollen allein losziehen.« * Um halb vier Uhr früh wurde der wachhabende Offizier der Leibgarde, Leutnant Emile de Samothrace, durch ein störendes Vorkommnis am Tor des Versailler Schlosses aufgeschreckt. Als er sich hinausbegab, erkannte er im Halbdunkel zwei Arm in Arm auf das Schloßtor zugehende Männer, welche sangen: »Allons, enfants de la Patrie, den lieben, langen Tag. Le jour de gloire est arrivé, und der Aff schlingt den Schwanz um den Fahnenstock. Bah! Bah! Bah!«
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Leutnant de Samothrace verlegte den beiden, nach der Wache rufend, den Weg, worauf sie mit gefällten Regenschirmen gegen ihn losgingen und kreischten: »A la bastille!« Im Tatbericht des wachhabenden Offiziers hieß es: »Der eine der beiden Ruhestörer behauptete, der Kronprinz von Petaluma zu sein, während der andere immer nur ›Bah! Bah! Bah!‹ rief. Ich übergab sie dem Schloßkommandanten zwecks weiterer Untersuchung.« Diese Meldung fand Leutnant de Samothrace am andern Tag aus dem Wachbuch ausgemerzt und an ihrer Stelle, vom Schloßkommandanten unterzeichnet, der Vermerk: »Drei Uhr dreißig. Auf Wache alles ruhig.«
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4. Kapitel Unterdessen erfreute sich Frankreich eines solchen Friedens, Wohlstands und Geschäftsumsatzes, daß die Zeitungen anfingen, die Gegenwart als das Platinzeitalter zu bezeichnen. Die New Yorker »Daily News« nannte Pippin den »Atomkönig«. »Reader’s Digest« druckte drei Artikel ab, die die Redaktion in Auftrag gegeben hatte: einen in der »Saturday Evening Post«, betitelt »Neueinstellung zum Königtum«; einen im »Ladies Home Journal«, betitelt »Glorreiche Gegenwart«, und einen im »American Legion Monthly« mit der Überschrift »Der antikommunistische König«. Citroën brachte ein neues Modell heraus. Christian Dior kreierte die Linie »R«, die die höchste Taille und das prallste Mieder seit Montesquieu aufwies. Aus Eifersucht sprengte die italienische Haute Couture aus, die Linie R lasse den Busen wie einen Doppelkropf wirken. Die nach Hollywood reisende Gina Lollobrigida, die stets getreu für ihr Vaterland eintrat, äußerte bei einem kurzen Aufenthalt auf dem Flugplatz Idlewild, sie weigere sich, zwischen sich selbst herauszusehen. Doch der Bekrittelung Frankreichs lag größtenteils der Neid auf das Platinzeitalter zugrunde. England wartete wie immer ab. 144
Die sowjetrussische Einkaufskommission bestellte vier Tankwagen voll französischen Parfüms. In Amerika nahm die Erregung die höchsten Fiebergrade an. Bonwit Teller nannten ein ganzes Stockwerk ihres Kaufhauses »L’Etage Royal«. Warm und freundlich zog der Herbst über Frankreich hin, den Lauf der Seine, dann den Lauf der Loire aufwärts, breitete sich aus über die Dordogne, klomm am Jura empor, umspülte den Alpenfuß. Die Weizenernte war üppig ausgefallen, und die Trauben reiften warm, groß und fröhlich. Selbst die Trüffel benahmen sich wohlwollend: schwarz und dick hüpften sie fast aus dem Kalkboden. In der Normandie stolperten die Kühe über die Weiden, so schwer waren ihre Euter voll rahmiger Milch, während die Apfelernte dieses Jahr einmal zur Herstellung des bei den Engländern so beliebten Champagners ausreichte. Nie noch, so weit man in der Geschichte zurückdenken kann, waren die Touristen so ausgabefreudig und bescheiden und ihre französischen Gastgeber so selbstzufrieden muffig gewesen. Die internationalen Beziehungen schwangen sich in die lichten Höhen der Bruderliebe. Die konservativsten Bauern schafften sich neue Manchesterhosen an. In roten Strömen ergoß sich der Bordeaux aus den Keltern. Nach den Parlamentsferien kamen die Parteien und Fraktionen in Paris zusammen, um ihre Beiträge zum Code Pippin abzuschließen, der im November angenommen werden sollte. Die Christlichen Atheisten redigierten eine Klausel, durch die kirchliche Gottesdienste vergnügungssteuer145
pflichtig werden sollten, während die Christlichen Christen den Antrag auf obligatorischen Besuch der Messe zu stellen gedachten. Die Rechts- und Linkszentristen marschierten Schulter an Schulter. Die Kommunisten und Sozialisten gingen dazu über, voreinander die Hüte zu ziehen. Monsieur Deuxcloches, nominell nur Kulturwart, doch in Wahrheit der Führer der Kommunistischen Partei Frankreichs, faßte das in Worte, was eigentlich alle Parteien dachten. Im geheimsten Zirkel umriß er eine Reihe von Fallen und Wolfsgruben, die so geschickt angelegt waren, daß jeder erdenkliche Schritt des Königs unbedingt ins Verderben führen mußte. Frankreich befand sich auf dem Gipfel des Gedeihens. Jedermann gab das zu. Touristen nächtigten auf den Blumenbeeten der besseren Hotels. Wie läßt sich, bei diesem Stand der Dinge, die kleine Wolke erklären, die um die Mitte des September am Horizont erschien, immer schwärzer wurde, sich in den ersten Oktoberwochen ausdehnte, um schließlich zu Anfang November wie Gewittergewölk sich am Himmel zu türmen? Es ist allgemein üblich, historische Ereignisse nach ihrem Eintreten auf Grund der vorgefaßten Meinung des betreffenden Historikers zu erklären. Der Nationalökonom findet Gründe auf dem ökonomischen, der Politiker auf dem politischen Gebiet, und der Mediziner hält sich an Blütenstaub und Bakterien. Ganz wenige Historiker, wenn überhaupt welche, haben die Ursachen einfach in der Stimmung der Menschen gesucht. Ist es nicht richtig, 146
daß in den Vereinigten Staaten die Epochen des größten Friedens und Gedeihens auch die Perioden der größten Unruhe und Unzufriedenheit waren? Ist es nicht gleichfalls richtig, daß in diesen Wochen, da Frankreich in Wohlstand schwelgte, sich in allen Schichten Rastlosigkeit, Nervosität, ja Beängstigung zu regen und zu steigern begann? Wem dies vernunftwidrig, ja unglaubhaft erscheint, der möge daran denken, daß ein Mensch an einem wunderschönen Sonnentag etwa zu seinem Nachbar sagt: »Morgen regnet’s wahrscheinlich.« Oder daß während eines kalten, feuchten Winters jedermann überzeugt ist, es werde einen heißen, trockenen Sommer geben. Wer hat noch nie einen Bauern, der einen Blick auf seine üppig stehende Feldfrucht wirft, klagen gehört: »Das wird nicht abzusetzen sein«? Ich bin nicht der Ansicht, daß der Historiker darüber noch weitere Untersuchungen anstellen müßte. Die Menschenwesen neigen nun einmal dazu, dem Glück zu mißtrauen. In bösen Zeiten haben wir zuviel damit zu tun, uns zu schützen. Dafür sind wir ausgerüstet. Das einzige, was unsere Gattung wehrlos macht, ist das Glück. Zuerst verwirrt es, dann schreckt es, dann erbittert es und schließlich vernichtet es uns. Wenn der Bauer seinen Nettoverdienst nachrechnete, fand er noch Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, um wieviel ihn der Großkäufer übervorteilt hatte. Und den Kleinhändler konnte man leise schimpfen hören, sobald der Großhändler den Rücken gedreht hatte. Diese Stimmung des Argwohns blieb nicht auf die Ebene des Einzelmenschen beschränkt. So ergab es sich, bei147
spielsweise, auch hier: Als der Außenpolitischen Kommission des amerikanischen Senats zu Ohren kam, die Russen hätten vier Tankwagen französischen Parfüms gekauft, ließ sie durch den Geheimen Nachrichtendienst Musterflaschen besorgen, übergab diese den einschlägigen Sachverständigen zwecks Untersuchung von »Quatre-VingtFleurs« sowie der neuesten Marke »L’Eau d’Eau« auf eventuell darin lauernde Spreng-, Gift- oder Betäubungsstoffe. Die Gegenseite blieb nicht müßig: Russische Beauftragte untersuchten eine Sendung von Helikoptern aus Plastikmaterial, die für die Spielwarenläden von Paris bestimmt waren. Eine Gruppe französischer Pfadfinder, die mit Holzstöcken exerzierte, wurde durch die Emissäre von vier Staaten fotografiert, und die Aufnahmen sandte man zur Auswertung heim. Am schlimmsten waren die Höhlenforscher dran, welche sich beklagten, daß sie selbst in den tiefsten Höhlen nicht allein und unbeobachtet sein konnten. Das Mißtrauen gegen Frankreich nahm in der ganzen Welt zu. In Frankreich gab es Ausbrüche von Nervosität. Als Luxemburg sein stehendes Heer um acht Soldaten vergrößerte, wurde eiligst eine Geheimsitzung im Quai d’Orsay anberaumt. Die Provinz richtete die Blicke nervös auf Paris, wo gemunkelt wurde, die Provinz werde zunehmend unruhig. Raubüberfälle waren an der Tagesordnung. Die Jugendkriminalität stieg steil an wie eine Rakete. Als die Polizei am 17. September in einem Keller auf der Ile Saint-Louis ein geheimes Waffenlager der Kommuni148
sten entdeckte, ging eine Welle des Entsetzens durch ganz Frankreich. Allerdings war die Meldung der Polizei nicht ausführlich genug, denn es wurde darin nicht bekanntgegeben, daß die Waffen von der Kommune des Jahres 1871 versteckt worden waren und daß es sich dabei um gänzlich veraltete Zündnadelgewehre und rostzerfressene Bajonette handelte. Wie aber stand es, während diese Wolke sich ballte und verdunkelte, um den König? * Allgemein ist man sich darüber einig, daß der König sich kurz nach seiner Krönung veränderte, was zu erwarten oder doch zumindest vorauszusehen war. Ziehen wir einen Vergleich. Man denke sich einen Stamm von Hühnerhunden, sagen wir: Pointers, der seit tausend Generationen für die Jagd auf Federwild gezüchtet, ausgelesen und abgerichtet ist. Dann nehmen wir eine morganatische Verbindung an, aus dieser Blutmischung geht eine Nachkommenschaft hervor, deren letzten Sprößling wir nun als jungen Hund im Schaufenster einer Tierhandlung finden. Er ist daran gewöhnt, in einem Stadthaus zu wohnen, zweimal täglich an der Leine ausgeführt zu werden, um sich von Autoreifen zu Mülleimer und von Mülleimer zu Feuerhydrant seines Weges zu schnüffeln. Seine Nase ist gewöhnt an Parfüms, Benzin und Naphthalin. Seine Krallen sind beschnitten; sein Fell duftet nach Fichtelnadelseife, und sein Futter stammt aus Konservenbüchsen. 149
Mit der Zeit wird er vielleicht darauf dressiert, die Morgenzeitung von der Haustür oder am Abend die Pantoffeln des Herrn zu apportieren, auf Befehl sich zu setzen, zu legen, Pfötchen zu geben, Männchen zu machen. Er ist in jeder Beziehung stubenrein geworden, er nascht nicht vom Horsd’œuvre-Tablett. Die einzigen Vögel, die er je kennengelernt hat, sind fett dahinwatschelnde Tauben und freßgierige Spatzen auf den Straßen, und das einzige Liebesabenteuer bestand im Naserümpfen einer vorüberlaufenden Pekineserhündin. Nehmen wir nun weiter an, dieser Hund – der Abkömmling eines hohen Geschlechts – werde zu einem Picknick aufs Land mitgenommen, zu einem schönen Plätzchen am Rand eines Baches. Da die Aufmerksamkeit der Menschen vom Kampf gegen die Ameisen, den Sand und den Wind, der die Zipfel des Tischtuchs hochbläst, in Anspruch genommen ist, denkt einen Augenblick lang niemand an den Hund. Dieser wittert die köstliche Frische strömenden Wassers, er schlendert zum Bachufer und trinkt sich satt an einem Naß, das keine Desinfektionsmittel enthält. Eine Urempfindung erfüllt seine Brust. Er läuft einen kleinen Pfad entlang, schnüffelt an Blättern, braunen Baumstämmen, Gräsern. Er stockt bei der Fährte eines Kaninchens, die seinen Weg kreuzt. Der frische Wind kitzelt sein Fell. Plötzlich kommt etwas über ihn: eine Verzückung, eine Erfüllung, eine Erinnerung. In seine Nase zieht ein unbekannter, aber in seinem Gedächtnis vorhandener Geruch. Er zittert, er stößt einen kurzen Winsellaut aus, bewegt sich dann unsicher auf das Zauberwerk zu. 150
Und da überkommt ihn der hypnotische Zustand. Seine Schultern wölben sich etwas. Sein dünner Schwanz wird straff und gerade. Ein Fuß schleicht hinter dem andern her. Sein Hals streckt sich vorwärts, bis Nase, Kopf, Rückgrat und Schwanz eine einzige Linie bilden. Die rechte Vorderpfote hebt sich. Er erstarrt. Er hält den Atem an. Sein Körper gleicht einer Kompaßnadel oder einem Gewehrlauf, der auf ein im Unterholz verborgenes Wachtelgelege zeigt. Im Februar 19.. wohnte ein freundlicher, wißbegieriger Herr in einem kleinen Hause der Avenue de Marigny mit seiner Tochter und seiner liebenswürdigen Gattin, seinem Balkon und seinem Teleskop, seinem Regenschirm, seinen Gummischuhen und seiner unvermeidlichen Aktentasche. Er verfügte über einen Zahnarzt, eine Versicherungspolice und ein kleines Aktienkonto beim Crédit Lyonnais. Und über einen Weinberg in Auxerre … Dann auf einmal, aus heiterem Himmel, wurde der kleine Mann zum König gemacht. Wer von uns in dessen Adern nicht sein Blut kreist, kann ermessen, was in Reims vor sich ging, als sich die Königskrone auf sein Haupt senkte? Sah Paris für den König ebenso aus wie für den Amateur-Astronomen? Wie klang das Wort »Frankreich« in den Ohren des Königs … und wie das Wort »Volk«? Es müßte doch merkwürdig zugehen, wenn sich da nicht uralte Mechanismen in Bewegung gesetzt hätten. Der König wußte wohl nicht, was sich da abspielte. Vielleicht reagierte er wie jener Vorstehhund auf vergessene Triebe. Es war nicht zu bestreiten, daß die Königswürde einen König erzeugte. 151
Und als er König war, wurde er einsam, verlassen und abgesondert, und das ist ein Teil des Königseins. Monarchie erzeugte einen König. Onkel Charlie war zeit seines Lebens ein einziges Mal in Versailles gewesen: Auf Anordnung des Unterrichtsministers war er als kleiner Bub in schwarzem Kittel und weißem Kragen inmitten einer lärmenden Schlange von Schulkindern durch Korridore und Keller, Schlafgemächer und Tanzsäle dieses nationalen Denkmals marschiert. Damals hatte ihm der Königspalast Haß und Grauen eingeflößt, wovon er sich nie erholte. Er erinnerte sich an die gesprungene, bemalte Wandtäfelung, die knarrenden Parkettböden, die Absperrseile aus Sammetkordeln, die zugigen Korridore wie an einen Alptraum. Der König war daher höchst überrascht, als Onkel Charlie ihm in den königlichen Gemächern einen Besuch abstattete, noch überraschter aber darüber, daß sich Ted Johnson in seiner Begleitung befand. Charles sah sich in dem Gemach mit den gemalten Wänden um. Die Fußböden quietschten auf in verhaltenem Schmerz, sobald er sich bewegte. Vor die Fenster waren Wolldecken gespannt, um den kalten Herbstwind fernzuhalten; im großen Kamin brannten dicke Scheiter. Die vergoldeten Stutzuhren hockten auf ihren Marmortischen, und die steifen Stühle standen noch so an der Wand, wie Charles sie in der Erinnerung hatte. Er sagte: »Ich muß dich sprechen, mein Sohn.« Ted fiel ein: »Ich habe in der Pariser Ausgabe der ›Herald Tribune‹ gelesen, Sie hätten eine Maitresse.« 152
Der König zog die Brauen hoch. Rasch sagte nun Onkel Charlie: »Ich weihe Ted in mein Geschäft ein. Er will in Beverly Hills eine Filiale aufmachen.« »Man kann dort alles verkaufen, solange man hohe Preise fordert«, sagte Ted. »Wo haben Sie denn Ihre Maitresse?« »Ich habe verschiedenes geändert«, sagte der König, »aber hinsichtlich der Maitresse drang ich nicht durch. Die öffentliche Meinung war zu stark. Nun, sie soll eine nette kleine Person sein, höre ich. Sie soll ihre Sache gut machen.« »Sie haben das gehört? Haben Sie sie denn nicht gesehen?« »Nein«, sagte der König. »Gesehen habe ich sie nicht. Die Königin drängt darauf, daß ich sie demnächst einmal zu einem Aperitif einlade. Jedermann sagt, sie sei sehr nett, ziehe sich gut an, adrett, angenehm. Es ist nur eine Formsache, aber bei diesem Geschäft sind ja die Formen sehr wichtig, zumal wenn man Pläne hat.« »Aha … Soso«, sagte Onkel Charlie. »Pläne. Eben das fürchtete ich. Darum bin ich gekommen.« »Was meinst du damit?« fragte der König milde. »Hör zu, mein Sohn. Bildest du dir ein, dein Geheimnis sei ein Geheimnis? Ganz Paris, ganz Frankreich ist im Bilde.« »Worüber denn?« »Mein lieber Neffe, hast du wirklich gemeint, ein Mechanikerpullover und ein falscher Schnurrbart, das sei eine Verkleidung? Meinst du wirklich, du seiest inkognito 153
geblieben, als du bei Citroën Arbeit suchtest und dich den ganzen Tag über mit den Arbeitern am Tor unterhieltest? Und als du in den alten Häusern am linken Ufer herumgelaufen bist und unter der Vorspiegelung, Inspektor des Bauamts zu sein, die Wände abgeklopft und in die Abzugskanäle hineingeschaut hast, warst du da wirklich der Ansicht, irgend jemand habe dich für einen Inspektor gehalten?« »Das sollte mich doch wundern«, sagte der König. »Ich hatte die richtige Kappe und auch ein Abzeichen.« »Und nicht nur das«, rief Onkel Charlie aus. »Du warst draußen in den Weinbergen, wo du dich als Winzer ausgabst. Du hast die Marktstandinhaber in den Hallen mit deinen Fragen zum Wahnsinn getrieben.« Er äffte Pippin nach: »›Wie kaufen Sie die Karotten ein? Wie verkaufen Sie sie? Was bezahlt der Großhändler dem Bauern dafür?‹ Und die Arbeiter hast du ausgehorcht: ›Was zahlen Sie an Miete? Welchen Lohn bekommen Sie? Was haben Sie an die Gewerkschaft abzuführen? Welche Gratifikationen bekommen Sie? Was brauchen Sie in der Woche durchschnittlich für den Lebensunterhalt?‹ Soviel ich weiß, hast du dich da als Reporter der ›Humanité‹ ausgegeben.« »Ich hatte eine Pressekarte«, sagte der König. »Pippin«, fragte Onkel Charlie, »was bezweckst du damit? Ich warne dich! Man wird nervös.« Der König fing an auf und ab zu laufen, unterließ es aber gleich wieder, weil der Parkettboden quietschte. Er nahm seinen Zwicker ab, setzte ihn auf den Zeigefinger der linken Hand und sagte: »Ich versuchte mich zu unterrichten. Es muß so viel ge154
tan werden. Ist dir zum Beispiel bekannt, Onkel Charlie, daß zwanzig Prozent der Mietshäuser von Paris als gesundheitsschädlich und einsturzgefährdet zu betrachten sind? Erst letzte Woche wäre eine Familie am Montmartre beinahe durch herunterfallenden Stuck erstickt worden. Ist dir bekannt, daß der Großhändler dreißig Prozent und der Wiederverkäufer noch einmal vierzig Prozent auf die von dir erwähnten Karotten aufschlägt? Hast du eine Ahnung, was dem Bauern für die Karotten, die er zieht, bleibt?« »Halt! Halt ein, um Gottes willen!« schrie Onkel Charlie. »Du spielst mit dem Feuer! Willst du wieder Barrikaden in den Straßen, willst du Paris in Flammen sehen? Wie kannst du dir einbilden, du vermöchtest die Zahl der Polizeihauptleute herabzusetzen?« »Neun Zehntel von ihnen tun überhaupt nichts«, sagte Pippin. »Ach, mein Sohn!« sagte Onkel Charlie mitleidig. »Mein armes verstörtes Kind. Du wirst doch nicht in die alte Falle gehen wollen, wie? Lerne von den Engländern. Als der jetzige Herzog von Windsor König war, fuhr er ein einziges Mal hinunter in eine Kohlengrube. Was dabei herauskam, waren nicht nur empörte Anfragen im Parlament, sondern der Premierminister wäre um ein Haar zu einem Mißtrauensvotum gekommen. Pippin, mein lieber, lieber Junge, ich befehle dir, hiervon Abstand zu nehmen!« Der König setzte sich auf einen Schemel, der dadurch zu einem Thron wurde, und sagte: »Ich habe nicht verlangt, König zu werden, doch ich bin nun König, und ich finde das geliebte, reiche, fruchtbare 155
Frankreich zerrissen von eigennütziger Zwietracht, ausgeplündert von habgierigen Geschäftemachern, belogen und betrogen von den Parteien. Ich habe festgestellt, daß es sechshundert Methoden gibt, sich um die Steuern zu drücken, wenn man reich genug ist, und fünfundsechzig Methoden, um die Mieten in Bezirken mit staatlich festgesetzten Mietpreisen zu steigern. Der Reichtum Frankreichs, der irgendeines Verteilungsschlüssels bedürfte, wird verschluckt. Jeder bestiehlt jeden, bis ein Niveau erreicht ist, auf dem nichts mehr zum Stehlen übrig ist. Neue Häuser werden nicht gebaut, und die alten läßt man in Trümmer fallen. An diesem gottgesegneten Land mästen sich die Maden.« »Pippin, halt ein!« »Ich bin ein König, Onkel Charlie. Bitte vergiß das nicht. Jetzt weiß ich, warum der Wirrwarr in der Regierung nicht nur geduldet, sondern noch ermuntert wird. Ich habe allerhand gelernt. Ein verworrenes Volk kann keine klaren Forderungen stellen. Weißt du, wie ein französischer Arbeiter oder Bauer sich ausdrückt, wenn er von der Regierung spricht? Er nennt sie bloß ›Die‹. ›Die‹ tun dies, und ›Die‹ tun das. Die, Die, Die. Etwas Abgesondertes, Namenloses, Unbestimmbares und daher Unangreifbares. Das Zürnen schrumpft zum Murren zusammen. Wie kann man Abhilfe bei etwas verlangen, was es gar nicht gibt? Und die Intellektuellen? Sieh dir sie doch an, diese vertrockneten Gehirne. Die Schriftsteller von einst brannten der Welt den Namen Frankreichs ein. Weißt du, was die jetzigen tun? Sie hocken jämmerlich beisammen, konstruieren eine Philosophie der Verzweiflung, während 156
die Maler, mit wenigen Ausnahmen, nichts darstellen als ihre Apathie und Anarchie.« Onkel Charlie saß auf dem Rand eines der mit Brokat bezogenen Sessel, legte sein Haupt in die hohlen Hände und wiegte den Rumpf hin und her wie ein trauernd Hinterbliebener bei einer Beerdigung. Ted Johnson, der die ganze Zeit über am Kamin gestanden und sich den Rücken gewärmt hatte, fragte jetzt ruhig: »Haben Sie das Kapital und die Organisation, um hier Wandel zu schaffen?« »Nichts hat er«, stöhnte Onkel Charles. »Keine Seele! Keinen Sou!« »Ich habe die Krone«, sagte Pippin. »Und dich setzen sie auf einen Henkerskarren. Glaube ja nicht, daß die Guillotine nicht wieder eingeführt werden könnte. Du wirst ausrutschen, ehe du noch den ersten Schritt getan hast. Die werden dich vernichten.« »Jetzt gebrauchst du selbst das Wort«, sagte Pippin. »Die, Die, Die, die namenlosen Die. Aber ich meine, auch wenn er weiß, daß er scheitern wird, muß ein König den Versuch machen.« »O nein, mein Sohn. Nein, nein. Es hat viele Könige gegeben, die sich einfach zurücklehnten und …« »Das glaube ich nicht«, sagte der König. »Ich bin sicher, daß sie sich bemüht haben, was man auch immer von ihnen berichtet. Sie müssen den Versuch gemacht haben; ein jeder von ihnen.« »Wie wär’s mit einem Krieg?« regte Onkel Charlie an. »Ich sehe, dir liegt mein Wohl sehr am Herzen, lieber Onkel«, sagte der König leise auflachend. 157
»Kommen Sie, Ted«, sagte Charles Martel. »Machen wir, daß wir hier wegkommen!« »Ich möchte mit Ted sprechen«, sagte Pippin. »Gute Nacht, lieber Onkel. Du kannst die Treppe in der Ecke hinuntergehen; dann weichst du den Aristokraten aus. Schleiche dann durch den Park. Gib der Schloßwache ein paar Zigaretten.« Als Charles fort war, hob Pippin einen Zipfel der Decke am Fenster hoch und spähte hinaus. Durch die frostige Nacht tönte von den Teichen das Gequake der Frösche. Pippin sah seinen Onkel unglückselig den Gartenpfad entlanggehen, begleitet von einem ältlichen Edelmann, der seinen Arm gepackt hielt und ihm ins Ohr brüllte. Seufzend ließ der König die Wolldecke fallen und drehte sich zu Ted um. »So ein Pessimist«, sagte er. »Er wollte nie heiraten. Er sagte immer, wenn er die betreffende Frau erst gut genug kenne, um sie heiraten zu können, dann wisse er etwas Besseres zu tun.« »Er ist ein Spekulant«, sagte Ted. »Aber dabei müssen Sie wissen, daß er sein Geschäft nicht einmal vergrößern wollte. Ich mußte ihm garantieren, daß er weder Arbeit noch Schererei damit haben werde.« Der König drückte den Rand der Wolldecke an die Fensterleiste, durch die es zog. »Die Fensterrahmen sind eingeschrumpft«, sagte er. »Marie hat es nicht gern, wenn ich die Decke anbringe … aber mir ist es zu kalt.« »Wie wär’s mit Leisten aus Kunstharz? Das wirkt wie Kitt«, meinte Ted. »Reparaturen mit modernem Material an einer alten Konstruktion? Das ist einer der Gründe, warum ich Sie 158
bat, noch zu bleiben. Meine Erinnerung an unser letztes Zusammensein ist vielleicht etwas undeutlich.« »Aber …« »Es war sehr vergnüglich und nützlich. Ich glaube mich zu erinnern, daß Sie mir einen Vortrag hielten über amerikanische Konzerne …« »Darüber weiß ich nicht gut Bescheid, aber unsere Familie ist tatsächlich eine Aktiengesellschaft, und daher selbstverständlich …« »Ich verstehe schon. Ihre Regierung ist eine Demokratie … ein System von Kontrollvorrichtungen und Gegengewichten. Das stimmt doch?« »Jawohl«, sagte Ted. »Und innerhalb dieser Struktur haben Sie große Konzerne, die ihrerseits etwas wie Regierungen sind. Stimmt das auch?« »Sie sind mir über, aber ich glaube, es stimmt. Sie haben viel Hirnschmalz dran verwandt.« »Danke. Kann sein. Verhält es sich nicht so, daß eine Aktiengesellschaft mehr, sagen wir einmal, Elastizität besitzt, als in Ihrer Regierung vorhanden ist? Ich meine damit, könnte nicht in solch einer Gesellschaft eine Änderung der Politik rasch und wirksam vollzogen werden, etwa durch den Vorsitzenden des Aufsichtsrats ohne Befragung der Aktionäre eine Weisung ausgeführt werden, von der sich annehmen läßt, daß sie zu Nutz und Frommen der Aktionäre ist?« Ted warf dem Fürsten einen nachdenklichen Blick zu. »Ich merke, worauf Sie hinauswollen«, sagte er. »Wie müßte man da vorgehen?« 159
»Sie meinen, Sie könnten weiterkommen als Aufsichtsratsvorsitzender denn als König?« »Ich werfe vielleicht eine ausschlaggebende Frage auf.« »Nun, lassen Sie mich nachdenken. Wenn es sich um eine große Änderung handelt, würde der Vorsitzende den Aufsichtsratsmitgliedern die Frage vorlegen, und wenn diese einverstanden sind, dann ergeht die betreffende Anordnung. Wenn sie aber geteilter Meinung sind, dann würden die Aktionäre einberufen werden müssen.« »Dann kommt das wohl nicht in Frage«, sagte der König. »Ich würde kaum von zwei Personen die Zustimmung erhalten.« »Sehn Sie«, sagte Ted, »jedes Mitglied des Aufsichtsrats vertritt einen bestimmten Betrag der Aktien. Wenn es eine Auseinandersetzung gibt, dann stimmen die Mitglieder als Bevollmächtigte der Aktionäre. Wer die meisten Vollmachtstimmen aufbringt, erlangt die Herrschaft. Dann müssen die Gewerkschaften befragt werden, ob sie eine Beschwerde vorzubringen haben.« »Ach, auch für ein offenbar gediegenes und wünschenswertes Programm?« »Ja, gerade dann, könnte man sagen.« Der König seufzte. »Anscheinend ist ein Konzern auch nicht sehr verschieden von einer Regierung.« »Nun, ein bißchen anders ist es schon. Es hängt davon ab, wer die Aktien in Händen hat. Bei unserer Gesellschaft hat die Familie die sämtlichen Aktien. Erinnern Sie sich daran, wie wir über den Verkauf von Titeln in Amerika sprachen?« 160
»Ja, nebelhaft.« »Da steckt ein Vermögen drin«, rief Ted aus. »Das könnte die ganze Vollmachtenfrage lösen. Legen Sie doch alles in meine Hand. Für eine kleine alte Baronie kann ich hunderttausend Dollar kriegen. Und ich wette mit Ihnen, daß ich für einen Herzogstitel jeden Betrag erhalte, den ich verlange.« Der König hob die Hand. »Warten Sie mal«, sagte Ted. »Hören Sie zu: Ich kann im Adelsbrief ausmachen, daß Sie die Stimme behalten. Das ist besser, als die Aktien zu teilen.« »Nennt man das nicht Aktienverwässerung?« »Aber nein«, rief Ted. »Das ist was viel Besseres. Eher etwas wie eine Neuausgabe … eine Neufinanzierung.« Des Königs Kopf war tief zwischen die Schultern gesunken. Er fröstelte. Dann kicherte er. »Ich, Pippin der Vierte, König von Frankreich, finde niemand, mit dem ich mich unterhalten kann, als einen reichen jungen Touristen und eine alte Nonne, die einmal Tänzerin war.« »Ist das wahr, was Onkel Charlie erzählte«, fragte Ted, »daß Sie verkleidet herumspaziert sind?« »Es war ein Fehler«, sagte der König. »Als ich Sie besuchte, erkannte mich niemand. Mit der Kappe, dem Abzeichen, dem falschen Schnurrbart – das war ein Mißgriff.« »Warum haben Sie denn das getan?« »Ich hielt es für angebracht, mich über Frankreich zu unterrichten. Haben Sie bemerkt, daß die Stimmung sich abkühlt?« »Ja, nun … in gewisser Hinsicht. Es wird viel geredet.« »Ich weiß«, sagte der König. »Ich habe es selbst gehört.« 161
»Etwas gibt mir zu denken«, sagte Ted. »Mein Vater …« »Ist er krank?« »Man kann’s vielleicht so nennen. Er hat das Herzogsfieber gekriegt … Ausgerechnet er!« »Davon steckt wohl in uns allen ein wenig, Ted«, sagte Pippin. »Aber Sie verstehen nicht … mein Vater …« »Ich verstehe wohl doch … ein wenig«, sagte der König. * Mit dem Kürzerwerden der Herbsttage häuften sich die Gesuche oder gar Forderungen um Privataudienzen beim König immer mehr. Dann saß er an seinem Audienzschreibtisch in einem für einen früheren König errichteten und ausgeschmückten Gemach, während eine Abordnung von zwei, auch drei Vertretern einer Partei oder Interessengruppe ihr Anliegen vorbrachte. Jede Abordnung kam mit der Zuversicht, daß sich der König als ihr Parteigänger erweise. Einzeln kamen sie nie. Pippin beschlich der Verdacht, daß sie einander nicht über den Weg trauten. Einem jeden von ihnen lag Frankreichs Bestes am Herzen, aber was allerletzten Endes zu Frankreichs Bestem war, beruhte in erster Linie auf dem Besten für die Partei … wenn nicht gar für das Individuum. Auf diese Weise erfuhr der König, was Frankreich zu gewärtigen hatte, was für Pläne geschmiedet wurden. Er hörte schweigend mit an, wie ihm die Sozialisten zu beweisen versuchten, daß die Kommunisten gesetzlich verboten werden müßten, während die Zentristen es als über 162
jeden Zweifel erhaben darstellten, daß nur bei einer Stärkung und Stützung des finanziellen Rückgrats Frankreichs der Wohlstand zu den niedrigeren Schichten heruntersikkern könne. Anhänger und Gegner der Religion ergingen sich vor ihm in unwiderleglichen Behauptungen und Folgerungen. Der König hörte stumm zu. Danach war er niedergeschlagen. Oftmals suchte er Zuflucht in der Erinnerung an seinen kleinen Balkon in der Avenue de Marigny. Er sah, er spürte den stummen, dunklen Himmel und die langsam schwingenden Sternnebel. Nach außen hin blieb er ruhig und freundlich. Ab und zu nickte er mit dem Kopf, eine Gebärde, die von den Audienzbesuchern als Zustimmung des Königs gedeutet wurde, die jedoch tatsächlich seinem wachsenden Verständnis für Regierung und Königtum entsprang. Er fand sich mit der Einsamkeit ab; was er jedoch nicht zu unterdrücken vermochte, war das hastende Suchen nach Lösung oder Flucht. Wo die Parteipolitiker aufhörten, fuhren die Gesandten fort. Höflich lauschte er den glatten, staatsmännischen Bestrebungen anderer Völker, Frankreich für die jeweils eigenen Zwecke zu benutzen. Wiederum nickte Pippin, und wiederum bemächtigte sich graue Niedergeschlagenheit seiner Seele. Am 15. November reichten die verschiedenen Parteien, die in der Verfassunggebenden Versammlung vertreten sein sollten, bei der Krone das Gesuch ein, die Versammlung auf den 5. Dezember einzuberufen. Der König ge163
nehmigte dies gnädig, und die entsprechenden Verfügungen ergingen. An den Abenden machte Pippin regelmäßig Eintragungen in die kleinen linierten Schulhefte, in denen er früher über die Himmelserscheinungen Buch geführt hatte. Madame Marie machte sich Sorgen um ihn »Er ist so teilnahmslos … so abwesend«, sagte sie zu Schwester Hyacinthe. »Es ist nicht seine frühere Geistesabwesenheit. Denke dir, gestern fragte er mich, ob ich gern Königin sei … gern!« »Und was hast du darauf geantwortet?« fragte Schwester Hyacinthe. »Die Wahrheit: daß ich darüber noch nicht nachgedacht hätte. Ich tue, was ein jeder Tag erfordert.« »Nun, war es dir lieber, als du nicht Königin warst?« »Es war vielleicht bequemer«, sagte die Königin, »aber viel anders war es auch nicht. Ein sauberes, gutgeführtes Haus ist überall das gleiche, und Ehemänner sind Ehemänner, ob Könige oder Sterngucker. Aber M’sieur hat Kummer.« * Es kamen Tage mit frostigen Morgenfrühen und erquikkendem Sonnenschein um die Mittagszeit. Die Blätter fielen von Kastanien und Platanen, und die Straßenfeger hatten viel zu tun. Der König griff wieder auf seine alte Verkleidung zurück, nämlich sich selbst. In Manchesterjoppe und Espadrilles machte er auf einem Motorroller Fahrten über 164
Land. Nach zwei Unfällen ergänzte er seine Tracht durch einen Sturzhelm. Eines Tages rollte er nach dem Städtchen Gambais, das wegen seines wunderschönen, wenn auch teilweise zerstörten Schlosses Neuville berühmt ist. Am schilfüberwucherten Burggraben aß er zu Mittag. Dabei sah er einem älteren Mann zu, der mit einer langzinkigen Harke in dem Röhrichtwasser herumstocherte. Auf einmal stieß der Alte auf einen harten, schweren Gegenstand. Er zog ihn zum Grabenrand herauf. Es war die bemooste Büste eines gehörnten und bekränzten Pan. Erst als der alte Mann sich abmühte, die Figur auf einen Granitsockel am Grabenrand hinaufzuheben, stand der König auf und begann ihm zu helfen. Gemeinsam hißten sie nun die schwere Büste hinauf, traten dann zurück und betrachteten sie, während sie sich die grün und glitschig gewordenen Finger an den Hosen abwischten. »Ich möchte sie gern ein bißchen mehr mit dem Gesicht nach Osten zu stellen«, sagte der Alte. Sie rückten sie also herum. Pippin wischte mit seinem Taschentuch Pans verschmiertes Antlitz ab, bis der tierhaft wilde Mund und die schlauen, lüsternen Augen erkennbar wurden. »Wie kam er denn in den Graben?« »Ach, er muß hineingeworfen worden sein. Das geschieht immer wieder, mitunter zwei-, dreimal im Jahr.« »Warum denn?« Der Alte zuckte die Achseln und breitete die Arme aus. »Gott weiß«, sagte er. »Die Leute wollen einfach Sachen in den Graben werfen. Dabei ist das ziemlich schwierig. Sehn Sie die andern Sockel da? Auf dem einen steht eigentlich 165
eine Marmorvase, auf dem andern ein Kind mit einer Muschel und auf einem dritten eine Leda. Alle liegen sie drunten im Wasser.« »Ich möchte wissen, warum sie das tun … Aus Ärger, wie?« »Gott weiß! Sie tun’s eben … kommen bei Nacht dahergeschlichen.« »Und Sie ziehen die Sachen immer heraus?« »Dies Jahr bin ich spät dran. Ich hatte zuviel zu tun, und außerdem Rheuma.« »Warum befestigen Sie die Figuren nicht auf den Sokkeln?« »Tja, verstehen Sie nicht«, erklärte der Alte geduldig, »dann würden sie sie mitsamt den Sockeln hineinwerfen. Und dann könnte ich sie kaum mehr herausbringen.« »Sind Sie hier der Besitzer?« fragte der König freundlich. »Nein, nein. Ich wohne hier in der Gegend.« »Warum ziehen Sie dann die Figuren heraus?« Der Alte schaute etwas verdutzt drein. Er wußte anscheinend nicht recht, was er antworten sollte. »Ja, ich weiß eigentlich nicht. Es gibt nun einmal Leute, die ziehen eben Sachen heraus … Jaja. Und ich bin wohl einer von denen.« Der König betrachtete den grünen, schleimigen Pan. Ratlos sagte der Alte: »Es ist wohl so, daß die einen dies und die andern jenes tun, und«, fügte er in einem Ton hinzu, als habe er gerade eine Entdeckung gemacht, »und so geht eben alles vor sich.« »Gut oder schlecht?« fragte der König. 166
»Ich verstehe Sie nicht«, sagte der Alte ebenso ratlos. »Es sind eben Menschen und … Menschen tun so was einfach.« * Der König besuchte häufig Schwester Hyacinthe, manchmal um ruhig mit ihr über die Vorkommnisse des Tages zu sprechen, manchmal auch, um nur still dazusitzen. Und sie, die mehr – wenn auch andersartige – Erfahrung hatte als Marie, wußte, wann sie plaudern und wann sie das erquickende Schweigen mit ihm teilen mußte. Eines Tages sagte sie zu ihm: »Ich möchte wissen, was die Oberin dächte, wenn sie erführe, daß ich, eine einzige ausgenommen, die Funktionen einer königlichen Maitresse ausübe. Sie sollten wirklich auch Ihre Maitresse besuchen, Sire. Sie fühlt sich übergangen. Sie hatte einen Seelenkampf zu bestehen, um Ihre Maitresse zu werden, und nun merkt sie, daß sie ganz umsonst gekämpft hat. Sie haben noch nicht einmal mit ihr gesprochen, geschweige denn sie verführt.« »Später«, sagte der König. »Vielleicht lade ich sie später einmal zum Tee ein … Wie heißt sie doch nur?« Nach seiner Rückkehr von Gambais begab sich der König, ohne sich anmelden zu lassen, sofort zu Schwester Hyacinthe. Sie war gerade mit ihrer Massage beschäftigt. Ein Paar durch die Löcher im Wandschirm hervortretende rosige Füße waren alles, was er von ihr sehen konnte. »Er ist gleich fertig, Sire«, sagte sie hinter der Wand hervor. 167
Der Masseur verbeugte sich und begab sich wieder an die Arbeit; mit kurzen, leisen, ebenso liebe- wie achtungsvollen Mauzlauten machte er sich über die rosigen Zehen her, knetete und streichelte die abgeflachten Spannbogen. »Ich stelle eine Besserung fest«, sagte er. Dann zum König: »Sehen Sie her, Sire … vor einem Monat konnte man nicht den dünnsten Papierbogen unter den Mittelfuß schieben, und nun, Sire, erkennt auch das ungeübteste Auge eine Wölbung.« Schwester Hyacinthe brummte hinter der spanischen Wand: »Unterstehen Sie sich nicht, meine Füße so gesund zu machen, daß ich mich ermutigt fühle, sie zu gebrauchen.« »Sie zieht nur ihre Füße in Betracht«, sagte der Masseur spitz. »Aber ich habe an meinen Beruf und meinen Ruf zu denken.« Als er gegangen und der Wandschirm zusammengeklappt und weggeräumt war, sagte sie: »Dieser kleine Wichtigmacher da bringt mir wirklich die Füße in Ordnung, und davor habe ich Angst.« »Wir wollen das für uns behalten«, sagte der König. »Sie haben einen roten Kopf, Sire. Sie waren zu lange in der Sonne.« »Ich bin mit einem Roller aufs Land hinaus gefahren, Schwester.« Sie lachte auf. »Der Sonnenkönig tat so etwas nicht«, sagte sie. »Die Zeiten haben sich geändert … aber ein Motorroller … Ich kann mir vorstellen, daß Ihre Minister sich über die Pferdekräfte ihrer Limousinen herumstreiten.« 168
