Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Karl Heinz Berger Die Spuren schrecken
Kriminalroman
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Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Karl Heinz Berger Die Spuren schrecken
Kriminalroman
Aufregende Tage für den Historiker Professor Hermann Maul: Seit Hauptmann Habnicht ihn aufgesucht hat, weil Gretel König, eine junge Krankenschwester, getötet wurde, kommt er nicht mehr zur Ruhe. Ist Jakob, sein Sohn, der Mörder, wie der Kriminalist vermutet? Die Ungewißheit quält und treibt ihn, ihm unbekannte Wege zu verfolgen, die Jakob gegangen ist. Und er hofft beweisen zu können, daß der Schein trügt. Er stößt auf Spuren: Spuren, die ihn schrecken – je näher sie ihn der Wahrheit bringen, desto mehr.
Karl Heinz Berger
Die Spuren schrecken
Verlag Das Neue Berlin
Die Geschichte ist erfunden. Ähnlichkeiten mit Personen und tatsächlichen Begebenheiten wären zufällig.
ISBN 3-360-00060-9 1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1987 Lizenz-Nr.: 409-160/243/87 • LSV 7004 Umschlaggestaltung: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 09/2010 622 782 5 00200
1. Hilflos standen wir am Fenster und blickten ihnen hinterher. Sie gingen durch den Garten auf die Pforte zu, links der Bullige (Kragenweite mindestens vierundvierzig), der das rechte Bein ein wenig nachzog, rechts sein jüngerer Begleiter, der aussah, als sollte er eher in einem Konfektionsgeschäft bedienen, statt sich einer solch ernsthaften Angelegenheit zu widmen. Der Bullige patschte durch die Schneereste, schwerfällig wie ein alt gewordener Ringer und selbstbewußt – so schien es jedenfalls von hinten. Und ich brachte es nicht fertig, mich vom Fenster wegzubewegen. Auch nachdem sie in den direkt vor unserem Haus geparkten Lada eingestiegen waren und der Wagen hinter den alten Pappeln, die den Grünen Weg säumen, verschwand, starrte ich noch nach draußen; sah ein Rudel Kinder aus der Schule nach Hause kommen, wie immer gegen zwei Uhr, und den alten Mirbach von gegenüber mit seinem Hund, einem Bernhardiner, groß wie ein Kalb und stumpfsinnig wie sein „Herrchen“, der ehemalige Haushaltwarenhändler, dessen Geschäft am Bahnhof jetzt vom Sohn und der Schwiegertochter geführt wurde. „Wie hieß der Mann?“ fragte Irene. „Ich meine den Dicken.“ 6
„Habicht oder Harbig … Als ob es darauf ankäme!“ Irene bewies einmal mehr ihr Talent, genau das Falsche zu sagen, was früher ja ganz reizvoll gewesen sein mochte und auf Gesellschaften die Leute amüsiert hatte. Aber nach fast dreißig Jahren Ehe wirkte das nur noch manieriert und war im besten Fall mit altersbedingter Konzentrationsschwäche zu entschuldigen. „Jedenfalls will er Jakob an den Kragen, das hast du doch wohl mitbekommen.“ „Für wie dumm hältst du mich eigentlich?“ „Wenn du so fragst …“ Ich mußte mich zusammennehmen, wußte ich, um in dieser prekären Situation nicht eine von den Zänkereien vom Zaun zu brechen, mit denen wir uns in den letzten Jahren immer häufiger die immer weniger werdende Zeit vertrieben, die wir miteinander verbrachten. Die Sache war viel zu ernst, als daß wir sie mit Lappalien hätten zudecken dürfen. Ich sah zu ihr hinüber: Sie stand steif wie ich am Fenster, die Augen nach draußen gerichtet, die rechte Hand in den Store gekrampft. „Komm“, sagte ich, „setzen wir uns. Wir müssen überlegen.“ Sie ließ den Vorhang los und wandte sich mir zu, mit leerem Blick und baumelnden Armen. „Was gibt es da zu überlegen?“ Die Wörter kamen ihr nur zögernd aus dem Mund, als widersetze sich die Zunge. Es schien, als wollte sie auf der Stelle zusammenbrechen. Die Tränensäcke unter ihren Augen, die sich trotz allmorgendlicher Massage nach der kalten Dusche und vor dem Auflegen des Make-up immer deutlicher abzeichneten, beherrschten ihr Gesicht mit einer Intensität, die mir bisher noch nicht so deutlich geworden war. Irene war eine alte Frau, das wurde mir in diesem Moment klar, oder vielmehr eine verbrauchte, eine sehr müde Frau, die schon nicht mehr recht zu wissen schien, was sie in diesem Leben sollte, nach nicht einmal fünfzig Lebensjahren. „Komm“, wiederholte ich und nahm ihren Arm. Sie 7
ließ sich zu ihrem Sessel vor dem Fernsehapparat führen; ich setzte mich in meinen. Und so saßen wir nebeneinander, wie wir am Fenster beieinander gestanden hatten, schweigend, der eine vom anderen isoliert, und starrten den grauen, toten Bildschirm an. „Wir müßten mit Jakob sprechen können. Es nützt uns nichts, wenn wir uns Gedanken machen, solange wir nicht wissen, was wirklich vorgefallen ist.“ „Jakob hätte mehr mit uns sprechen sollen.“ Irenes Gerede ging mir wieder einmal auf die Nerven. „Du weißt doch, wie er ist – wie er geworden ist.“ Ja, bei Gott, das wußte ich, leider. Seit er vor anderthalb Jahren von der Armee zurückgekehrt war und als Pfleger in einer Klinik arbeitete, weil er noch keinen Studienplatz für Medizin bekommen konnte, hatte er sich mehr und mehr von uns entfernt, wie man so treffend sagt. Nicht, daß er ausgezogen wäre – dazu konnte er sich nicht aufraffen. Er bewohnte noch immer das Zimmer im oberen Stockwerk, das wir ihm eingerichtet hatten, als wir vor fünfzehn Jahren das Haus kauften; natürlich war es inzwischen völlig neu möbliert, ganz nach seinem Geschmack, und es kam mir vor wie eine Mischung aus Tonstudio und Räuberhöhle. Aber die Bindung an uns war schwächer und schwächer geworden. Wir sahen ihn selten, was natürlich auch eine Folge seiner Schicht- und Wochenenddienste war. Doch der eigentliche Grund für die wachsende Distanz war das nicht; den mußte man wohl in der manchmal nur zu erahnenden, dann wieder sehr deutlich zur Schau gestellten Mißbilligung unserer Art zu leben suchen. Er aß kaum noch mit uns, und wenn wir schon einmal gemeinsam zu Tisch saßen, drehten sich die Gespräche um Nebensächliches, vielleicht um Reparaturen, die am Haus oder im Haus vorgenommen werden mußten, oder um Arbeit im Garten (für Fußball interessierte er sich seit langem nicht mehr, so daß auch dieses Gebiet, auf 8
dem man so bequem unverbindlich miteinander dialogisieren konnte, verlorengegangen war). Selten erzählte er von Begebenheiten in der Klinik, und wenn er doch mal über seine Arbeit sprach, spürte man, wie sehr ihm das Schicksal mancher Kranken zusetzte. Er blieb oft über Nacht fort, auch wenn er keinen Dienst hatte, und wir wußten dann nicht, wo er sich aufhielt. Zwei- oder dreimal hatte er eine junge blonde Frau mitgebracht und sich mit ihr in sein Zimmer zurückgezogen, hatte sie uns beim ersten Mal als Ramona vorgestellt und war ablehnend und gar nicht auskunftsbereit gewesen, als Irene ihn nach einigen Wochen fragte, warum denn diese Ramona nicht mehr komme. Jedenfalls hatten wir sie ungefähr seit Jahresanfang nicht mehr gesehen und seit dieser Zeit auch Florian und Sebastian nicht mehr, seine beiden besten Freunde noch aus Schultagen, die doch sonst alle naselang gekommen waren und von dem Haus buchstäblich Besitz ergriffen hatten, so daß wir uns mehr als einmal, vor allem wegen der überlauten Musik, die das Gemäuer erschütterte, empfindlich gestört fühlten. Jakob war ein anderer geworden, einer, den wir nicht mehr so recht, eigentlich überhaupt nicht kannten. Das wußte auch Irene, obwohl sie es nicht wahrhaben wollte und mit ihm, dem hochgewachsenen jungen Mann, dem sie gerade noch bis zur Schulter reichte, wie mit einem Jungen umzugehen versuchte (was er dann stets mit einer an Arroganz grenzenden gleichmütigen Art duldete). „Aber wenn das stimmt, was der Mann sagt … Das wäre doch fürchterlich.“ Irenes Stimme war um eine Terz tiefer gerutscht und kaum noch verständlich, und ich wußte, ohne hinzusehen, daß ihre Unterlippe jetzt zitterte und daß sie gleich zu weinen anfangen würde, wenn ich ihrer Larmoyanz nicht mit einem sachlichen oder barschen Wort Einhalt gebot. In letzterem Fall würde sich zwar ihre stille Ver9
zweiflung in die Attitüde der unverstandenen Frau wandeln und sich zänkisch gegen mich kehren, aber das schien mir immer noch besser, als sie in Tränen schwimmen zu sehen. Also sagte ich: „Fürchterlich ist, wie du dich aufführst.“ Dabei war mir gar nicht wohl, sie willentlich zu kränken. Die Angst, daß die Anschuldigung gegen Jakob zutreffen könnte, saß mir doch selbst wie ein harter Klumpen in der Brust. Aber ich konnte nicht anders als grob reagieren; die Abnutzungserscheinungen an unserer Ehe, denen ich tagtäglich zu begegnen meinte, hatten mich eben reizbar gemacht. „Jedenfalls ist Jakob kein brutaler Mensch“, fügte ich in sachlicherem Ton hinzu, auch um mir selber Mut zuzusprechen. „Wir kennen ihn besser als die Burschen von der Polizei. Und er ist erst recht kein Mörder.“ „Aber er ist doch wirklich nicht mehr nach Hause gekommen, seit Montag, als er zur Arbeit ging. Und jetzt ist Mittwoch, und wir haben kein Lebenszeichen von ihm.“ Nun fing sie doch an zu weinen, und ich hielt es nicht mehr aus in meinem Sessel, die Augen auf den toten Bildschirm gerichtet. Wenn ich ein Problem habe, auch wenn ich mit der Arbeit nicht vorankomme, muß ich hin- und hergehen, das hilft mir, die Gedanken zu ordnen (in meinem Arbeitszimmer ist im Lauf der Jahre in den Teppichflor geradezu ein Pfad getrampelt, der die Strecke markiert, die ich tausendmal vom Schreibtisch zur Bücherwand und retour zurückgelegt habe). Ich ging, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt, zum Büfett, über dem die schöne Stadtlandschaft in blassen, kühlen Farben von Hörster hängt, und wieder zum Sessel, blieb für einen Augenblick hinter Irene stehen, die reglos verharrte und sich nicht einmal nach mir umwandte, und das wiederholte ich an die zehn Mal. Aber es klärte sich nichts in meinem Kopf; die Über10
legungen verknäuelten sich, tanzten wild um eine Mitte, um Jakob. So deutlich wie sonst nie, wenn er leibhaftig vor mir stand, sah ich in diesem Moment das herb gewordene männliche Gesicht mit der langen geraden Nase, den zu ernst blickenden grauen Augen, dem eckigen bartumwucherten Mund – dieses Gesicht, in dem Irene noch immer vergebens das des eher weichen und fröhlichen Kindes suchte. Ich hörte wieder den älteren, bulligen Mann mit kühler Stimme sagen, er müsse uns wohl nicht darauf hinweisen, daß es unsere Pflicht sei, sofort Mitteilung zu machen, falls Jakob hier auftauchte. Und dann hatten sie irgendein amtliches Papier vorgezeigt und waren in Jakobs Zimmer hinaufgegangen, um sich „erst einmal umzusehen“, wie sie sich ausdrückten. Ich hatte im Türrahmen gestanden und zugeschaut, wie sie mit professioneller Gelassenheit herumstöberten: die beiden Hosen im Kleiderschrank und den grünen Parka am Haken abtasteten, im Wäschefach die Unterhemden auseinanderfalteten, in der Schublade mit den Socken herumwühlten, jede Schallplatte aus ihrer Hülle nahmen, das halbe Hundert Bücher durchblätterten, die Tonbänder mißtrauisch beäugten, die wenigen Briefe und die sonst beschriebenen Blätter lasen. („Ihr Sohn verfertigt wohl Gedichte“, hatte der Jüngere gesagt, und mir blieb nichts, als verlegen zu nicken – in Wirklichkeit wußte ich nichts davon.) Ob sie etwas Bestimmtes suchten, hatte ich gefragt, war aber keiner Antwort gewürdigt worden. Der Bullige hatte gesagt, man werde die Schriftstücke erst einmal gegen Quittung beschlagnahmen müssen, und: „Wenn Sie dem Zimmer noch etwas entnehmen wollen, Herr Professor, dann tun Sie’s gleich.“ Beschlagnahmen – entnehmen … Was für ein Vokabular! In mir war Empörung aufgekommen, als sie schließlich die Tür mit einem Papierstreifen versiegelten. In meinem Haus, dachte ich, in meinem eigenen Haus! „Wir müssen etwas tun“, sagte Irene. Sie stand auf, 11
viel zu forsch für ihre sonst eher träge Art, sich zu bewegen, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, schnaubte die Nase. Sie sah zum Erbarmen elend aus. „Großartige Idee.“ Ich hielt im Gehen inne, stand mit dem Rücken zum Büfett und lehnte mich an, weil ich plötzlich spürte, wie mir die Beine schwach wurden. Sie hatte ja recht. Aber was sollten wir tun? Ermittlungen im Fall eines Tötungsdelikts seien aufgenommen worden, hatte dieser Habicht oder Harich gesagt, begangen wahrscheinlich am Montagnachmittag, den ersten gerichtsmedizinischen Erkenntnissen nach, an der dreiundzwanzigjährigen Gretel König, Krankenschwester. „Sie ist erstickt worden, mit einem Kissen“, hatte er noch hinzugefügt, und der Ekel in seiner Stimme war unüberhörbar gewesen. „Und wir haben Grund zu der Annahme, daß Ihr Sohn in die Sache verstrickt ist. Jedenfalls benötigen wir dringend seine Aussage.“ Wenn ich nur gewußt hätte, wer das war: Gretel König. Sie war mir nie vorgestellt worden – wir kannten nur Ramona, und auch die nur vom Sehen. „Weißt du etwas von dieser Gretel König, von der die Polizisten geredet haben?“ Irene schüttelte den Kopf, sagte nichts. So standen wir beide herum, ratlos und hilflos, zwischen den schweren Möbeln aus der Gründerzeit, den Erbstücken von meinen Schwiegereltern und Irenes ganzem Stolz, die seit Jahren schon Zielscheibe für Jakobs Spott waren. („Paßt nur auf“, hatte er einmal gesagt, „daß die Holzwürmer nicht eines Tages aus ihrem Domizil kriechen und euch durchsieben.“) Am liebsten wäre ich in mein Arbeitszimmer hinaufgegangen – oder noch besser: nach draußen, in das Stück Wald hinter der alten Dorfkirche, trotz des Morasts, der jetzt, Anfang April und nach der verspäteten Schneeschmelze, die unbefestigten Wege fast unbegehbar machte. Aber durfte ich Irene allein lassen? 12
Ja, wenn Katharina erreichbar gewesen wäre … Mit der konnte man sachlich reden, über alles und sicherlich auch über Jakob. Schließlich war sie nicht seine Mutter … Bei dem Gedanken, daß Katharina, meine schöne Katharina, kaum über dreißig Jahre alt, Jakobs, des langen mürrischen Kerls, Mutter sein sollte oder vielleicht doch eher seine Freundin, seine erfahrene, kultivierte Geliebte – bei dem Gedanken stellte sich zusätzliche Wirrnis in meinem Kopf ein, und mir trat der Schweiß auf die Stirn, heftiger als sonst, wenn ich an Katharina dachte, in diesem Haus, das bis in den letzten Winkel, bis zu der Luft, die man hier atmete, von Irene beherrscht war. Mutter, Geliebte – Katharina, Jakob … Jedenfalls war Katharina nicht in der Stadt, war am Montagabend zu irgendeinem Kongreß der Modeschöpfer nach Prag gefahren und würde erst am morgigen Donnerstag, wahrscheinlich am Abend, zurückkehren. Am frühen Sonntagabend hatte ich sie noch besucht, und sie war naturgemäß wenig dazu aufgelegt gewesen, sich um mich zu kümmern. Sie mußte als Delegierte ihres Instituts so etwas wie einen offiziellen Diskussionsbeitrag zu der Fachberatung beisteuern, die unter dem Motto „Eleganz und Würde der Frau im Sozialismus“ stand oder unter einem ähnlich markigen Thema. So leicht ihr der Umgang mit Zeichenstift und Skizzenblock, mit Farben und Stoffen fiel, auch übrigens mit der ökonomischen Seite ihres Berufs, wenn es zum Beispiel galt, die industrielle Verwertbarkeit von Entwürfen einzuschätzen (immerhin war sie auch Textilingenieurin), so schwer tat sie sich, wenn es ans Formulieren von Grundsätzlichem ging. Und Grundsätzliches wurde nun einmal verlangt, auch in ihrem Beruf, gesellschaftswissenschaftliche Kenntnisse, Marxismus-Leninismus, wie sie das nannte, und manches Mal hatte ich ihr während unserer gemeinsamen zwei Jahre Tips geben können, 13
wenn wieder einmal eine Schulung ins Haus stand oder ein Referat über so ein Thema wie „Mode als ästhetische Kategorie“ oder „Mode und Klassenstruktur“. Dergleichen schüttelte ich natürlich sozusagen aus dem Ärmel. Gelernt ist nun mal gelernt. Während unserer gemeinsamen zwei Jahre … Mit Erschrecken wurde ich gewahr, daß meine Gedanken abzudriften begannen. Dabei waren doch vor einer halben Stunde erst die Leute von der Kriminalpolizei gegangen, nachdem sie in uns den schrecklichen Verdacht gesät hatten, Jakob könnte ein Mörder sein. Und ich dachte an Katharina, mit einem beträchtlichen Aufwand an Sehnsucht und Melancholie! War mir denn der Junge so gleichgültig geworden, so wenig wert, daß ich nicht einmal in einer solch wahrlich verzweifelten Lage meine Gedanken auf ihn versammeln konnte? Als ich zu Irene hinübersah, begegnete sie meinem Blick mit einer Miene, in der die Ratlosigkeit sich vertieft hatte und die mich zugleich aufforderte: Tu doch endlich etwas! Entschlossenheit ausstellend, während ich in Wahrheit noch immer nicht wußte, was zu unternehmen sei, stieß ich mich vom Büfett ab und sagte, nur um nicht weiter stumm zu sein: „Du mußt die Verabredung mit Ursel und Heinz absagen – wenn sich in den nächsten Stunden nicht doch noch alles als blinder Alarm herausstellen sollte.“ Irene nickte mechanisch. „Und im übrigen“, fuhr ich fort und machte zwei, drei Schritte auf die Tür hin, „werde ich mich erst einmal darum kümmern, wo Jakob steckt. Er kann ja nicht vom Erdboden verschwunden sein.“ Was man eben so von sich gibt, wenn man die Wörter frei laufen läßt. „Vielleicht ist er zu Susanne gefahren“, sagte Irene. In ihrer Stimme schwang so etwas wie Hoffnung darauf, es könne sich nach einem Telefonat alles mit einem Schlag als Alptraum herausstellen. Aber ich wußte, sie war im Grund ohne Hoffnung, hatte sich wohl nach der 14
Art schreckhafter Menschen im Innersten damit abgefunden, daß ihr Sohn ein Verbrecher war. Schließlich waren es zwei Polizisten, die uns aufgesucht hatten, und Polizei bedeutete für Irene, wie alles, was in Ämtern und den oberen Etagen der Gesellschaft siedelte und über uns kleine, uns zivile Menschen befand, Autorität, an die man glauben und der man gehorchen mußte. Da lebte denn doch noch viel von den Maximen des Elternhauses in ihr, viel vom Vater, einem Justizangestellten der mittleren Laufbahn, dem die Staatsvergottung so sehr zum Prinzip geworden war, daß er vierunddreißig Mitglied der Nazi-Partei wurde, obwohl ihm als praktizierendem Katholiken das Übermenschengerede als verabscheuungswürdig galt – nur weil es ihm widersinnig erschienen wäre, sich den Ansprüchen des totalen Staats an das Individuum zu entziehen, geschweige denn, sich ihnen zu widersetzen. Die fast dreißig Jahre unserer Ehe hatten an ihrer Ängstlichkeit und Unterwürfigkeit grundlegend nichts zu ändern vermocht. Sie litt darunter, aber sie konnte nicht aus ihrer Haut. Und der Anflug von Hoffnung in ihrer Stimme war nichts als ein Appell an mich, endlich aktiv zu werden, damit vielleicht wider alle Erwartung der amtlich verlautbarte und Verzweiflung auslösende Verdacht gegen Jakob abgewendet werden könnte. Die Stimme unserer Tochter Susanne klang durch das Rauschen und Knacken dünn und verzerrt in meinem Ohr, als käme sie aus dem Weltraum (wie man das aus dem Fernsehen kennt) und nicht aus dem zweihundert Kilometer entfernten Magdeburg. Jakob war nicht bei ihr und war auch nicht bei ihr gewesen, sie erwartete ihn auch nicht. Ihrer Frage: „Wieso rufst du wegen Jakob an? Ist was mit ihm?“ begegnete ich mit forcierter Sorglosigkeit, indem ich ihr erklärte, Jakob habe mir gesagt, er hätte vor, sie zu besuchen und da wollte ich mich erkundigen, ob er seinen Plan bereits verwirklicht habe. 15
„Du weißt ja, wie das mit deinem Bruder ist: mit dem Hintern immer auf einem Dutzend Hochzeiten.“ Sie lachte. Das fehlte noch, daß ich das Mädchen verrückt machte – und erst ihren Mann, der in Jakob schon immer einen potentiellen Asozialen gesehen hatte und dem auf seinem Karrieretrip nichts weniger zupaß kommen konnte als so eine Katastrophe in der Familie. Ich erkundigte mich nach dem Zwillingspärchen, richtete Grüße an sie aus („auch von Oma“) und legte den Hörer auf die Gabel. Dabei glaubte ich zu spüren, wie sich Irenes Blicke buchstäblich in meinen Rücken bohrten. „Also nichts“, sagte sie mit der Befriedigung eines Menschen, der sich in einer schlimmen Ahnung bestätigt sieht. „Nichts.“ Sie begann wieder zu weinen, leise, wie ich das gewohnt war. Man hatte sie eben zu größter Zurückhaltung und Rücksichtnahme bei der Äußerung von Gefühlen auch in extremen Situationen erzogen. Dann rief ich in meinem Institut an und sagte meine Teilnahme an einer Sitzung ab, die sich mit der Organisation eines bevorstehenden Kongresses über die Hanse beschäftigen sollte. Ich fühlte mich nicht wohl, erklärte ich, und würde wahrscheinlich auch in den nächsten Tagen nicht zur Verfügung stehen, und ich mußte mir zum x-tenmal die besorgten Ratschläge von Frau Müller, meiner Sekretärin, anhören. Frau Müller ließ es sich nämlich seit meinem Herzinfarkt vor drei Jahren nicht nehmen, mir bei jeder sich bietenden Gelegenheit nützliche Hinweise auf die richtige Lebensführung zu geben. Wir saßen wieder Seite an Seite, Irene und ich. Ihr zu einem leisen Wimmern hinabgedrücktes Weinen strapazierte mein Trommelfell heftiger, als jeder laute Ausbruch es hätte tun können, bohrte sich mir ins Hirn, ließ ungerechtfertigte Rage in mir aufkommen. Ich muß16
te ’raus aus diesem Zimmer, überhaupt aus diesem Haus, mußte mit einem Menschen sprechen. Neuerlich stellte sich der Gedanke an Katharina ein und daran, wie wohl es täte, jetzt ein paar Worte mit ihr zu wechseln, überhaupt ihre angenehme, ihre weiche und ein wenig monotone Stimme zu hören. Ich stand so abrupt und heftig auf, daß ich mit den Kniekehlen den schweren Fernsehsessel fast aus der Balance gebracht hätte. „Ich muß an die frische Luft“, sagte ich betont forsch, um jedem Widerspruch Irenes von vornherein zu begegnen. „Ach, Hermann …“ Irene sah nicht einmal hoch. „Vielleicht kommt mir beim Herumgehen ein Gedanke.“ Ganz wohl war mir nicht bei der Vorstellung, sie unter diesen Umständen allein zu lassen. Aber es hielt mich nicht mehr im Haus. „Ich bin bald zurück.“ Vielleicht sollte ich Peter Schöbel im Pfarrhaus aufsuchen. So ein Seelenklempner, dachte ich, weiß manchmal Rat. „Überanstreng dich nicht“, hörte ich noch, als ich die Zimmertür bereits geschlossen hatte. „Du weißt, Doktor Fäustel hat dir schon ein paarmal geraten …“ In der Diele zog ich mir den Mantel über und sah dabei zufällig in den Spiegel. Ich erschrak: Ein bleicher und faltiger alter Mann mit unnatürlich großen, unruhigen Augen und einem unordentlich nach allen Seiten hin abstehenden, dünn und grau gewordenen Schopf blickte mich an. Sollte die dumme Redensart zutreffen, daß man innerhalb einer Stunde um Jahre altern konnte? Hastig setzte ich mir den Hut auf.
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2. Ich kannte Peter Schöbel seit unseren gemeinsamen Studententagen, das heißt, von einer Gemeinsamkeit in den endvierziger und den ersten fünfziger Jahren konnte nur insofern die Rede sein, als wir an ein und derselben Universität eingeschrieben waren, und nicht nur der Umstand, daß ich an der philosophischen und er an der theologischen Fakultät Vorlesungen hörte und Seminare besuchte, machte den Unterschied zwischen uns aus. Wir standen auf den entgegengesetzten Seiten der Barrikade, wie wir seinerzeit in jugendlichem Eifer zu sagen pflegten, in verschiedenen weltanschaulichen Lagern, deren eines in turbulenten Versammlungen die Parole von der akademischen Freiheit im Munde führte, während das andere lautstark eine demokratische Hochschule auch und vor allem für Kinder von Arbeitern und Bauern forderte. Peter Schöbel war einer der Wortführer der Reaktionäre (so nannten wir vereinfachend alles, was nicht nach unserer Pfeife tanzen mochte), und da ich zu dieser Zeit eine FDJ-Funktion in meiner Fakultät innehatte, ergab sich sozusagen von selbst eine Kontrastellung zwischen ihm und mir, die sich bis zum Ende unserer Studienzeit nicht änderte, uns in gewisser Weise aber auch aneinander band. Von Schöbel stammte wahrscheinlich der Spottvers, der unverschämt und ganz unchristlich auf meinen Namen anspielte und vornehmlich auf Lokuswänden auftauchte: Wer hat das größte Maul im Land? Der Hermann Maul, das ist bekannt. Sein ärgstes Stück, deswegen er fast relegiert worden wäre, lieferte er, als er anläßlich eines Dies academicus am 21. Dezember 1949, da das Auditorium maximum mit einem riesigen Kopf des Genossen Stalin aus Pappmache geschmückt worden war, provozierend laut Luthers Spruch zum besten gab, es könne nichts in der Welt vorgehen, ohne 18
daß ein Mönch dabei sei, und wenn man ihn malen müsse. Ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie schwierig es war, ihn vor der Verurteilung als Konterrevolutionär und damit vor der Verweisung von der Universität und womöglich Schlimmerem zu bewahren, und daß ich trotz der Abtritts-Verse zu seinem Fürsprecher wurde, einfach weil ich die Anspielung auf die Seminaristen-Vergangenheit des Generalissimus belustigend fand (er hat übrigens von meinem Engagement für ihn bis heute nichts erfahren). Nach dieser Zeit verloren wir uns auf Jahrzehnte aus den Augen, und ich traf ihn erst wieder, nachdem wir das kleine Haus am Stadtrand gekauft hatten: Wir begegneten einander auf der Straße, stutzten, wollten eigentlich jeder seinen Weg fortsetzen, sagten einander dann aber doch „Guten Tag“ und gerieten in ein erstes flüchtiges Gespräch, in dessen Verlauf sich herausstellte, daß er der hiesigen Matthäus-Gemeinde als Pfarrer vorstand. Es folgten weitere zufällige Begegnungen, bei denen jeder von uns bemüht war, die Querelen der Jünglingsjahre nicht oder nur en passant und als längst abgetane Angelegenheit zu erwähnen, bis wir vor sechs oder sieben Jahren, ebenso zufällig, entdeckten, daß wir beide dasselbe Steckenpferd ritten, nämlich die Erforschung der Gnosis, und daß wir uns insofern ergänzen könnten, als Schöbel seine Aufmerksamkeit vornehmlich den theologischen Aspekten dieser urchristlichen Häresie widmete, während ich mich hauptsächlich auf die politischen und wirtschaftlichen Zustände im späten römischen Reich kapriziert hatte, in denen das Christentum wie auch die Gnosis, sein Ableger, einen idealen Nährboden fanden. Seit diesem Tag trafen wir uns ab und zu in seinem geräumigen „Studio“, wie er sein Arbeitszimmer nannte, das nach kalt gewordenem Zigarrenrauch stank und dessen Luft, wenn ich gewöhnlich kurz nach Mitter19
nacht, leicht benommen vom Wein, wieder durch die Tür ging, zum Schneiden dick war, weil er eine unüberwindliche Furcht vor Zugluft hegte und jedem Wunsch, das Fenster zu öffnen, mit entschiedenem Protest entgegenwirkte. Schöbel war unverheiratet geblieben und ließ sich den Haushalt von einem schlichten frommen Fräulein aus der Gemeinde besorgen, das auch die Büroarbeiten für ihn verrichtete. Dieser Umstand war übrigens auch der Grund dafür, daß wir uns ausschließlich bei ihm trafen, wo auf keine sich als Gastgeberin fühlende oder sich so gerierende Hausfrau Rücksicht genommen werden mußte. Und natürlich kamen wir immer nur an Abenden zusammen und immer nur nach Verabredung, da seine Amtspflichten und mein mit Terminen gespickter Kalender keine spontanen Besuche zuließen. Jetzt aber, als ich mich auf den Weg ins Pastorat machte, war heller Mittag, und ich konnte mich durchaus nicht darauf verlassen, daß ich Schöbel treffen würde und daß er Zeit für mich erübrigen konnte, wenn er zu Hause war. In meiner Gedankenwirrnis bedachte ich das nicht, hatte aber Glück. Er öffnete selber, zwar ein wenig Verwunderung im Gesicht, mich zu ungewohnter Stunde vor seiner Tür zu sehen, doch freundlich im ganzen und die unvermeidliche Zigarre zwischen den Fingern zur Begrüßung schwenkend. „Haben Sie neue Nachrichten von dem Erzketzer Marcion?“ fragte er, und ein Grinsen zog sich vom Mund zu den breiten Schläfen hoch. Dann fiel ihm wohl meine Verstörung auf, und er sagte gedämpfter: „Na, dann kommen Sie erst mal ’rein.“ Er ging mir voran, die weit ausschwingende Treppe des großzügig konzipierten Hauses aus der Zeit um die Jahrhundertwende hinauf, der so massiv wirkende Mann mit dem großen, von dichten weißen Haaren bedeckten Kopf, der in seinem blauen Rollkragenpullover 20
und den grünen Manchesterhosen noch mächtiger aussah. Dann saßen wir in seinem „Studio“, er, wie immer, auf der Polsterbank und unter der in dilettantischer Kunstschrift ausgeführten Devise „Bleib im Land und wehre dich redlich“, über deren Sinn wir eines Abends in einen heftigen Streit geraten waren, und ich, auch wie immer, an einer der Schmalseiten des kunstlosen stabilen Tisches, auf dem sich Bücher stapelten und ein schmiedeeiserner Aschenbecher von der Größe einer kleinen Suppenterrine stand, der vor Asche und Stummeln überzuquellen drohte. Er fragte, ob er mit einem Glas Rotwein dienen könne, und nachdem ich abgelehnt hatte, kreuzte er die Arme über der Brust und wartete darauf, daß ich zu sprechen anfing. Dabei paffte er vor sich hin. Jetzt aber war mein Drang, mich mitzuteilen, seltsamerweise in sich zusammengefallen; ich saß da, wußte nicht, wie ich beginnen sollte, und fragte mich sogar, was ich bei diesem Mann Gottes zu suchen hatte. Unser gemeinsames Interesse an einem raren Spezialgebiet der Geschichte und der Theologie – bot es eine ausreichende Grundlage für die Enthüllung solch delikater Interna, wie sie mich momentan bewegten? Ich war nahe daran, mich weit weg zu wünschen, weit weg von dem Geruch kalt gewordenen Zigarrenrauchs, von diesem überdimensionierten Raum mit dem erstaunlich reichen Bücherbesatz an den Wänden, dem großen, braungebeizten Holzkreuz zwischen den Fenstern und dem militanten und provozierenden Spruch an der Wand, dessen Sinn mir Schöbel damit erklärt hatte, daß er für ihn eine Mahnung darstelle, dieses Land nie zu verlassen und durch stets dialektische Auseinandersetzung mit den hier herrschenden Ideen an seinem Wohl und Fortbestehen mitzuwirken. „Bedrückt Sie etwas?“ fragte Schöbel mit ausgeprägter und professionell eingesetzter Geduld in die Stille hinein. 21
„Sieht man mir das an?“ Noch immer sperrte sich in mir etwas gegen die Mitteilung meines Problems, und ich hätte viel darum gegeben, wenn es mir gelungen wäre, all die angestauten Emotionen bei ihm loszuwerden. „Eine fröhliche Miene oder eine zufriedene tragen Sie nicht gerade zur Schau. Also lassen Sie die Wörter schon ’raus!“ Er lächelte ermutigend, was jedoch meine Verblocktheit eher noch verstärkte. „Oder steht Ihnen vielleicht nicht doch der Sinn nach einem Gespräch über den heiligen Irenäus von Lyon? Ich habe da nämlich neulich bei Reitzenstein gelesen, daß dessen maßlose Angriffe …“ „Es geht um meinen Sohn.“ „Um Jakob?“ „Sie kennen ihn?“ Ich war mir sicher, daß wir nie über Familiäres miteinander gesprochen hatten und daß der Name meines Sohns von mir nie erwähnt worden war. „Nicht sehr gut.“ Die Antwort irritierte mich so sehr, daß ich zunächst keine Worte fand. „Er war zweimal hier.“ Ich blickte auf und sah, daß er noch immer lächelte, jetzt aber nicht mehr ermutigend, eher ein bißchen triumphierend. „Sie scheinen nichts davon zu wissen.“ Er nahm ein Taschenmesser vom Tisch und war vollauf damit beschäftigt, eine Kerbe in das Mundstück der nächsten Zigarre zu schneiden. „Hier im Pfarrhaus treffen sich nämlich einmal im Monat, an jedem vierten Mittwoch, junge Leute zu einer Gesprächsrunde. Außer im Mai, weil an dem Tag das Endspiel um den Europapokal der Fußball-Landesmeister stattfindet, und da würden ohnehin die wenigsten kommen, jedenfalls die wenigsten von den jungen Herren.“ Zufrieden blickte er auf seine präparierte Zigarre, dann zu mir herüber. „Es wird über alles mögliche geredet.“ 22
„So, über alles mögliche …“ „Gewöhnlich hält einer einen kleinen Vortrag, und die anderen diskutieren dann darüber. Im vorigen Herbst ging es zum Beispiel um christliche Literatur nach dreiunddreißig und die antifaschistischen Positionen, zu denen einige der Autoren gefunden hatten.“ Wozu erzählt er dir das alles? dachte ich, nahe daran, die Geduld über der Darstellung von Nebensächlichkeiten zu verlieren. Und doch konnte ich mich nicht dazu entschließen, den Besuch abzubrechen. Denn immerhin wurde ich, kaum daß ich den ersten Schritt in Sachen Jakob getan hatte, schon mit einer Überraschung konfrontiert: Mein Sohn, der durch Erziehung das Christentum einzig als ideologische und kulturelle Erscheinung der Vergangenheit anzusehen gelernt haben mußte, hatte einen dieser religiösen Konventikel aufgesucht, und ich, sein Vater, wußte nichts davon. „An jenem Abend war Ihr Sohn übrigens anwesend“, fuhr Schöbel fort. „Er hatte eine ganz aparte Meinung zu Werfel, auch übrigens eine fundierte, besonders zu dem Bernadette-Roman. Den sieht er als Versuch an, durch Flucht ins Wunderbare der miserablen und nicht zu verändernden Wirklichkeit zu entkommen.“ „Zu Werfel also. Bernadette …“ Ich überlegte, ob das Buch bei uns zu Hause stand. Vielleicht wußte Irene, was der Junge alles las. „Und das andere Mal, als er dabei war, vor einem Vierteljahr – nein, es war noch im Advent, da ging es um Schopenhauers Stellung zu den positiven Religionen: Christentum, Buddhismus und so weiter – Sie wissen ja. Da hat er auch wacker mitgehalten und gar nicht abwegige Meinungen vertreten.“ Ich wußte nur, daß ich nicht wußte, wie es in Jakobs Kopf aussah. Werfel – das mochte ja noch angehen, das war Belletristik. Aber Schopenhauer? Von dem war in der Schule doch wohl nie die Rede gewesen und erst 23
recht nicht beim anschließenden Kommiß. Vier Bände „Die Welt als Wille und Vorstellung“ und noch einmal vier „Parerga und Paralipomena“ verstaubten bei uns im Regal, oben in meinem Arbeitszimmer … „Ich hätte Ihnen davon erzählt. Aber wir haben uns ja so lange nicht mehr gesehen, länger als ein halbes Jahr nicht, wenn ich mich nicht irre.“ Mir war, als hörte ich den Anflug eines Vorwurfs aus den Worten. „Die tägliche Arbeit frißt mich auf“, sagte ich. „Ja, die tägliche Arbeit“, wiederholte er. „Übrigens bin ich dem jungen Herrn Maul auch einige Male in unserem Krankenhaus begegnet. Sie wissen ja: Ich betreibe da ein bißchen Seelsorge, kümmere mich besonders um die alten Patienten, die oft sehr allein sind mit ihren Leiden.“ Er schnupperte an dem weißen Aschenkegel seiner Zigarre, ehe er ihn vorsichtig in den großen Aschenbecher abstreifte. Offensichtlich wartete er darauf, daß ich etwas zu dem Gehörten sagte. Aber mir fiel nichts ein als: „Ja, in dem Krankenhaus hat er gearbeitet.“ „Hat er gearbeitet?“ Die Verwunderung in Schöbels Stimme war nicht zu überhören. „Ich meine natürlich: Da arbeitet er“, beeilte ich mich richtigzustellen, denn ich war nach allem noch weniger geneigt, meine Sorgen um Jakob vor Schöbel auszubreiten. Was ging ihn das schließlich an? Und wie sollte er mir helfen können? „Und ich dachte schon, er hätte seine Stellung aufgegeben, als er mit Ramona Paschotka Schluß gemacht hat.“ Ramona. Das war ein Name, den ich kannte, und ich verband mit ihm den flüchtigen Eindruck von einem hochgewachsenen blonden Mädchen mit einem nicht sehr einprägsamen Gesicht. Ramona. Vor allem wohl 24
des exotischen Klangs wegen war mir der Name im Gedächtnis geblieben, und als ich ihn jetzt wieder hörte, kam mir auch die dazugehörige Schlagermelodie aus meinen jüngeren Jahren, als ich noch ab und zu mit Irene zum Tanzen ging, in den Sinn. „Mit der hat er also Schluß gemacht“, sagte ich und bereute im selben Moment noch, den Satz über die Lippen gelassen zu haben. Die Quittung bekam ich prompt. Schöbel zog einige Male heftig an der Zigarre, so daß sein mächtiger Schädel im Nu in Rauchschwaden getaucht war. Dann hörte ich aus der Wolke hervor seine Stimme: „Entschuldigen Sie. Ich als Junggeselle habe gut lachen, ich habe keinen Sohn und keine Tochter, die ihren Vater nichts mehr von dem wissen lassen, was sie beschäftigt oder auch nur was sie treiben. Wie oft kommt ein Vater oder eine Mutter zu mir, um zu erfahren, wie ihre Kinder denken, was für Probleme sie bewegen. Das scheint so im Zug der Zeit zu liegen, daß die Generationen nicht mehr miteinander reden, nicht einmal mehr im Zorn. Jedenfalls sind wohl die sehr nah Verwandten im Umgang miteinander ziemlich stumm geworden.“ Nun hatte ich keine Lust, in meiner Lage mit dem Pastor Schöbel einen Diskurs über Generationsprobleme im Sozialismus zu beginnen und dabei unter Umständen noch als ein Paradebeispiel für gestörte oder unterbrochene Kontakte herzuhalten. Also entgegnete ich, barscher, als ich wollte, ich könne bei dem Thema „Familiäre Kommunikationsstörungen im allgemeinen“ kaum mithalten, da ich weder eine soziologische noch eine psychologische Ausbildung durchlaufen hätte, wäre ihm aber dankbar für den Fall, daß er mir zu einiger Aufklärung bezüglich Jakobs verhelfen könne. Reichlich abgekühlt von meiner Unfreundlichkeit, erzählte mir Schöbel in den nächsten Minuten, was er über Jakob wußte und über Ramona, die zu seiner Ge25
meinde gehörte und mit der ihn ein anscheinend recht tiefgehendes Vertrauensverhältnis verband. Der Ton, den ich ins Gespräch gebracht hatte, reute mich, und ich versuchte, durch eine freundliche Miene das Klima zu verbessern. Doch Schöbels Unbefangenheit war dahin. Er gab nur noch Auskunft und vergaß sogar, an der Zigarre zu ziehen, so daß sie ausging, noch ehe er mit seinem Sermon zu Ende gekommen war. So reserviert hatte ich ihn noch nicht erlebt, selbst nicht unter Umständen, in denen wir bei der Beurteilung eines geschichtlichen Ereignisses völlig entgegengesetzter Meinung waren. „Also: Ramona Paschotka war es, die Ihren Sohn zweimal in den Mittwochabend-Kreis mitgebracht hat. Früher hätte man wohl gesagt, die beiden seien verlobt – aber das ist für die jungen Leute heutzutage wohl ein obsoleter Begriff. Jedenfalls schien Ramona die Verbindung ernst zu nehmen. Sie hat mir einmal erklärt, sie könne sich ein dauerndes Verhältnis mit Jakob sehr gut vorstellen. Und dann kam sie eines Tages zu mir, im Januar war das, bald nach Neujahr, und sagte, sie habe sich von Jakob getrennt. Sie heulte ein bißchen, aber richtig traurig war sie eigentlich nicht, denn sie erzählte von einem Florian, den sie sehr nett fände, einen Freund von Jakob …“ „Florian Schmidt?“ „Ich weiß es nicht. Er muß auch hier in der Gegend wohnen und studiert Physik im ersten Jahr, nach allem, was ich gehört habe. Im Pastorat war er bislang jedenfalls nicht.“ „Physik? Dann wird es Florian Schmidt sein.“ Ich machte diesen Einwurf vor allem, um Schöbel gegenüber mein Interesse zu bekunden. Der Sache nach war mir einiges klarer geworden. Natürlich war das Florian Schmidt, der gemeinsam mit Sebastian Engel so oft in unserem Haus gewesen war, auch noch, als die drei die 26
Armeezeit hinter sich gebracht hatten. Und nun konnte ich mir auch manches erklären, zum Beispiel, daß Florian Schmidt dem Jakob die Ramona ausgespannt hatte und daß die beiden deswegen nicht mehr miteinander umgingen. „Woher kennt Jakob denn Ramona Patsch…“ „Paschotka.“ Ich hörte Schöbels Ungeduld mit mir aus dem einen Wort. „Sie scheinen wirklich erstaunlich wenig über Ihren Sohn zu wissen.“ Das wiederum war kein Tadel, nur eine Feststellung. „Ramona arbeitet auf derselben Station wie Jakob.“ Das muß einem doch gesagt werden, dachte ich. Aber mir hatte Jakob ja schon seit langem nichts mehr gesagt, nichts mehr, auf das es ankam. Oder war es nicht vielmehr so: Wir hatten nicht – ich hatte nicht gefragt? Und an dem Punkt setzte sich ohne mein Zutun in mir der vertrackte Bildungsmechanismus in Bewegung: Fragen heißt Anteil nehmen. Parzival hatte keine Fragen gestellt angesichts des todkranken Amfortas und darum die Gralsburg wieder verlassen müssen. Ein Thema für ein Seminar war das: Die Anteilnahme am Geschick anderer als ritterliche Tugend, dargestellt am Beispiel des ersten Auftretens Parzivals in der Burg Montsalvage … Ich schüttelte den Kopf, um die aus der Bahn laufenden Gedanken aus meinem Hirn zu vertreiben. „Sie waren also Arbeitskollegen?“ „Sie sind es noch, denke ich.“ „Natürlich.“ Da ich nun einmal beim Fragen war, konnte ich mich auch noch nach Gretel König erkundigen. Die Kriminalisten hatten schon gesagt, daß sie Krankenschwester war, und so war der Zusammenhang eigentlich leicht herzustellen. „Alle von derselben Station“, bestätigte Schöbel meine Überlegung. „Sie ist die leitende Schwester. Aber warum wollen Sie das wissen? Kennen Sie Gretel König?“ 27
Nun stellte er Fragen, und ich hatte partout keine Lust zu antworten. Überhaupt hatte ich jetzt genug von unserem Zwiegespräch. Schöbel hatte mir bereits geholfen, soweit er konnte. Ich wußte einiges über die Verhältnisse, in denen Jakob sich bewegte, und das war mir genug. Und so log ich: „Jakob hat sie neulich in einem Gespräch erwähnt.“ Ich sah es Schöbel an, daß diese Antwort ihn nicht befriedigte. Flüchtig und diskret blickte ich auf die Uhr. Es war noch nicht drei. Wenn ich mich beeilte, war ich in einer Viertelstunde im Krankenhaus und traf vielleicht dort noch jemanden an, der mir Auskunft geben konnte. Dorthin hätte ich sofort gehen sollen, dort kannte man meinen Sohn vom täglichen Umgang mit ihm. Aber ich mußte ja aus Ratlosigkeit den Umweg über das Pfarrhaus nehmen! Oder hatte ich mir wirklich Zuspruch von Schöbel erhofft? Unwillig wehrte ich die nutzlose Überlegung ab. Ich brauche keinen Zuspruch, sagte ich mir, jetzt noch nicht. Ich wußte auf einmal ganz bestimmt: Ich hatte Besseres zu tun, als die kostbare Zeit mit einem protestantischen Pfarrer zu verplaudern, mußte mir ein Bild von Jakob machen, ein möglichst vollständiges, das mich weiterbrachte, mich und ihn; denn wir saßen sozusagen in einem Boot. Ehe meine Gedanken an dem Satz „Du sollst dir kein Bild von mir machen“ und seine vielschichtige Bedeutung vor Anker gehen konnten, war ich aufgestanden, bedankte mich bei Schöbel, daß er mir seine Zeit geschenkt hatte, und murmelte etwas von Arbeit, die sich häuft. An der Art, wie er die Schultern hochzog und wieder fallen ließ und sagte: „Da kann man nichts machen, doch es war schön, Sie wieder einmal gesehen zu haben“, wurde mir deutlich, wie unzufrieden er mit dem Verlauf unseres Gesprächs war. Auf der Treppe, als er mir voranging, wandte er sich 28
um, ohne in der Abwärtsbewegung innezuhalten, und fragte: „Sind Sie sicher, alles erfahren zu haben, was Sie wissen wollten?“ Ich nickte heftig. „Ja“, sagte ich, um eine Nuance zu laut und zu eifrig, „alles. Und ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet.“ An der Haustür schieden wir mit einem Händedruck voneinander. „Und kommen Sie bald mal wieder – wenn Sie mehr Zeit haben. Es lohnt sich wirklich, an die Untersuchungen von Reitzenstein ein paar Stunden zu setzen.“ „Ja, sobald ich Zeit und den Kopf wieder richtig frei habe“, sagte ich. „Noch hängt mir eine Konferenz über die Hanse wie ein Mühlstein am Hals. Allgemeineuropäische Beteiligung – ganz hoch angebunden. Und ich muß als Fachgebietsleiter das Hauptreferat halten und mich auch noch um die Organisation kümmern.“ „Sie sind wirklich nicht zu beneiden.“ Schöbel nickte gedankenverloren.
3. Obwohl der Weg zum Krankenhaus mich nur eine Viertelstunde gekostet hätte, wenn ich ein wenig forsch ausgeschritten wäre, entschied ich mich doch, das Auto zu holen. Vor dem Haus überlegte ich, ob ich hineingehen und nach Irene sehen sollte. Doch mein Drang, so schnell wie möglich soviel wie möglich über Jakob zu erfahren, war zu stark; zu stark war übrigens auch die Furcht, meine Frau könnte mich wieder mit ihrem hilflosen Jammer überschütten und lähmen. So fuhr ich denn den Mazda aus der Garage, sah noch einmal zu den Wohnzimmerfenstern, als ich das Gartentor schloß, und stieg wieder ein, als sich hinter den Stores nichts regte. Vielleicht war Irene vor Erschöpfung eingeschlafen. 29
Das Krankenhaus oder vielmehr der weitläufige Komplex von Häusern in einem vermanschten Tudor-Stil war in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erbaut worden; dichtes Efeugerank deckte die sich überall zeigende Schäbigkeit des alten Mauerwerks nur notdürftig mit freundlichem Grün zu. Seit ich vor drei Jahren nach dem Herzinfarkt in der Abteilung für Innere Medizin dieses Hospitals mehrere Wochen der Heilung und Rehabilitation hatte zubringen müssen, war mein Respekt für die medizinischen Künste im allgemeinen und für die hier geübte Praxis im besonderen arg lädiert. Ich mochte mich, sooft ich wollte, einen undankbaren Dummkopf schelten, der ohne ärztliche Hilfe wahrscheinlich nicht mehr leben würde: Die Zeit des Ausgeliefertseins an Ordnungen und Verordnungen, der wichtigtuerische, manchmal auch barsche, in fast allen Fällen aber unpersönliche Ton, den die Ärzte anschlugen, hatten mein Verhältnis zur Medizin und zu diesem Krankenhaus hoffnungslos in Unordnung gebracht, und immer wenn mich ein Spaziergang in die Nähe dieser Gebäude führte, beschleunigte ich den Schritt. Heute allerdings mußte ich jedwede Empfindlichkeit in dieser Richtung hintansetzen. Ich hatte natürlich keinen Plan im Kopf, wußte nicht, wie ich vorgehen sollte; ich wollte erst einmal nur die Atmosphäre der Klinik, in der Jakob gearbeitet hatte, auf mich wirken lassen, wollte Menschen kennenlernen, mit denen er zusammen gewesen war, und deren Meinung über ihn und das Verbrechen erkunden, das für mich aus Mangel an genauerer Kenntnis noch immer ein abstraktes Faktum war, wie ein beliebiger Vorfall, von dem man durch die Zeitung erfährt – nur mit dem Unterschied, daß mich die Angelegenheit unmittelbar und sehr betraf. In dem langen, in einem beruhigenden blassen Blau gehaltenen Korridor der Station 2 der chirurgischen 30
Klinik, von dem, auf der rechten Seite Türen in die Krankenzimmer führten, roch es, wie üblich, nach penetranter Sauberkeit. Zwischen die Türen hatte eine wohlmeinende, doch nicht gerade von überdurchschnittlichem Kunstverstand regierte Verwaltung Farbfotos von Landschaften anbringen lassen, die den Kranken wohl ein Gefühl von Harmonie vermitteln sollten. Ein älterer Mann in einem gestreiften Bademantel, mit wachsbleicher Haut und dem vorsichtigen Schritt des Genesenden, der seiner Kräfte noch nicht wieder sicher ist, kam mir entgegen und ging grußlos vorüber. Vom Ende des Ganges her klang Scheppern von nicht allzu sorgsamem Umgang mit Geschirr. Ich klopfte aufs Geratewohl an eine Tür, an der ein Schild darauf hinwies, daß hinter ihr ein Dr. J. Kümmerer zu finden sei. Als ich keine Antwort erhielt und dennoch die Klinke niederdrückte und eintrat, sah ich mich einem jungen Mann gegenüber, der hinter einem Schreibtisch saß und sich offensichtlich gestört fühlte. Entsprechend unwirsch fragte er: „Sie wünschen?“ Bei diesem Gesicht kam mir sofort das Bild eines Nußknackers in den Sinn: grobgeschnitzte Nase, lange Oberlippe, breite, kräftige Kinnlade; auch der adrette Schnurrbart und die wie aufgeschminkt aussehende Röte auf den Backenknochen paßten dazu. Ich stellte mich vor, und zwar mit Titel, weil ich immer wieder die Erfahrung gemacht habe, daß man einen Professor Maul nicht abweist, wo der schlichte Hermann Maul unter Umständen nicht einmal angehört wird. Die Wirkung war entsprechend: Der Mann erhob sich, knöpfte seinen weißen Kittel zu und machte Anstalten, mir entgegenzugehen. „Professor Maul?“ sagte er dabei und legte eine fragende Betonung auf den Titel, woraus ich schließen mußte, daß Jakob mit ihm in all den Monaten entweder nicht von mir gesprochen oder daß er wenigstens meine 31
Stellung nicht erwähnt hatte. „Doktor Kümmerer.“ Er deutete auf ein Sesselchen an einem niedrigen Tisch, während er sich auf die Kante der mit braunem Lederol bezogenen und teilweise mit einem Laken bedeckten Untersuchungspritsche setzte und betont langsam ein Bein über das andere schlug. Er blickte mit gelassener Neugier und, wie mir schien, auch mit einiger Schadenfreude in meine Richtung. „Sie werden sich denken können, warum ich komme.“ Eine bessere Einleitung fiel mir nicht ein. Mein Gegenüber entblößte große, kräftige weiße Zähne, die meinen ersten Eindruck auf groteske Weise vervollständigten. Aber er reagierte mit keinem Wort, so daß es an mir war weiterzusprechen. „Mein Sohn arbeitet auf dieser Station.“ „ Hat hier gearbeitet.“ Seine Stimme war laut und anmaßend, ihr fehlte jede Spur von Konzilianz. „Und wenn es nach mir gegangen wäre, hätte er seinen Dienst hier schon nach den ersten vierzehn Tagen aufgeben müssen.“ Das war nicht zu überhören: Der Mann wollte Krieg, kein Gespräch. Normalerweise reagiere ich auf eine solche Tonlage allergisch; seit ich die Stimme von Ausbildern auf dem Kasernenhof erlebt habe, weiß ich, daß dahinter nur Menschenverachtung aus Mangel an eigener Persönlichkeit steckt. Doch unterdrückte ich meinen Impuls, aufzustehen und das Zimmer zu verlassen, weil ich spürte: Dieser Schnösel legte es darauf an, mich von Anfang an wissen zu lassen, wer das Sagen hat. Und das weckte meinen Trotz. „Nach Ihnen geht es hier wohl nicht?“ fragte ich so naiv wie möglich. Er guckte, als traue er seinen Ohren nicht. „Ich meine: Sie haben hier wohl nichts zu bestimmen.“ Das verblüffte ihn vollends. Er sah mich aus blauen Staunaugen an, nahm das rechte Bein vom linken und 32
wirkte für einen Moment hilflos. „Wie meinen Sie das?“ fragte er. Mit dem werde ich fertig, dachte ich in einer Aufwallung von Genugtuung, der Bursche wird mir noch aus der Hand fressen! Und entsprechend wohlgemut und angriffslustig ging ich den nächsten Satz an, obwohl mich die Überlegung streifte, daß ich nicht hergekommen war, den starken Mann zu spielen und einen Flegel Mores zu lehren. „Offensichtlich säße, wenn Sie das Sagen hätten, mein Sohn jetzt friedlich zu Hause, und ich müßte mich nicht mit diesem Gespräch abplagen.“ „Zu Hause?“ Kümmerer hatte seine Feindseligkeit und damit auch seine Sicherheit wiedergewonnen. „Sagen Sie lieber: in der Kneipe oder auf der Bettkante irgendeiner Frau.“ Am liebsten hätte ich diesen Arzt mit Ohrfeigen traktiert. Noch nie, seit ich meine Lehrjahre hinter mich gebracht hatte und so etwas wie eine respektierte Persönlichkeit geworden war, hatte es jemand gewagt, mich so rüde anzugehen, nicht einmal ein Kellner oder ein Zöllner. Ich vergaß völlig, was mich in dieses Krankenhaus geführt hatte. „Was erlauben Sie sich!“ sagte ich lauter als nötig. „Ich erlaube mir, Herr Professor, Ihren Sohn einen Herumtreiber zu nennen. Und wenn es Sie interessiert: auch einen Mörder.“ Die ruhige, kalte Stimme und die nackte Anschuldigung warfen mich aus meiner Rage zurück in meine hilflose Situation. „Was berechtigt Sie zu dieser ungeheuerlichen Annahme?“ fragte ich mit gepreßter Stimme. „Alles“, sagte Kümmerer, befriedigt, wieder in der Vorhand zu sein, „einfach alles. Ich kenne den Jakob Maul und traue ihm das Schlimmste zu.“ Aus diesen Worten hätte eigentlich nicht mehr nur Feindseligkeit klingen müssen, sondern Haß. Aber Haß war es nicht, was da aus Kümmerer brach; eher hörte 33
ich das Ressentiment des Denunzianten heraus, der eine Rechtfertigung für sein übelwollendes Gerede nötig hat. „Wir sind hier in Harmonie miteinander umgegangen, waren ein hervorragendes Kollektiv, das kann ich mit gutem Gewissen behaupten, ehe Jakob Maul auf der Szene erschien.“ Das bißchen Pathos, das in diesen Worten lag, wirkte abstoßend auf mich. Es war offensichtlich, daß Jakob dem Mann nicht in den Kram paßte; darüber konnte mich das leichte Tremolo in seiner Stimme und die wie zur Beschwörung halb erhobenen Arme nicht hinwegtäuschen. „Aber was kann man schon von einem Menschen erwarten, der sich die Haare bis auf die Schultern wachsen und sein Gesicht von einem Bart überwuchern läßt?“ Ich blickte auf seinen Schnurrbart, der exakt mit der Kante der Oberlippe abschloß. Mir wurde übel vor so viel Arroganz. Am liebsten hätte ich ihm einiges erzählt über die Bartmode im Wandel der Zeiten, von Jesus, der sein Haupthaar im Gegensatz zu den kurzgeschorenen römischen Besatzern offenbar schulterlang getragen hatte, auch vom jungen Dürer, wie wir ihn von dem Selbstporträt kennen, oder von Marx. Doch was sollte das? Jedenfalls hatte ich von einem ziemlich jungen Mann, der in der Schulzeit noch das Sprießen der Bärte als sozusagen Zug der Zeit erlebt haben mußte, solchen Unsinn nicht erwartet. „Sind Haartrachten ein Argument, oder geben sie etwa Aufschluß über einen Charakter?“ „In gewisser Weise, ja.“ Er wurde eindringlicher, als wollte er mich über etwas Wichtiges aufklären. „Man will sich damit nämlich auch durch das Äußere von der Gesellschaft, die man nicht mag, abheben.“ „ Auch durch das Äußere?“ „Jawohl. Denn Ihr Sohn hatte auch ganz aparte Ansichten.“ 34
„Zum Beispiel?“ „Zum Beispiel hat er einige Male versucht, Patienten gegen die Hausordnung rebellisch zu machen.“ „Hat er sie mit Messern gegen das Pflegepersonal ausgestattet?“ Mir war ganz und gar nicht nach Kalauern zumute, nicht in meiner Lage. Doch ich konnte mich gegen die gesammelte Überzeugung vom eigenen Wert, die dieser Kerl mit dem humorlosen Nußknackergesicht an den Tag legte, nicht anders zur Wehr setzten. Und zur Wehr setzen mußte ich mich, wollte ich nicht riskieren, von diesem Pharisäer (so nannte ich ihn bereits in Gedanken) untergebuttert zu werden. Wer weiß, dachte ich, was er den Männern von der Kriminalpolizei alles über Jakob erzählt hat, und vielleicht war er es sogar, der diesen Habicht – oder wie der hieß – auf ihn gehetzt hat. Aber ich mußte trotz allem sachlich bleiben, wollte ich etwas erfahren, was mich weiterbrachte – wenngleich es mir sehr schwerfiel. Und so fügte ich, auch weil Kümmerers Miene auf die Bemerkung hin erstarrte und ich befürchten mußte, daß er das Gespräch abbrach, ganz ernst hinzu: „Entschuldigen Sie bitte. Ich bin ein bißchen aufgeregt.“ Ein langsames Senken der Lider sollte wohl Verständnis für meine Gemütslage signalisieren. „Ich nehme Fragen wie Duldung von Rauchen und von Alkoholkonsum in der Klinik nicht auf die leichte Schulter“, erklärte er schulmeisterhaft und so, als sei ich bestellt worden, über die Unarten meines minderjährigen Kindes unterrichtet zu werden. „Das hat mein Sohn also geduldet?“ „Nicht nur das. Er hat sich daran beteiligt. Und von mir zur Rede gestellt, frech erklärt, daß man die Leute nicht wie in einem Gefängnis halten dürfe und daß Genesende am besten zu fördern seien, wenn man sie so bald wie möglich wieder an ihre Gewohnheiten heranführe. Und das war nicht die einzige Gelegenheit, bei der 35
er unausgegorenes Zeug von sich gegeben hat, eine Mischung aus Psychologie und Philanthropie, mit der man Kranke zu Tod kurieren kann.“ Es war geradezu mit Händen zu greifen, wie sehr er sich durch solche Ansichten in seiner fachlichen Kompetenz gekränkt fühlte. Nun war und bin ich noch immer nicht unbedingt ein Freund der Einmischungen von Amateuren in ein Spezialgebiet – ich habe mich oft genug selber mit kühnen Thesen eifriger Parteigänger ohne allzuviel Sachwissen konfrontiert gesehen, die ich dann der Einfachheit halber mit autoritativer Geste und, wenn es sein mußte, mit Lautstärke abwehrte. Aber das durfte doch nicht dazu führen, daß man von solchem Eifer Schlüsse auf den Charakter und die Gesinnung des anderen zog. Und das erklärte ich denn auch dem Arzt und belegte meine Meinung mit einigen Beispielen aus meiner Erfahrung. Der jedoch begegnete mir mit einem Blick, in dem sich Nichtverstehenwollen und ein gerüttelt Maß jenes mir unerträglichen Überlegenheitsgefühls des Medizinmannes mischten. Es sei doch schließlich etwas ganz anderes, ob jemand gegen eine These seine eigene setze, dozierte er, oder ob man ein in der Praxis bewährtes Verfahren in Zweifel ziehe. „Hier geht es nämlich um Menschenleben“, sagte er, „und Nikotin und Alkohol sind nun einmal dessen schlimmste Feinde.“ Mir schien, als drifte das Gespräch von seinem eigentlichen Gegenstand zu weit ab, und um dem ein Ende zu bereiten, unterbrach ich Dr. Kümmerer mit der Bemerkung, ich hätte um Gottes willen nicht vor, meinen Sohn zu idealisieren, dazu kenne ich ihn zu gut (diese Lüge ging mir nicht leicht von der Zunge). „Mich bewegt einzig die Frage“, sagte ich, „ob man ihm zutrauen kann, daß er einen Menschen tötet. Und eben das kann ich mir nicht vorstellen.“ Kümmerer antwortete nicht direkt, sondern erging 36
sich in einer allgemeinen Beschreibung von Jakobs Eigenschaften. „Er ist durch und durch anarchisch, widersetzt sich jeder Disziplin, neigt zu Parteienbildung innerhalb des Kollektivs – nur um das mindeste zu sagen.“ „Und das Schlimmste, wie sieht das aus?“ beharrte ich. Er würdigte mich keiner Antwort, ließ nur die Lider fallen und hielt die Augen auch noch geschlossen, als er mir nach einigen Sekunden den Rat gab: „An Ihrer Stelle würde ich mich nicht darauf versteifen, Jakob Maul als ein Unschuldslamm anzusehen.“ „Wer sagt denn, daß ich das tue?“ „Ich sage es.“ Er stand plötzlich auf, wohl um anzudeuten, daß er die Audienz für beendet betrachte, und mir blieb nichts übrig, als mich gleichfalls zu erheben. „Jedenfalls halte ich es nicht für einen Zufall, daß er sich seit dem Schichtende am Montagnachmittag nicht mehr in der Klinik hat blicken lassen. Das war der Höhepunkt an Undiszipliniertheit. Und wer sich so gehenläßt …“ Er hielt die Stimme bedeutsam in der Schwebe. Ich verstand nicht recht, was das eine mit dem anderen zu tun haben sollte, und wollte wissen, was er mit dieser reichlich nebulösen Andeutung meine. „Sie müssen sich selber einen Reim darauf machen“, beschied er mich. „Offen gestanden: Das kann ich nicht.“ Ich war ziemlich verwirrt von der Wendung, die das Gespräch genommen hatte. Und obgleich mir nicht recht wohl war bei der Aussicht, Jakobs Fernbleiben von der Arbeit könnte auch bei anderen, kompetenteren Leuten als Indiz seiner Schuld gewertet werden, wagte ich die Bemerkung: „Sie glauben doch nicht etwa, daß alle Arbeitsbummelanten in diesem Land auf junge Frauen losgehen?“ „Der Scherz ist wohl nicht ganz der Situation angemessen.“ Er zog die Mundwinkel nach unten, als Zei37
chen seiner Verachtung für einen offensichtlich nicht ernst zu nehmenden Menschen. „Die Polizei, dessen bin ich sicher, wird das seltsame Verhalten Ihres Herrn Sohns gebührend würdigen.“ „Die Polizei sucht einen Mörder, nicht einen undisziplinierten jungen Mann mit Bart und langen Haaren, der sich zur Unzeit und eigenmächtig ein paar Tage freigenommen hat.“ „Sie müssen mich jetzt entschuldigen.“ Er nestelte sein Stethoskop, Zeichen seiner beruflichen Würde, aus der Kitteltasche und klemmte sich die Bügel um den Hals. „Ich muß mich um den Magen von heute morgen kümmern. Billroth zwo, wenn Ihnen das etwas sagt.“ Die Fachbezeichnung sollte mir wohl imponieren, verärgerte mich aber nur noch mehr. Doch ehe ich etwas erwidern konnte, hielt er schon die Tür auf, und mir blieb nichts, als der ausladenden Bewegung seines linken Arms zu folgen. Während ich noch dem entschwindenden wehenden Kittel nachblickte und mir in Gedanken versunken den Hut aufsetzte, hörte ich hinter mir eine freundlich sächselnde Stimme: „Kann ich Ihnen irgendwie helfen, mein Herr?“ Ich wandte mich um und sah in das pausbäckige, bebrillte und um Nase und Wangen von vielen geplatzten Äderchen durchzogene Gesicht eines rundlichen und kleinen Mannes, das zu mir emporlächelte. Er mochte ungefähr so alt sein wie ich und trug einen nicht gerade schicken grauen Anzug mit Weste. „Ich heiße Walter Klein und bin der Chef auf dieser Station.“ „Maul“, sagte ich, „Hermann Maul.“ „Ach, dann sind Sie sicherlich der Vater von Jakob“, tönte es zurück, wie mir schien, um einige Grade zu herzlich für eine erste Begegnung. Dann, als besinne sich der kleine Mann erst jetzt darauf, was mich einzig herbeigeführt haben konnte, dämpfte er seine Stimme, als er sagte: „Schrecklich, was da passiert ist.“ Dabei 38
fuhr er sich ordnend mit der Hand über das kurz über dem linken Ohr gescheitelte spärliche Haar, ohne indes mehr zu erreichen, als daß die kunstvoll gelegte Frisur völlig durcheinandergeriet und eine große kahle Stelle auf der Mitte des Kopfes zum Vorschein kam. „Ich kann nachfühlen, wie Ihnen zumute ist.“ Das unterstrich er mimisch, indem er die hohe Stirn in Falten legte. „Wollen Sie auf einen Moment zu mir hereinkommen?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, ging er mir voraus, blieb drei, vier Türen weiter stehen und komplimentierte mich mit einem „Immer hinein in die gute Stube“ in ein Zimmer, das dem im Schnitt gleich war, das ich soeben verlassen hatte, aber einen ganz anderen Eindruck vermittelte. Mag sein, es lag an dem eigenartigen Duft, der mir entgegenschlug (später identifizierte ich ihn als eine Melange aus Kaffee-Aroma und Pfeifenrauch), vielleicht waren aber auch eine gewisse Unordnung auf dem Schreibtisch und die vielen gerahmten Fotografien an den Wänden (fast nur Gruppenaufnahmen von Krankenhauspersonal in Dienstkleidung, wie ich nach einem ersten flüchtigen Blick ausmachte) für den Kontrast verantwortlich. „Setzen Sie sich“, sagte Klein, während er an das Waschbecken trat und einen elektrischen Kochtopf mit Wasser vollaufen ließ. „Ich koche uns eine Tasse Kaffee. Mögen Sie Nes? Ich nicht. Ich mache Kaffee immer türkisch.“ In einer Ecke stand die gleiche Garnitur von Sesselchen und niedrigem Tisch wie in Kümmerers Zimmer, nur daß sich hier auf der mit Glas abgedeckten Tischplatte einige Kreise deutlich abzeichneten, offensichtlich Spuren von abgestellten Gläsern oder Tassen, deren eine noch – eigentlich eher eine Suppentasse – fast halbvoll mit Satz in der Mitte thronte. „Sie müssen entschuldigen: Unsre Sekretärin kriegt ein Kind, und wir teilen uns jetzt eine mit Station eins.“ 39
Er beschrieb einen weiten Bogen mit dem Arm, ehe er sich auf das zweite Sesselchen placierte, in den Jackentaschen grub und aus der einen eine großkopfige Pfeife und aus der anderen einen Tabakbeutel zutage förderte. „Alles ein bißchen eng und alt hier. Aber die medizinischen Einrichtungen sind gut.“ „Ich habe schon einmal hier gelegen. Herzinfarkt, vor drei Jahren.“ „Beim Kollegen Schröder?“ „Genau bei dem.“ Er hatte aus meiner Bestätigung wohl einen gewissen Vorbehalt herausgehört, denn er lachte meckernd und krauste die Nase, was dem rundlichen Gesicht einen Anflug von komischer Dämonie verlieh. „Bißchen streng, der Kollege Schröder, nicht wahr? Mich kriegt er mindestens jede zweite Woche an, wegen meinem Rauchen. Sie sind dem Laster wohl nicht verfallen?“ „Nicht mehr.“ „Vernünftig. Ich kann es mir nicht abgewöhnen, hab’ es aber auch, um ehrlich zu sein, nie richtig versucht.“ Er hatte die Pfeife gefüllt, ein Streichholz angerissen und paffte mit schnellen flachen Zügen. „Ein Schnäpschen gefällig?“ „Danke, nein. Ich bin mit dem Auto hier.“ „Ach ja, die Autofahrer …“ Er stopfte den sich aufbäumenden Tabak mit dem Kopf eines zehnzölligen Zimmermannsnagels, den er aus dem Aschenbecher gefischt hatte, fester. „Sie erlauben aber doch wohl, daß ich einen Kleinen inhaliere.“ Und ohne meine Antwort abzuwarten, stand er auf, holte aus seinem Schreibtisch eine Flasche und ein Wasserglas, in das er drei Finger hoch Kognak eingoß, und „inhalierte“ die Flüssigkeit mit einem Schluck. „Das tut gut“, sagte er, indem er sich mit dem Handrücken über die Lippen strich, „nach des Tages Last und Müh.“ Er ließ sich wieder in sein Sesselchen fallen. 40
Mich beunruhigte die sorglose Art, mit der dieser Arzt hantierte und plauderte, hatte ich doch aus seinen mitfühlenden Tönen draußen auf dem Korridor geschlossen, er würde alle Schleusen des Trostes öffnen, sobald wir im Zimmer wären. Aber nichts dergleichen kam aus seinem Mund, auch nicht während der nächsten Minuten, in denen er mir ein Privatissimum darüber hielt, daß es nur darauf ankäme, die Genußgifte („uralte Stimulanzien“, sagte er) richtig zu dosieren und in der rechten Seelenstimmung zu genießen, wie die alten Chinesen zum Beispiel, die Opium in Mengen rauchten, ohne die mindesten Anzeichen von körperlichem oder seelischem Verfall aufzuweisen, oder die mexikanischen Indios, für die Marihuana und Meskalin so wichtig seien wie das tägliche Brot. Es gelang mir nicht, ihn durch Hüsteln zu unterbrechen. Er kam darauf zu sprechen, daß es von jeher sein Prinzip gewesen sei, nicht das ganze Leben an die Arbeit zu setzen, daß er aber schon seit fünfunddreißig Jahren vergebens diesem Ziel nachstrebe. „Um sieben früh steh ich auf der Matte, und – Sie sehen es ja – um fünf bin ich noch immer hier. So geht das Tag für Tag, oft auch an den Wochenenden. Immer gibt es Problemfälle. Ich hätte mir eben einen anderen Beruf aussuchen sollen – aber die Chirurgie hat mich nun einmal fasziniert. Man muß sich nur fit halten, besonders wenn man in die Jahre kommt, und man muß seinen Nerven etwas Stärkendes gönnen.“ Er nickte befriedigt, als habe er soeben erst diese grundlegende Lebensweisheit entdeckt. „Ich glaube, da können Sie es gemütlicher angehen lassen. Ich meine: als Historiker für Mittelalter. Oder ist es mehr die Literaturgeschichte? Als Student habe ich mich sehr für das Zeug – Pardon – interessiert, auch später noch.“ Und er begann unvermittelt mit schwacher, seltsam hoher und nun plötzlich zitternder Stimme die berühmtesten Verse des Archipoeta vorzutragen, wobei er mit dem Fuß den Takt dazu 41
schlug: „Meum est propositum in taberna mori …“ Er hielt mitten im Vers inne. „Ah, das Wasser kocht!“ Er sprang auf und machte sich beim Fensterbrett mit Tassen, Kaffee und dem Elektrotopf zu schaffen, indes mir Zeit zum Überlegen blieb, daß Jakob wohl doch nicht gegenüber allen von seinem Vater geschwiegen hatte. Und das verschaffte mir ein bißchen Behagen. Dennoch wuchs mein Befremden gegenüber diesem Mann und meine Ungeduld, und ich beschloß, das Gespräch energisch auf mein Anliegen zu lenken, auch auf die Gefahr hin, für unhöflich zu gelten. Und so sagte ich, als Dr. Klein mit zwei Suppentassen voll dampfenden schwarzen Gebräus an den Tisch trat: „Eigentlich wollte ich …“ „Ich weiß.“ Er stellte erst die Tassen ab und setzte sich mit leisem Stöhnen. „Aber ich hasse es, sofort, sozusagen nackt und ganz ohne Mittler ins Gespräch zu kommen.“ Er blies auf den heißen Sud, ehe er einen Schluck nahm. „Kaffee“, sagte er sodann, „ist ein sozialisierendes, friedlich machendes Getränk, es beseitigt Spannungen, und man sollte es bei allen politischen Konferenzen andauernd servieren. Aber heeße muß er sin.“ Er lachte. „Sie machen sich also Sorgen um Jakob“, fuhr er ohne Übergang fort. „Ich auch.“ Erleichtert, daß wir nun endlich in die Mitte der Dinge gelangt waren, wollte ich sofort das Wort nehmen, doch er stoppte mich, indem er beschwichtigend die Hand hob. „Ich habe gesehen, wie Sie aus dem Zimmer vom Kollegen Kümmerer gekommen sind. Sie hätten nicht zu ihm gehen sollen, jedenfalls nicht, bevor Sie mit mir gesprochen hatten. Man geht nicht zum Schmiedchen, man geht zum Schmied.“ Hier zum ersten Mal fiel mir etwas Bestimmtes und Bestimmendes in der Stimme des Dr. Klein auf. Seine joviale und geschwätzige Bonhomie war gänzlich geschwunden; mir kam es vor, als reiche die bloße Erwähnung des „Kollegen Kümme42
rer“ aus, seine Gemütslage zu verändern. Die Rede ging ihm jetzt hastiger von der Zunge, und das sächsische Idiom trat deutlicher hervor. Auch die vorerst noch moderaten Worte, die er auf die Charakterisierung Kümmerers verwandte („Er ist eben noch jung und im Umgang mit Menschen ungeübt und dazu sehr ehrgeizig – aber das hat ihm beim Erwerb des Facharzttitels im vorigen Jahr immerhin geholfen“), konnten nicht über seine Antipathie hinwegtäuschen. Je weiter er sich in seine zunächst recht allgemein gehaltene, später aber auf Berufsinterna übergehende Rede einspann, ohne sich im mindesten darum zu scheren, daß ich das Bedürfnis haben konnte, selber zu Wort zu kommen, desto deutlicher wurde ein Ton der Verbitterung, der darauf schließen ließ, daß der junge Arzt für ihn ein Problem darstellte, das nicht in den alltäglichen Unzuträglichkeiten wurzelte, vielleicht sogar an den Lebensnerv des allem Anschein nach so konzilianten Mannes rührte. „Wenn so ein Typ wie Kümmerer“, sagte er, schließlich aufs Thema schwenkend, „auf jemanden wie Ihren Sohn trifft – das kann nicht gut ausgehen. Da stieben die Funken.“ „Sind denn Funken gestoben?“ gelang es mir endlich nach fünfminütigem Monolog Kleins einzuwerfen. Erstaunt und zugleich verstört von meiner Frage, blickte er mich aus runden Augen hinter funkelnden Brillengläsern an. „Wie meinen Sie?“ „Ob es Auseinandersetzungen zwischen Doktor Kümmerer und Jakob gegeben hat, möchte ich wissen.“ Klein wiegte den Kopf. „Ja und nein. Direkt gestritten haben sie nicht, bis auf das eine Mal. Doch es knisterte immer. Wenn der eine ‚hü‘ sagte, sagte der andere ‚hott‘. Aber bei der inneren Struktur und der Tradition unserer Krankenhäuser hat selbstredend ein ungelernter Pfleger keine Chance gegen einen studierten Mediziner. Höchstens daß Jakob oft die Lacher auf seiner 43
Seite hatte – und das hat ihn dann regelmäßig in eine noch schwierigere Lage gebracht.“ Er kicherte, als bereite es ihm nachträglich noch Freude, daß sein Kollege häufig den kürzeren gezogen hatte. „Der Herr Doktor Kümmerer ist nämlich ein richtiger Preuße, jedenfalls tut er so. Der stinkt geradezu vor Pflichteifer und der Befolgung von Regeln, und Rangordnungen und Kompetenzfragen sind ihm heilig.“ Ich wartete darauf, daß er anhängte: Da sind wir Sachsen doch ganz andere Menschen; aber ich wartete vergebens. Statt dessen fuhr er fort: „Und ein Versagen da und dort, was uns ja allen mal unterläuft, wird von ihm gleich als Niederlage und, wenn es ihn selbst betrifft, als Schmach empfunden. Wehe dem Kollegen aber, der versagt!“ Und obwohl er sich nicht äußerte, merkte ich an dem unheilschwangeren Ton, daß Dr. Klein Schreckliches erwartete. Dann schüttelte er sich, als müsse er ein unangenehmes Gefühl loswerden, und fuhr fort: „Sie können sich vorstellen, wie so einer auf Jakob und wie der auf ihn wirkt.“ Ich nickte zwar, konnte mir aber meinen Sohn nicht in solch einer Situation vorstellen. Ich sagte: „Einmal ist es also zu einer offenen Auseinandersetzung gekommen?“ „Ja, und das ist noch gar nicht so lange her, vielleicht zwei Monate. Da handelte es sich um eine Galle, um eine stinknormale Galle, wie wir sie jeden Tag unterm Messer haben. Die Wunde fing an zu eitern, nach innen. Irgend etwas war falsch an der Drainage, und die hatte der Kollege Kümmerer gelegt. Und ihr Sohn war es, der ihm sagen mußte, er solle sich den Patienten mal ansehen, der habe heftige Schmerzen und Fieber, und wenn man schon Kümmerer heißt, hat er gesagt, dann soll man sich auch wirklich um die Leute kümmern. Das weiß ich von Schwester Gretel, und wir haben uns scheckig gelacht, als sie das erzählte.“ Das alles amüsierte ihn jetzt noch sehr. Sein Bauch bebte leicht, und er unterstrich seinen 44
Bericht mit manchen Gesten. „Ihr Sohn, müssen Sie wissen, riskierte nämlich eine noch kessere Lippe als sonst, seit er sich mit Gretel, unserer Stationsschwester, zusammengetan hatte. Und die und der Kollege Kümmerer waren sich ja auch nicht mehr so recht grün, seit sie privat nicht mehr miteinander auskamen.“ „Waren die beiden denn zuvor befreundet?“ Plötzlich stellte sich eine ziemliche Beklommenheit bei mir ein, und etwas in mir drängte dahin, diesem Umstand nachzugehen. Aber Kleins Gerede überdeckte den Impuls sofort. „Befreundet? Nicht nur das!“ rief er. „War ja auch ein Kind, reinweg zum Verlieben. Kennen Sie die Gretel überhaupt?“ Und als ich verneinend den Kopf schüttelte, sagte er: „Warten Sie mal, ich kann Ihnen da was zeigen.“ Er stellte die Kaffeetasse ab und ging zielgerichtet auf eine Fotografie zu, die in einer Reihe mit fünf anderen Bildern an der Wand hinter seinem Schreibtischstuhl hing, und nahm sie vom Nagel. „Ich habe es mir nämlich seit meiner Assistenzarztzeit in Zwickau (er deutete auf ein Bild nahe dem Fenster) zur Gewohnheit gemacht, mich mit den jeweiligen Mitarbeitern – mit dem Team, würde man wohl heute sagen – fotografieren zu lassen. Man will sich ja schließlich später auch noch erinnern können, wie die Leute ausgesehen haben, mit denen man zusammengearbeitet hat. Andere führen Tagebuch, ich ziehe denselben Nutzen aus Fotos. Wenn ich mir so ein Gesicht ansehe, habe ich sofort eine ganze Geschichte parat. Ich könnte Ihnen Lebensläufe, Tragödien, lustige Begebenheiten en masse zum besten geben, nur anhand dieser Bilder.“ Zum Glück für meine Geduld tat er nichts dergleichen, sondern kam zu dem Tischchen zurück. Er stellte sich neben mich und hielt mir die Aufnahme unter die Nase, auf der vor dem Eingang zur Klinik eine Gruppe von Männern und jungen Frauen zu sehen war: auf 45
Stühlen sitzend, fünf Krankenschwestern und mitten unter ihnen ein zufrieden lächelnder Dr. Klein, der die Hände über dem Bauch gefaltet hatte. An der rechten Ecke saß die junge Frau, die ich als Ramona flüchtig kennengelernt und die ich so robust, so sportsmädelhaft denn doch nicht in Erinnerung hatte; von den im Hintergrund stehenden Männern erkannte ich neben Jakob Dr. Kümmerer, kerzengerade aufgerichtet und mit einer Miene, von der man das Mißbehagen an solch einer kindischen Zurschaustellung seiner Person ablesen konnte. „Sehen Sie, dort“, Dr. Klein fuhr mit einem dicken, stark nach Tabak duftenden Finger auf dem Bild herum, „das ist Schwester Gretel.“ Ich sah in ein schmales Gesicht mit großen, anscheinend braunen Augen, das von kurzgeschnittenem dunklem Haar gerahmt wurde. Vielleicht war es das Lächeln, das mir dieses Gesicht so sympathisch und die Vorstellung so schwer machte, daß Gretel König tot sein sollte, ermordet, womöglich von meinem Sohn. Wie war das denn überhaupt: Hatte sich Jakob wirklich durch die Betten des weiblichen Pflegepersonals getrieben? Erst Ramona, dann Gretel … Und wer vielleicht sonst noch? Ein Klopfen an der Tür riß mich aus meinen Überlegungen.