»Woher wissen Sie das?« fragte er. »Es gibt Dinge, die man weiß, Sire. Ich weiß, zum Beispiel, daß Sie sich über etwas den Kopf zerbrechen, über etwas Schweres sogar, und daß Sie zu mir kommen, damit ich Ihnen bei der Lösung des Problems behilflich bin.« »Sie sind sehr klug«, sagte der König. »Nicht klug genug, das Tanzen aufzugeben, bevor sich meine Sohlen senkten.« »Doch als es einmal soweit war, taten Sie einen großen Schritt dem Himmelreich entgegen.« »Sie sind sehr liebenswürdig, M’sieur. Es kann recht gut sein, daß meine Nachbarschaft zum Himmelreich ein Nebenprodukt ist. Es wäre wohl richtiger, von Straucheln als von Schreiten zu sprechen. Nun, sind Sie bereit, Ihr Problem darzulegen?« »Ich muß es zuerst isolieren, Schwester. Ganz allgemein läßt es sich in die Frage zusammenfassen: ›Was soll ein Mensch tun?‹« »Das ist nicht gerade ein neues Problem«, sagte sie versonnen. »Und es läßt sich in der Regel dahin lösen, daß jeder das tut, was er ist. Der erste Schritt sollte jedenfalls bestimmen, was der Betreffende ist. Wenn das festgestellt ist, dann besteht sehr wenig Spielraum für das, was er tut.« »Man lernt so viel leichter hinsichtlich anderer Leute«, sagte Pippin. Schwester Hyacinthe sprach: »Als ich die ausgezeichnete Schule verließ, in der ich mich mit Madame anfreundete, und die Stellung in den Folies antrat, war ich sehr beunruhigt über … den Verlust 169
meiner Unschuld. Dann entdeckte ich jedoch, daß das eigentliche Problem nicht in dem Verlust an sich, sondern in dessen Zeitpunkt bestand. Der Zeitpunkt war schlecht gewählt, und das hatte zur Folge, daß ich meine Unschuld bei mehreren Gelegenheiten verlieren mußte, und danach war es unwichtig geworden. Aber ich war damals eines unter vielen nackten jungen Mädchen auf einer Bühne … nicht ein König.« »In diesem Augenblick komme ich mir auch sehr nackt vor«, sagte Pippin. »Natürlich. Es braucht Zeit und eine gewisse Abstumpfung. Aber wissen Sie, daß ich mich nach ein paar Jahren in Kleidern nackter fühlte als ohne sie?« Unvermittelt sagte Pippin: »Schwester, ich habe nicht so viel Zeit.« »Ich weiß. Verzeihen Sie.« »Was soll ich also tun?« »Ich weiß nicht, was Sie tun sollten, Sire, aber ich glaube, ich weiß, was Sie tun werden.« »Sie kennen mein Dilemma?« »Nur wer sich blind stellt, kann das verkennen. Sie werden tun, was Sie tun.« »Das sagte auch der Alte. Aber der zog bloß Statuen aus dem Schlamm. Wenn ich einen Irrtum begehe, dann leiden Menschen: Marie, Clotilde, ja Frankreich. Was würden Sie dazu sagen, Schwester, wenn eine gute Tat eine Explosion auslöste?« »Ich würde sagen«, antwortete die Nonne, »daß eine gute Tat vielleicht unklug sein mag, aber nicht schlecht sein kann. Mir scheint, der menschliche Fortschritt ist ge170
gründet auf guten Taten, die Explosionen hervorgerufen haben, auch den Tod, die Verstümmelung, die Verarmung vieler Menschen … aber etwas vom Guten ist geblieben. Ich wünschte …« Sie stockte. »Nun, warum soll ich es nicht sagen? Im Augenblick wünschte ich, ich trüge nicht dieses Gewand.« »Warum, Schwester?« »Um Ihnen eine der wenigen Tröstungen spenden zu können, die ein Mensch dem andern zu bieten vermag.« »Danke, Schwester.« »Danke, Suzanne; nicht Hyacinthe. Darf ich Sie bitten, mir zu glauben, Sire, daß es eine Zeit gab, da Suzanne weder um ihre Füße noch um ihre Seele Angst hatte. Suzanne würde den Mut gehabt haben und – die Liebe.« * In der Morgenfrühe fuhr Pippin auf seinem Roller wieder nach Gambais. Er ließ den Roller am Straßenrand stehen und bummelte durch den verwachsenen Park, der nach nahendem Frost roch; von den Ranken der auf den Winter eingestellten wilden Rosen pflückte er die orangefarbenen Hagebutten. Ein Windstoß warf ihm gekräuselte, dunkel gewordene flatter von den unruhvoll bewegten Bäumen auf Kopf und Schultern. Dann hörte er vor sich beim Schloßgraben schwaches Rufen; er eilte weiter, bis er an den Waldrand kam, von wo aus er drei stämmige Jünglinge im Scherz mit dem Alten raufen sah. Die drei hatten sich der Pan-Büste be171
mächtigt und schleppten sie gerade zum Wassergraben, während der Alte sie hilflos an ihren Joppen zog und ihnen Schimpfworte zurief. Pippin lief eilends zu der Gruppe hin und stellte die jungen Burschen wütend zur Rede. Sie griffen ihn an, und alsbald bildeten sie alle zusammen einen am Boden rollenden, um sich schlagenden und kratzenden Knäuel, der dem Rand des Grabens immer näher kam und schließlich in das dunkle Schlammwasser fiel. Der Kampf ging jedoch immer weiter, bis die Burschen den blutenden König unter die Wasseroberfläche gedrückt hatten. Er wehrte sich nicht mehr. Da bekamen die Burschen es mit der Angst, hastig kletterten sie die glitschige Böschung hinauf und liefen triefend davon. Bald waren sie in dem herbstlichen Wald verschwunden. Pippin kam langsam wieder zu Bewußtsein. Der Alte hatte des Königs Kopf und Brust über Wasser gezogen. »Ist schon wieder gut soweit«, sagte der König. »Sie sehen gar nicht so aus!« sagte der Alte. »Ich kenne diese jungen Halunken. Ich gehe zu ihren Eltern. Ich reiche eine Klage ein.« »Solange ich noch naß bin, könnte ich eigentlich einmal im Wasser nach der Vase, der Leda und dem Kind mit der Muschel graben.« »Tun Sie das nicht. Die Vase habe ich gestern herausgeholt. Kommen Sie mit zu mir, wärmen Sie sich und lassen Sie Ihre Kleider trocken werden. Ich habe eine halbe Flasche Cognac daheim.« Pippin kroch den Grabenrand hinauf. Er war mit grünem Schaum bedeckt wie die Pan-Büste, er hatte ein blau172
es Auge und einen Riß an der Unterlippe, aus dem das Blut sickerte. Am Rand des Waldes hatte sein neuer Freund eine kleine, unter den Bäumen verborgene Hütte. Hier machte der Alte ein Feuer im Kamin und half Pippin aus den Kleidern. Dann bereitete er einen Eimer warmen Wassers, wusch ihn mit einem Schwamm und trocknete ihn mit zerrissenen, aber sauberen Lappen ab. »Sie sehen aus, als hätten Sie sich mit Katzen gebalgt«, sagte er. »Da, nehmen Sie mal einen Schluck davon. Wikkeln Sie sich in die Wolldecke. Ihre Kleider hänge ich an den Ofen.« Pippin holte aus der Tasche seiner durchweichten Sammetjoppe die Weinflasche heraus. »Das habe ich Ihnen als Geschenk mitgebracht«, sagte er. Der Alte hielt die Flasche so weit von sich ab, wie sein Arm reichte, und schielte auf das Etikett. »Ei, das … das ist ja ein Taufwein … ein Wein für eine Hochzeit. Ich glaube nicht, daß ich noch jemals einen Tag erleben werde, der würdig genug ist, daß ich den Korken herausziehe.« »Unsinn«, sagte Pippin. »Machen Sie die Flasche auf. Ich helfe Ihnen, Sie auszutrinken.« »Es ist noch nicht neun.« »Machen Sie sie auf«, sagte der König und raffte die Decke um die Schultern. Der Alte zog behutsam den Korken aus der Flasche. »Wie kommen Sie dazu, mir so einen Wein zu bringen?« fragte er. 173
»Vielleicht um jemanden zu feiern, der dies und das herauszieht.« »Ach, Sie meinen die Figuren …« »Oder mich. Na, trinken Sie, trinken Sie!« Der Alte kostete und schmatzte dann. »Ein Weinchen wie das da …«, sagte er ratlos. Er wischte sich die Lippen mit dem Ärmel ab, wie aus Angst, es könne ein fremdes Aroma darüber hinstreichen. »In der vergangenen Nacht fiel mir etwas ein«, sagte Pippin, »was ich Sie fragen wollte. Was halten Sie vom König?« »Von welchem König?« »Von Pippin dem Vierten, von Gottes Gnaden König von Frankreich.« »Ach, von dem«, meinte der Alte. Dann wurde er mißtrauisch: »Wo wollen Sie damit hinaus? Ich will keine Scherereien haben … Wein hin, Wein her. Wieso fällt Ihnen das in der Nacht ein?« »Nun, einfach so. Aus Neugier. Ist ja nur eine Frage … keinerlei Schererei dabei. Wer sollte Ihnen denn Scherereien machen?« »Das weiß man nie«, sagte der Alte. »Gießen Sie sich wieder ein und sprechen Sie. Was halten Sie von dem?« »Außer dem, was gerade hier in Gambais vorgeht, höre ich nichts von Politik. Was weiß ich über den König? Es ist eben der König. Einmal gibt’s Könige, und einmal gibt’s keine Könige. Nur daß …« »Nur daß was?« »Nun, ein König, das ist heutzutage nicht mehr das Richtige. Könige? Das kommt mir vor wie die verflixten 174
Riesenechsen, die so groß waren wie ganze Häuser. Die gibt’s auch nicht mehr. Die sind verschwunden, ausge… ausge…« »Ausgestorben, meinen Sie?« »Ja, richtig: ausgestorben. Es scheint, es war kein Platz mehr für sie da.« »Aber einen König von Frankreich gibt es doch.« »Ein Spielzeug für Kinder«, sagte der Alte. »So etwas wie der Weihnachtsmann. Es gibt ihn, aber wenn man älter wird, glaubt man nicht mehr an ihn. Er ist … nun … ein Traum, weiter nichts.« »Meinen Sie, es wird nie wieder Könige geben?« »Wie soll ich das wissen? Weshalb hacken Sie auf mir herum? Man meint beinahe, Sie wären mit ihm verwandt.« Er warf einen Blick auf Pippins überm Ofen hängende Kleider. »Oder doch nicht.« »Würden Sie einen wirklichen König, einen, der kein Traum wäre, erkennen?« »Ich glaube schon.« »Woran würden Sie ihn erkennen?« »Nun, der würde mit seinen Pferden durch die Erntefelder dahergeritten kommen … oder es würden irgendwo Unruhen ausbrechen, und dann würde er eine ganze Masse Leute hängen lassen … oder er tat’ vielleicht sagen: ›Hier geht’s ja ganz wüst zu, ich werd’ da schon Ordnung schaffen …‹« Seine Stimme wurde immer schwächer. »Ich kenne eine Menge reiche Leute, die das so machen, aber das sind keine Könige. Nein, es gibt wohl nur ein Mittel, um da sicherzugehen.« »Nämlich?« 175
»Nun … wenn man ihn auf einem Karren hinausfahren und köpfen tät’, dann wüßte man sicher, daß er ein König war. Jawohl … ich denke schon.« Pippin stand auf, ging zum Ofen und nahm seine feuchten, dampfenden Kleidungsstücke von der Leine weg. »Die sind noch nicht trocken«, sagte der Alte. »Ich weiß … aber ich muß gehen.« »Sie wollen mich wohl bei irgendwem wegen irgendwas anzeigen?« »Aber nein«, sagte der König. »Sie haben mir meine Frage beantwortet. Und ich werde danach handeln! Ein Mensch kann nicht einfach ausgestorben bleiben! Vielleicht werde ich es schlecht machen, aber machen werde ich es.« »Wovon reden Sie eigentlich? Sie haben doch gar nicht viel getrunken.« Pippin zog seine noch halbnassen Kleider an. »Ich schicke Ihnen noch Wein«, sagte er. »Das bin ich Ihnen schuldig.« »Wofür?« »Für das, was Sie mir gesagt haben. Damit ein Mensch geköpft werden kann, muß er erst etwas getan haben, was ihn der Guillotine würdig macht. Die Guillotine oder … oder das Kreuz … die erfordern entweder einen Schacher oder … Danke Ihnen, mein braver Herauszieher.« Damit verließ er rasch die Hütte und eilte durch den Wald zu der Stelle mit dem dichten Gesträuch, in dem er seinen Roller versteckt hatte. * 176
In der königlichen Residenz rieb die Königin eine polierte Tischplatte mit Zitronenöl ab. »Wie oft muß ich es noch sagen, daß Gläser auf einen Untersatz gestellt werden sollen?« Der König umarmte sie und zog sie an seine Brust. »Was machst du denn, Pippin? Du bist ja ganz naß! Und sieh doch nur dein Gesicht … Und dein Auge! Was hast du denn gemacht?« »Ich bin auf dem Steinrand ausgerutscht und in den Karpfenteich gefallen.« »Du wirst auch nie lernen aufzupassen, wo du hintrittst! Pippin! Es kann jemand hereinkommen … M’sieur … die klopfen ja nicht an.«
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5. Kapitel Einhelligkeit herrschte bei sämtlichen Ministern, Delegierten, Aristokraten und Akademikern darüber, daß die Eröffnung der Verfassunggebenden Versammlung mit königlicher Pracht begangen werden müsse. Zu viele der erst jüngst mit Auszeichnungen Bedachten hatten noch keine Gelegenheit gehabt, ihre Mäntel und Hüte, Federn, Rosetten, Orden und Litzen öffentlich vorzuführen. Vom König wurde verlangt, die Eröffnung feierlich vorzunehmen und eine kurze, aber geschmackvolle Thronrede zu halten. Es wurden ihm eine Anzahl auf die vorsichtigen Gefühle der britischen Fürsten abgestimmte Musterbeispiele für Ansprachen übergeben. Der König von Frankreich sollte die Liebe und Hilfe seiner Untertanen anzunehmen geruhen, gleichzeitig seiner Liebe sowohl für seine Untertanen wie zum französischen Königtum Erwähnung tun, die glorreiche Vergangenheit anerkennen und eine glorreiche Zukunft voraussehen. Danach solle er sich zurückziehen und die Herstellung der Verfassung – oder besser: des Code Pippin – den Abgeordneten überlassen. Pippin war damit einverstanden; doch dann erhob sich ein wilder Streit über die Kostüme, der zwei Stunden lang dauerte. Die Kommission war groß; ihre Mitglieder be178
standen darauf, stehenzubleiben, obwohl der König sie zum Sitzen aufforderte. Zudem behielten zwei ältere Herren vom Hochadel, einem ihren Vorfahren von Franz I. gewährten Privileg zufolge, in Gegenwart des Königs »bedeckt« zu bleiben, ihre Zylinder auf. Bitter sagte Pippin IV.: »Meine Herren, ich hatte den Eindruck und die Hoffnung, die bevorstehende Beratung bezwecke die Schaffung einer Verfassung, einer Gesetzessammlung, die das alltägliche Leben des gemeinen Mannes regeln soll. Warum ist es daher nötig, diese Sitzung in ein Kostümfest zu verwandeln, wie gewisse südamerikanische Millionäre solche in Venedig veranstalten? Warum können wir dazu nicht im nüchternen Gewand unserer Tage erscheinen?« Ein Sozialist und ein Aristokrat meldeten sich gleichzeitig zum Wort; aus ihrem Streit um die Priorität ging der Sozialist als Sieger hervor, und zwar kein Geringerer als Honnête Jean Veauvache, Comte des Quatre-Chats. Der Herr Graf entgegnete, wie die zustimmend nickenden Köpfe erkennen ließen, im Sinne der ganzen Kommission: »Eure Majestät, das Gesetz ist nicht alltäglicher Natur. Im Gegenteil: Das Gesetz ist ein mystischer Begriff, der für die Überzahl der Gemüter der Religion nahe verwandt ist. Und wie die Verwalter der kirchlichen Gesetzgebung Trachten als unumgänglich erachten, so auch die Diener des bürgerlichen Rechts. Wollen Sie daran denken, Sire, daß unsere Richter in Talaren und Mützen amten. Wollen Sie sich der Richter in England entsinnen, die es sich zur 179
Pflicht machen, ohne Rücksicht auf Hitze, im Gerichtssaal nicht nur Talare und Perücken, sondern auch Blumensträuße zu tragen, die einst dazu bestimmt waren, den Geruch des Volkes zu verdecken, aber auch in weniger übelriechenden Zeiten beibehalten wurden. Und selbst in Amerika, der Nation der reizbarsten Demokratie, wo es verboten ist, im Waffenschmuck zu amtieren, und vom Staatsoberhaupt verlangt wird, daß er der schlechtest angezogene Mann von allen ist, selbst dort treten die gewöhnlichen Leute, die sich um etwas betrogen fühlen, geheimen Gesellschaften bei, wo sie regelmäßig Kronen, Mäntel und Hermelin tragen und in altertümlichen Ritualformeln reden, an denen sie sich erbauen und erheben, obschon sie den Wortlaut nicht verstehen. Nein, Majestät, das gemeine Volk wünscht nicht nur keine gemeine Alltäglichkeit, es erlaubt sie nicht einmal. Ich darf Eure Majestät bitten, sich an Louis-Philippe, den sogenannten Bürgerkönig, zu erinnern, der auf den Straßen von Paris in Alltagskleidung, ja sogar mit einem Regenschirm, zu spazieren wagte. Er wurde vom empörten Volk des Landes verwiesen. Und letztlich, Sire, die Blüte der französischen Gesellschaft wird tagen und ihre Damen werden in den Logen sitzen. Sie alle haben sich neue Staatsgewänder machen lassen, ja sogar Adelskronen. Man darf ihnen nicht verweigern, sie zu tragen. Das alles scheinen Kleinigkeiten zu sein, es sind jedoch höchst wichtige und gewichtige Momente. Wenn vor diese Versammlung nunmehr der König träte, angetan mit einem zweireihigen Anzug und einer Krawatte von Sulka und in der Hand eine Aktentasche – nur mit Schaudern vermag ich an die Folgen zu 180
denken. Wahrlich, ein solcher König würde meines Erachtens vom Gelächter weggefegt werden.« Die ganze Kommission nickte wie ein Mann, und als Honnête Jean geendet hatte, fühlten sich die Mitglieder gedrängt, Beifall zu klatschen. Nach ihm sprach ein ehrwürdiges Mitglied der Akademie, ein Mann, dessen Name und Weisheit sprichwörtlichen Klang in der Welt hat. »Ich möchte den Worten des Herrn Grafen beipflichten«, sagte der berühmte Mann, »allein ich möchte noch einen Schritt weitergehen. Die Majestät kann ungefähr alles tun, was sie wünscht, außer einem: Der König darf sich nicht lächerlich machen. Das ist das einzige, was ihn unweigerlich ins Verderben bringt. Sire, in jungen Jahren hatte ich das Glück, bei einem Mann von höchster Gelehrsamkeit, aber auch unermeßlicher Weltkenntnis zu studieren. Dieser Mann erklärte mir eines Tages: ›Wenn der bedeutendste Kopf der Welt berufen würde, sich vor den fünfzig nächstbedeutenden Gehirnen der Welt über ein Problem zu äußern, das für das Weiterbestehen der Welt ausschlaggebend wäre, und dieser bedeutendste Mensch der Welt hätte in all seiner Zerstreutheit vergessen, seine Hosenknöpfe zuzumachen, so würde die Versammlung nicht nur auf kein einziges Wort seiner Ausführungen achtgeben, sondern sich des Lachens über ihn nicht enthalten können.‹« Der König hatte, wie es seine Gewohnheit war, den Zwicker rittlings auf seinen Zeigefinger gesetzt. Er sagte: »Meine Herren, ich habe nicht den Wunsch, Ihnen etwas in den Weg zu legen. Ich habe auch nicht den 181
Wunsch, Ihnen irgendwelche Schwierigkeiten zu machen wegen Ihrer neuen Garderobe sowie derjenigen Ihrer Damen. Allein bei der Krönung bin ich mir in all dem Drum und Dran lächerlich vorgekommen und muß überdies auch so gewirkt haben.« »Keineswegs, Eure Majestät«, erscholl es im Chor. »Nun, jedenfalls war mir so heiß, daß ich fast erstickte.« Der Comte des Quatre-Chats meldete sich durch Handaufheben wieder zu Wort. »Es würde genügen«, sagte er, »wenn Eure Majestät in einer Uniform erschiene, sagen wir in der eines Großmarschalls von Frankreich.« »Aber ich bin das ja nicht.« »Der König kann sich zu allem selbst ernennen, Majestät.« »Aber ich besitze keine entsprechende Uniform«, sagte Pippin. »Dafür gibt es die Museen, Sire. Vom Invalidendom läßt sich sicher eine Großmarschallsuniform beziehen.« Der König blieb eine kurze Weile stumm, dann sagte er: »Wenn ich mich damit einverstanden erkläre, meine Herren, würden Sie mir gestatten, von Versailles im Auto statt in der Staatskarosse herzufahren? Sie können sich nicht vorstellen, wie unbequem diese Karosse ist.« Nach geflüsterter Beratung wurde dem zugestimmt; der Comte des Quatre-Chats nahm indes noch einmal das Wort und sagte: »Wir, Dero getreue und gehorsame Diener, Sire, würden uns freuen, wenn Eure Majestät gestatten, daß während der Ansprache – aber nur während derselben – der 182
königliche Purpurmantel über Dero Schultern gelegt würde.« »Ach, du großer Gott!« seufzte Pippin. »Nun gut, ich bin damit einverstanden, aber nur während der Rede.« So wurde es denn beschlossen. * Es war der Nachmittag des 4. Dezember. Das Schloß von Versailles war ein Tollhaus von herumschwirrenden Aristokraten, die anprobierten, verkürzen, verlängern und flicken ließen, vor dem Spiegel in ihren Hofgewändern auf und ab stolzierten. Währenddessen ging der König, in Manchesterjoppe und Sturzhelm, zur Torwache, zwinkerte dem Hauptmann, mit dem er sich angefreundet hatte, zu und drückte ihm ein Päckchen Lucky Strike in die Hand. Pippin wußte, daß der Hauptmann im Dienst der Geheimpolizei stand, aber auch im Dienst der Sozialistischen Partei, der Britischen Botschaft sowie der Peruianischen Einkaufszentrale und außerdem Teilhaber einer Konditorei in Charonne gleich beim Boulevard Voltaire war. Hauptmann Pasmouches berichtete jedem seiner Auftraggeber über alle andern; aber dem König war er ebenso aufrichtig zugetan wie den Lucky-Strike-Zigaretten. »Kommen Sie nur hier herum, M’sieur«, sagte er und geleitete den behelmten und bebrillten Pippin zum Wachhaus, wo der Roller unter seiner Segeltuchhülle schlummerte. »Kommen Sie vielleicht in die Nähe von Charonne, M’sieur?« fragte Pasmouches. 183
»Ich könnte schon«, sagte der König. »Würden Sie vielleicht meiner Frau in der Pâtisserie Pasmouches einen Zettel überbringen?« »Gern«, sagte der König. »Es liegt allerdings ein bißchen von meinem Weg ab«, meinte er, während er das Papier zusammenfaltete und einsteckte. »Falls Nachforschungen angestellt werden, selbstverständlich …« »Ich habe nichts gesehen, M’sieur«, sagte der Hauptmann. »Selbst für den Herrn Minister habe ich nichts gesehen.« Der König trat auf den Anlasser und bestieg den Roller. »Es ist unverkennbar«, sagte er, »daß Sie einen Marschallstab im Stiefel tragen, Herr Hauptmann.« »Sehr liebenswürdig, M’sieur«, sagte Hauptmann Pasmouches. Es war ein ganz beträchtlicher Umweg, aber der Nachmittag war schön und sonnig, ein richtiger Tag zum Spazierenfahren und eine Erholung von dem überbordenden Unsinn in Versailles. Der König übergab den Zettel Madame Pasmouches, die ihn zu einer Tasse Kaffee und einer Auswahl Petits fours einlud. Nach höflicher Verabschiedung rollte der König durch den wüsten Verkehr der Place de la Bastille, schoß die Rue de Rivoli hinauf bis zum Pont Neuf und über den Fluß hinüber zur Rue de Seine. Bei Charles Martel waren Läden und Haustür geschlossen. Pippin hieb mit der Faust an die Türfüllung; es erfolgte jedoch nichts. Erst als er beiseite getreten war und geduldig gewartet hatte, öffnete sich die Tür ein ganz klein wenig. Pippin schob entschlossen den Fuß in den Spalt. 184
Onkel Charlie brummte mißvergnügt: »Kann man denn nie seine Ruhe haben … nicht einmal zu einem Schäferstündchen?« »Daran glaube ich nicht«, sagte Pippin. »So? Na, dann komm herein. Was willst du denn?« Der König trat in die halbdunkle Galerie und sah, daß die Wände leer waren, aber große Holzkisten vollgepackt und zum Zunageln bereit herumstanden. »Gehst du auf Reisen, Onkel?« »Ja.« »Du forderst mich nicht zum Platznehmen auf? Was hast du gegen mich?« »Also komm herein. Die Sessel sind schon zugedeckt. Du mußt dich auf eine Kiste setzen.« »Du machst dich aus dem Staub?« »Ich traue dir nicht«, sagte Onkel Charlie. »Ich kann zwei und zwei zusammenzählen. Du führst etwas im Schilde. Und du wirst unterliegen, mein Sohn. Ich sehe aber nicht ein, warum ich auch Verlust erleiden soll wegen deiner Torheit.« »Ich brauche deinen Rat.« »Den werde ich dir geben: Benimm dich wie ein richtiger König und hör auf, deine Nase in die Staatsgeschäfte und – die Regierung zu stecken, wo es nicht gewünscht wird. Diesen Rat gebe ich dir. Wenn du dich danach richten würdest, könnte ich wieder auspacken.« »Du hast mir einmal gesagt, ich sei ein Prügelknabe … ein königlicher Prügelknabe. Etwas wie ein Bauer im Schachspiel, dessen man sich bedient, solange man ihn braucht, und den man ohne Kummer fahren läßt?« 185
»Ja, so ungefähr. Aber wenn ein Bauer versucht, Regierungsarbeit zu leisten, dann ist der Bauer ein Narr.« Pippin setzte sich auf eine Kiste. »Gib mir bitte ein Glas Cognac.« »Ich habe keinen da.« »Was ist denn in der Flasche da hinten?« »Marc.« »Dann gib mir einen Fingerhut voll Marc. Du mußt in einer Panik sein, lieber Onkel, wenn du deine Höflichkeit eingebüßt hast.« »Ich bin in einer Panik. Und ich habe auch Angst um dich.« »Der König kann ein Feld vorwärts, rückwärts, seitwärts und schräg rücken, doch ein Prügelknabe – oder ein Bauer – nur vorwärts. Danke, Onkel Charlie. Hältst du nicht mit? Willst du nicht auf meine Gesundheit trinken? Das Schuldgefühl wegen deiner Untreue braucht dich nicht zu veranlassen, mich zu hassen.« Onkel Charlie stieß einen sehr tiefen Seufzer aus. Schließlich sagte er: »Ich schäme mich, jawohl. Doch meine Scham bringt mich nicht von dem eingeschlagenen Wege ab. Ich gehe für eine Zeitlang nach Amerika, bis … nun, bis der Sturm vorbei ist. Ich weiß nicht genau, was du vorhast, aber ich weiß, es wird zum Unheil ausschlagen. In einer Hinsicht hast du freilich recht. Das ist keine Ausrede für Unhöflichkeit. Verzeih!« »Ich kann mir denken, wie dir zumute ist, lieber Onkel. Aber ich habe über all das scharf nachgedacht. Ein König ist ein Anachronismus … Einen König gibt es überhaupt nicht.« 186
»Was hast du also im Sinn?« »Nur ein paar, auf meine Beobachtungen gegründete Anregungen.« »Man wird dich einen Kopf kürzer machen. Anregungen werden nicht gewünscht.« »Eines habe ich gelernt: Ein König muß sich der Guillotine würdig erweisen. Und vielleicht schlägt die eine oder andere Anregung doch Wurzel.« »Märtyrer waren mir immer zuwider.« Pippin goß den Marc hinunter und schauerte zusammen. Dann sagte er: »Ich bin kein Märtyrer, Onkel Charlie. Ein Märtyrer tauscht etwas, das er hat, gegen etwas ein, was er wünscht. Ich bin nicht ehrgeizig.« »Was bist du sonst … mutwillig?« »Vielleicht. Oder auch bloß neugierig. Und sicher nicht tapfer.« »Ich hatte gemeint, ich kenne mich aus mit dir. Was ist mit Marie? Mit Clotilde? Hast du kein Gefühl für sie?« »Deshalb kam ich zu dir … um dich zu bitten dich ihrer anzunehmen … das heißt, falls es die Gelegenheit erfordert.« »Und was ist mit dir selbst?« »Ich kann schon für mich selbst sorgen.« »Du hast die Absicht, das morgen auszuführen?« »Ja. Es wäre mir deshalb lieb, wenn du Madame und Clotilde einladen würdest, dich morgen zu besuchen … du könntest mit ihnen vielleicht einen Ausflug aufs Land machen. Vielleicht könnte der junge Mr. Johnson dir behilflich sein. Er hat ein Auto. Ein Wochenende an der 187
Loire. In Sancerre ist ein wunderschönes kleines Gasthaus. Aber du wirst es wohl kennen.« »Ja, ich kenne es.« »Willst du das tun?« Onkel Charlie fluchte eine Weile lang schrecklich. »Du tust es also!« sagte der König. »Das ist ein Gaunerstreich von dir! Du denkst, du hast das Recht, mit mir nach Belieben umzuspringen, weil du mit mir verwandt bist. Es ist eine gemeine Erpresserei!« »Das wäre also erledigt!« sagte Pippin. »Danke dir, Onkel Charlie.« Er stand auf. »Ach, noch ein Glas«, sagte Onkel Charlie. »Ich glaube doch, ich habe noch ein paar Tropfen Cognac da.« »Du machst mich sehr glücklich«, sagte der König. »Ich wußte ja, daß ich mich auf dich verlassen könne.« »Merde!« sagte Onkel Charlie. * Einen knappen Kilometer vor dem Versailler Schloß stieg Pippin vom Roller und schob ihn von der Landstraße weg über den weichen Teppich des gefallenen Laubes tief in den Wald hinein. Im Windschatten eines vorspringenden Steinblocks scharrte er mit den Händen das Herbstlaub weg, legte den Roller in die entstandene Mulde und deckte ihn mit Blättern zu, über die er noch ein paar vom Sturm heruntergerissene Äste legte, damit sie nicht weggeweht wurden. Danach verließ er den Wald und ging zu Fuß auf der Landstraße weiter. Am Tor angekommen, sagte er zu dem Wachhauptmann: 188
»Ich habe Ihren Brief abgeliefert. Madame sagt, sie wird alles besorgen. Sie hätte gern, daß Sie an Ars et Fils telefonieren, damit die ihr ausrichten, wann Sie heimkommen. Ich muß sagen, Madames Backwerk ist köstlich.« »Merci, Monsieur. Wo ist Ihre Maschine?« »Ich hatte einen kleinen Unfall«, sagte der König achselzuckend. »Sie ist beim Reparieren. Ein freundlicher Tourist nahm mich hierher mit. Natürlich wünschte ich nicht, daß er …« »Ich verstehe, M’sieur … Es ist nicht nach Ihnen gefragt worden.« »Sie sind wohl alle zu sehr mit sich selber beschäftigt«, sagte der König. Bei Tisch sagte die Königin zu Pippin: »Dein Onkel Charles hat mich und Clotilde aufgefordert, mit ihm nach Sancerre zu fahren. Mir scheint das nicht der richtige Moment, um …« »Im Gegenteil, meine Liebe«, fiel er ihr ins Wort. »Ich habe alle Hände voll zu tun mit der Versammlung. Und du brauchst einmal Ferien. Du hast schwer und lang gearbeitet.« »Aber ich habe noch eine Million Sachen zu …« »Ganz unter uns, meine Liebe, ich halte es für richtig, Clotilde für ein paar Tage von Paris wegzubringen. Einfach aus politischen Gründen, du verstehst … sie redet zuviel mit Zeitungsleuten. Sancerre, wie? Ich erinnere mich daran … Ein entzückendes Städtchen mit einem großartigen Wein, falls du von dem etwas auftreibst.« »Ich werde es mir überlegen«, sagte die Königin. »Ich habe so viel im Kopf. Ich weiß gar nicht, ob ich dir das sa189
gen soll, Pippin. Die Hausverwaltung von Avenue de Marigny Nummer 1 weigert sich strikt, die Kündigung anzunehmen. Sie besteht darauf: Mietvertrag sei Mietvertrag, gleichviel unter welchem Regierungssystem.« »Wir können vielleicht später untervermieten.« »Dann habe ich bloß noch eine Sorge mehr«, sagte die Königin. »Du weißt doch, wie Mieter sind. Und der größte Teil der Möbel meiner Mutter steht noch drin.« »Du brauchst Ferien, meine Liebe. Du hattest zuviel Pflichten auf dir.« »Was soll ich denn mitnehmen?« »Nur ein paar Sachen für den Wagen und einen warmen Mantel. Am Fluß kann es in dieser Jahreszeit recht kühl sein. Ich wollte, ich könnte mitfahren.« Die Königin warf einen nachdenklichen Blick auf ihren Gemahl. »Ich lasse dich gerade jetzt gar nicht gern allein.« Pippin nahm ihre Hand, drehte sie um und küßte den Handteller. »Gerade jetzt ist die richtigste Zeit«, sagte er. »Ich habe so viel mit der Versammlung zu tun, daß du mich nicht einmal sehen würdest.« »Du magst recht haben«, sagte sie schließlich. »Mit all der Politik und dem Gerede um einen herum! Ich habe die Aristokratie satt, mein Lieber: Und die Politik langweilt mich tödlich. Manchmal wünschte ich, wir lebten noch in unserm kleinen Stallgebäude. Ein so angenehmes Milieu. Nur der Concierge ist unmöglich.« »Ich weiß«, sagte der König, »aber was kann man von Elsässern verlangen?« »Ganz richtig, das ist es eben«, sagte die Königin. »Provinzler, jawohl. Interessieren sich für nichts als für die 190
Dinge ihres kleinlichen, engen Daseins. Provinzler! Meinst du, ich solle meinen Pelzmantel mitnehmen?« »Dazu möchte ich unbedingt raten«, sagte der König. * Fotos von der historischen Eröffnung der Tagung zur Beratung des Code Pippin hat wohl jedermann gesehen. Keine Zeitung, keine Zeitschrift, die nicht mindestens eine Aufnahme gebracht hätte: die im Halbkreis angeordneten Sitzreihen mit den Delegierten in Talaren, die Rednertribüne und der thronartige Hochsitz des Premierministers, dem Leitung und Beaufsichtigung der Verhandlungen oblagen. Die Fotos zeigten die gespannten Gesichter der in die verschiedensten Galatrachten gekleideten Delegierten, die Galerien, zum Überfließen gefüllt mit den Damen in ihren Hofgewändern und Diademen, die Türhüter in Schlitzwämsern und mit Hellebarden. Nicht sichtbar auf den Bildern sind die Ballen von Akten, die Berge von Büchern mit Präzedenzfällen, die Aktendeckel und Aktenmappen, ja die kleinen Aktenschränke, die zwischen den Beinen der Delegierten auf dem Fußboden standen, das ganze Waffenarsenal, mit dem eine jede Partei durch eigene Verherrlichung Frankreich zu retten plante. Der Beginn der Tagung war für den 5. Dezember, drei Uhr nachmittags, anberaumt, und man war übereingekommen, die Sitzung nach der Thronrede auf den nächsten Morgen zu vertagen. Zu den weiteren Sitzungen war der König weder eingeladen noch erwünscht. Man erwar191
tete von ihm, daß er zum Schluß seine königliche Unterschrift unter das neue Gesetzbuch setze, wenn möglich ohne es zu lesen. Man entsinnt sich, daß es der Herzog von Troisfonts gewesen war, der als erster die Wiederkehr der Monarchie beantragt hatte. Es wurde daher für unbedingt angebracht gehalten, daß er, trotz seines Wolfsrachens, den Eintritt des Königs verkünden solle. Um 3 Uhr 15 hob der Ministerpräsident den Holzhammer hoch, eine genaue Nachbildung der Streitaxt, von der sich Karl Martells Name herschrieb. Feierlich fiel zu krachendem Schlag der Hammer dreimal. Am Eingang zur Rechten der Rednertribüne traten die Hellebardiere zurück, die Flügeltüren öffnend, und präsentierten dann die Waffe. Der Herzog von Troisfonts trat ein. Er war mit Orden und Ehrenzeichen geschuppt wie ein Fisch, während eine mit seiner Herzogskrone zusammengearbeitete Perücke ihm ein munteres Aussehen verlieh. Er schritt bis zur Rednertribüne vor, wo er verängstigt umherblickte. Das Mitglied der Königlichen Musikakademie Poitin stieß dreimal den Stab auf den Boden, worauf sechs Trompeter in Heroldsgewand sechs Fuß lange gerade Trompeten, von denen das Königswappen herunterhing, hochhoben. Monsieur Poitin gab ihnen den Einsatz, worauf sie eine Fanfare schmetterten, die den großen Saal in Schwingung zu versetzen schien. Der Herzog von Troisfonts rang nun nach Atem und stieß hervor: »Mei-e He-en, Hei-e Mahehät, de-Höni-vo-Fankhei–!« 192
Man hörte von einer Loge her Applaus: Es war die Duchesse de Troisfonts. Abermals Fanfare. Abermals Aufreißen der Flügeltüren durch die Hellebardiere – und Pippin trat ein. Die kühnste Phantasie hätte gewiß keine militärische Figur oder Haltung von ihm erwartet. Aber die Marschalluniform war ein ausgesprochener Mißgriff. Zudem hatte sich das – von einem Maskenverleiher gelieferte – Stück im letzten Augenblick als viel zu weit herausgestellt. Der Waffenrock war durch eine Reihe auf dem Rücken angebrachter Sicherheitsnadeln halbwegs passend gemacht. Aber mit den Hosen war nichts dergleichen zu machen gewesen, und so hing ihm, obschon der Hosenbund bis zum Brustkorb hinaufgezogen war, der Hosenlatz immer noch fast in Kniehöhe. Der Mantel aus Purpursammet mit Hermelinbesatz wallte ihm von den Schultern; die beiden hinter ihm dreinschreitenden Pagen taten ihr Möglichstes, und als der König die Rednertribüne erreicht und sich dann umgedreht hatte, schlugen sie die Zipfel der Schleppe einwärts, um die Hosen zu verdekken, so daß er aus den Mantelfalten herausragte wie der Staubfaden aus einer Lilienblüte. Der König legte das Manuskript seiner Rede auf das Rednerpult. Dann fuhr er sich mit den Händen über den Brustkasten, suchte aufgeregt zwischen den Ordenssternen und -kreuzen herum. Sein Kneifer war nicht da. Er erinnerte sich genau, daß er ihn sich mitsamt der Schnur umgehängt hatte, während der Waffenrock auf seiner Kehrseite zugesteckt wurde. Er flüsterte mit einem der Pagen, 193
der darauf so eilig durch die Seitentür stürmte, daß er einer Wache die Hellebarde aus der Hand schlug. Inzwischen hatte Kapellmeister Poitin, der nicht umsonst fünfzig Jahre beim Theater gewesen war, den Trompetern ein Zeichen gegeben, das traditionelle Jagdsignal »Fuchs ist aus« zu blasen, dessen triumphales Thema für gerade Trompeten nicht eben leicht ist. Die Improvisation gelang jedoch brillant, bis der Page mit dem Kneifer zurückkam und ihn Pippin aushändigte. Der König beugte sich über die vor ihm liegenden, mit ebenso präziser wie minutiöser Mathematikerschrift bedeckten Blätter. Er las die Rede vom Blatt, wie man eben eine Rede herunterliest, ohne die Stimme zu lieben oder zu senken, ohne Betonung der Pointen, ohne Deklamation. An dem Einleitungsabsatz konnte niemand etwas auszusetzen finden: »Wohledle Herren, mein Volk … Wir, Pippin, von Gottes Gnaden, durch Rechte des Bluts und auf Grund gesetzlicher Wahl König von Frankreich, sind des festen Glaubens, daß dieses Land von Gott besonders bevorzugt wurde, indem Er ihm fruchtbaren Boden und freundliches Klima verlieh, während Er Sein Volk ausstattete mit Verstand und Begabung wie wenige andere Völker …« Hier brach ein Beifallsgetöse aus, das Pippin veranlaßte, aufzublicken, den Kneifer abzunehmen und den Faden zu verlieren. Als der Lärm etwas nachgelassen hatte, setzte er den Kneifer wieder auf und beugte sich über die engbeschriebenen Blätter. »Also, wo war es … eh … hm … hmhm … ja, hier ist es … wie wenige andere Völker. Als Wir die Krone annah194
men, befaßten Wir Uns alsbald mit einem eingehenden Studium der Nation, ihrer Reichtümer, ihrer Mängel und ihrer Möglichkeiten. Wir gaben Uns nicht nur dem Studium der verfügbaren Statistiken hin, sondern gingen auch hinaus und mischten Uns unters Volk, nicht in Unserer Eigenschaft als Souverän, sondern auf dem Niveau des Volkes selbst …« Er unterbrach die Lektüre, blickte auf und fügte im Gesprächston hinzu: »Wen dies romantisch dünkt, den möchte ich fragen, wie anders ich etwas hätte in Erfahrung bringen können.« Er wandte sich wieder seinem Manuskript zu. Der Versammlung bemächtigte sich eine leise Unruhe. Pippin fuhr pedantisch gemessen fort: »Wir brachten in Erfahrung, daß die Kräfte, Erzeugnisse, Bequemlichkeiten, Nutzbarkeiten und Möglichkeiten des Landes einer weitreichenderen Verteilung bedürfen, als sie heute besteht.« Die Rechts- und die Linkszentristen warfen einander bestürzte Blicke zu. »Wir glauben, daß Veränderungen, Planungen sowie gewisse Einschränkungen nötig sind, damit Unser Volk in Wohlstand und Frieden leben und daß die Flamme des französischen Genius, die einst die Welt erleuchtet hat, wieder entfacht werden könne.« Während der kurzen Zeitspanne, die er zum Umwenden einer Seite brauchte, ließ sich da und dort vereinzeltes Händeklatschen hören. Die Delegierten scharrten mit ihren Füßen zwischen den Büchern und Aktenmappen herum. Pippin sprach weiter: »Das französische Volk hat sich einen König erwählt. Es 195
gehört nicht nur zum Begriff eines Königs, sondern es ist seine Pflicht, daß er herrsche. Wenn ein Präsident Anregungen geben kann, muß ein König Befehle erteilen, andernfalls hat sein Amt keinen Sinn, hat Königtum kein Leben. Wir befehlen und verordnen daher, daß das Gesetzbuch, welches Sie schaffen, folgendes enthalten soll …« Und nun platzte die Bombe. Der erste Absatz handelte von den Steuern: sie sollten so niedrig gehalten werden wie möglich und von allen Franzosen eingezogen werden. Der zweite von den Löhnen: sie sollten mit den Profiten in Einklang gebracht und nach den Lebenskosten abgewandelt werden. Preise: müßten genauer Kontrolle unterworfen werden. Wohnungswesen: die vorhandenen Häuser seien zu renovieren; Neubauten unter Beaufsichtigung hinsichtlich Konstruktion, Ausstattung und Mietpreisen zu erstellen. Der fünfte Absatz verlangte eine Reorganisation der Regierung zwecks Arbeitsleistung bei geringstmöglichem Verbrauch an Geld und Personal. Der sechste Absatz beschäftigte sich mit öffentlichem Gesundheitsdienst und Altersversicherung. Der siebente Absatz ordnete Zerschlagung des Großgrundbesitzes an zwecks Einbeziehung des brachliegenden Bodens in den Produktionsprozeß. »Den drei klassischen großen Begriffen möchte ich einen vierten hinzufügen«, sagte er; »die Devise Frankreichs soll fortan heißen: ›Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Aufstiegsmöglichkeit‹.« 196
Den Kopf noch auf das Rednerpult gesenkt, wartete Pippin auf den Beifall; aber als keiner kam, blickte er über die wie vom Donner gerührte Versammlung hin. Wie betäubt saßen die Delegierten da. Mit glasigen Augen stierten sie den König an. Sie schienen kaum zu atmen. Pippin IV. hatte vorgehabt, sich nach dieser Schlußpointe mit einer leichten Verbeugung zu verabschieden und sich, indes in seinem Rücken der Beifallssturm brauste, würdevoll zurückzuziehen. Aber da war nur ein geradezu schmerzhaft fühlbares Schweigen. Aufruhr hätte er begreifen können. Er hatte sich sogar auf Anwürfe gefaßt gemacht. Aber das Schweigen packte ihn, verwirrte ihn. Er nahm den Kneifer ab und setzte ihn auf seinen Zeigefinger. Dann begann er unsicher: »Es ist mir ernst mit jedem Wort. Ich habe Frankreich wahrhaft in Augenschein genommen, dieses Frankreich, das drei feindliche Invasionen, zwei Okkupationen während dreier Generationen erlebt hat und als ein Ganzes, stark und frei daraus hervorgegangen ist. Ich sage Ihnen heute: Was der Feind uns nicht antun konnte, das tun wir uns selbst an, gleich gefräßigen, ungebärdigen Kindern, die sich bei einer Geburtstagsgesellschaft mit Kuchen bewerfen.« Mit einenmal übermannte ihn Zorn, kalter Zorn. Aus heiserer Kehle rief er: »Ich habe nicht verlangt, König zu werden. Ich habe nicht darum gebeten, König zu werden. Und ihr, ihr wolltet gar keinen König. Ihr wolltet einen Prügelknaben.« Und noch lauter schrie er ihnen zu: »Aber ihr wähltet ei197
nen König, und, bei Gott, einen König habt ihr nun … oder das Ganze ist ein Fastnachtsscherz.« Delegierte räusperten sich, andere nahmen ihre Brillen ab und putzten sie. »Ich weiß ebensogut wie Sie alle«, fuhr er ruhiger fort, »daß die Zeit für Könige vorbei ist. Die Fürsten sind ausgestorben, und ihre Stellen werden von den Managern eingenommen. Ich habe versucht, Ihnen bei dem Sprung behilflich zu sein, denn Sie sind weder das eine noch das andere. Ich überlasse Sie jetzt Ihren Beratungen. Meine Befehle haben Sie, doch ob Sie ihnen nun nachkommen oder nicht, versuchen Sie, sich unseres herrlichen Landes würdig zu erweisen.« Damit machte er eine leichte Verbeugung, drehte sich um und wollte auf die Tür zugehen, doch ein den Mund aufsperrender Page stand auf dem Schleppenrand des mit Hermelin verbrämten Purpurmantels. Der fiel von seinen Schultern auf den Boden, so daß die Reihe von Sicherheitsnadeln auf der Kehrseite des Waffenrocks und der sackig zwischen seinen Schenkeln baumelnde Hosenboden sichtbar wurden. Bei Kindern wie Erwachsenen gibt es zwei Wege zur Lösung von Spannungen: der des Lachens und der des Weinens; zu beiden ist der Zugang gleich leicht. Hier gaben die Sicherheitsnadeln den Ausschlag. Es fing mit einem unterdrückten Kichern in den ersten Sitzreihen an, breitete sich aus und wurde schließlich zu allgemeinem hysterischem Gelächter. Die Delegierten schlugen ihren Vordermännern auf den Rücken, kreischten und brüllten und wischten sich die Tränen aus den 198
Augen. Damit verwanden sie den durch die königliche Botschaft erhaltenen Schlag, lenkten sie den Schreck, das Grausen und ihr eigenes tiefes Schuldgefühl ab. * Pippin hörte das Gelächter durch die geschlossenen Türen. Er zog die sackigen Hosen aus und hängte sie über einen Stuhl. Er zog seinen dunkelblauen, feingestreiften Anzug an und knüpfte seine schwarzseidene Strickkrawatte. Dann ging er ruhig durch eine Hintertür ins Freie, um das Gebäude herum und gesellte sich zu dem vor dem großartigen Marmorportal stehenden Volk. »Was ist denn das für ein Lärm? … Was geht denn da vor?« wurde in der Menge gefragt. Langsam ging er dann weiter, weg von der aufgeregten Volksmenge. Eine Zeitlang wanderte er durch die Straßen und besah sich die Schaufenster. In einem Musikaliengeschäft kaufte er sich eine billige Mundharmonika, auf der er, sie verdeckt in der Hand haltend, ab und zu ein paar Takte blies. So wanderte er zum Seineufer und sah den ewigen Anglern zu, mit ihren dünnen Schnüren und ein paar Krümchen Brot als Köder. Da aber die Tage schon kurz waren, fuhr er mit einem Bus heim nach Versailles. Dort wanderte er wieder in den leeren Königsgemächern herum. Er löschte alle Lampen und rückte sich einen Sessel an eines der mit Blei eingefaßten Fenster, von dem aus man einen Blick auf den Park hatte. Dann holte er seine Harmonika aus der Tasche und versuchte schüchtern, darauf zu blasen. Nach einer Stunde 199
hatte er die Tonleiter gelernt. Nach zwei Stunden konnte er schon, wenn auch langsam und mühselig »Auprès de ma blonde …« spielen. Lächelnd blieb er im Dunkeln sitzen. Im Schloß war es still. Langsam, aber fehlerlos gelang ihm von der ersten bis zur letzten Note die Melodie von »Frère Jacques«. Laut gluckste dazu der Karpfen im Teich. Inzwischen brachen Telegraphie, Radio und Telefonie über Land und Meer hin unter der Wucht des Verkehrs fast zusammen. Privat- und Geheimsender traten in Aktion. Dunkelgekleidete Herren schwirrten zwischen Kanzleien umher. Das State Department sperrte die französischen Guthaben in den Vereinigten Staaten. Luxemburg mobilisierte. Monaco schloß seine Grenzen. In der Bucht von San Francisco wurde ein sowjetrussisches Unterseeboot gesichtet. Im Finnischen Meerbusen machte ein russisches Zerstörergeschwader Jagd auf ein amerikanisches Unterseeboot. Schweden und die Schweiz erklärten ihre Neutralität, setzten jedoch ihre Truppen auf Kriegsfuß. England knurrte und murrte vor Vergnügen und gab zu verstehen, die französische Königsfamilie könne auch diesmal die übliche Zuflucht in London finden. In Paris wurden alle Rolläden heruntergelassen. Studenten der Sorbonne erkletterten in Scharen den Eiffelturm, rissen die königliche Standarte herunter und hißten die Trikolore zwischen den Windmessern. In Suze-sous-Cure stürmte der Pöbel, vom Polizeichef 200
angeführt, das Rathaus und brannte es nieder, worauf das Polizeigebäude, unter Anführung des Bürgermeisters, von dem gleichen Pöbel in Schutt und Asche gelegt wurde. Das Städtchen Falaise in der Normandie trieb alle Fremden zusammen und bewachte sie. Im Massif Central wurden Bergfeuer auf den Kuppen angezündet. Marseille machte einen wohlerzogenen Aufruhr und veranstaltete wohlabgewogene Plünderungen. Der Papst bot seine guten Dienste als Vermittler an. In Paris halfen die Gendarmen den Aufständischen beim Barrikadenbau, indem sie ihnen die polizeilichen Absperrungsschranken zur Verfügung stellten. Die Lagerhäuser am oberen Seineufer wurden erbrochen und die Weinfässer über die Kopfsteine gerollt. Die Rechtszentristen klebten von Druckerschwärze feuchte Zettel an mit der Inschrift: ZUR BASTILLE. Der amerikanische Botschafter verurteilte die Revolution. Der Kreml, China, sämtliche Satelliten sowie Ägypten sandten telegraphische Glückwünsche zur neuen Volksrepublik Frankreich. In dem stillen, dunklen Zimmer zu Versailles versuchte Pippin den »Memphis Blues« zu spielen, merkte aber, daß er auf seiner Harmonika keine Halbtöne hatte. Er ging deshalb zu »Home on the Range« über, was keine solchen erforderte, und war so eifrig in sein Spiel vertieft, daß er das leise Klopfen an der Tür überhörte. Die Tür tat sich auf, und herein schaute Schwester Hyacinthe. Als sie den Schattenriß des Königs am Fenster erkannte, lachte sie leise auf. Pippin hörte zu spielen auf und 201
fuhr herum. Vor der bemalten Wand wirkte sie wie ein großer schwarzer Vögel. »Immer gut, wenn man noch einen Nebenberuf hat«, sagte sie. Linkisch stand Pippin auf und klopfte auf dem flachen Handteller die Feuchtigkeit aus dem Instrument. »Ich habe Sie nicht gehört, Schwester«, sagte er. »Nein, Sie waren zu beschäftigt, Sire.« »Man beschäftigt sich manchmal mit Torheiten«, sagte er ein bißchen steif. »Das sind ja keine Torheiten, Sire. Das Gemüt sucht sich oft sonderbare Ruheplätzchen. Ich wußte nicht, daß Sie hier seien. So gut wie alle sind verschwunden.« »Wohin, Schwester?« »Manche, um sich in Sicherheit zu bringen, die meisten jedoch sind einfach nach Paris, um das Feuerwerk zu sehen. Wie Insekten werden die Menschen vom Licht angezogen. Auch ich reise ab, Sire. Meine Oberin hat mich zur Rückkehr aufgefordert. Mir scheint, Sire, Ihre kurze Regierung ist leider zu Ende. Wie ich höre, befindet sich ganz Frankreich in Aufruhr.« »Ich hatte mich noch nicht mit diesem Gedanken vertraut gemacht«, sagte Pippin. »Ich habe wohl versagt.« »Das weiß ich nicht«, sagte die Nonne. »Ich habe Ihre Ausführungen vor der Verfassunggebenden Versammlung gelesen. Sie waren kühn, Sire. Ja, ich nehme an, persönlich sind Sie gescheitert, aber ich sollte mich sehr wundern, wenn Ihre Worte ihren Eindruck verfehlt hätten. Ich weiß von einem andern, der … gescheitert ist, doch von dessen Wort wir leben.« Sie legte ein kleines Bündel auf den Tisch 202
neben ihm. »Ein Geschenk für Sie, Sire, die klassische Verkleidung.« »Was ist denn das?« »Eines meiner Gewänder, Nonnentracht, das historisch übliche Mittel zur Flucht. Ich sehe keinen Grund zu Schierlingsbecher oder Kreuz.« »Ist es denn so schlimm?« fragte Pippin. »Sind die Leute wirklich so wütend?« »Ich weiß nicht«, sagte Schwester Hyacinthe. »Sie haben sie beim Irrtum erwischt. Es wird schwer halten, daß sie Ihnen das verzeihen. Ihre Worte werden jeder künftigen Regierung wie Dornen im Fleisch sitzen. Ihr Geist wird bei ihnen umgehen. Das spüren sie wohl schon.« »Ich möchte zu Marie«, sagte er. »Ich nahm an, sie werde herkommen.« »Vielleicht kommt sie … aber vielleicht kommt sie nicht durch. Wie ich höre, ist in Paris ein Aufruhr ausgebrochen. Wenn die Krawallmacher sich in Paris ausgetobt haben, kommen sie möglicherweise hierher. Wenn sie die Absicht haben, fortzugehen, so rate ich Ihnen, das noch in dieser Nacht zu tun.« »Ohne Marie … ohne Clotilde?« »Die beiden Damen schweben meines Erachtens in nicht so großer Gefahr wie Sie, Sire. Ziehen Sie dieses Gewand an, dann können Sie mit mir kommen. Mein Kloster wird Sie verbergen, bis Sie ohne Gefahr die Grenze überschreiten können.« »Ich will nicht die Grenze überschreiten, Schwester. Ich halte mich wirklich nicht für so wichtig, daß man mir nach dem Leben trachtet.« 203
»Eure Majestät«, gab ihm die kluge Nonne zu bedenken, »es ist sehr möglich, daß eine Partei vor der andern Angst hat, und daß jede Gruppe meint, die andern könnten sich hinter Sie stellen.« »Das kann ich nicht glauben«, sagte der König. »Das Königtum war ein Mythos … es hatte gar keine Existenz. Und der König? Ein Witz, den sich die Nation geleistet hat! Ich glaube nicht, daß man durch einen Mord dem Königtum Würde verleihen wird.« »Das weiß ich nicht«, sagte Schwester Hyacinthe zweifelnd. »Das weiß ich wirklich nicht.« »Wenn ich die Flucht ergreife oder zu ergreifen versuche«, sagte Pippin, »dann lege ich mir genug Bedeutung bei, um getötet zu werden. Ich habe mir oft überlegt, was geschehen wäre, wenn Ludwig XVI. nicht zu fliehen versucht hätte … wenn er allein, unbewacht, zum ›Jeu de Paume‹ spaziert wäre.« »Sie sind ein tapferer Mann, Sire.« »Nein, nein, Schwester, ich bin nicht tapfer. Ich bin vielleicht dumm, aber tapfer bin ich nicht. Ich will nicht zum Opferlamm werden. Ich will mein Häuschen, meine Frau, mein Fernrohr … weiter nichts. Hätte man mich nicht gezwungen, König zu werden, so wäre ich nicht gezwungen gewesen, mich königlich zu benehmen. Es war eine Kettenreaktion psychologischer Zufälle.« »Ich wollte, ich wüßte Sie bestimmt in Sicherheit. Aber ich muß gehen, M’sieur. Wissen Sie, daß der Soundso meine Füße geheilt hat? Ich werde ihm das nie vergeben können. Kommen Sie nicht mit mir?« »Nein, Schwester.« 204
»Reichen Sie mir die Hand!« Er reichte ihr die Hand, sie beugte sich darüber und küßte sie: »Leben Sie wohl, Eure Majestät«, sagte sie. Als er aufblickte, war sie bereits gegangen, so lautlos, daß nicht einmal der Parkettboden geknirscht hatte. Pippin legte die noch warme Harmonika wieder an den Mund und spielte ganz langsam die Tonleiter. Beim H entgleiste er, fing darum noch einmal von vorne an, traf es jetzt besser und schloß mit dem C ab. Dann ging er die Wendeltreppe hinunter in den Park. Seine Schritte tönten laut auf dem Kies. Er schlenderte weiter bis zum Haupttor und vermochte eine ganze Weile lang keine Wachen zu bemerken. Schließlich flammte ein Zündholz auf, und Pippin erkannte einen einzelnen Wachposten, der, mit dem Rücken gegen das Schilderhaus und sein Gewehr an die Mauer gestützt, auf dem Boden saß. Pippin ging zu ihm hin und fragte: »Sind Sie allein?« »Sie sind alle nach Paris«, beschwerte sich der Mann. »Das ist doch nicht anständig. Warum bin gerade ich ausgesucht und angewiesen worden, hierzubleiben? Ich bin bisher ein guter Soldat gewesen.« »Wollen Sie eine Lucky Strike?« »Haben Sie eine?« »Sie können das ganze Päckchen haben.« Mißtrauisch stand der Soldat auf. »Wer sind Sie eigentlich?« »Der König.« »Pardon, Sire. Hatte Sie nicht erkannt. Bitte um Verzeihung.« 205
»Was geht in Paris vor?« »Das ist es ja; ich weiß es nicht. Große Sachen gehn vor: Aufruhr und all so was, wird erzählt … Vielleicht wird auch geplündert, und ich sitze hier und kann nicht mitmachen.« »Das ist allerdings nicht recht und billig«, sagte Pippin. »Warum gehn Sie nicht hin?« »Ja, das darf ich nicht. Dann komm’ ich vors Kriegsgericht. Und ich habe Weib und Kind daheim. An die muß ich doch denken. Der Hauptmann hat mir den Befehl gegeben …« »Glauben Sie, daß ich ranghöher bin als der Hauptmann?« fragte Pippin. »Selbstverständlich, Sire.« »Dann entbinde ich Sie von Ihrem Dienst.« »Das geht nicht bloß mündlich. Was für einen Beweis kann ich dafür vorzeigen?« »Haben Sie eine Taschenlampe?« »Natürlich, Sire.« »Geben Sie einmal her.« Pippin ging ins Schilderhaus, wo ein kleines Pult mit Notizblock und Bleistift war. »Wie heißen Sie?« fragte er den Wachsoldaten. »Vautin, Sergeant Vautin, Sire.« Pippin schrieb auf den Notizblock: »Sergeant Vautin wird hiermit vom Dienst entbunden und ermächtigt, einen Urlaub von zwei Wochen anzutreten, und zwar beginnend um … Wieviel Uhr ist es?« »Zwölf Uhr zwanzig, Sire.« Pippin schrieb weiter: »… Null Uhr zwanzig des heutigen Tages.« Er füllte das 206
Datum aus und unterschrieb: »Pippin IV., König von Frankreich, Oberbefehlshaber aller Land-, See- und Luftstreitkräfte.« Dann übergab er Zettel und Lampe dem Soldaten. Dieser leuchtete sofort das Papier an und las es genau durch. »Dagegen kann wohl niemand irgendwelchen Einspruch erheben, Sire«, sagte er. »Aber wer bewacht das Tor?« »Ich werde aufpassen.« »Haben Sie keine Lust, den Aufstand anzusehen, Sire?« »Nicht sonderlich«, sagte Pippin. Er sah dem Soldaten nach, der sich glückselig auf sein Fahrrad schwang und davonfuhr. Dann setzte er sich auf den Boden, mit dem Rücken an das Schilderhaus gelehnt. Die Nacht war kalt, aber sternenhell und sehr still; keinerlei Autogeräusch war zu hören. Fern im Osten lag der Widerschein der Millionen Lichter von Paris. Das große Schloß lag dunkel hinter Pippin. So still war es wohl seit fünfzig Jahren hier nicht gewesen, mußte er denken. Auf einmal vernahm er fernes Motorsummen, das näher kam; darauf die Lichter eines schnellfahrenden Wagens. Mit kreischenden Reifen hielt er am Tor: es war ein BuickKabriolett. Von den Scheinwerfern geblendet, konnte der am Schilderhaus sitzende Pippin nichts erkennen. Ted Johnson ließ den Motor laufen und sprang aus dem Wagen. »Rasch, rasch! Steigen Sie ein!« Clotilde rief vom Wagen her: »Rasch, Vater!« Dann sagte wieder Ted: »Sie können sich im Wagen umkleiden. Ich gebe Ihnen 207
einen Anzug von mir. Bei Tagesanbruch sind wir am Kanal.« Langsam erhob sich Pippin. »Was haben Sie denn vor?« »Wir wollen versuchen, über den Kanal zu kommen.« »Steht es denn so schlimm?« »Wissen Sie denn nicht? In Paris geht’s drüber und drunter. Sie sind abgesetzt. Die Republik wird ausgerufen. Wenn ich nicht einen amerikanischen Wagen führe, wären wir nicht durchgekommen.« »Wo ist Madame?« fragte Pippin. »Das weiß ich nicht. Sie sollte mit Onkel Charlie gehen, aber sie ist verschwunden.« »Und wo ist Onkel Charlie?« »Nach dem Süden. Er will versuchen, nach Portugal zu kommen. Los, los! Beeilen Sie sich!« »Sie sind doch nicht in Gefahr«, sagte Pippin. »Was ist denn eigentlich passiert?« »Sie haben nicht auf mich gehört«, sagte Ted. »Sie hatten weder das Kapital noch die Vollmachtstimmen dazu. Sie hatten nicht einmal die Aktionäre hinter sich.« Pippin ging zum Wagen. »Geht’s dir gut, Clotilde?« fragte er die Tochter. »Allerdings.« »Wo willst du hin?« »Nach Hollywood«, sagte sie. »Vergiß nicht: Ich bin eine Künstlerin.« »Ja, das hatte ich vergessen«, sagte Pippin; und dann zu Ted: »Sie werden sich um sie kümmern?« »Bestimmt … Aber jetzt kommen Sie, steigen Sie ein! Machen Sie sich über nichts Sorgen. Vielleicht lernen Sie noch das Hühnergeschäft. Und Sie können auch Artikel 208
schreiben. Das tun ja heute alle. Aber von hier müssen Sie jetzt weg. Da haben Sie meine Flasche Cognac. Nehmen Sie einen Schluck.« Pippin tat einen Zug aus der Flasche. Plötzlich mußte er lachen. »Regen Sie sich nicht auf«, sagte Ted. »Wir kommen schon durch.« »Ich rege mich nicht auf«, sagte Pippin Héristal. »Ich dachte nur an Julius Cäsar. Ihm ist es gelungen. Mit fünf Legionen umzingelte er Vercingetorix bei Alesia und befriedete Gallien.« »Vermutlich will Gallien gar nicht befriedet werden«, sagte Ted. Nach kurzem Schweigen sagte der König: »Scheint so. Und vielleicht ist es nicht einmal Cäsar gelungen. Vielleicht kann Gallien nur durch Gallien befriedet werden.« »Beeile dich doch, Vater«, sagte die kleinlaut gewordene Clotilde. »Du weißt nicht, was vorgeht.« »Sorgen Sie für sie«, sagte der König, »wie nur ein Mann für eine Frau sorgen kann.« »Kommen Sie!« »Nein«, sagte Pippin. »Ich gehe nicht mit. Ich glaube, in ganz kurzer Zeit hat man mich hier vergessen.« »Man wird Sie umbringen.« »Das glaube ich nicht«, sagte der König. »Wirklich nicht. Außerdem kann ich Marie nicht im Stich lassen. Wo kann sie nur sein? Wissen Sie bestimmt, daß sie nicht mit Onkel Charlie fort ist?« »Nein. Zum letzten Mal sahen wir sie in Sancerre. Sie 209
hatte einen Korb bei sich, um Einkäufe zu machen. Steigen Sie doch ein!« »Dies ist wahrscheinlich meine letzte Handlung als König«, sagte Pippin. »Ich erteile Ihnen den folgenden Befehl: Sie fahren zu einem Hafen am Kanal. Dort werden Sie alles versuchen, mit Clotilde auf ein Boot zu gelangen und mit ihr nach England zu fahren. Bemühen Sie sich, diesen Befehl auszuführen, Ted.« »Aber …« »Sie haben meinen Befehl gehört«, sagte der König. »Tun Sie mir die letzte Gefälligkeit, indem Sie ihm nachkommen.« Er sah dem Buick nach; dann schlenderte er ins Schloß zurück und holte seine Manchesterjoppe und den Sturzhelm. * Noch während der Nacht konstituierten sich die Delegierten zur Verfassunggebenden Versammlung als Nationalversammlung. Die Republik wurde ausgerufen, die Trikolore auf den öffentlichen Gebäuden gehißt. Die Gendarmerie wurde aufgeboten, um den Plünderungen ein Ende zu setzen. Die Banken hatten bis auf weiteres ihre Pforten geschlossen zu halten. Monsieur Sonnet bat Monsieur Magot, ein Koalitionskabinett zu bilden, was allseits beifällig aufgenommen wurde. Der König wurde für abgesetzt und vogelfrei erklärt. Monsieur Magot gelang es, binnen weniger Stunden ei210
ne Regierung zu bilden. Wie man sich wohl noch erinnert, blieb diese Koalitionsregierung bis zum dritten Februar des nächsten Jahres am Ruder. * Mitten im Bois de Boulogne ging dem Motorroller der Treibstoff aus. Pippin ließ ihn, an einen Baum gelehnt, stehen und ging zu Fuß weiter. Der Tag brach gerade an, als er von den Champs-Élysées in die Avenue de Marigny einbog. Aus dem Schattendunkel trat ein Polizist, verlegte ihm den Weg und sagte: »Ihre Carte d’Identité, M’sieur?« Pippin zog seine Brieftasche und reichte den Ausweis dem Polizisten, der ihn ansah und sagte: »Pippin Héristal. So. Ja, ich erinnere mich an Sie, M’sieur. Sie wohnen Nummer 1.« »Stimmt«, sagte Pippin. »Da ist geplündert worden«, sagte der Polizist. »Ich erkannte Sie nicht gleich in dem Helm. Haben Sie einen Ausflug gemacht, M’sieur?« »Ja«, sagte Pippin, »einen ziemlich langen Ausflug.« »Es scheint jetzt wieder alles ruhig zu sein«, sagte der Polizist und salutierte. »Möchten Sie eine Zigarette?« »Danke sehr. Aha, eine Lucky Strike.« »Behalten Sie das Päckchen«, sagte Pippin. Er zwinkerte: »Ich war im Ausland.« Der Polizist schmunzelte. »Ich verstehe, M’sieur«, sagte 211
er. Und steckte das Päckchen unter dem Umhang in seine Tasche. Endlos mußte Pippin auf die Klingel drücken, bevor der Concierge mißgelaunt herangeschlurft kam, um ihm das Gittertor aufzumachen. »Sonderbare Zeit zum Heimkommen«, brummte er. Pippin drückte ihm einen Geldschein in die Hand. »Von Straßburg her ist’s eine weite Reise.« »Sie kommen von Straßburg?« »Ja, ja … von Nancy an durchgefahren.« »Ich bin selbst aus Lunéville. Wie sieht’s im Land dort aus?« »Die Ernte war großartig. Die Gänse sind rund und fett. Und der Wein, der soll …« »Davon habe ich gehört … jawohl … Aber haben Sie etwas davon gehört, wie in Lunéville die Wahlen ausgefallen sind? Das ist hochwichtig. Sehen Sie, das Bürgermeisteramt ist schon …« Er ballte und schwenkte die Faust. »Es ist mal Zeit für einen Wechsel … das empfindet jedermann. Jedermann, das heißt, wenn man … aber …« Er ballte wieder die Faust. »Ich muß Sie leider damit behelligen, mir beim Öffnen der Wohnungstür behilflich zu sein … meine Schlüssel, eh … sind …« »Madame ist oben. Sie brauchen nur zu klingeln. Und was sie für einen Umtrieb gemacht hat! Halten Sie mal dies und tragen Sie mal das! Die Partei, die in Lunéville die Macht in Händen hatte, die hat nämlich …« »Gute Nacht«, sagte Pippin. »Ich höre das gern demnächst einmal. Es ist eine lange Fahrt von Nancy her.« 212
Er ging über den Hof zum Eingang des Stallungshauses. Er nahm den Sturzhelm ab, strich mit der Hand die Haare zurück und – drückte dann mit dem einen Finger auf den elfenbeinernen Klingelknopf.
213
Der Mond ging unter
An PAT COVICI, den großen Verleger und Freund
1. Kapitel Um 10 Uhr 45 war alles vorüber. Die Stadt war besetzt, die Verteidiger besiegt und der Krieg zu Ende. Der Angreifer hatte diesen kleinen Feldzug ebenso sorgfältig vorbereitet, wie er die großen Feldzüge vorzubereiten pflegte. An diesem Sonntagmorgen waren der Posthalter und der Polizist im Boot von Herrn Corell, dem bekannten Ladeninhaber, fischen gefahren. Er hatte den beiden für diesen Tag sein schnittiges Segelschiff geliehen. Der Posthalter und der Polizist waren einige Kilometer weit draußen auf dem Meer, als sie die kleinen, dunklen Transportschiffe voller Soldaten still an sich vorübergleiten sahen. Dies war entschieden etwas, das sie als städtische Beamte anging, und die zwei wandten hastig ihr Schiff dem Hafen zu. Aber ehe sie an Land gehen konnten, hatten die Truppen natürlich schon die Stadt besetzt. Der Posthalter und der Polizist konnten nicht einmal in ihre eigenen Büros im Stadthaus gelangen und als sie auf ihrem Recht bestanden, machte man sie zu Kriegsgefangenen und sperrte sie ins Stadtgefängnis. Die Garnison der Stadt, alle zwölf Mann, war an diesem Sonntagmorgen auch fort gewesen, denn Herr Corell, der populäre Ladeninhaber, hatte ein Mittagessen gespendet, Schießscheiben, Patronen und Preise für ein Schützenfest, welches etwa acht Kilometer weit draußen, in den Hügeln 217
stattfinden sollte, auf einer wunderschönen Waldlichtung, die zu Herrn Corells Besitz gehörte. Das Stadtregiment, große, schlaksige Jungens, hörte die Flugzeuge, sah von ferne die Fallschirmspringer und eilte Hals über Kopf zur Stadt zurück. Als sie ankamen, hatten die Invasionstruppen die Straße mit Maschinengewehren flankiert. Die schlaksigen Soldaten, die sehr wenig Erfahrung im Krieg und überhaupt keine im Besiegtwerden hatten, eröffneten das Feuer mit ihren Flinten. Die Maschinengewehre ratterten einen Augenblick lang, und sechs Soldaten waren tot, durchlöcherte Bündel, drei halbtot, und drei weitere flohen mit ihren Flinten in die Hügel. Um 10 Uhr 30 spielte die Musikkapelle der Invasionstruppen auf dem Stadtplatz schöne und sentimentale Weisen, während die Bevölkerung mit offenem Mund und erstaunten Augen herumstand, der Musik lauschte und die grau behelmten Männer anstarrte, die kleine Maschinengewehre in den Armen trugen. Um 10 Uhr 38 waren die durchlöcherten sechs begraben, und das Bataillon war in Herrn Corells Warenlager am Hafen einquartiert, welches auf seinen Regalen Bettzeug und Matratzen für ein Bataillon hatte. Um 10 Uhr 45 hatte der alte Bürgermeister Orden das formelle Ansuchen erhalten, er möchte dem Anführer der Invasionstruppen, Oberst Lanser, eine Audienz gewähren, eine Audienz um Punkt 11 Uhr in dem Fünf-ZimmerPalais des Bürgermeisters. Das Wohnzimmer des Palais war sehr reizend und gemütlich. Die vergoldeten Stühle mit ihren verblichenen Gobelinüberzügen standen steif herum, wie überflüssige, 218
unbeschäftigte Dienerschaft. Ein geschweifter Marmorkamin, in dem auf kleinem Rost rot und flammenlos die Hitze glühte, daneben ein handbemalter Kohleneimer. Auf dem Kaminsims stand zwischen zwei dickbäuchigen Vasen eine große, verschnörkelte Porzellanuhr, auf der es von gaukelnden Puttis wimmelte. Die Tapete des Zimmers war dunkelrot mit goldenen Ornamenten, die Holzschnitzereien waren weiß, nett und sauber. Die Gemälde an den Wänden stellten weitaus zum größten Teil den erstaunlichen Heldenmut riesiger Hunde dar, welche mit gefährdeten Kindern beschäftigt waren. Kein Wasser, kein Feuer, kein Erdbeben konnte einem Kind etwas anhaben, solange noch so ein großer Hund da war. Neben dem Kamin saß der alte Doktor Winter, bärtig und einfach und gütig, Geschichtsschreiber und Arzt der Stadt. Sein Blick war erstaunt, während die Daumen in seinem Schoß andauernd umeinanderwirbelten. Doktor Winter war ein so einfacher Mann, daß nur ein tiefgründiger Mann hätte erkennen können, daß er tiefgründig war. Er blickte zu Joseph, dem Diener des Bürgermeisters, auf, um zu sehen, ob Joseph das wirbelnde Wunder seiner Daumen bemerkt habe. »Elf Uhr?« fragte Doktor Winter. Und Joseph antwortete zerstreut: »Ja, Herr Doktor. In dem Brief stand elf.« »Sie haben den Brief gelesen?« »Nein, Herr Doktor, Seine Exzellenz hat mir den Brief vorgelesen.« Und Joseph ging umher und prüfte jeden der vergoldeten Stühle, ob er sich auch nicht bewegt habe, seit er ihn 219
zuletzt zurechtgerückt hatte. Joseph hatte die Gewohnheit, die Möbelstücke strafend anzustarren, da er sie für frech, boshaft und staubig hielt. So wie es Bürgermeister Orden war, der die Menschen dieser Stadt führte, so war es Joseph, der über Möbel, Silber und Geschirr dieses Haushaltes herrschte. Joseph war ältlich, mager und ernst und seine Lebensführung war so kompliziert, daß nur ein tiefsehender Mann hätte erkennen können, daß er selbst ganz einfach war. Er fand nichts Erstaunliches an den wirbelnden Daumen des Arztes; ja, sie gingen ihm sogar auf die Nerven. Joseph ahnte, daß etwas sehr Wichtiges vorging, etwas, wobei fremde Soldaten in die Stadt kamen und die eigenen getötet wurden oder gefangen. Früher oder später würde Joseph eine Meinung über all das haben müssen. Ihm war nicht nach Leichtfertigkeit, nach wirbelnden Daumen, nach Unfug von den Möbelstücken zumute. Doktor Winter rückte seinen Stuhl ein paar Zoll von dem ihm bestimmten Platz und Joseph wartete ungeduldig auf den Moment, da er ihn wieder zurückstellen konnte. Doktor Winter wiederholte: »Elf Uhr – dann werden sie auch da sein. Ein pünktliches Volk, Joseph.« Und Joseph sagte, ohne hinzuhören: »Jawohl, Herr Doktor.« »Ein pünktliches Volk«, wiederholte der Doktor. »Jawohl, Herr Doktor«, sagte Joseph. »Pünktlichkeit und Maschinen.« »Jawohl, Herr Doktor!« »Sie rennen auf ihr Schicksal los, als ob es nicht auf sie warten würde. Sie stoßen die rollende Welt mit ihren Schultern vorwärts.« 220
Und Joseph sagte: »Sehr richtig, Herr Doktor«, nur weil er genug davon hatte, immer »Jawohl, Herr Doktor« zu sagen. Joseph schätzte diese Art von Konversation nicht, da sie ihm zu keiner Meinung verhalf. Wenn Joseph später zur Köchin sagte: »Ein pünktliches Volk, Annie«, würde nichts dabei herauskommen. Annie würde fragen: »Wer?« und dann: »Warum?« und schließlich würde sie sagen: »Das ist Unsinn, Joseph.« Joseph hatte schon öfters versucht, Doktor Winters Bemerkungen in der Küche zu wiederholen, aber es endete immer auf die gleiche Art. Annie fand, sie seien Unsinn. Doktor Winter schaute von seinen Daumen auf und beobachtete Joseph bei der Erziehung der Stühle. »Was macht der Bürgermeister?« »Er zieht sich an, um den Oberst zu empfangen, Herr Doktor.« »Und Sie helfen ihm nicht? Er wird sich ganz verkehrt anziehen, wenn er es alleine tun muß.« »Madame hilft ihm. Madame will, er soll so gut wie möglich aussehen. Sie –«, Joseph errötete ein wenig, »– Madame rupft ihm die Haare aus den Ohren, Herr Doktor. Das kitzelt. Er läßt es sich von mir nicht machen.« »Natürlich kitzelt das«, sagte Doktor Winter. »Madame besteht darauf«, sagte Joseph. Doktor Winter lachte plötzlich. Er stand auf und hielt seine Hände gegen das Feuer. Und Joseph schlüpfte behende hinter ihn und rückte den Stuhl auf seinen Platz zurück. »Wir sind wundervoll«, sagte der Doktor, »unser Land geht unter, unsere Stadt ist erobert und Madame hält den 221
widerspenstigen Bürgermeister beim Genick und rupft ihm die Haare aus den Ohren.« »Er wird wirklich sehr zottig«, erklärte Joseph, »auch seine Augenbrauen. Seine Exzellenz sind sogar noch unglücklicher, wenn man ihn an den Augenbrauen rupft, als an den Ohren. Er sagt, es tut weh. Ich zweifle, ob sogar Madame selbst es fertigbringt.« »Sie wird es jedenfalls versuchen«, meinte Doktor Winter. »Sie will, daß er so gut wie möglich aussieht Herr Doktor.« Durch das Glasfenster der Eingangstüre schaute ein behelmtes Gesicht, und es klopfte an die Türe. Es war, als sei ein wenig Licht und Wärme aus dem Zimmer gewichen, als sei etwas Graues statt dessen eingedrungen. Doktor Winter schaute zur Uhr auf dem Kamin und sagte: »Sie kommen zu früh. Lassen Sie sie herein, Joseph.« Joseph ging zur Türe und öffnete sie. Ein Soldat trat ein, in langem Mantel. Er war behelmt, und er trug ein kleines Maschinengewehr unter dem Arm. Er blickte schnell herum, dann trat er zur Seite. Hinter ihm stand ein Offizier. Die Uniform des Offiziers war gewöhnlich, seinen Rang erkannte man nur an den Schultern. Der Offizier trat ein und schaute Doktor Winter an. Er sah ein wenig so aus wie die Karikatur eines englischen Gutsherrn. Seine Haltung war schlaff, sein Gesicht rot und seine Nase lang, aber lustig anzusehen; er schien sich in seiner Uniform ungefähr so wenig wohl zu fühlen wie die meisten englischen Offiziere. Er stand auf der Schwelle, starrte Doktor Winter an und fragte: »Sind Sie der Bürgermeister Orden, mein Herr?« 222
Doktor Winter lächelte: »Nein, nein.« »Dann sind Sie also ein Beamter?« »Nein, ich bin der Stadtarzt, und ich bin ein Freund des Bürgermeisters.« Der Offizier fragte: »Wo ist der Bürgermeister Orden?« »Er zieht sich an, um Sie zu empfangen. Sie sind doch der Oberst?« »Nein, der bin ich nicht. Ich bin Hauptmann Bentick.« Er verbeugte sich, und Doktor Winter erwiderte leicht die Verbeugung. Hauptmann Bentick fuhr fort, wenn auch etwas verlegen über das was er zu sagen hatte: »Unser militärisches Reglement schreibt vor, daß wir nach Waffen suchen, bevor der kommandierende Offizier ein Zimmer betritt. Wir wollen nicht unhöflich sein, mein Herr.« Und er rief über seine Schulter: »Wachtmeister!« Der Wachtmeister ging schnell auf Joseph zu und ließ seine Hände über dessen Taschen gleiten und sagte: »Nichts, Herr Hauptmann.« Hauptmann Bentick sagte zu Doktor Winter: »Ich hoffe, Sie entschuldigen«, und der Wachtmeister ging zu Doktor Winter und betastete seine Taschen. Seine Hand verweilte an der Innentasche der Jacke. Er griff schnell hinein und holte ein kleines, flaches, schwarzes Lederetui heraus, um es dem Hauptmann Bentick zu reichen. Hauptmann Bentick öffnete das Etui und fand ein paar einfache, chirurgische Instrumente darin: zwei Skalpelle, einige Vernähnadeln, ein paar Klammern, eine Injektionsnadel. Er schloß das Etui wieder und gab es Doktor Winter zurück. Doktor Winter sagte: »Sehen Sie, ich bin ein Landarzt. Einmal mußte ich einen Blinddarm mit dem Küchenmes223
ser herausoperieren. Seither habe ich immer das da bei mir.« Hauptmann Bentick sagte: »Ich glaube, Sie haben einige Schußwaffen hier.« Er zog ein kleines Ledernotizbuch aus der Tasche und öffnete es. Doktor Winter sagte: »Sie sind gründlich.« »Ja, unser Vertrauensmann hier am Ort arbeitet schon seit einiger Zeit für uns.« Und Doktor Winter: »Sie werden mir nicht sagen wollen, wer dieser Mann ist?« Bentick: »Seine Arbeit ist getan. Ich glaube, es ist nichts dabei, wenn ich es Ihnen sage. Sein Name ist Corell.« Und Doktor Winter sagte voll Erstaunen: »Georg Corell? Wie? … Das ist doch ganz unmöglich! Er, der so viel für diese Stadt getan hat! Ja, er hat sogar Preise gestiftet für das Schützenfest in den Hügeln heute morgen …« Und als er das aussprach, stieg ein Begreifen in seinen Augen auf, ein Begreifen von dem, was geschehen war, und sein Mund schloß sich langsam. Dann sagte er: »Ich verstehe; darum hat er das Schützenfest veranstaltet. Ja, ich verstehe. Aber Georg Corell – das ist unfaßbar!« Die Türe links öffnete sich, und Bürgermeister Orden trat ein. Er bohrte mit dem kleinen Finger in seinem rechten Ohr herum. Er trug seine Amtstracht und seine Amtskette um den Hals. Er besaß einen großen, weißen, gesträubten Schnurrbart und seine buschigen Augenbrauen waren zwei kleinere. Seine weißen Haare waren so heftig niedergebürstet, daß sich schon jetzt einzelne losmachten und um ihr Recht kämpften, hochzustehen. Er war schon so lange Bürgermeister, daß er für seine Stadt zum Inbe224
griff des Bürgermeisters geworden war. Sogar ganz reife Leute – erblickten sie irgendwo das Wort »Bürgermeister« gedruckt oder geschrieben – sahen in ihrer Vorstellung Bürgermeister Orden vor sich. Er und sein Amt waren eins. Es hatte ihm Würde gegeben, und er hatte ihm Wärme geschenkt. Hinter ihm erschien Madame, klein, runzlig und hitzig. Sie bildete sich ein, daß sie diesen Mann erschaffen und daß sie ihn aufgezogen hatte, und sie war überzeugt, daß sie etwas noch Besseres zustande bringen würde, wenn sie nochmals von vorne anfangen könnte. Nur ein- oder zweimal in ihrem Leben hatte sie ihn wirklich ganz verstanden, aber den Teil seines Wesens, den sie kannte, den kannte sie durch und durch. Kein kleines Gelüste, kein kleiner Schmerz, keine Nachlässigkeit oder Niedrigkeit in ihm entging ihr; kein Gedanke oder Traum oder Sehnen in ihm erreichte sie je. Und doch – einige Male in ihrem Leben hatte auch sie die Sterne erblickt. Sie trippelte um den Bürgermeister herum und zog ihm den Finger aus dem mißhandelten Ohr und drückte ihm die Hand an die Seite nieder, genauso, wie sie einem Baby den Daumen aus dem Mund genommen hätte. »Ich glaube nicht einen Moment, daß es so weh tut, wie du sagst«, erklärte sie; und zu Doktor Winter: »Er läßt sich die Augenbrauen nicht von mir richten.« »Es tut weh«, sagte der Bürgermeister. »Also gut, wenn du so herumlaufen willst, dann kann ich nichts machen.« Sie ordnete seine ohnedies ordentliche Krawatte. »Ich bin froh, daß Sie da sind Doktor«, sag225