4. Als ich den älteren der beiden Kriminalisten in der Tür stehen sah, überragt im Hintergrund von seinem Kollegen, der auch jetzt wie ein Konfektionär wirkte, war im Nu meine ausgewogenere Stimmung, in die ich mühsam genug gefunden hatte, vor dem Bewußtsein zerstoben, wieder unter den Blicken aus dem wachsamen Auge des Gesetzes zu stehen. Unwillkürlich wollte ich mich erhe46
ben, unterdrückte aber sofort den Impuls, als mir die Beflissenheit, die in einer solchen Geste liegen würde, bewußt wurde. „Ach, noch einmal der Herr Hauptmann“, sagte Doktor Klein, und das klang so vertraulich, als habe er den Polizisten mit dem Familiennamen und nicht mit seiner Rangbezeichnung angeredet. „Gibt es noch Fragen?“ Der Hauptmann warf einen langen Blick auf mich, in dem sich äußerstes Befremdetsein spiegelte. Erst dann wandte er sich dem Arzt zu. „Ja, wir brauchen noch ein paar Auskünfte.“ Am Mittag war sein Auftritt zu unvermittelt gewesen und demgemäß mein Schock zu groß, als daß sich mir sein Äußeres nachhaltiger hätte einprägen können. Jetzt hatte ich Muße, ihn mir genauer anzusehen, auch gefaßter, nachdem er in dem Sesselchen Platz genommen, in dem zuvor Dr. Klein gesessen hatte, indes sein Begleiter mit der demonstrativen Laxheit eines gelangweilten Obers neben der Tür stand. Und er wurde mir nicht sympathischer, dieser „Herr Hauptmann“, der da Jagd machte auf meinen Sohn. Er hatte eines der Gesichter, die man sogleich wieder vergißt, wenn sie einem aus dem Blickfeld geraten, weil die einzelnen Partien so genau aufeinander abgestimmt sind, daß sie in der Summe nur einen Typ ergeben – in seinem Fall den Typ eines bulligen Mannes. Er trug – das fiel mir auf, weil seine fleischige Rechte auf der Lehne lag – einen der schmalen halbrunden Eheringe, die zu der Zeit in Mode gewesen waren, als auch ich geheiratet hatte. Ich spürte, wie sich dieselbe Aversion gegen ihn wiederherstellte, die bei der Durchsuchung von Jakobs Zimmer in mir aufgestiegen war, und es half mir nicht, daß ich dachte: Mensch, Hermann, sei nicht voreingenommen. Ich kam nicht von dem Empfinden herunter, daß dieser Kriminalist eine Bedrohung darstellte, und das wieder hatte zur Folge, daß ich starr wurde vor Ablehnung und Unsicherheit. 47
Währenddessen saß der Hauptmann da, rührte sich nicht, sagte nichts, schnaufte durch die Nase und richtete den Blick auf das Ende einer Gardinenstange, wo ein glänzender Messingknauf seine ganze Aufmerksamkeit zu beanspruchen schien. Dr. Klein stand hinter seinem Schreibtisch und ließ freundliche Blicke von einem zum anderen wandern. „Hauptmann Habnicht und ich wollten mit Ihnen sprechen“, sagte der Mann an der Tür so gelangweilt, wie er aussah, zu Dr. Klein, der mit einem hilflosen Kopfnicken antwortete. Ich verstand natürlich sofort, daß ich unerwünscht sei, wappnete mich jedoch erst einmal mit Empörung gegen die Unverschämtheit, mich über eine dritte Person ansprechen zu wollen. Also blieb ich sitzen und wartete ab, was geschehen würde. Wenigstens, dachte ich, weiß ich jetzt, wie er heißt: Habnicht. Und es bereitete mir, wie schon so oft, eine gewisse Genugtuung, daß andere Leute auch mit nichtalltäglichen Namen geschlagen sind. „Ich möchte Herrn Professor Maul unter vier Augen sprechen“, sagte der Mann, der für mich von nun an einen eindeutigen Namen hatte. Als ich zu ihm hinübersah, bemerkte ich, wie er seinem Begleiter einen nicht gerade freundlichen Blick schenkte und wie der daraufhin Standbein und Spielbein wechselte, im übrigen jedoch keine Reaktion zeigte. „Draußen spricht es sich vielleicht besser.“ Nachdem ich mit einer verabschiedenden Verbeugung zu Dr. Klein hin das Zimmer verlassen hatte (innerlich kochend, weil man es wagte, mich wie eine beliebige Figur zu dirigieren), stand ich betont teilnahmslos im Gang und wartete darauf, was Habnicht, der die Hand auf der Klinke hielt, mir zu sagen hatte. „Ich verstehe ja Ihre Anteilnahme an dem Fall, muß Sie aber bitten, uns bei der Ermittlung nicht zu stören.“ 48
„Ich störe?“ Die Abneigung gegen den Mann verfestigte sich immer mehr. „Haben Sie sich schon einmal gefragt, ob Sie mich stören könnten?“ „Wir stören immer“, sagte er gleichmütig, ohne die Klinke loszulassen, so demonstrierend, daß er keine Zeit habe für ein längeres Gespräch mit mir. „Das bringt unser Beruf mit sich.“ Das klang, als habe er keine Lust zu eben dem Beruf. „Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Herr Professor: Überlassen Sie die Arbeit uns. Wir werden dafür bezahlt und verstehen unser Geschäft. Alles, was wir von Ihnen erwarten, ist, daß Sie uns benachrichtigen, wenn Sie etwas über den Aufenthalt Ihres Sohnes erfahren. Klar?“ Ehe ich noch antworten konnte, hatte er mir den Rücken zugekehrt und war hinter der ins Schloß fallenden Tür verschwunden. Einige Augenblicke stand ich unentschlossen da und nährte meine Empörung über die Art, mit der dieser Kriminalist mich behandelt hatte, unterdrückte jedoch den drängenden Wunsch, noch einmal in das Zimmer zu gehen und mit ein paar Sätzen klarzustellen, daß man mich nicht abfertigen könne wie einen dummen Jungen. Du hast Besseres zu tun, sagte ich halblaut vor mich hin, als dich mit einem ungehobelten Mann abzugeben. Und ein wenig gefestigter trat ich ins Freie. Trotzdem zitterten mir die Hände, als ich hinter dem Steuer saß. Am liebsten wäre ich geradewegs nach Hause gefahren; schließlich hatte ich genügend hinter mich gebracht an diesem einen Tag, und ich spürte das Gewicht meiner Arme und hatte Mühe, meine Gedanken darauf zu konzentrieren, was als nächstes unternommen werden könnte. Ich schluckte die herzstärkenden Pillen, die mir seit drei Jahren als tägliche Kost verordnet waren. Nach zwei, drei Minuten war ich dann so weit, daß ich einen Entschluß fassen konnte: Ich würde diesem Habnicht das Feld nicht überlassen, und ich entschied 49
mich, zunächst Florian Schmidt aufzusuchen, um in Erfahrung zu bringen, wie es sich genau mit den Liebesverhältnissen verhielt. Die Schmidts, Florian und sein Vater, wohnten nur zwei Straßen von der unseren entfernt in einer nach den Ideen des Bauhauses errichteten Villa aus den zwanziger Jahren, die mit ihrer schlichten und gleichzeitig aparten Rechtwinkligkeit einen sehr soliden Eindruck machte, und so war es nicht zu vermeiden, daß ich Herrn Schmidt hin und wieder begegnete, was jedesmal mit einem Lächeln und Kopfnicken und Hutziehen quittiert wurde. Zu einem Gespräch mit ihm war es nicht mehr gekommen, seit wir, damals beide Mitglied des Elternaktivs, einander ein Wortgefecht wegen der Beurteilung eines Lehrers geliefert hatten, der mir zu lasch und die Schüler zuwenig fordernd erschien, während er den Mann schätzte, weil er ihnen angeblich genügend geistigen Spielraum ließ, sich eine eigene Meinung zu bilden. Das lag Jahre zurück und hatte inzwischen alle Bedeutung verloren; aber jener Abend hatte die ohnehin lose und lediglich durch die Freundschaft unserer Söhne entstandene Beziehung endgültig, wie es aussah, aufgelöst, weil ich seinen schweifenden Vorträgen über die Erziehung der Jugend „zu eigenverantwortlichem Denken“ keinen Geschmack abgewinnen konnte und weil er mich wahrscheinlich für einen schlimmen Pedanten hielt. Auch bei der Abiturfeier hatten wir einander gemieden, und selbst an der Beerdigung seiner Frau, die im vorigen Sommer überraschend an einer Sepsis gestorben war, hatte nur Irene teilgenommen und auch in meinem Namen kondoliert. Also hatte ich kein besonderes Interesse daran, Schmidt zu begegnen; andererseits aber mußte ich mit seinem Sohn Florian sprechen, wenn ich über die Verstrickungen, in die Jakob geraten war, Klarheit gewinnen wollte. So verdrängte ich mein Unbehagen, als ich mei50
nen Wagen vor einem Volleyballplatz abstellte und die hundert Meter zum Haus der Schmidts zu Fuß zurücklegte. Dabei rief ich mir, quasi um mir Mut zu machen, ins Gedächtnis, daß Florians Vater mit dem renommierten Tanzorchester, dessen Begründer und dessen Leiter er seit zwanzig Jahren war, sich oft auf ausgedehnten Tourneen im In- und Ausland befand. Vielleicht hatte ich Glück, und er war nicht zu Hause. Über den Zaun hinweg sah ich Florian vor der tiefer gelegenen Garage an einem Motorrad basteln und rief ihn an. Er blickte hoch, legte zögernd den Schraubenschlüssel, den er in der Hand hielt, auf den Betonboden, drückte sich aus der Hocke hoch und kam langsam und unsicher, wie mir schien, über die ziemlich steil nach oben führende Rampe auf mich zu, wobei er sich die Hände an einem Lappen abwischte. Der junge Mann in Jeans und schwarzem Lederblouson bot wie immer einen angenehmen Anblick mit seinem langgewachsenen, aber – im Gegensatz zu Jakobs wildwuchernder Tolle – nach der Mode geschnittenen Haar und dem vollen Oberlippenbart im ebenmäßigen ovalen Gesicht. Florian, daran erinnerte ich mich jetzt wieder, wurde schon früh als zuvorkommend und gesittet gerühmt, zumal von den Müttern seiner Freunde. („Neben ihm“, hatte Irene einmal gesagt, als die beiden Jungen noch in die Grundschule gingen, „nimmt sich unser Jakob wie ein Rüpel aus.“) Zudem war er noch ein guter Schüler, besonders in den naturwissenschaftlichen Fächern, und ein vorbildlicher Pionier und später ein äußerst aktiver FDJler, was ihn auch den Lehrern angenehm machte, die ihn seinen Kameraden oft als Vorbild hinstellten, zum Beispiel solchen Knaben wie Jakob, die den Unterricht eher mit Gleichgültigkeit über sich ergehen ließen. „Mein Vater ist nicht zu Hause“, sagte er, und ich gewann den Eindruck, daß er meinen Besuch von vornher51
ein abwehren wollte. Jedenfalls zeigte sich Mißbehagen auf seinem Gesicht. „Guten Tag.“ Ich hob den Hut leicht an. „Ich wollte nicht zu Ihrem Vater, ich wollte zu Ihnen.“ Seit dem Abitur siezte ich die Freunde Jakobs, weil ich nichts davon halte, mich Menschen gegenüber, mit denen mich wenig verbindet, vertraulich zu geben, nur weil ich sie als Kinder und Heranwachsende gekannt habe. „Kann ich reinkommen?“ „Guten Tag.“ Er legte die Hände auf den Zaun und sah mich für Sekunden irritiert an, ehe ihm offensichtlich bewußt wurde, daß er mich nicht vor dem Haus abfertigen konnte. „Moment, ich schließe auf.“ Er öffnete die ummauerte Pforte und führte mich zum Haus. Sein Zimmer machte mit seinen Postern und seiner Unordnung im Prinzip keinen anderen Eindruck als das meines Sohns, war aber weitaus gediegener eingerichtet (die lederbezogene Couchgarnitur sprang mir sofort ins Auge, desgleichen der vietnamesische Teppich, der mindestens dreitausend Mark gekostet haben mußte) und glänzte mit einem wesentlich größeren Bücherbestand. Doch noch ehe ich mich in die Betrachtung darüber verlieren konnte, wieviel dieser geigende Kapellmeister („Herbert Schmidt und seine jauchzenden Geigen“ war der Slogan) verdienen mußte, um seinen Florian so auszustatten zu können, wurde ich auf den Grund meines Besuchs gelenkt. „Sie kommen wegen Jakob?“ Er wischte sich noch immer die Hände an dem Tuch ab. „Setzen Sie sich doch.“ „Weshalb soll ich wohl sonst kommen?“ „Okay.“ Er blieb stehen und sah mich nicht gerade freundlich an. „Hat er Sie geschickt?“ Wußte er wirklich nicht, daß Jakob nicht aufzufinden war? Ich beschloß, den Umstand vorerst nicht zu erwähnen. „Nein, ich wollte nur mit Ihnen über ihn sprechen. Und über Gretel und über Ramona.“ 52
„Geben Sie sich keine Mühe. Jakob ist für mich gestorben.“ Er warf das Tuch heftig auf den Boden. „Er ist eben das Schwein, für das ich ihn schon immer gehalten habe.“ Seine Stimme war nicht laut, aber sie war heiser vor Haß oder Verachtung, und nichts mehr in seiner Erscheinung erinnerte an den Jungen, der stets als Vorbild gegolten hatte und der auch von Irene darum ins Herz geschlossen worden war, daß er bei der Begrüßung einen exakten Diener machte und nur etwas sagte, wenn er gefragt wurde. Am liebsten wäre ich ihm grob in die Parade gefahren, doch gelang es mir, einen einigermaßen sachlichen Ton anzuschlagen, als ich sagte: „Mäßigen Sie sich, Florian. Ich habe keine Lust, mir so etwas anzuhören.“ „Lust!“ Er ging zum Fenster und gab sich den Anschein, als beobachte er etwas ungemein Fesselndes im dämmrigen Garten. „Glauben Sie, ich hätte Lust, diesen ganzen Dreck mit Ihnen noch einmal durchzukauen?“ Von hinten sah er doch reichlich feminin aus, fiel mir auf, mit seinem schlanken Hals, den abfeilenden Schultern und den ziemlich starken Hüften, die durch das enganliegende Blouson noch betont wurden. Dann wandte er sich mir wieder zu. „Und was soll Ramona mit alledem zu tun haben?“ Das klang, als wollte er einlenken. „Was hat er Ihnen erzählt?“ „Nicht wahr, Sie haben ihm Ramona weggenommen.“ Seine heftige Reaktion hatte mich zum Taktieren gezwungen. Ich mußte vor allem zu verhindern suchen, daß er die Führung des Gesprächs an sich riß, da ich doch eigentlich hätte sagen sollen: Ich weiß nichts über meinen Sohn, und das, was ich über Ramona und euch beide erfahren habe, stammt von Pastor Schöbel; bitte helfen Sie mir zu verstehen, was in ihm vorgegangen ist, und erklären Sie mir, ob Sie ihn wirklich für fähig halten, einen Mord zu begehen. Also taktierte ich, fügte gar noch mit leisem Nachdruck in der Stimme hinzu: 53
„Und dabei waren Sie doch sein Freund, sein bester Freund.“ „Er war nicht mein Freund, er ist es nie gewesen.“ Florian Schmidt stieß sich von der Fensterbank ab, tat zwei Schritte auf mich zu und stand mitten im Zimmer. „Das weiß ich jetzt.“ „Und deshalb haben Sie nicht mehr mit ihm verkehrt und sind nicht mehr bei uns gewesen?“ Er ignorierte meine Frage und fuhr fort: „Seit Jahresbeginn weiß ich das.“ „Seit Sie mit Ramona …“ „Seit er mir Gretel ausgespannt hat.“ Für Sekunden war ich sprachlos, und Florian Schmidt sah meinen Zustand mit offensichtlicher Genugtuung. „Da staunen Sie, wie!“ „Gretel war also …“ „Wir waren so gut wie verlobt.“ Jetzt ähnelte er wieder einigermaßen dem gesitteten, properen Jungen, als der er von Kind an gerühmt worden war. Er setzte sich auf die lederbezogene Couch, stellte die Beine ordentlich nebeneinander und legte die Hände auf die Oberschenkel. Doch ich hörte aus seiner Stimme noch immer die Erregung heraus, als er hinzufügte: „Jakob hat mich ganz gemein getäuscht.“ Meine Unsicherheit hatte sich so weit abgebaut, daß ich wieder ruhiger überlegen konnte. Zum ersten Mal zeichnete sich für mich der Umriß eines Motivs ab – und dieses Motiv wies nicht auf Jakob als Täter hin. Er hatte einem Freund die Braut abspenstig gemacht. Was also hätte ihn, den Gewinner in dem zweifelhaften Spiel, dazu bringen sollen, sich den Preis seiner Bemühungen durch einen Mord vom Hals zu schaffen? Und auf der anderen Seite stand Florian Schmidt, der bisher immer strahlende junge Mann, der vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben die Bitterkeit einer Niederlage kosten mußte und der, wie er durch seine spontane heftige Re54
aktion offenbart hatte, darüber ins Hassen geraten war. Aber konnte man sich vorstellen, daß der Drang nach Rache ihn in einem Maß beherrschte, das ihn zu Mord trieb? Und warum dann zum Mord an Gretel, die er doch anscheinend geliebt hatte und wahrscheinlich noch immer liebte, wenn man aus seinen Reaktionen Schlüsse ziehen wollte? Ein dummer Vers von Oscar Wilde kam mir in den Sinn: „Ein jeder tötet, was er liebt …“ Ich merkte, daß ich dabei war, ins Spekulieren und Poetisieren abzugleiten, und gerade das konnte ich mir jetzt am wenigsten leisten. Ich mußte das Theatralische, das Florian Schmidt ins Spiel gebracht hatte, beiseite schieben und mich um Sachlichkeit bemühen. Also sagte ich: „Sie wissen wohl, daß man Jakob verdächtigt, Gretel König getötet zu haben.“ „Wen sollte man denn sonst verdächtigen?“ Das kam noch verkrampft heraus, klang aber schon eher trotzig als haßerfüllt. „Meinen Sie vielleicht, ich hätte es getan?“ „Gerade das überlege ich.“ Jetzt war er an der Reihe, Verblüffung zu zeigen. Er wurde blaß und starrte mich aus weit aufgerissenen Augen an. Doch er fing sich wieder; jedenfalls versuchte er, meinen Satz mit einem Lachen wegzuwischen (was ihm aber herzlich schlecht gelang). „Ich kann ja verstehen, Herr Professor, daß Ihnen daran liegt, Ihren Sohn reinzuwaschen“, sagte er schließlich. „Aber finden Sie nicht, daß Sie da ein bißchen weit gehen?“ Der Ton gefiel mir noch weniger als der zuvor angeschlagene, und ich hatte wiederum Mühe, gelassen zu bleiben, als ich fragte: „Haben Sie übrigens schon vor der Polizei Ihre Aussage gemacht?“ „Ich?“ Er straffte das Rückgrat, ohne die Hände von den Oberschenkeln zu nehmen, was ihm das lächerliche Aussehen eines Schülers verlieh, der bei einer Unaufmerksamkeit ertappt worden ist. „Da war vorhin einer hier“, sagte er nach kurzem Überlegen. „Aber wir haben 55
fast nur über Jakob gesprochen. An mir hatte der kein Interesse. Warum sollte er auch?“ „Das will ich Ihnen sagen: Sie waren Jakobs Vorgänger bei Gretel König – Sie hatten allen Grund, sich an ihr zu rächen. Und Sie hassen Jakob, wollen, daß er als Mörder dasteht.“ Ich fühlte mich gar nicht wohl, als ich wie ein Ankläger Sätze formulierte, von deren Richtigkeit ich zumindest nicht völlig überzeugt war. Doch der Eindruck, den sie auf den jungen Mann machten, war fast dazu angetan, mich mit meinem Vorgehen zu, versöhnen. Auf dessen Gesicht nämlich wechselten in jäher Folge aufflackernde Angst und blinde Wut. Seine Hände vollführten ein paar ziellose Bewegungen, und er öffnete den Mund zum Sprechen, ohne sogleich ein Wort hervorzubringen. Schließlich sagte er mühsam: „Sie sind ja verrückt!“ Und er schluckte mehrere Male sichtbar. „Verrückt oder nicht: Ich werde Sie nicht aus den Augen verlieren, darauf können Sie sich verlassen.“ „Sie hätten besser Jakob nicht aus den Augen verlieren sollen.“ Das klang mir aufbegehrend, frech in den Ohren, als ob er wisse, wie er mich treffen könne. Er war aufgesprungen. „Ich glaube, Sie sollten jetzt gehen. Ich habe nichts mit Ihnen zu besprechen.“ Und ich, wie ein gescholtener dummer Junge, erhob mich folgsam, setzte mir den Hut auf und verließ das Zimmer. Als ich wieder im Auto saß, schwitzte ich trotz der kühlen, abgestandenen Luft im Wageninnern. Ich kurbelte das Fenster auf der Fahrerseite herunter, atmete zwei-, dreimal tief durch und wischte Stirn und Handflächen mit dem Taschentuch ab. Wenn das so weitergeht, dachte ich, und du dich bei jeder sich bietenden Gelegenheit in die Bredouille treiben läßt, liegst du bald auf der Nase. Ich sah Frau Müller vor mir, meine Sek56
retärin, und hörte den stereotypen Satz: Muten Sie sich ja nicht zuviel zu, Herr Professor, denken Sie immer an Ihr Herz. Muten Sie sich ja nicht zuviel zu … Mir wurde etwas zugemutet, womöglich zuviel. Zorn wallte in mir auf, Zorn auf Jakob, dem ich all die Aufregung verdankte, auf diesen Kindskopf von zweiundzwanzig Jahren, der sich noch immer so aufführte wie ein pubertierender Bursche, so hohlköpfig und arrogant gegenüber allem, was er das Establishment nannte. Wenn er nur rechtzeitig begriffen hätte, daß die Welt sich nicht mit Beat und verschwommenen altruistischen Empfindungen bewältigen läßt! Und jetzt saß er in der Tinte und ich mit ihm, natürlich auch Irene – die vor allem. Da war ihm von der Schule per Abiturzeugnis „Reife“ bestätigt worden, da hatte er bei der Armee gelernt, mit einer Kalaschnikow und mit Granatwerfern zu hantieren, da konnte er anscheinend einfühlsam mit Kranken umgehen – und war doch unfähig, sich mit den Mitmenschen zu arrangieren, sich ein paar Regeln des Zusammenlebens zu eigen zu machen. Wohin wären wir geraten, wenn wir uns damals so aufgeführt hätten? Damals! Die Erinnerung an das Elend, das uns Überlebende nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft umklammert hielt, an den täglichen nagenden Hunger, an die schäbigen Kleidungsstücke aus Zuckersäcken und gefärbten Uniformteilen, an die Zigarettenkippen, mit denen wir umgegangen waren wie mit Goldstücken – all das untermauerte meinen Zorn, und ehe ich mich versah, wurde ich stolz darauf, daß ich das alles in, wie mir jetzt vorkam, anständiger Manier überstanden und darüber hinaus noch die Zeit gefunden und die Gelegenheit ergriffen hatte, mich solid zu bilden und mir die vorwärtsweisenden Gedanken der Zeit anzueignen. Ich war also wieder einmal auf dem Selbstgerechtig57
keitstrip, wie manches Mal, wenn ich die geistige Haltung von jungen Leuten oder auch nur ihre Art, sich zu geben, nicht verstand. Und seltsamerweise half mir das über mein Stimmungstief hinweg, wenn es auch den Groll auf Jakob nicht gänzlich unterdrücken und die Zweifel an seiner Unschuld nicht völlig ausräumen konnte.
5. Wie lange ich so dagesessen und mich dem Spiel meiner Gedanken ausgeliefert hatte, wußte ich nicht. Jedenfalls war es inzwischen fast dunkel geworden. Während ich noch dabei war, den Motor anzulassen und darüber fluchte, daß die Batterie es nicht auf Anhieb schaffte, sah ich im Rückspiegel Florian Schmidt sein Motorrad auf die Straße schieben, in den trüben Lichtkreis einer Laterne. Er setzte sich einen von den Helmen auf, die harmlose Fahrer in Roboter oder Kosmonauten verwandeln, und kickte den Starter. Einem Impuls der Neugier nachgebend, ließ ich ihn an mir vorüberfahren und folgte ihm dann in einigem Abstand, darauf bedacht, ihn nicht aus den Augen zu verlieren – ganz so, wie ich es ihm in seinem Zimmer angedroht hatte. Vor dem Krankenhaus hielt er, und ich steuerte an den Straßenrand und beobachtete, wie sich eine Frau, die ich trotz des diffusen Lichts, das aus dem Tor quoll, als Ramona Paschotka zu identifizieren meinte, auf den Soziussitz schwang. Meine innere Spannung stieg, eine Art Jagdfieber hatte mich plötzlich gepackt, und es kam mir nicht einmal flüchtig in den Sinn, daß es doch eigentlich ziemlich lächerlich sei, wenn ein Mann von demnächst sechzig und ausgestattet mit einigen akademischen Graden sich wie ein beliebiger Detektiv aus 58
dem Fernsehen ans Observieren macht. Ich stellte mir auch nicht die Frage, ob es moralisch einwandfrei sei, sich so unverschämt in anderer Leute Tun und Lassen zu drängen; ich wollte nur noch wissen, was die beiden vorhatten, und also hängte ich mich wieder an, als das Motorrad startete. Diesmal ging die Fahrt ungefähr zwei Kilometer stadteinwärts. Am nächsten S-Bahnhof bog Florian Schmidt nach rechts ab, und mir kam eine Ahnung, wohin die Reise gehen würde: In der mit grauen genormten Genossenschafts-Neubauten vom Ende der fünfziger Jahre gesäumten Straße wohnte Sebastian Engel. Das Mietshaus, vor dem das Motorrad denn auch hielt, war mir bekannt. Mit Fritz Engel, einem Bauleiter, der vielleicht zehn Jahre jünger war als ich, hatte ich, ehe mich der Herzinfarkt traf, in der Altherren-Riege des TennisClubs „Aufbau“ gespielt, und wir hatten einander einige Male en famille besucht. Wieder hielt ich in einigem Abstand zu dem Motorrad am Straßenrand und überlegte, ob ich die Gelegenheit wahrnehmen sollte, drei der jungen Leute, die vielleicht mit dem Mord an Gretel König in Zusammenhang zu bringen waren, beieinander zu treffen und mit ihnen zu sprechen. Ich verwarf jedoch den Gedanken sofort, da mein Erscheinen sicherlich einen Solidarisierungseffekt hervorrufen und ich als Eindringling (der ich ja dann auch wäre) bestenfalls auf Schweigen stoßen würde. Zudem war in mir das Unbehagen noch zu sehr lebendig, das mir die Abfuhr durch Florian Schmidt bereitet hatte, und ich mochte ihm nicht noch einmal die Gelegenheit bieten, an mir seine Unverschämtheit auszuprobieren. Also schien es im Moment wohl das beste zu sein, das Detektivspielen aufzugeben. Schließlich wußte ich jetzt, daß die drei beieinanderhockten, und das Wissen um diesen Umstand war ziemlich wichtig, weil ich es am folgenden Tag, wenn ich bei dem Entschluß bleiben soll59
te, mich auch mit Ramona Paschotka zu unterhalten, in die Waagschale würde werfen können. Und entschlossen, diese Unterhaltung auch wirklich zu führen, war ich, seit ich erfahren hatte, daß da ein Wechselt-dasBäumchen-Spiel betrieben worden war, das den Mord an Gretel König möglicherweise in einem anderen Licht erscheinen ließ. Überdies würde es sich empfehlen, diesen Habnicht über alles ins Bild zu setzen, was ich bisher in Erfahrung gebracht hatte, für den Fall, daß die Polizei bei ihrer augenscheinlichen Fixierung auf Jakob als Täter es versäumt haben sollte, das Umfeld gehörig zu sondieren … Es wäre an der Zeit gewesen, mich nun endlich um Irene zu kümmern. Doch ich fuhr nicht nach Hause, gab mich vielmehr allerlei Mutmaßungen darüber hin, was die drei jungen Leute wohl miteinander zu besprechen hatten und ob das, was sie beredeten, überhaupt mit meinem Problem zusammenhing. Ich konnte mir nicht recht vorstellen, daß dies ein Treff unter Freunden wie viele zuvor sein sollte, jetzt, da erst zwei Tage seit dem gewaltsam herbeigeführten Tod einer der Ihren vergangen waren. In der Wohnung der Engels wurde, dessen war ich sicher, etwas geredet, das Jakob und natürlich auch mich betraf. Und je eher ich wußte, was da oben vor sich ging, desto günstiger war das für mich und Jakob. Ich stieg aus dem Wagen, unfähig, noch länger in verkrümmter Haltung hinterm Steuer zu sitzen, vertrat mir die Beine und beobachtete den Hauseingang. Mit dem Verstreichen der Zeit stärkte sich mein Vorsatz, so lange auszuharren, bis Florian Schmidt und Ramona Paschotka das Haus verlassen haben würden und ich mit Sebastian Engel sprechen könnte. Sebastian Engel war mir schon immer der sympathischste von Jakobs Freunden gewesen, und aus einigen gelegentlichen Gesprächen mit ihm hatte ich den Eindruck gewonnen, er habe Ver60
trauen zu mir, jedenfalls über das übliche Maß dessen hinaus, was an Vertrauen zwischen Generationen möglich zu sein scheint. Er interessierte sich auf eine erstaunlich ernsthafte Art für Literatur und Geschichte des Mittelalters, und einmal, kurz vor den Abiturprüfungen, hatte er mich um Auskunft über die Ritter-Dichtung gebeten, die im Unterricht nur gestreift worden war, und ich hatte einen Vortrag improvisiert und in ihm für zwei Stunden einen aufmerksamen Zuhörer gefunden. Mit ihm müßte sich eine sachliche Unterhaltung führen lassen, nahm ich an. Er wäre sicherlich nicht so einer wie Florian Schmidt, der Musterknabe, dem immer alles so leichtgefallen war und der sich jetzt, da ihm Schwierigkeiten entgegenstanden, arrogant und beleidigend aufführte. Gegen halb neun verließen dann Florian Schmidt und Ramona Paschotka das Haus und fuhren stadtauswärts davon, und obwohl ich mir inzwischen fest vorgenommen hatte, mit Sebastian Engel zu sprechen, mußte ich eine letzte und ziemlich hohe Hemmschwelle überwinden, ehe ich den Finger auf den Klingelknopf legte. Schließlich stattet man in meinem Alter nicht mehr unangemeldete abendliche Besuche ab. Und es kam, wie ich es befürchtet hatte: Als ich vor der Wohnungstür in der ersten Etage stand, sah ich nur Erstaunen in dem langen, hageren Gesicht von Fritz Engel. Offensichtlich erkannte er mich nicht einmal sofort; er kniff die Augen zusammen, ehe dann Erstaunen und Befremden aus seinen Zügen wichen und er mich mit einem Lächeln und der unter Sportsfreunden üblichen oberflächlichen Herzlichkeit eintreten ließ. „Na, dann kommen Sie mal ’rein, Professor“, sagte er. „Sie müssen meinen Aufzug schon entschuldigen.“ Er fuhr mit der Hand vom Hals bis zum Bauchnabel hinunter, um den Trainingsanzug, den landesüblichen Feierabenddreß, zu erklären. „Es ist ja schon recht spät.“ 61
Ich sagte, noch immer ziemlich befangen, ich hätte gern seinen Sohn gesprochen, wegen Jakob, und erwartete, Fritz Engel würde mir einen ernsten, wissenden Gesichtsausdruck entgegenbringen. Aber der reagierte nur arglos und fragte mit einem Anflug von Heiterkeit, ob man mich zum Boten in Angelegenheit der Söhne degradiert habe. Die Kunde von Gretel Königs Tod und seinen Umständen war also noch nicht bis zu Sebastians Eltern gedrungen. Das beruhigte mich einerseits für den Moment, ließ aber gleich darauf die Frage in mir entstehen, wie es erklärlich sei, daß ein Sohn zu Hause von etwas so Schwerwiegendem schwieg. Doch weiteren Wunderns wurde ich dadurch enthoben, daß sich die Tür am Ende des schmalen Korridors auftat und Sebastians Kopf erschien. „Guten Abend, Sebastian. Kann ich mal mit Ihnen sprechen?“ „Mit mir?“ Seine Stimme war belegt, und er mußte sie freiräuspern, ehe er nach einer Verlegenheitspause und einem schnellen Blick auf seinen Vater die Floskel anhängte: „Bitte, treten Sie näher.“ Er stellte sich neben seinen Vater, eher fremd und schüchtern, als sei er der Gast. „Und ich dachte, Sie halten erst einmal ein Schwätzchen mit mir und meiner Frau“, sagte Fritz Engel, „wo wir uns so lange nicht gesehen haben. Aber ich verstehe: Die Herren Söhne gehen vor. Bin eben gut dressiert.“ Ich versprach, anschließend noch ins Wohnzimmer hineinzuschauen, und folgte Sebastian Engel. Der kleine Raum, ein sogenanntes halbes Zimmer, war nur von einer Tischlampe erhellt, deren Lichtkegel auf eine Schreibmaschine gerichtet war, an der Sebastian offensichtlich gearbeitet hatte. Ein Bogen war eingespannt, und rechts häuften sich die schon beschriebenen, links lagen die noch leeren Blätter. Im übrigen machte das Zimmer einen äußerst kargen, aber adretten 62
Eindruck; soweit ich nach einem ersten Umsehen und bei dem schwachen Licht, das die Ecken im Dunkel ließ, erkennen konnte, fehlten die üblichen Poster und Bilder an den Wänden, und die große Platte eines alten Schreibtischs unter dem Fenster war bis auf die Schreibmaschine, die beiden Papierhäufchen und eine Fotografie der Eltern leer. Das Zimmer dieses jungen Mannes hatte ich mir anders vorgestellt, mit mehr Phantasie ausgestaltet, womöglich mit einem Touch von Boheme. Und ihn selber hatte ich anders in Erinnerung, nicht so eckig in seinen Bewegungen und weniger gehemmt im Sprechen. Selbst die Auskunft darüber, wie er seine Zeit seit dem Ende des Armeedienstes hinbringe (ich wußte von Irene, daß auch er auf die Zulassung zum Studium wartete und als Hilfskraft bei einer Zeitschrift arbeitete, die sich auf Humor und Satire kapriziert hatte), geriet ihm zu abgerissenen und verdrehten Sätzen. Erst als ich ihn – selber in der Gefahr, von der Unsicherheit, die von ihm ausging, angesteckt zu werden, und bestrebt, ein persönlicheres Gesprächsklima zu schaffen – danach fragte, was er denn da in der Schreibmaschine habe, wurde er ein wenig unbefangener und sprach von Erzählungen, an denen er sich erprobe. „Erzählungen aus dem Alltag“, sagte er, „in denen ich Antwort darauf suche, warum Menschen unglücklich sind.“ Dabei saß er auf einem drehbaren Bürostuhl, den Rücken zum Schreibtisch, mit hängenden Schultern, gesenktem Kopf und die Hände um die Vorderkante des Sitzes gekrampft. Unter anderen Umständen hätte ich mich gern auf sein Problem eingelassen, auch um herauszufinden, warum ein Zweiundzwanzigjähriger nicht eher darauf aus war, sich nach glücklichen Menschen und nach Gründen für ihr Glück umzusehen. Aber ich hatte ja eine andere Frage zu lösen, die zwar auch mit Unglück zu tun hatte, aber nicht mit Literatur. Und so blieb mir nur ein Stück63
chen Nachdenklichkeit, das ich mit der einleitenden Bemerkung beiseite schob: „Sie wissen, was man Jakob vorwirft?“ Er nickte, ohne seine Haltung zu ändern. „Seit kurzem.“ Er machte auf mich den Eindruck, als wollte er es bei dieser kargen Auskunft belassen. Und so wurde ich drängender. „Er war doch Ihr Freud, Sebastian. Oder etwa nicht?“ „Jakob ist mein Freund.“ Er hob den Kopf und maß mich mit einem fast feindseligen Blick. „Oder ist es nicht mehr üblich, daß sich Freundschaft gerade im Unglück bewährt?“ Am liebsten hätte ich gelacht über dies angelesene Pathos, beschränkte mich aber auf eine beruhigende Geste und auf die nichtssagende Antwort: „Das finde ich schön.“ Sebastians Reaktion überraschte mich. Seine Stimme gewann an Festigkeit, als er sagte: „Ich kenne Jakob wie einen Bruder.“ Und dann, nach einer Pause und leiser: „Und außerdem traue ich ihm ein solches Verbrechen nicht zu.“ „Das ehrt Sie. Die Polizei scheint da anderer Ansicht zu sein. Und Ihr gemeinsamer Freund Florian hat ihn mir gegenüber auch nicht gerade in den freundlichsten Farben gemalt.“ Er vollführte eine unbeherrschte, wegwerfende Bewegung mit dem Kopf, ohne den festen Griff um die Kante des Stuhlsitzes zu lockern. „Zwischen denen ging es doch nur um Weiber.“ Er benutzte das herabsetzende Wort auf eine Weise, die lächerlich und unbeholfen wirkte. „Florian kann eben nicht verlieren.“ „Kann Jakob denn verlieren?“ Ich wußte nicht, warum ich die Frage stellte, da sie doch in keinerlei Zusammenhang mit dem Ziel stand, das ich anvisierte. Mag sein, ich wollte dem mir fast unbekannten jungen 64
Mann Jakob auf allen Wegen näherzukommen versuchen, eben auch jetzt und hier. „Der? Jakob hat doch nie verloren. Ich meine: in der Beziehung.“ Das hörte sich ziemlich bitter an. Vielleicht lag auch eine Spur von Neid in den Worten. „Und wie steht es in der Beziehung mit Ihnen?“ Da ich nun einmal dabei war, ein solches Fragespiel zu betreiben, wollte ich auch diese Auskunft nicht versäumen, obwohl mir die Art von Seelenforschung nicht ganz geheuer war und ich mir vorstellte, Sebastian Engel könnte den Spieß umdrehen und wissen wollen: Und Sie, Herr Professor, können Sie denn eigentlich verlieren? Aber er fragte nichts dergleichen. Er sagte: „Ich weiß es nicht“, wobei er wirklich so aussah, als habe er noch nicht über dieses Problem nachgedacht. Sein flüchtiges Lächeln schien um Nachsicht zu bitten. „Vielleicht begebe ich mich möglichst nicht in Situationen, aus denen ich als Verlierer herauskomme.“ Bedeutete das, daß er allen möglichen Konflikten aus dem Weg ging, aus Furcht, er könnte lädiert werden? Oder bezog er sich nur auf den Umgang mit Frauen? Ehrlich gesagt, konnte ich mir diesen Sebastian Engel auch nicht als amourösen Wagehals vorstellen. „Sie denken also: Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.“ Mehr als diese abgegriffene Wendung fiel mir nicht ein. „Recht haben Sie.“ „Auch das weiß ich nicht so genau.“ Er ließ nun endlich die Stuhlkante los und strich sich mit der Rechten durchs Haar. „Manchmal denke ich, ich sollte mich ein bißchen mehr ins Leben mischen, wie Jakob.“ Und wieder klang bei der Erwähnung meines Sohnes ein bißchen Neid an. „Der nimmt und läßt los, einfach wie es sich ergibt.“ Das hörte sich gar nicht wie ein Kompliment an und 65
war wohl auch nicht so gemeint. Dennoch konnte ich mich eines gewissen spontanen und dummen Stolzes darüber nicht erwehren, einen so selbstsicheren Sohn zu haben, da ich doch eigentlich allen Grund gehabt hätte, diese Seite seines Charakters, die mitverantwortlich sein mochte für die Klemme, in der er stak, zu beklagen. Bedeutet denn, rief ich mich selber zur Räson, Nehmen und Loslassen überhaupt Selbstsicherheit? Ich erinnerte mich an die Jahre, bevor ich Irene kennengelernt hatte, an die schnell geschlossenen und ebenso schnell wieder aufgegebenen Freundschaften mit jungen Frauen, die neben der altersbedingten Neugier nichts signalisiert hatten als Unsicherheit und Unkenntnis, Unkenntnis übrigens auch der eigenen Möglichkeiten und Grenzen. An mein Verhältnis mit Katharina Manthey allerdings dachte ich in diesem Moment nicht, wahrscheinlich weil ich einen Vergleich der wechselnden Amouren meines Sohns und seiner Kumpane mit dieser innigen und schönen Freundschaft von vornherein für unangemessen hielt. Ich lenkte das Gespräch wieder auf mein eigentliches Anliegen und fragte Sebastian Engel, ob er, abgesehen von der guten Meinung, die er von Jakob hegte, von irgendwelchen Tatsachen wisse, die ihn entlasten könnten: Er verneinte, fügte aber hinzu, wie zur Entschuldigung, sie hätten sich in letzter Zeit nur noch selten getroffen. „Und doch sagen Sie, er sei Ihnen wie ein Bruder?“ „Muß man denn einem Bruder alles nachsehen?“ Er blickte mich herausfordernd an. Überdies schien er befriedigt, eine solch griffige Formulierung gefunden zu haben, denn er knüpfte an sie eine Betrachtung darüber, wie heilsam es sein könne, den Bruder merken zu lassen, daß man mit seinem Verhalten nicht einverstanden sei. Auch stellte er mir lebhaft Ramonas Vorzüge vor Augen („Er hat sie einfach weggeworfen“, sagte er empört), lob66
te ihre Verläßlichkeit vor allem, und malte mir mit solcher Emphase das Bild einer in vielen Belangen einwandfreien jungen Frau, daß in mir die Frage aufstieg, warum er nach allem sich nicht selber um das Mädchen bemüht habe. Nur um eine mögliche Niederlage zu vermeiden? Ich fragte: „Sie wollten also Ihren sozusagen Bruder dafür strafen, daß er Ramona untreu geworden ist?“ „Strafen …“ Er wiegte den Kopf im Zweifel. „Leute Ihrer Generation verwenden manchmal seltsame Ausdrücke für ganz normale Vorgänge. Ich war einfach sauer.“ „Weil er Ramona weggeworfen hat?“ „Weil er unsere Freundschaft durcheinandergebracht hat. Ich meine: das Verhältnis zwischen uns dreien und dann auch das zu den Mädchen.“ „Dann waren Sie also zuvor eine Fünferbande.“ Der Witz war anscheinend an ihn verschwendet. „Wie meinen Sie das?“ fragte er ernst und sah mich voller Unverständnis an. „Oder vielleicht doch eine Sechsergemeinschaft? Haben Sie denn nichts Weibliches zu der allgemeinen Harmonie zugesteuert? Haben Sie das ganz und gar den beiden anderen überlassen?“ Ich vermeinte geradezu körperlich zu spüren, wie sich Sebastian Engel in sich zurückzog, und ich bereute, mich so weit in seinen privatesten Bereich gewagt zu haben. Und es klang dann wohl auch wie eine Art Abbitte, als ich sagte: „Verstehen Sie doch: Ich muß mich informieren.“ „Und was hat das damit zu tun, ob ich eine Freundin habe oder nicht?“ Und als ich nicht gleich Worte fand, seiner jetzt aufkeimenden Heftigkeit zu begegnen, fuhr er fort: „Wenn Sie es denn wissen wollen, weil es Ihnen wichtig ist – ich habe keine Freundin, zur Zeit nicht.“ Ich bemerkte, wie große Mühe er sich gab, seine Erregung nicht zu 67
zeigen. „Jedenfalls waren wir eine prima Truppe.“ Die landläufige Umschreibung nahm sich seltsam aus in seinem Mund, und ich war mir gewiß, daß ihm ein solch legerer Ton in seinen Geschichten, die da vom Unglück der Menschen in ihrem alltäglichen Leben handeln sollten, nicht unterlief. Unser Gespräch schien ihm jetzt ziemlich nahezugehen, und ich glaubte zu wissen: Wenn ich nicht lockerließ und seine emotionale Unsicherheit ausnutzte, kam ich womöglich ein Stück weiter bei meinem Versuch, hinter die Verhältnisse zu blicken, in denen Jakob sich bewegt hatte. So beschloß ich, den Dialog mit einer gelinden Provokation zu beleben und ihm zugleich eine Richtung zu geben. Ich sagte so sachlich, wie es mir möglich war: „Könnte Ihrer Meinung nach Florian etwas mit Gretel Königs Tod zu tun haben?“ Meine Erwartung, seine Erregung würde sich steigern, erfüllte sich nicht. Sebastian Engel drehte sich auf dem Stuhlsitz zum Schreibtisch, nahm sich eine Zigarette, zündete sie an, und als er sich wieder mir zuwandte, bemerkte ich so etwas wie eine bewußt zur Schau gestellte Gelassenheit in seinen Augen. Betont langsam führte er die Zigarette zum Mund, lange sog er den Rauch ein und entließ ihn wieder mit gespitzten Lippen in einer schier endlosen Fahne, so als wollte er mir zeigen, wie weit sein Atem reichte. „Schade, Herr Professor“, sagte er dann, nachdem er tief, wie nach einer heftigen Anstrengung, durchgeatmet hatte, „daß Sie nicht eine halbe Stunde früher gekommen sind. Dann hätten Sie selber Florian die Frage stellen können.“ „Ich weiß.“ „Was wissen Sie?“ „Daß er vorhin bei Ihnen war.“ „Sie sind ihm gefolgt?“ „Ich habe ihn aus dem Haus kommen sehen. Und außerdem habe ich vorher mit ihm gesprochen.“ 68
„Das weiß ich nun wieder.“ „Und ich habe ihm meine Vermutung auf den Kopf zugesagt.“ „Davon hat er hier nichts verlauten lassen.“ Der lebhafter gewordene Wortwechsel fiel in sich zusammen. Sebastian Engel schien aus dem Konzept geraten zu sein, und er benötigte einige Sekunden, ehe er sich wieder gesammelt hatte. „Und wie hat Florian darauf reagiert?“ „Er hat mich einen Verrückten genannt.“ „Wundert Sie das?“ „Nein. Es wundert mich aber, daß er Ihnen nichts davon erzählt hat.“ Nach einer neuerlichen Pause, die von einem abermaligen tiefen, aber nun nicht mehr demonstrativen Zug aus der Zigarette ausgefüllt wurde, sagte er leise, mehr wie zu sich selbst: „Florian konnte eben noch nie verlieren. Möglich …“ Er brach ab, kreiselte wieder zum Schreibtisch und drückte die gerade angerauchte Zigarette im Aschenbecher aus. „Was halten Sie für möglich?“ „Nein, das sind Hirngespinste.“ Er ging zum Wandschalter und knipste die Deckenbeleuchtung an, eines jener häßlichen Gehänge, die in den fünfziger Jahren als modern galten. Im helleren Licht sah er viel blasser aus, als fühle er sich nicht wohl. „Warum sollte Florian so etwas getan haben?“ „Aus Rache. Eben weil er nicht verlieren kann. Sie haben es selber gesagt, zweimal.“ „Trotzdem …“ Er machte mir den Eindruck, als wolle er einer solchen Vermutung nicht weiter nachgehen, und ich spürte, es wäre sinnlos, weiter in ihn zu dringen. Immerhin hatte ich ihm etwas zu denken aufgegeben, das war deutlich genug. Ich sah auf meine Armbanduhr. „Es ist wohl besser, wenn ich mich auf den Heimweg mache.“ 69
Der Satz schien ihn nicht erreicht zu haben, obwohl er nickte. Als ich schon zur Tür ging, sagte er leise: „Ob Florian gewußt hat, daß Gretel demnächst wieder frei gewesen wäre, weil Jakob vorhatte, sich von ihr zu trennen?“ Ich blieb stehen, die zum Griff nach der Türklinke bereite Hand verharrte eine Weile in ihrer Stellung, ehe ich sie fallen ließ. „Was heißt das?“ Sebastian Engel schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube nicht, daß er es gewußt hat.“ Er schien gar nicht zu bemerken, daß ich noch anwesend war. „Jedenfalls habe ich ihm nichts davon gesagt, bestimmt nicht.“ Ich trat einen Schritt von der Tür zurück; von den Füßen hoch zog sich ein Kribbeln, wie es sich bei mir manchmal einstellt, wenn sich etwas Außergewöhnliches ereignet. „Darf ich mich noch einmal setzen?“ „Bitte.“ Er blickte mich an, als nähme er mich zum ersten Mal wahr an diesem Abend. Dann, nach einem Lidschlag, sah es so aus, als käme er in die Realität zurück. „Aber gewiß doch, Herr Professor!“ Er führte eine schlampige kleine Verbeugung vor. Ich hatte mich inzwischen so weit gesammelt, daß ich fragen konnte: „Woher wissen Sie, daß Jakob sich von Gretel König trennen wollte?“ „Von ihm natürlich.“ Er saß wieder auf dem drehbaren Schreibtischstuhl und hatte wieder die Hände um die Kante des Sitzes gekrampft, ganz wie zu Beginn unserer Unterredung, nur war sein Gesicht jetzt ein wenig entspannter. Und er berichtete, er habe Jakob vor vierzehn Tagen im Foyer des Berliner Ensembles getroffen, in Begleitung einer Frau. „Einer sehr charmanten, schönen Frau“, sagte er und schilderte sie über Gebühr ausführlich als gut gekleidet, schlank, intelligent aussehend und selbstsicher, und erneut hatte ich den Eindruck, als schwinge Neid in seiner Stimme. „Als sie zur Toilette ging, hat er es mir gesagt.“ 70
„Was genau hat er Ihnen gesagt?“ „Daß er Schluß machen will mit Gretel. Er habe die Frau gefunden, nach der er sich schon immer gesehnt hätte.“ „Unsinn!“ Das Wort war mir gegen meinen Willen herausgefahren. Die ersehnte Frau! Das Kribbeln in meinen Beinen hatte inzwischen die Knie erreicht. „Etwas Ähnliches habe ich auch gesagt. Die Frau war nämlich ein ganzes Stück älter als Jakob. Und außerdem kann ich mir nicht vorstellen, daß sie ihn für voll nimmt. Ich meine: So, wie die aussah …“ „Wieviel älter?“ „Ich weiß nicht genau. Ich schätze, sie war Ende Zwanzig, Anfang Dreißig. Bei solchen Frauen bin ich mir nie sicher, was das Alter angeht, und meistens schätze ich sie jünger, als sie wirklich sind. Ist ja auch egal.“ Und nach einer Pause sagte er in einem Tonfall, als täte es ihm leid, das Gespräch überhaupt auf diesen Gegenstand gebracht zu haben: „Vergessen Sie es. Vielleicht hat Jakob nur geflunkert.“ Da saß ich denn nun, aufs neue verwirrt von einer unerwarteten Auskunft, und wußte zudem nicht recht, ob ich Sebastian Engels Rede, die plötzlich reichlicher strömte, als Ablenkung auffassen sollte. Der hatte nämlich unvermittelt von seinen literarischen Versuchen zu sprechen angefangen, vielleicht auch, um mir zu imponieren. Mir war es gleichgültig, und ich überlegte, da die mir planvoll oder nicht bereitete Überraschung zu verrauchen begann und der Wunsch, das Haus zu verlassen, stärker wurde, wie ich mich verabschieden könnte, ohne ihn zu kränken. Inzwischen war er mit seiner Plauderei bei dem Vorhaben angelangt, eine Geschichte nach dem Stoff von „Romeo und Julia“ zu schreiben, die „hier und heute“, wie er es formulierte, angesiedelt wäre, und als ich, nur um etwas zu sagen, einwandte, so etwas sei wahrhaftig nicht 71
originell, weil das seit Jahrhunderten alle naselang versucht werde, entgegnete er ziemlich schroff: „Das weiß ich selbst. Aber mir geht’s nicht so sehr um das Pärchen und seine Schwierigkeiten mit den Elternhäusern. Der Freund Romeos – Mercutio heißt der wohl bei Shakespeare, bei mir wird er natürlich einen anderen Namen haben –, dieser Freund liebt also Julia und kommt selbstverständlich dadurch in Konflikt mit Romeo, mit sich selbst, überhaupt mit der Welt. Verstehen Sie?“ Ich verstand, wieder ein bißchen interessierter geworden an dem Gerede, daß da ein junger Mensch seinen Hirnqualm durch Aufschreiben einer Parabel ablassen wollte, und sagte: „Und Julia heißt Ramona. Oder vielleicht Gretel? Und Romeo ist Jakob oder Florian. Sind Sie Mercutio?“ „Das habe ich mir gedacht“, sagte er im Ton befriedigter Erwartung. „Alles wird sofort personalisiert.“ Von euch alten Knackern – das sagte er zwar nicht, schwang aber mit. „Aber wenn Sie schon einmal dabei sind: Wie wär’s, wenn Sie die Rolle des Capulet übernehmen würden? Oder ist der edle Montague Romeos Vater? Ich verwechsle die beiden Herren immer miteinander. Und könnte nicht auch die Dame aus dem Theater die Julia sein?“ Soviel Dreistigkeit hatte ich von ihm nicht erwartet, war aber auch wieder froh, daß diese Wendung des Gesprächs mir die Gelegenheit gab, mich zu verabschieden. „Na, dann schreiben Sie mal schön fleißig“, sagte ich, schon an der Tür. Als täte es ihm leid, mir Anlaß zum Ärger gegeben zu haben, erklärte Sebastian Engel noch: „Im Ernst, ich wollte mit der Erzählung nicht auf unsere persönlichen Verhältnisse anspielen. Den Plan trage ich schon seit langem mit mir herum.“ „Schon gut. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir 72
Bescheid sagten, sobald Sie etwas von Jakob hören. Womöglich meldet er sich eher bei Ihnen als bei mir.“
6. Natürlich war es mir nicht gelungen, unbehelligt von Fritz Engel und seiner Frau aus der Wohnung zu gelangen. Die beiden hatten mir aufgelauert, und ich hatte interessierte Miene zu dem langweiligen Spiel machen müssen, das da hieß, das letztjährige Finale von Wimbledon zu bereden (das ich nicht einmal im Fernsehen verfolgt hatte), dann mir den Sermon über die miese Qualität des Tennissports in der DDR anzuhören („Die Tschechen können’s doch“, sagte der Hausherr, „warum denn wir nicht?“), den langen Winter zu beklagen und die Aussichten auf einen besseren Sommer zu erörtern. („Aber eigentlich kann uns das ja egal sein“, sagte Frau Engel, „wie das Wetter wird, wir fahren in diesem Jahr an die jugoslawische Adria. Scheußlich teuer, aber man muß ja wohl die Sonnengarantie mitbezahlen.“) Jetzt, hinterm Steuer, den Geschmack des süßlichen Kognaks auf der Zunge, der mir aufgeredet worden war, und beunruhigt von der Möglichkeit, auf dem kurzen Weg nach Hause in eine Polizeikontrolle zu geraten, mußte ich mich wieder auf Irene einstellen, die über den Bemühungen des Tages in den Hintergrund getreten war. Und je näher ich unserem Haus kam, desto bedrückender wurde der Gedanke, ihr gegenübertreten und ihren ängstlichen und fragenden Blick aushalten zu müssen. Diese Vorstellung nahm mir sogar das Hungergefühl, das mich plötzlich und heftig überfallen hatte, als ich die Wohnungstür der Engels hinter mir zumachte. Nein, essen wollte, konnte ich nicht – bei dem Gedanken an eine Flasche Bier, ganz kalt aus dem Kühlschrank, war 73
mir wohler. Vielleicht auch war Nachricht von Jakob eingegangen oder wenigstens über ihn, möglicherweise aus dem Gefängnis. Ich wünschte mir inzwischen nichts mehr, als zu wissen, wo er sich aufhielt, und sei es im Arrest; Hauptsache, er wäre an einem sicheren Ort. Aber was bedeutete das schon: an einem sicheren Ort? Unser Haus hatte sich als ein solcher nicht erwiesen. Der Titel eines Romans kam mir in den Sinn: „Haus ohne Hüter“ … War ich denn der Hüter meines Sohns, der so wenig gehütet sein wollte wie ein streunender Wolf? Bei dem Vergleich erschrak ich denn doch, und ich trat heftig aufs Gaspedal, um mich abzureagieren. Schon als ich in den Grünen Weg einbog, sah ich in den Fenstern des Wohnzimmers noch Licht. Sonst ging Irene immer früh zu Bett, gegen zehn Uhr, spätestens um halb elf, und jetzt war es schon fast Mitternacht, und meine insgeheim gehegte Hoffnung, der Tag könnte sie so müd gemacht haben, daß sie schlief, wenn ich kam, und daß mir eine halbe Stunde zur Erholung blieb, hatte sich nicht erfüllt. Sie trat mir schon an der Haustür entgegen, vom Motorengeräusch aufmerksam geworden. Unnatürlich steif und mit Augen, die ins Nichts blickten, stand sie vor mir, ganz so, wie sie am Fenster gestanden hatte, als die Kriminalisten das Haus verließen, und die Vorstellung, sie könnte in diesem tranceähnlichen Zustand die ganze Zeit seit meinem Weggang zugebracht haben, ließ mich erschrecken. Die Starre löste sich auch nicht, nachdem ich ihr einen Kuß auf die Wange gegeben und mich mit ein paar Worten wegen meines langen Wegbleibens entschuldigt hatte. Wie aufgezogen ging sie vor mir her, ließ sich in ihren Sessel vor dem Fernseher nieder, während der glatzköpfige und einen Lolly lutschende Polizeileutnant Kojak dabei war, einen Gangster auf dem Revier in die Mangel zu nehmen. „Entzückend, Baby“, das waren 74
seine letzten Worte, ehe ich der Szene mit einem Knopfdruck ein Ende bereitete. Irene schien nicht einmal das Ausbleiben von Geräusch und Flimmern wahrzunehmen. Sie saß verloren da, die Hände im Schoß zusammengelegt, und ich war nach einem Blick auf sie im Zweifel, ob ich ihr jetzt noch erzählen sollte, was mir begegnet war, und wollte mir schon eine Flasche Bier aus der Küche holen. Da sagte sie: „Er hat angerufen.“ „Wer?“ fragte ich mechanisch, obwohl ich natürlich sofort wußte, wer gemeint war. „Jakob.“ „Wann hat er angerufen?“ „Gegen acht.“ „Und weiter? Wo ist er?“ „Das weiß ich nicht.“ „Wieso weißt du das nicht?“ „Fahr mich nicht so an!“ Ich mußte in meiner Erregung lauter gesprochen haben, als zur Verständigung nötig, und in dem Punkt war Irene besonders empfindlich, darauf reagierte sie immer mit weinerlichem Unmut, wie auch jetzt. Ich war dennoch froh, daß sie überhaupt reagierte, entschuldigte mich und wiederholte die Frage weniger laut. „Weil er es mir nicht gesagt hat.“ „Was hat er denn überhaupt gesagt?“ „Wir sollen uns keine Sorgen machen. Er hat mit dem Tod dieser Gretel König nichts zu tun.“ „Und warum versteckt er sich dann?“ „Er will sich nicht verdächtigen und verhören lassen, und er will erst zurückkommen, wenn alles aufgeklärt ist.“ „Wieso weiß er übrigens von dem Mord?“ „Das habe ich ihn auch gefragt. Daraufhin hat er einfach aufgelegt.“ „Aufgelegt …“ Das Wort durchzuckte mich, als besä75
ße es eine besondere Schwere, und bedeutete nicht einfach, daß Jakob uns seinen Aufenthalt nicht mitteilen wollte. „Das kann doch nicht sein! Was hast du denn vorher gesagt?“ „Daß ich mir trotzdem Sorgen mache und daß er nach Hause kommen soll!“ „Ich meine: Was hast du ihn gefragt? Hast du überhaupt die richtigen Fragen gestellt?“ Mein Gott, dachte ich, warum bin ich nicht hier gewesen, als der Anruf kam? Ich hätte ihm schon die richtigen Fragen gestellt, mir wäre er nicht so mir nichts, dir nichts entwischt. Und als hätte sie meine Überlegungen erraten, sagte sie: „Warum treibst du dich auch in der Weltgeschichte herum? Wenn du zu Hause gewesen wärst, hättest du mit ihm sprechen können. Du kannst das vielleicht besser. Du kannst ja überhaupt alles besser.“ So waren wir denn glücklich bei der Verallgemeinerung angelangt, der Vorbedingung für alle unsere Streitereien, die meist damit endeten, daß jeder sich fragte, ob der ganze Aufwand an Beschuldigungen und Gegenbeschuldigungen nötig gewesen war. Aber heute ging es nicht um eine Lappalie, und ich war nicht gesonnen, eine so ernste Angelegenheit auf dem Niveau eines gewöhnlichen Hauskrachs zu erörtern. Also sagte ich nur: „Ich habe einen schrecklichen Tag hinter mir“ und ging in die Küche, um endlich zu meinem Bier zu kommen. Denn über dem Frage-und-Antwort-Spiel war mir die Kehle trocken geworden, und die Zunge lag mir wie ein Stück Holz im Mund. Außerdem brauchte ich jetzt Ruhe, mußte allein sein mit meinen Überlegungen oder was ich dafür halten mochte. Doch als hätte sie der Wortwechsel so nachhaltig aus ihrer Starre erlöst, daß sie nicht anders konnte, als ihre wiedergewonnene Beweglichkeit sofort und intensiv zu erproben, folgte sie mir über die Diele in die Küche. „Gib mir einen Korn“, sagte sie, als ich den Kühl76