te sie. »Wie viele, glauben Sie, werden kommen?« Und dann blickte sie auf und sah Hauptmann Bentick. »Oh!« rief sie, »der Oberst!« Hauptmann Bentick sagte: »Nein, Madame, ich bereite nur alles für den Oberst vor. Wachtmeister!« Der Wachtmeister, der Kissen umgedreht hatte und hinter Bilder geguckt, trat schnell an Bürgermeister Orden heran und ließ seine Hände über dessen Taschen gleiten. Hauptmann Bentick sagte: »Entschuldigen Sie, Exzellenz, das ist Vorschrift.« Er schaute wieder in das kleine Buch. »Euer Exzellenz, ich glaube, Sie haben Schußwaffen im Haus. Zwei Stück, nicht wahr?« Bürgermeister Orden: »Schußwaffen? Ach, Sie meinen Gewehre. Ja, ich habe ein Schrotgewehr und einen Kugelstutzen.« Und unzufrieden setzte er hinzu: »Wissen Sie, ich jage nicht mehr sehr viel. Immer nehme ich’s mir vor, aber dann fängt die Saison an und ich komme doch nicht mehr raus. Es macht mir auch nicht mehr soviel Vergnügen wie früher einmal.« Hauptmann Bentick beharrte: »Wo sind die Gewehre, Euer Exzellenz?« Der Bürgermeister rieb seine Backe und versuchte nachzudenken. »Nun ich glaube –«, er wandte sich an Madame, »waren sie nicht im Schlafzimmerschrank, hinten, bei den Spazierstöcken?« Madame sagte: »Ja. Und jeder Faden von dem Kleidern in diesem Schrank riecht nach Schmieröl. Ich wollte, du würdest sie woanders hintun.« 226
Hauptmann Bentick rief: »Wachtmeister!« Und der Wachtmeister ging schnell ins Schlafzimmer. »Eine unangenehme Pflicht. Entschuldigen Sie, bitte«, sagte der Hauptmann. Der Wachtmeister kam zurück. Er trug ein doppelläufiges Schrotgewehr und einen hübschen Kugelstutzen mit Schulterriemen. Er lehnte beides neben die Eingangstüre. Hauptmann Bentick sagte: »Das ist alles, danke, Euer Exzellenz, danke, Madame.« Er wandte sich um und verbeugte sich leicht vor Doktor Winter: »Danke, Herr Doktor. Oberst Lanser wird sofort hier sein. Guten Morgen!« Und er ging hinaus durch die Haustüre, gefolgt von dem Wachtmeister, der die zwei Gewehre in einer Hand trug und das kleine Maschinengewehr über dem rechten Arm. * Madame sagte: »Einen Moment lang habe ich geglaubt, das sei der Oberst. Ein netter junger Mann.« Doktor Winter versetzte spöttisch: »Nein, er hat nur den Oberst beschützt.« Madame dachte nach. »Wie viele Offiziere wohl kommen werden?« Sie schaute Joseph an und sah, daß er schamlos lauschte. Sie schüttelte den Kopf und runzelte die Stirne, und er wandte sich wieder den kleinen Dingen zu, mit denen er sich befaßt hatte. Er begann von neuem, alles abzustauben. Und Madame fragte wieder: »Wie viele, glauben Sie, werden kommen?« 227
Doktor Winter zog seinen Stuhl rücksichtslos nach vorne und setzte sich wieder. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Also –«, sie deutete auf Joseph, »wir haben schon darüber gesprochen. Sollen wir ihnen Tee anbieten oder ein Glas Wein? Ich weiß nicht, wie viele kommen werden, und wenn man das nicht weiß, was soll man dann vorbereiten?« Doktor Winter schüttelte den Kopf und lächelte. »Ich weiß nicht. Es ist so lange her, seit wir jemanden erobert haben oder seit jemand uns erobert hat. Ich weiß nicht, was sich in so einem Fall schickt.« Bürgermeister Orden hatte den Finger wieder in sein juckendes Ohr gesteckt. Er meinte: »Nein, ich glaube, das sollten wir nicht. Ich glaube nicht, daß unseren Leuten das gefallen würde. Ich will nicht Wein mit denen trinken. Ich weiß nicht warum.« Madame appellierte an den Doktor: »Haben nicht in früheren Zeiten die Menschen – die Heerführer, meine ich – einander begrüßt und ein Glas Wein getrunken?« Doktor Winter nickte: »Jawohl, das haben sie.« Dann schüttelte er langsam den Kopf. »Das war wahrscheinlich etwas anderes. Könige und Prinzen haben Krieg gespielt, so wie die Engländer jagen. Wenn der Fuchs tot ist, kommen sie zu einem Jagdfrühstück zusammen. Aber Bürgermeister Orden hat wahrscheinlich recht. Dem Volk dürfte es nicht gefallen, wenn er mit den Eindringlingen Wein trinkt.« Madame sagte: »Das Volk hört unten der Musik zu. Annie hat es mir erzählt. Wenn sie das tun können, warum sollten wir dann nicht unsere zivilisierten Gewohnheiten beibehalten?« 228
Der Bürgermeister schaute sie einen Augenblick lang fest an und seine Stimme war scharf. »Madame, mit Ihrer Erlaubnis, es wird keinen Wein geben. Das Volk ist jetzt verwirrt, sie haben so lange in Frieden gelebt, daß sie nicht ganz an den Krieg glauben können. Sie werden es lernen und dann werden sie nicht mehr verwirrt sein. Sie haben mich gewählt, damit ich mich nicht auch verwirren lasse. Sechs Jungens unserer Stadt sind heute früh ermordet worden. Ich meine, wir werden kein Jagdfrühstück haben. Für das Volk ist der Krieg kein Sport.« Madame verneigte sich leicht. Ein paarmal in ihrem Leben war es geschehen, daß aus ihrem Gatten der Bürgermeister geworden war. Sie hatte es gelernt, Bürgermeister und Gatten voneinander zu trennen. Bürgermeister Orden schaute auf die Uhr, und als Joseph eintrat und ihm eine kleine Tasse schwarzen Kaffee brachte, griff er zerstreut nach ihr. »Danke«, sagte er und trank. »Ich muß einen klaren Kopf haben«, wandte er sich, wie entschuldigend, an Dr. Winter. »Ich sollte … Weißt du, wieviel Mann die Besatzung hat?« »Nicht viel«, erwiderte der Doktor, »ich glaube nicht mehr als zweihundertfünfzig; aber alle mit diesen kleinen Maschinengewehren.« Der Bürgermeister schlürfte seinen Kaffee und begann wieder: »Wie steht es mit dem übrigen Land?« Der Doktor hob seine Schultern und ließ sie wieder sinken. »Gab es denn nirgends Widerstand?« fuhr der Bürgermeister hoffnungslos fort. Und wieder hob der Doktor die Schultern. »Ich weiß es 229
nicht. Die Leitungen sind zerstört oder in ihrer Hand. Es kommen keine Nachrichten durch.« »Und unsere Jungens, unsere Soldaten?« »Ich weiß nicht«, sagte der Doktor. Joseph unterbrach: »Ich habe gehört – das heißt, Annie hat gehört –« »Was, Joseph?« »Sechs Mann wurden getötet, Exzellenz, von den Maschinengewehren. Annie hat gehört, daß drei verwundet sind und gefangen.« »Aber es waren zwölf!« »Annie hörte, drei seien geflohen …« Der Bürgermeister wandte sich schroff um: »Welche sind geflohen?« fragte er. »Ich weiß nicht, Exzellenz. Darüber hat Annie nichts gehört.« Madame prüfte mit dem Finger, ob der Tisch nicht staubig sei. Sie sagte: »Joseph, wenn sie da sind, dann halten Sie sich in der Nähe der Glocke auf. Es kann sein, daß wir irgendeine Kleinigkeit brauchen. Und ziehen Sie Ihre andere Jacke an, Joseph, die mit den Knöpfen.« Sie sann einen Moment nach. »Und, Joseph, wenn Sie mit dem fertig sind, was man Ihnen aufgetragen hat, dann gehen Sie aus dem Zimmer. Es macht einen schlechten Eindruck, wenn Sie einfach so herumstehen und horchen. Es ist provinzlerisch, jawohl, provinzlerisch.« »Jawohl, Madame«, sagte Joseph. »Wir werden keinen Wein servieren, Joseph, aber Sie könnten ein paar Zigaretten bereithalten in der kleinen 230
Silberdose. Und wenn Sie dem Oberst Feuer geben, dann streichen Sie das Zündholz nicht am Schuh an. Streichen Sie es an der Zündholzschachtel an.« »Jawohl, Madame.« Bürgermeister Orden knöpfte seine Jacke auf und nahm seine Uhr heraus, schaute darauf, steckte sie ein und knöpfte den Rock schief wieder zu. Madame ging zu ihm hin und brachte ihn wieder in Ordnung. Doktor Winter fragte: »Wie spät ist es?« »Fünf vor elf.« »Ein pünktliches Volk«, sagte der Doktor. »Sie werden auf die Minute da sein. Willst du, daß ich fortgehe?« Bürgermeister Orden war verblüfft: »Gehen? Nein – nein, bleibe.« Er lachte leise. »Ich fürchte mich ein bißchen«, sagte er entschuldigend, »das heißt, nicht fürchten – aber ich bin nervös.« Und er erklärte hilflos: »Wir sind nicht erobert worden – schon seit langer Zeit nicht.« Er hielt inne und lauschte. Von weitem hörte man den Klang einer Militärkapelle, einen Marsch. Alle wendeten sich dorthin, woher die Töne kamen, und lauschten. Madame sagte: »Da kommen sie. Ich hoffe, es werden nicht zu viele auf einmal hereinwollen. Es ist kein sehr großer Raum.« Doktor Winter spottete: »Madame würde den Spiegelsaal von Versailles vorziehen?« Sie nagte an den Lippen und schaute sich um, indem sie in Gedanken den Eroberern schon ihre Plätze anwies. »Es ist ein sehr kleines Zimmer«, sagte sie. 231
Die Marschmusik schwoll an und wurde dann schwächer. Man vernahm ein leises Pochen an der Türe. »Wer kann das wohl sein? Joseph, sag allen Leuten, sie sollen später wiederkommen, wir sind sehr beschäftigt.« Das Klopfen wiederholte sich. Joseph ging zur Türe und öffnete sie einen Spalt, dann ein wenig weiter. Eine graue Gestalt, behelmt und bewaffnet, erschien. »Oberst Lansers Empfehlungen«, sprach die Erscheinung, »Oberst Lanser ersucht um eine Audienz bei Eurer Exzellenz.« Joseph öffnete die Türe weit. Der Behelmte trat in militärischer Haltung ein, blickte schnell im Zimmer umher und trat dann zur Seite. »Oberst Lanser!« meldete er. Eine zweite behelmte Gestalt trat in das Zimmer, seinen Rang erkannte man nur an den Schultern. Hinter ihm kam ein ziemlich kleiner Mann in schwarzem Arbeitskittel. Der Oberst war ein Mann mittleren Alters, grau und streng und müde. Er hatte die eckigen Schultern des Soldaten, aber seinen Augen fehlte der stumpfe Blick, den Soldaten meistens haben. Der kleine Mann neben ihm war kahl und rotbackig mit kleinen schwarzen Augen und sinnlichem Mund. Oberst Lanser nahm seinen Helm ab. Mit einer knappen Verbeugung sagte er: »Euer Exzellenz!« Er verbeugte sich vor Madame. »Madame!« Und setzte hinzu: »Bitte, schließen Sie die Türe, Korporal.« Schnell schloß Joseph die Türe und blickte triumphierend den Soldaten an. Lanser schaute fragend auf den Doktor, und Bürgermeister Orden sagte: »Das ist Doktor Winter.« »Ein Beamter?« fragte der Oberst. 232
»Ein Arzt, Herr Oberst, und, wie man wohl sagen kann, der Geschichtsschreiber unserer Stadt.« Lanser verbeugte sich leicht. »Herr Doktor Winter, ich möchte nicht anmaßend sein, aber vielleicht entsteht soeben eine Seite in Ihrem Geschichtswerk – –« Doktor Winter lächelte. »Vielleicht ein Kapitel.« * Oberst Lanser wandte sich leicht gegen seinen Begleiter. »Sie kennen wohl Herrn Corell«, fragte er. Der Bürgermeister rief: »Georg Corell? Natürlich kenne ich ihn. Wie geht’s, Georg?« Doktor Winter unterbrach ihn scharf. Er redete sehr förmlich: »Euer Exzellenz, unser Freund Georg Corell bereitete diese Stadt für die Invasion vor. Unser Wohltäter Georg Corell hat unsere Soldaten in die Hügel geschickt. Unser Tischgast Georg Corell machte ein Verzeichnis von allen Schußwaffen der Stadt. Unser Freund Georg Corell!« Corell fuhr zornig auf: »Ich kämpfte für das, woran ich glaube. Das ist etwas durchaus Ehrenhaftes.« Ordens Mund stand ein wenig offen. Er war verstört. Er blickte hilflos von Winter zu Corell. »Das ist nicht wahr«, sagte er, »Georg, das ist nicht wahr! Du bist an meinem Tisch gesessen, du hast Wein mit mir getrunken. Herrgott, du hast mir noch bei dem Projekt vom Krankenhaus geholfen! Das ist doch nicht wahr!« Mit tiefem, eindringlichem Blick sah er Corell an und dieser erwiderte mit herausforderndem Zwinkern. Eine 233
lange Stille trat ein. Dann schloß sich des Bürgermeisters Antlitz langsam zu. Sein ganzer Körper straffte sich, wurde unerbittlich, starr. Er drehte sich zu Oberst Lanser um und sagte: »Ich wünsche nicht zu reden in Gegenwart dieses Herrn.« Corell rief: »Ich habe das Recht, hier zu sein! Ich bin ein Soldat wie die andern. Nur trage ich keine Uniform.« Der Bürgermeister wiederholte: »Ich wünsche in Gegenwart dieses Herrn nicht zu reden.« Oberst Lanser sagte: »Wollen Sie uns, bitte, jetzt verlassen, Herr Corell?« Und Corell erwiderte: »Ich habe ein Recht, hier zu sein!« Oberst Lanser wiederholte scharf: »Wollen Sie uns jetzt verlassen, Herr Corell? Vergessen Sie meinen Rang?« »Das nicht, Herr Oberst.« »Bitte, gehen Sie, Herr Corell!« sagte Oberst Lanser. Corell warf einen wütenden Blick auf den Bürgermeister. Dann drehte er sich um und ging schnell hinaus. Doktor Winter kicherte. »Das gibt einen guten Absatz in meiner Geschichte.« Oberst Lanser sah in scharf an, sagte aber nichts. Nun öffnete sich die Türe zur Rechten und im Spalt erschien der struppig blonde, rotäugige Kopf von Annie mit empörtem Gesicht. »Es sind Soldaten im Hinterhof, Madame«, sagte sie, »stehen einfach da herum.« »Sie werden nicht hereinkommen«, erklärte der Oberst. »Es ist nur eine militärische Maßnahme.« Madame gebot streng: »Annie, wenn du etwas zu sagen hast, so laß es durch Joseph bestellen.« 234
»Ich weiß nicht, ob sie nicht versuchen werden, reinzukommen«, meinte Annie, »sie riechen den Kaffee.« »Annie!« »Ja, Madame«, und sie zog sich zurück. Der Oberst sagte: »Darf ich mich setzen?« und er erklärte: »Wir sind seit langem ohne Schlaf.« Der Bürgermeister schien selbst vom Schlaf zu erwachen. »Ja«, sagte er, »natürlich, setzen Sie sich.« Der Oberst sah Madame an, sie setzte sich, und er sank müde in einen Stuhl. Bürgermeister Orden blieb stehen, noch halb im Traum. Der Oberst begann: »Wir wollen so gut wie möglich miteinander auskommen. Sehen Sie, das Ganze ist mehr eine geschäftliche Angelegenheit, als etwas anderes. Wir brauchen die Kohlenminen hier und die Fischerei. Wir werden versuchen, so reibungslos wie möglich miteinander auszukommen.« Der Bürgermeister sagte: »Ich habe keine Nachrichten. Wie steht es mit dem übrigen Land?« »Alles besetzt. Es war gut vorbereitet.« »Gab es nirgends Widerstand?« Der Oberst sah ihn mitleidig an. »Ich wollte, es hätte keinen gegeben. Ja, es gab einigen Widerstand, aber es kostete nur Blutvergießen. Es war alles sehr gründlich vorbereitet.« Orden ließ nicht ab: »Es gab aber doch Widerstand?« »Ja, aber er war närrisch. Ebenso wie hier wurde er augenblicklich gebrochen. Er war närrisch und traurig.« Doktor Winter sah, wie dem Bürgermeister dieser Punkt am Herzen lag und er wurde davon angesteckt. »Ja«, sagte er, »närrisch, aber sie wehrten sich doch?« 235
Und Oberst Lanser erwiderte: »Nur wenige. Und die sind nicht mehr. Das Volk als Ganzes ist ruhig.« Doktor Winter sagte: »Das Volk begreift noch nicht, was geschehen ist.« »Sie werden schon darauf kommen«, erwiderte Lanser, »sie werden keine Dummheiten mehr machen.« Er räusperte sich, und seine Stimme wurde energisch. »Nun, meine Herren, kommen wir zur Sache.« Er lehnte sich in seinem Stuhl vor. »Ich bin mehr Ingenieur als Soldat. Diese ganze Angelegenheit ist mehr die Aufgabe eines Ingenieurs als eines Eroberers. Die Kohle muß heraus aus der Erde und muß verladen werden. Wir haben Techniker mitgebracht, aber die hiesige Bevölkerung wird weiter in den Minen arbeiten. Ist das klar? Wir haben nicht die Absicht, hart zu sein …« Orden unterbrach: »Jawohl, das ist völlig klar. Wenn aber die Leute nicht in den Minen arbeiten wollen?« Der Oberst sprach: »Ich hoffe, sie werden wollen, denn sie werden müssen. Es sind friedliche Leute. Sie wollen keine Unannehmlichkeiten.« Er wartete auf die Antwort des Bürgermeisters, aber es kam keine. »Hab’ ich nicht recht, Exzellenz?« fragte der Oberst. Bürgermeister Orden nestelte an seiner Kette. »Ich weiß nicht, Herr Oberst. Sie sind friedlich unter der eigenen Regierung. Ich weiß nicht, wie sie unter Ihrer Regierung sein würden. Das ist Neuland. Wissen Sie, unsere Verfassung ist in vierhundert Jahren entstanden.« Der Oberst warf schnell ein: »Das wissen wir. Und deshalb werden wir Ihre Verfassung beibehalten. Sie werden Bürgermeister bleiben, Sie werden die Befehle erteilen, Sie 236
werden strafen und belohnen. Auf diese Art werden die Leute keine Schwierigkeiten machen.« Bürgermeister Orden schaute Doktor Winter an. »Wie denkst du darüber?« »Ich weiß nicht«, sagte Doktor Winter, »es wäre interessant, das zu sehen. Es könnte sein, daß dieses Volk sich als sehr bösartig erweist.« Bürgermeister Orden: »Ja, ich weiß auch nicht.« Er wandte sich an Lanser. »Oberst, ich bin aus diesem Volk und doch weiß ich nicht, was es tun wird. Vielleicht wissen Sie es. Oder vielleicht wird es anders sein als alles, was Sie wissen und was wir wissen. Manche Völker akzeptieren ein ernanntes Oberhaupt und gehorchen ihm. Aber mein Volk hat mich frei gewählt. Es hat mich zu dem gemacht, was ich bin und es kann mich zu Nichts machen. Vielleicht wird es das auch tun, wenn es glaubt, ich sei zu Ihnen übergegangen, ich weiß es wirklich nicht.« Der Oberst: »Sie leisten Ihrem Volk einen Dienst, wenn Sie es in Ordnung halten.« »Einen Dienst?« »Ja, einen Dienst. Es ist Ihre Pflicht, es vor Bösem zu bewahren. Wenn es rebellisch ist, so begibt es sich in große Gefahr. Wir müssen die Kohle haben, verstehen Sie. Man sagt uns nicht, wie wir es anstellen sollen, man sagt uns nur, daß wir die Kohle zu beschaffen haben. Sie aber müssen Ihr Volk schützen. Sie müssen die Leute dazu bringen, daß sie ihre Arbeit tun und ihnen so die Sicherheit erhalten.« Orden: »Aber wenn sie keine Sicherheit wollen?« »Dann müssen Sie für die Leute denken.« 237
Orden sagte ein wenig stolz: »Meine Leute lieben es nicht, wenn andere für sie denken. Vielleicht sind sie anders als Ihr Volk. Ich bin zwar im Augenblick etwas verwirrt, aber in dieser Sache bin ich ganz sicher.« Jetzt trat Joseph ein, blieb vorgebeugt stehen, äußerst erpicht darauf, reden zu dürfen. Madame fragte: »Was gibt es, Joseph? Bringen Sie die silberne Zigarettendose.« »Verzeihung, Madame«, sagte Joseph, »Pardon, Euer Exzellenz –« »Was möchtest du?« fragte der Bürgermeister. »Es ist wegen Annie«, platzte Joseph heraus, »sie wird wütend, Exzellenz.« »Was ist los?« forschte Madame. »Annie mag nicht, daß die Soldaten im Hinterhof sind.« Der Oberst fragte: »Bereiten sie ihr irgendwelche Unannehmlichkeiten?« »Sie schauen durch die Türe auf Annie herein«, erklärte Joseph, »das haßt sie.« Der Oberst versetzte: »Sie führen ihre Befehle aus. Sie tun nichts Böses.« »Ja, aber Annie haßt es, wenn man sie anstarrt!« erklärte Joseph. »Joseph, sagen Sie Annie, sie soll sich in acht nehmen.« »Ja, Madame.« Und Joseph verließ das Zimmer. Dem Oberst fielen die Augen zu vor Müdigkeit. »Noch etwas, Euer Exzellenz«, sagte er, »wäre es für mich und meinen Stab möglich, hier zu wohnen?« Bürgermeister Orden dachte einen Moment nach. Dann antwortete er: »Das Haus ist klein. Es gibt größere, bequemere Häuser hier.« 238
Joseph kam mit der silbernen Zigarettendose zurück. Er öffnete sie und bot dem Oberst an. Der Oberst nahm eine Zigarette und Joseph gab ihm ostentativ Feuer. Der Oberst sog den Rauch tief ein. »Darum geht es nicht«, sagte er. »Wir haben die Erfahrung gemacht, daß es beruhigend wirkt, wenn der Stab unter dem Dache der lokalen Obrigkeit wohnt.« »Sie meinen«, sagte Orden, »die Leute haben dann das Gefühl, daß Stab und Obrigkeit einander in die Hände spielen?« »Ja, vermutlich.« Bürgermeister Orden blickte hoffnungslos auf Doktor Winter, aber der konnte nur bitter lächeln. Orden sagte leise: »Steht es mir frei, diese Ehre abzulehnen?« »Ich bedaure«, erwiderte der Oberst, »nein. Ich habe meine Befehle von oben.« »Dem Volk wird es nicht recht sein«, sagte Orden. »Immer das Volk! Das Volk ist entwaffnet. Das Volk hat nichts zu sagen.« Bürgermeister Orden schüttelte den Kopf. »Sie wissen nicht, Herr Oberst.« Von draußen kam der Ton einer wütenden Frauenstimme und ein Krach und der Aufschrei eines Mannes. Joseph kam hastig herein. »Sie schüttet kochendes Wasser«, rief Joseph, »sie ist schrecklich wütend.« Kommandorufe drangen durch die Türe und das Trampeln von Füßen. Oberst Lanser erhob sich schwerfällig. »Haben Sie keine Macht über Ihre Dienstboten, Exzellenz?« fragte er. Bürgermeister Orden lächelte. »Sehr wenig«, sagte er. 239
»Sie ist eine gute Köchin, wenn sie zufrieden ist. Ist jemand verletzt worden?« fragte er Joseph. »Es war kochendes Wasser, Exzellenz.« Oberst Lanser sagte: »Wir wollen nur unsere Arbeit tun. Es ist Ingenieurarbeit. Sie werden Ihre Köchin bändigen müssen.« »Ich kann nicht«, sagte Orden, »sie wird kündigen.« »Sie ist wirtschaftlich notwendig. Sie kann nicht kündigen.« »Dann wird sie kochendes Wasser schütten«, sagte Doktor Winter. Die Türe öffnete sich und ein Soldat stand auf der Schwelle. »Soll ich diese Frau verhaften, Herr Oberst?« »Ist jemand verletzt worden?« fragte Lanser. »Ja, Herr Oberst, verbrüht und ein Mann gebissen. Wir halten sie fest, Herr Oberst.« Lanser schaute hilflos drein, dann sagte er: »Laßt sie los und geht hinaus, fort vom Hinterhof.« »Jawohl, Herr Oberst.« Und die Türe schloß sich hinter dem Soldaten. Lanser erklärte: »Ich könnte sie erschießen lassen. Ich könnte sie einsperren lassen.« »Dann hätten wir keine Köchin«, sagte Orden. »Hören Sie«, sagte der Oberst, »wir haben Befehl, gut mit Ihrem Volk auszukommen.« Madame sagte: »Entschuldigen Sie, Herr Oberst, ich will nur nachsehen, ob die Soldaten Annie nicht weh getan haben.« Sie ging hinaus. Nun erhob sich Lanser. »Ich habe Ihnen gesagt, daß ich 240
sehr müde bin, Exzellenz. Ich muß etwas Schlaf haben. Bitte, arbeiten Sie mit uns zusammen – zum Besten aller Beteiligten.« Und als Orden nicht antwortete, wiederholte Lanser: »Zum Besten von allen! Wollen Sie?« Orden sagte: »Dies ist eine kleine Stadt. Ich weiß nicht. Die Leute sind verwirrt und ich auch.« »Aber wollen Sie versuchen, mit uns zusammenzuarbeiten?« Orden schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Das, was die Stadt beschließt, das werde ich wahrscheinlich tun.« »Aber Sie sind die Autorität!« Orden lächelte: »Sie werden es nicht glauben, aber es ist wahr. Die Autorität ist die Stadt selbst. Daher kommt es, daß wir nicht so schnell handeln können wie ihr. Aber ist uns erst einmal klar, in welcher Richtung, dann handeln wir alle zusammen. Ich bin noch verwirrt. Ich weiß noch nichts.« Lanser sagte sorgenvoll: »Ich hoffe, wir kommen miteinander aus. Es wäre um so vieles leichter für beide Teile. Ich hoffe, wir können Ihnen trauen. Ich mag nicht an die Mittel denken, die das Militär ergreifen wird, um Ordnung zu halten.« Bürgermeister Orden schwieg. »Ich hoffe, wir können Ihnen trauen«, wiederholte Lanser. Orden steckte den Finger ins Ohr und schüttelte die Hand. »Ich weiß nicht …« sagte er. Madame trat wieder ein. »Annie ist wütend«, berichtete 241
sie. »Sie steht an der Türe nebenan und spricht mit Christine. Christine ist auch zornig.« »Christine ist sogar noch eine bessere Köchin als Annie«, sagte der Bürgermeister.
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2. Kapitel In dem kleinen Palais des Bürgermeisters, im ersten Stock schlug der Stab des Oberst Lanser sein Hauptquartier auf. Es waren fünf Offiziere, außer dem Oberst selbst. Da war Major Hunter, ein nervöser, kleiner Mann, der, weil er selbst ein zuverlässiger Kerl war, alle anderen Menschen entweder für zuverlässige Kerle oder für lebensunfähig hielt. Major Hunter war Ingenieur, und außer im Kriegsfall wäre niemand je auf die Idee gekommen, ihn Männer kommandieren zu lassen. Denn Major Hunter stellte sein Bataillon auf wie Schachfiguren, und dann addierte er sie und subtrahierte sie und multiplizierte sie. Er war eher ein Arithmetiker als ein Mathematiker. Nichts von dem Witz, der Musik, der Mystik der höheren Mathematik hatte sich ihm je offenbart. Die Männer mochten sich an Gewicht, an Größe, an Farbe voneinander unterscheiden, so wie sich 6 von 8 unterscheidet – sonst sah er keinen großen Unterschied zwischen ihnen. Er war einige Male verheiratet gewesen und hatte keine Ahnung, warum seine Frauen so sehr nervös wurden, bevor sie ihn verließen. Hauptmann Bentick war ein Familienmensch. Er liebte Hunde, rosige Kinder und Weihnachten. Eigentlich war er zu alt, um noch Hauptmann zu sein, aber durch einen seltsamen Mangel an Ehrgeiz war er in diesem Rang 243
verblieben. Vor dem Kriege hatte er den Typ des englischen Landedelmannes sehr bewundert, hatte englische Anzüge getragen, englische Hunde gezüchtet und englische Pfeifen geraucht, und er hatte einige dieser englischen Zeitschriften abonniert, die den Gartenbau verherrlichen und andauernd über die Qualitäten der englischen Setter im Vergleich zu den irischen Settern meditieren – und umgekehrt. Bentick verbrachte seine Ferien regelmäßig in Sussex und liebte es, in Budapest und Paris für einen Engländer gehalten zu werden. Der Krieg änderte das alles gründlich. Aber er hatte schon zu lange an einer Pfeife gesogen, zu lange einen Stock getragen, um sich so plötzlich umstellen zu können. Einmal, vor fünf Jahren, hatte er an die TIMES einen Artikel geschickt über die Ursachen des Absterbens des Rasens in Mittelengland. Er hatte mit Edmund Twitchell, Esq., unterzeichnet; was aber noch mehr ist, die TIMES hatte ihn gedruckt. War Hauptmann Bentick zu alt, um Hauptmann zu sein, so war Hauptmann Loft zu jung dazu. Hauptmann Loft war so hauptmännisch, als man sich nur vorstellen kann. Er lebte und atmete seine Hauptmannschaft. Er hatte keinen unmilitärischen Augenblick in seinem Dasein. Ein brennender Ehrgeiz trieb ihn von Rang zu Rang aufwärts. Er stieg hoch, wie Rahm auf Milch. Er knallte seine Hacken zusammen, vollendet wie ein Tänzer. Er kannte alle möglichen und unmöglichen militärischen Förmlichkeiten, und er bestand darauf, sie alle anzuwenden. Generäle fürchteten ihn, weil er mehr von soldatischer Führung wußte als sie. Hauptmann Loft war fest davon überzeugt, daß der Soldat die höchste Entwicklungsstufe aller Lebe244
wesen darstellte. Wenn er überhaupt an Gott dachte, so stellte er ihn sich als alten, ordenbedeckten General in Ruhestand vor, grauhaarig, voll Erinnerungen an vergangene Schlachten, und damit beschäftigt, einige Male im Jahr Kränze auf die Gräber seiner Leutnants niederzulegen. Hauptmann Loft glaubte, daß alle Frauen sich in eine Uniform verlieben müßten, etwas anderes war ihm auch völlig unvorstellbar. Bei normalem Verlauf der Dinge würde er mit fünfundvierzig General sein, und sein Bild würde in den illustrierten Zeitungen erscheinen, umgeben von großen, bleichen, knochigen Damen in dekorativen Spitzenhüten. Die Leutnants Prackel und Tonder waren Rotznasen, niedere Chargen, so sehr trainiert in den politischen Phrasen des Tages und so überzeugt davon, daß sie sich nie die Mühe nahmen, zu beobachten, was für Ergebnisse all das hervorbrachte. Es waren sentimentale junge Männer, schnell in Tränen, schnell in Zorn. Prackel trug eine Locke unter seinem Uhrendeckel, die Haare lösten sich andauernd und drangen ins Werk ein und hemmten die Räder, so daß er eine Armbanduhr tragen mußte, um zu wissen, wie spät es ist. Prackel war ein guter Tänzer, ein fröhlicher Bursche, der aber trotzdem in Haltung und Stimme seine politischen Vorbilder nachäffte. Er haßte entartete Kunst und hatte so manches Bild mit eigener Hand vernichtet. Manchmal zeichnete er Skizzen seiner Kameraden, die so gut waren, daß er öfters zu hören bekam, er hätte Künstler werden sollen. Prackel hatte mehrere blonde Schwestern, auf die er so stolz war, daß er gelegentlich Krach schlug, wenn er sich einbildete, sie wären beleidigt worden. Den 245
Schwestern war das ziemlich unangenehm, denn sie fürchteten, es könne einmal jemanden einfallen, den Wahrheitsbeweis für so eine Beleidigung zu erbringen. Das wäre gar nicht besonders schwer gewesen. Leutnant Prackel verbrachte seine ganze dienstfreie Zeit damit, sich vorzustellen, wie er Leutnant Tonders blonde Schwester verführte, ein dralles Mädchen, das sich sehr gern von älteren Herren verführen ließ, die ihre Haare nicht so durcheinanderbrachten wie Leutnant Prackel. Leutnant Tonder war ein Dichter, ein wehmutsvoller Dichter, der von der vollkommenen, idealen Liebe hochgestellter Jünglinge zu armen Mädchen träumte. Tonder war ein finsterer Romantiker. Seine Vorstellungskraft war so umfassend wie seine Erfahrung. Manchmal sprach er Blankverse leise vor sich hin, um sich dabei brünette Frauen vorstellen zu können. Er sehnte sich nach dem Tod auf dem Schlachtfeld, weinende Eltern im Hintergrund und sein Feldherr dabei, tapfer, aber schmerzerfüllt, angesichts des sterbenden Jünglings. Oft stellte er sich seinen Tod vor, beleuchtet von der sinkenden Sonne, welche auf dem Metall seiner zerfetzten Uniform glitzerte. Um ihn herum seine Soldaten, schweigend, mit tiefgesenkten Häuptern, während über eine dicke Wolke die Walküren dahingaloppierten, mit gewaltigen Brüsten, Mütter und Geliebte in einem und mit Wagner-Donner, der im Hintergrund kracht. Er hatte sogar seine letzten Worte schon vorbereitet. Dies waren die Männer des Stabes, jeder spielte Krieg, so wie Kinder »Räuber und Gendarm« spielen. Für Major Hunter war der Krieg eine Arithmetikaufgabe, die gelöst 246
werden mußte, damit er wieder heimgehen konnte an seinen Kamin; für Hauptmann Loft bedeutete er die einzige anständige Karriere für einen anständig erzogenen jungen Mann; für die Leutnants Tonder und Prackel eine traumhafte Angelegenheit, in welcher nichts sehr real war. Und ihr Krieg war bis jetzt ein Spiel gewesen. Gute Waffen und gute Pläne gegen waffenlose, planlose Feinde. Sie hatten keine Schlacht verloren und hatten kaum etwas gelitten. Unter einem gewissen Druck waren sie zur Feigheit sowohl wie zur Tapferkeit fähig wie jedermann. Von ihnen allen wußte nur Oberst Lanser, was der Krieg letzten Endes wirklich ist. Lanser war vor zwanzig Jahren mit seinen Truppen tief im Feindesland gestanden, und er versuchte zu vergessen, was er wußte: daß Krieg Verrat und Haß ist, der Wirrwarr unfähiger Generäle, Qual und Tod und Krankheit, bis endlich alles vorüber ist und nichts sich geändert hat, außer daß neues Leid kommt und neuer Haß. Lanser sagte sich, daß er ein Soldat sei, der Befehle erhielt, um sie auszuführen. Er hatte nicht die Pflicht, zu fragen oder zu denken, sondern er hatte nur Befehlen zu gehorchen. Und er versuchte, seine kranken Erinnerungen an den vorigen Krieg zu unterdrücken, ebenso wie die Gewißheit, daß dieser hier genauso sein würde. Dieser hier wird anders sein – sagte er fünfzigmal im Tag zu sich selbst; dieser wird ganz anders sein. Bei Märschen, bei Volksansammlungen, bei Fußballspielen und im Krieg verschwimmen die Konturen, wirkliche Dinge werden unwirklich, ein Nebel legt sich über die Gemüter. Spannung und Aufregung, Anstrengung, 247
Bewegung – alles fließt zusammen zu einem großen, grauen Traum, so daß man, wenn es vorüber ist, sich schwer erinnern kann, wie es war, als man Menschen tötete oder ihnen befahl, sich töten zu lassen. Dann kommen andere Leute, die nicht dabei waren und erzählen einem, wie es gewesen ist, und man sagt ungewiß: »Ja – wahrscheinlich war es so …« Der Stab hatte sein Lager im oberen Stockwerk des Bürgermeister-Palais aufgeschlagen. Im Schlafzimmer hatten sie ihre Matratzen, ihr Bettzeug, ihre Ausrüstung untergebracht, und in dem Zimmer daneben, direkt über dem kleinen Wohnzimmer im Parterre, hatten sie eine Art Klubraum eingerichtet, einen ziemlich unbequemen Klub. Ein paar Stühle waren da und ein Tisch. Hier schrieben sie Briefe und lasen Briefe. Sie plauderten und bestellten Kaffee und schmiedeten Pläne und ruhten aus. An den Wänden zwischen den Fenstern hingen Bilder von Kühen und Seen und kleinen Bauernhöfen, und durch die Fenster konnte man über die Stadt hinweg sehen, bis an den Hafen, bis zu den Docks, wo die Schiffe lagen, zu den Docks, wo die Kohlentrimmer anlegten, luden und wieder in See stachen. Sie konnten über die kleine Stadt hinschauen, die ihre geduckten Häuser gewundene Gassen und Straßen entlang bis ans Meer hinbreitete, und sie konnten die Fischerboote sehen, die in der Bucht vor Anker lagen mit eingerollten Segeln, und sie konnten die trocknenden Fische vom Strand her riechen – alles durchs Fenster. Ein großer Tisch stand in der Mitte des Zimmers, an dem saß Major Hunter. Er hielt sein Zeichenbrett im Schoß und stützte es gegen den Tisch. Mit T-Lineal und 248
Dreieck zeichnete er den Plan für einen neuen Bahnwechsel. Das Zeichenbrett war wacklig und der Major ärgerte sich darüber. Er rief über seine Schulter zurück: »Prackel!« und dann: »Leutnant Prackel!« Die Schlafzimmertüre öffnete sich, und der Leutnant kam heraus, sein halbes Gesicht mit Seifenschaum bedeckt. Er hielt den Pinsel in der Hand. »Ja?« sagte er. Major Hunter wackelte mit seinem Zeichenbrett. »Ist mein Stativ noch nicht beim Gepäck gefunden worden?« »Ich weiß nicht, Herr Major, ich habe nicht nachgeschaut.« »Also dann schauen Sie, bitte, nach. Schlimm genug, bei diesem Licht zu arbeiten. Ich werde das Ganze nochmals zeichnen müssen.« Prackel erwiderte: »Sobald ich mich fertig rasiert habe, werde ich nachschauen.« Darauf Hunter nervös: »Dieser Bahnwechsel hier ist wichtiger als Ihre Schönheit. Sehen Sie doch mal nach, ob nicht ein Leinenbeutel, so ähnlich wie ein Golfsack, dort drin beim Bagagehaufen ist.« Prackel verschwand ins Schlafzimmer. Die Türe zur Rechten öffnete sich, und Hauptmann Loft trat ein. Er trug einen Feldstecher und ein Seitengewehr und war ganz behängt mit verschiedenen kleinen Lederetuis. Er begann seine Ausrüstung abzulegen, sobald er eintrat. »Hören Sie mal, dieser Bentick ist verrückt«, sagte er. »Geht zum Dienst mit dem gewöhnlichen Käppi, am hellen Tag, auf offener Straße!« Loft legte seinen Feldstecher auf den Tisch, nahm den Helm ab und dann den Sack mit 249
der Gasmaske. Ein kleiner Berg seiner Kriegsgeräte begann sich auf dem Tisch zu häufen. Hunter sagte: »Lassen Sie das Zeug nicht hier, ich muß hier arbeiten. Warum sollte er nicht das Käppi tragen? Es ist doch alles ruhig. Ich habe auch genug von diesen Blechdingern. Sie sind schwer und man kann nicht richtig sehen.« * Loft meinte überlegen: »Eine schlechte Angewohnheit, ohne Helm zu gehen. Es wirkt ungünstig auf die hiesige Bevölkerung. Wir müssen die militärische Haltung bewahren, die ständige Bereitschaft, daran dürfen wir nichts ändern. Sonst riskieren wir Schwierigkeiten.« »Warum denken Sie das?« fragte Hunter. Loft richtete sich stramm auf. Seine Lippen wurden schmal vor Selbstsicherheit. Früher oder später bekam jeder Lust, Loft in die Nase zu zwicken wegen seiner Überheblichkeit in vielen Dingen. Er entgegnete: »Ich denke nicht. Ich zitiere Handbuch X-12 über Verhalten im besetzten Gebiet; sehr sorgfältig ausgearbeitet.« Er fing an: »Sie –« korrigierte sich aber dann: »Jeder sollte X-12 sehr genau lesen.« Hunter sprach darauf: »Ich möchte wissen, ob der Mann, der es geschrieben hat, je in besetztem Gebiet war. Die Leute hier sind wirklich harmlos. Es scheinen brave, folgsame Leute zu sein.« Prackel kam herein, sein Gesicht war noch immer halb mit Schaum bedeckt. Er trug ein braunes, röhrenförmiges 250
Leinenetui, hinter ihm kam Leutnant Tonder. »Ist es das?« fragte Prackel. »Ja. Bitte, packen Sie es aus und stellen Sie’s auf.« * Prackel und Tonder arbeiteten an dem zusammengelegten Stativ herum, probierten es und stellten es vor Hunter auf. Der Major schraubte sein Reißbrett am Stativ fest, drehte es hin und her und ließ sich schließlich zufrieden grunzend daran nieder. Hauptmann Loft sagte: »Wissen Sie, daß Sie Seife im Gesicht haben, Leutnant?« »Ja, Herr Hauptmann«, antwortete Prackel, »ich habe mich gerade rasiert, als der Herr Major mich um das Stativ schickte.« »Sie sollten es wegmachen«, sprach Loft, »der Herr Oberst könnte Sie so sehen.« »Oh, das wäre ihm gleich. Er kümmert sich nicht um solche Dinge.« Tonder schaute über Hunters Schulter dessen Arbeit zu. Loft sagte: »Das kann ja sein, aber es sieht nicht gut aus.« Prackel nahm sein Taschentuch und wischte den Schaum von der Wange. Tonder wies auf eine kleine Zeichnung in der Ecke von Major Hunters Blatt. »Das ist eine hübsche Brücke, Herr Major. Aber wo, um Himmels willen, werden wir denn eine Brücke bauen?« Hunter blickte zuerst nieder auf die Zeichnung, dann 251
über die Schulter auf zu Tonder. »Heh? Ach, das ist keine Brücke, die wir bauen. Hier unten ist meine Arbeit.« »Und was machen Sie dann mit der Brücke?« Hunter schien etwas verlegen zu sein. »Ja, wissen Sie, zu Hause in meinem Garten, da habe ich so ein kleines Modell von einer Eisenbahnlinie. Eine kleine Bucht ist dabei, und die wollte ich überbrücken. Die Geleise habe ich schon bis an die Bucht herunter gelegt, aber ich bin nicht dazu gekommen, die Brücke zu bauen. Ich wollte ein bißchen am Entwurf arbeiten, während ich weg bin.« Leutnant Prackel zog aus seiner Tasche einen Ausschnitt aus einer Zeitschrift, entfaltete ihn und hielt ihn hoch, um ihn anzusehen. Es war die Fotografie eines Mädchens, das nur aus Beinen, Kleid und Wimpern zu bestehen schien, eine gutentwickelte Blondine in schwarzen, durchbrochenen Strümpfen und dekolletiertem Leibchen. Diese außerordentlich Blonde lugte über einen schwarzen Spitzenfächer hinweg. Leutnant Prackel hielt sie hoch und sagte: »Na, ist das was?« Tonder betrachtete das Bild kritisch und dann erklärte er: »Mir gefällt sie nicht.« »Was gefällt dir nicht an ihr?« »Sie gefällt mir eben nicht. Wozu brauchst du ihr Bild?« »Weil sie mir gefällt, und ich wette, dir auch.« »Mir nicht«, beharrte Tonder. »Willst du damit sagen, du würdest kein Rendezvous mit ihr ausmachen, wenn du könntest?« Tonder sagte: »Nein.« »Ach, du bist ja verrückt«, und Prackel ging zu einem der Vorhänge. »Ich werde sie jetzt hier mal aufhängen, 252