schrank öffnete. Ich blickte verwundert, fast erschrocken hinter mich. Sie wiederholte: „Gib mir einen Korn.“ Dabei scharrte sie entschlossen einen Stuhl über die Fliesen und setzte sich, in Erwartung des Korns die Unterarme auf die Platte des Küchentischs gelegt. Dann saßen wir einander gegenüber, vor mir standen Bierglas und -flasche, sie rückte das Schnapsglas hin und her. Wir sahen einander nicht an und schwiegen, und trotz des brennenden Dursts brachte ich es nicht fertig, einen Schluck zu trinken. „Ist dir der Appetit vergangen?“ fragte sie plötzlich. „Prost!“ Und sie goß den Schnaps mit der unsicheren Bewegung und der Hast eines Menschen hinunter, der an diese Art von Getränk nicht gewöhnt ist und der vor ihm Angst hat und Ekel empfindet. Ihre Abneigung vor Alkoholischem war ihr schon im Elternhaus eingebleut worden, wo man jede Art von Gekeltertem, Gebranntem und Gebrautem als Mittel des Teufels angesehen hatte, Seelen zu vergiften und in seine Gewalt zu bekommen. Vergebens hatte ich am Anfang unserer Ehe versucht, ihr ein weniger feindseliges Verhältnis zu Wein und Schnäpsen zu vermitteln, damit sie wenigstens bei geselligen Zusammenkünften nicht herumsaß wie die Fleisch gewordene Prohibition und sich an Apfelsaft labte; doch sie hatte stets – wenn überhaupt – nur mit Widerwillen und das kleinstmögliche Quantum getrunken. Und nun goß sie einen reichlichen Doppelten einfach in sich hinein, schüttelte sich anschließend nicht einmal, hustete nicht, und nur daran, daß ihre Augen wäßrig wurden, erkannte ich, daß der Korn seine Wirkung tat. Sie schob das Glas von sich weg, und während ihr blasses Gesicht sich, beim Kinn beginnend, allmählich mit einer leichten Röte überzog, sagte sie: „Es mußte ja einmal sein, nicht wahr? Du wolltest es doch immer so haben: eine Frau, die nicht so zimperlich ist und mithält. Und was für einen besseren Anlaß könnte es geben, als 77
das Verschwinden eines Sohnes zu begießen – des einzigen Sohns …“ Ihre Unterlippe begann zu beben, doch sie unterdrückte den Impuls, in ihr übliches Weinen auszubrechen, und saß ganz gerade da. „Laß dir dein Bier nicht verleiden.“ Die aufkeimende Entschlossenheit stand ihr gut, stellte ich fest und war im Grunde froh darüber, daß sie einmal nicht die Rolle der Dame von resignierender, auch reichlich hochmütiger Zurückhaltung spielte und auch nicht die Frau, die in Tränen schwamm, sobald etwas nicht nach der Schnur lief. Aber das konnte das eine Glas Schnaps nicht bewirkt haben; sicherlich war in den Stunden, die sie allein zugebracht hatte – allein mit dem scheußlichen Gedanken, ihr Sohn könnte ein Mörder sein –, etwas in ihr vorgegangen, das mich nun in Erstaunen setzte. Dieses Glas Schnaps, dessen war ich mir fast sicher, diente nur der Demonstration. Doch was sollte demonstriert werden? „Sag ehrlich“, begann sie unvermittelt, „hältst du Jakob für einen, der eine junge Frau umbringen könnte?“ „Du weißt, daß mir so etwas nie in den Sinn käme.“ Die Frage war mir lästig. Ehrlichkeit wurde in diesem Hause schon lange nicht mehr ganz groß geschrieben. Freundlichkeit, ja, die gab es, wenn sie nicht mit allzuviel seelischem Aufwand einherging und sich der gewohnten und angenehmen, weil niemanden verletzenden Gleichgültigkeit anpaßte. Was sollte also dieses „Sag ehrlich“? Irene wußte doch, was hier und wie hier gespielt wurde. Natürlich war es undenkbar, Jakob sei ein Mörder, und so mußte denn auch alles unternommen werden, diese Annahme ins Absurde zu führen … Aber was hatte das mit Ehrlichkeit zu tun? „Warum fragst du so?“ „Ich denke, es ist eine redliche Frage. Wenn du Auskunft geben solltest, ob Nachbars Köter bissig ist – würdest du dann auch so prompt und sicher antworten?“ 78
„Aber das ist denn doch …“ Mir verschlug es die Sprache, und weil sie mich mit der impertinenten Frage erwischt hatte, als ich endlich den ersten Schluck trank, wäre mir das Bier fast in die falsche Kehle geraten. „Was ist es ‚denn doch‘?“ Die Ruhe, mit der sie fortfuhr, ihren Faden zu spinnen, zerrte mir an den Nerven. „Du kennst deinen Sohn sowenig wie Nachbars Köter.“ „Laß den Köter aus dem Spiel! Und was Jakob angeht, so habe ich heute einiges erfahren.“ „Hast du? Und hast du auch etwas dazugelernt?“ „Daß ich wenig von ihm wußte, genau wie du.“ Ich hatte keine Lust, in diesem Ton angesprochen zu werden, und fand es anmaßend von Irene, sich in einem Moment aufs hohe Roß zu setzen, da uns beiden alles andere eher angestanden hätte, als einander Versäumnisse vorzuhalten, deren wir uns ja nun schon seit einiger Zeit, seit der Junge seine eigenen Wege ging, bewußt waren. „Bravo!“ Sie sah mir direkt in die Augen, nicht triumphierend, aber auch nicht mit Verständnis, so wie ich das bisweilen in früheren Jahren erlebt hatte, als sie mir noch geduldig und einfühlsam und manchmal auch klug über Schwierigkeiten hinweggeholfen hatte, die ich für unüberwindbar hielt. Es war etwas in ihrem Blick, das ich noch nicht kannte, vielleicht die Frage danach, mit wem sie es eigentlich zu tun hatte. „Erzähl mir, was du jetzt weißt.“ Und schier eingeschüchtert von der nüchtern vorgebrachten Aufforderung, berichtete ich, was mir widerfahren war. Denn als „mir widerfahren“ sah ich alles an – mit Ausnahme des freundlichen Aufenthalts bei Dr. Klein –, was ich erlebt hatte; diese Verschlossenheit, die Ablehnung, die Jakob erfuhr und die ich jetzt, überm Rapportieren, als gegen mich gerichtet empfand, und selbst Sebastian Engels wirre Freundschaftsarie mit ihrem Einschlag ins Komische drohte mir aus dem Wunderlichen ins Widerwärtige zu geraten. 79
„Da hast du viel geleistet.“ Ihre Stimme war um Sachlichkeit bemüht, aber ich hörte aus ihr doch heraus, wie schwer es ihr fiel, mit den auch für sie unbekannten Nachrichten aus Jakobs Leben fertig zu werden. „Und alles ist wichtig. Wir können unserem Jakob nur helfen, wenn wir alles wissen.“ Ich hatte die mich einbeziehende Wendung „unser Jakob“ noch nicht oft von ihr gehört. Bisher war er, vor allem bis ungefähr zu seinem vierzehnten Jahr, für sie stets „mein Jakob“ gewesen, zu mehr formellen Anlässen, beispielsweise wenn ihre Eltern zu Besuch gekommen waren, vielleicht auch „unser Söhnchen“; später jedoch, wenn sie sich im Widerstreit zu ihm befand, etwa wegen unerwartet schlechter Zensuren oder weil er rauchte oder in einer Kneipe gesehen worden war, wurde er „dein Jakob“ und „dein Sohn“, Bezeichnungen, die mich jedesmal alarmierten und mich gegen beide, Mutter wie Sprößling, einnahmen. So war sie denn also an den Punkt gelangt, Gemeinsamkeit auszustellen, und auch wenn mir schien, die Besinnung darauf sei ziemlich spät eingetreten, da „unser Jakob“ inzwischen in ein Alter vorgerückt war, in dem man sich nicht mehr unbedingt um sein Wohl und Wehe zu kümmern hatte, rührte mich doch an, daß sie ihn so nannte, und ich ließ mich unbedacht zu der Altvorderenweisheit hinreißen: „Schließlich ist er noch immer unser Kind, und er wird es bleiben.“ Das aber war genau das Falsche, und es löste die widrigste Reaktion auf Irenes Gesicht aus. Es zeigten sich zwei tiefe, steile Falten zwischen den Augen, und ihre Lippen preßten sich für einen Moment so fest aufeinander, daß sie sich weiß färbten. „Unser Kind“, sagte sie leise, fast flüsternd. „War Jakob jemals dein Kind, so wie es sich gehört?“ Was mir nun blühen würde, wußte ich, das verriet schon der Ton, und ich bereitete mich, die Ohren zu 80
verschließen. Ich nahm noch einen kräftigen Schluck vom Bier, stemmte die Hände gegen die Tischkante, so daß der Stuhl sich nach hinten neigte, und fixierte die elektrische Küchenuhr, auf der ein langer, dünner Sekundenzeiger lautlos kreiste. Obwohl ich diese Technik des Nichtzuhörens schon oft erprobt hatte, gelang es mir diesmal nicht, Irenes Redestrom völlig zu entgehen. Mag sein, das lag an meinem zerrütteten Bewußtseinszustand, der seit Habnichts Besuch das Regiment über mich ergriffen hatte, vielleicht aber war ich auch nur zu sehr erschöpft, um die genügenden Abwehrkräfte mobilisieren zu können. Jedenfalls gelangten mir einzelne Wörter ins Hirn und lösten dort entsprechende Prozesse aus. „Karriere“ war eines, das Irene mehrmals und mit einem Nachdruck gebrauchte, als bezeichne es meinen hauptsächlichen Wesenszug. Was war schlecht daran, wenn ein Mann dafür sorgt, daß seine Fähigkeiten sich voll entfalten? Aber noch während ich das dachte, kamen mir Zweifel, ob ich den richtigen Gedankengang eingeschlagen hatte. Zwischen dem Entfalten von Fähigkeiten und dem völligen Aufgehen im Beruf, dem hartnäckigen Verfolgen des Ziels, der Erste und der Beste und der Größte zu sein, gab es wohl doch Unterschiede. Aber hatte ich über dem wirklich alles vergessen, hatte ich die Familie nur als die sichere materielle Basis für mein Fortkommen angesehen und nur genommen und nichts gegeben, wie Irene behauptete? Schließlich war ich doch auch ein Gebender gewesen. Das Wort behagte mir nicht, kaum daß es mir in den Sinn gekommen war. Was hieß schon „Gebender“? Ich war der Ernährer gewesen, wie es sich gehört, hatte dafür gesorgt, daß erst der Tochter, dann dem Sohn die Chance geboten wurde, eine ruhige, sichere Kindheit zu erleben. Und Ruhe und Sicherheit, überhaupt die Verläßlichkeit der Verhältnisse, waren doch 81
schließlich eine wichtige Erfahrung für jedes künftige Leben in Eigenverantwortung. Gott ja, für Spiele und Gespräche mit den Kindern war nie allzuviel Zeit gewesen, für Jakob noch weniger als für Susanne. Aber Zeit hatte doch Irene, viel Zeit, sehr viel Zeit … „Kinder brauchen von Anfang an einen Vater“, hörte ich sie sagen und ich versuchte, diese Banalität mit einem Schluck Bier hinunterzuspülen. Doch statt der beruhigenden Gedankenleere stellten sich Bilder ein, zum Beispiel: Irene fährt mit den Kindern in die Ferien. Das war zu Anfang unserer Ehe, als wir noch von meinem Assistentengehalt lebten und von dem bißchen Honorar, das durch gelegentliche Veröffentlichungen hinzukam, ein Erfordernis gewesen; das Geld reichte eben nicht. Mit der Zeit aber wurde es zu einer mir sehr passenden Gewohnheit, auch oder erst recht dann, als es uns finanziell gut und später ausgezeichnet ging. Ich freute mich schon Wochen vorher auf die Abreise, genoß das Alleinsein bis zum Exzeß – stöberte in Büchern, unternahm lange Spaziergänge, trank mir im „Schloßkrug“ abends einen Rausch an. Und ich wurde in dem Maße bedrückter und fahriger, wie die Wiederkunft näher rückte. Die ersten Tage des Beisammenseins waren immer schlimme Tage für mich gewesen, voller Lärm und Erzählerei von kleinen Begebenheiten. Jakob besonders war als Kind sehr beeindruckbar, ihm gedieh jede Schnecke am Weg zu einer aufregenden Begegnung, und entsprechend intensiv und anhaltend war der Nachhall. Mag sein, ich hatte ihn oft spüren lassen, daß er mit seinen wirren und aufgeregten Berichten störte, und vielleicht habe ich ihn sogar angeschnauzt. So genau entsann ich mich dessen auch nicht mehr, wußte nur noch, daß er nach einer Abweisung regelmäßig für ein, zwei Stunden in völlige Wortlosigkeit verfiel. Ja, und dann hatte sie sich nach und nach zum Dauerzustand entwickelt, die Wortlosigkeit, die ich mir zunächst als pubertäre Maul82
faulheit und aus Unsicherheit und Besserwisserei entsprungen erklärte, bis sie sich schließlich zu fast völliger Unmöglichkeit, ein Gespräch zu führen, ausgewachsen hatte. „Funkstille“, hatte Jakob einmal gesagt, „Funkstille unter sozialistischen Menschen, die so vor sich hin den Fortschritt genießen.“ Das lag noch gar nicht so lange zurück, vielleicht ein halbes Jahr, und Jakob war betrunken gewesen und hatte mich durch sein Gepolter auf der Treppe geweckt … „Kinder sind keine Möbelstücke, die man nach Belieben herumrücken kann.“ Ach, was Irene wieder einmal alles wußte! Jakob war kein Kind mehr, und herumrücken ließ er sich schon gar nicht. Der war vielmehr sehr immobil, hockte im Häuschen der Eltern, da er doch längst auf eigenen Beinen hätte stehen sollen. Aber so hielten es viele, auch Sebastian, auch Florian: Bequemlichkeit ging ihnen allemal vor Selbständigkeit. Die Mutter wusch und kochte, im Kühlschrank waren Wurst und Bier zu finden, und im übrigen genoß man die Freizeit in Freiheit und hielt es für angemessen, daß man in Frieden gelassen wurde. Auch ein Produkt der Erziehung, auch dies ein Posten auf dem Schuldkonto von Vätern? Es gab doch für die jungen Leute Gelegenheit genug, die eigene Lebensart zu erproben. In Prenzlauer Berg lebten sie zu Hunderten in heruntergekommenen Häusern und fühlten sich wohl, da sollte sich, wie man hörte, sogar so etwas wie eine eigene Kultur entwickeln, eine ganz andere und unverwechselbare. Aber nein, die jungen Herren mochten nicht den Lokus auf der halben Treppe, keinen wackligen Kachelofen und nicht die Aussicht auf einen Hinterhof. Und die Mütter (vielleicht auch ein paar Väter) hatten zusätzlich moralische Bedenken. Ich dachte wieder an meine Studentenzeit, wie ich gehaust, wovon ich gelebt und wie ich mich frei gefühlt hatte, sobald ich ein Buch aufschlug, und ich wurde sentimental: Wir sind eben doch ganz andere Menschen gewesen. Ich 83
sah vor mir das Souterrain, mein Domizil für drei Jahre, in dem einmal ein Anstreicher sein Gewerbe betrieben hatte und in dessen Wänden unausrottbar der Terpentingeruch saß. Wieso sollte man Menschen nicht herumrücken können? Dann hörte ich genauer hin, denn es waren zwei Worte gefallen, die ich aus Irenes Mund noch nie gehört hatte: „Macho“ und „male Chauvinist“, und vor Verwunderung stellte ich das Glas wieder hin, ohne getrunken zu haben. Die hat sie aus dem Fernsehen oder aus dem Radio, diese Vokabeln, fiel mir sogleich ein; damit bezeichnen doch diese überemanzipierten Damen pauschal die Männer, damit werden sie als egoistisch und brutal abgestempelt. Früher hätte man „Pascha“ gesagt. Aber Irene ging hier anscheinend mit der Zeit, übrigens auch darin, daß sie mir vorhielt, ich hätte ihre berufliche Entwicklung unterbrochen und ihr damit einen Teil ihres möglichen Selbstwertgefühls geraubt. Dergleichen war in diesem Haus bisher noch nicht aufs Tapet gekommen, jedenfalls nicht mit solcher Verve von Irene vorgetragen worden. In früheren Jahren, gewiß, da hatte sie manchmal – doch eher nachdenklich und mit einem bißchen Wehmut – davon gesprochen, daß es unter Umständen schön sein könnte, wenn sie wieder ihren Beruf ausübte (sie hatte, bis Susanne zur Welt kam, Englisch und Deutsch an der Oberstufe unterrichtet). Aber sie konnte doch nicht im Ernst die nach Absprache getroffene Entscheidung mir anlasten! Daß der Schritt meiner beruflichen Entwicklung zugute gekommen war, hatte ich nie bestritten. Ich war schon immer Sozialist genug gewesen, um für die unbedingte Gleichberechtigung von Männern und Frauen einzutreten. Und Gleichberechtigung und das damit verbundene gesellschaftliche Bewußtsein hieß eben auch, Einsicht in Notwendigkeiten zu gewinnen – auf unseren Fall übertragen: anzuerkennen, daß es wichti84
ger war, einen schließlich auch im Ausland anerkannten Mediävisten zu fördern, denn sich als Englischlehrerin zu verwirklichen – die gab es wie Sand am Meer. Aber ich durfte mich nun nicht wundern: Wenn ein Stein ins Wasser geworfen wird, bildeten sich eben immer größere Kreise; und wenn eine Frau, die sonst den Alkohol verabscheut, ein großes Glas Korn auf einmal austrinkt, nur um sich und ihrem Ehemann etwas zu beweisen, dann kam eben so etwas heraus. „Es ist bald ein Uhr“, sagte ich, als Irene der Stoff zu ihrem Monolog auszugehen schien, „und wir haben wohl beide Schlaf dringend nötig.“ „Du hast mir nicht zugehört“, stellte sie fest, „ich konnte es dir am Gesicht ablesen.“ „Ich habe nachgedacht.“ „Und zu welchem Resultat bist du gekommen?“ „Ich weiß nicht genau. Vielleicht …“ „Dann sollten wir wirklich zu Bett gehen, auch wenn ich nicht genau weiß, ob ich schlafen kann.“ Sie stand auf, und an ihren Bewegungen sah ich, wie erschöpft sie war. Anscheinend hatte die Gardinenpredigt ihre letzten Energien aufgebraucht. Ich wollte ihr noch ein freundliches, tröstliches Wort sagen; doch da fiel mir etwas ein, was diesen Impetus sofort unterdrückte. „Hast du diesen Habnicht von Jakobs Anruf unterrichtet?“ fragte ich. Sie blickte mich verständnislos an. „Welchen Habnicht?“ „Na, den von der Polizei.“ „Hätte ich das tun sollen?“ Ich vergaß alle Anteilnahme an ihrem Zustand und wurde ungeduldig. „Du weißt doch, daß wir ihm Bescheid geben sollen, sobald wir wissen, wo Jakob sich aufhält.“ „Aber wir wissen es doch nicht“, sagte sie mit der leichtfertigen Logik der Naiven und wandte sich um und verließ die Küche. Da es wohl doch zu spät war, den Kriminalpolizisten 85
anzurufen, nahm ich wieder am Küchentisch Platz. Ich saß noch ungefähr zehn Minuten vor dem Rest des Biers, jedoch unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Bevor ich ins Schlafzimmer ging, duschte ich so heiß, wie ich es gerade noch vertragen konnte, in der Hoffnung, dadurch genügend Bettschwere zu bekommen. Und dann lag ich neben Irene und fand doch keinen Schlaf, und obwohl auch sie wach dalag und jeder vom anderen wußte, daß er nicht einschlafen konnte, wurde kein Wort mehr gewechselt. Nach einer langen Zeit, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, dämmerte ich hinüber, Katharinas Gestalt plastisch vor Augen, und mir war, als lächle sie spöttisch. Morgen abend, dachte ich noch – nein, heute abend wird sie wohl in der Stadt sein.
7. Das Schrillen des Telefons in der Diele riß mich aus dem Schlaf. Benommen torkelte ich aus dem Bett, fuhr in die Pantoffeln, sah, daß Irene das Zimmer bereits verlassen hatte, und tastete mich am Geländer die ziemlich steile Treppe hinunter. Unten stand Irene (bereits in „full dress“, wie sie ihre Bekleidung nannte, wenn sie das Negligé abgelegt hatte und das Tageskleid trug), den Hörer in der Hand und sagte, Frau Müller sei am Apparat und möchte gern wissen, ob ich glaube, am Montag wieder so weit hergestellt zu sein, daß ich die Sitzung wegen der Organisierung des Kongresses über die Hanse leiten könne. Ich sagte: „Die alte Kuh soll mir den Buckel runterrutschen!“ und hörte Irenes Stimme: „Mein Mann ruft Sie morgen an. Es geht ihm noch nicht sehr gut. Auf Wiedersehen.“ 86
„Das kann ich leiden: Mich in aller Hergottsfrüh aus dem Bett zu klingeln“, sagte ich. „Es ist zehn vorbei, und überhaupt, du hast keinen Grund, von deiner Sekretärin so zu sprechen.“ Sie sah aus, als hätte sie die ganze Nacht kein Auge zugetan. „Hab’ ich nicht?“ Ich schlappte ins Bad und duschte, diesmal kalt, und beim Abtrocknen, noch bevor ich dazu kam, mein Gesicht im Spiegel einer ersten Inspektion zu unterziehen, fiel mir Habnicht ein. Ich warf mir den Bademantel über und ging ans Telefon. „Morduntersuchungskommission!“ Die griesgrämige Stimme und das Wortmonstrum hätte um ein Haar meine soeben erst unter der Dusche einigermaßen stabilisierte Fassung ins Wanken gebracht. Ich räusperte mich und berichtete von Jakobs Anruf, daß er seinen Aufenthaltsort nicht genannt und daß er behauptet hatte, mit Gretel Königs Tod nichts zu tun zu haben. „Und warum erfahre ich das erst jetzt?“ Das hörte sich so freundlich an, wie von einem Feldwebel gesagt, der einen Rekruten zusammenscheißt. Ich unterdrückte meine aufsteigende Wut und erläuterte, daß meine Frau nicht daran gedacht habe, ihn zu benachrichtigen, und daß ich zu spät nach Hause gekommen sei. „Wie spät?“ wollte er wissen. Jetzt war ich mit meiner Beherrschung am Ende. „Was geht denn Sie das an, wann ich nach Hause komme?“ „Im allgemeinen nichts. In diesem Fall aber viel.“ Das war ganz ruhig gesprochen und so, als hätte ich nicht gerade erst zurückgeschnauzt. Dann legte er eine Pause ein. Vielleicht wollte er die Wirkung seiner Gelassenheit auf mich abwarten. Als ich schwieg, fuhr er fort: „Erstens weiß ich nicht, ob Sie sich nicht doch mit Ihrem Sohn getroffen haben …“ „Aber ich sagte Ihnen bereits: Er hat angerufen, und meine Frau hat versäumt …“ 87
„… und sich die Geschichte mit dem Telefon ausgedacht haben, um die Aufnahme von Verbindung mit ihm nachträglich zu den Akten zu geben. Und zweitens müßten Sie doch wissen, daß ich es nicht gern sehe, wenn Sie durch die Gegend laufen und die Pferde scheu machen. Und im übrigen ist hier immer jemand, wenn wir im Einsatz sind, Tag und Nacht.“ „Das wußte ich nicht.“ „Und Sie wissen auch nicht, von wo aus Ihr Sohn angerufen hat?“ „Das sagte ich doch.“ „Ja, das haben Sie gesagt. Und nun wollen Sie, daß ich Ihnen das abnehme?“ „Ja, das will ich.“ Mein Geduldsfaden war sehr dünn geworden, und ein weiteres Wort des Mißtrauens hätte ihn reißen lassen. Habnicht legte es jedoch nicht darauf an, mich noch mehr zu reizen. Er sagte: „Ich muß Ihnen wohl glauben. Aber wir müssen Ihre Aussage zu Protokoll nehmen. Außerdem hätte ich da noch einiges mit Ihnen zu bereden.“ „Ich wüßte nicht …“ „Aber ich weiß es. Haben Sie Zeit, sagen wir: um fünfzehn Uhr?“ „Wenn Sie meinen …“ „Dann also um drei Polizeipräsidium, Zimmer zwonull-sieben. Ende.“ Es knackte in der Hörmuschel, und ich stand noch einige Sekunden reglos an dem Telefontischchen und grämte mich darüber, daß ich mich ohne Gegenrede hatte ins Präsidium beordern lassen – eben doch wie ein Rekrut. „Möchtest du frühstücken?“ Irene stand in der Küchentür, und ihre Frage und der Duft nach gebratenen Eiern auf Speck ließen mich den Ärger vergessen und in mir augenblicklich einen wahrhaft brüllenden Hunger 88
aufstehen. „Natürlich. Ich habe immerhin seit fast vierundzwanzig Stunden nichts gegessen.“ Aus Gewohnheit und weil es praktisch ist, frühstücken wir, wenn wir allein sind, an dem kleinen Tisch unterm Küchenfenster, und an diesem Donnerstag im April, als die seit Wochen vermißte Sonne auf Tassen, Kaffeemaschine und Käseglocke das Muster der Spanngardinen zeichnete, war ich entschlossen, die körperlichen und seelischen Strapazen des Vortags und alles, was da noch auf mich zukommen mochte, für eine halbe Stunde zu vergessen, und auch Irenes klägliche Miene, die sich über ihrem Tee (seit Jahren schon trank sie Tee, wegen ihrer empfindlichen Magenschleimhaut) auch nicht ein bißchen aufheiterte. Als ich noch dabei war, den Rest vom Dotter mit einer Toastkrume vom Teller zu wischen, riß mich der dezente (und doch so penetrante) Zweiklang des Gongs an der Haustür aus dem bescheidenen Behagen, das sich in mir aufzubauen begann. „Auch das noch!“ sagte ich und ließ das Stückchen Brot fallen. „Wer kann das so früh sein?“ fragte Irene in ängstlicher Erwartung und stand doch sofort auf. Sie reagierte immer prompt auf jede Art von Signal. Es war Pastor Schöbel, wie mir Irene kurz danach ziemlich befremdet mitteilte. „Ich habe ihn ins Wohnzimmer gebeten und ihm gesagt …“ „Schon gut.“ Ich wischte mir den Mund mit der Serviette. Sofort schwand das Wohlbefinden spurlos, und ich stand auf. Schöbel hatte dieses Haus noch nie betreten, und wenn er mich aufsuchte, dazu noch am Vormittag, dann hatte das etwas zu bedeuten. Und wahrscheinlich nichts Gutes. „Zieh dir doch erst etwas an“, sagte Irene, „du kannst doch nicht im Bademantel …“ „Ach was!“ An dem langen Eßtisch saß Schöbel auf einem der 89
hochlehnigen Polsterstühle und sah sehr gesammelt drein. Bei meinem Eintritt erhob er sich und reichte mir nach einem dezenten Blick auf meine Bekleidung und mein stoppliges Kinn die Hand, mit einer gewissen Feierlichkeit, wie mir vorkam. „Entschuldigen Sie, daß ich Sie so früh überfalle. Aber die Sache ist wichtig, nehme ich an.“ „Es geht um Jakob?“ „Sozusagen.“ Als wir uns setzten, fiel mir erst auf, daß er nicht wie üblich mit Manchesterhosen und Rollkragenpullover angetan war; er trug einen dunkelgrauen Anzug, dessen Jacke zwar über der Brust spannte, ihn im großen und ganzen jedoch in einen soignierten Herrn verwandelte, dazu einen hellgrünen Schlips und statt der üblichen bundschuhähnlichen Fußbekleidung glänzende schwarze Schuhe. So feingemacht hatte ich ihn noch nie gesehen, und ich fragte mich, ob er sich eigens für diesen Besuch so verkleidet hatte oder ob das seine Dienstmontur darstellte, wenn er in seelsorgerischer Absicht unterwegs war. „Ich hätte Sie ja noch gestern abend angerufen oder aufgesucht, wußte aber nicht …“ „Was ist los?“ Ich wollte keine Einleitung, ich wollte nur Bericht, Erklärung – sonst nichts. Aber Pastor Schöbel schien nicht so bald zu Auskunft bereit zu sein. Er blickte erst einmal auf seine Hände, die groß und schwer auf dem Tisch lagen, und hob dann, theatralisch langsam, die Lider und sah mich mit einem Blick an, in dem ich gelinden Vorwurf und Enttäuschung zu entdecken meinte. „Warum haben Sie mir nicht schon gestern nachmittag reinen Wein eingeschenkt?“ wollte er wissen. In seiner Stimme schwang etwas, das mir nicht paßte, ein mir noch aus den Tagen des Konfirmationsunterrichts erinnerlicher Anspruch lutherischer Geistlich90
keit, Mitwisser und zugleich Schlichter und Richter in jedermanns Angelegenheiten zu sein. Da saß nicht mehr der kundige Mann, der viel Gescheites und Begründbares über die Gnostik wußte, mit dem man sich zu jeder Zeit nutzvoll austauschen konnte (von ihm hatte ich zum Beispiel erfahren, daß es bei richtig interpretierender Übersetzung den Begriff „Entfremdung“ schon bei Marcion gab) und bei dem man sich zudem wohl fühlte, weil er ein guter Gastgeber war, der sich, weltklug und wie widerspenstig auch immer, über die Verhältnisse, in denen wir leben und in denen wir uns auf Gedeih und Verderb einrichten müssen, ausließ. Nein, da thronte (ein treffenderes Wort fiel mir im Augenblick nicht ein) der Vertreter einer Instanz, die Offenbarung von einem forderte, ganz wie die Polizei, vielleicht sogar Hingabe, und die Vorbehalte nicht anerkannte. Mir war so, als habe er sich mit dem Wechsel aus dem bequemen Habit in den grauen Besuchsanzug in einen anderen Menschen verwandelt, in einen, den ich nicht kannte und auf Anhieb nicht mochte. Daß er sich einfach darum verletzt fühlen könnte, weil ich als Gesprächspartner, als guter Bekannter, mit dem er manche Flasche Wein geleert hatte, mich an ihn gewandt und am Ende doch nicht das Vertrauen aufgebracht hatte, über das zu reden, was mich bewegt, kam mir nicht in den Sinn. Ich sah, unausgeschlafen und aufgestört wie ich war, den Pastor, der ein Schäfchen zu weiden trachtete und darüber enttäuscht war, daß es sich nicht als vertrauensvoll genug herausgestellt hatte. Inzwischen war Irene ins Wohnzimmer gekommen, ein Tablett mit einer Kanne und zwei Tassen in den Händen, und wollte wissen, ob sie uns mit einem Kaffee einen Gefallen tun könne. Schöbel sagte: „Ich würde, wenn es keine Umstände macht, ein Glas Rotwein vorziehen.“ „Wie Sie wünschen.“ Ich sah aus den Augenwinkeln, 91
wie Irene zusammenzuckte. Wenn sie auch den Katholizismus ihrer Kindheit nicht mehr praktizierte, so war ihr doch ein gar nicht so gelinder Horror vor allem Protestantischen geblieben, und der, stellte ich mir vor, würde nun kräftig genährt werden durch die Begegnung mit einem Ketzer-Pastor, der sich am Vormittag schon Alkoholisches einverleibte. Entsprechend befremdet, stellte sie denn auch eine halbvolle Flasche und ein Glas vor ihn hin, ohne ihm einzugießen (eine Szene, die mich unter anderen Umständen kräftig amüsiert haben würde). Schöbel jedoch war nicht zu irritieren, er betrachtete das Etikett, sagte: „Ah, Algerischer!“ und füllte das Glas. Dann schnupperte er lange an dem Wein, ehe er den ersten Schluck trank, indes ich wie auf glühenden Kohlen saß, an nichts anderem interessiert, als bald Neuigkeiten zu erfahren, und argwöhnte, diese Umständlichkeit gehöre, wie die zuvor abgezogene Rolle des enttäuschten Freundes, zu dem Repertoire, mit dem er mir seine Wichtigkeit so nachhaltig wie möglich zum Bewußtsein bringen wollte. „Also, was ist mit Jakob?“ drängte ich. Schöbel jedoch nahm die pastorale Masche wieder auf, sah mir in die Augen und sprach: „Wer weiß, vielleicht hätte ich mich genauso verhalten wie Sie, wenn Jakob mein Sohn wäre. Ich kann verstehen, wie Ihnen zumute ist. Man sieht es Ihnen auch deutlich an.“ „Gar nichts können Sie sich vorstellen. Ich habe kaum geschlafen, das sieht man mir wahrscheinlich an.“ Irene kam wieder ins Wohnzimmer und brachte ein Glas Wasser und das Näpfchen mit den Tabletten (zwei weiße, zwei grüne, zwei rote), die ich jeden Morgen schlucken muß und über deren Einnahme sie sorgfältig wacht. Aber ich wußte, daß es ihr heute nicht nur um die Einhaltung der Regel ging; sie hatte wohl mit angehört, daß Schöbel wegen Jakob gekommen war, und sie wollte natürlich dabeisein, wenn über ihren Sohn gesprochen 92
wurde. Also sagte ich, so beiläufig wie möglich: „Willst du uns nicht Gesellschaft leisten?“ Sofort sprang Schöbel auf, und er setzte sich erst wieder, nachdem sie Platz genommen hatte. Soviel formale Höflichkeit hätte ich ihm nicht zugetraut, und ich war trotz der mich bis in die Fingerspitzen beherrschenden Spannung nahe daran, die Zeremonie mit einem Grinsen zu quittieren. Vielleicht, dachte ich, wachsen ihm auch feine Manieren zu, wenn er die Kleidung wechselt. „Kommen wir zur Sache“, forderte ich. „Sie wissen wohl“, sagte Pastor Schöbel zu Irene, „daß Ihr Mann mich gestern aufgesucht hat, offenbar um mit mir über Ihren Sohn Jakob zu sprechen.“ „Mit Ihnen?“ Irenes erstaunter Blick wanderte zwischen Schöbel und mir hin und her. Mir fiel ein, daß mir über den Begegnungen mit den Ärzten und Jakobs Freunden der Besuch im Pfarrhaus völlig aus dem Gedächtnis geraten war und daß ich also auch Irene in der Nacht nichts davon erzählt hatte. So erklärte ich ihr denn, daß ich in der Tat bei Schöbel gewesen, aber nicht dazu gekommen sei, ihn um Rat zu fragen (was ich ursprünglich vorgehabt hätte). Der Pastor nickte dazu mit einem schwachen verzeihenden Lächeln (nichts Menschliches ist mir fremd, schien das zu sagen, natürlich auf lateinisch), während Irene eine Miene aufsetzte, die deutlich machte, sie sei daran gewöhnt, in wichtigen Dingen übergangen zu werden. „Ich kenne nämlich Ihren Sohn, wenn auch nur flüchtig, durch Ramona Paschotka.“ „Ramona Paschotka“, echote Irene, hielt sich aber mit Fragen nach den näheren Umständen, die ihr offensichtlich auf der Zunge lagen, zurück und ließ Schöbel berichten, was er mir schon am Tag zuvor erzählt hatte. Danach kam er endlich auf die Neuigkeit zu sprechen, derentwegen er ins Haus gekommen war. „Gegen neun Uhr am gestrigen Abend klingelte Ra93
mona Paschotka bei mir“, sagte er. „Ich bin ein Nachtmensch, müssen Sie wissen“, wandte er sich an Irene, die ihn mit angstgeweiteten Augen anstarrte wie einen Unglücksboten, „und es ist in der Gemeinde bekannt, daß man mich auch noch spät aufsuchen kann, wenn man sich von irgend etwas bedrückt fühlt.“ „Das war kurz nachdem sie Sebastian Engel verlassen hatten, die beiden“, warf ich ein, und Schöbel wußte nicht, wovon ich sprach. „War sie mit ihrem Freund, dem Florian Schmidt, bei Ihnen?“ „Nein, sie kam allein. Sie war aufgeregt, hatte einen hochroten Kopf.“ „Das kommt vom Fahren auf dem Motorradsozius bei kühler Nachtluft“, sagte ich und dachte: Florian Schmidt hat sie dorthin gefahren, daran gibt es keinen Zweifel – schon die Zeit des Besuchs bei Schöbel deutet darauf hin. Er hat sie ins Pfarrhaus geschickt. „Wie bitte?“ fragte Schöbel, und von Irene hörte ich ein leises tadelndes Zungenschnalzen. Sie konnte offenbar nicht schnell genug aus des Pastors Mund alles erfahren, obwohl sie sich vor seinem Bericht fürchtete. „Hören Sie nicht auf mich“, sagte ich. „Ich habe nur so meine Einfälle.“ „Also: Sie können sich vorstellen, wie entsetzt ich war, als ich von dem Verbrechen erfuhr, und wie leid Sie mir taten“ – hier wandte er sich speziell an mich –, „als ich hörte, daß Ihr Sohn – wie soll ich’s sagen – darin verwickelt ist.“ „Das muß sich erst noch herausstellen.“ Ich beglückwünschte mich noch nachträglich dazu, daß ich bei meinem Besuch im Pfarrhaus meinen Mitteilungsdrang rechtzeitig gezügelt hatte, sonst wäre Schöbel wahrscheinlich gestern schon so salbadernd mit mir verfahren. „Sagen Sie uns doch bitte, was Sie von der jungen Frau erfahren haben.“ Und Schöbel, des anteilnehmenden Tons nun satt, 94
weil er offensichtlich endlich erkannt hatte, daß er an mich verschwendet war, sagte ohne weiteren Umschweif: „Bitte schön, das will ich gern tun. Ihr Sohn wollte sich von Schwester Gretel – Pardon, ich meine, von Gretel König trennen.“ „Das weiß ich bereits. Weiter.“ „Gretel König wollte sich auf eine Trennung nicht ohne weiteres einlassen.“ „Und das wußte Ramona Paschotka?“ „Ja. Sie war mit Gretel König befreundet.“ „Noch immer? Obwohl ihr doch diese Freundin ihren Freund weggeschnappt hatte? Florian Schmidt behauptet so etwas nämlich.“ „Anscheinend …“ Pastor Schöbel, der altgewordene Junggeselle, geriet für einen kurzen Augenblick ins Grübeln, da er bisher wohl noch nicht die Vertracktheit der amourösen Konstellation eingehender durchdacht hatte. „Jedenfalls hat Ramona mir das so dargestellt.“ „Nun gut, nehmen wir an, Gretel König wollte sich nicht mir nichts, dir nichts von Jakob abschieben lassen. Was hat das damit zu tun, daß man sie getötet aufgefunden hat?“ „Direkt wohl noch nichts – oder doch nur wenig. Man kennt aber aus dem Leben …“ Schöbel verbesserte sich: „Wohl eher aus der Literatur kenne ich das, daß ein Liebesverhältnis durch Mord endet, weil einer der Partner wegstrebt und der andere ihn nicht gehen lassen will.“ „Aber Hochwürden!“ In ihrer Verwirrung hatte Irene einen protestantischen Geistlichen mit einem katholischen Titel angeredet. „Gnädige Frau, es kommt noch schlimmer.“ Jetzt schien Schöbel das Wort in der Seele steckenzubleiben. Er grimassierte, goß sich das Glas noch einmal voll, zog, ohne zuvor zu fragen, ob das Rauchen erlaubt sei, ein ledernes Etui aus der Innentasche des Jacketts, entnahm ihm eine Zigarre und zündete sie an, was Irene, 95
die auch auf optische Signale gedrillt ist, sofort dazu brachte, einen Aschenbecher aus der Vitrine herbeizuholen. Er dankte und wedelte mit großer Gebärde das brennende Streichholz durch die Luft, bis die Flamme erlosch – das alles offensichtlich, um Zeit zu gewinnen. Erst als er den ersten Zug aus der Zigarre genommen hatte, sagte er, sehr zögernd: „Ramona Paschotka hat mir anvertraut, sie habe Ihren Sohn Gretel Königs Appartement verlassen sehen, am späten Nachmittag, als die Ärmste vermutlich gerade umgebracht worden war. Und diesen Umstand hat Ramona der Polizei verschwiegen. Das quälte sie, und darum …“ „Mein Gott!“ stöhnte Irene, und wieder bebte ihre Unterlippe. Nichts war mehr geblieben von der Entschlossenheit der nächtlichen Unterredung, als sie versucht hatte, mir die Leviten zu lesen. Sie war nur noch die fassungslose Mutter, der man soeben bestätigt hat, ihr Sohn sei ein Mörder. Und dann entquollen wieder Tränen ihren Augen, und Pastor Schöbel saß, blaß vor Verlegenheit, daneben und nuckelte an seiner Zigarre und hielt den Kelch des Rotweinglases so fest im Griff, daß ich fürchtete, er könnte ihn zerbrechen. „Wann soll das gewesen sein? Und was heißt das: Sie hat ihn das Appartement verlassen sehen? Wieso kam sie dazu?“ „Sie wohnten doch beide im Schwesternhaus, dem Neubau in der Weingartenstraße, wenn ich mich nicht täusche, auch auf derselben Etage.“ In mir sträubte sich alles gegen diese simple Darstellung. Ich dachte nur: Florian – Florian Schmidt hat das Mädchen zu dem Pastor gekarrt, damit es ihm all das beichtet. Zu welchem Zweck aber? Die Version war mir zu rührend: Eine junge Frau sucht ihren Gemeindepfarrer auf, um sich der Gewissensnöte zu entledigen, die womöglich daraus resultieren, daß sie aus alter Zuneigung der Polizei das nicht zur Kenntnis gegeben hat, 96
was ihren früheren Freund belasten könnte. Immerhin konnte sie sich auf diese Weise einen unverfänglichen Zeugen für ihren Gemütszustand verschaffen, dazu einen Berater, der in sie dringt, der Polizei alles zu sagen. Der Rest lief dann von selbst – der Verdacht wäre von dem wirklich Schuldigen abgelenkt. „Wann genau war das?“ wollte ich wissen. „Wann hat sie Jakob aus Gretel Königs Zimmer kommen sehen?“ Schöbel hob hilflos die Achseln. „Das hat sie mir nicht gesagt. Sie bat mich nur um Rat, ob sie all das der Polizei zur Kenntnis geben solle. Sie liebt, sagte sie, Ihren Sohn zwar nicht mehr, seit sie in Florian einen wirklichen Freund gefunden hat, aber um der alten Beziehungen willen hatte sie Skrupel, ihn so schwer zu belasten.“ Genau, wie ich vermutet habe, dachte ich, und derweil sitzt unten der Bursche auf dem Motorrad und wartet auf die Freundin, die er beredet hat, die rührende Geschichte zu erzählen. „Nein, bei der Vorstellung spiele ich nicht mit.“ Ich war aufgesprungen und nahm wieder einmal meine Wanderung quer durch das Zimmer auf. „Und Sie haben ihr selbstverständlich den Rat gegeben, diese belastende Aussage vor der Kriminalpolizei zu machen.“ „Was anderes sollte ich tun?“ Das klang empört, als hätte ich ihm nachträglich eine unmoralische Handlung anempfohlen. „Sollte ich etwa …“ „Sie hätten dem Mädchen ruhig ein bißchen auf den Zahn fühlen können.“ Ich stand jetzt neben ihm und war zum ersten Mal größer als er, und er mußte zu mir aufsehen. „Sie hätten zum Beispiel fragen können, warum sie ausgerechnet zu Ihnen kommt und sich nicht gleich an die Stelle gewandt hat, die allein ihre Beobachtung angeht.“ „Aber sie gehört doch zu meiner Gemeinde.“ Ein ans Fassungslose grenzendes Unverständnis sprach aus dem 97
Satz. „Wohin sonst hätte sie denn in ihrer Not gehen sollen?“ „Zur Polizei, ich sagte es schon. Oder noch besser: Sie hätte gleich den Kriminalisten sagen sollen, was sie weiß.“ Ich drückte die Handballen auf die Augen, um mich zu sammeln und zur Ruhe zu kommen; denn – das spürte ich – ich stand in der Gefahr, die bisher schon arg strapazierte Selbstkontrolle gänzlich zu verlieren und den armen Schöbel anzubrüllen. „Bitte, Herr Schöbel, hören Sie mir einmal genau zu.“ Ich ließ die Hände sinken. „Am Montag ist eine Frau getötet worden; am Dienstag – nehme ich an – wird sie gefunden, und die Kriminalpolizei befragt die Kollegen dieser Frau, auch Ramona Paschotka; am Mittwoch, spätabends, kommt diese Ramona zu Ihnen und bittet Sie um Rat, ob sie alles zu Protokoll geben soll, was sie weiß. Fällt Ihnen daran nichts auf? Oder fällt Ihnen dabei nicht wenigstens etwas ein?“ Er sah mich von unten mit blankem Staunen an. „Was mir dabei natürlich einfällt“, sagte er, „ist, daß sie ein schlechtes Gewissen hatte.“ „Wäre es denn nicht möglich, daß sie inzwischen von irgend jemandem dazu bestimmt worden ist, ihre Aussage zu erweitern, von jemandem, der ein Interesse daran hat, daß Jakob als Schuldiger gilt?“ Schöbel lächelte. „Sie sind scharfsinnig, aus gutem Grund“, sagte er, wurde aber sofort wieder ganz ernst, als er, Mitgefühl wieder dick in der Kehle, hinzusetzte: „Ich kann Sie ja so gut verstehen.“ „Sie haben meine Frage nicht beantwortet.“ „Entschuldigen Sie, wenn ich Ihre Frage mit einer Gegenfrage kontere: Wer sollte sie dazu bestimmt haben? Ich mag nämlich nicht ins Blaue hinein spekulieren.“ Ich drängte eine vorschnelle Entgegnung zurück. „Irgend jemand“, sagte ich, „der ein Interesse daran hat, 98
Jakob zu belasten, und der jetzt, da Jakob verschwunden ist und sich nicht verteidigen kann, seine Stunde für gekommen hält.“ „Ihr Sohn ist verschwunden?“ fragte er verwundert. „Jedenfalls wissen wir nicht, wo er jetzt steckt.“ Ich trat ans Fenster, unentschlossen, ob ich das Gespräch nicht aufgeben und mich Wichtigerem zuwenden sollte. Draußen auf dem Grünen Weg führte der Bernhardiner wieder den alten Mirbach spazieren, und die Sonne strahlte vom Himmel, unbekümmert darum, ob die Welt, meine Welt, aus den Fugen zu gehen drohte. „Davon hat mir Ramona nichts gesagt.“ Wieder einmal schien Schöbel verschnupft, weil die Menschen Geheimnisse vor ihm hatten. „Im übrigen aber kenne ich Ramona seit langem und vertraue ihr. Nein, nein, das Mädchen täte so etwas nicht.“ Und als Irene verzagt, als halte sie sich nach einem Schiffbruch mit Mühe über Wasser, fragte, ob man denn nicht als Seelsorger bei allem Vertrauen auch das zur Wahrheitsfindung nötige Mißtrauen aufbringen müsse, schwang er sich zu dem Spruch auf: „Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser.“ Unter anderen Umständen hätte ich sicherlich mein Vergnügen an dieser Persiflage auf eine überstrapazierte und nicht gerade menschenfreundliche Weisheit gehabt; in dieser Situation aber empfand ich sie als pure Orakelei, und ich ärgerte mich und sagte: „Ich gehe mich jetzt anziehen.“ Eine halbe Stunde später, als ich, nun auch rasiert, wieder ins Wohnzimmer trat, saß Irene allein, den Rücken mir zugekehrt, an dem langen Eßtisch, und sie sah von hinten so aus, als könne sie sich nie wieder erheben. Die Rotweinflasche war leer, in dem Glas stand nur noch eine schäbige Neige. „Schöbel ist gegangen?“ fragte ich. „Er hat gemeint, im Augenblick könne er uns wohl 99
doch nicht helfen. Du sollst dich bei ihm melden, wenn du …“ „Den Teufel werde ich tun!“ Ich zerrte an meiner Krawatte, die ich zu eng gebunden hatte. „Ich brauche keinen geistlichen Beistand. Was wir nötig haben, ist Gewißheit.“ „Du willst schon wieder aus dem Haus?“ Sie drehte sich mir zu und hatte geschwollene Augen und eine gerötete Nase. Wer weiß, womit Schöbel ihr noch mehr Tränen entlockt hatte, ehe er ging. „Ich muß!“ Und mit diesem kernigen Imperativ trat ich vor die Tür, setzte mein Gesicht bewußt dem warmen Wind aus, der durch den Garten wehte, und widerstand der Versuchung, das Auto aus der Garage zu holen. Den Weg zum Krankenhaus legte ich in der verhältnismäßig festen Hoffnung zurück, mir durch ein Gespräch mit Ramona Paschotka Klarheit verschaffen zu können. Es wäre doch gelacht, wenn ich nicht herausbekäme, wo die Glocken hingen, die da unausgesetzt läuteten. Vor allem mußte ich natürlich wissen, ob sie aus freien Stücken Schöbel aufgesucht hatte und was es mit der Behauptung, sie habe Jakob aus Gretel Königs Zimmer kommen sehen, wirklich auf sich hatte. Ich kannte aus Seminaren, Klausuren, Prüfungen – aus Streßsituationen also – junge Leute und ihre Tricks zur Genüge, wußte, wann sie schwindelten, um einen Vorteil zu ergattern, wann die Phantasie mit ihnen durchging, wann sie sich in eine fixe Idee verstiegen; ich fühlte mich also gewappnet für das Gespräch, das ich mit Ruhe, Geduld und Nachsicht angehen lassen, aber bis zur letzten Minute mit Konsequenz führen wollte. So ein Theater, wie ich es mit Florian Schmidt erlebt hatte, würde sich nicht wiederholen. Und mit jungen Frauen, das wußte ich, ließ es sich überhaupt besser reden als mit Männern in diesem Alter. 100
Und dann stand ich wieder auf dem Korridor der Krankenstation, inmitten des üblichen Hastens, das so ein Hospitalbetrieb bis zum Mittag mit sich bringt. Eine dicke blonde Schwester, die ein übermannshohes schepperndes Gestell mit Essenportionen in flachen Behältern von Zimmer zu Zimmer rollte, fragte ich nach Ramona Paschotka und bekam zur Antwort, Schwester Ramona sei für den Vormittag beurlaubt, und sie wisse nicht, wann sie zurückkomme. Vergebens klopfte ich an die Tür zu Dr. Kleins Zimmer. So war ich denn einigermaßen hilflos, weil in meinem Plan und in meinem Elan gebremst, schaute auf die Uhr, stellte fest, daß mir noch reichlich drei Stunden blieben, bis ich bei Habnicht vorzusprechen hatte, und überlegte, ob ich wieder nach Hause gehen oder im „Schloßkrug“ bei einer Tasse Kaffee auf Ramona Paschotka warten sollte. Doch dann fiel mir das Schwesternheim ein, von dem Schöbel gesprochen hatte. Sollte ich mir nicht wenigstens den Schauplatz der Tragödie ansehen, das Haus überdies, in dem mein Sohn – erst bei der einen, dann bei der anderen jungen Frau – aus und ein gegangen war? Etwas sträubte sich in mir gegen den Gedanken, und für einen Augenblick fühlte ich mich in der Rolle eines Voyeurs, wie einer der ärgerlichen Gaffer, die man bei jedem Verkehrsunfall zu Dutzenden antrifft. Doch zum Glück kam mir das Wort „Tatort“ in den Sinn, diese Worthülse, mit der in Büchlein und Filmen, wohl auch, wie ich annahm, in der kriminalistischen Praxis die „Stätte des Verbrechens“ auf einen neutralen, sachlich erscheinenden Begriff gebracht wird, und das machte es mir seltsamerweise leichter, das Haus anzusteuern, das gleich um die nächste Ecke lag. Ich war auf dem Weg, wie ich mir – teils ernst, teils ironisch – sagte, eine „Tatortbesichtigung“ vorzunehmen, das heißt, das Haus wenigstens von außen zu betrachten. 101
8. Das Haus trug natürlich, wie alles hierzuland auch nur halbwegs Institutionalisierte, einen bedeutungsschweren Namen: „Schwesternwohnheim Florence Nightingale“ war in Goldbuchstaben auf einer schwarzen Marmortafel neben dem Eingang zu lesen, und ich fragte mich unwillkürlich, ob denn auch alle jungen Damen, die in diesem siebenstöckigen Gebäude aus reichlich roh gefügten Betonplatten wohnten, um die Leistung der Namenspatronin wußten. Die Eingangstür war durch eine eingeklemmte Fußmatte davor gesichert, ins Schloß zu fallen, und das reizte mich einzutreten, nachdem ich lange genug an der von jedem Versuch einer Gestaltung freien Fassade emporgeblickt hatte. Über einige Stufen gelangte ich im Hochparterre in einen quadratischen hohen Raum, in dessen rechter Ecke sich der Zugang zu einem Lift befand, neben dem ein Stummer Portier hing. Ich trat näher und versuchte, mich unter den Dutzenden Namen zurechtzufinden, die da in Schreibmaschinenschrift auf schmalen Kartonstückchen standen und neben- und untereinandergesteckt waren. Ramona Paschotka und Gretel König konnte ich nicht sogleich entdecken, und da ich nicht systematisch vorging, verirrte ich mich schließlich heillos in dem Schilderwäldchen und wollte schon aufgeben. Da hörte ich hinter mir eine wenig verbindliche kratzige Frauenstimme fragen: „Suchen Sie wen?“ Wie bei etwas Verbotenem ertappt, fuhr ich herum und sah mich mit einer ziemlich großen, hageren Frau konfrontiert, die in einem nilgrünen Dederonkittel stak und einen Schrubberstiel wie das Zeichen ihrer Würde in der Rechten hielt. Sie mußte etwa so alt sein wie ich, hatte ein arg langgezogenes Gesicht mit einer seltsam kurzen und fleischigen Nase und sah mich aus schmalen umfältelten Augen auskunftheischend an. 102
„Ja … aber eigentlich auch wieder nicht.“ Sie hielt mich anscheinend für einen späten Freier, der etwa eine Bar-Bekanntschaft aus der vergangenen Nacht auffrischen und intensivieren wollte. Denn sie reckte das Kinn vor und sagte, noch kratziger: „Was denn nu: ja oder nein?“ „Also dann lieber doch: nein.“ Ich verspürte kein Verlangen danach, abgekanzelt zu werden. „Und außerdem sind die meisten Damen auf Arbeit.“ Das Wort „Damen“ versah sie mit solchem Nachdruck, daß kein Zweifel daran bleiben konnte, dies hier sei ein anständiges Haus und keine Absteige. Sie musterte mich von Kopf bis Fuß, und da sie wohl einen nicht gar so schlechten Eindruck von meinem Äußeren empfing, ließ sie sich, während in ihren Augen noch Mißtrauen flackerte, zu der Erklärung herbei: „Ich würde Ihnen ja helfen. Wie heißt denn die Dame?“ „Ramona Paschotka“, sagte ich, ohne es eigentlich zu wollen. Der Name hatte eine unerwartete Wirkung, die mich erschreckte. Die Frau rückte mir, den Schrubber noch immer in der Rechten, einen Schritt näher, so daß ich ihren Atem roch, als sie gefährlich leise sagte: „Haun Sie ab, Mann. Das Mädel macht grade genug durch.“ Ich wich zurück, kam mit dem Rücken gegen die Wand zu stehen und fühlte mich nicht besonders wohl. „Oder sind Sie von der Zeitung?“ Für den Bruchteil einer Sekunde erwog ich, die Frage zu bejahen, um mich aus der Affäre zu ziehen und vielleicht sogar einen kleinen Vorteil zu erlangen; aber dann schüttelte ich doch verneinend den Kopf. „Würde mich auch gewundert haben“, sagte sie geringschätzig. „Die bringen von so was ja sowieso nichts.“ „Ich bin …“ Ich brachte es nicht über mich, zu behaupten, ich sei ein Verwandter von Ramona Paschotka, ein Onkel oder sonstwas. „Ich heiße Maul.“ 103
„Maul? Maul?“ Sie kramte offensichtlich in ihrem Gedächtnis. Dann flog ein Schein von Begreifen über ihr langes Gesicht. „Doch nicht der Vater von Bruder Jakob?“ „Jakob – ja, ob Bruder …?“ Jetzt war ich völlig verunsichert und machte wohl auch einen entsprechenden Eindruck. „Erschrecken Sie mal nicht“, sagte die Frau beruhigend. „Die Mädels nennen ihn doch immer so. Auch Fräre Jacke – oder wie das heißt – sagen sie zu ihm. Weil er ja so’n freundlicher Mensch ist und keinem was abschlagen kann.“ Ich sah, wie erleichtert sie war, ihre Feindseligkeit aufgeben zu können. Sie lachte sogar. „Warum nicht Bruder ? Die Mädels nennen sie doch auch allewege Schwester.“ Ich versuchte auch ein Lachen. „Ja, warum eigentlich nicht?“ „Na, denn kommen Sie mal ’rein.“ Sie wies mir mit der freien Hand den Weg zu einer Tür zur Linken, und ich, noch immer ziemlich benommen von dem Stimmungsumschwung bei der Frau, folgte dem Wink. „Ich geh’ mal voran“, sagte sie, indem sie hinter mir hervortrat und die Tür zu einem Sälchen aufschloß, an dessen Stirnwand ich einen rotverhangenen Vorstandstisch auf einem Podium sah und davor ungefähr zehn Achtertische, die in zwei Staffeln hintereinander standen. „Hier wird sonst immer Vorabend gefeiert, Erster Mai und so. Auch Mieterversammlungen finden hier statt.“ Sie deutete auf einen Stuhl an dem der Tür am nächsten stehenden Tisch. „Nehmen Sie ruhig Platz.“ Sie stellte den Schrubber gegen die Wand, setzte sich mir gegenüber und sah mich an, als erwarte sie von mir eine Erklärung. Als ich schwieg und statt dessen den Blick verlegen auf eine Marx-Büste auf dem Podium richtete, sagte sie: „Sie sind nu also der Professor.“ „Ja, ich bin …“ 104
„Ramona hat mir nämlich schon von Ihnen erzählt.“ Und noch ehe ich mich darüber wundern konnte, was Ramona Paschotka ihr von mir berichtet haben könnte, bedrängte sie mich bereits weiter: „Aber mit der Klinik haben Sie ja wohl direkt nichts zu tun.“ „Nein, ich arbeite …“ „Weil, es gibt ja da auch Professoren. Ich heiße übrigens – Fink, Edith Fink, und kümmere mich mit meinem Mann um das Haus hier. Hausmeister sozusagen. Wir wohnen auch hier, erster Stock. Wolln Sie einen Kaffee?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, stand sie auf und machte sich an einer Kaffeemaschine auf einem Schränkchen neben der Tür zu schaffen. Ich dachte: In diesem Land kommt keiner am Kaffeetrinken vorbei, der irgendwen irgendwo aufsucht, und wenn man am Tag entsprechend viel Stationen abklappert, ist man abends richtiggehend koffeinbesoffen. Das sei kein Internat, erklärte Frau Fink, als sie Wasser in die Maschine füllte, so eins mit strenger Hausordnung und nach zehn Uhr abends kein Einlaß mehr, hier gebe es richtige Appartements. Einzimmerwohnungen mit Kochnische und Duschzelle, und die Mädels („Mein Gott, ich sag’ immer Mädels, weil doch die meisten noch so jung sind, daß sie meine Töchter sein könnten“) führen jedes ihren eigenen Haushalt. Ohne Übergang fragte sie dann: „Und was ist denn nu mit Bruder Jakob?“ „Das möchte ich auch gern wissen.“ Sie hielt in ihrer Hantierung inne und sah mich mit Unverständnis an. „Sie sind doch der Vater!“ Ich dachte: Geht das schon wieder los! Kann ich denn mit niemandem sprechen, der mich nicht gleich auf meine familiäre Beziehung zu Jakob festnagelt? „Anscheinend weiß niemand, wo er sich momentan aufhält.“ „Sie auch nicht?“ In ihrer Stimme lag jetzt etwas wie Anbiederung, so als wollte sie ausdrücken: Mir können 105
Sie doch nichts vormachen. „Ist ja auch egal. Jedenfalls der war’s nicht, der Jakob.“ „Was war er nicht?“ Dieses Einschwenken aufs Wesentliche kam mir zu plötzlich, und ich versuchte Zeit zu gewinnen, um mich auf das enorme Tempo dieser Frau einzustellen. Doch Edith Fink war so in Fahrt geraten, daß sie auf meine Frage gar nicht erst einging und mir, während die Kaffeemaschine sich mit Fauchen und Blubbern einmischte, eine wahre Eloge auf Jakob sang, gegen die das freundliche Urteil von Dr. Klein am vergangenen Nachmittag blaß und schwunglos wirkte. Da bekam ich zu hören, daß ich stolz sein könnte auf meinen Sohn, der sich nie zu schade gewesen sei, sich mit ihr und ihrem Mann zu unterhalten (warum sollte er das auch nicht getan haben?), der immer so fröhlich gewesen sei, daß er gute Laune und Lachen auslöste, wo er auch auftrat (so kannte ich ihn allerdings überhaupt nicht), der aber auch ernsthaft und energisch handeln konnte, wenn es darauf ankam, wie zum Beispiel bei der Gelegenheit, als sich bei einem der Mädels nach einem Sturz in ihrer Wohnung die Wehen drei Wochen zu früh einstellten. „Da hat er mit Ramona zusammen ganz allein das Kind auf die Welt gebracht, und als ein Doktor und Frau Mielke, das ist eine von den Hebammen, vom Krankenhaus ’rüberkamen, da war’s schon abgenabelt und gebadet.“ Ich hatte also einen idealen Sohn: leutselig, fröhlich, hilfsbereit. Ich wünschte, Irene hätte hier Ohrenzeuge sein können – das hätte ihr sicherlich ein bißchen Auftrieb gegeben. Frau Fink trat mit den Tassen an den Tisch, servierte und setzte sich mit einem leisen Stöhnen. „Nur daß er sich mit der Gretel König eingelassen hat – also nein. Mein Mann hat auch gesagt, daß er’s nicht versteht. ‚Oder verstehst du das, Mutter?‘ hat er gesagt.“ Sie 106
streckte die Beine von sich wie nach einer körperlichen Anstrengung, ehe sie vorsichtig den ersten Schluck trank. „Mit Ramona, ja, das war was ganz andres. Das Mädel hat Format, kann ich Ihnen sagen. Bei der stimmt alles. Auch wie sie sich anzieht: einfach, nicht aufgedonnert. Und da läßt sich der Junge von so einer krallen.“ Sie schüttelte den Kopf, als habe sie soeben erst etwas Unfaßbares erfahren. „Es heißt ja, man soll den Toten keine Klamotten hinterherwerfen. Tu’ ich ja auch nicht. Ich sag’ doch bloß, wie’s war. Und so’n schreckliches Ende hat das Mädel trotz allem nicht verdient, weiß Gott nicht.“ Mir wurde angesichts von soviel ungebremster Beredsamkeit ein bißchen unheimlich zumut, doch unternahm ich nichts, den Mitteilungsfluß zu hemmen. Ich merkte: Hier war ich an eine wichtige Quelle geraten – mag sein, an eine nicht ganz verläßliche, weil von zuviel Sympathie und Antipathie getrübt; aber ich traute mir zu, daß Richtige und Wichtige herauszufiltern. „Da kann einer sagen, was er will“, begann Frau Fink wieder, einen knotigen Zeigefinger hochgestellt, „die sich am besten verkaufen, haben allemal die Nase vorn. Daran hat sich nichts geändert, Sozialismus oder nicht, neuer Mensch oder alter Mensch. Gerissen war sie, die Gretel König, und gewandt. Jeden hat sie um den Finger gewickelt. Hat es auf die Tour ja auch zu was gebracht: Stationsschwester – und noch so jung … Hätten Sie mal sehen sollen, wie die um sie ’rum waren. Die Ollen, meine ich. Doktor Klein und dann auch der andere.“ „Doktor Kümmerer?“ mutmaßte ich. „Genau der. Der hat sie noch und noch hofiert, vorigen Sommer. Man sieht und hört ja so allerhand, wenn man so’n Haus besorgt.“ Es folgte ein schneller Augenaufschlag, wohl um sich an meiner Miene zu vergewissern, ob ich sie für jemanden hielt, der anderen hinterherspioniert. Offensichtlich befriedigte sie mein 107
Gesichtsausdruck, denn sie fuhr fort: „Besucht hat er sie, ausgegangen miteinander sind sie. Ob das nu die große Liebe war, weiß ich nicht. Manche von den Mädels angeln sich ja so’n Doktor aus Berechnung, und dann wird der Beruf womöglich an ’n Nagel gehängt, wegen Kind und so. Jedenfalls hatten die beiden viel miteinander zu tun. Und einmal hab’ ich gehört, wie er zu ihr gesagt hat – vorm Fahrstuhl drüben haben sie gestanden: ‚Nun hab dich mal nicht so, andere machen das doch auch.‘ Und Gretel hat gemeint: ‚Das ist für mich kein Grund. Und dabei bleibt es.‘ Und dann hörte ich noch, wie sie sagte: ‚Wenn es um deine Scheißkarriere‘ – wortwörtlich – ,geht, ist dir alles egal.‘ Das ist gewesen, kurz bevor sie auseinander sind. Und dann kam ja der andere, den Ihr Sohn hier eingeschleppt hat, der Florian.“ „Florian Schmidt.“ „Ja, der und sein Freund Sebastian. Ist ja ’n ganz netter Mensch, der Schmidt, ’n bißchen hochnäsig manchmal, aber sonst gut zu leiden. Natürlich gar kein Vergleich mit Bruder Jakob, ich meine: mit Ihrem Sohn.“ Florian – Sebastian? Sollten die beiden hier als Dioskuren aufgetreten sein? Mir fiel die seltsame Ausdeutung der Romeo-und-Julia-Geschichte durch Sebastian Engel ein. Hatte die womöglich doch ihren Ursprung in der Realität? „Nein, wo denken Sie hin!“ rief Frau Fink auf meine diesbezügliche Anspielung. „Ja, ausgegangen sind sie ab und zu zu dritt, das ja. Und sie waren auch häufiger bei Gretel oben. Aber der andere, der Sebastian, ist abends immer brav nach Haus. Das wär’ ja auch noch schöner!“ Sie sah mich mit empört hochgezogenen Brauen an, und mir kam in den Sinn, wie erschreckend es doch war – oder in meinem Fall: wie gut –, daß es scharfäugige und hellhörige Hausbesorger gab und daß wohl nicht nur der legendäre Vidocq auf die Idee gekommen ist, die Conciergen in Sold zu nehmen. Und da sich 108
meine Stimmung über der unermüdlichen Erzählung der Frau Fink, über dem Lob, das sie Jakob sang, und den Einzelheiten, die aus einem schier unerschöpflichen Reservoir sprudelten, erheblich aufgelockert hatte, wollte ich mich denn auch vergewissern, ob all das im Zusammenhang mit dem Mord an Gretel König auch zu Ohren der Polizei gelangt sei. „Aber gewiß doch, Herr Professor. An uns wenden die sich doch zuerst, wenn was los ist.“ Das war mit Stolz, aber auch mit einem bißchen, vielleicht gespielter Verärgerung über die Mühe gesagt, die mit so einer Vertrauensstellung verbunden ist. „Schon der Abevau, wenn sich bei dem einer aus der Nachbarschaft beschwert hat – die Mädels schlagen ja auch manchmal über die Stränge und feten zu laut, oder die Freier stehen zu lang unten und lassen ihre Feuerstühle knattern –, zu wem kommt er? Zu mir und meinem Mann. Und nu erst recht bei so was Großes. Bisher ist ja so was noch nie hier passiert – aber als es passiert war, da sind die prompt gekommen.“ „Und wann war das?“ „Noch nicht mal ’ne Stunde nachdem die tote Gretel König gestern morgen entdeckt worden ist.“ „Wie? Erst gestern, am Mittwoch, hat man die Leiche entdeckt?“ „Nu ja, am Montag hatte sie ’nen freien Tag. Und am Dienstag hätte sie mit der Frühschicht anfangen sollen. Hat sie aber nicht. Und als sie denn am Mittwoch wieder nicht dagewesen ist, da ist Frau Glanz persönlich gekommen – das ist die Dame, die alle Schwestern vom Krankenhaus unter sich hat –, weil sie dachten, da könnte was passiert sein. Um halb sechs in der Früh haben sie uns rausgeklingelt, und mein Mann mußte mit dem Passepartout die Wohnung aufmachen. Und denn hat sie auch da gelegen.“ Sie stockte, wohl weil die Erinnerung an den Anblick noch so frisch war. Um nun zu verhindern, daß Frau Fink sich in Einzel109
heiten darüber verlor, wie die Tote ausgesehen hatte, fragte ich sie noch einmal, ob sie den Kriminalisten auch alles so berichtet hatte wie mir. „Haargenau“, versicherte sie, und wie um mich zu trösten, setzte sie in beruhigendem Ton hinzu: „Auch das über Ihren Sohn und was für’n netter Mensch der immer gewesen ist.“ Dann aber wurde der Klang ihrer Stimme um einiges härter, gesättigt mit der Überzeugung, daß Recht nun einmal Recht bleiben müsse und daß keiner darum herumkomme, die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie weh tut. „Ich mußte natürlich dem Genossen Kommissar – das war so’n Vierschrötiger, wissen Sie, und gar nicht mehr so jung –, dem mußte ich auch sagen, wie der Junge sich geändert hat, von einem Tag auf den anderen, wie er die Ramona hat sitzenlassen und wie er dem Florian Schmidt, wenn er ihm mal im Fahrstuhl oder sonstwo begegnet ist – sie haben ja nu mal in ein und demselben Haus poussiert, und da kommt ja so was hin und wieder vor –, wie er ihn da gar nicht gesehen hat, als wär der Luft für ihn. Der Schmidt hat mir das mal erzählt. Und wie er ihn einmal regelrecht zusammengeboxt hat, Ihr Sohn den Florian, als der hernach noch mal zu der Gretel König wollte.“ „Zusammengeboxt?“ Das verursachte mir denn doch ein leichtes Drücken in der Magengegend. „Haben Sie sich nicht vielleicht mehr auf einen Partnertausch geeinigt?“ „Partnertausch?“ Sie betonte jede Silbe extra. „Von wegen! Gezankt haben sie sich die halbe Nacht durch, angebrüllt haben sie sich, als das auseinander ging mit der Gretel König und dem Schmidt, daß man’s im ganzen Haus hören konnte. Nur die Ramona ist ruhig geblieben, als ob sie das alles nichts anging. Ich hab’ anderen Tags von ihr selber alles erfahren. Auch später ist sie ruhig geblieben, ruhig und freundlich, auch zu Gretel König war sie nett, wo sie doch, weiß Gott, allen Grund 110
gehabt hätte, der die kalte Schulter zu zeigen. ‚Frau Flink‘, hat sie mir mal gesagt, ‚Gretel ist und bleibt meine Freundin. Da kann ein Mann nichts dran ändern. Soll sie mit Jakob glücklich werden‘, hat sie gesagt, ‚ich habe meinen Florian, und der ist mir viel mehr wert als alle Jakobs von der Welt.‘ “ „Erstaunlich“, sagte ich bei dem Gedanken an die Gelassenheit einer jungen Frau, die erst einer Freundin nicht nachtrug, daß die ihr den Freund stahl, und die dann den ehemaligen Freund um alter Gefühle willen vor der Polizei durch ihre Aussage nicht allzusehr belasten wollte, bis sie sich dann schließlich doch dazu aufraffte … „Nicht wahr?“ Frau Fink schien ganz gerührt von Ramonas Haltung. „Und sie hat Gretel König auch immer noch in ihrem Appartement besucht, selbstverständlich nur, wenn Ihr Jakob nicht da war. Aber den hab’ ich ja in den letzten Wochen sowieso selten gesehen. Und gerade in den letzten Wochen hat sich Ramona besonders um Gretel gekümmert, ist schon mal abends mit ihr ausgegangen – einmal hat sie mir erzählt, wie nett das war in der Disko und wie sie ihre liebe Not gehabt hätten, sich die jungschen Kerle vom Hals zu halten –, oder sie sind mal essen gewesen zu Mittag. Ich weiß ja nicht, ob die Gretel König so etwas überhaupt verdient hat.“ Nun begann mich Frau Finks Erzählung doch ein bißchen zu langweilen. Immerhin hatte ich einiges mir Unbekanntes erfahren, und wenn es – sah man von der guten Meinung ab, die die Hausbesorgerin im allgemeinen von Jakob hegte – nicht gerade viel dazu beitrug, meinen Sohn zu entlasten (wenn ich nur an den Eindruck dachte, den ein prügelnder Jakob auf ein Polizistenhirn machen mußte, wurde mir ordentlich bange), so war es doch von Vorteil, daß ich jetzt einiges mehr wußte. Eines war mir klarer geworden: Die Interessen, die 111
Liebschaften und Animositäten, die sich um Gretel König rankten, waren kompliziert, so kompliziert, daß man nicht ohne weiteres mit dem Finger auf einen weisen und ihn als den Täter bezeichnen konnte. Dr. Kümmerer zum Beispiel war im Spiel, ganz so, wie sein Chef es angedeutet hatte. Und der selber: War da nicht so etwas angeklungen, als ob er auch nicht so ganz unbeteiligt gewesen wäre? Jedenfalls tröstete mich das alles ein wenig, auch wenn es mich bei weitem nicht beruhigen konnte, und ich fühlte mich ein bißchen gestärkt für die Auseinandersetzung mit Habnicht – denn daß es eine Auseinandersetzung geben würde, hielt ich für sicher. „Vielen Dank, Frau Fink“, sagte ich. „Sie haben mir und meinem Sohn sehr geholfen.“ Aber Frau Fink schien die Abschiedsfloskel nicht gehört zu haben. Sie fuhr fort, die Haltung Ramona Paschotkas zu preisen und ihre Verwunderung darüber auszudrücken, daß sie sich noch solche Mühe um die Freundin (sie sagte immer: „um die gewesene Freundin“) machte. „Noch am letzten Tag, am Montag, sind sie zusammen gewesen und waren ganz fröhlich, die beiden.“ Ich horchte auf. „Am Montag? An dem Tag, an dem Gretel König ermordet wurde?“ „Genau. Sie kamen aus dem Fahrstuhl. ‚Na, Frau Fink‘, sagte Ramona, ‚immer fleißig? Wir sind heute faul. Wir haben unseren freien Tag und gehn essen, in den ‹Schloßkrug›.‘ “ „Wann war das?“ „Na, so um eins.“ „Und haben Sie das auch der Polizei gesagt?“ Ich fühlte plötzlich Unruhe in mir aufsteigen: Da deutete sich doch wieder etwas Neues an, womöglich etwas Wichtiges. „Was denken Sie denn! Wort für Wort, so wie ich das Ihnen gesagt habe, habe ich es zu Protokoll gegeben.“ 112
Frau Fink war hörbar pikiert, daß ich sie schlampiger Angaben verdächtigen könnte. „Entschuldigen Sie, ich dachte, Sie könnten in der Aufregung das eine oder das andere vergessen haben zu sagen.“ „Das gibt’s bei mir nicht.“ Sie stand auf, wie um ihrem Befremden auch körperlichen Ausdruck zu geben. „Und ich habe auch gesagt, daß eine halbe Stunde später der Florian Schmidt auftauchte und zu Ramona wollte und daß er sagte, er käm noch mal wieder, weil sie ja nu nicht da war. Und daß ich mit meinem Mann so um zwei weggegangen bin, weil wir zu meiner Schwägerin mußten, nach Köpenick zum Nachmittagskaffee, weil die doch Geburtstag hatte. Alles hab’ ich denen gesagt. Was denken Sie denn!“ „Daß Sie eine prächtige Frau sind!“ Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre aufgesprungen und hätte ihr die Hand geschüttelt. Ein Lächeln hellte das hagere Gesicht mit der fleischigen Nase auf. „Das ist aber schön, daß Sie das sagen, Herr Professor. Und nu haben Sie Ihren Kaffee nicht mal angerührt. Der ist sicher kalt.“ „Macht nichts, Frau Fink!“ Ich trank die Tasse in einem einzigen langen Zug leer. Dabei dachte ich: Ich werde sie mir alle kaufen, vor allem noch einmal diesen Florian; der wird mir Rede und Antwort darüber stehen müssen, wo er den Montagnachmittag zugebracht hat und mit wem. „Auf Wiedersehen, Frau Fink“, sagte ich. „Und nochmals vielen Dank für den schönen Kaffee.“ „Gern geschehen“, erwiderte sie und nahm den Schrubber von der Wand. „Grüßen Sie Bruder Jakob von mir, wenn Sie ihn wieder mal treffen.“ „Ja, wenn ich ihn wieder mal treffe …“ Als ich mich noch einmal nach dem Schwesternwohnheim „Florence Nightingale“ umblickte, machte es 113
auf mich einen bei weitem nicht mehr so tristen Eindruck wie zuvor. Ich dachte an die jungen Frauen, die dort ihre anscheinend komfortablen kleinen Wohnungen hatten, und für den Augenblick nicht an Gretel König, die dort ermordet worden war, und an Jakob, den man des Mordes verdächtigte.