und dann kannst du dich ein bißchen an sie gewöhnen.« Und er nadelte das Bild am Vorhang fest. Hauptmann Loft raffte seine Ausrüstung mit beiden Armen zusammen und sprach: »Ich finde nicht, daß es hier sehr gut aussieht, Leutnant. Nehmen Sie’s lieber herunter. Es würde auf die Bevölkerung keinen guten Eindruck machen.« Hunter blickte von seiner Zeichnung auf. »Was würde?« Er folgte den Blicken der anderen nach dem Bild hin. »Wer ist das?« fragte er. »Eine Schauspielerin«, antwortete Prackel. Hunter schaute sie genau an. »Kennen Sie sie?« Tonder meinte: »Eine Nutte.« Hunter fragte: »Dann kennen Sie sie also?« Prackel fixierte Tonder: »Sag mal, woher weißt du, daß sie eine Nutte ist?« »Sie schaut aus wie eine Nutte.« »Kennst du sie?« »Nein, und ich will sie auch nicht kennenlernen.« Prackel begann wieder: »Woher weißt du dann …«, als Loft unterbrach: »Nehmen Sie das Bild herunter, hängen Sie es über Ihr Bett, wenn Sie wollen. Dieses Zimmer ist eine Art Amt.« Prackel sah ihn widerspenstig an und war im Begriffe zu reden, als Hauptmann Loft sprach: »Das ist ein Befehl, Herr Leutnant.« Und Prackel faltete seine Fotografie zusammen und steckte sie wieder in die Tasche. Er versuchte fröhlich auf ein anderes Thema überzugehen. »Es gibt ein paar recht hübsche Mädchen hier in der Stadt«, sagte er. »Sobald wir 253
hier richtig eingerichtet sind und alles glattgeht, werde ich ein paar Bekanntschaften schließen.« Loft sagte: »Sie sollten lieber X-12 lesen. Da steht auch ein Kapitel über sexuelle Fragen drin.« Und er ging hinauf und schleppte seine Fernrohre, Etuis und Waffen mit sich. Leutnant Tonder schaute dem Major immer noch über die Schulter und sagte: »Das ist klug – die Kohlenwagen fahren direkt aus den Minen auf die Schiffe.« Hunter tauchte langsam aus seiner Arbeit auf und sagte: »Wir müssen es beschleunigen; wir müssen diese Kohle in Bewegung bringen. Eine große Sache. Ich bin so froh, daß die Leute hier ruhig und vernünftig sind.« Loft kam ohne seine Ausrüstung zurück. Er stand am Fenster, blickte hinaus zum Hafen, hinaus zu den Kohlenminen und sagte: »Sie sind ruhig und vernünftig, weil wir ruhig und vernünftig sind. Ich meine, wir können uns das zugute schreiben. Darum bestehe ich darauf, daß man in nichts nachlässig wird. Es ist alles sehr genau ausgedacht.« Die Türe ging auf und Oberst Lanser trat ein und zog im Eintreten seinen Mantel aus. Sein Stab erwies ihm die militärische Ehrenbezeigung, nicht sehr stramm, aber es genügte. Lanser fragte: »Hauptmann Loft, wollen Sie hinuntergehen und Bentick ablösen? Ihm ist nicht gut, schwindlig, sagt er.« »Ja, Herr Oberst«, antwortete Loft. »Darf ich bemerken, daß ich eben erst vom Dienst komme?« Lanser sah ihn forschend an: »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts, wieder zu gehen, Hauptmann?« »Absolut nichts, Herr Oberst, ich erwähne es nur wegen des Rekordes.« 254
Lanser verstand und lachte leise: »Sie möchten im Rapport erwähnt werden, nicht wahr?« »Das kann nie schaden, Herr Oberst.« »Und wenn Sie oft genug erwähnt worden sind«, fuhr Lanser fort, »dann wird so ein kleines Ding an Ihrer Brust baumeln.« »Das sind die Marksteine der militärischen Laufbahn, Herr Oberst!« Lanser seufzte, »Ja, ja, so sagt man. Aber nicht das wird es sein, woran Sie sich später einmal erinnern, Hauptmann.« »Herr Oberst?« fragte Loft. »Sie werden mich schon noch verstehen lernen – vielleicht.« Blitzschnell war Hauptmann Loft wieder angezogen und gerüstet. »Jawohl, Herr Oberst«, sagte er und ging. Und seine Tritte dröhnten auf der Holztreppe. Oberst Lanser sah ihm ein wenig amüsiert nach und meinte: »Da geht ein geborener Soldat.« Und Hunter blickte auf und spitzte seinen Bleistift und entgegnete: »Ein geborener Esel.« Lanser sagte: »Nein, er ist Soldat, wie andere Politiker sind. Nicht lange, und er wird beim Generalstab sein. Er wird sich den Krieg von oben her anschauen und deshalb wird er ihn immer lieben.« Leutnant Prackel fragte: »Wann, glauben Sie, ist der Krieg vorbei, Herr Oberst?« »Vorbei? Vorbei? Was meinen Sie eigentlich?« Leutnant Prackel fuhr fort: »Wie bald werden wir siegen?« »Oh, ich weiß nicht. Der Feind ist noch in der Welt.« 255
»Aber wir werden ihn zerschmettern«, sagte Prackel. Lanser machte: »Ja?« »Oder nicht?« »Ja, ja – wie immer.« Prackel sagte aufgeregt: »Wenn alles ganz ruhig ist, so um Weihnachten herum – glauben Sie, daß dann ein paar Urlaube bewilligt werden?« »Ich weiß nicht«, sagte Lanser. »Darüber wird zu Hause entschieden werden. Möchten Sie zu Weihnachten heim?« »Nun, ich hätte nichts dagegen.« »Vielleicht werden Sie heimfahren«, bemerkte Lanser, »vielleicht fahren Sie heim.« Leutnant Tonder sagte: »Wir werden doch diese Stellung hier nicht verlassen, Herr Oberst, wenn der Krieg einmal vorüber ist?« »Ich weiß nicht«, erwiderte der Oberst, »warum?« »Na, es ist ein nettes Land hier – ein nettes Volk. Unsere Leute – ein paar von ihnen – würden sich möglicherweise sogar hier niederlassen.« Lanser meinte scherzend: »Dann haben Sie wohl schon einen Platz gefunden, der Ihnen zusagt?« »Nun, es gibt ein paar reizende kleine Höfe hier. Wenn man so vier oder fünf zusammenziehen würde, das gäbe sicher eine schöne Besitzung, auf der man sich niederlassen könnte.« »Sie haben also kein Erbgut?« »Nein, Herr Oberst, nicht mehr. Die Inflation hat es verschluckt.« * 256
Lanser wurde langsam müde, sich mit Kindern zu unterhalten. »Na schön – gut. Wir haben immer noch einen Krieg durchzukämpfen. Wir haben die Kohle herauszuholen. Glaubt ihr, wir können bis Kriegsende warten mit dem Aufbau der Neuordnung? Die Befehle von oben werden schon kommen. Hauptmann Loft kann euch etwas darüber erzählen.« Er wechselte den Ton. »Hunter, Ihr Stahl wird morgen da sein. Sie können noch diese Woche mit Ihren Geleisen anfangen.« Es klopfte an die Türe und ein Wachposten steckte den Kopf herein. »Herr Corell möchte Sie sprechen, Herr Oberst.« »Führen Sie ihn her«, sagte der Oberst. »Dies ist der Mann, der hier die Vorarbeiten gemacht hat. Möglicherweise werden wir noch Unannehmlichkeiten mit ihm haben.« »Hat er seine Sache gut gemacht?« wollte Tonder wissen. »Jawohl, das hat er. Und darum dürfte er bei den Leuten hier nicht besonders beliebt sein. Ich bin neugierig, ob er bei uns sehr beliebt sein wird.« »Er verdient fraglos Anerkennung«, sagte Tonder. »Ja«, sagte Lanser, »und ich zweifle nicht, daß er sie anfordern wird.« Corell trat händereibend ein. Er strahlte guten Willen und gute Kameradschaft aus. Er trug noch immer seinen schwarzen Arbeitskittel, aber auf seinem Kopf war ein großes Stück Verbandmull, mit einem Pflaster kreuzweise festgeklebt. Er trat mitten ins Zimmer und sagte: »Guten Morgen, Herr Oberst. Ich hätte Sie gestern schon besucht, 257
nach dem unangenehmen Zwischenfall da unten, aber ich wußte ja, wieviel Sie zu tun haben würden.« * Der Oberst grüßte: »Guten Morgen.« Dann wies er in die Runde. »Mein Stab, Herr Corell.« »Feine Jungens«, lobte Corell, »haben Großes geleistet. Nun, ich tat, was ich konnte, um alles gut für sie vorzubereiten.« Hunter blickte auf sein Brett nieder. Dann nahm er eine Tuschfeder, tauchte sie vorsichtig ein und begann seine Zeichnung nachzuziehen. Lanser erwiderte: »Sie haben Ihre Sache sehr gut gemacht. Aber ich wollte doch, Sie hätten diese sechs Mann nicht getötet. Ich wollte, die Soldaten wären nicht von dem Schützenfest zurückgekommen.« Corell spreizte seine Finger aus und sagte gemütlich: »Sechs Mann, das ist ein geringer Verlust für eine Stadt von dieser Größe, und noch dazu mit einem Kohlenbergwerk.« Lanser entgegnete streng: »Ich bin nicht abgeneigt, zu töten, wenn damit etwas getan ist. Aber manchmal ist es besser, man unterläßt es.« Corell hatte inzwischen die Offiziere näher ins Auge gefaßt. Er schaute die Leutnants von der Seite an und sagte: »Könnten wir – vielleicht – alleine sprechen, Oberst?« »Ja, wenn Sie wollen. Leutnant Prackel und Leutnant Tonder, wollen Sie, bitte, auf Ihr Zimmer gehen.« Und zu Corell: »Major Hunter arbeitet. Er hört absolut nichts, 258
wenn er arbeitet.« Hunter blickte von seinem Reißbrett auf, lächelte schweigend und blickte wieder nieder. Die jungen Leutnants verließen das Zimmer, und als sie fort waren, sagte Lanser: »Nun also. Wollen Sie nicht Platz nehmen?« »Danke, Herr Oberst.« Corell setzte sich an den Tisch. Lanser betrachtete den Verband auf Corells Kopf und sagte unverblümt: »Man hat also schon versucht, Sie umzubringen?« Corell tastete mit den Fingern nach dem Mull. »Das? Ach, das war ein Stein. Der fiel heute morgen von einer Klippe, als ich in den Dünen war.« »Sind Sie überzeugt, daß er nicht geworfen wurde?« »Was meinen Sie damit?« fragte Corell. »Das Volk hier ist nicht wild. Seit mehr als hundert Jahren haben sie keinen Krieg gehabt. Sie haben vergessen, wie man kämpft.« »Nun, Sie haben unter ihnen gelebt«, sagte der Oberst, »Sie müssen es wissen.« Er trat nahe an Corell heran. »Aber wenn Sie hier wirklich sicher sind, dann ist dieses Volk anders als alle Völker der Erde. Ich war früher schon dabei, wie man Länder besetzt hat. Schon im vorigen Krieg, vor zwanzig Jahren.« Er schüttelte den Kopf ein wenig, als müsse er etwas abschütteln, und sagte mürrisch: »Sie haben gute Arbeit geleistet. Wir müssen Ihnen danken. Ich habe Ihre Leistung in meinem Bericht erwähnt.« »Danke, Herr Oberst, ich tat, was ich konnte.« Lanser sagte ein wenig gelangweilt: »Nun, mein Herr, und was machen wir jetzt? Möchten Sie wieder in die Hauptstadt? Wir können Sie auf einem Kohlentrimmer 259
wegbringen, wenn Sie es eilig haben, oder auf einem Zerstörer, wenn Sie so lange warten wollen.« Corell sagte: »Aber ich will gar nicht fort! Ich will hierbleiben!« * Lanser überlegte eine Weile, und dann sagte er: »Wissen Sie, ich habe keine so sehr große Mannschaft. Ich könnte Ihnen keine angemessene Leibgarde stellen.« »Aber ich brauche keine Leibgarde. Ich sage Ihnen doch, dies ist kein gewalttätiges Volk.« Lanser schaute einen Moment auf den Verband. Hunter blickte von seinem Brett auf und bemerkte: »Sie sollten sich daran gewöhnen, einen Stahlhelm zu tragen.« Er sah wieder auf seine Arbeit hinab. Corell rückte auf seinem Stuhl zurecht. »Ich wollte etwas Bestimmtes mit Ihnen besprechen, Oberst. Ich dachte, ich könnte Ihnen bei der Zivilverwaltung helfen.« Lanser drehte sich auf den Absätzen herum, ging zum Fenster und schaute hinaus. Dann wandte er sich mit einem Ruck wieder um und sagte leise: »Was haben Sie im Sinn?« »Nun, Sie brauchen doch eine zivile Autorität, der Sie vertrauen können. Ich dachte, Bürgermeister Orden könnte vielleicht jetzt abdanken, um – ja wenn ich sein Amt übernähme, dann gäbe es eine schöne Zusammenarbeit mit dem Militär.« Lansers Augen wurden groß und hell. Er trat dicht an Corell heran und fragte scharf: »Haben Sie das in Ihrem Bericht erwähnt?« 260
»Ja, natürlich. In meinen Darlegungen …« Lanser unterbrach: »Haben Sie mit irgend jemandem von der Stadtbevölkerung gesprochen seit unserer Ankunft? – Außer dem Bürgermeister, meine ich?« »Ich – nein. Sehen Sie, sie sind alle noch ein bißchen verblüfft. Sie haben das nicht erwartet.« Er kicherte. »Nein, mein Herr, das haben sie gewiß nicht erwartet.« Aber Lanser blieb bei der Sache. »Sie wissen also nicht genau, was in den Leuten vorgeht?« »Na, sie sind verblüfft«, erklärte Corell, »sie – sie sind noch wie im Traum.« »Sie wissen nicht, was sie von Ihnen halten?« »Ich habe viele Freunde hier. Ich kenne jeden.« »Hat jemand heute morgen in Ihrem Laden etwas gekauft?« »Nun natürlich, im Geschäftsleben ist momentan ein Stillstand. Kein Mensch kauft irgend etwas.« Lanser entspannte sich plötzlich. Er ging zu einem Stuhl, setzte sich und schlug die Beine übereinander. Er sagte ruhig: »Einen schwierigen Teil des Dienstes haben Sie gewählt, der viel Mut verlangt. Er sollte hoch belohnt werden.« »Danke, Herr Oberst.« »Sie werden bald den Haß des Volkes spüren.« »Den kann ich ertragen, Herr Oberst. Das Volk ist der Feind.« Jetzt zögerte Lanser lange, bevor er sprach, und dann sagte er leise: »Sie werden nicht einmal unsere Achtung haben.« Corell sprang aufgeregt auf die Füße: »Das steht im Ge261
gensatz zu den Worten der Obrigkeit!« rief er. »Dort erklärte man ausdrücklich, daß alle Dienstabteilungen gleich ehrenhaft sind!« Lanser fuhr sehr ruhig fort: »Ich hoffe, der Chef versteht. Ich hoffe, er kann in den Herzen der Soldaten lesen.« Und dann, fast mitleidig: »Sie sollten hoch belohnt werden.« Einen Augenblick saß er still da, dann raffte er sich zusammen. »Nun, wir müssen die Sache klarstellen. Ich trage hier die Verantwortung. Meine Aufgabe ist es, die Kohle zu beschaffen, dazu muß ich Ordnung und Disziplin aufrechterhalten, und dazu wiederum muß ich wissen, was in diesen Leuten vorgeht. Ich muß Revolten vorbeugen können. Verstehen Sie das?« »Nun, ich kann alles herauskriegen, was Sie erfahren wollen, Herr Oberst. Als Bürgermeister werde ich sehr viel leisten können.« Lanser schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Befehle hierüber. Ich muß meinem eigenen Urteil folgen. Ich glaube, niemand wird mit Ihnen reden; niemand wird Ihnen in die Nähe gehen, außer den Leuten, die sich bezahlen lassen, die imstande sind, sich bezahlen zu lassen. Ich glaube, ohne Bewachung werden Sie in großer Gefahr sein. Ich würde es begrüßen, wenn Sie in die Hauptstadt zurückgehen, um dort für Ihre gute Leistung belohnt zu werden.« »Aber mein Platz ist hier, Herr Oberst. Ich habe mir meinen Platz geschaffen. Das steht alles in meinem Bericht.« Lanser fuhr fort, als hätte er nichts gehört: »Bürgermeister Orden ist mehr als ein Bürgermeister. Er ist das Volk 262
selbst. Er weiß, was das Volk tut und denkt, ohne zu fragen, weil er ebenso denkt. Wenn ich ihn beobachte, werde ich wissen, was in den Leuten vorgeht. Er muß bleiben. Das ist meine Entscheidung.« Corell entgegnete: »Meine Arbeit, Herr Oberst, verdient bessere Behandlung, als fortgeschickt zu werden.« »Ja, das stimmt«, bestätigte der Oberst langsam. »Aber für die größere Arbeit wären Sie jetzt nur ein Hindernis. Wenn Sie jetzt noch nicht verhaßt sind, werden Sie es bald sein. In der kleinsten Revolte werden Sie als erster getötet werden. Ich werde befürworten, daß Sie fortgehen.« Corell sagte steif: »Sie werden mir doch gestatten, zu warten, bis die Antwort auf meinen Bericht aus der Hauptstadt kommt.« »Ja, natürlich. Aber ich werde darum ersuchen, daß Sie zurückkehren, um Ihrer eigenen Sicherheit willen. Offen gesagt, Herr Corell, Sie haben hier keinen Wert. Aber – nun, es wird noch andere Pläne geben und andere Länder. Vielleicht werden Sie jetzt in eine neue Stadt gehen, in einem neuen Land. Sie werden neues Vertrauen gewinnen auf einem neuen Gebiet. Sie werden vielleicht eine größere Stadt zugeteilt bekommen, vielleicht sogar eine Großstadt, eine größere Verantwortung. Ich werde Sie bestens empfehlen für Ihre Leistungen hier.« Corells Augen leuchteten vor Dankbarkeit. »Ich danke Ihnen, Herr Oberst«, sagte er, »ich habe schwer gearbeitet. Vielleicht haben Sie recht. Aber Sie müssen mir erlauben, auf die Antwort aus der Hauptstadt zu warten.« Lansers Stimme wurde scharf und seine Augen schmal. Er sagte streng: »Tragen Sie einen Helm, gehen Sie wenig 263
aus, nachts überhaupt nicht. Und vor allem trinken Sie nicht. Trauen Sie keiner Frau. Und auch keinem Mann. Verstehen Sie?« Corell sah den Oberst mitleidig an. »Ich glaube, Sie verstehen nicht. Ich habe ein kleines Haus. Ein hübsches Bauernmädchen wartet mir auf. Ich glaube sogar, sie hat mich ein bißchen gern. Es sind einfache, friedliche Leute hier. Ich kenne sie.« »Es sind keine friedlichen Leute! Wann werden Sie das endlich erfassen? Es sind keine freundlichen Leute! Wir sind in dieses Land eingedrungen – und Sie haben uns den Weg bereitet, durch das, was man Verrat nennt.« Sein Gesicht wurde rot, seine Stimme hob sich. »Können Sie denn nicht begreifen, daß wir im Krieg sind mit diesem Volk?« Corell sagte selbstgefällig: »Wir haben es besiegt.« Der Oberst stand auf und hob hilflos die Arme. Hunter sah hoch und hielt die Hand schützend vor sein Zeichenbrett, damit es nicht erschüttert werde. Er bat: »Vorsicht jetzt, Herr Oberst. Ich bin am Tuschen. Ich möchte nicht das Ganze nochmals machen.« »Verzeihung«, sagte der Oberst und fuhr fort, als hielte er eine Instruktionsstunde ab: »Besiegtsein ist etwas Momentanes. Besiegtsein dauert nicht an. Wir waren besiegt und jetzt greifen wir an. Besiegtsein bedeutet nichts. Verstehen Sie das? Wissen Sie, was man hinter den Türen flüstert?« »Wissen Sie es?« »Nein, aber ich errate es.« Corell fragte vieldeutig: »Haben Sie Angst, Oberst? Sollte der Eroberer dieses Landes Angst haben?« 264
Lanser ließ sich schwerfällig nieder. »Vielleicht ist es das.« Angewidert fuhr er fort: »Ich habe genug von den Leuten, die nicht im Krieg waren und alles darüber wissen.« Er stützte das Kinn in die Hand. »Ich denke an eine kleine alte Dame in B., während unserer Besetzung im vorigen Krieg. Ein reizendes Gesicht hatte sie – und weiße Haare. Sie war nur einen Meter fünfzig groß; edle alte Hände. Die Adern waren beinahe schwarz gegen die Haut. Dazu ihr schwarzer Schal und ihr schneeweißes Haar. Sie sang uns unsere Volkslieder vor, mit zitternder, süßer Stimme. Immer hatte sie eine Zigarette für uns oder eine Zigarre.« Er ließ die Hand vom Kinn sinken und raffte sich auf, als hätte er geschlafen. »Wir wußten nicht, daß ihr Sohn hingerichtet worden war. Als wir sie schließlich erschossen, hatte sie zwölf Mann getötet, mit einer langen, schwarzen Hutnadel. Ich habe sie noch zu Hause. Ein Emailknopf ist oben dran mit einem Vogel darauf, rot und blau.« Corell fragte: »Aber Sie haben sie erschossen?« »Natürlich haben wir sie erschossen.« »Und die Morde hörten auf?« »Nein, die Morde hörten nicht auf. Und als wir schließlich abzogen, fing die Bevölkerung die Nachzügler, einige verbrannten sie, einigen stachen sie die Augen aus, einige kreuzigten sie sogar.« Corell sprach laut: »Es ist nicht gut, solche Dinge zu erzählen, Oberst.« »Es ist nicht gut, sich an solche Dinge zu erinnern.« Corell: »Sie sollten kein Kommando innehaben, wenn Sie sich fürchten!« Und Lanser antwortete leise: »Ich weiß, wie man 265
kämpft, sehen Sie. Wenn man das weiß, so begeht man wenigstens keine dummen Fehler.« »Sprechen Sie auch so zu Ihren jungen Offizieren?« Lanser schüttelte den Kopf. »Nein, die würden mir nicht glauben.« »Warum sprechen Sie dann zu mir so?« »Weil Ihre Arbeit getan ist, Herr Corell. Ich erinnere mich, einmal –« Der Ton von hastigen Fußtritten auf der Treppe unterbrach ihn, die Türe sprang auf, der Wachposten wurde sichtbar, und Hauptmann Loft fegte an ihm vorbei ins Zimmer. Loft war straff, kalt und militärisch. Er sagte: »Ein Unglück, Herr Oberst.« »Unglück?« »Ich habe zu melden, Herr Oberst, daß Hauptmann Bentick getötet worden ist.« »So – also Bentick!« Das Geräusch von vielen Schritten tönte auf der Treppe, zwei Soldaten kamen herein, die eine Bahre mit einer verhüllten Gestalt trugen. Lanser fragte: »Wissen Sie genau, daß er tot ist?« »Ganz genau«, antwortete Loft steif. Die Leutnants kamen aus dem Schlafzimmer. Ihre Münder waren etwas offen und sie sahen erschrocken drein. Lanser befahl: »Stellt ihn dahin.« Er zeigte auf die Wand bei den Fenstern. Als die Träger draußen waren, kniete Lanser neben der Bahre hin, lüftete eine Ecke des Tuches und deckte das Gesehene schnell wieder zu. Noch kniend blickte er Loft an und fragte: »Wer hat das getan?« »Ein Minenarbeiter.« 266
»Warum?« »Ich war dabei, Herr Oberst.« »So rapportieren Sie schon, verdammt noch mal, rapportieren Sie, Mann!« Loft reckte sich und sagte formell: »Ich hatte Hauptmann Bentick soeben auf Befehl des Oberst abgelöst. Hauptmann Bentick war im Begriffe fortzugehen, als ich mit einem widersetzlichen Minenarbeiter, der die Arbeit verlassen wollte, Schwierigkeiten bekam. Er schrie etwas, wie, daß er ein freier Mann sei. Als ich ihm befahl, zu arbeiten, ging er mit seiner Spitzhacke auf mich los. Hauptmann Bentick wollte ihn aufhalten«, er wies auf die Leiche. Lanser, noch immer kniend, nickte langsam. »Bentick war ein seltsamer Mensch. Ich glaube nicht, daß er den Kampf sehr liebte … Haben Sie den Mann gefangengenommen?« »Jawohl, Herr Oberst.« Langsam stand Lanser auf und sprach wie zu sich selbst: »Es fängt also wieder an. Wir werden diesen Mann erschießen und uns zwanzig neue Feinde machen. Das ist alles, was wir können, alles, was wir können.« Prackel fragte: »Was sagen Sie, Herr Oberst?« »Nichts«, antwortete Lanser, »gar nichts. Ich habe nur gedacht.« Er wandte sich wieder an Loft: »Bitte, gehen Sie zu Bürgermeister Orden. Ich lasse mich empfehlen und ihn bitten, mich sofort zu empfangen. Es sei sehr wichtig.« Major Hunter blickte auf, trocknete seine Feder sorgfältig ab und legte sie in ein Samtetui. 267
3. Kapitel In der Stadt schlichen die Menschen verstört durch die Straßen. Das Licht des Staunens war aus ihren Augen gewichen. Das Licht des Zornes war noch nicht an seine Stelle getreten. Im Kohlenbergwerk schoben die Arbeiter verstört die Kohlenkarren. Die kleinen Händler standen hinter ihren Pulten und bedienten die Kunden, aber niemand plauderte. Jeder dachte an den Krieg, dachte an sich selbst, dachte an die Vergangenheit und wie so plötzlich alles anders geworden war. Im Wohnzimmer des Bürgermeisters brannte ein kleines Feuer und man hatte auch die Lichter angezündet, denn draußen war ein grauer Tag und in der Luft lag Frost. Das Zimmer selbst war verändert. Die Gobelinstühle waren zurückgeschoben, die kleinen Tische fortgeräumt. Joseph und Annie mühten sich, durch die Türe rechts einen großen breiten Eßzimmertisch hereinzubringen. Jedes hielt ihn an einem Ende. Joseph war schon im Zimmer und Annie erschien mit rotem Gesicht in der Türe. Joseph bugsierte das Tischbein über die Schwelle und rief: »Nicht stoßen, Annie! Jetzt!« »Wenn ich sage jetzt, dann ist jetzt!« entgegnete Annie, die rotnasige, die rotäugige, die zornige. Annie war immer ein bißchen zornig und diese Soldaten, die Besatzung, 268
machten ihre Laune nicht besser. Tatsächlich, was Jahre hindurch nur als schlechte Veranlagung galt, wurde nun plötzlich patriotische Erregung. Annie hatte einen gewissen Ruf als Vorkämpferin für die Freiheit erlangt, seitdem sie den Soldaten heißes Wasser angeworfen hatte. Sie hätte jeden angeschüttet, dem es eingefallen wäre, in ihrem Hinterhof herumzulungern, aber wie die Dinge nun einmal lagen, war eine Heldin aus ihr geworden; und da Zorn der Anfang ihres Erfolges gewesen war, eilte Annie zu neuen Erfolgen, indem sie sich in zunehmenden und andauernden Zorn hineinsteigerte. »Zerkratz den Fußboden nicht!« rief Joseph. Der Tisch hatte sich in der Türe festgeklemmt. »Aufhören!« warnte Joseph. »Ich höre auf«, erklärte Annie. Joseph ließ ab und untersuchte den Tisch, und Annie verschränkte die Arme und beobachtete Joseph. Der hantierte an den Tischbeinen herum. »Nicht stoßen«, sagte er. Und ganz allein brachte er den Tisch ins Zimmer herein, während Annie hinter ihm herkam. »Jetzt hoch damit!« sagte Joseph und Annie half ihm, den Tisch in die Mitte des Zimmers zu tragen. »So«, meinte Annie, »wenn Seine Exzellenz es mir nicht befohlen hätte, dann hätte ich’s nicht gemacht. Was haben die für ein Recht, Tische herumzustellen?« »Was haben sie für ein Recht, überhaupt hereinzukommen?« fragte Joseph. »Keines«, erklärte Annie. »Keines«, wiederholte Joseph. »Wie ich die Sache sehe, haben sie überhaupt kein Recht, aber sie machen es mit 269
ihren Gewehren und mit ihren Fallschirmen. Sie machen es, Annie.« »Sie haben kein Recht«, murrte Annie. »Was wollen sie überhaupt hier drin mit einem Tisch? Ist da ein Eßzimmer?« Joseph trug einen Sessel zum Tisch und stellte ihn sorgfältig im richtigen Abstand hin und rückte daran herum. »Sie werden ein Verhör abhalten. Sie werden Alexander Morran verhören.« »Den Mann von Molly Morran?« »Den Mann von Molly Morran.« »Weil er den Burschen mit der Hacke erschlagen hat?« »So ist es.« »Aber Alex ist ein netter Mann«, rief Annie, »sie haben kein Recht, ihn zu verhören! Er hat Molly ein wunderbares rotes Kleid zum Geburtstag geschenkt. Mit welchem Recht verhören sie Alex?« »Nun, er hat diesen Burschen getötet.« »Und wenn schon; dieser Bursche hat ihm herumbefohlen. Das kann Alex nicht vertragen. Alex war schon mal im Gemeinderat und sein Vater auch. Und Molly Morran bäckt recht gute Torten«, erklärte Annie herablassend, »nur die Glasuren sind zu hart. Was werden sie mit Alex machen?« »Erschießen«, sagte Joseph trübselig. »Das können sie nicht!« »Bring die Stühle her, Annie. Doch, das können sie. Und sie werden es tun.« Annie schüttelte ihren Zeigefinger wild vor Josephs Gesicht herum. »Denk an meine Worte! Den Leuten wird es nicht gefal270
len, wenn sie Alex etwas antun! Die Leute haben Alex gern. Hat er jemals vorher einem Menschen etwas zuleide getan? Antworte mir!« »Nein«, sagte Joseph. »Nun also, siehst du! Wenn sie Alex etwas tun, wird das Volk toll werden, und ich werde auch toll werden. Ich stehe für nichts ein!« »Was willst du tun?« »Ich? Ich werde auch einen von ihnen töten.« »Und dann werden sie dich erschießen.« »Laß sie! Ich sage dir, Joseph, so kann es nicht weitergehen. Sie kommen, sie gehen, Tag und Nacht, sie erschießen Menschen …« Joseph stellte einen Stuhl am oberen Ende des Tisches auf und plötzlich nahm er das geheimnisvolle Wesen eines Verschwörers an. Er sagte leise: »Annie!« Sie hielt inne und trat, durch seinen Ton aufmerksam geworden, näher an ihn heran. »Kannst du ein Geheimnis bewahren?« Sie blickte ihn bewundernd an, denn noch nie zuvor hatte er ein Geheimnis gehabt. »Ja – was ist es?« »Höre – William Deal und Walter Doggel sind letzte Nacht fort …« »Fort? Wohin?« »Fort – hinüber – mit einem Schiff.« Annie seufzte vor Freude und vor Neugier. »Wissen es schon alle?« »Nein, nicht alle. Das heißt alle – außer –« Er deutete mit dem Daumen rasch gegen die Zimmerdecke. 271
»Wann sind sie fort? Warum habe ich nichts davon gewußt?« »Du hast zu tun gehabt.« Nun wurde Josephs Gesicht kalt und seine Stimme auch. »Kennst du diesen Corell?« »Ja.« Joseph kam ganz dicht an sie heran: »Ich glaube nicht, daß er lange leben wird.« »Wie meinst du das?« »Die Leute reden …« Annie seufzte vor Spannung: »A-h-h!!« Und nun konnte Joseph endlich seine Meinung anbringen. »Die Leute kommen zusammen«, sagte er. »Es gefällt ihnen nämlich nicht, erobert zu sein. Es wird noch viel passieren. Halte die Augen weit offen, Annie! Es wird manches für dich zu tun geben.« »Und was ist mit Seiner Exzellenz?« fragte Annie, »was wird er machen? Auf welcher Seite steht Exzellenz?« »Das weiß niemand. Er redet kein Wort.« »Er kann nicht gegen uns sein!« »Er sagt nichts.« Die Türe links ging auf, und Bürgermeister Orden trat langsam ein. Er sah müde und alt aus. Hinter ihm kam Doktor Winter. Orden sprach: »Es ist gut, Joseph. Danke, Annie. Es sieht sehr gut aus.« Die beiden gingen. Joseph schaute noch einmal ins Zimmer zurück, bevor er die Türe hinter sich schloß. Bürgermeister Orden ging zum Kamin und wärmte sich den Rücken. Doktor Winter setzte sich oben an den Tisch. »Ich frage mich, wie lange ich diese Situation noch aufrechterhalten kann«, sagte Orden. 272
»Das Volk traut mir nicht und der Feind auch nicht. Ich weiß nicht, ob das gut so ist.« »Ich weiß auch nicht«, antwortete Doktor Winter, »aber du traust dir selbst, nicht wahr? Es ist doch kein Zweifel in dir?« »Zweifel? Nein. Ich bin der Bürgermeister. Aber es gibt vieles, was ich nicht verstehe.« Er deutete auf den Tisch. »Ich weiß nicht, wozu sie dieses Verhör hier abhalten. Sie werden Alex Morran verhören wegen Mordes. Erinnerst du dich an Alex? Er hat diese hübsche, kleine Frau, Molly.« »Ich erinnere mich. Sie unterrichtete in der Sprachschule. Sie ist so hübsch, daß sie ganz unglücklich war, als sie eine Brille tragen mußte. Nun, Alex hat einen Offizier getötet. Das steht fest, niemand hat das bestritten.« Bürgermeister Orden entgegnete bitter: »Niemand bestreitet das. Wozu verhören sie ihn dann? Warum erschießen sie ihn nicht gleich? Da geht es doch nicht um Zweifel oder Gewißheit, um Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit – das alles hat nichts damit zu tun. Wozu müssen sie ihn verhören – und noch dazu in meinem Haus?« »Wahrscheinlich wegen der Wirkung nach außen hin. Es gibt so eine Theorie: Wenn man sich die Form einer Sache zu eigen macht, dann hat man die Sache selbst. Manchen Leuten genügt die Form allein. Wir hatten eine Armee – Soldaten mit Gewehren –, aber es war doch keine Armee, verstehst du. Die Besatzung wird hier ein Verhör abhalten und hofft, daß sie damit das Volk überzeugt, hier werde Gerechtigkeit geübt. Alex hat den Hauptmann getötet, verstehst du.« »Ja, ich weiß«, sagte Orden. 273
Winter fuhr fort: »Wenn das Urteil aus deinem Haus kommt, aus deinem Haus, von dem das Volk Gerechtigkeit erwartet …« Er wurde durch das Öffnen der Türe unterbrochen. Eine junge Frau trat ein. Sie war ungefähr dreißig Jahre alt und sehr hübsch. Sie trug ihre Brille in der Hand. Ihre Kleidung war einfach und sauber, sie war sehr aufgeregt. »Annie sagte mir, ich solle nur hereinkommen, Herr Bürgermeister.« »Ja natürlich«, sagte der Bürgermeister. »Du bist Molly Morran.« »Ja, Herr Bürgermeister. Man sagt, daß Alex verhört und erschossen werden soll.« Orden blickte zu Boden, und Molly fuhr fort: »Man sagt, Sie werden ihn verurteilen. Es werden Ihre Worte sein, die ihn in den Tod schicken.« Orden sah erschrocken auf: »Wer sagt das?« »Die Leute in der Stadt.« Sie hielt sich sehr gerade, ihr Ton war flehend und fragend: »Das werden Sie doch nicht tun, Herr Bürgermeister – nicht wahr?« »Wie können die Leute etwas wissen, was ich nicht weiß?« sagte er. »Das ist ein großes Geheimnis«, sagte Doktor Winter. »Ein Geheimnis, über das sich schon gar viele Herrscher auf der ganzen Welt die Köpfe zerbrochen haben: Wieso weiß es das Volk? Den Eindringlingen hier macht es auch Kopfzerbrechen, wie ich höre, daß die Nachrichten so durch die Zensur dringen, daß die Wahrheit sich von jedem Zwang befreit. Es ist ein großes Geheimnis.« Die junge Frau blickte auf, denn das Zimmer hatte sich 274
plötzlich verdunkelt und sie schien sich zu ängstigen. »Eine Wolke«, meinte sie, »es kommt Schnee – schon so früh im Jahr …« Doktor Winter ging zum Fenster und blinzelte in den Himmel empor. »Ja«, sagte er, »eine große Wolke; vielleicht geht sie vorüber.« Bürgermeister Orden drehte eine Lampe an. Sie gab nur einen kleinen Lichtkreis. Er drehte sie wieder ab und sagte: »Eine Lampe bei Tageslicht – das hat so etwas Trübseliges.« Jetzt trat Molly wieder zu ihm. »Alex ist kein Mörder«, sprach sie, »er ist jähzornig, aber er hat noch nie etwas gegen das Gesetz getan. Er ist ein geachteter Mann.« Orden legte ihr die Hand auf die Schulter und erklärte: »Ich kenne Alex seit er ein kleiner Junge war. Ich kannte seinen Vater und seinen Großvater. Sein Großvater war ein Bärenjäger in den alten Tagen. Wußtest du das?« Sie achtete nicht auf seine Worte. »Sie werden doch Alex nicht verurteilen?« »Nein. Wie kann ich ihn verurteilen?« »Die Leute sagen, Sie werden es tun, um der Ordnung willen.« Bürgermeister Orden stand hinter einem Stuhl und umfaßte dessen Lehne mit den Händen. »Will das Volk Ordnung, Molly?« »Ich weiß nicht. Es will frei sein.« »Nun, und wissen sie, was sie dafür tun können? Wissen sie, welche Methoden man bei einem bewaffneten Feind anwenden muß?« »Nein; ich glaube nicht.« »Du bist ein kluges Mädchen, Molly; weißt du es?« »Nein, Herr Bürgermeister, aber ich glaube, das Volk 275
hat das Gefühl, daß es besiegt ist, sobald es sich fügt. Es will diesen Soldaten zeigen, daß es unbesiegt ist.« »Es hatte keine Möglichkeit, zu kämpfen. Gegen Maschinengewehre anzugehen, das ist kein Kampf«, sagte Winter. »Wenn du weißt, was das Volk will, wirst du mir es dann sagen, Molly?« fragte Orden. Sie sah ihn mißtrauisch an. »Ja –« sagte sie. »Du meinst ›nein‹. Du traust mir nicht.« »Was ist mit Alex?« »Ich werde ihn nicht verurteilen. Er hat kein Verbrechen gegen unser Volk begangen«, sagte der Bürgermeister. Molly zögerte. Sie fragte: »Werden sie – werden sie Alex töten?« Orden sah sie an. Und sagte: »Mein Kind, mein liebes Kind.« Sie hielt sich gewaltsam aufrecht. »Ich danke Ihnen.« Orden ging zu ihr, und sie sagte schwach: »Nicht anrühren. Bitte, nicht anrühren. Bitte nicht anrühren.« Seine Hand sank herab. Einen Augenblick stand sie bewegungslos. Dann drehte sie sich steif um und ging hinaus. Kaum hatte sie die Türe geschlossen, als Joseph eintrat. »Verzeihung, Exzellenz, der Oberst will Sie sprechen. Ich habe gesagt, Sie hätten zu tun. Ich wußte, daß sie da ist. Und Madame will Sie auch sprechen.« Orden bat: »Madame möchte hereinkommen.« Joseph ging, und Madame kam sofort herein. »Ich weiß nicht, wie man so ein Haus führen soll«, fing sie an. »Es sind mehr Leute da, als das Haus faßt. Annie ist die ganze Zeit wütend.« 276
»Still!« sagte Orden. Madame sah ihn verdutzt an. »Ich weiß nicht, was …« »Still!« sagte er. »Sarah, ich möchte, daß du zu Alex Morran gehst. Verstehst du? Ich möchte, daß du bei Molly Morran bleibst, solange sie dich braucht. Sprich nicht, sei nur bei ihr.« Madame sagte: »Ich habe hundert Sachen …« »Sarah, ich möchte, daß du bei Molly Morran bleibst. Laß sie nicht allein. Geh jetzt.« Sie begann langsam zu verstehen. »Ja«, sagte sie, »ja, ich gehe. Wann wird es vorbei sein?« »Ich weiß nicht. Ich werde dir Annie schicken, wenn es soweit ist.« Sie küßte ihn leicht auf die Wange und ging. Orden schritt zur Türe und rief hinaus: »Joseph, jetzt kann der Oberst kommen.« Lanser trat ein. Er trug eine frischgebügelte Uniform und einen kleinen, verzierten Dolch im Gürtel. Er sagte: »Guten Morgen, Euer Exzellenz. Ich möchte Sie außerdienstlich sprechen.« Er warf einen Blick auf Doktor Winter. »Ich würde Sie gerne allein sprechen.« Winter ging langsam zur Türe, und als er sie erreicht hatte, sagte Orden: »Doktor?« Winter drehte sich um: »Ja?« »Kommst du heute abend wieder?« »Hast du Arbeit für mich?« »Nein – nein. Ich will nur nicht allein sein.« »Ich komme«, sagte der Doktor. »Und, Doktor, wie findest du, hat Molly ausgesehen?« »Oh, nicht schlecht. Hart am Zusammenbrechen, aber 277
sie ist aus gutem Stoff. Aus gutem, starkem Stoff. Sie ist eine Kenderley, weißt du.« »Ach, das hatte ich vergessen. Ja, sie ist eine Kenderley, nicht wahr?« Doktor Winter ging hinaus und schloß die Türe leise hinter sich. Lanser hatte höflich gewartet. Jetzt schaute er auf die Türe. Er schaute auf den Tisch und auf die Sessel, die um ihn herum standen. »Ich kann nicht sagen, Euer Exzellenz, wie sehr ich das bedaure. Ich wollte, es wäre nicht geschehen.« Bürgermeister Orden verbeugte sich, und Lanser fuhr fort: »Ich habe Sie gerne, Exzellenz, und ich achte Sie sehr. Aber ich habe eine Pflicht zu erfüllen. Sie werden das sicher verstehen.« Orden antwortete nicht. Er blickte gerade in Lansers Augen. »Wir handeln nicht selbständig oder nach eigenem Ermessen.« Zwischen seinen Sätzen wartete Lanser auf Antwort, aber er bekam keine. »Wir haben unsere Vorschriften. Vorschriften aus der Hauptstadt. Dieser Mann hat einen Offizier getötet.« Endlich antwortete Orden: »Warum haben Sie ihn dann nicht sofort an Ort und Stelle erschossen? Das wäre das Richtige gewesen.« Lanser schüttelte den Kopf. »Wenn ich selbst Ihrer Ansicht wäre, würde das doch nichts ändern. Sie wissen so gut wie ich, daß die Strafe größtenteils den Zweck hat, andere vor der Möglichkeit eines ähnlichen Verbrechens ab278
zuschrecken. Da also die Strafe für andere als den Bestraften da ist, muß sie öffentlich vollzogen werden. Sie muß sogar dramatisch sein.« Er schob einen Finger in seinen Gürtel und wippte mit seinem kleinen Dolch. Orden wandte sich ab und blickte zum Fenster hinaus, in den dunklen Himmel. »Es wird am Abend schneien«, meinte er. »Bürgermeister Orden, Sie wissen, unsere Befehle sind unerbittlich. Wir müssen die Kohle haben. Wenn Ihre Leute nicht Ordnung halten, werden wir die Ordnung mit Gewalt erzwingen müssen.« Seine Stimme wurde streng. »Wir müssen Leute erschießen, wenn es nötig ist. Wenn Sie Ihr Volk vor Leid bewahren wollen, dann müssen Sie uns helfen, Ordnung zu halten. Nun, meine Regierung hält es für weise, daß Strafen von der lokalen Obrigkeit verhängt werden. Das trägt sehr zur Ordnung bei.« Orden sagte leise: »Also das Volk hat es gewußt. Das ist wirklich ein Geheimnis.« Und lauter fügte er hinzu: »Sie wollen, daß ich Alexander Morran das Todesurteil spreche?« »Ja, und Sie werden so manches spätere Blutvergießen verhüten, wenn Sie es tun.« Orden trat zum Tisch. Er rückte den großen Sessel zurück, der am Kopfende stand und setzte sich. Und plötzlich war es, als sei er der Richter und Lanser der Angeklagte. Er trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Er sagte: »Sie und Ihre Regierung, ihr seid verständnislos. In der ganzen Welt seid ihr die einzige Regierung, das einzige Volk, das Niederlage auf Niederlage erleidet, Jahrhunderte hindurch – und immer nur, weil ihr verständnislos seid.« 279
Er machte eine Pause. »Was Sie hier vorhaben, ist undurchführbar. Vor allem: ich bin der Bürgermeister. Ich habe kein Recht dazu, ein Todesurteil auszusprechen. Niemand in unserer Gemeinde hat das Recht. Wenn ich das täte, würde ich das Gesetz ebenso brechen wie Sie.« »Das Gesetz brechen?« »Ihr habt sechs Menschen getötet, als ihr kamt! Nach unserem Gesetz seid ihr des Mordes schuldig – alle! Was wollen Sie mit diesen sinnlosen Reden von Gesetz, Oberst? Es gibt kein Gesetz zwischen euch und uns. Es ist Krieg. Wissen Sie nicht, daß Sie uns alle töten müssen, weil wir sonst nach und nach euch alle töten werden? Ihr habt das Gesetz vernichtet, als ihr ins Land kamt und habt ein neues Gesetz statt dessen aufgestellt. Wissen Sie das nicht?« Lanser fragte: »Darf ich mich setzen?« »Warum fragen Sie? Auch das ist eine Lüge! Sie könnten von mir verlangen, daß ich aufstehe, sobald Sie wollen.« Lanser: »Nein, es ist wahr, ob Sie es glauben oder nicht: Persönlich achte ich Sie und Ihr Amt und –«, er ließ einen Augenblick lang seine Stirne in der Hand ruhen, »sehen Sie, was ich denke, Exzellenz – ich, ein Mann in einem gewissen Alter und mit gewissen Erinnerungen, das ist ganz unwichtig. Ich mag Ihrer Ansicht sein, das ändert nichts. Die militärische, die politische Schablone, nach welcher ich arbeiten muß, verfolgt ihre Zwecke und übt ihre Praktiken, die unabänderlich sind.« »Und all diese Zwecke und Praktiken haben sich seit Entstehung der Welt in jedem einzelnen Fall als falsch erwiesen.« Lanser lachte bitter. »Ich, als Privatmann mit gewissen 280
Erinnerungen, könnte Ihnen recht geben. Ich könnte sogar hinzufügen, daß die Wesensart dieser militärischen Schablone in der Unfähigkeit besteht, zu lernen, in der Unfähigkeit, weiter zu blicken als bis zum Töten, das ihr Beruf ist. Aber ich bin nicht ein Mann, der sich um Erinnerungen kümmern darf. Der Minenarbeiter muß öffentlich hingerichtet werden, denn die Schablone behauptet, daß andere dadurch abgehalten werden, unsere Soldaten zu töten.« Orden sagte: »Dann brauchen wir nicht weiterzusprechen.« »Doch, wir müssen weitersprechen! Wir wollen, daß Sie helfen.« * Orden saß eine Weile still da. Dann erklärte er: »Ich will Ihnen sagen, was ich tue. Wieviel Mann bedienten die Maschinengewehre, die unsere Soldaten getötet haben?« »Oh, nicht mehr als zwanzig, schätze ich.« »Gut. Wenn Sie diese erschießen, dann werde ich Morran verurteilen.« »Sie sprechen nicht im Ernst«, antwortete der Oberst. »Ich spreche im Ernst.« »Das kann nicht sein. Das wissen Sie.« »Das weiß ich«, erwiderte Orden. »Und was Sie von mir verlangen, kann auch nicht sein.« Lanser sagte: »Ich hab’ es ja gewußt. Corell wird schließlich doch noch Bürgermeister werden müssen.« Er blickte schnell auf. 281
»Sie bleiben zum Verhör?« »Ja, ich bleibe. Dann ist Alex nicht so allein.« Lanser sah ihn an und lächelte ein wenig traurig. »Ein nettes Geschäft haben wir uns da ausgesucht, nicht wahr?« »Ja«, sagte der Bürgermeister, »das einzige unmögliche Geschäft in der Welt, das einzige, das nie durchgeführt werden kann.« »Und das ist?« »Den menschlichen Geist dauernd zu knechten.« Ordens Kopf sank gegen den Tisch herab. Er sagte ohne aufzublicken: »Es hat zu schneien angefangen. Es hat nicht bis zum Abend gewartet. Ich liebe den süßen, kühlen Duft des Schnees …«
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4. Kapitel Um elf Uhr fiel schwerer Schnee in großen weichen Flokken, und den Himmel sah man überhaupt nicht mehr. Die Menschen huschten durch den fallenden Schnee. Schnee häufte sich auf den Türschwellen, er häufte sich auf den Denkmälern und auf dem Schienenstrang vom Bergwerk zum Hafen. Schnee häufte sich – und die kleinen Kohlenkarren rüttelten und rutschten, während sie dahingeschoben wurden. Und über der Stadt lag eine Dunkelheit, die tiefer war als die Wolke, und über der Stadt lagen eine Feindseligkeit und ein kalter, schwellender Haß. Die Leute blieben nicht lange auf der Straße stehen, sie traten in die Häuser, und die Türen schlossen sich und Augen schienen hinter den Vorhängen zu lauern und wenn das Militär durch die Straßen zog oder wenn die Patrouille die Hauptstraße entlangging, dann waren diese Augen auf die Soldaten geheftet, kalt und feindselig. Und die Leute traten in die Läden, um Kleinigkeiten für das Mittagessen einzukaufen, sie verlangten die Ware und bekamen sie und bezahlten und tauschten keinen Gruß mit dem Verkäufer. In dem kleinen Wohnzimmer des Bürgermeisters brannten die Lichter, ihr Schein fiel auf die Schneeflocken 283
vor dem Fenster. Das Gericht tagte. Lanser saß am Kopfende des Tisches, Hunter zu seiner Rechten, dann Tonder und an der Schmalseite Hauptmann Loft mit einem kleinen Stoß von Akten vor sich. Links vom Oberst saß Bürgermeister Orden und neben ihm Prackel, der sein Papier bekritzelte. Neben dem Tisch standen zwei Wachen mit aufgepflanzten Bajonetten und mit Helmen und sahen aus wie kleine Holzfiguren. Zwischen ihnen stand Alex Morran, ein großer junger Mann mit einer breiten, niederen Stirne, mit tiefliegenden Augen und einer langen, schmalen Nase. Sein Kinn war fest, seine Lippen waren voll und sinnlich. Er hatte breite Schultern und schmale Hüften. Die Finger seiner gefesselten Hände verschränkten und lösten sich unruhig. Er trug eine schwarze Hose, ein blaues Hemd, das am Hals offen war, und eine schwarze Jacke, die vom langen Tragen glänzte. Hauptmann Loft las aus den Papieren, die vor ihm lagen, vor: »›An die Arbeit zurückgeschickt, weigerte er sich zu gehen und als der Befehl wiederholt wurde, griff der Gefangene Hauptmann Loft mit der Spitzhacke an, die er trug. Hauptmann Bentick warf sich dazwischen –‹« Bürgermeister Orden hüstelte, und als Loft innehielt, sagte er: »Setz dich, Alex. Eine von den Wachen soll ihm einen Stuhl geben.« Eine Wache schob ihm ohne zu fragen einen Stuhl hin. Loft sagte: »Es ist Brauch, daß der Gefangene steht.« »Laßt ihn sitzen«, gebot Orden, »niemand erfährt es, außer uns. Ihr könnt ins Protokoll schreiben, daß er gestanden ist.« 284
»Es ist nicht Brauch, das Protokoll zu fälschen«, sagte Loft. »Setz dich, Alex«, wiederholte Orden. Und der große junge Mensch setzte sich hin und seine gefesselten Hände lagen ruhelos in seinem Schoß. Loft legte los: »Dies steht in schroffem Gegensatz zu allen …« Der Oberst unterbrach: »Lassen Sie ihn sitzen.« Hauptmann Loft räusperte sich. »›Hauptmann Bentick warf sich dazwischen und erhielt einen Schlag auf den Kopf, der seine Schädeldecke zerschmetterte.‹ Ein ärztlicher Befund liegt vor. Soll ich ihn verlesen?« »Nicht nötig«, antwortete Lanser. »Machen Sie es so kurz wie möglich.« »›Diese Tatsachen werden von mehreren unserer Soldaten bezeugt, deren Aussagen vorliegen. Das Militärgericht erklärt den Gefangenen des Mordes schuldig und beantragt die Todesstrafe.‹ Wünschen Sie, daß ich die Aussagen der Soldaten verlese?« Lanser seufzte. »Nein.« Er wandte sich an Alex. »Sie leugnen doch nicht, daß Sie den Hauptmann getötet haben, nicht wahr?« Alex lächelte traurig. »Ich habe ihn geschlagen«, entgegnete er, »ich weiß nicht, daß ich ihn getötet habe.« Orden brummte: »Ganze Arbeit, Alex.« Und die beiden sahen sich in die Augen wie zwei Freunde. Loft rief: »Wollen Sie vielleicht behaupten, daß er von jemand anderem getötet wurde?« »Ich weiß nicht«, antwortete Alex, »ich habe ihn nur geschlagen und dann hat mich jemand geschlagen.« 285
Lanser: »Haben Sie eine Erklärung vorzubringen? Ich glaube nicht, daß irgend etwas das Urteil ändern kann, aber wir wollen Sie anhören.« Hauptmann Loft: »Ich erlaube mir ergebenst zu bemerken, daß Herr Oberst das nicht hätte sagen sollen. Es deutet an, daß das Gericht nicht unparteiisch sei.« Orden lachte trocken. Der Oberst sah ihn an und lächelte leise. »Haben Sie eine Erklärung?« wiederholte er. Alex wollte eine Hand lieben, um eine Geste zu machen, aber die gefesselten Hände hoben sich beide. Verlegen ließ er sie in den Schoß zurücksinken. »Ich war außer mir«, sagte er, »ich bin sehr jähzornig. Er sagte, ich müsse arbeiten. Ich bin ein freier Mann. Ich wurde wütend und schlug ihn. Ich schlug ihn hart, glaube ich. Es war der falsche.« Er zeigte auf Loft. »Das ist der, den ich schlagen wollte – den da.« Lanser sagte: »Es ist egal, wen Sie schlagen wollten. Es wäre bei jedem dasselbe gewesen. Bereuen Sie, daß Sie es gemacht haben?« Er sagte leise zu den Männern am Tisch: »Es würde sich im Protokoll gut machen, wenn er bereuen würde.« »Bereuen?« fragte Alex, »ich bereue nicht. Er hat mir befohlen, zur Arbeit zu gehen – mir, einem freien Mann. Ich war im Gemeinderat. Er sagte mir, ich müsse arbeiten.« »Aber wenn das Todesurteil ausgesprochen wird, werden Sie dann nicht bereuen?« Alex senkte den Kopf und gab sich wirklich Mühe, ernsthaft nachzudenken. 286
»Nein«, sprach er. »Sie meinen, ob ich es nochmals täte?« »Ja, das meine ich.« »Nein«, sagte Alex nachdenklich, »nein, ich bereue nicht.« »Schreiben Sie in das Protokoll«, sagte Lanser, »daß der Gefangene von Gewissensbissen erfaßt war. Das Urteil erfolgt automatisch. Verstehen Sie?« fragte er Alex, »bei diesem Gericht gibt es keinen Rekurs. Das Gericht erklärt Sie für schuldig und verurteilt Sie zum Tod durch Erschießen. Das Urteil wird sofort vollzogen. – Ich sehe keinen Grund, Sie noch länger zu quälen. Hauptmann Loft, habe ich noch etwas vergessen?« »Sie haben mich vergessen«, sagte Orden. Er stand auf und stieß seinen Stuhl zurück und trat vor Alex hin. Und nach alter Gewohnheit stand Alex respektvoll auf. »Alexander, ich bin dein gewählter Bürgermeister.« »Ich weiß, Herr Bürgermeister.« »Alex, diese Männer sind Eindringlinge. Sie haben unser Land genommen durch Überrumpelung, durch Verrat, durch Gewalt.« Hauptmann Loft rief: »Herr Oberst, das sollte man nicht zulassen!« »Still!« entgegnete Lanser. »Besser, es wird laut ausgesprochen als geflüstert.« Orden fuhr fort, als hätte ihn niemand unterbrochen: »Als sie kamen, war das Volk verwirrt und auch ich war verwirrt. Dein war die erste klare Tat. Dein persönlicher Zorn war der Anfang des allgemeinen Zorns. Ich weiß, man sagt in der Stadt, daß ich mit diesen Männern Gemeinschaft habe. Der Stadt kann ich die Wahrheit noch 287
beweisen. Aber du – du wirst sterben. Und ich will, daß du weißt, wo ich stehe.« * Alex senkte den Kopf. Dann hob er ihn wieder. »Ich weiß es, Herr Bürgermeister.« Lanser fragte: »Steht der Zug bereit?« »Jawohl, Herr Oberst.« »Wer kommandiert?« »Leutnant Tonder, Herr Oberst.« Tonder reckte den Kopf, sein Kinn wurde hart und er zog den Atem ein. Orden fragte leise: »Fürchtest du dich, Alex?« Und Alex sagte: »Ja, Herr Bürgermeister.« »Ich kann dir nicht sagen: Fürchte dich nicht. Ich würde mich auch fürchten. Ebenso wie diese jungen – Kriegsgötter da.« Lanser sagte: »Rufen Sie Ihren Zug!« Tonder stand rasch auf und ging zur Türe. »Der Zug ist zur Stelle, Herr Oberst.« Er öffnete die Türe weit, man sah die behelmten Männer draußen stehen. Orden sagte: »Alex, geh – – und wisse, daß diese Männer weder Ruhe noch Rast haben werden, bis sie fort sind, oder tot. Du wirst das Volk vereinen. Es ist ein trauriges Wissen und ein armseliges Geschenk für dich – aber so wird es sein: weder Ruh noch Rast.« Alex machte seine Augen fest zu. Bürgermeister Orden nahm ihn in die Arme und küßte ihn. »Leb wohl, Alex«, sagte er. Die Wache nahm Alex an der Schulter und der junge 288
Mann hielt seine Augen fest geschlossen. Sie geleitete ihn aus der Türe. Der Zug machte kehrt. Man hörte die Schritte durch den Hausflur marschieren, hinaus in den Schnee und der Schnee erstickte das Geräusch. Die Männer am Tisch schwiegen. Orden schaute zum Fenster und sah einen kleinen, runden Fleck an der Scheibe, von dem flinke Finger den Schnee rieben. Er starrte gebannt darauf hin, dann blickte er rasch fort. Er sprach zum Oberst: »Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun.« Hauptmann Loft nahm seine Akten und Lanser fragte: »Auf dem Platz, Hauptmann?« »Ja, auf dem Platz, Herr Oberst. Es muß öffentlich vor sich gehen.« Orden sagte: »Ich hoffe, Sie wissen es.« »Mann«, sagte der Oberst, »ob wir es wissen, oder nicht – dies mußte geschehen!« Schweigen erfüllte das Zimmer und jeder lauschte. Es dauerte nicht lang. Aus der Ferne drang das Krachen der Schüsse. Lanser seufzte schwer. Orden legte die Hand über die Stirne und holte tief Atem. Dann kam von draußen ein Schrei. Das Fensterglas splitterte, und Leutnant Prackel wälzte sich am Boden. Er hielt seine Schulter mit der Hand. Lanser sprang auf und schrie: »So – jetzt fängt es an! Sind Sie schwer verletzt, Leutnant?« »Meine Schulter …«, sagte Prackel. Lanser kommandierte: »Hauptmann Loft! Es werden Spuren im Schnee sein! Jedes Haus wird nach Schußwaffen durchsucht! Jeder, bei dem man eine findet, wird verhaftet! Sie, Exzellenz, werden in Schutzhaft genommen. 289
Und merken Sie sich, bitte: Wir werden fünf und zehn und hundert erschießen für einen von uns!« Orden sagte ruhig: »Ein Mann mit gewissen Erinnerungen.« Lanser hielt mitten im Befehl inne. Er sah mit schwerem Blick zum Bürgermeister hinüber und einen Moment lang verstanden sie einander. Dann straffte Lanser die Schultern. »Ein Mann ohne Erinnerungen«, sagte er scharf. Und dann: »Jede Waffe in der Stadt wird beschlagnahmt! Jeder, der Widerstand leistet, wird verhaftet. Schnell, bevor die Spuren verschneit sind!« Die Männer stülpten ihre Helme auf, lockerten ihre Pistolen und stoben davon. Orden ging an das zerbrochene Fenster. Traurig sagte er: »Der Duft des Schnees …«
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5. Kapitel Die Tage und Wochen zogen vorüber, die Monate zogen vorüber. Der Schnee fiel und schmolz und fiel und schmolz und fiel und blieb schließlich liegen. Die Häuser der kleinen Stadt hatten weiße Hauben und Mützen auf, und zu den Haustüren schaufelte man Wege durch den Schnee. Im Hafen landeten die leeren Kohlentrimmer und fuhren beladen wieder aus; aber die Kohle kam nur langsam und mit Mühe aus dem Bergwerk hervor. Die geübtesten Minenarbeiter begingen Fehler. Sie waren ungeschickt und schwerfällig. Maschinen wurden defekt und brauchten lange Zeit, bis sie repariert waren. Die Bevölkerung des eroberten Landes begann ihre langsame, stumme, lauernde Rache zu nehmen. Diejenigen, welche ehedem Verräter gewesen waren, welche den Eroberern geholfen hatten – und viele unter ihnen hatten es nur getan, weil sie ehrlich glaubten, es würden dadurch bessere Lebensbedingungen, idealere Zustände geschaffen –, die merkten bald, daß sie Einfluß und Einblick in das Leben der anderen völlig verloren hatten, daß ihre Bekannten sie kalt anblickten und nicht mehr mit ihnen sprachen. Und in der Luft lag der Tod, lauernd, wartend. Es gab Unfälle auf der Eisenbahnlinie, die in die Berge hinaufführte und die kleine Stadt mit dem Hinterland verband. 291
Lawinen stürzten auf die Strecke und die Schienen wurden zerstört. Kein Zug konnte fahren, ohne daß die Geleise vorher genau untersucht worden wären. Mehrere Male wurden Leute hingerichtet, aber das nützte nichts. Ab und zu gelang es einer Gruppe junger Männer, auf einem Boot zu entfliehen. Die Länder, welche mit den Eroberern im Krieg standen, schickten ihre Flugzeuge, die das Kohlenbergwerk bombardierten, einige Einheimische töteten und einige Feinde. Auch das änderte nichts. Der kalte Haß wuchs mit dem Winter, der stumme, düstere Haß, der lauernde Haß. Die Lebensmittel waren rationiert, wurden dem Gehorsamen zugeteilt und dem Ungehorsamen vorenthalten, so daß die ganze Bevölkerung in eisigem Gehorsam erstarrte. Aber es gab gewisse Fälle, in denen Nahrungsentzug unmöglich war; denn ein hungernder Mann kann nicht Kohle schürfen, kann nichts lieben und nichts tragen. Und tief sank der Haß in die Augen der Menschen und schwelte unter der Oberfläche. * Es stand nun so, daß die Eroberer sich eingekreist fühlten, die Männer der Besatzung allein waren unter stummen Feinden, kein Soldat durfte auch nur einen Augenblick in seiner Wachsamkeit nachlassen. Tat er es, so verschwand er, und der Schnee deckte seinen Leichnam. Wenn er allein zu einer Frau ging, so verschwand er, und der Schnee deckte seinen Leichnam. Wenn er trank, so verschwand er. Die Männer der Besatzung konnten nur miteinander singen, konnten nur miteinander tanzen – und das Tanzen hörte 292
nach und nach auf, und in ihren Liedern sang das Heimweh. Ihre Gespräche kreisten um die Freunde und Verwandten, von denen sie sich geliebt wußten, und sie sehnten sich verzweifelt nach Wärme und Liebe; denn ein Mann kann nur soundsoviel Stunden am Tag Soldat sein und nur soundsoviel Monate im Jahr – aber dann will er wieder ein Mann sein, will Mädchen und Wein, Musik und Lachen und Frohsinn, und wenn er von alledem abgeschnitten ist, dann begehrt er es mit unwiderstehlicher Gier. Und immer und immer dachten diese Männer der Besatzung an daheim. Sie begannen diesen Ort zu hassen, den sie erobert hatten, und sie waren barsch zu den Einwohnern, und die Einwohner waren barsch zu ihnen, und nach und nach wuchs eine Angst in den Soldaten auf, eine Angst, daß es nie vorbei sein würde, daß sie sich nie mehr entspannen dürften, daß sie nie mehr heim könnten – daß es eines Tages aus sein würde mit ihnen und sie durch die Berge gehetzt würden wie Hasen. Denn das eroberte Volk ließ nie nach in seinem Haß. Patrouillierende Soldaten sahen Licht und hörten Lachen, wurden davon angezogen wie die Motten von der Flamme, und wenn sie herankamen, schwieg das Lachen, Licht und Wärme erloschen, die Leute waren kalt und gehorsam. Die Soldaten rochen warmes, gutes Essen, traten in die kleine Wirtschaft und bestellten die warmen Speisen, und was sie erhielten, das war versalzen oder voll Pfeffer. Dann lasen die Soldaten die Berichte von daheim und von den andern eroberten Ländern, und die Berichte waren immer gut, und eine kleine Weile glaubten sie daran; aber nach einer Weile glaubten sie nicht mehr daran, und 293
im Herzen jedes Mannes war das Grauen: »Wenn daheim alles kaputt ginge, würde man es uns nicht sagen, und dann wäre es zu spät. Diese Leute hier werden uns nicht schonen, sie werden uns alle töten.« Die Soldaten erinnerten sich an Erzählungen über den Rückzug aus Belgien und aus Rußland. Und die Gebildeteren dachten an den verzweifelten, tragischen Rückzug aus Moskau, als von jedes Bauern Heugabel Blut rann und der Schnee bedeckt war mit Leichen. Und sie wußten: Wenn sie nachließen, oder sich entspannten, oder zu lange schliefen, dann würde es hier genauso sein, und ihr Schlaf war unruhig und ihr Tag rastlos. Sie stellten Fragen, auf die ihre Offiziere keine Antwort wußten. Auch sie erfuhren nichts, auch sie glaubten den Nachrichten von daheim nicht mehr. Es kam so weit, daß die Eroberer anfingen, sich vor den Eroberten zu fürchten; ihre Nerven wurden dünn und nachts schossen sie auf Schatten. Das kalte, feindselige Schweigen umgab sie, wo immer sie waren. In einer Woche verloren drei Soldaten den Verstand und weinten und schrien Tag und Nacht, bis man sie heimschickte. Angst kroch in die Herzen der Männer und machte sie traurig; Angst kroch in ihre Herzen, wenn sie Dienst taten und machte sie grausam. Das Jahr schritt vor und die Nächte wurden lang. Um drei Uhr nachmittags wurde es dunkel, und vor neun Uhr morgens wurde es nicht hell. Kein traulicher Lichtschein fiel aus den Häusern auf den Schnee; denn nach dem Gesetz mußte jedes Fenster wegen der feindlichen Bomber verdunkelt sein. Und doch, wenn die Bomber kamen, er294
schien immer irgendein Licht in der Nähe der Kohlengruben. Manchmal erschoß die Wache einen Mann mit einer Laterne und einmal ein Mädchen mit einem Windlicht. Aber es nützte nichts. Nichts wurde durch das Schießen besser. Die Offiziere waren das Spiegelbild ihrer Mannschaft. Sie waren beherrschter, weil ihre militärische Erziehung gründlicher war; sie hatten mehr Ablenkung, weil sie die größere Verantwortung trugen; aber dieselbe Angst saß bei ihnen etwas tiefer unter der Oberfläche; die gleichen Sehnsüchte lebten, etwas gebändigter, in ihren Herzen. Sie standen unter doppeltem Druck; denn die Bevölkerung lauerte auf ihre Fehler und ihre eigenen Leute lauerten auf ihre Schwächen, so daß die geistige Spannung sie fast bis zum Zusammenbrechen erschöpfte. Die Eroberer litten unter dieser furchtbaren geistigen Belagerung, und jeder wußte, was geschehen würde, sobald sich die erste Lücke in der Verteidigung auftat. Aus dem Zimmer im ersten Stock des Bürgermeisterhauses schien jede Gemütlichkeit verschwunden zu sein. Die Fenster waren dicht mit schwarzem Papier verklebt, die kostbaren Ausrüstungsgegenstände lagen verstreut umher, Instrumente, Feldgläser, Gasmasken, Helme. Hier war die Disziplin etwas lockerer geworden, als wüßten die Offiziere, daß irgendwo etwas Lockerung sein müsse, damit nicht die ganze Maschinerie zerbräche. Auf dem Tisch standen zwei Benzinbrennerlampen, ihr hartes, starkes Licht warf große Schatten an die Wände, und ihr Summen erfüllte das Zimmer. Major Hunter arbeitete noch immer. Sein Zeichenbrett 295
stand jetzt dauernd bereit, denn die Bomben vernichteten seine Arbeit fast so schnell, wie er sie aufbaute. Ihm war wohl dabei; denn das Bauen war Major Hunters Leben, und hier hatte er mehr zu bauen, als er entwerfen oder ausführen konnte. Er saß an seinem Zeichenbrett, ein Licht hinter sich, sein T-Lineal wanderte auf und ab, sein Bleistift war in emsiger Bewegung. * Leutnant Prackel, seinen Arm noch immer in der Schlinge, lehnte in einem Liegestuhl hinter dem Mitteltisch und las in einer illustrierten Zeitung. Am Ende des Tisches schrieb Leutnant Tonder einen Brief. Ab und zu hielt er inne und blickte zur Zimmerdecke empor, um nach Worten für seinen Brief zu suchen. Prackel wandte eine Seite seiner Zeitschrift um und sagte: »Ich kann mit geschlossenen Augen jedes Geschäft in dieser Straße vor mir sehen.« Hunter fuhr mit seiner Arbeit fort. Tonder schrieb ein paar Worte mehr. Prackel sprach weiter: »Gleich nebenan ist ein Restaurant. Es heißt Burder.« Hunter sah nicht auf. Er antwortete: »Ich kenne es. Sie hatten dort gute Muscheln.« »Und wie gute!« erwiderte Prackel. »Dort war überhaupt alles gut. Nichts War schlecht, was sie servierten. Und ihr Kaffee …« Tonder schaute von seinem Brief auf. »Jetzt werden sie keinen Kaffee mehr servieren. Und keine Muscheln.« »Ach, ich weiß nicht«, sagte Prackel. »Sie hatten es, und sie werden es wieder haben. Und eine Kellnerin war da –«, 296
er beschrieb ihre Gestalt mit der Hand, mit der gesunden Hand, »blond – so – und so.« Er blickte auf seine Zeitschrift nieder. »Sie hatte die seltsamsten Augen – hat, meine ich. Immer ein bißchen feucht, so als hätte sie gerade gelacht oder geweint.« Er blickte zur Decke, dann sprach er leise: »Ich war mit ihr aus. Sie war wundervoll. Ich möchte wissen, warum ich nicht öfter hingegangen bin. Ich möchte wissen, ob sie noch da ist.« Tonder meinte mürrisch: »Wahrscheinlich nicht. Arbeitet wahrscheinlich in einer Fabrik.« Prackel lachte: »Ich hoffe, sie rationieren zu Hause nicht auch die Mädel.« »Warum nicht?« fragte Tonder. Prackel sagte neckend: »Dir liegt nicht viel an Mädchen, nicht wahr? Nicht viel, o nein …« Tonder erwiderte: »Ich mag Mädchen für das, wofür sie da sind. Ich lasse sie nicht in mein übriges Leben eindringen.« Prackel spottete: »Mir scheint, als ob sie bei dir immerfort überall eindringen würden.« Tonder versuchte das Thema zu wechseln. »Ich hasse diese verdammten Lampen, Major. Wann werden Sie die Dynamomaschine repariert haben?« Hunter blickte langsam von seiner Arbeit auf. »Sie sollte jetzt eigentlich schon fertig sein. Ich habe gute Leute an der Arbeit. Ich glaube, ich werde von jetzt ab die Wache verdoppeln.« »Haben Sie den Burschen erwischt, der es kaputt gemacht hat?« fragte Prackel. Hunter sagte grimmig: »Jeder von den fünf Männern 297
könnte es getan haben. Ich habe alle fünf.« Dann fuhr er plaudernd fort: »Es ist so leicht, einen Dynamo kaputtzumachen, wenn man weiß, wie. Man drosselt es nur, dann geht es von selbst kaputt. Jeden Augenblick sollte jetzt das Licht wieder angehen.« Prackel schaute noch immer seine Illustrierte an. »Wann werden wir wohl abgelöst werden? Wann werden wir für eine Weile heimgehen können? Herr Major, würden Sie nicht gerne auf Urlaub nach Hause gehen?« Hunter schaute von seiner Arbeit auf und einen Augenblick war sein Gesicht hoffnungslos. »Ja, natürlich.« Er nahm sich zusammen. »Diese Weiche habe ich jetzt schon viermal gebaut. Ich weiß nicht, warum ausgerechnet auf diese Weiche immer eine Bombe fallen muß. Dieses Stück Geleise wird mir schon langweilig. Ich muß es immer wieder verlegen, wegen der Krater. Es ist keine Zeit, sie aufzufüllen. Der Boden ist auch zu hart gefroren, es wäre zuviel Arbeit.« Plötzlich ging das elektrische Licht an, und Tonder streckte automatisch die Hand aus und löschte die beiden Benzinbrenner aus. Das Summen schwieg. Tonder atmete auf: »Gott sei Dank! Dieses Summen geht mir auf die Nerven.« Er faltete seinen Brief zusammen. »Merkwürdig, daß nicht mehr Briefe hereinkommen. Ich habe in zwei Wochen nur einen erhalten.« Prackel sagte: »Vielleicht schreibt dir niemand.« »Vielleicht«, sagte Tonder. Er wandte sich zum Major. »Wenn etwas geschehen würde – zu Hause, meine ich – glauben Sie, würde man es uns mitteilen? Etwas Schlimmes, meine ich – Todesfälle, oder so etwas Ähnliches?« 298
Hunter sagte: »Ich weiß nicht.« »Nun also«, fuhr Tonder fort, »ich möchte raus aus diesem gottverlassenen Loch!« Prackel mischte sich ein: »Ich dachte, du wolltest dich nach dem Krieg hier niederlassen?« Er ahmte Tonders Redeweise nach. »›Wenn man vier oder fünf Höfe zusammenziehen würde, das gäbe eine schöne Besitzung, eine Art Erbgut‹ – war es nicht so? Wolltest du nicht ein kleiner Landedelmann hier werden? ›Ein nettes, herzliches Volk! Prächtige Wiesen, Herden und kleine Kinder!‹ War es nicht so, Tonder?« Während Prackel sprach, sank Tonders Hand herab. Dann packte er mit beiden Händen seine Schläfen und rief leidenschaftlich: »Sei still! Sprich nicht so! Dieses Volk! Dieses schreckliche Volk! Diese kalten Menschen! Nie schauen sie einen an –«, ihn schauerte, »nie sprechen sie. Sie antworten einem wie Tote. Sie gehorchen, diese furchtbaren Menschen! Und ihre Mädchen, die sind wie Eis!« Es klopfte leise an die Türe. Joseph trat ein mit einem Eimer voll Kohle. Er ging geräuschlos durch das Zimmer und stellte seinen Eimer so sachte hin, daß kein Ton zu hören war. Dann drehte er sich um, ohne aufzublicken oder jemanden anzusehen, und ging wieder zur Türe. Prackel sagte laut: »Joseph!« Und Joseph wandte sich um, ohne eine Antwort und ohne aufzuschauen und verbeugte sich ganz leicht. Prackel sprach immer noch laut: »Joseph, ist etwas Wein oder Schnaps da?« Joseph schüttelte den Kopf. Tonder sprang vom Tisch auf, sein Gesicht war von 299
Wut verzerrt, er schrie: »Gib Antwort, du Schwein! Gib Antwort mit Worten!« Joseph blickte nicht auf. Er sagte tonlos: »Nein, Herr Leutnant; nein, es ist kein Wein da.« Tonder sagte zornig: »Und kein Schnaps?« Joseph sah zu Boden und sagte immer gleich stimmlos: »Es ist kein Schnaps da, Herr Leutnant.« Er stand unbeweglich. »Was willst du?« fragte Tonder. »Ich will gehen, Herr Leutnant.« »Dann geh, gottverdammt noch mal!« Joseph drehte sich um und ging leise hinaus, und Tonder zog ein Taschentuch hervor und wischte sich das Gesicht ab. Hunter beobachtete ihn und sagte: »Sie sollten sich nicht so leicht von ihm schlagen lassen.« Tonder sank auf seinen Stuhl zurück, preßte die Hände gegen die Schläfen und sagte mit brechender Stimme: »Ich will ein Mädchen. Ich will heim. Ich will ein Mädchen. Ich weiß ein Mädchen hier in der Stadt, ein schönes Mädchen. Ich sehe es immer vor mir. Es hat blonde Haare. Es wohnt neben dem Alteisenladen. Ich will dieses Mädchen …« Prackel sagte: »Nimm dich in acht. Nimm deine Nerven in acht.« In diesem Moment ging das Licht wieder aus, und das Zimmer lag im Dunkel. Hunter sprach, während Streichhölzer angestrichen wurden und man versuchte, die Lampen wieder anzuzünden: »Ich glaubte, ich hätte sie alle. Einer muß mir entwischt sein. Ich kann nicht immer hinunterlaufen. Ich habe gute Leute dort.« Tonder zündete zuerst die eine und dann die andere 300
Lampe an, und Hunter sagte streng zu Tonder: »Leutnant, sprechen Sie zu uns, wenn Sie unbedingt sprechen müssen. Lassen Sie solche Reden den Feind nicht hören. Nichts würde diese Leute mehr freuen, als zu sehen, daß Ihre Nerven nachgeben. Lassen Sie sich nicht vom Feind so hören.« Tonder setzte sich wieder. Das Licht lag grell auf seinem Gesicht, das Summen erfüllte das Zimmer. Er sagte: »Das ist es! Der Feind ist überall! Jeder Mann, jede Frau, jedes Kind! Der Feind ist überall! Ihre Gesichter lauern an den Türen. Ihre weißen Gesichter hinter den Vorhängen, die lauschen. Wir haben sie geschlagen, wir haben überall gesiegt – und sie warten und gehorchen und warten. Die halbe Welt gehört uns. Ist es anderswo ebenso, Major?« Und Hunter antwortete: »Ich weiß nicht.« »Das ist es«, sagte Tonder, »wir wissen nicht. Die Nachrichten – alles in unserer Hand. Eroberte Länder jubeln unseren Soldaten zu, jubeln unserer Verfassung zu.« Seine Stimme wechselte, wurde leiser und immer leiser. »Was sagen die Nachrichten über uns? Sagen sie, daß wir bejubelt werden, geliebt, daß man uns Blumen streut? Oh, dieses furchtbare Volk, es lauert, es lauert im Schnee!« Hunter sagte: »Jetzt haben Sie sich’s von der Seele geredet – ist Ihnen jetzt wohler?« Prackel hatte mit seiner gesunden Faust auf den Tisch geklopft und meinte: »Er sollte nicht so sprechen. Er sollte das bei sich behalten. Er ist Soldat, oder nicht? Dann soll er sich benehmen wie ein Soldat.« Die Türe ging leise auf, und Hauptmann Loft trat ein, Schnee auf dem Helm, Schnee auf den Schultern. Seine Nase war rot gefroren, den Kragen hatte er über die Ohren 301
hochgeschlagen. Er nahm den Helm herunter, der Schnee fiel zu Boden, und er klopfte seine Schultern ab. »Nettes Geschäft, das«, sagte er. »Wieder Schwierigkeiten?« fragte Hunter. »Nichts als Schwierigkeiten. Wie ich sehe, haben sie Ihre Dynamomaschine auch wieder erwischt. Nun, die meine habe ich jetzt, glaube ich, für eine Weile in Ordnung gebracht.« »Woran fehlt’s also bei Ihnen?« »Ach, das Übliche – die langsame Arbeit – und ein ruinierter Förderwagen. Aber den Mann, der ihn ruiniert hat, den habe ich gesehen. Ich habe ihn erschossen. Ich glaube, ich weiß jetzt ein Mittel, Major. Ich werde von jedem Mann verlangen, daß er eine bestimmte Menge Kohle fördert. Ich kann die Männer nicht aushungern, sonst können sie nicht arbeiten, aber ich weiß jetzt einen Weg. Wenn sie die Kohle nicht rausschaffen, gibt’s kein Essen für die Familien. Die Männer lassen wir in der Bergwerkskantine essen, so daß sie daheim nichts abgeben können. Das sollte wirken. Entweder sie arbeiten, oder ihre Kleinen hungern. Ich habe es eben bekanntgemacht.« »Und was haben sie gesagt?« Loft kniff böse die Augen zusammen. »Gesagt? Sagen sie jemals ein Wort? Nichts. Absolut nichts. Aber wir wollen doch sehen, ob wir jetzt nicht die Kohle bekommen.« Er zog seinen Mantel aus und schüttelte ihn; dabei fiel sein Blick auf die Türe und er sah, daß sie einen Spalt offen stand. Er schlich leise zur Türe hin und riß sie auf – dann schloß er sie wieder. »Mir kommt es vor, ich hätte die Türe fest zugemacht«, sagte er. 302
»Sie haben die Türe fest zugemacht«, erwiderte Hunter. Prackel blätterte noch immer in seiner illustrierten Zeitung. Seine Stimme war wieder normal. »Das sind riesenhafte Geschütze, die wir da im Osten verwenden. Ich habe noch nie so eines gesehen. Sie, Herr Hauptmann?« »O ja«, sagte Hauptmann Loft, »ich habe sie feuern gesehen. Sie sind herrlich. Nichts kann ihnen widerstehen.« * Tonder fragte: »Herr Hauptmann, bekommen Sie viel Nachrichten von zu Hause?« »Einige.« »Steht dort alles gut?« »Wundervoll!« antwortete Loft. »Unsere Armee geht überall vorwärts.« »Der Feind ist noch nicht besiegt?« »Er wird an jedem Frontabschnitt besiegt.« »Aber er kämpft weiter?« »Ein paar Luftangriffe, nicht mehr.« »Und im Osten?« »Ist alles erledigt.« Tonder sagte beharrlich: »Aber sie kämpfen weiter?« »Nur noch Geplänkel, nicht mehr.« »Dann haben wir eigentlich schon gewonnen, nicht wahr, Herr Hauptmann?« »Jawohl.« Tonder sah ihn forschend an. »Sie glauben das, nicht wahr, Herr Hauptmann?« Prackel unterbrach: »Er soll nicht wieder anfangen!« 303
Loft sah Tonder mit gerunzelter Stirn an. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.« »Ich meine das: Wir werden also bald heimgehen, wie?« »Nun, die Reorganisation wird eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen«, sagte Hunter, »die Friedensordnung kann doch nicht in einem Tag aufgerichtet werden, nicht wahr?« * Tonder sagte: »Unser ganzes Leben lang, vielleicht?« Und Prackel rief: »Er darf nicht wieder anfangen!« Loft trat ganz dicht vor Tonder hin. »Leutnant, mir gefällt der Ton Ihrer Fragen nicht. Mir gefällt dieser Ton des Zweifels nicht.« Hunter blickte auf. »Seien Sie nicht hart mit ihm, Loft. Er ist müde, wir sind alle müde.« »Nun, ich bin auch müde«, sagte Loft, »aber ich gestatte keinen verräterischen Zweifel.« »Quälen Sie ihn nicht, sage ich Ihnen. Wissen Sie, wo der Oberst ist?« »Er arbeitet seinen Rapport aus. Er verlangt Verstärkung. Es ist eine größere Sache, als man zuerst glaubte.« Prackel fragte aufgeregt: »Wird er sie bekommen – die Verstärkung?« »Wie soll ich das wissen?« Tonder lächelte. »Verstärkung«, sprach er leise, »oder vielleicht Ablösung. Vielleicht dürfen wir auf eine Zeit heim.« Und er lächelte: »Vielleicht könnte ich durch die Straßen gehen und die Leute würden sagen: ›Grüß Gott!‹ 304
und sie würden sagen: ›Da geht ein Soldat‹ und sie würden sich mit mir freuen – und sie würden sich über mich freuen. Und Freunde wären da – und ich könnte einem Menschen den Rücken zuwenden, ohne Angst zu haben …« Prackel sagte: »Fang nicht wieder davon an! Er soll sich nicht wieder so gehen lassen!« Loft rief unwillig: »Wir haben schon genug Sorgen, ohne daß unser Stab verrückt wird!« Aber Tonder fuhr fort: »Glauben Sie wirklich, daß Ablösung kommen wird, Herr Hauptmann?« »Das habe ich nicht gesagt.« »Aber Sie haben gesagt, es könnte sein.« »Ich habe gesagt, ich weiß es nicht. Sehen Sie, Leutnant, wir haben die halbe Welt erobert. Wir müssen sie eine Weile bewachen. Das wissen Sie doch.« »Aber die andere Hälfte?« »Die wird noch eine kurze Zeit hoffnungslos weiterkämpfen.« »Dann müssen wir also über die halbe Welt verstreut bleiben?« »Noch eine Weile«, meinte Loft. Prackel sagte nervös: »Machen Sie, daß er den Mund hält. Sperren Sie ihn ein. Sagen Sie ihm, er soll aufhören!« Tonder holte sein Taschentuch heraus und schnaubte seine Nase. Er sprach, als sei er nicht mehr ganz bei Verstand. »Ich hatte einen komischen Traum. Ich glaube, es war ein Traum. Vielleicht war es ein Gedanke. Ich hab’s gedacht oder geträumt.« Prackel rief: »Er soll aufhören, Herr Hauptmann!« 305
Tonder fragte: »Herr Hauptmann, ist diese Stadt erobert?« »Natürlich«, sagte Loft. Eine Spur von Hysterie klang aus Tonders Lachen. »Erobert, und wir haben Angst. Erobert, und wir sind umzingelt.« Sein Lachen wurde schrill. »Ich hab’s geträumt – oder gedacht – draußen, im Schnee, bei den schwarzen Schatten und den Gesichtern, hinter den Türen – den eiskalten Gesichtern hinter den Vorhängen. Ich hab’s gedacht oder geträumt …« »Er soll aufhören!« rief Prackel. Tonder sagte: »Ich hab’ geträumt, die Generäle sind wahnsinnig.« Loft und Hunter lachten zusammen und Loft sagte: »Der Feind hat es erfahren, wie wahnsinnig! Das ist ein guter Witz, den muß ich heimschreiben. Die Zeitungen würden das drucken. Der Feind hat erfahren, wie wahnsinnig unsere Generäle sind.« Tonder lachte weiter. »Sieg auf Sieg, Eroberung auf Eroberung, tiefer und tiefer hinein in den Dreck!« Das Lachen schüttelte ihn und er hustete in sein Taschentuch. »Vielleicht sind sie wirklich wahnsinnig, die da oben. Die Fliegen erobern das Fliegenpapier. Die Fliegen haben schon wieder fünfhundert Kilometer Fliegenpapier erobert!« Sein Lachen wurde jetzt immer hysterischer. Prackel beugte sich vor und schüttelte ihn mit der gesunden Hand. »Hör auf! Hör auf, du! Das darfst du nicht!« Und langsam bemerkte auch Loft, daß das Lachen hysterisch war, und er stellte sich dicht vor Tonder hin und 306
schlug ihn ins Gesicht. Er befahl: »Leutnant, hören Sie auf!« Tonder lachte weiter, und Loft schlug ihn wieder ins Gesicht und sprach: »Aufhören, Leutnant! Verstehen Sie mich?« Plötzlich hörte Tonder auf zu lachen, und im Zimmer wurde es still, bis auf das Summen der Lampen. Tonder betrachtete verwundert seine Hand, dann betastete er sein zerschlagenes Gesicht mit der Hand und blickte wieder auf seine Hand, und dann sank sein Kopf auf den Tisch nieder. »Ich will heim«, sagte er.