9. Wieder auf dem Korridor der Station, lief ich dem Menschen in die Arme, auf den zu treffen ich mir im Augenblick am wenigsten gewünscht hatte: Dr. Kümmerer blickte mir entgegen, als sähe er mich zum ersten Mal und als hätten wir nicht eine für beide wenig erfreuliche Unterredung hinter uns gebracht. Auf der Stirn seines Nußknackergesichts bildeten sich durchs Hochziehen der Brauen tiefe Querfalten, die ihm zu einem grämlichen Aussehen verhalfen. „Besuchern ist das Betreten der Station erst ab fünfzehn Uhr gestattet“, sagte er und sah dabei demonstrativ auf seine Uhr am Handgelenk. „Bis dahin gilt das absolute Ruhegebot. Wenn Sie sich also bitte danach richten möchten.“ „Aber ich möchte keinen Kranken besuchen“, erwiderte ich, einigermaßen verblüfft über den Empfang, „das sollten Sie doch wissen. Ich suche Schwester Ramona.“ Sein Gesicht entspannte sich nicht, seine blauen Augen zeigten keine Emotion. „Vor fünfzehn Uhr darf kein Besucher die Station betreten.“ Ich versuchte noch einmal, in einen vernünftigen Wortwechsel zu kommen, und wiederholte: „Schwester Ramona suche ich. Wo kann ich sie finden?“ „Wenn Sie sich also hinausbemühen würden …“ Er 114
streckte den rechten Arm aus und wies mir den Ausgang. Jetzt war für mich die Toleranzgrenze überschritten; und wenn ich auch nicht wußte, wie ich auf diese Sturheit reagieren sollte, so war mir doch klar, daß ich ihr entgegentreten mußte, wollte ich nicht riskieren, von diesem Menschen zum Hampelmann degradiert zu werden. Ohne wesentlich lauter zu werden, aber energisch sagte ich: „Sie hatten gestern Ihre Schau, heute bin ich dran!“ Er stutzte, ließ den Arm sinken und starrte mich an wie jemanden, der das Verbrechen der Majestätsbeleidigung auf sich geladen hat. Ich aber fuhr, unbeeindruckt und mich auf die Eingebung des Augenblicks verlassend, fort: „Und wenn Sie mir nicht umgehend Auskunft geben, wo ich Schwester Ramona finden kann, würde ich mich gezwungen sehen, Ihnen etwas zu erzählen, was ich von Frau Fink weiß.“ Ich verabscheute mich in diesem Moment wegen der Erpressertour, in die ich geraten war, verabscheute auch die gespreizte Ausdrucksweise, die mir fremd und wie aus einem Schmöker in den Ohren klang. Dr. Kümmerer war bemüht, Gelassenheit auszustellen (wenn man denn Starrheit als Gelassenheit bezeichnen will). „Wer ist denn Frau Fink?“ fragte er, scheinbar ungerührt, und wie um seine Souveränität gegenüber meiner vagen Drohung zu unterstreichen, steckte er beide Hände in die Kitteltaschen. „Frau Fink kennt Sie sehr genau.“ „Mag sein.“ „Und sie weiß natürlich auch, was Sie mit Gretel König zu tun hatten.“ Nun zeigten sich doch erste Anzeichen von Verunsicherung auf seinem Gesicht: ein paar schnell aufeinanderfolgende Lidschläge, ein kurzes Blähen der Na115
senflügel, ein Zucken in den Mundwinkeln unter dem adrett gestutzten Schnurrbart. „Was wollen Sie eigentlich?“ fragte er, noch immer abweisend, doch ich merkte es seiner Haltung an, daß es ihm nicht mehr so recht gelang, noch länger den Herrn im Haus zu spielen. „Nichts als mit Schwester Ramona sprechen.“ „Das glaube ich Ihnen nicht!“ Mit einemmal war es um seine Fassung geschehen. Er riß die Hände aus den Kitteltaschen und streckte sie mir wie abwehrend entgegen. „Ich weiß, was sie vorhaben: Sie wollen Ihren Filius rauspauken, auf Teufel komm heraus, und dabei schrecken Sie vor nichts zurück, nicht einmal davor, einer alten Klaffte Gehör zu schenken. Die spioniert hinter jedem her, der das Haus betritt, und zerreißt sich das Maul über jeden.“ Er hielt inne, als habe er den Faden verloren; doch noch ehe ich ein Wort einwerfen konnte, fuhr er fort, augenscheinlich bemüht, seine Fassung wiederzugewinnen, und doch unfähig, seine einmal erwachte Erregung zu dämpfen: „Und wenn sie Ihnen tausendmal sagt, ich wäre am Montagnachmittag im Schwesternheim gewesen – es nützt Ihrem Herrn Sohn nichts, glauben Sie mir das.“ Nun hätte ich erklären können: Beruhigen Sie sich, Herr Doktor, Frau Fink war am Nachmittag bei ihrer Schwägerin in Köpenick zum Geburtstag und hätte also gar nicht beobachten können, ob Sie das Haus betreten haben oder nicht. Aber da ich unvermutet auf eine weitere Informationsquelle gestoßen war, hütete ich mich, sie wieder zuzuschütten. Ich behielt die Pose des abgebrühten Burschen bei und erklärte mit einer Ruhe, die mich selber in Erstaunen setzte: „Mich interessiert das nicht so sehr wie die Polizei. Sie haben diese Frage doch wohl mit Hauptmann Habnicht geklärt.“ „Das geht Sie nichts an.“ „Das sagte ich ja eben.“ 116
„Und außerdem habe ich einen Zeugen dafür, daß ich Schwester Gretel nicht angetroffen habe.“ „Und wer ist das?“ „Auch das geht Sie nichts an.“ Er stand kurz vor einer Explosion. „Verlassen Sie sofort die Station!“ „Ich will mit Schwester Ramona sprechen.“ Meine Selbstsicherheit war nicht mehr zu erschüttern. Unvermutet losbrechende und richtungslose Energien haben für mich seit je etwas Lächerliches an sich, und das Lächerliche ist nun einmal ein schlechter Bundesgenosse der Autorität. „Würden Sie mir sagen, wo ich sie finden kann?“ „Wenn Sie glauben, mich in die Sache hineinziehen zu können, dann haben Sie sich getäuscht.“ Es sah jetzt so aus, als bereite ihm schon der bloße Anblick, den ich bot, und jedes Wort aus meinem Mund physische Pein: Sein Oberkörper bog sich nach vorn, und er hielt beide Hände gegen den Bauch gepreßt. „Wie der Sohn, so der Vater!“ schrie er unbekümmert um die von ihm selbst beschworene absolute Mittagsruhe. Er ließ einen Platzregen von Tönen auf mich niedergehen: „Arrogantes, bindungsloses Pack … Wollen ehrliche Menschen diffamieren … Schrecken vor nichts zurück …“ und so weiter. Angesichts der Wut des Mannes im weißen Kittel wich ich nun doch zurück, und obwohl ich allen Grund gehabt hätte, über diesen völligen Verlust von Beherrschung befriedigt zu sein, war ich eher peinlich berührt und geneigt abzuwiegeln. Doch einige Ansätze, die ich durch beschwichtigende Handbewegungen in dieser Richtung unternahm, blieben unbeachtet. Da hörte ich, wie am Tag zuvor, in meinem Rücken Dr. Klein in seinem singenden sächsischen Tonfall sagen: „Beruhigen Sie sich, Herr Kollege, ich regle das schon mit dem Herrn Professor.“ Wie auf ein Kommando brach die Schimpfkanonade ab; Dr. Kümmerer entkrampfte sich und strich sich mit 117
dem Handrücken über die schweißglänzende Stirn. Dann machte er wortlos kehrt und entfernte sich fast im Laufschritt. Dr. Klein sah ihm mit einem eher hämischen als belustigten Lächeln nach. „So sind die Preußen“, sagte er, zufrieden, in seiner Meinung wieder einmal bestätigt worden zu sein. „Wenn bei denen nicht alles seinen geregelten Gang geht, drehen sie durch. Sie sollten sich davon auch diesmal nicht zu sehr beeindrucken lassen.“ Er legte mir begütigend eine Hand auf den linken Unterarm, und da er mir dabei ein wenig zu nahe kam, konnte ich seinem kognakduftenden Atem nicht ausweichen. „Zu Schwester Ramona wollen Sie also?“ Er hatte meine Auseinandersetzung mit Dr. Kümmerer anscheinend schon eine Weile mit angehört. „Was wollen Sie denn von der?“ „Ich möchte sie kennenlernen, das ist alles.“ „Soso – kennenlernen.“ Er sah mich nachdenklich an. „Aber kommen Sie erst mal auf ein Minütchen mit ’rein.“ Er dirigierte mich sanft und wie selbstverständlich auf sein Zimmer zu, als wären wir alte Bekannte, die sich zu einem Plausch zusammengefunden haben. Und so umfing mich denn wieder das mir schon vertraute Aroma von Kaffee und verbranntem Tabak, und ich saß wie am Tag zuvor auf dem kleinen Sessel. Hoffentlich muß ich nicht schon wieder Kaffee trinken, dachte ich, und da fragte Dr. Klein auch schon, wie es mit einem Täßchen wäre. „Danke, ich vertrage nicht soviel. Sie wissen: mein Herz.“ Und gleich erging er sich, wie am Vortag, in Betrachtungen über den vernünftigen Umgang mit Genußgiften, bis ich ihn mit der Bemerkung unterbrach, ich hätte nämlich schon bei Frau Fink Kaffee trinken müssen. Da sagte er: „Bei Frau Fink also waren Sie. Sieh mal an!“ Er 118
fragte nicht: Was wollten Sie denn von der? Aber die Frage stand in seinen Augen, als er sich mir gegenübersetzte. „Nette Frau.“ „Und sie hat mir eine Menge erzählt.“ „Das kann, ich mir denken. Die erzählt immer viel.“ Er kratzte mit dem zehnzölligen Zimmermannsnagel in seiner erloschenen Pfeife herum, ehe er den Tabak wieder in Brand steckte. „Aber glauben dürfen Sie der nicht alles“, fügte er hinzu, als die ersten Rauchschwaden aufstiegen, die er mit Handwedeln zu zerstreuen suchte. „Die hat manchmal ganz aparte Ansichten.“ „Das habe ich gemerkt.“ „Nicht wahr? So was bekommt man gleich mit.“ Es wäre ihm wohl sehr lieb gewesen, wenn ich meine Meinung über Frau Fink an Ort und Stelle präzisiert hätte; doch als ich schwieg, nahm er selber das Wort. „Sie hat sicher wieder ihre Lieblingsarie gesungen: Was für ein Flittchen Schwester Gretel ist – Pardon: war. Die kam mit dem Mädchen einfach nicht überein. Ramona, ja – die ist ihr Lieblingskind. Die kann sich alles erlauben, und Frau Fink läßt trotzdem nichts auf sie kommen.“ „Wie meinen Sie das: Die darf sich alles erlauben?“ „Ach, nur so.“ Er wollte offensichtlich nicht in Einzelheiten gehen und wechselte zu einem anderen Gegenstand über. „Hat sie auch etwas über Doktor Kümmerer gesagt?“ wollte er wissen, und die Spannung ließ seine Stimme gepreßt klingen. Nun war es an mir, den Mann hinzuhalten, und ich erwiderte: „Kaum etwas.“ „Ich will Ihnen mal was sagen.“ Er schob den Kopf vor und senkte die Stimme, als habe er mir ein Geheimnis mitzuteilen. Und wieder streifte mich ein Hauch von Kneipe, als er den Mund auftat und mich wissen ließ: „Ich glaube, den kann sie überhaupt nicht leiden – eben weil der mal was mit Schwester Gretel gehabt hat.“ „Schon möglich.“ Ich blieb reserviert. „Es heißt ja, 119
daß er Gretel König noch immer besucht hat, nachdem das Verhältnis auseinandergegangen ist.“ „Sie wissen aber viel.“ Dr. Klein saugte an seiner Pfeife und sah mich nachdenklich an. „Ich meine: für einen, der nicht vom Bau ist.“ „Ich muß viel wissen.“ Er lachte kurz. „Glauben Sie mir, der Verdacht gegen Jakob zerstreut sich von selbst, dazu brauchen Sie keinen Finger zu rühren. Mit Ihrem Herumgerenne und all den Gesprächen machen Sie sich nur verrückt. Sie erfahren doch nichts als einen Haufen Klatsch und ungereimtes Zeug. Lassen Sie die Finger davon, Herr Professor.“ Anscheinend war er aber doch noch unentschieden, ob er mich von weiteren Erkundungen abhalten oder ob er meine Abneigung gegen seinen jungen Kollegen verstärken sollte; denn er fuhr, wieder in einen gedämpften, vertraulichen Ton fallend, fort: „Ich will Ihnen noch was sagen: Mit dem Kollegen Kümmerer scheint einiges nicht zu stimmen, der Mann scheint nicht koscher zu sein.“ „Scheint?“ „Nun ja, ich weiß nicht das Genaueste …“ Am liebsten hätte ich ihn gefragt, was ihn so sehr gegen Kümmerer einnahm; doch ich hielt mich zurück, da ich es nicht riskieren wollte, ihn zu verprellen. „Der stolpert eines Tages über die eigenen Beine.“ Es blieb mir überlassen, die Bemerkung auszudeuten, denn Dr. Klein wechselte ohne Überleitung das Thema und verbreitete sich nach einem „Apropos“ eifrig über die Notwendigkeit, auf der Station bald wieder zu geordneten Verhältnissen zu kommen. „Nach dem Abgang von Schwester Gretel ist hier ein mittleres Chaos entstanden“, sagte er, und ich war so befremdet, den Mord als „Abgang“ qualifiziert zu hören, daß es mir nicht mehr gelang, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Dann hielt er unvermittelt inne, als 120
würde er sich bewußt, daß er mich mit Umständen traktierte, die mich nicht interessierten und nichts angingen. „Sie wollten zu Schwester Ramona“, sagte er, „und ich stehle Ihnen die Zeit mit meinem Gerede. Sie werden sie wohl noch in der Kantine finden – sie ist ja erst vor einer halben Stunde gekommen.“ Und dann wieder vertraulich: „Sie ist nämlich am Vormittag bei Hauptmann Habnicht gewesen.“ „Das habe ich erwartet“, sagte ich, und ich erntete dafür einen erstaunten Blick. „Sie wissen wirklich viel.“ Er hielt mir die Tür auf, und ehe ich ihn noch passiert hatte, stellte er endlich die Frage, die ihn seit dem Beginn unseres Gesprächs beschäftigt haben mochte: „Was hat denn Frau Fink zu meiner werten Person zu sagen gehabt?“ „Nur das Beste, Herr Doktor“, sagte ich, „nur das Beste.“ Mir war, als befriedige ihn meine Antwort nicht, und als ich mich noch einmal umwandte, stand er in der Tür und blickte mir nach. Ramona Paschotka saß in dem fast leeren Speisesaal allein an einem der kleinen Tische, vor sich ein Glas Limonade und einen halbleer gegessenen Teller. Sie bemerkte mich schon beim Eintritt, und nach einer Sekunde des Zögerns stand sie auf und kam mir ein paar Schritte entgegen. „Sie wollen sicherlich mich sprechen.“ Das klang ziemlich befangen. „Ich habe Sie erwartet.“ Sie lächelte, vielleicht aus Verlegenheit, machte überhaupt einen unsicheren Eindruck, als sie vor mir stand: fast so groß wie ich, schlank und gut proportioniert und doch kräftig – eine ansehnliche junge Frau und wie geschaffen für einen Mann, der Wert auf Sportlichkeit und Sachlichkeit legte. Ihr regelmäßig geformtes, blasses Gesicht, das von glattem blondem Haar gerahmt war, wurde von hellen grauen Augen beherrscht, die normalerweise wohl den Eindruck von Distanz, ja von Kühle vermittel121
ten, aus denen jetzt jedoch eher Verletzlichkeit und auch ein wenig ängstliche Erwartung sprachen. Mit einer unsicheren Bewegung streckte sie mir eine Hand entgegen und deutete zu meiner Überraschung einen Knicks an. Augenblicklich wurde ich von ihrer Unsicherheit angesteckt. Verflogen war meine Entschlossenheit, mir auf direktem Wege Gewißheit zu verschaffen, dahin war meine Zuversicht, durch meine Erfahrung im Umgang mit jungen Menschen in bedrängenden Situationen sehr bald zur Wahrheit vorzustoßen. „Eigentlich kennen wir uns ja schon“, sagte ich, als ich ihre Hand ergriff. Etwas Besseres fiel mir nicht ein. „Eigentlich ja. War aber kurz, unsere Begegnung damals.“ Ich spürte, wie schwer es ihr fiel, locker aufzutreten, und so machte ich, auch um die eigenen Hemmungen abzustreifen, den Vorschlag, den häßlichen und von Essendünsten durchzogenen Speisesaal zu verlassen und einen Spaziergang auf dem Krankenhausgelände zu unternehmen. Im Gehen spreche es sich allemal leichter, sagte ich, das hätten schon die griechischen Philosophen gewußt. Sie lächelte höflich und scheu. Und in der Tat lösten sich allmählich meine und ihre seelischen Verspannungen, als wir die breite und von kahlen alten Platanen gesäumte Allee hinuntergingen, die schnurgerade auf die geschlossene psychiatrische Abteilung zulief. Die schon wärmende Sonne brachte mich dazu, den Mantel aufzuknöpfen und den Hut in der Hand zu tragen, und auch das lockerte mich auf. Dennoch brachte ich es nicht sofort über mich, das direkt anzusprechen, was mir einzig wichtig war. Statt dessen erkundigte ich mich nach Arbeitsbedingungen, mutmaßte, daß Dr. Klein ein freundlicher Chef sein müsse, und deutete vorsichtig den Eindruck an, den Dr. Kümmerer auf mich gemacht hatte. Und in dem Maß, wie sie Auskunft gab und Meinung äußerte, schmolz die Distanz. 122
Als wir dann auf einer Bank bei einem mit Rhododendron bestandenen Rondell saßen, im Rücken die Kapelle, die seit langem schon als Kultursaal genutzt wurde, begann Ramona Paschotka von sich und Jakob zu sprechen, ernst und zu meiner Erleichterung ohne den mindesten Bodensatz von Sentimentalität. Das Auseinandergehen zu Anfang des Jahres schien sie als etwas anzusehen, das nicht zu vermeiden gewesen war, jedenfalls nicht als Katastrophe. „Ich war traurig“, sagte sie, „aber die Welt ist für mich darüber nicht untergegangen.“ Sie seien im Grund doch zu unterschiedlich in fast allem, was die Ansichten über das Leben und die in die Zukunft gesetzten Erwartungen betraf. „Jakob ist ein unruhiger Mensch, der sich nicht fest binden will. Hinter jeder Ecke erwartet er etwas Neues, etwas Aufregendes, und man weiß nie bei ihm, ob er nicht in der nächsten Stunde eine Sache langweilig und öde findet, die er bis dahin geschätzt hat. Und dann ist er eigentlich ein Einzelgänger, auch wenn er sich oft gesellig und hilfsbereit gibt.“ Das sagte sie ohne Zorn und Eifer, so als habe sie ein Gutachten über jemanden abzugeben, der sie eigentlich nichts anging. Und wenn ich mir Jakobs Art zu leben vorstellte – vielmehr das erwog, was mir hier als Charakteristik meines mir unbekannten Sohnes angeboten wurde, und es gegen den Eindruck setzte, den Ramona Paschotka auf mich machte, konnte ich mir sehr wohl ausmalen, daß die beiden kein allzu harmonisches Gespann gewesen waren. Die junge Frau an meiner Seite schien so gar nicht darauf gerichtet, jeden Tag als ein neues Abenteuer anzusehen und die Menschen an dem zu messen, was sie an Außergewöhnlichem für sie brachten. Bei ihr dominierte wohl eher das Verlangen, in festen Ordnungen nützlich zu sein und anerkannt und geschätzt zu werden. Das machte mir auch jeder ihrer Sätze klarer, mit denen sie mir ihre jetzigen Verhältnis123
se beschrieb: ihre Freundschaft mit Florian Schmidt vor allem, die sie als ideal hinstellte, weil sie in ihr die Ruhe und die Verläßlichkeit gefunden zu haben glaubte, die sie bei Jakob vermißt hatte. Aber auch die Treue und die Freundlichkeit, die sie Gretel König trotz allem bewahrt hatte, weil sie einen Menschen, den sie schon von der Berufsausbildung her kannte, nicht um eines heftigen Zusammenstoßes willen, aus dem sie beide, ohne größeren Schaden zu nehmen, hervorgegangen waren, aufgeben wollte, verstand ich bald besser. Nun wußte ich ja schon von Frau Fink über diese Seite der Geschichte Bescheid, erwähnte aber meinen Besuch bei ihr mit keinem Wort, allerdings nicht so sehr aus taktischen Gründen, etwa um Widersprüche zwischen beiden Darstellungen aufzuspüren, sondern weil mir das Bild, das mir Ramona Paschotka von sich und Jakob und den anderen zeichnete, sachlich vorkam, nicht durch Leidenschaften getrübt, und weil ich es nicht durch mein Mißtrauen in Frage stellen mochte. Zudem bot sie mir kaum Gelegenheit zu einem wirklichen Gespräch; denn sie redete stetig und mit der Konsequenz eines Menschen, der es anscheinend nicht gewohnt ist, viele Worte zu machen, der aber dem umfassend Auskunft gibt, der ein Recht darauf hat, auch Einzelheiten zu erfahren. Nur einmal wäre sie fast von ihrem steten Kurs geraten, als ich mich nämlich (nicht, um sie zu verunsichern, sondern um mir ein besseres Urteil bilden zu können) danach erkundigte, ob sie glaube, Florian Schmidt hasse Jakob noch immer darum, daß er ihm Gretel König weggenommen hatte. Da wurde sie wieder unsicher wie zu Beginn, und es klang ein wenig angriffslustig, als sie sagte: „Sie kennen Florian nicht. Wir lieben uns.“ Dabei blickte sie geradeaus in die Rhododendronbüsche. „Er ist manchmal heftig und dann auch ungerecht in seinem Urteil. Aber sonst ist er der liebenswerteste Mensch, den ich je kennengelernt habe.“ 124
Ich wollte keinen Einwand gegen dieses Urteil erheben, erinnerte mich nur an Florian Schmidts unsägliche Ausfälle gegen Jakob am Abend zuvor und fragte mich, ob die junge Frau an meiner Seite um der Liebe willen und des Geborgenseins in ihr eine falsche Aussage machen und damit einen anderen in den Verdacht, ein Mörder zu sein, bringen könnte. Denn so sicher wie am Morgen, als mir Schöbel von der spätabendlichen Beichte berichtet und ich sofort ein Komplott geargwöhnt hatte, war ich mir durchaus nicht mehr. Seit ich Ramona Paschotka kannte, paßte das Bild von der willfährigen Freundin nicht mehr so recht, da mir ein Beispiel für Ernst, Sachlichkeit und Streben nach Verläßlichkeit geboten wurde. Und es gelang mir folglich nicht mehr, den notwendigen Vorbehalt gegen sie und ihre Meinung aufzubringen, um das aus ihr herausfragen zu können, was sich für Jakob als Entlastung ergeben mochte. „Gehen wir noch ein Stück?“ fragte ich. Sie nickte, stand auf, und wir gingen stumm nebeneinanderher, bis wir das Ende der Allee erreicht hatten. Auf dem Rückweg blieb sie plötzlich stehen und sagte: „Ich weiß, was Sie von mir denken.“ „Und was denke ich?“ „Vielleicht, daß ich mir alles zu schwer mache.“ Sie suchte nach Worten. „Daß ich … nun ja, ich bin nun einmal kein Mensch, der in Konflikten und im Wechsel leben kann. Ich brauche klare Verhältnisse.“ Sie war stehengeblieben und sah mich an, als sei sie sich nicht schlüssig, ob ich sie verstünde. Ich war drauf und dran zu sagen: Ich begreife Sie durchaus, ich möchte auch nicht in den Tag hinein leben, immer auf der Suche nach etwas anderem. Aber ich sagte nichts dergleichen. Schließlich war ich nicht hier, um einer jungen Frau meine Sympathie und mein Verständnis für ihr Lebensgefühl auszudrücken. Ich mußte endlich zur Sache kommen, und so fragte ich denn: 125
„Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir rundheraus zu sagen, ob Sie Jakob für einen Mörder halten?“ Sie blickte zu Boden. „Ich wußte, daß Sie mich das fragen würden.“ Sie stocherte mit der Schuhspitze in einer Ritze des Asphalts, der den Weg bedeckte. „Das ist alles so schwer zu entscheiden … Er war so unruhig, in allem. Ich konnte nie mit Gewißheit sagen, was er als nächstes tun würde. Und auch Gretel. Sie paßte eigentlich zu ihm … Ein liebes Mädchen, klug, praktisch – sie konnte eine Freundin sein, wenn sie wollte. Ich hab’ sie gemocht. Nur …“ „Ich wollte wissen, ob Sie Jakob das zutrauen …“ „Ich weiß es nicht.“ Wieder zuckte sie mit den Schultern. Von der wohltuenden Bestimmtheit, mit der sie zuvor ihre Ansichten vorgetragen hatte, war nichts mehr zu spüren. „Er war nicht berechenbar … Ich weiß es nicht.“ Ich begriff: Auf diesem Weg kam ich nicht voran, und so versuchte ich einen anderen Ansatz. „Sie sind doch am Montag mit Gretel König noch zusammen gewesen, sind mit ihr zum Essen gegangen … oder nicht?“ „Woher wissen Sie das?“ Sie sah mich überrascht an und blickte dann sofort zur Seite. „Das tut nichts zur Sache.“ „Wenn Sie es schon wissen: ja. Wir hatten unseren freien Tag, sind in den ‚Schloßkrug‘ gegangen und waren fröhlich, richtig ausgelassen. Eine Flasche Wein haben wir getrunken und noch eine mitgenommen, für später.“ Sie bemühte sich, auch in dem, was folgte, wieder nüchtern und bestimmt zu sprechen, offensichtlich froh darüber, daß ich ihr nicht weiter mit Fragen nach ihrer Ansicht zu Jakobs Schuld oder Unschuld zusetzte. Dennoch entging mir nicht eine gewisse Monotonie des Vortrags, wie sie sich einstellt, wenn man möglichst schnell und exakt einen Bericht hinter sich bringen will, den man schon vorgeformt im Kopf hat, so daß man nicht auf die suchende und tastende Erin126
nerung angewiesen ist. Was sie vortrug, stimmte sozusagen bis aufs Komma und ging ihr in knappen Sätzen von der Lippe: Nach dem Mittagessen waren die beiden Frauen in Gretel Königs Appartement gegangen, hatten miteinander geplaudert – nichts von Belang, Modekram, Krankenhausklatsch, Männer –, hatten die zweite Flasche leer getrunken; es war ein unbeschwerter Nachmittag, wie schon seit langem nicht mehr; dann hatten sie sich verabschiedet. „Das war gegen vier“, sagte sie, „Gretel wollte noch in die Stadt fahren, sich einen Pulli im Exquisit kaufen. Ich war müde, habe mich eine Stunde auf die Couch gelegt. Mir trieselte nämlich ein bißchen der Kopf, vom Wein. Ich bin Alkohol nicht gewöhnt.“ Sollte ich nun direkt fragen: Hat denn Florian Schmidt auch mitgetrunken? Von Frau Fink wußte ich ja nur, daß er im Schwesternwohnheim vorgesprochen hatte, als die jungen Frauen bereits gegangen waren. Als habe Ramona Paschotka mein Problem gewittert, sagte sie: „Übrigens ist Florian Schmidt im ‚Schloßkrug‘ noch zu uns gestoßen. Er hat eine halbe Stunde mit uns zusammengesessen, wenn Sie das interessiert. Leider konnte er nicht bleiben.“ „Dann ist er wohl nicht mit in Gretel Königs Appartement gegangen?“ „Ich sagte doch schon: Er konnte nicht bleiben. Er mußte in die Uni. Warum fragen Sie danach?“ Ein Anflug von Ärger war in ihrer Stimme, wie er sich einstellt, wenn man sich unberechtigtem Mißtrauen ausgesetzt sieht, jedoch auch ein Quentchen Angst davor, ich könnte ihr die Angabe nicht glauben. Ich hingegen befürchtete, ich könnte, wenn ich mich weiter so ungeschickt anstellte, die Unterhaltung zu einem vorzeitigen Ende bringen. Deshalb sagte ich: „Entschuldigen Sie, Ramona, die Frage ist mir nur so herausgerutscht.“ Und als sie mein Bedauern zwar mit 127
einem Lächeln akzeptierte, aber nicht sogleich in ihrem Bericht fortfuhr, sondern unschlüssig einige Schritte ging und dann sogar auf ihre Armbanduhr schaute, wie um anzudeuten, daß ihre Zeit bemessen sei, entschloß ich mich, ihr die Absicht, die mich hierhergebracht hatte, offen darzulegen. Ich erklärte also, ich wisse, daß sie am Vormittag bei Habnicht gewesen sei, um eine Jakob belastende Aussage zu machen, und sie müsse verstehen, wie sehr mir daran liege, mich zu vergewissern, ob diese Aussage den Tatsachen entspreche oder ob sie Rachegefühlen oder vielleicht sogar dem Haß entsprungen sei. Ich mußte damit rechnen, daß ich mir mit dieser Offensive womöglich den Weg zu weiteren Auskünften ein für allemal verbaute. Doch Ramona Paschotka zeigte sich auch in diesem Moment verständnisvoll. Nach einer kleinen Pause des Überlegens sagte sie, sie begreife mein Anliegen. „Ich habe von vornherein nicht angenommen, daß Sie mich aus einem anderen Grund aufgesucht haben als dem, Jakob zu entlasten.“ Und diesem Satz in wunderlichem Amtsdeutsch folgte, leiser, ein persönlicherer: „Sie hätten ja auch keinen Grund gehabt, mich näher kennenzulernen, wenn das Schreckliche nicht passiert wäre.“ Ich wollte irgend etwas Verbindliches antworten, doch sie verhinderte das, indem sie sachlich und monoton wie zuvor berichtete, was geschehen war, nachdem sie sich in ihrem Appartement auf die Couch gelegt hatte: Nach ungefähr einer Stunde war sie durch ein Klingeln geweckt worden; Dr. Kümmerer stand vor der Tür und wollte wissen, warum Gretel nicht öffnete, und sie gab ihm die Auskunft, daß sie vermutlich in die Stadt gefahren sei. Danach ging sie zur Kaufhalle und fuhr, zurückgekehrt, mit dem Aufzug in die vierte Etage, wo Gretel König und sie wohnten; als sie aussteigen wollte, sah sie Jakob, wie er die Pendeltür zur Treppe aufstieß und hinter ihr verschwand. 128
„Demnach haben Sie ihn also nur von hinten gesehen.“ „Etwas anderes habe ich nie behauptet. Aber ich erkenne Jakob – auch von hinten. Sie wissen doch, daß er unverwechselbar ist, mit den Haaren.“ „Und Sie sind sicher, daß er aus der Wohnung von Gretel König gekommen ist?“ „Woher sollte er sonst gekommen sein? Bei mir ist er, aus begreiflichen Gründen, seit Anfang des Jahres nicht mehr gewesen. In den beiden anderen Appartements auf unserem Flur wohnen Kolleginnen, mit denen er noch kein Wort gewechselt hat, die eine von der urologischen, die andere von der orthopädischen Klinik.“ „Und wie soll Jakob in die Wohnung von Gretel König hineingekommen sein?“ „Er hatte doch einen Schlüssel.“ „Das wissen Sie?“ „Wer wußte das nicht! Gretel war manchmal nicht gerade verschwiegen.“ Hier verließ sie die Bahn der sachlichen Auskunft. Sie preßte die Handflächen gegeneinander und schien kurz die Luft anzuhalten. Dann wirkte sie wieder gelöst. „Mir hat sie es am Montagmittag im ‚Schloßkrug‘ verraten. Sie wollte den Schlüssel zurück haben.“ „Und warum?“ „Weil Jakob mit ihr Schluß machen wollte.“ Mein Gott, dachte ich, was für eine Sprache! Und: Hat er denn wirklich mit ihr Schluß gemacht? Ich verdrängte die böse Assoziation, wollte wieder aufs Tatsächliche kommen. „Aber Sie sagen doch, daß Gretel König in die Stadt fahren wollte, und diese Auskunft haben Sie doch auch Doktor Kümmerer gegeben, nachdem der vergebens bei ihr geklingelt hatte. Woher also wollen Sie wissen, ob sie zu Hause war, als Sie Jakob sahen, wie er sich anschickte, die Treppe hinunterzugehen?“ Ramona Paschotka reagierte nicht auf meine Frage. 129
„Er hatte den Schlüssel“, wiederholte sie, „und sie wollte ihn von ihm zurückfordern.“ „War Gretel König zu Hause oder nicht, als Sie Jakob gesehen haben?“ Nach kurzem Zögern erwiderte sie: „Ich habe nie behauptet, Jakob habe Gretel umgebracht. Ich habe nur gesagt, was ich gesehen habe.“ „Aber Sie haben es gedacht, als Gretel dann am Mittwochmorgen tot aufgefunden wurde?“ „Ich weiß es nicht.“ Die Antwort kam nach einigem Zögern, so als habe sie noch immer mit Zweifeln zu kämpfen. „Ich wußte von Gretel, daß sie ihn nicht ohne weiteres freigeben wollte. ‚Den lass’ ich zappeln‘, hat sie im ‚Schloßkrug‘ gesagt. Und: ‚Die Kerle von der Station denken, sie können sich alles erlauben!‘ “ „Die Kerle? Wer noch außer Jakob?“ „Auch das weiß ich nicht.“ Sie erweckte den Eindruck, als sei sie erst durch meine Frage auf die Verwendung des Plurals gestoßen worden. „Vielleicht hat sie Doktor Kümmerer gemeint, vielleicht Doktor Klein oder beide. Mag sein, sie hat auch nur der Kerl gesagt.“ „Der Kerl von der Station? Das ergibt doch keinen rechten Sinn.“ „Ich weiß es nicht“, wiederholte sie, und das klang abwehrend; offensichtlich war sie meiner Fragerei überdrüssig. Auch ich war müde geworden, weiter in sie zu dringen, müde und auch verzagt. Da stürmte so viel Neues auf mich ein, so viel Rätselhaftes, so vieles, das mir bedrohlich erschien. Welche Rolle hatte Dr. Kümmerer in dem makaberen Spiel? Wenn der im Schwesternwohnheim gewesen war am Montagnachmittag und vergebens, wie er behauptete, an Gretel Königs Tür geklingelt hatte … Jetzt verstand ich seine Aufregung, seine maßlose Schimpferei, sein Interesse daran, Jakob als Mörder abgestempelt zu sehen. Und dann war auch 130
wieder mein Zweifel an Jakobs Unschuld da, stärker als zuvor. Wenn er sich nun wirklich Gretel Königs entledigt hätte, weil sie ihn nicht freigeben wollte … Was hieß das überhaupt: nicht freigeben? Vielleicht war sie schwanger … Und hatte Frau Fink nicht doch recht, wenn sie diese Gretel ablehnte, weil sie ein Flittchen war? Immerhin kamen unter diesem Gesichtspunkt noch ganz andere Personen als mögliche Schuldige am Tod der jungen Frau in Frage. Aber es blieb alles in Vermutungen hängen. Ich war mir im Grunde in keinem Punkt sicher, hatte nur ein paar Fakten in der Hand, mit denen ich nichts anfangen konnte. Die ganze Sache war mir über den Kopf gewachsen, und von dem Elan, mit dem ich Hilfe für meinen Sohn hatte herbeizwingen wollen, war nicht mehr viel geblieben. Wie sollte ich denn auch Jakob helfen können, da ich doch nicht nur ihn nicht kannte, sondern auch in dem Umfeld, in dem er lebte, fremd war. Das bißchen mühsam durch aufdringliche Befragungen zusammengekratzte Information nützte mir nichts, und am Ende war bei allem vielleicht nicht mehr herausgekommen, als daß ich mich lächerlich gemacht und unnötig aufgeregt hatte. Ich sah ein: Es wurde Zeit, daß ich die Recherchiererei aufgab und sie diesem Habnicht überließ. Und eher aus einem Gefühl der Hilflosigkeit und Verzagtheit heraus als aus dem Bemühen, wenigstens in einem Punkt des verwirrenden Bildes volle Klarheit zu gewinnen, fragte ich noch einmal: „Und Sie sind wirklich sicher, daß es Jakob war, der sich da anschickte, die Treppe hinunterzulaufen?“ Da geschah etwas, auf das ich nicht vorbereitet war: Ramona Paschotka, die so sehr beherrschte und vernünftige junge Frau, schrie plötzlich: „Ich halte das nicht mehr aus!“ und begann zu weinen, so hemmungslos laut und tränenreich, daß ich starr vor Schreck dastand, auch geniert, weil zwei Männer in weißen Anzügen, die auf 131
ein geparktes Ambulanzauto zugingen, mich ansahen, als wäre ich ein Rohling, der einer jungen Frau etwas zuleide getan hat. Ich nahm Ramona Paschotkas Arm und führte sie ein Stück abseits unter eine Platane. Dabei merkte ich, wie sie am ganzen Leib zitterte. Und während ich aus meinem Jackett ein Taschentuch zog, sagte ich ein paar von den törichten Trostwörtern, hinter denen wir unsere Ohnmacht vor fremdem Schmerz verbergen. Sie lehnte mit dem Rücken gegen den Baumstamm, noch immer unfähig, den Tränenstrom zu hemmen und das Schluchzen zu unterdrücken, und zerrte das Taschentuch zwischen den Händen hin und her, als wollte sie es zerreißen. Zu meiner Hilflosigkeit gesellte sich ein tiefes Mitleid mit der jungen Frau, die ihren Schmerz nicht zügeln konnte und, kaum verständlich, mehrere Male rief: „Es war alles so schrecklich, so schlimm!“ „Soll ich Sie auf Ihre Station bringen?“ fragte ich, obwohl mir die Aussicht, dort zum zweiten Mal an diesem Tag auf Dr. Kümmerer zu stoßen, alles andere als angenehm war. Sie nickte nur, und ich geleitete sie in ihre Klinik. Meine Besorgnis erwies sich als unnötig: Statt des cholerischen Pedanten empfing uns im Flur der anscheinend allgegenwärtige Dr. Klein, der, mit zerzaustem Haar und wie ein lufthungriger Herzkranker tief durchatmend, an einem offenen Fenster stand und sich schwerfällig uns zuwandte, als er hinter sich ein Geräusch hörte. Er nahm die noch immer nicht beruhigte Ramona Paschotka bei beiden Händen und führte sie, ganz besorgter Vorgesetzter, in ein Zimmer, nicht ohne mir einen zwar verschwommenen, aber deutlich tadelnden Blick zuzuwerfen. Ich unterdrückte den Drang, ihm zu folgen und ihm eine Erklärung abzugeben, und verließ die Station. Vorm Krankenhaus stand ich, noch immer aufgewühlt von der 132
Begegnung mit Ramona Paschotka, und erlebte nach ein paar Minuten das Wunder, auf ein freies Taxi zu stoßen, dem eine hochschwangere Frau nebst ihrem besorgten Gemahl entstiegen war.