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6. Kapitel Es war in einer kleinen Straße, nicht weit vom Hauptplatz, wo schmale, kleine Häuser mit spitzen Dächern und winzigen Kaufläden sich aneinanderlehnten. Auf den Steigen und Straßen war der Schnee niedergetreten, aber er häufte sich auf den Zäunen, und er türmte sich auf den Giebeln. Er wehte gegen die Fensterläden der kleinen Häuser. Durch die Vorgärten waren Pfade geschaufelt. Die Nacht war dunkel und kalt, kein Licht glänzte aus den Fenstern, um den Flugzeugen nicht den Weg zu weisen. Niemand ging durch die Straßen; denn das Ausgehverbot bei Nacht war streng. Schwarz standen die Häuser gegen den Schnee. In kurzen Abständen schritt eine Patrouille von sechs Mann die Straße entlang, spähte umher, und jeder Mann trug eine Blendlaterne. Der gedämpfte Klang ihrer Tritte tönte durch die Straße und das Knirschen ihrer Stiefel auf dem festgestampften Schnee. Es waren vermummte Gestalten in dicken Mänteln; unter den Helmen trugen sie gestrickte Hauben, die ihnen Ohren, Kinn und Mund verdeckten. Ein wenig Schnee fiel, nur ganz wenig, wie Reiskörner. Die Soldaten sprachen miteinander, wie sie so dahinschritten, und sie sprachen von Dingen, nach denen sie sich sehnten – von Fleisch und heißer Suppe und von fet308
ter Butter. Und von hübschen Mädchen, von ihrem Lächeln und ihren Lippen und ihren Augen. Von diesen Dingen sprachen sie, und manchmal sprachen sie von ihrem Groll, und von dem, was sie taten, und von ihrer Einsamkeit. Ein kleines, spitzgiebeliges Haus neben dem Eisenladen war gebaut wie die anderen und trug seine Schneehaube, wie die anderen. Kein Licht drang durch seine geschlossenen Fensterläden, und auch die Türe war fest verschlossen. Aber innen, in dem kleinen Wohnzimmer brannte eine Lampe, und die Türe zum Schlafzimmer stand offen, und die Türe zu der Küche stand offen. An der Rückwand stand ein kleiner Eisenofen, darin brannte ein Kohlenfeuer. Es war ein warmes, armes, trauliches Zimmer. Den Boden deckte ein abgeschabter Teppich, an den Wänden war eine dunkelbraune Tapete mit einem altmodischen Blumenmuster in Gold. Es hingen zwei Bilder da, eines zeigte einen toten Fisch auf einer Platte, das zweite ein totes Rebhuhn, an einem Haken hängend. An der anderen Wand war ein Bild von Christus, der über die Wasser zu den verzweifelten Fischern schreitet. Zwei steife Stühle standen da und ein Sofa mit hellem Überzug. In der Mitte des Zimmers war ein kleiner, runder Tisch, darauf stand eine Lampe mit einem geblümten Schirm, ihr Licht war warm und gedämpft. Die Türe, welche in den Flur führte, durch den man zur Haustüre gelangte, war neben dem Ofen. In einem gepolsterten, alten Schaukelstuhl neben dem Tisch saß Molly Morran allein. Sie trennte einen alten, blauen Sweater auf und wickelte die Wolle auf ein Knäuel. Sie hatte schon einen ganz großen Ballen davon. Auf dem 309
Tisch neben ihr lag ihre Strickerei mit den Stricknadeln darin und eine große Schere. Die Brille hatte sie neben sich gelegt, denn sie brauchte sie nicht zum Stricken. Sie war hübsch und jung und sauber. Ihr goldblondes Haar trug sie oben auf dem Kopf zusammengesteckt und mit einem blauen Band gehalten. Ihre Hände wickelten schnell die Wolle auf. Während der Arbeit blickte sie ab und zu nach der Türe zum Treppenhaus. Der Wind säuselte im Kamin, aber es war eine ruhige Nacht, weich von Schnee. Plötzlich hielt sie inne. Ihre Hände hörten auf zu arbeiten. Sie schaute auf die Türe und lauschte. Die schweren Schritte der Patrouille gingen auf der Straße vorbei und der Klang ihrer Stimmen tönte schwach herein. Molly löste Wolle auf, und wickelte sie auf das Knäuel. Und wieder hielt sie inne. Ein Rascheln war an der Türe, dann klopfte es dreimal kurz. Molly legte ihre Arbeit hin und ging zur Türe. »Ja?« rief sie. Sie schloß auf und öffnete, und eine dicht verhüllte Gestalt trat ein. Es war Annie, die Köchin, rotäugig, in viele Tücher gewickelt. Sie glitt schnell herein, als hätte sie große Übung, gespenstisch-rasch durch Türen zu schlüpfen und sie unhörbar hinter sich zu schließen. Da stand sie, rotnasig und schnüffelnd, und ließ ihren flinken Blick durchs Zimmer laufen. Molly sagte: »Guten Abend, Annie. Ich habe dich heute abend nicht erwartet. Zieh dich aus und wärme dich. Es ist kalt draußen.« Annie sagte: »Mit den Soldaten ist ein früher Winter 310
gekommen. Mein Vater hat immer gesagt, der Krieg bringt schlechtes Wetter, oder das schlechte Wetter bringt Krieg, ich weiß nicht mehr genau.« »Zieh dich aus und komm zum Ofen!« »Ich kann nicht«, sagte Annie wichtig, »sie kommen.« »Wer kommt?« »Seine Exzellenz und der Doktor und die zwei AndersJungens.« »Hierher? Wozu?« Annie streckte ihr ein kleines Paket hin. »Nimm«, sagte sie, »ich habe es dem Oberst vom Teller weggestohlen. Es ist Fleisch.« Molly wickelte das kleine Stück Fleisch aus und steckte es in den Mund. Kauend fragte sie: »Hast du auch welches gehabt?« Annie sagte: »Ich koche doch, nicht wahr? Ich bekomme immer welches.« »Wann kommen sie?« Annie schnupfte auf. »Die Anders-Jungens machen sich davon. Sie müssen. Jetzt verstecken sie sich.« »So?« fragte Molly, »weshalb?« »Na, es war doch ihr Bruder Jakob, den haben sie heute erschossen, weil er den kleinen Kohlenkarren kaputtgemacht hat. Jetzt suchen die Soldaten die übrige Familie. Du weißt ja, wie sie es machen.« »Ja«, sagte Molly, »ich weiß, wie sie es machen. Setz dich, Annie.« »Keine Zeit. Ich muß zurück und Seiner Exzellenz sagen, daß hier alles in Ordnung ist.« »Hat dich jemand kommen sehen?« 311
Annie lachte stolz. »Nein. Ich kann schon großartig schleichen.« »Wie wird der Bürgermeister fortkommen?« Annie lachte. »Joseph wird in seinem Bett liegen, für den Fall, daß sie nachschauen kommen. Sogar in seinem Nachthemd – sogar neben Madame!« Sie lachte wieder. »Joseph tut gut daran, schön still zu liegen.« Molly sagte: »Eine böse Nacht, um auf See zu gehen.« »Besser, als erschossen werden.« »Ja, das ist wahr. Warum kommt eigentlich der Bürgermeister her?« »Ich weiß nicht. Er will mit den Anders-Jungens reden. Ich muß jetzt wieder gehen, ich wollte es dir nur sagen.« »Wann kommen sie?« »Nun, vielleicht in einer halben, vielleicht in Dreiviertelstunden. Ich werde vorgehen. Kein Mensch kümmert sich um eine alte Köchin.« Sie ging zur Türe, wandte sich aber auf halbem Wege um und sagte ärgerlich, als hätte Molly die letzten Worte gesprochen: »So alt bin ich gar nicht!« und sie schlüpfte hinaus und schloß die Türe lautlos hinter sich. Molly strickte eine kleine Weile, dann stand sie auf und ging zum Ofen und öffnete seine Klappe. Die Glut beleuchtete ihr Gesicht. Sie schürte das Feuer, warf ein paar Stück Kohle hinein und schloß den Ofen. Bevor sie wieder bei ihrem Stuhl war, klopfte es an die Türe. Sie ging durchs Zimmer und sagte dabei zu sich selbst: »Was hat sie wohl vergessen?« Sie trat hinaus in den Flur und sagte: »Was wollen Sie?« Eine Männerstimme antwortete ihr. Sie öffnete die Tü312
re, eine Männerstimme sagte: »Ich tu’ Ihnen nichts Böses. Ich tu’ Ihnen nichts.« Molly trat rücklings ins Zimmer, und Leutnant Tonder folgte ihr. Molly sagte: »Wer sind Sie? Was wollen Sie? Sie dürfen nicht hier hereinkommen. Was wollen Sie?« Leutnant Tonder hatte seinen weiten, grauen Mantel an. Er trat ins Zimmer, und nahm seinen Helm ab, und sprach flehend: »Ich hab’ nichts Böses im Sinn. Bitte, lassen Sie mich herein.« »Was wollen Sie?« Sie schloß die Türe hinter ihm, und er sagte: »Fräulein, ich will nur mit Ihnen sprechen. Das ist alles. Ich will Sie nur sprechen hören. Das ist alles, was ich will.« »Drängen Sie sich auf?« »Nein, Fräulein, lassen Sie mich nur eine kleine Weile bleiben, dann gehe ich wieder.« »Was wollen Sie denn?« Tonder versuchte, sich begreiflich zu machen. »Können Sie das nicht verstehen? Können Sie das nicht glauben! Können wir nicht nur für eine kleine Weile diesen Krieg vergessen? Eine kleine Weile nur. Eine kleine Weile nur könnten wir doch wie Menschen reden – zusammen?« Molly sah ihn lange an. Ein Lächeln trat auf ihre Lippen. »Sie wissen nicht, wer ich bin, nicht wahr?« Tonder sagte: »Ich habe Sie in der Stadt gesehen. Ich weiß nur, daß Sie schön sind. Ich weiß, daß ich mit Ihnen reden will.« Und Molly lächelte noch immer. Sie sagte leise: »Sie wissen nicht wer ich bin.« Sie setzte sich in ihren Stuhl, und Tonder stand da wie ein Kind, hilflos und unge313
schickt. Molly fuhr ruhig fort: »Nun, Sie fühlen sich einsam. Das ist die ganze Geschichte. Nicht wahr?« Tonder befeuchtete seine Lippen mit der Zunge und sprach eifrig. »So ist es, Sie verstehen das. Ich hab’s ja gewußt, Sie müssen das verstehen.« Seine Worte überstürzten sich. »Ich bin krank vor Einsamkeit. Ich bin so einsam in all dem Haß und all dem Schweigen.« Und er sagte flehend: »Können wir nicht sprechen – nur ein klein wenig?« Molly nahm ihre Strickerei. Sie warf einen schnellen Blick nach der Eingangstüre. »Sie können nicht länger bleiben als fünfzehn Minuten. Setzen Sie sich ein bißchen, Leutnant.« Sie blickte wieder nach der Türe. Im Hause knackte es. Tonder straffte sich. »Ist jemand da?« »Nein, der Schnee liegt schwer auf dem Dach. Ich habe keinen Mann mehr, um ihn herunterzuschaffen.« Tonder fragte zart: »Wer hat …? Haben wir es getan?« Und Molly nickte, ihr Blick ging in weite Ferne. »Ja.« Er setzte sich. »Das tut mir leid«, sagte er. Und nach einem Augenblick: »Ich wollte, ich könnte etwas für Sie tun. Ich werde den Schnee vom Dach schaffen lassen.« »Nein«, sagte Molly, »nein.« »Warum nicht?« »Weil die Leute denken würden, ich halte es mit euch. Sie würden mich ausstoßen. Ich will nicht ausgestoßen werden.« Tonder sagte: »Ja, ich weiß, wie das sein würde. Aber ich will Sie beschützen, wenn Sie es mir erlauben.« Jetzt wußte Molly, daß sie überlegen war, und ihre Au314
gen wurden schmal und beinahe grausam, und sie sagte: »Warum bitten Sie? Ihr seid die Eroberer. Eure Männer brauchen nicht zu bitten. Sie nehmen, was sie wollen.« »Das will ich nicht«, sagte Tonder. Und Molly lachte, immer noch ein wenig grausam. »Sie wollen, daß ich Sie gern habe, nicht wahr, Herr Leutnant?« Er sagte einfach: »Ja.« Und er hob seinen Kopf und sagte: »Sie sind so schön, so warm. Ihr Haar ist licht. Oh, schon so lange habe ich keine Wärme mehr gesehen im Gesicht einer Frau!« »Sehen Sie Wärme in meinem Gesicht?« Er sah ihr lange in die Augen. »Ich wünsche es mir.« Schließlich schlug sie den Blick nieder. »Sie möchten mich verführen, nicht wahr, Herr Leutnant?« Er sagte unbeholfen: »Ich möchte, daß Sie mich gern haben. Ja, ich möchte, daß Sie mich gern haben. Ja, ich möchte das in Ihren Augen sehen. Ich habe Sie auf der Straße gesehen. Ich habe geschaut, wie Sie vorbeigehen. Ich habe Befehl gegeben, daß Sie nicht belästigt werden dürfen. Sind Sie belästigt worden?« Molly sagte still: »Danke; nein, ich bin nicht belästigt worden.« Seine Worte überstürzten sich. »Denken Sie, ich habe sogar ein Gedicht für Sie geschrieben. Möchten Sie mein Gedicht sehen?« Sie fragte spöttisch: »Ist es ein langes Gedicht? Sie müssen sehr bald gehen.« »Nein, es ist ein winzig kleines Gedicht. Es ist nur ein ganz kleines bißchen Gedicht.« 315
Er faßte in die Innentasche seiner Uniform und holte einen zusammengefalteten Zettel heraus und gab ihn ihr. Sie lehnte sich gegen die Lampe vor und setzte ihre Brille auf und las leise: »An Deine blauen Augen Gedenk’ ich allerwärts! – Ein Meer von blauen Gedanken Ergießt sich über mein Herz …« Sie faltete das Papier zusammen und legte es in den Schoß. »Haben Sie das gedichtet, Leutnant?« »Ja.« Sie fragte etwas spöttisch: »Für mich?« Und Tonder antwortete unsicher: »Ja.« Sie sah ihm in die Augen und lächelte: »Das ist nicht von Ihnen, Herr Leutnant, nicht wahr?« Er erwiderte ihr Lächeln, wie ein Kind, das man bei einer Lüge ertappt. »Nein.« Molly fragte: »Wissen Sie, von wem es ist?« »Ja, von Heine. ›Mit deinen blauen Augen …‹ Ich habe es immer geliebt.« Er lachte verlegen, und Molly lachte mit ihm, und plötzlich lachten sie zusammen. Er hörte ebenso plötzlich auf zu lachen und sein Blick verdunkelte sich. »Ich habe seit einer Ewigkeit nicht so gelacht«, sagte er, »man hat uns erzählt, die Leute hier würden uns lieben, würden uns bewundern. Nichts davon ist wahr. Sie hassen uns nur.« Und dann lenkte er ab, als wolle er das alles vergessen. »Sie sind so schön! Sie sind so schön wie das Lachen!« 316
Molly sagte: »Sie wollen mich verliebt machen, Leutnant. Sie müssen gleich gehen.« »Vielleicht will ich Sie verliebt machen. Ein Mensch braucht Liebe. Ein Mensch stirbt ohne Liebe. Sein Inneres vergeht, die Brust ist wie ausgedörrt. Ich bin so allein.« Molly stand auf. Sie blickte unruhig nach der Türe, sie ging zum Ofen und als sie zurückkam wurde ihr Gesicht hart und ihre Augen böse, und sie fragte: »Wollen Sie mit mir schlafen, Leutnant?« »Das habe ich nicht gesagt! Warum sprechen Sie so?« Molly sagte grausam: »Vielleicht, um Sie abzustoßen. Ich war schon einmal verheiratet. Mein Mann ist tot. Verstehen Sie, ich bin keine Jungfrau.« Ihre Stimme klang bitter. Tonder sagte: »Ich möchte nur, daß Sie mich gern haben.« »Ich weiß. Sie sind ein zivilisierter Mann, Sie wissen, daß die ganze Angelegenheit reicher und vollständiger und reizender wird, wenn Gernhaben mit dabei ist.« »Sprechen Sie nicht so! Bitte, sprechen Sie nicht so!« Molly blickte schnell nach der Türe. »Wir sind ein besiegtes Volk, Herr Leutnant. Sie haben uns die Nahrungsmittel weggenommen. Ich bin hungrig. Ich werde Sie lieber haben, wenn Sie mir zu essen geben.« »Was sagen Sie da?« »Finden Sie mich abstoßend, Leutnant? Vielleicht will ich das. Mein Preis sind zwei Würste.« »Ich kann so nicht reden«, sagte Tonder. »Wollen Sie mich umsonst, Herr Leutnant? Ist der Preis zu hoch?« * 317
»Einen Augenblick lang haben Sie mich getäuscht. Aber Sie hassen mich auch, nicht wahr? Ich habe gedacht, vielleicht würden Sie mich nicht hassen …« »Nein, ich hasse Sie nicht«, sagte sie, »ich bin hungrig und – ich hasse Sie!« »Ich will Ihnen alles geben, was Sie brauchen, nur – –« Sie unterbrach ihn: »Sie wollen es anders nennen? Sie wollen keine Hure? Meinen Sie es so?« »Ich weiß nicht, wie ich es meine. Es klingt alles so häßlich, wie Sie es sagen.« Molly lachte. »Es ist nicht schön, zu hungern. Zwei Würste, zwei gute, fette Würste, die können das Kostbarste in der Welt sein.« »Sagen Sie doch nicht solche Sachen! Ich bitte Sie!« »Warum nicht? Es ist wahr.« »Es ist nicht wahr! Es kann nicht wahr sein!« Sie sah ihn einen Moment an, dann setzte sie sich hin, sie schaute in ihren Schoß nieder, sie sagte: »Nein, es ist nicht wahr. Ich hasse Sie nicht. Ich bin auch allein. Und der Schnee liegt schwer auf dem Dach.« Tonder stand auf und trat zu ihr. Er nahm ihre Hand in seine beiden Hände und sprach leise: »Bitte hassen Sie mich nicht. Ich bin nur ein Leutnant. Ich habe nicht danach verlangt, herzukommen. Sie haben nicht danach verlangt, mein Feind zu sein. Ich bin nur Mann, kein Eroberer.« Mollys Finger umfaßten seine Hand einen Augenblick, und sie sagte leise: »Ich weiß, ja, ich weiß.« »Wir haben doch ein bißchen Recht zu leben, mitten in all diesem Tod.« 318
Sie legte für einen Moment ihre Hand an seine Wange und antwortete: »Ja.« »Ich will für Sie sorgen«, sagte er. »Wir haben ein Recht, zu leben in all diesem Morden.« Seine Hand ruhte auf ihrer Schulter. Plötzlich spannte sich ihr Körper, und ihre Augen wurden groß und starr, als sähe sie eine Vision. Seine Hand ließ sie los, er fragte: »Was haben Sie? Was ist?« Ihre Augen starrten geradeaus, und er wiederholte: »Was ist los?« Molly sprach mit erstickter Stimme: »Ich zog ihn an, wie einen kleinen Jungen für den ersten Schultag. Und er hatte Angst. Ich knöpfte ihm das Hemd zu und versuchte ihn zu trösten, aber er war nicht zu trösten. Und er hatte Angst.« Tonder flüsterte: »Was sprechen Sie da?« Molly schien alles vor sich zu sehen. »Ich weiß nicht, warum man ihn heimkommen ließ. Er war verwirrt. Er wußte nicht, was geschah. Er hat mich nicht einmal geküßt, als er fortging. Er hatte Angst, und er war sehr tapfer, wie ein kleiner Junge an seinem ersten Schultag.« Tonder stand auf. »Das war Ihr Mann.« Molly sagte: »Ja, mein Mann. Ich ging zum Bürgermeister, aber der war hilflos. Und dann ging er weg – nicht sehr großartig, nicht sehr fest – und Sie haben ihn hinausgeführt und haben ihn erschossen. Es war eher seltsam als schrecklich, damals. Ich hab’ es nicht wirklich geglaubt, damals.« Tonder sagte: »Ihr Mann.« »Ja; und jetzt, in dem stillen Haus, jetzt glaube ich es. Jetzt, mit dem schweren Schnee auf dem Dache, glaub’ ich 319
es. Und in der Einsamkeit vor Tagesanbruch, in dem halbwarmen Bett, da weiß ich es.« Tonder stand vor ihr. Sein Gesicht war voll Jammer. »Gute Nacht«, sagte er. »Gott schütze Sie. Darf ich wiederkommen?« Und Molly schaute auf die Wand und schaute auf ihre Erinnerungen. »Ich weiß nicht«, erwiderte sie. »Ich komme wieder.« »Ich weiß nicht.« Er blickte sie an und ging dann still zur Türe hinaus und Molly starrte noch immer die Wand an. »Gott schütze mich!« Sie blieb noch eine Weile so, starrte auf die Wand. Die Türe öffnete sich lautlos, und Annie trat ein. Molly hörte sie nicht einmal. Annie sagte mißbilligend: »Die Tür war offen.« Molly wandte ihr langsam den Blick zu, ihre Augen waren noch weit fort. »Ja. O ja. Annie.« »Die Türe war offen. Ein Mann ist herausgekommen. Ich hab’ ihn gesehen. Er hat ausgeschaut wie ein Soldat.« Molly bejahte: »Ja, Annie.« »War ein Soldat hier?« »Ja, ein Soldat.« Annie fragte mißtrauisch: »Was hat er hier gemacht?« »Er kam, um von Liebe zu reden.« »Molly Morran, was tust du? Du hältst doch nicht zu ihnen, wie? Du bist doch nicht mit ihnen wie dieser Corell?« »Nein, ich bin nicht mit ihnen, Annie.« Annie sagte: »Wenn der Bürgermeister da ist und sie 320
wiederkommen, dann wird es deine Schuld sein, wenn etwas passiert. Es wird deine Schuld sein!« »Er wird nicht wiederkommen. Ich lasse ihn nicht wiederkommen.« Aber Annie blieb mißtrauisch. Sie fragte: »Soll ich sie jetzt hereinholen? Sagst du, daß es sicher ist?« »Ja, es ist sicher. Wo sind sie?« »Draußen, beim Zaun.« »Hol sie herein.« Und während Annie hinausging, stand Molly auf und glättete die Haare und schüttelte den Kopf, sie versuchte, wieder ins Leben zurückzufinden. Ein leises Geräusch war im Flur. Zwei große, blonde, junge Männer traten ein. Sie hatten Windjacken an und dunkle, hochgeschlossene Sweaters. Sie trugen gestrickte Mützen. Sie waren windgebräunt und stark und sahen fast aus wie Zwillinge, Will Anders und Tom Anders, die Fischer. »Guten Abend, Molly. Hast du’s schon gehört?« »Annie hat es mir erzählt. Eine böse Nacht zum Segeln.« Tom sagte: »Besser als eine klare Nacht. Was will der Bürgermeister, Molly?« »Ich weiß nicht. Ich hab’ von eurem Bruder gehört. Es tut mir so leid.« Die beiden schwiegen und waren verlegen. Tom meinte: »Du weißt, wie das ist. Besser als andere.« »Ja; ja, ich weiß.« *
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Annie erschien in der Türe und sagte in heiserem Flüstern: »Sie sind da!« Und Bürgermeister Orden und Doktor Winter kamen herein. Sie zogen ihre Mäntel und Mützen aus und legten sie auf das Sofa. Orden ging zu Molly und küßte sie auf die Stirne. »Guten Abend, Liebe.« Er wandte sich zu Annie: »Bleibe im Flur, Annie. Klopfe einmal, wenn die Patrouille kommt, einmal, wenn sie fort ist, zweimal bei Gefahr. Die äußere Türe kannst du einen Spalt offen lassen, so daß du hörst, wenn jemand kommt.« Annie antwortete: »Jawohl, Exzellenz.« Sie ging in den Hausflur und schloß die Türe hinter sich. Doktor Winter wärmte sich am Ofen. »Wir haben gehört, daß ihr beide heute nacht fort wollt.« »Wir müssen fort«, sagte Tom. Orden nickte. »Ja, ich weiß. Wir hören, daß ihr Herrn Corell mitnehmen wollt.« Tom lachte bitter. »Wir dachten, das wäre nur recht. Wir nehmen ja sein Schiff. Wir können ihn nicht hier herumlaufen lassen. Es tut nicht gut, ihn in der Stadt zu sehen.« Orden sagte traurig: »Ich wollte, er wäre fortgegangen. Es ist gefährlich für euch, ihn mitzunehmen.« »Es tut nicht gut, ihn in der Stadt zu sehen«, echote Will nach seinem Bruder. »Es tut den Leuten nicht gut, ihn hier zu sehen.« Winter fragte: »Werdet ihr ihn denn kriegen? Ist er denn gar nicht vorsichtig?« »O ja, er ist schon vorsichtig, gewissermaßen. Aber um zwölf Uhr geht er immer nach Hause. Wir werden hinter 322
der Mauer sein. Ich glaube, wir können ihn durch seinen Garten ans Wasser bringen. Dort ist sein Schiff angebunden. Wir waren heute schon dort und haben es zurechtgemacht.« Orden wiederholte: »Ich wollte, ihr brauchtet das nicht zu tun. Dadurch wird alles für euch nur um so gefährlicher. Wenn er Lärm macht, kann die Patrouille kommen.« Tom sagte: »Er wird keinen Lärm machen. Und es ist besser, wenn er zur See verschwindet. Sonst könnten ihn Leute aus der Stadt einmal erwischen und dann wird zu viel Blut fließen. Nein, es ist besser, wenn er zur See geht.« Molly nahm ihre Strickerei wieder auf. Sie fragte: »Werdet ihr ihn über Bord werfen?« Will errötete. »Er wird zur See gehen, Molly.« Er wandte sich an den Bürgermeister. »Sie wollten uns sprechen, Herr Bürgermeister?« »Ja, ja. Ich wollte euch etwas sagen. Doktor Winter und ich haben darüber nachgedacht. Es wird jetzt soviel geredet über Gerechtigkeit, Ungerechtigkeit, Eroberung. Unser Land ist besetzt, aber ich glaube nicht, daß es erobert ist.« Es klopfte scharf an die Türe und im Zimmer war Schweigen. Mollys Stricknadeln standen still, des Bürgermeisters ausgestreckte Hand blieb in der Luft. Tom, der sich am Ohr gekratzt hatte, ließ seine Finger dort und hielt im Kratzen inne. Jeder im Zimmer war bewegungslos. Aller Augen waren auf die Türe gerichtet. Dann, erst schwach und immer deutlicher, ertönten die Schritte der Patrouille, das Knirschen ihrer Stiefel im Schnee, der Klang ihrer Gespräche, während sie vorbeigingen. Sie ka323
men an der Türe vorbei, und ihre Schritte entfernten sich und erstarben. Ein zweites Klopfen an der Türe. Die Menschen im Zimmer atmeten wieder auf. Orden sagte: »Es muß da draußen kalt für Annie sein.« Er nahm seinen Mantel vom Sofa, öffnete die Türe und reichte ihn hinaus. »Leg das um deine Schultern, Annie.« Und er schloß die Türe wieder. »Ich weiß nicht, was ich ohne sie täte«, bemerkte er. »Sie schlüpft überall durch, sie hört und sieht alles.« Tom sagte: »Wir sollten bald gehen, Herr Bürgermeister.« Und Winter meinte: »Ich wollte, ihr würdet euch den Herrn Corell aus dem Kopf schlagen.« »Wir können nicht. Es tut nicht gut, ihn in der Stadt zu sehen.« Er blickte erwartungsvoll auf Bürgermeister Orden. Orden begann langsam: »Ich will es ganz einfach sagen. Unsere Stadt ist klein. Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit – alles bewegt sich in engen Grenzen. Euer Bruder ist erschossen worden, Alex Morran ist erschossen worden. Rache an einem Verräter. Das Volk ist zornig und hat keine Möglichkeit, sich zu wehren. Aber alles bewegt sich in engen Grenzen. Es sind Leute gegen Leute. Nicht Idee gegen Idee.« Winter sagte: »Es ist seltsam für einen Arzt, an Vernichtung zu denken. Aber ich glaube, in einem besetzten Land will sich das Volk eben wehren. Wir sind entwaffnet; unsere Seelen, unsere Körper genügen nicht. Der Seele eines entwaffneten Mannes entsinkt der Mut.« Will Anders fragte: »Was bedeutet das alles? Was wollen Sie von uns?« 324
»Wir wollen Sie bekämpfen und wir können es nicht«, sagte Orden. »Sie wollen jetzt unsere Leute aushungern. Hunger macht schwach. Ihr, Jungens, ihr segelt hinüber. Vielleicht wird niemand auf euch hören, aber erzählt ihnen von uns – von einer kleinen Stadt – daß sie uns Waffen geben.« Tom fragte: »Sie wollen Gewehre?« Wieder das kurze Klopfen an der Türe, und die Menschen erstarrten, wo sie gerade standen, und von draußen hörte man die Fußtritte der Patrouille, aber beschleunigt, im Laufschritt. Will war mit einem Sprung an der Türe. Das Geräusch der Tritte war jetzt gerade vor dem Haus. Man hörte gedämpfte Befehle, die Soldaten liefen vorbei und es wurde zum zweiten Mal an die Türe geklopft. Molly sagte: »Sie müssen hinter jemandem her sein. Wer ist es wohl diesmal?« »Wir sollten fort«, sagte Tom unruhig. »Wollen Sie Flinten, Herr Bürgermeister? Sollen wir um Flinten bitten?« »Nein, erzählt ihnen, wie es ist. Wir werden bewacht. Jede unserer Bewegungen wird kontrolliert, wird bestraft. Wenn wir einfache, kleine Waffen haben könnten, Waffen, heimlich zu gebrauchen, Explosivstoffe, Dynamit, um Bahngeleise zu sprengen, Granaten, wenn möglich, sogar Gift.« Er sagte zornig: »Dies ist kein ehrenhafter Kampf. Dies ist ein Kampf mit Verrat und mit Mord. Laßt uns in der gleichen Art gegen sie vorgehen, wie sie gegen uns vorgehen. Sagt unsern Freunden, sie sollen weiterhin ihre großen Bomben auf das Kohlenbergwerk abwerfen, aber sie sollen auch kleine Bomben abwerfen, die wir benützen können, die wir verstecken können, unter Schienen, unter 325
Tanks. Dann werden wir bewaffnet sein, heimlich bewaffnet. Die Eindringlinge werden niemals wissen, welche unter uns bewaffnet sind. Laßt die Flugzeuge einfache Waffen für uns bringen. Wir werden sie zu gebrauchen wissen!« Winter fiel ein: »Sie werden nie wissen, wo es einschlagen wird. Die Soldaten, die Wache, niemand wird wissen, wer von uns kämpft und wer nicht.« Tom wischte sich die Stirne. »Wenn wir durchkommen, werden wir’s ihnen sagen. Aber ich habe gehört, daß dort immer noch Männer an der Macht sind, die es nicht wagen, Waffen in die Hände von einfachen Leuten zu geben.« * Orden starrte ihn an. »Oh! Daran habe ich nicht gedacht. Nun, wenn solche Menschen heute noch regieren, dann ist die Welt sowieso verloren. Erzähle ihnen, was wir eben gesagt haben, wenn sie hören wollen. Wir brauchen diese Hilfe, aber wenn wir sie bekommen –« sein Gesicht wurde ganz hart – »wenn wir sie bekommen, dann werden wir uns selbst helfen.« Winter sprach: »Wenn sie uns nur Dynamit geben, zum Verstecken, zum Vergraben, damit wir es haben, sobald wir es brauchen, dann kann die Besatzung nie mehr Ruhe finden, nie mehr! Ihren Nachschub werden wir in die Luft sprengen!« Aufregung verbreitete sich im Zimmer. Molly meinte wild: »Ja, wir könnten ihnen die Ruhe nehmen. Wir könnten ihnen den Schlaf nehmen. Wir könnten ihre Nerven zerstören, ihr Gleichgewicht.« 326
Will fragte ruhig: »Ist das alles, Herr Bürgermeister?« »Ja.« Orden nickte. »Das ist der Kernpunkt.« »Und wenn sie nicht hören wollen?« »Ihr könnt es nur versuchen, so wie ihr es heute nacht mit der See versucht.« »Ist das alles, Herr Bürgermeister?« Die Türe ging auf, und Annie kam leise herein. Orden fuhr fort: »Das ist alles. Wenn ihr jetzt gehen müßt, so laßt mich Annie hinausschicken, damit sie nachsieht, ob die Luft rein ist.« Er blickte auf und sah, daß Annie ins Zimmer gekommen war. Annie sagte: »Es kommt ein Soldat den Weg herauf. Er sieht aus wie der Soldat, der vorhin hier war. Es war ein Soldat vorhin hier bei Molly.« Die andern sahen Molly an. Annie sagte: »Ich habe das Tor versperrt.« »Was will er?« fragte Molly. »Warum kommt er wieder?« Es klopfte leise draußen am Haustor. Orden ging zu Molly. »Was bedeutet das, Molly? Bist du in Not?« »Nein«, sagte sie, »nein! Gehen Sie zur Hintertür hinaus. Sie können rückwärts hinaus. Schnell, schnell fort!« Es klopfte weiter am Haustor. Eine Männerstimme rief leise. Der Bürgermeister stand vor ihr. »Bist du in Not, Molly? Du hast doch nichts angestellt?« Annie sagte kalt: »Er sieht aus wie derselbe Soldat. Es war vorhin ein Soldat da.« »Ja«, antwortete Molly dem Bürgermeister, »ja, es war vorhin ein Soldat da.« Der Bürgermeister fragte: »Was wollte er von dir?« 327
»Liebe.« »Aber du hast nicht –?« »Nein, ich habe nicht. Geht jetzt, ich will aufpassen.« Orden sagte: »Molly, wenn du in Not bist, so laß dir von uns helfen.« »In meiner Not kann mir niemand helfen«, erwiderte sie. »Geht jetzt.« Und sie schob sie hinaus. Annie blieb zurück. Sie blickte Molly an. »Molly Morran, was will dieser Soldat?« »Ich weiß nicht, was er will.« »Wirst du ihm etwas sagen?« »Nein.« Verwundert wiederholte Molly: »Nein.« Und dann sagte sie heftig: »Nein, Annie, nein.« Annie sah sie finster an. »Molly Morran, es ist besser, wenn du ihm nichts sagst.« Und sie ging hinaus und schloß die Türe hinter sich. »Ja?« rief sie. Es klopfte immer noch am Haustor, und man hörte eine Männerstimme durch die Türe. Molly ging zum Tisch. Schwer lag die Last auf ihren Schultern. Sie sah auf die Lampe nieder, sie sah auf den Tisch. Und sie sah die große Schere neben der Strickarbeit liegen. Sie hob sie nachdenklich auf, und die Schneide glitt durch ihre Hand, bis sie die lange Schere beim Griff hielt und sie hielt wie einen Dolch, und Entsetzen war in ihren Augen. Sie sah auf die Lampe nieder, das Licht überflutete ihr Gesicht. Langsam hob sie die Schere und barg sie in ihrem Kleid. Draußen am Tor klopfte es immer noch. Sie hörte die 328
Stimme, die nach ihr rief. Sie lehnte sich über die Lampe und dann, plötzlich, blies sie das Licht aus. Das Zimmer war dunkel, bis auf den roten Schimmer, der aus dem Ofen kam. Sie öffnete die Türe. Ihre Stimme war matt und süß. Sie rief: »Ich komme, Leutnant, ich komme!«
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7. Kapitel In der dunklen, klaren Nacht gab der weiße Halbmond ein wenig Licht. Der Wind war trocken und sang über den Schnee, ein stetiger, ewiger Eiswind. Über dem Land lag tiefer, tiefer Schnee, trocken, wie Sand. Die Häuser schmiegten sich zwischen die Schneemauern, die Fenster waren gegen die Kälte verrammelt, nur ein dünner Rauch stieg aus den Kaminen. In der Stadt waren die Fußwege festgefroren und festgetreten. Die Straßen waren wie ausgestorben, bis auf die frierenden Soldaten der Patrouille, die trübselig dahinstapften. Schwarz standen die Häuser gegen den Nachthimmel und bewahrten einen kleinen Rest von Wärme bis zum Morgen. Die Wache bei dem Kohlenbergwerk richtete ihre Telemeter gegen den Himmel, richtete ihre Horchgeräte gegen den Himmel; denn es war eine klare Nacht, günstig für Flugangriffe. In solchen Nächten stürzten die schlanken Geschosse mit ihren Flossen aus Stahl pfeifend hernieder, zerbarsten dröhnend und streuten ihre verderblichen Splitter aus. In solchen Nächten sah man vom Himmel aus weithin über das Land, wenn auch der Mond nur wenig Licht zu spenden schien. Draußen, am Ende der Stadt, wo die kleinen Häuser stehen, jammerte ein Hund über die Kälte und die Ein330
samkeit. Er hob die Nase zu seinem Gott empor und begann einen langen und vorwurfsvollen Bericht über den Stand der Dinge auf dieser Welt, mit der er ganz und gar nicht zufrieden war. Er war ein geübter Sänger mit einer gewaltigen, umfassenden Stimmkraft, die spielend alle Register beherrschte. Die sechs Mann der Patrouille, die niedergeschlagen die Straße auf und ab schlenderten, hörten den Gesang des Hundes, und einer der vermummten Soldaten sagte: »Ich glaube, es wird jede Nacht schlimmer mit ihm. Wir sollten ihn erschießen.« Ein anderer antwortete: »Warum? Laß ihn doch heulen. Ich hör’ es gern. Zu Hause hatte ich auch einen Hund, der immer heulte. Ich konnte es ihm niemals abgewöhnen. Gelb war er. Mir macht das Heulen nichts. Dann haben sie ihn genommen, meinen Hund, mit allen andern …« Er sprach beiläufig, mit tonloser Stimme. Der Unteroffizier sagte: »Konnten doch den Hunden nicht Nahrung geben, die gebraucht wurde.« »Ich beklage mich ja auch nicht. Ich weiß, es war notwendig. Ich verstehe nichts von Organisation so wie unsere Regierung. Trotzdem kommt es mir komisch vor, daß die Leute hier Hunde haben, und sie haben nicht einmal soviel zu essen wie wir. Sie sind aber auch dürr, Hunde und Menschen.« »Sie sind Narren«, sagte der Unteroffizier. »Darum haben sie so schnell verloren. Sie können eben nicht so organisieren wie wir.« »Ich bin neugierig, ob wir wieder Hunde haben werden, wenn alles vorüber ist«, sagte der Soldat. »Wir könnten sie wahrscheinlich aus Amerika bekommen, oder sonst woher 331
und wieder zu züchten anfangen. Was glaubst du, was für Hunde haben sie wohl in Amerika?« »Ich weiß nicht«, sagte der Unteroffizier. »Wahrscheinlich sind ihre Hunde ebenso närrisch wie alles andere dort.« Er fuhr fort: »Vielleicht hat es überhaupt keinen Sinn, Hunde zu haben. Es wäre wahrscheinlich besser, wenn wir uns überhaupt nicht mit diesen Viechern abgeben würden, außer für Polizeidressur. Horch!« Die Patrouille hielt an und von weit her kam das Bienensummen der Flugzeuge. »Da kommen sie«, rief der Unteroffizier. »Na, es ist ja verdunkelt. Es ist zwei Wochen her, nicht wahr, daß sie zuletzt gekommen sind?« »Zwölf Tage«, sagte der Soldat. Die Wache beim Bergwerk hörte das helle Summen der Flieger. »Sie fliegen hoch«, sagte ein Wachtmeister. Und Hauptmann Loft legte seinen Kopf weit in den Nacken zurück, um unter dem Rand seines Helmes hervorschauen zu können. »Ich schätze, über siebentausend Meter«, sagte er. »Vielleicht fliegen sie vorbei.« »Es sind nicht sehr viele.« Der Wachtmeister lauschte. »Ich glaube nicht, daß es mehr als drei sind. Soll ich die Batterie alarmieren?« »Sorgen Sie nur dafür, daß sie in Bereitschaft ist, und dann rufen Sie Oberst Lanser – nein, rufen Sie ihn nicht. Vielleicht kommen sie gar nicht her. Sie sind schon fast vorbei und haben noch nicht einmal angefangen, in Sturzflug überzugehen.« »Es klingt fast so, als ob sie kreisen würden. Ich glaube nicht, daß es mehr als zwei sind«, meinte der Wachtmeister. 332
In ihren Betten hörten die Leute die Flugzeuge und sie krochen tiefer in die Federn und lauschten. Im Palais des Bürgermeisters weckte das schwache Geräusch Oberst Lanser auf, und er drehte sich auf seinen Rücken und starrte mit weit offenen Augen auf die dunkle Zimmerdecke, und er hielt den Atem an, um besser lauschen zu können, und dann klopfte sein Herz so stark, daß er schlechter hören konnte, als wenn er atmete. Bürgermeister Orden hörte die Flugzeuge im Schlaf und das machte, daß er träumte, und er bewegte sich und flüsterte im Schlaf. Hoch in der Luft kreisten die zwei Bomber, feldgraue Flugzeuge. Sie stellten ihre Motore ab, während sie immer weiterkreisten. Und aus dem Bauch eines jeden fielen winzig kleine Gegenstände, einer nach dem andern. Ein paar Meter weit stürzten sie nieder, dann öffneten sich kleine Fallschirme und trugen kleine Päckchen leise und langsam schwebend hinab, der Erde zu, und die Flugzeuge gaben Vollgas und stiegen hoch, und dann stellten sie die Motore wieder ab, um zu kreisen und warfen noch mehr von den kleinen Dingern ab, und dann wandten sich die Flieger und flogen zurück in der Richtung, aus der sie gekommen waren. Die winzigen Fallschirme schwebten wie Blütenpollen, und der Windhauch zerstreute sie wie Blütenstaub. Sie sanken so langsam herab und landeten so sanft, daß die zehn Zentimeter langen Päckchen mit Dynamit aufrecht im Schnee steckenblieben und die kleinen Fallschirme sich zart darüber breiteten. Sie sahen schwarz aus auf dem Schnee. Sie landeten auf den weißen Feldern und in den 333
Wäldern, die die Hügel bedeckten, und sie landeten auf Bäumen und hingen von den Ästen herab. Manche landeten auf Hausdächern in der kleinen Stadt, manche in den engen Vorgärten, und ein Päckchen blieb aufrecht in der Schneehaube stecken, die das Denkmal des heiligen Albrecht auf dem Kopfe trug. Einer der kleinen Fallschirme schwebte auf die Straße herab, gerade vor die Patrouille, und der Unteroffizier sagte: »Vorsicht! Das ist eine Zeitbombe!« »Ist nicht groß genug«, meinte ein Soldat. »Geht nicht in die Nähe.« Der Unteroffizier holte seine Taschenlampe hervor und beleuchtete das Ding, ein kleiner Fallschirm, nicht größer als ein Taschentuch, hellblau; daran hing ein in blaues Papier gewickeltes Päckchen. »Niemand rührt es an«, sagte der Unteroffizier. »Harry, du gehst hinunter zum Bergwerk und holst den Hauptmann. Wir behalten dieses verdammte Ding da im Auge.« Das späte Morgengrauen brach an und die Leute, die aus ihren Häusern traten, sahen die blauen Flecke auf dem Schnee. Sie gingen hin und hoben sie auf. Sie wickelten sie aus dem Papier und lasen die gedruckten Worte. Sie erkannten das Geschenk, und jeder Finder warf plötzlich verstohlene Blicke um sich, verbarg die längliche Kapsel unter seinem Mantel und ging, um sie an einem heimlichen Ort zu verstecken. Und die Kinder hörten von diesen Gaben, und sie durchsuchten das Land. Es war wie eine wilde Jagd nach unheimlichen Ostereiern. Wenn ein Kind Glück hatte und die blaue Farbe erblickte, dann stürzte es auf die Beute zu, wickelte die Kapsel aus und verbarg sie und erzählte den 334
Eltern davon. Es gab ein paar Leute, die Angst hatten und die Kapseln dem Militär ablieferten. Aber es waren nicht viele. Und die Soldaten hasteten in der Stadt herum, auch sie auf der Jagd nach Ostereiern, aber sie waren nicht so geschickt darin wie die Kinder. Im Wohnzimmer des Bürgermeisters war der Eßtisch mit den Sesseln ringsherum stehen geblieben, so wie man ihn an jenem Tag aufgestellt hatte, an dem Alexander Morran erschossen worden war. Das Zimmer war nicht mehr so reizend, wie zur Zeit, als es noch dem Bürgermeister gehört hatte. Die Wände, an denen keine Stühle mehr standen, sahen kahl aus. Der Tisch, über den Akten und Papiere verstreut waren, gab dem Raum das Aussehen eines Büros. Die Uhr auf dem Kaminsims schlug neun. Es war ein trüber Tag geworden, grau und bedeckt, denn der Morgen hatte schwere Schneewolken gebracht. Annie kam aus dem Zimmer des Bürgermeisters; sie schoß auf den Tisch zu und besah sich die Papiere, die darauf lagen. Hauptmann Loft trat ein. Er blieb in der Türe stehen, als er Annie sah. »Was tun Sie hier?« fragte er. Und Annie sagte stumpfsinnig: »Ja, Herr.« »Ich frage, was Sie hier tun?« »Ich wollte sauber machen, Herr.« »Lassen Sie das Zeug in Ruhe, und gehen Sie.« Und Annie sagte: »Ja, Herr.« Und sie wartete, bis er von der Türe weg war und trottete dann hinaus. Hauptmann Loft rief zur Tür hinaus. »Gut, bringen Sie es herein.« Ein Soldat trat ein. Sein Gewehr hing ihm am Riemen 335
über die Schulter, und in seinen Armen trug er eine Anzahl der blauen Päckchen, und von den Päckchen baumelten kleine Schnüre herab mit Stücken von blauem Stoff. Hauptmann Loft sagte: »Auf den Tisch.« Der Soldat legte die Päckchen vorsichtig nieder. »Gehen Sie jetzt hinauf, und melden Sie Oberst Lanser, daß ich hier bin, mit den – mit den Dingern.« Der Soldat machte kehrt und verließ das Zimmer. Loft trat zum Tisch und hob eines der kleinen Päckchen auf, und ein Ausdruck von Abscheu trat auf sein Gesicht. Er hob den kleinen Fallschirm hoch, hielt ihn über seinen Kopf und ließ ihn fallen, und der Fallschirm öffnete sich, und das Päckchen schwebte zu Boden. Loft hob es wieder auf und untersuchte es. Jetzt trat Oberst Lanser schnell ein, Major Hunter folgte ihm. Hunter hielt einen Bogen gelbes Papier in der Hand. Lanser sagte: »Guten Morgen, Hauptmann.« Und er setzte sich oben an den Tisch. Einen Augenblick lang betrachtete er das kleine Bündel von Kapseln, und dann hob er eine auf und hielt sie in der Hand. »Setzen Sie sich, Hunter«, sagte er. »Haben Sie das hier schon untersucht?« * Hunter zog einen Stuhl heran und setzte sich. Er blickte auf das gelbe Papier in seiner Hand. »Nicht sehr gründlich«, sagte er. »Dreimal ist die Bahnstrecke beschädigt, innerhalb fünfzehn Kilometer.« »Nun, sehen Sie sich jetzt einmal das da an und sagen Sie, was Sie davon denken«, sagte Lanser. 336
Hunter nahm eine Kapsel und löste die äußere Hülle ab. Innen, dicht an der Kapsel, war noch ein kleines Päckchen. Hunter zog ein Messer heraus und schnitt die Kapsel auf. Hauptmann Loft schaute dem Major über die Schulter. Dann roch Hunter an der Schnittfläche und rieb seine Finger zusammen. Er sagte: »Es ist lächerlich. Es ist ganz gewöhnliches Dynamit. Ich weiß nicht, wieviel Nitroglyzerin dabei ist, bevor ich es analysiert habe.« Er drehte es herum. »Es hat eine richtige Dynamit-Zündkappe, Knallquecksilber, und eine Zündung von etwa einer Minute, glaube ich.« Er warf die Kapsel wieder auf den Tisch. »Es ist sehr billig und sehr einfach«, sagte er. Der Oberst blickte Loft an: »Wie viele, glauben Sie, wurden abgeworfen?« »Ich weiß nicht, Herr Oberst«, antwortete Loft. »Wir haben ungefähr fünfzig aufgehoben, und ungefähr neunzig Fallschirme sind gesammelt worden. Aus irgendeinem Grund lassen die Leute die Schirme liegen, wenn sie die Kapseln nehmen. Und dann sind wahrscheinlich viele da, die wir noch nicht gefunden haben.« Lanser schwenkte seine Hand. »Es ist nicht sehr wichtig«, erklärte er. »Sie mögen abwerfen, soviel sie wollen. Wir können es nicht ändern, und wir können es auch nicht gegen die Leute hier geltend machen.« Loft sagte heftig: »Wir können sie vom Antlitz der Erde austilgen!« Hunter löste eine Zündkappe ab und Lanser sagte: »Ja – das können wir. Haben Sie sich die Verpackung angesehen, Hunter?« »Noch nicht, noch keine Zeit gehabt.« 337
»Eine ganz teuflische Angelegenheit«, fuhr Lanser fort. »Die Verpackung ist blau, so daß sie gut sichtbar ist. Löst man das äußere Papier ab, dann ist hier« – er hob eines der kleinen Päckchen auf – »hier ein Stückchen Schokolade. Jeder wird danach suchen. Ich wette, unsere eigenen Soldaten werden diese Schokolade naschen. Na, und die Kleinen werden das suchen wie Ostereier.« Ein Soldat trat ein, legte ein Blatt gelbes Papier vor den Oberst hin und zog sich zurück. Lanser sah es an und lachte rauh. »Etwas für Sie, Hunter. Zwei weitere Schienenbrüche auf Ihrer Strecke.« Hunter blickte von der Zündkappe, die er untersucht hatte, auf. »Wo haben sie das sonst noch abgeworfen? Überall?« Lanser war irritiert. »Nein, das ist eben das Komische. Ich habe mit der Hauptstadt telefoniert. Hier ist der einzige Ort, wo sie es abgeworfen haben.« »Was halten Sie davon?« fragte Hunter. »Schwer zu sagen. Ich glaube, sie probieren es hier aus. Ich denke, wenn es funktioniert, dann werden sie es überall machen, und wenn es nicht funktioniert, dann werden sie sich nicht weiter damit abgeben.« »Was werden Sie machen?« wollte Hunter wissen. »Ich habe Befehl, dies hier so unbarmherzig zu vernichten, daß es nirgendwo anders mehr versucht wird.« Hunter jammerte: »Wie soll ich fünf Schäden auf der Strecke reparieren? Ich habe nicht genug Schienen dafür!« »Sie werden ein paar alte Schienen irgendwo herausreißen müssen.« »Das wird ein höllisches Geleise geben.« 338
»Nun, wenn es nur überhaupt ein Geleise gibt.« Major Hunter warf die Kapsel, die er geöffnet hatte, zu den übrigen. Loft brach los: »Wir müssen dieser Sache sofort ein Ende machen, Herr Oberst. Wir müssen die Leute verhaften und bestrafen, die diese Dinger aufheben, noch bevor sie sie verwenden. Wir müssen jetzt sehr aktiv sein, damit dieses Volk nicht glaubt, wir seien schwach.« Lanser lächelte ihn an. »Sachte, sachte, Hauptmann. Erst wollen wir doch sehen, womit wir es zu tun haben, und dann erst wollen wir uns die Mittel dagegen überlegen.« Er nahm wieder ein Päckchen von dem Haufen und wickelte es auf. Er nahm das kleine Stück Schokolade, kostete es und sagte: »Teuflische Sache. Noch dazu ist die Schokolade gut. Ich kann selbst nicht widerstehen. Das Süße in dem Knallbonbon.« Er nahm das Dynamit auf. »Was halten Sie nun wirklich davon, Hunter?« »Was ich schon gesagt habe. Es ist sehr billig und wirkungsvoll für kleinere Sachen, Dynamit mit einer Zündkappe und einer Ein-Minuten-Zündung. Es ist gut, wenn man es zu gebrauchen versteht. Wenn nicht, dann nützt es nichts.« Lanser betrachtete die Druckschrift im Inneren der Papierhülle. »Haben Sie das da gelesen?« »Nur angeschaut«, sagte Hunter. »Nun, ich habe es gelesen. Bitte hören Sie gut zu.« Lanser las: »›Dem unbesiegten Volk. Versteckt das. Exponiert euch nicht. Später werdet ihr dies hier brauchen. Es ist ein Geschenk von euren Freunden für euch und von euch 339
für die Eindringlinge in euerm Land. Versucht nicht, große Dinge damit zu machen‹.« Er durchflog murmelnd die Zeilen. »Und jetzt hier: ›die Bahnstrecken, draußen, auf dem Land …‹ und: ›arbeitet nachts‹ und ›unterbindet den Transport …‹ Und jetzt hier: ›Gebrauchsanweisung: Eisenbahngeleise. Lege die Kapsel unter die Schiene, dort wo sie mit der nächsten verbunden ist, dicht an der Schwelle. Erde oder hartgeklopften Schnee darüberpressen, so daß die Kapsel festhält. Ist die Zündschnur angesteckt, zählst du langsam auf sechzig, bis die Explosion eintritt.‹« Er blickte auf und Hunter sagte einfach: »Es funktioniert.« Lanser blickte wieder auf das Papier und durchflog das Geschriebene. »›Brücken. Beschädigen, nicht zerstören.‹ Und hier: ›Telegraphenstangen‹, und hier: ›Bahnübergänge, Güterwagen‹.« Er legte den blauen Zettel hin. »Nun also, da haben wir’s.« Loft sagte zornig: »Wir müssen etwas tun! Es muß doch eine Möglichkeit geben, das zu unterdrücken. Was sagt das Hauptquartier?« Lanser spitzte die Lippen, seine Finger spielten mit einer Kapsel. »Ich hätte Ihnen im voraus sagen können, was die sagen würden. Ich habe die Befehle bekommen. ›Stellen Sie Fallen, vergiften Sie die Schokolade.‹« Er hielt einen Augenblick inne, dann sagte er: »Hunter, ich bin ein gutmütiger, nachsichtiger Mann. Aber manchmal, wenn ich die brillanten Ideen des Hauptquartiers höre, dann wünschte ich, ein Zivilist zu sein, ein alter, verkrüppelter Zivilist. Sie glauben immer, sie hätten es mit 340
dummen Leuten zu tun. Ich behaupte nicht, daß das ein Maßstab für ihre eigene Intelligenz ist. Oder habe ich das gesagt?« Hunter amüsierte sich: »Sollten Sie das gesagt haben?« Lanser erwiderte scharf: »Nein, das habe ich nicht gesagt. Aber was wird schließlich geschehen? Ein Mann wird so ein Ding aufheben und wird durch unsere Falle in Stücke gerissen werden. Ein Kind wird Schokolade essen und an Strychninvergiftung sterben. Und dann?« Er blickte auf seine Hände nieder. »Die Leute werden das Zeug mit Stangen aufspießen oder mit dem Lasso einfangen, bevor sie es anfassen. Sie werden die Schokolade an der Katze ausprobieren. Verdammt noch mal, Major, das sind intelligente Menschen. Dumme Fallen werden sie nicht zweimal fangen.« Loft räusperte sich. »Herr Oberst, das ist Defaitismus. Wir müssen etwas unternehmen. Warum glauben Sie, wurde das nur hier abgeworfen, Herr Oberst?« »Aus einem dieser beiden Gründe: Entweder ist diese Stadt zufällig als erste ausgesucht worden, oder es gibt eine Verbindung zwischen hier und draußen. Wir wissen, daß ein paar junge Männer durchgegangen sind.« Loft wiederholte stumpfsinnig: »Wir müssen etwas tun, Herr Oberst.« Jetzt wandte sich Lanser ihm zu. »Loft, ich glaube, ich werde Sie an den Generalstab empfehlen. Sie wollen sich an die Arbeit machen, bevor Sie überhaupt wissen, um was es eigentlich geht. Wir erleben eine ganz neuartige Besetzung. Früher war es immer möglich, die Leute zu entwaffnen und in Unwissenheit zu halten. Jetzt hören sie 341
Radio, und wir können sie nicht hindern. Wir können nicht einmal ihre Radioapparate finden.« Ein Soldat trat in die Türe. »Herr Corell will Sie sprechen, Herr Oberst.« Lanser antwortete: »Er soll warten.« Er fuhr, gegen Loft gewendet, fort: »Sie lesen Flugzettel; Waffen fallen für sie vom Himmel herunter. Jetzt ist es Dynamit, Hauptmann. Sehr bald können es Granaten sein und dann Gift.« Loft sagte aufgeregt: »Sie haben noch kein Gift abgeworfen.« »Nein, aber sie werden. Können Sie sich vorstellen, was aus der Moral unserer Soldaten wird oder auch aus Ihnen selbst, wenn die Leute so kleine Spielzeugpfeile hätten, wissen Sie, diese lächerlichen kleinen Dinger, mit denen man nach der Scheibe schießt, und wenn die Spitzen zum Beispiel in Blausäure getaucht sind – lautlose, tödliche kleine Dinger, die man nicht kommen hören kann, die durch die Uniform dringen und kein Geräusch machen? Und was geschieht, wenn unsere Soldaten wissen, daß Arsenik verwendet wird? Könnten die Männer in Ruhe essen und trinken? Könnten Sie es selbst?« Hunter sagte trocken: »Entwerfen Sie den Kriegsplan für den Feind, Oberst?« »Nein, ich versuche ihn vorherzusehen.« Loft sagte: »Herr Oberst, wir sitzen hier und reden, während wir schon nach dem Dynamit suchen sollten. Wenn es eine Verschwörung unter diesen Leuten gibt, dann müssen wir sie finden, dann müssen wir sie zerschmettern.« »Ja«, sagte Lanser, »wir müssen sie zerschmettern, un342
erbittlich, glaube ich. Übernehmen Sie einen Bezirk, Loft. Lassen Sie Prackel auch einen übernehmen. Ich wollte, wir hätten mehr junge Offiziere. Daß Tonder ermordet wurde, war nicht gut für uns. Warum konnte er auch die Frauen nicht in Ruhe lassen?« Loft sagte: »Leutnant Prackel gefällt mir nicht, Herr Oberst.« »Was macht er denn?« »Er macht gar nichts. Aber er ist fahrig, und er ist verdrießlich.« »Ja«, sagte Lanser, »ich weiß. Das ist etwas, worüber ich schon viel gesprochen habe. Wissen Sie, ich könnte jetzt Generalmajor sein, wenn ich nicht so viel darüber gesprochen hätte. Wir erziehen unsere jungen Männer für den Sieg und Sie müssen zugeben, im Sieg sind sie großartig. Aber sie wissen nicht genau, wie sie sich in der Niederlage benehmen sollen. Wir haben ihnen gesagt, sie wären tüchtiger und tapferer als andere junge Männer. Es war ein ziemlicher Schock für sie, als sie herausfanden, daß sie kein bißchen tapferer und tüchtiger sind als andere junge Männer.« Loft sagte heftig: »Was meinen Sie mit Niederlage? Wir sind nicht in der Niederlage.« Und Lanser blickte kalt zu ihm auf, eine lange Zeit, und sagte nichts, und schließlich flackerten Lofts Augen und er sagte: »Herr Oberst.« »Danke«, sagte Lanser. »Sie verlangen es nicht von den anderen, Herr Oberst.« »Die denken nicht daran, also ist es keine Ungezogenheit. Wenn Sie es weglassen, ist es ungezogen.« 343
»Ja, Herr Oberst«, sagte Loft. »Gehen Sie jetzt, versuchen Sie Prackel im Zaum zu halten. Beginnen Sie mit Ihren Nachforschungen. Ich wünsche keine Erschießungen, außer es liegt eine offenkundige Untat vor. Verstehen Sie?« »Jawohl, Herr Oberst«, sagte Loft; er salutierte vorschriftsmäßig und verließ das Zimmer. Hunter sah Oberst Lanser amüsiert an. »Waren Sie nicht ein bißchen barsch mit ihm?« »Ich mußte so sein. Er hat Angst. Ich kenne diese Art. Er muß diszipliniert werden, wenn er Angst hat, sonst bricht er zusammen. Er hängt von Disziplin ab, so wie andere Menschen von Sympathie abhängen. Ich glaube, Sie sollten zu Ihrer Bahnstrecke gehen. Sie können sich darauf gefaßt machen, daß man sie heute nacht wirklich sprengen wird, trotz alledem.« Hunter stand auf. »Ja. Ich vermute, die Befehle kommen aus der Hauptstadt?« »Ja.« »Sind sie dort …« »Sie wissen, wie sie dort sind«, unterbrach Lanser. »Sie wissen, was sie befehlen. Nehmt die Anführer, erschießt die Anführer, nehmt Geiseln, erschießt die Geiseln, nehmt noch mehr Geiseln, erschießt sie –« Seine Stimme war angeschwollen, aber jetzt sank sie zu einem Flüstern herab. – »Und der Haß wächst und die Kluft zwischen uns wird tiefer und tiefer.« Hunter zögerte. »Haben sie – schon irgendwen von der Liste verurteilt?« Und er wies gegen das Schlafzimmer des Bürgermeisters. 344
Lanser schüttelte den Kopf. »Nein, noch nicht. Bis jetzt sind sie erst verhaftet.« Hunter sagte still: »Oberst, möchten Sie, daß ich einen Bericht mache – vielleicht sind Sie übermüdet, Oberst? Könnte ich nicht rapportieren, daß Sie übermüdet sind?« Einen Augenblick bedeckte Lanser seine Augen mit der Hand, aber dann strafften sich seine Schultern, und sein Gesicht wurde hart. »Ich bin kein Zivilist, Hunter. Wir haben sowieso schon zu wenig Offiziere. Das wissen Sie. Gehen Sie an Ihre Arbeit, Major. Ich muß Corell empfangen.« Hunter lächelte. Er ging zur Türe und öffnete sie und er sprach hinaus: »Ja, er ist da«, und, über seine Schulter zurück, zu Lanser: »Es ist Prackel. Er möchte Sie sprechen.« »Schicken Sie ihn herein«, sagte Lanser. Prackel kam herein, sein Gesicht war mürrisch und streitbar. »Oberst Lanser, Herr Oberst, ich möchte –« »Setz dich«, sagte Lanser. »Setz dich und ruhe dich einen Moment aus. Sei ein guter Soldat, Leutnant.« Die Steifheit verließ Prackel schnell. Er setzte sich an den Tisch und stützte seine Ellbogen darauf. »Ich möchte –« Und Lanser sagte: »Sprich einen Moment nicht. Ich weiß, was es ist. Du hast nicht gedacht, daß es so sein würde, nicht wahr? Du hast gedacht, es würde sehr hübsch sein.« »Sie hassen uns«, sagte Prackel, »sie hassen uns so sehr.« Lanser lächelte. »Ich bin neugierig, ob ich erraten kann, um was es sich handelt. Es braucht junge Männer, um gu345
te Soldaten zu machen, und junge Männer brauchen junge Frauen, ist es das?« »Ja, das ist es.« »Nun«, sagte Lanser freundlich, »haßt sie dich?« Prackel sah ihn verwirrt an. »Ich weiß nicht, Herr Oberst. Manchmal denke ich, sie ist nur traurig.« »Und du fühlst dich recht elend?« »Mir gefällt es hier nicht, Herr Oberst.« »Nein, du glaubtest, es würde ein Spaß sein, nicht wahr? Leutnant Tonder hatte einen Zusammenbruch und dann ging er fort und bekam ein Messer zwischen die Rippen. Ich könnte dich heimschicken. Willst du heimgeschickt werden, wenn du weißt, daß wir dich hier brauchen?« Prackel sagte unsicher: »Nein, Herr Oberst, das will ich nicht.« »Gut. Jetzt will ich dir etwas sagen und ich hoffe, du wirst es verstehen. Du bist kein Mann mehr. Du bist ein Soldat. Dein Wohlergehen ist nicht wichtig und, Leutnant, dein Leben ist auch nicht sehr wichtig. Wenn du am Leben bleibst, dann wirst du Erinnerungen haben. Das ist ungefähr alles, was du haben wirst. Inzwischen mußt du Befehle übernehmen und sie ausführen. Die meisten dieser Befehle werden unangenehm sein, aber das ist nicht deine Sache. Ich will dir nichts vorlügen, Leutnant. Man hätte dich dafür erziehen sollen, und nicht für die blumenbestreute Straße. Man hätte deine Seele mit Wahrheit formen sollen, nicht sie mit Lügen leiten.« Seine Stimme wurde hart. »Aber du hast dieses Geschäft nun einmal übernommen, Leutnant. Willst du dazu stehen oder davonlaufen? Wir können deine Seele nicht behüten.« 346
Prackel stand auf. »Danke, Herr Oberst.« »Und das Mädchen«, fuhr Lanser fort, »du kannst sie vergewaltigen oder beschützen oder heiraten – das ist alles unwichtig. Wenn du sie nur erschießt, sobald es befohlen wird.« Prackel sagte verstört: »Ja, Herr Oberst. Danke, Herr Oberst.« »Ich versichere dir, es ist besser, wenn man das alles weiß. Ich versichere dir das. Es ist besser, wenn man es weiß. Gehen Sie jetzt, Herr Leutnant. Und wenn Corell noch wartet, dann schicken Sie ihn herein.« Und er blickte Prackel nach, bis er aus der Türe war. * Als Herr Corell eintrat, war er ein anderer Mann. Sein linker Arm war in einer Schlinge und er war nicht mehr der joviale, freundliche, lächelnde Corell. Sein Gesicht war scharf und bitter und seine Augen schielten, wie kleine, tote Schweinsäuglein. »Ich wäre schon früher gekommen, Oberst«, sagte er, »aber Ihr mangelnder Wille zur Zusammenarbeit ließ mich zögern.« »Sie warteten ja die Antwort auf Ihren Bericht ab, soviel ich mich erinnere.« »Ich habe viel mehr als das erwartet. Sie verweigerten mir eine Autoritätsstellung. Sie sagten, ich sei wertlos. Sie haben nicht daran gedacht, daß ich lange vor Ihnen in dieser Stadt war. Sie ließen den Bürgermeister in seinem Amt, entgegen meinem Rat.« 347
Lanser sagte: »Ohne ihn hätten wir wahrscheinlich noch mehr Unordnung gehabt, als wir sowieso schon hatten.« »Das ist Ansichtssache«, entgegnete Corell. »Dieser Mann ist der Anführer von Rebellen.« »Unsinn«, rief Lanser. »Er ist ein ganz einfacher Mann.« Mit seiner gesunden Hand zog Corell ein schwarzes Notizbuch aus der Tasche und öffnete es. »Sie vergessen, Oberst, daß ich meine Quellen habe, daß ich lange vor Ihnen da war. Ich habe Ihnen zu melden, daß Bürgermeister Orden in ständigem Kontakt war mit jedem Geschehen in dieser Gemeinde. In der Nacht, in welcher Leutnant Tonder ermordet wurde, war er in dem Haus, in welchem der Mord begangen worden ist. Als das Mädchen in die Berge floh, hielt es sich bei einem Verwandten Ordens auf. Ich habe sie dort aufgespürt, aber sie war fort. Wann immer Leute geflohen sind, hat Orden davon gewußt und hat ihnen geholfen. Und ich habe sogar den stärksten Verdacht, daß er irgendwie mit diesen kleinen Fallschirmen zu tun hat.« Lanser sagte eifrig: »Aber Sie können es nicht beweisen.« »Nein«, erwiderte Corell, »ich kann es nicht beweisen. Das erste weiß ich, das letztere kann ich nur vermuten. Vielleicht werden Sie jetzt willens sein, mich anzuhören.« Lanser fragte ruhig: »Was schlagen Sie vor?« »Diese Vorschläge, Oberst, sind ein wenig mehr als Vorschläge. Orden muß von jetzt an eine Geisel sein und sein Leben muß von der Ruhe in dieser Gemeinde abhängen. Sein Leben muß von dem Entzünden einer einzigen Zündschnur an einer einzigen Dynamitpatrone abhängen.« Er griff wieder in seine Tasche und zog ein gefaltetes 348
Dokument heraus. Er schlug es auseinander und legte es vor den Oberst hin. »Dies, mein Herr, war die Antwort des Hauptquartiers auf meinen Bericht. Sie werden bemerken, daß es mir eine gewisse Autorität verleiht.« Lanser sah das Papier an und sprach ruhig: »Sie haben also wirklich über meinen Kopf hinweg gehandelt, nicht wahr?« Er blickte Corell mit aufrichtiger Abneigung an. »Ich hörte, Sie seien verletzt worden. Wie ist das geschehen?« »In der Nacht, in der Ihr Leutnant ermordet wurde, hat man mir aufgelauert. Die Patrouille hat mich gerettet. Ein paar Burschen aus der Stadt entflohen in dieser Nacht in meinem Segelschiff. Nun, Oberst, muß ich es noch nachdrücklicher sagen, daß Bürgermeister Orden als Geisel festgehalten werden muß?« Lanser sagte: »Er ist hier, er ist nicht geflohen. Wie können wir ihn noch fester halten?« Plötzlich hörte man aus der Ferne den Ton einer Explosion und beide Männer wandten sich in die Richtung, woher das Krachen kam. Corell sagte: »Da ist es, Oberst. Und Sie wissen ganz genau: Wenn das Experiment glückt, dann wird in jedem besetzten Land Dynamit sein.« Lanser wiederholte leise: »Was schlagen Sie vor?« »Was ich gesagt habe. Orden muß festgehalten werden, zur Sicherheit gegen Rebellion.« »Und wenn sie rebellieren und wir Orden erschießen?« »Dann kommt dieser kleine Doktor als nächster; obwohl er keine Stellung hat, ist er die nächste Autorität in dieser Stadt.« 349
»Aber er hat kein Amt inne.« »Er hat das Vertrauen des Volkes.« »Und wenn wir ihn erschießen, was dann?« »Dann haben wir die Autorität. Dann wird die Rebellion niedergeschlagen sein. Wenn wir die Anführer getötet haben, wird die Rebellion niedergeschlagen sein.« Lanser fragte höhnisch: »Glauben Sie das wirklich?« »Es muß so sein.« Lanser schüttelte langsam den Kopf und dann rief er: »Wache!« Die Türe öffnete sich und ein Soldat erschien. »Wachtmeister«, sagte Lanser, »ich erkläre Bürgermeister Orden als verhaftet, und ich erkläre Doktor Winter als verhaftet. Sie sorgen dafür, daß Orden bewacht wird und sie bringen Winter sofort hierher.« Die Wache sagte: »Jawohl, Herr Oberst.« Lanser sah Corell an. »Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun. Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun.«
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8. Kapitel In der kleinen Stadt verbreiteten sich die Neuigkeiten schnell. Unter den Haustoren wurden sie weitererzählt, mit erregtem Flüstern, mit raschen, bedeutungsvollen Blicken. – »Der Bürgermeister ist verhaftet worden« – und durch die Stadt lief ein verhaltener, stummer Jubel, ein wilder, verhaltener Jubel, und die Menschen sprachen leise miteinander und sonderten sich ab, und Leute, die Eßwaren kauften, lehnten sich über den Ladentisch und wechselten ein paar heimliche Worte mit dem Verkäufer. * Die Leute gingen auf das Land, in die Wälder, auf der Suche nach Dynamit. Und Kinder, die im Schnee spielten, fanden das Dynamit, und jetzt wußten sogar schon die Kinder, was sie zu tun hatten. Sie öffneten die Päckchen, aßen die Schokolade, und dann vergruben sie das Dynamit im Schnee und sagten ihren Eltern, wo es sei. Weit draußen, auf dem Lande, hob ein Mann eine Kapsel auf, las die Gebrauchsanweisung und sagte zu sich selbst: »Ich möchte wissen, ob es funktioniert.« Er steckte die Kapsel aufrecht in den Schnee und brannte die Zünd351
schnur an und lief davon und zählte, aber er zählte zu schnell. Er war bei achtundsechzig angelangt, bevor das Dynamit explodierte. Er sagte: »Es funktioniert.« Und er machte sich eilig auf die Suche nach weiterem Dynamit. Fast wie auf ein Zeichen hin gingen die Leute in ihre Häuser, und die Türen wurden verschlossen, ausgestorben lagen die Straßen da. Im Bergwerk durchsuchten die Soldaten jeden Arbeiter, der in die Stollen einfuhr, sorgfältig, durchsuchten und durchsuchten nochmals, und die Soldaten waren nervös und grob, und sie redeten barsch mit den Arbeitern. Und die Arbeiter blickten sie kalt an, und in ihren Augen war ein verhaltener, wilder Jubel. Im Wohnzimmer des Bürgermeisters war der Tisch fortgeräumt worden, und ein Soldat stand Wache an Bürgermeister Ordens Schlafzimmertüre. Annie kniete vor dem Kamin und warf kleine Kohlenstücke ins Feuer. Sie blickte zur Wache auf, die vor Bürgermeister Ordens Türe stand, und sie fragte heftig: »Na? Was werdet ihr mit ihm machen?« Der Soldat antwortete nicht. * Die Flurtüre öffnete sich und ein zweiter Soldat trat ein und hielt Doktor Winter am Arm fest. Er schloß die Türe und stellte sich davor auf. Doktor Winter sagte: »Hallo, Annie! Wie geht es Seiner Exzellenz?« Annie zeigte auf das Schlafzimmer: »Er ist da drinnen.« »Er ist doch nicht krank?« fragte der Doktor. »Nein, scheinbar nicht. Ich will sehen, ob ich ihm sagen kann, daß Sie hier sind.« Sie ging zur Wache und sagte 352
herrisch: »Sag Seiner Exzellenz, daß Herr Doktor Winter hier ist. Hörst du?« Die Wache antwortete nicht und rührte sich nicht, aber hinter ihr öffnete sich die Türe, und Bürgermeister Orden stand auf der Schwelle. Er ignorierte die Wache, streifte an ihr vorbei und trat ins Zimmer. Einen Augenblick überlegte der Soldat, ob er den Bürgermeister zurückholen solle, aber dann trat er an seinen Platz vor der Türe zurück. Orden sagte: »Danke, Annie. Geh nicht weit fort, bitte. Vielleicht brauche ich dich.« Annie sagte: »Ja, Exzellenz, ich bleibe in der Nähe. Geht es Madame gut?« »Sie macht sich das Haar. Willst du sie sehen, Annie?« »Ja, Exzellenz.« Und auch Annie fegte an der Wache vorbei, ging in das Schlafzimmer und schloß die Türe. Orden sagte: »Wolltest du etwas Bestimmtes, Doktor?« Winter lachte grimmig und zeigte über seine Schulter auf die Wache vor der Eingangstüre. »Nun, ich vermute, ich bin verhaftet. Mein junger Freund hier hat mich hergebracht.« Orden meinte: »Es mußte wohl so kommen. Ich bin neugierig, was sie jetzt tun werden.« Und die beiden Männer blickten einander lange an, und jeder wußte, was der andere dachte. * Dann fuhr Orden fort, als hätte er die Gedanken ausgesprochen: »Weißt du, ich könnte es nicht aufhalten, selbst wenn ich wollte.« 353
»Das weiß ich«, sagte Winter, »aber sie wissen es nicht.« Und er spann seinen Gedanken fort. »Ein pünktliches Volk. Und sie haben schon fast keine Zeit mehr. Sie glauben, weil sie eine Herde sind, die nur von wenigen geführt wird, wir seien alle so. Sie wissen, wenn zehn Köpfe fallen, sind sie vernichtet. Wir aber sind ein freies Volk; wir haben so viele Köpfe, als wir Menschen haben und in Zeiten der Not schießen die Anführer bei uns hervor wie die Pilze.« Orden legte Winter die Hand auf die Schulter. »Ich danke dir. Ich habe es gewußt, aber es tut gut, es von dir zu hören. Das kleine Volk wird nicht untergehen, nicht wahr?« Ängstlich forschte er in Winters Gesicht. Und der Doktor versicherte ihm: »Aber sicher nicht! Tatsache ist, sie werden stärker werden mit Hilfe von außen.« Einen Augenblick war es ganz still im Zimmer. Die Wache veränderte ihre Stellung ein wenig und ihr Gewehr klapperte gegen einen Knopf. Orden sagte: »Mit dir kann ich sprechen, Doktor, und wahrscheinlich werde ich nicht wieder sprechen können. Es gibt ein paar kleine, beschämende Dinge, die mich bedrücken.« Er hüstelte und schaute den strammstehenden Soldaten an, aber der schien absolut nichts zu hören. »Ich habe an meinen Tod gedacht. Wenn sie ihre gewohnte Methode verfolgen, dann müssen sie mich töten, und dann müssen sie dich töten.« Und als Winter schwieg, sagte er: »Nicht wahr?« »Ja, ich vermute.« Winter ging zu einem der vergoldeten Stühle, und als er sich eben setzen wollte, bemerkte er, daß der Überzug zerrissen war, und er strich mit seinen Fingern über den Sitz, als ob er ihn damit heil machen 354
könnte, und er setzte sich vorsichtig nieder, weil ein Riß da war. Orden fuhr fort: »Weißt du, ich habe Angst, ich habe mir verschiedene Möglichkeiten überlegt, zu fliehen, aus all dem rauszukommen. Ich habe daran gedacht, fortzulaufen. Ich habe daran gedacht, um mein Leben zu betteln – und deshalb schäme ich mich.« Winter blickte auf. »Aber du hast es nicht getan?« »Nein.« »Und du wirst es nicht tun?« Orden zögerte. »Nein, ich werde es nicht tun. Aber ich habe daran gedacht.« Winter sagte zart: »Woher weißt du, daß nicht jeder daran denkt? Woher weißt du, daß ich nicht daran gedacht habe?« »Ich möchte wissen, warum sie dich auch verhaftet haben«, sagte Orden. »Ich glaube, sie werden dich auch töten müssen.« »Das nehme ich an«, sagte Winter. Er drehte die Daumen und schaute zu, wie sie umeinanderwirbelten. »Das weißt du.« Orden schwieg eine Weile, dann fuhr er fort: »Weißt du, Doktor, ich bin ein kleiner Mann, und dies ist eine kleine Stadt, aber es muß in kleinen Männern einen Funken geben, der zur Flamme auflodern kann. Ich habe Angst, ich habe schreckliche Angst, und ich habe an all das gedacht, was ich tun könnte, um mein eigenes Leben zu retten. Und dann ist das vergangen, und jetzt empfinde ich manchmal so eine Art Frohlocken, so, als wäre ich größer und besser als ich bin – und weißt du, was ich gedacht habe, Doktor?« Er lächelte 355
in der Erinnerung. »Weißt du noch, in der Schule, in der Apologie? Erinnerst du dich noch, wie Sokrates sagt: ›Jemand wird sagen: Und schämst du dich nicht, o Sokrates, eines Lebenslaufes, welcher so beschaffen ist, daß er dich zu einem vorzeitigen Ende bringt? – diesem mag ich wohl antworten: Hier irrst du. Ein wahrhaft guter Mann berechnet nicht die Möglichkeiten zu leben oder zu sterben; er bedenkt nur, ob er recht oder unrecht handelt.‹« Orden machte eine Pause und versuchte, sich zu besinnen. Doktor Winter beugte sich gespannt vor. Er setzte fort: »›Ob er die Rolle eines guten oder eines schlechten Menschen spielt.‹ Ich glaube nicht, daß du es ganz richtig gesagt hast. Du warst nie ein guter Schüler. Du hast auch in Sokrates’ Anklagerede Fehler gemacht.« Orden kicherte. »Daran erinnerst du dich?« »Ja«, sagte Winter eifrig, »daran erinnere ich mich gut. Du hast eine Zeile ausgelassen, oder ein Wort. Es war bei den Schlußprüfungen, und du warst so aufgeregt, daß du vergaßest, deinen Hemdzipfel hineinzustecken, und dein Hemdzipfel hing heraus. Du konntest nicht verstehen, warum die Jungens so lachten.« Orden lächelte vor sich hin, und heimlich wanderte seine Hand an seine Kehrseite, um den losen Hemdzipfel zu suchen. »Ich fühlte mich als Sokrates«, sagte er, »und ich klagte die Lehrerkommission an. Und wie ich sie anklagte! Ich brüllte geradezu und ich konnte sehen, wie sie rot wurden.« »Sie hielten ihren Atem an, um nicht zu lachen. Dein Hemdzipfel hing heraus.« 356
Bürgermeister Orden lachte: »Wie lange ist das her? Vierzig Jahre?« »Sechsundvierzig.« Der Soldat bei dem Schlafzimmer schlich hinüber zum Soldat vor der Flurtüre. Sie redeten leise, aus den Mundwinkeln, wie Kinder, die in der Schule miteinander flüstern. »Wie lange machst du schon Dienst?« »Die ganze Nacht. Kann meine Augen kaum offenhalten.« »Ich auch. Mit dem Schiff gestern Post von deiner Frau gekommen.« »Ja! Sie läßt dich grüßen. Sie hätte gehört, du seiest verwundet. Schreibt nicht viel.« »Schreib’ ihr, ich bin gesund.« »Jawohl – wenn ich ihr schreibe.« Der Bürgermeister legte den Kopf zurück und blickte nach der Zimmerdecke und murmelte: »Hm – hm – hm. Ich bin neugierig, ob ich mich noch daran erinnern kann – wie geht es?« Winter soufflierte: »Und nun, o Männer – –« Und Orden sprach leise: »Und nun, o Männer, die Ihr mich verurteilt habt – –« Oberst Lanser trat leise ins Zimmer; die Wache stand stramm. Als er die Worte Ordens hörte, blieb Lanser stehen und lauschte. * Orden blickte zur Decke auf, ganz hingegeben an sein Bemühen, sich der alten Worte zu erinnern. »›Und nun, o 357
Männer, die ihr mich verurteilt habt -‹«, sagte er, »›möchte ich euch gerne prophezeien; – denn ich bin am Sterben – und in der – Todesstunde – sind dem Menschen prophetische Kräfte eigen. Und ich prophezeie euch – die ihr meine Mörder seid, – daß unmittelbar nach meinem – meinem Tod -‹« Winter stand auf und sagte: »Hingang.« Orden schaute ihn an. »Wie?« »Das Wort heißt ›Hingang‹, nicht ›Tod‹. Du hast den gleichen Fehler schon mal gemacht. Du hast diesen Fehler schon vor sechsundvierzig Jahren gemacht.« »Nein, es heißt Tod. Es heißt Tod.« Orden blickte um sich und sah Lanser, der ihn anschaute. Orden fragte: »Tod, nicht wahr?« Oberst Lanser sagte: »›Hingang‹. Es heißt: ›unmittelbar nach meinem Hingang‹.« Doktor Winter beharrte: »Siehst du, das sind zwei gegen einen. ›Hingang‹ ist das Wort. Du hast schon mal den gleichen Fehler gemacht.« Orden sah gerade vor sich hin, sein Blick war nach innen gekehrt und las in seiner Erinnerung, er sah nichts von dem, was um ihn war. Und er fuhr fort. »›Ich prophezeie euch, die ihr meine Mörder seid, daß unmittelbar nach meinem – Hingang eine Strafe, weit schwerer, als ihr sie über mich verhängt habt, ganz gewiß euch treffen wird.‹« Winter nickte ermutigend, und Oberst Lanser nickte, und sie schienen ihm helfen zu wollen, sich zu erinnern. Und Orden sprach weiter: »›Mich tötet ihr, weil ihr dem Ankläger entrinnen und keine Abrechnung geben wollt über euer Leben –!‹« 358
Leutnant Prackel trat aufgeregt ein und rief: »Herr Oberst Lanser!« Oberst Lanser sagte: »Sch–!« und streckte die Hand aus, um Prackel zurückzuhalten. Und Orden fuhr leise fort: »›Aber es wird nicht so sein, wie ihr glaubt, weit anders.‹« Seine Stimme wurde lauter: »›Denn ich sage euch, daß euch weit mehr Ankläger erstehen werden, als deren jetzt sind‹« – er machte eine kleine Handbewegung, wie ein Redner – »›Ankläger, die ich bis zur Stunde im Zaum gehalten habe; und da sie jünger sind, werden sie rücksichtsloser gegen euch sein, und ihr werdet gekränkter von ihnen sein!‹« Er runzelte die Stirne und versuchte, sich weiter zu besinnen. Prackel sagte: »Herr Oberst, wir haben ein paar Männer mit Dynamit gefunden.« Lanser sagte: »Still!« Orden fuhr fort: »›Wenn ihr glaubt, daß ihr, indem ihr Menschen tötet, jemanden daran verhindern könnt, euer böses Leben zu tadeln, so irrt ihr.‹« Er runzelte die Stirn und dachte nach und blickte zur Decke auf, und dann lächelte er verlegen und sagte: »Das ist alles, woran ich mich erinnern kann. Das übrige ist mir entfallen.« Und Doktor Winter meinte: »Das ist ganz schön, nach sechsundvierzig Jahren. Und so sehr gut hast du es vor sechsundvierzig Jahren auch nicht gekonnt.« Leutnant Prackel unterbrach: »Die Männer haben Dynamit, Herr Oberst.« »Sind sie verhaftet?« »Ja, Herr Oberst. Hauptmann Loft und –« – Lanser sagte: »Sagen Sie Loft, er soll sie bewachen las359
sen.« Er riß sich zusammen und trat an den Bürgermeister heran. »Orden, diese Dinge müssen aufhören.« Der Bürgermeister lächelte ihn hilflos an. »Sie können nicht aufhören, Herr Oberst.« Oberst Lanser sagte barsch: »Ich verhafte Sie als Geisel für das gute Verhalten Ihres Volkes. Das sind meine Befehle.« »Aber dadurch wird es nicht aufhören«, sagte Orden einfach. »Sie verstehen das nicht. Wenn ich für die Leute ein Hindernis geworden bin, dann werden sie es ohne mich machen.« »Sagen Sie mir ehrlich, was Sie denken. Wenn die Leute wissen, daß Sie erschossen werden, wenn sie noch eine Dynamitpatrone anzünden – was werden sie tun?« * Der Bürgermeister schaute hilflos Doktor Winter an. Und dann öffnete sich die Schlafzimmertüre und Madame kam heraus und trug die Amtskette des Bürgermeisters in der Hand. Sie sagte: »Du hast das vergessen.« »Was? O ja«, und Orden neigte seinen Kopf, und Madame streifte ihm die Kette über den Kopf, und er sagte: »Danke, mein Liebes.« Madame klagte: »Du vergißt es immer. Die ganze Zeit vergißt du es.« Der Bürgermeister betrachtete das Ende der Kette in seiner Hand, die goldene Medaille mit den eingravierten Insignien seines Amtes. Lanser drängte ihn: »Was werden sie tun?« 360
»Ich weiß nicht«, sagte der Bürgermeister, »ich glaube, sie werden das Dynamit anzünden.« »Angenommen, Sie bitten die Leute, es nicht zu tun?« Orden schien halb zu schlafen. Seine Augenlider waren herabgesunken, er versuchte nachzudenken. Er sagte: »Ich bin kein sehr tapferer Mann, Herr Oberst. Ich glaube, sie werden es in jedem Fall anzünden.« Er sprach stockend. »Ich hoffe es. Aber wenn ich sie bitte, es nicht zu tun, dann werden sie traurig sein.« Madame sagte: »Wovon redet ihr denn da?« »Sei einen Augenblick still, mein Liebes«, sagte der Bürgermeister. »Aber Sie glauben, die Leute werden es anzünden?« beharrte Lanser. Der Bürgermeister sprach stolz: »Ja, die Leute werden es anzünden. Ich kann nicht wählen zwischen Leben und Sterben, Herr Oberst, sehen Sie – aber ich kann wählen, wie ich es tue. Wenn ich dem Volk sage, es soll nicht kämpfen, dann wird es traurig sein, aber es wird kämpfen. Wenn ich ihm sage, es soll kämpfen, dann wird es froh sein, und ich, der ich kein sehr tapferer Mann bin, werde mein Volk ein wenig tapferer gemacht haben.« Er lächelte entschuldigend. »Wissen Sie, es ist leicht, da das Ende für mich das gleiche sein wird.« Lanser sagte: »Wenn Sie ja sagen, können wir dem Volk erzählen, Sie hätten nein gesagt. Wir können erzählen, Sie hätten um Ihr Leben gebeten.« Winter unterbrach ärgerlich: »Das Volk würde es wissen. Ihr könnt keine Geheimnisse bewahren. Einer von euren Männern hat eines Abends den Verstand verloren 361
und hat gesagt, die Fliegen erobern das Fliegenpapier, und jetzt kennt das ganze Land seine Worte. Man hat ein Lied darauf gemacht, die Fliegen erobern das Fliegenpapier. Ihr könnt keine Geheimnisse bewahren, Oberst.« Aus der Richtung des Kohlenbergwerks schrillte eine Pfeife. Ein rascher Windstoß trieb trockenen Schnee gegen die Fenster. Orden spielte mit seiner goldenen Medaille. Er sagte still: »Sehen Sie, Herr Oberst, das ist nicht zu ändern. Ihr werdet vernichtet werden und ausgetrieben.« Seine Stimme war sehr leise. »Das Volk will nicht besiegt werden, also wird es nicht besiegt werden. Freie Menschen können keinen Krieg beginnen, aber wenn er einmal begonnen ist, dann können sie auch in der Niederlage weiterkämpfen. Herdenmenschen können das nicht. Und darum sind es immer die Herdenmenschen, die Schlachten gewinnen und die freien Menschen, die Kriege gewinnen. Sie werden sehen, daß es so ist, Herr Oberst.« Lanser stand aufrecht und steif da. »Meine Befehle sind deutlich. Ab elf Uhr gelten die Bedingungen. Ich habe Geiseln. Bei der ersten Gewalttat werden die Geiseln hingerichtet.« Winter fragte den Oberst: »Werden Sie die Befehle ausführen, obwohl Sie wissen, daß es nichts nützt?« Lansers Gesicht war angespannt. »Ich werde meine Befehle ausführen, was immer auch geschieht. Aber ich denke doch, Exzellenz, eine Proklamation von Ihnen würde vielen das Leben retten.« Madame rief klagend: »Ich wollte, ihr würdet mir sagen, was all dieser Unsinn bedeutet!« »Unsinn, mein Liebes.« 362
»Aber sie können doch den Bürgermeister nicht verhaften«, erklärte sie. Orden lächelte sie an. »Nein«, sagte er, »sie können den Bürgermeister nicht verhaften. Der Bürgermeister ist ein Begriff in den Herzen freier Menschen. Er wird der Haft entfliehen.« Aus der Ferne hörte man den Lärm einer Explosion. Und das Echo brach sich an den Bergen und rollte wieder zurück. Die Pfeifen in dem Kohlenbergwerk gaben ein schrilles, scharfes Warnsignal. Orden stand einen Augenblick sehr angespannt da, dann lächelte er. Eine zweite Explosion brüllte auf – diesmal näher und schwerer – und das Echo rollte von den Bergen wider. Orden schaute auf seine Uhr, und dann nahm er seine Uhr und Kette und legte sie in Doktor Winters Hand. »Wie ging das mit dem Fliegenpapier?« fragte er. »Die Fliegen erobern das Fliegenpapier.« Orden rief: »Annie!« Die Schlafzimmertüre öffnete sich augenblicklich, und der Bürgermeister sagte: »Hast du gehorcht?« »Ja, Exzellenz.« Annie war verlegen. Und jetzt donnerte eine Explosion ganz in der Nähe, man hörte splitterndes Holz und klirrendes Glas, und die Türe hinter den Wachposten flog auf. Und Orden sagte: »Annie, ich möchte, daß du bei Madame bleibst, solange sie dich braucht. Laß sie nicht allein.« Er legte seinen Arm um Madame und küßte sie auf die Stirne und dann ging er langsam auf die Türe zu, an der Leutnant Prackel stand. Auf der Schwelle wandte er sich nach Doktor Winter um. »Mein Kriton, wir schulden dem Asklepios noch 363
einen Hahn«, sagte er weich, »willst du daran denken, diese Schuld zu bezahlen?« Winter schloß einen Augenblick die Augen, bevor er antwortete: »Die Schuld wird bezahlt.« Da kicherte Orden. »Das weiß ich noch. Diese Stelle habe ich nicht vergessen.« Er legte die Hand auf Prackels Arm, und der Leutnant wich vor ihm zurück. Und Winter nickte langsam. »Ja, das weißt du. Die Schuld wird bezahlt.«
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