10. Die Fahrt dauerte durch den in Richtung Stadtzentrum immer dichter werdenden Verkehr so lange, daß ich erst gegen vier Uhr Hauptmann Habnichts Zimmer betrat, nachdem ich von einem Pförtner in Uniform telefonisch angemeldet worden war. Habnicht hockte massig hinter einem Schreibtisch aus einer Serienfertigung von Büromöbeln, der durch nichts als seine Unansehnlichkeit auffiel und dessen ehemals helle Färbung im Lauf der Jahre zu einem undefinierbaren Grau verkommen war. Überhaupt wirkte der mäßig große Raum mit den wenigen genormten Möbelstücken, dem obligaten Bild vom Staatsratsvorsitzenden, einer überdimensionalen Stadtkarte und einem zettelbestückten Pinboard an der gelbgetönten Wand wenig einladend; daran änderte auch nichts das halbe Dutzend Kakteen, das auf der Fensterbank ein kümmerliches Dasein fristete. Aber was sollten schon Begriffe wie „einladend“ oder gar „gemütlich“ in dieser Umgebung bedeuten: Hierher wurde man beordert, vorgeladen, jedenfalls nicht eingeladen. Und entsprechend trist und neutral war denn auch der Gesichtsausdruck, mit dem mich der Kriminalist empfing, als er das Gesäß für eine Sekunde lüftete, ehe er sich wieder in seinen Bürosessel fallen ließ und dabei die Bemerkung machte, wir seien für drei Uhr verabredet gewesen. Diese Eindrücke wirkten sich auf meine Stimmung nicht unbedingt erhebend aus, und aus Vergnatztheit 133
über den Empfang verkniff ich mir eine entschuldigende Erklärung für mein Zuspätkommen und handelte mir dadurch auf der Stelle eine innere Abwehrhaltung ein, die ich, wie ich mir noch im Taxi vorgenommen hatte, unbedingt hatte vermeiden wollen. „Wohl wieder mal auf Achse gewesen“, mutmaßte Habnicht und rekelte sich in seinem Sessel zurecht. Dabei grinste er fast komplizenhaft, und das – wie auch die legere Ausdrucksweise – nahm der Bemerkung die Schärfe, und ich wunderte mich, daß dieser Mann, den ich zweimal von Angesicht zu Angesicht und einmal am Telefon als einen Ausbund von amtlicher Unfreundlichkeit kennengelernt hatte, überhaupt einen privaten Ausdruck in seine Miene legen konnte. „Ich möchte Ihnen erklären …“ Er winkte, noch immer grinsend, ab. „Lassen wir es auf sich beruhen. Schließlich erlebe ich es nicht zum ersten Mal, daß im Fall eines Verdachts Freunde oder Angehörige des Verdächtigen detektivischen Ehrgeiz freisetzen. Was glauben Sie, wie viele Ratschläge und Meinungen und sogenannte Entdeckungen mir in den zwanzig Jahren meiner Tätigkeit bei der Kripo angetragen worden sind? Für jeden Rat eine und für jede heiße Spur zwei Mark, und ich wäre ein wohlhabender Mann.“ „Aber die Bevölkerung soll mitarbeiten, heißt es doch immer.“ Eigentlich hatte ich keine Lust, dieses Thema zu vertiefen, schon weil ich meine Erkundungsversuche aufzugeben gedachte; aber die Beiläufigkeit, mit der er meine Bemühungen abtat, ohne überhaupt zu wissen, was ich unternommen hatte, wurmte mich denn doch zu sehr. „In Maßen, Herr Professor. In den Maßen nämlich, die uns eine geordnete und bewährte Aufklärungsarbeit garantieren. Aber darüber haben wir gestern schon einmal gesprochen. Wechseln wir also das Thema.“ Und um zu unterstreichen, daß er an einer Fortset134
zung dieses Dialogs nicht interessiert sei, legte er mit einer abrupten Bewegung beide Hände gleichzeitig auf die Schreibtischplatte, zog sodann einen ziemlich voluminösen Schnellhefter zu sich heran und fing an, in ihm zu blättern. Zwar beobachtete ich noch argwöhnisch sein Hantieren mit dem Aktenstück und erwartete, daß er mich jeden Augenblick mit einer barschen Frage überraschen würde; doch war ich durch meinen Entschluß, mich aus der Affäre herauszuhalten, viel gelöster und sah dem, was da kommen würde, mit einiger Zuversicht entgegen. „Also: Jakob Johann Maul, geboren am siebenundzwanzigsten Januar neunzehnhundertdreiundsechzig.“ Er hielt ein Stück Papier nach der Art Weitsichtiger mit fast ausgestrecktem Arm von sich. Dann ließ er das Blatt sinken, und sein Blick hob sich und verlor sich irgendwo in dem Zimmer. „Damals fing ich mit der Polizeischule an. Die suchten Kriminalisten. Und ich war Meister bei der Verkehrspolizei. Vielleicht wäre ich besser dabeigeblieben. Jedenfalls hätte ich mir viel Mühe und Ärger erspart.“ Vorsicht! dachte ich, noch immer nicht ganz frei von Vorbehalt; wenn so einer vertraulich wird, führt er sicherlich etwas im Schild. Aber Habnicht fuhr nicht weiter auf diesem Gleis. Er las eine Weile konzentriert und mit gekrauster Stirn in der Akte, blätterte vor und zurück und erweckte so den Eindruck, daß er sich erst einmal orientieren müsse in einem Gestrüpp von Daten, das ihm bisher noch nie unter die Augen gekommen war. Schließlich sagte er: „Na, dann wollen wir mal an die Arbeit gehen.“ Und ich erwartete, daß nun eine Dame ins Zimmer träte, ein Protokoll aufzunehmen. Ich hatte dergleichen in Erinnerung – in nicht sehr guter übrigens –, seit ich vor einem Dutzend Jahren wegen eines Einbruchs in unser Haus Aussagen hatte machen und mir dabei Vor135
würfe hatte anhören müssen, weil ich angeblich reichlich leichtsinnig „in bezug auf die Sicherung meines persönlichen Eigentums“ gewesen sei, als wir ein verlängertes Wochenende im Erzgebirge zubrachten. Doch niemand betrat den Raum. Statt dessen lehnte sich Habnicht bequem zurück und sagte: „Diesen jungen Mann kenne ich inzwischen wie meinen eigenen Sohn.“ Das klang in meinen Ohren unangebracht, weil mich die letzten beiden Tage nachdrücklich darüber belehrt hatten, wie unwissend ich in dieser Beziehung war. Also reagierte ich natürlich empfindlich und wandte spontan ein: „Wie kann man sich einen Menschen aus ein paar Fakten zusammensetzen!“ „Manchmal gelingt es“, Habnicht blieb gelassen („cool“ würden Jakob und seinesgleichen wohl gesagt haben), „und manchmal besser, als wenn man das Bild von einem Menschen im Kopf hat und nicht mehr glaubt, sich die Mühe machen zu müssen, ab und zu Wirklichkeit und Vorstellung miteinander zu vergleichen.“ Der redet wie Schöbel, dachte ich. „Das ist so wie mit den Männern, die Fotografien von der Frau und den lieben Kindern in der Brieftasche mit sich rumschleppen – und die Dinger sind längst überholt: Die Frau hat nicht mehr das blühende Aussehen wie damals, vor Jahren, im Urlaub, die Tochter ist nicht mehr das spillerige Mädchen in Jeans und T-Shirt, und der Sohn, in strahlender Pose hinterm Lenkrad von Papas Auto, geht inzwischen seine eigenen Wege, vielleicht krumme Wege …“ „Ich muß doch bitten! Noch haben Sie ja wohl nicht …“ „Sie müssen das nicht auf sich beziehen.“ Er schien jede Konfrontation vermeiden zu wollen. „Ich wollte nur sagen, daß wir ab und zu die Fotos erneuern sollten, auch wenn die neuen nicht mehr so gut vorzeigbar sind. Und um Sie zu beruhigen: Ich habe drei Töchter, alle sind aus dem Haus, zwei auch aus der Stadt, und ich 136
trage auch noch die Jahre alten Bilder mit mir ’rum, in der Brieftasche und auch im Kopf, fürchte ich.“ Ich wurde unruhig. Was sollte die Salbaderei? Vielleicht, dachte ich, hilft ihm ein bißchen Sarkasmus von seinen Betrachtungen herunter, und ich sagte: „Ich hoffe, die jungen Damen sind unter gute Hauben gekommen.“ Er ging auf den Ton ein. „Sie sind freundlich, Herr Professor. Eine studiert, die beiden anderen haben mich zum dreifachen Opa gemacht, zu einem sehr stolzen übrigens. Aber wenn Sie mich fragen, was sie so denken und wie sie fühlen, dann kann ich auch nur die alten Bilder rauskramen und sagen: Damals war das so und so.“ Er griff nach einer Schachtel und schüttelte klappernd ein weißes Dragee heraus. „Seit Tagen spüre ich, daß eine Grippe kommt. Ich bin schon ganz heiser. Hören Sie das nicht?“ Komiker! dachte ich, während sich meine Unruhe über soviel Umherschweifen steigerte, und ich erwiderte: „Sie müssen schon entschuldigen, aber ich weiß nicht, wie Ihre Stimme normalerweise klingt.“ „Da haben Sie auch wieder recht.“ Sein nach innen gedrücktes Lachen klang wie das Glucksen eines Abflusses, der von einer Verstopfung befreit worden ist. Doch dann war mit einemmal das Belustigtsein von seinem Gesicht gewischt. Er fragte schrecklich trocken: „Sie meinen also, Sie kennen Ihren Sohn besser als ich?“ So direkt befragt, nachdem soviel Unverbindliches geplaudert worden war, fiel mir nichts anderes ein als die naive Antwort: „Ich nehme an, daß es mir mit Jakob ähnlich geht wie Ihnen mit Ihren Töchtern.“ „Sehen Sie!“ Er nickte befriedigt. „Und Sie haben doch sicherlich die Erfahrung gemacht – Sie als Wissenschaftler, der auch mit jungen Leuten zu tun hat –, daß Sie über anderer Menschen Angelegenheiten besser im Bild sind als über das, was in Ihrem Haus geschieht.“ 137
„Schon möglich. Aber ist das denn wichtig für die Aufklärung eines Mordes?“ „Wichtig ist alles, was uns weiterbringt, und das ist nicht nur das Faktische.“ Mit diesem wie aus einem Lehrbuch der Kriminologie für Anfänger angelesenen Satz glaubte er, meine Frage als überflüssig qualifiziert zu haben. Und er hob an, mir ein Kolleg zu halten über Täterpsyche und Verbrechensursachen, das er mit Beispielen aus seiner Praxis spickte, sodann darüber, daß die ermittelnde Instanz, die nur auf Fakten aus sei und sich ausschließlich auf die Hilfe der Technik verlasse, bald blind und hilflos dastehe. „Das ist“, sagte er, „wie wenn ein Lehrer sich bei der Beurteilung eines Schülers nur auf die Leistungsnoten verließe und allem anderen keine Beachtung schenkte.“ Der Mann schien Zeit zu haben, das wenigstens stand für mich fest, als er sich nun auch noch im Pädagogischen erging und von „ganzheitlicher Persönlichkeit“ sprach und von „Verhaltensmustern“, die auch im Sozialismus noch viele Spuren bürgerlichen Denkens und Fühlens trügen, also von Egoismus geprägt seien, und vom „Einfluß der psychischen Struktur auf das soziale Verhalten und umgekehrt“. Möglicherweise wollte er mir ein bißchen imponieren und das simple Bild vom Polizisten als Menschenjäger und Menschenfänger zurechtrücken, das er bei mir wohl (und nicht zu Unrecht) voraussetzte. Doch sosehr mich der Vortrag dieser Binsenwahrheiten auch langweilte, zeigte Habnicht sich mir allmählich doch in einem anderen Licht. In dem plumpen Mann steckte anscheinend ein biegsamer Intellekt, steckte vor allem etwas, das man gemeinhin mit dem verstaubten Wort „Verantwortungsbewußtsein“ umschreibt und dabei den Kern des Gemeinten nicht trifft, weil in ihm die Pflicht und das Einhalten von Normen zu sehr in den Vordergrund tritt und das persönliche Engagement oft genug nicht mitgedacht 138
wird. Und jenseits aller Reserviertheit baute sich in mir so etwas wie Wohlwollen ihm gegenüber auf und verdrängte zeitweise die beunruhigende Frage fast völlig, ob er nicht genau das mit seinem weit ausholenden Sermon bezweckte, um dann, wenn es ums Konkrete, um Jakob, ging, desto überraschender und fester zupacken zu können. Man kennt ja so etwas aus Filmen, wo die Verhörer plötzlich die Taktik wechseln wie gewiefte Psychologen. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir so einander gegenübergesessen haben, er redend, ich zuhörend und ohne den mindesten Drang (und auch ohne die Gelegenheit zu bekommen), meiner Meinung Ausdruck zu geben. Jedenfalls mußte er, da es schon dämmerte, die Schreibtischlampe anknipsen, und dieser simple Vorgang schien alles Geistesschweifen zu vertreiben und die Sammlung der Gedanken aufs Sachliche zu befördern. Habnicht beendete sein Stegreif-Referat mit den Worten: „Ich habe wohl ein bißchen mit Ihrer Zeit geaast. Entschuldigen Sie bitte.“ Er widmete sich wieder dem Akt, blätterte in ihm herum und knüpfte da an, wo er ins Allgemeine ausgeufert war, indem er noch einmal behauptete, er kenne inzwischen Jakob so gut wie den eigenen Sohn. „Oder vielleicht noch besser – wenn ich einen Sohn hätte“, fügte er hinzu. „Sie haben wohl nicht die schlechte Angewohnheit, in anderer Leute Geschriebenem zu blättern, ich meine, in Briefen und Tagebüchern …?“ „Wo denken Sie hin!“ Er beschwichtigte meine forsche Zurückweisung mit einem beruhigenden Kopfnicken. „War ja nur eine Frage.“ Und nach einer Pause: „Ich habe manchmal, wenn es sich durch die Ermittlungen ergibt, das zweifelhafte Vergnügen, mich mit Geistesergießungen anderer bekanntmachen zu müssen. Das ist nicht immer, ist eigentlich selten angenehm.“ 139
„Soll das heißen … .?“ „Ja, genau das soll es heißen.“ Habnicht nickte wieder, diesmal energisch und bestätigend. „Ich habe gestern abend noch lange hier gesessen und gelesen – im großen ganzen Alltagskram: Denkversuche, Charakteristiken, Lesefrüchte … Und dabei habe ich nicht nur Ihren Sohn näher kennengelernt, sondern auch eine Reihe anderer Leute. Sie übrigens auch.“ „Wieso mich?“ „Wenn auch aus der Sicht des Jakob Maul.“ Er entnahm dem Hefter eine Kladde, wie sie im Schulunterricht gebraucht werden – anscheinend eines der Schriftstücke, die er am Tag zuvor beschlagnahmt hatte. „Ich kann Ihnen nun nicht den Rat geben, in den Aufzeichnungen Ihres Sohnes zu schmökern. So etwas tut man nicht, ich weiß das, und ich selbst habe es privat auch nie getan. Aber manchmal, stelle ich mir vor, wäre es ganz nützlich fürs Zusammenleben, wenn man wüßte, wie der andere denkt. Zumal dann, wenn man nicht allzuviel miteinander spricht. Und außerdem werden ja Tagebücher nicht selten auch deshalb geschrieben, damit sie ein anderer liest, sozusagen als Flaschenpost oder als Notsignal.“ „Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen.“ Ich spürte wieder, wie oft in heiklen Situationen, das Kribbeln, das sich von den Füßen beinaufwärts zog. Mir lag gar nichts daran, durch ihn mit der Sichtweise meines Sohnes auf mich bekannt gemacht zu werden. Als habe er meine Abwehr nicht wahrgenommen, fuhr er fort: „Ich darf Ihnen natürlich auch nichts von dem mitteilen, was ich hier erfahren habe.“ Er tippte mit einem Finger auf die Kladde. „Selbst dann nicht, wenn ich es für nützlich halten würde. Das ist bei uns so streng geregelt wie bei den Ärzten oder bei den Beichtvätern.“ Dennoch schlug er das Heft auf und sagte: „Sie wissen ja wohl inzwischen, daß Ihr Sohn Gedichte macht.“ 140
„Ja, aber …“ „Ich verstehe nicht viel davon, von Versmaß und Reim oder von ungereimten Versen und dergleichen. Da sind Sie mir bestimmt über. Aber ich finde da ein paar Gedanken ganz originell ausgedrückt.“ Sein Blick glitt suchend über die Zeilen; er blätterte eine Seite um, schien gefunden zu haben, was er suchte, und ein nachdenkliches Lächeln kroch ihm in die Mundwinkel. „Hören Sie sich das mal an – das darf ich wohl zum besten geben, denn das will ja Kunst sein, und Kunst gehört doch an die Öffentlichkeit: Ich lebe In einem schönen Eigenheim Bei meinen guten Eigeneltern Und der herrliche Vater hat jeden Tag Heimvorteil Platzvorteil Er ist der Platzhirsch Und kickt mich in Grund und Boden … In der Manier geht das weiter, ohne Punkt und Komma.“ Am liebsten hätte ich, noch während er las, an jedes Versende penetrant eine Pause setzend, geschrien: Hören Sie auf mit dem Mist! Und: Das ist verspätete pubertäre Herzensergießung! Ich schrie nicht – konnte nicht schreien –, weil mir ein Klumpen in der Kehle zu sitzen schien, aber auch, weil ich trotz allem Mißvergnügen gebannt war und mehr davon erfahren wollte, wie ich mich in diesem Kopf spiegelte – wie verzerrt auch immer. Entfremdung – ja, die war mir seit langem bewußt, die hatte ich ins Alltagsleben einkalkuliert, und sie war mir bei meinen Gesprächen seit dem vergangenen Tag denn auch nachdrücklich zum Bewußtsein gebracht worden. Aber daß mir hier, statt der angenommenen Gleichgültigkeit, eine solch schroffe Ablehnung entgegenschlug, hatte ich nicht erwartet. 141
„Und dann vielleicht noch das hier, das Ende von dem langen Gedicht“, sagte Habnicht, der meine Bestürzung nicht bemerkte, weil er nicht von dem Geschriebenen hochsah: „Er wollte immer nur mein Bestes Das aber hat er nicht bekommen Jetzt hob ich endlich sein Bestes Und geb es nicht mehr her Der Wettlauf mit dem Igel ist gewonnen Ich hocke am Ziel und rufe Ik bün all da,“ „Schlechte Verse“, sagte ich, nachdem ich mich so weit gesammelt hatte, daß ich wieder ein Wort hervorbringen konnte. „Und außerdem kann ich mit dem Zeug nichts anfangen.“ „Ich glaube, ich weiß, was gemeint ist – aber das interessiert hier nicht.“ Er schlug die Kladde zu, mit einer Bewegung, in der etwas Endgültiges lag. Für eine Sekunde war mir, als wäre da in Habnichts Blick und Ton ein Anflug von Mitleid mit einem armen alten Trottel, dem man, um ihn nicht vollends umzuwerfen, Schonung angedeihen läßt. „Reden wir endlich über das, was wirklich wichtig ist.“ „Ich bitte darum.“ Ich versuchte mich, so gut es gehen wollte, zu konzentrieren, räusperte mir die Kehle frei und erwartete, er würde nun auf Jakobs Anruf zu sprechen kommen – schließlich hatte er mich deswegen in sein Büro bestellt. Statt dessen aber sagte er im Ton eines Menschen, der eine vergnügliche oder spannende halbe Stunde erwartet: „Nun erzählen Sie mal, was Sie so erfahren haben. Sie haben doch ziemlich viele Klinken geputzt seit gestern nachmittag.“ „Aber das Telefonat, das meine Frau entgegenge142
nommen hat … Ich kann Ihnen nur noch einmal versichern, daß wir wirklich nicht wissen, wo unser Sohn sich aufhält.“ „Darüber sprechen wir später.“ Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und bot ganz das Bild des wohlmeinenden Mannes, dem nichts mehr am Herzen liegt als die Beruhigung eines Partners, dem er von Mensch zu Mensch begegnen will. „Da Sie sich nun einmal nicht haben abschrecken lassen, auf Tour zu gehen, sollten Sie mich wenigstens wissen lassen, was Sie erfahren haben.“ „Genau das hatte ich eigentlich vor.“ „Dann ist ja alles in Butter. Und – wer weiß? – vielleicht haben Sie einiges in petto, was uns verborgen geblieben ist.“ Nach der „Dichterlesung“ fiel es mir naturgemäß schwer, einen einigermaßen zusammenhängenden Bericht zu formulieren. Es ging mir am Anfang alles ein wenig stockend von der Zunge, und oft genug mußte ich ein Stück zurück in meiner Erzählung, weil ich etwas Wichtiges vergessen hatte, oder ich mußte verbessern, was von mir falsch oder mißverständlich wiedergegeben worden war. Doch allmählich wurde mein Vortrag flüssiger; ich verlor die Hemmungen, nicht zuletzt dank Habnichts Verhalten, der nicht unbewegt wie ein Lehrer im Examen zuhörte, sondern mit Nicken, skeptischem Hochziehen der Brauen, Schmunzeln und mancherlei anderen mimischen Reaktionen meinen Bericht begleitete. Ein paarmal mischte er auch eine Bemerkung ein, ließ mich jedoch ungeschoren durch Meinungsäußerung oder Besserwisserei. Und natürlich beschränkte ich meinen Bericht nicht darauf, was ich durch Gespräch und Beobachtung herausgefunden hatte, sondern gab auch meine Meinungen zum besten, besonders die über den mir heikel erscheinenden Punkt, daß Ramona Paschotka von Florian Schmidt veranlaßt worden sein 143
könnte, die Jakob belastende Aussage zu machen. Aber es gelang mir nicht, die noch am Morgen gehegte Überzeugung zu artikulieren, daß hier ein Plan, eine für Jakob verderbliche Absicht in die Tat umgesetzt worden sei, um von dem Schuldigen abzulenken, jetzt, nachdem ich mit der jungen Frau gesprochen hatte. Erst als ich meine Erzählung beendet und – wahrscheinlich mit zuviel Anteilnahme – Ramona Paschotkas Weinkrampf geschildert hatte, kam Bewegung in Habnicht. Er entfaltete zunächst ein großes Taschentuch, sagte: „Entschuldigung!“ und schnaubte sich unter Getöse die Nase frei. Und während er noch auf der Oberlippe herumwischte, meinte er: „Beachtlich, was Sie da zusammengetragen haben.“ Da ich nicht wußte, ob in dieser Bemerkung die Skepsis oder das Lob überwog, quittierte ich sie mit dem Allgemeinplatz: „Es geht ja auch um viel.“ „Da kann ich nicht widersprechen.“ Er schwieg eine Weile, und es sah aus, als denke er nach, vergleiche unter Umständen im Geist meinen Bericht mit den Resultaten seiner Untersuchungen, ehe er fragte: „Und nun glauben Sie, Ihren Sohn von allem Verdacht befreit zu haben?“ Mir kam die Frage nicht fair vor. Erwartete er von mir, daß ich antwortete: Ich bin mir bewußt, daß ich nichts beweisen kann? Oder wollte er den Vater in mir wachrufen, der um jeden Preis seinen Sohn von allem Verdacht reingewaschen sehen will, nur um mir dann vorzuführen, wie wenig alle meine Anstrengungen angesichts der ermittelten Tatsachen ins Gewicht fielen? Ich war nicht gesonnen, mich auf diese Wippe zu begeben, und sagte: „Das kann ich nicht beurteilen. Schließlich war ich es nicht, der Jakob des Mordes verdächtigt hat.“ „Wer flieht, bringt sich selber in Verdacht.“ Das klang endgültig und abweisend, und ich war fast erleichtert, an 144
dieser Schroffheit den Polizisten wiederzuerkennen, dessen Bild mir über dem Beisammensein in der letzten Stunde fast abhanden gekommen war. Doch er wechselte sofort den Ton und stellte, scheinbar ohne Zusammenhang mit dem Vorausgegangenen, anerkennend fest: „Sie haben es ganz geschickt angefangen. Schon daß Sie sich jeden Ihrer – wie soll ich sagen? – Gesprächspartner einzeln vorgeknöpft und die drei jungen Leute zum Beispiel nicht etwa zu einer Vollversammlung zusammengerufen haben, zeugt von gesundem Menschenverstand. Einzelvernehmungen sind das Salz in der kriminalistischen Suppe, das wußten schon die alten Inquisitoren. So nur lassen sich die Widersprüche entdecken, die in den Ritzen der Aussagen nisten.“ Geräuschvoll schnaubte er sich noch einmal die Nase; die erste Prozedur mochte nicht zu vollem Erfolg geführt haben. „Mein Kompliment übrigens“, sagte er dann, „daß Sie sich der beiden jungen Herren angenommen haben. Die lagen bisher am Rand unseres Beobachtungsfelds. So geht das immer, wenn man sich von außen an Umstände herantasten muß. Aber das kann ich Ihnen versichern, Florian Schmidt und Sebastian Engel sind fortan bei uns gut aufgehoben.“ Den letzten Satz unterstrich er mit einem energischen Nicken. „Und daß Sie sich an Frau Fink herangemacht haben, ist Gold wert. Solche Menschen sind einfach unbezahlbar, wenn man versteht, das aus ihrem Redestrom herauszufischen, was echte Beobachtung ist, und die Meinungsäußerungen beiseite läßt.“ Nun hätte ich eigentlich zugeben müssen, daß ich eher durch Zufall mit jedem der Leute einzeln gesprochen hatte und an die Hausbesorgerin geraten war und daß ich kaum je einen Ansatz für meine Nachforschungen gefunden hätte, wäre ich nicht auf den Einfall gekommen, bei Pastor Schöbel ersten Rat zu suchen. Doch ich sagte nur, etwas verblüfft von dem Lob: „Vielleicht 145
wäre von der Frau Fink noch mehr zu erfahren gewesen, wenn ich es geschickter angestellt hätte.“ „So ist es. Und was die Geschicklichkeit angeht: Wir sind natürlich geschickter beziehungsweise gründlicher gewesen. Das macht eben die Routine. Es ist immer wichtig, zu wissen, worauf es ankommt. Aber das kennen Sie ja auch aus Ihrem Beruf. Nun fällt aber, leider, die Aussage der Frau für den entscheidenden Teil des Mordtags aus.“ Er seufzte theatralisch. „Das sind so die Fallen, die uns das Leben stellt – oder, wenn Sie so wollen, die Erfüllungen, die es uns versagt. Hätte Frau Finks Schwägerin aus Köpenick nicht gerade an dem Tag Geburtstag gefeiert … Frau Fink hätte bestimmt Genaueres sagen können, wäre sie im Haus gewesen. Es sei denn, sie wäre die Täterin und hätte Gretel König aus lange genährtem und aufgestautem Groll mit dem Kissen erstickt. Einen Passepartout, mit dem sie in jede Wohnung kann, besitzt sie ja.“ „Das ist wohl ein kleiner Scherz bei der Arbeit“, wandte ich, ein bißchen verunsichert, ein. Habnicht blieb durchaus ernst. „Tötungsdelikte geschehen aus den nichtigsten Ursachen“, sagte er, und ich merkte, daß er wieder auf dem Weg war, mir eine Lektion in Sachen Kriminalistik zu erteilen. „Es sind schon Geiger und Klavierspieler von Nachbarn vergiftet worden, weil denen das andauernde Üben auf die Nerven gegangen ist, und vor ein paar Jahren hatten wir einen Fall zu bearbeiten, in dem es zum Totschlag wegen eines Hundes gekommen ist, der die Nächte durch gejault hat. Warum sollte da also nicht eine Frau, die jahrelang Kränkungen durch eine andere erfahren hat – und sie ist wirklich gekränkt worden, das haben wir ermittelt …“ Die Telefonklingel unterbrach ihn. Er nahm sofort den Hörer ans Ohr, als habe er den Anruf erwartet, meldete sich mit „Hauptmann Habnicht“ und lauschte eine Weile. Am anderen Ende der Leitung schien jemand zu 146
rapportieren, jedenfalls kam ein Gespräch nicht zustande; Habnicht beschränkte sich auf einige lapidare Bemerkungen wie „Also wie abgesprochen verlaufen“ und „Dann ist ja alles in Butter“. Mit einem „Bis dann“ beendete er das Telefonat, offensichtlich zufrieden mit dem, was er erfahren hatte. „Wo waren wir stehengeblieben?“ fragte er und schien einige Sekunden lang wirklich Schwierigkeiten zu haben, wieder in unser Gespräch hineinzufinden. „Ach ja … Frau Fink. Es ging mir eigentlich vor allem darum, Ihnen klarzumachen, daß man nichts außer Betracht lassen darf. Also: Wenn Frau Finks Beobachtungen nur den Zeitraum bis zum Mittag abdecken, bleibt uns die Aussage von Ramona Paschotka als die einzig substantielle.“ „Die aber nachgereicht wurde“, erinnerte ich ihn. „Sie haben recht: Nachträgliche Aussagen sind suspekt, haben für mich jedenfalls nicht den Wert von spontanen Angaben. Aber immerhin sind es Bekundungen, und die müssen berücksichtigt werden.“ „Müssen sie wirklich berücksichtigt werden? Ich habe Ihnen doch vorhin meine Meinung darüber vorgetragen, wie diese Angaben möglicherweise zustande gekommen sind.“ „Herr Professor“, sagte er, und eine sich leise regende Ungeduld in seiner Stimme war nicht zu überhören, „auch wenn es Ihnen in diesem Fall aus begreiflichen Gründen nicht in den Kram paßt: Wir können uns nicht aussuchen, was wir berücksichtigen wollen und was nicht. Ramona Paschotka hat etwas zu Protokoll gegeben, und das ist hier festgehalten.“ Er klopfte auf den Aktendeckel. „Zu welchem Zeitpunkt und zu welchem Zweck auch immer. Daß sie ausgesagt hat, das allein zählt. Und irre ich mich, wenn ich aus Ihrem Bericht herausgehört habe, daß Sie eigentlich gar nicht mehr so sicher sind, die junge Frau könnte dazu angestiftet worden sein, Ihren Sohn zu belasten?“ 147
„Sie war so ernsthaft und so bestimmt.“ „Denselben Eindruck hatte ich auch. Aber nehmen wir einmal an, es ist so gewesen, wie Sie argwöhnen: Florian Schmidt hat seine Freundin dazu überredet, diese Aussage zu machen. Warum sollte er das getan haben?“ „Natürlich aus Haß Jakob gegenüber.“ „Ein starkes Motiv.“ „Und ein plausibles.“ Die Erinnerung an Florian Schmidts Benehmen beschleunigte meinen Puls. „Und zudem ist klar, daß sich die drei jungen Leute gestern abend abgesprochen haben.“ „Waren Sie dabei? Vielleicht sind sie aus Schreck über Gretel Königs Tod zusammengelaufen. Das soll es ja geben, daß junge Menschen noch nicht so abgebrüht sind, als daß sie über den gewaltsamen Tod einer gemeinsamen Freundin nicht erschrecken würden.“ Das bißchen Ironie an dieser entscheidenden Stelle ärgerte mich, und ich muß den Ärger auch gezeigt haben, denn Habnicht wurde wieder sachlich. „Und außerdem gibt es da die Behauptung von Ramona Paschotka, Florian Schmidt sei nur eine halbe Stunde im ‚Schloßkrug‘ gewesen und nicht in Gretel Königs Appartement mitgegangen.“ „Angeblich mußte er zur Universität – ich hoffe, Sie haben das nachgeprüft.“ Habnichts Blick signalisierte, daß er sich aus purer Höflichkeit einer groben Antwort enthielt. „Er war in der Uni, um sechs gab es da eine FDJ-Veranstaltung. Er hat sich in die Anwesenheitsliste eingetragen.“ „Um sechs! Wo ist er die übrige Zeit gewesen?“ „Er war mit seinem Freund Sebastian Engel zusammen. Sie haben irgendwo in der Stadt ein paar Gläser Bier miteinander getrunken, sagen die beiden, von vier bis sechs.“ „Und wenn beide lügen?“ „Dann haben wir Pech gehabt und müssen noch ein148
mal von vorn anfangen.“ Seine Gelassenheit war mir schwer verständlich, und da er mein verdutztes Gesicht sah, setzte er wie tröstend hinzu: „Das ist Kriminalistenlos, viele Wege ein paarmal gehen zu müssen. Wenn ich daran denke …“ „Aber es muß doch Mittel geben, so etwas aufzuklären!“ „Die gibt es.“ Er begegnete meiner Aufgeregtheit mit der Ruhe des Professionals, der die Tücken seines Berufs zu genau kennt, um sich von ihnen um den Schlaf bringen zu lassen. „Und sie werden angewandt.“ Und wie, um mich von etwas abzulenken, über das er sich nicht äußern mochte, fragte er: „Haben Sie denn nicht noch ein paar andere Verdächtigungen auf Lager? So etwas habe ich doch herausgehört. Von der eigenartigen Romeo-und-Julia-Geschichte, die der Sebastian Engel schreiben will, habe ich zum Beispiel nichts gewußt. Von dort aus bietet sich ein interessanter Blickwinkel.“ „Machen Sie sich über mich lustig?“ „Im Ernst. Es wäre nicht das erste Mal, daß sich eine heimliche, aus Schüchternheit oder warum auch immer nicht eingestandene Liebe katastrophal auswirkt und eine Gewalttat hervorbringt, unter dem Motto: Was ich nicht haben kann, soll auch kein anderer haben dürfen. Sebastian Engel war doch wohl, wenn ich Sie recht verstanden habe, der erste, der davon wußte, daß Ihr Sohn sich einer anderen Frau zugewandt hatte und daß Gretel König sozusagen frei war oder bald frei sein würde. Was wäre, wenn er sich ihr genähert hat und abgeblitzt ist? Junge Menschen sind auch in unseren Breiten nicht vor Torheiten gefeit, wie Sie wohl selbst wissen.“ Mir schien es so, als versuche er, sich mit jedem Wort ein bißchen von der Last des Problems zu befreien und mit Möglichkeiten zu spielen – auf meine Kosten. Man soll sich eben nicht mit Menschen abgeben, die Fachleute auf ihrem Gebiet sind und einen jederzeit an der Nase 149
herumführen können, dachte ich, und ich sagte halb ironisch, halb verärgert: „Und was haben Sie noch an der freien Mörder-Auswahl zu bieten? Vielleicht gehöre ich auch in den Kreis der Verdächtigen, weil ich nicht wollte, daß mein edler Sohn sich an eine Nichtswürdige verschwendet – oder meine Frau.“ Er stutzte und schnaufte hörbar, sagte dann aber doch, dem Anschein nach sachlich: „Zum Beispiel einen Doktor Kümmerer, der sich Ihnen gegenüber so seltsam aufgeführt hat und der, wie Ramona Paschotka aussagt, am Nachmittag vergebens an Gretel Königs Wohnungstür geklingelt haben will. Woher wissen wir, daß er nicht von einer lebenden Frau eingelassen worden ist und eine tote verlassen hat? Oder einen leutseligen Doktor Klein, der die ganze Welt mit Wohlwollen überschwemmt und der … Aber wieso rede ich mit Ihnen überhaupt darüber?“ In einer jähen Bewegung riß er den rechten Arm hoch. Er schien doch dünnhäutiger zu sein, als ich angenommen hatte, und auch humorloser. Meine – zugegeben provokant klingende Frage hatte ihn wohl in seiner Berufsehre gekränkt, und lauter und nachdrücklich fuhr er fort: „Sie setzen sich aufs hohe Roß, weil Sie ein bißchen rumgeschnüffelt haben und daraus, ganz freihändig, glauben, Schlußfolgerungen ziehen zu können. Dabei wissen Sie so gut wie nichts! Sie wissen nicht, daß dieser Doktor Kümmerer verheiratet ist und daß es im vorigen Jahr einen heillosen Krach wegen seiner Beziehung zu Gretel König gegeben hat, der bis ins Krankenhaus rübergeschwappt ist. Sie wissen nicht, daß am Montagnachmittag nicht eine Flasche Wein in Gretel Königs Appartement getrunken worden ist, sondern drei Flaschen geleert wurden, und daß nicht zwei Gläser benützt worden sind, sondern drei, alle fein säuberlich abgewaschen und, wie alles andere in der ganzen Wohnung, von Fingerabdrücken befreit. Sie wissen nicht, daß Ihr Sohn … Noch einmal: Wieso rede ich mit Ihnen 150
überhaupt darüber?“ Er brach ab, als habe er mir schon zu viele Einzelheiten aus den Untersuchungsergebnissen verraten. „Ich weiß inzwischen wirklich nicht mehr, warum ich meine Zeit mit Ihnen verplempere.“ Ich stand augenblicklich auf. Was er mir jetzt anbot, war mir denn doch zu starker Tobak. Schließlich hatte er mich vorgeladen, und ich hatte mich ihm nicht aufgedrängt. Und ich sagte, so gelassen wie möglich: „Auch ich kann mit meiner Zeit Besseres anfangen. Ich habe Ihnen alles erzählt, was ich seit gestern mittag erfahren habe …“ „Aber ich habe Ihnen noch nicht alles erzählt.“ Habnicht war auch aufgestanden und kam hinter seinem Schreibtisch vor, ein Bein stärker nachziehend, wohl weil es durch das lange Sitzen zusätzlich strapaziert worden war. „Sie wundern sich bestimmt, warum ich Sie überhaupt herbestellt habe und warum ich nicht auf den Anruf Ihres Sohnes bei Ihnen eingegangen bin.“ „Und warum haben Sie das nicht getan?“ Ich bemühte mich, Gleichgültigkeit auszustellen, während ich in Wirklichkeit gespannt auf seine Antwort war. „Er hat sich bei mir gemeldet, kurz nachdem wir heute morgen miteinander telefoniert haben.“ „Heißt das …“ Am liebsten hätte ich mich wieder hingesetzt. War es der Schock der Erleichterung, der mich von einer Sekunde auf die andere erschlaffen ließ, der Erleichterung darüber, daß jetzt das ekelhafte Versteckspielen ein Ende gefunden hatte? Oder hatte mich die Furcht ergriffen, daß nun alles verloren sein könnte, daß meine Anstrengungen vergebens gewesen waren? Hatte Jakob die Aussichtslosigkeit seiner Flucht eingesehen und die Tat gestanden? Habnicht tat so, als bemerke er meine Betroffenheit nicht, und als handle es sich um eine ganz alltägliche Sache, erklärte trocken, das Telefonat, das er soeben geführt habe, sei die Bestätigung für Jakobs Versprechen, 151
sich seinem Kollegen, dem Leutnant Feder, zu stellen. „Den habe ich nämlich an die Grenze geschickt.“ „An die Grenze? Wollte Jakob denn ins Ausland?“ „Im Gegenteil: Er kehrt zurück aus dem Ausland, aus Prag, und der Genosse Feder und er sind jetzt auf dem Weg von Bad Schandau nach hier.“ Mir war, als habe mir jemand in den Magen geboxt. Aus Prag! Sofort kam mir der Vers in den Sinn: Jetzt hab ich endlich sein Bestes. Und ich glaubte zu verstehen, was ich für alberne pubertäre Renommiererei gehalten hatte. Und doch sperrte sich etwas in mir gegen das Verstehen. Das durfte, das konnte nicht wahr sein!
11. Ich stieg in das Tunnel-System hinunter, das den großen, häßlichen Platz unterquert, ließ mich vom Strom hastender Menschen treiben, und als ich wieder unterm Himmel stand und mich umschaute, wurde ich von einer Bierkneipe angezogen wie ein Stück Eisen von einem Magneten. Mein Hirn war in Streik getreten, war leer und blank wie die sprichwörtliche Tabula rasa; es weigerte sich, Mutmaßungen Raum zu geben, die, zu Ende gedacht, verheerend wirken konnten. Ich hängte den Hut an einen Haken und setzte mich, ohne den Mantel auszuziehen, auf den einzigen freien Stuhl in der getäfelten, auf neunzehntes Jahrhundert getrimmten Schankstube, an einen Tisch, wo sich drei Männer laut und erregt über einen nicht anwesenden vierten unterhielten, der anscheinend durch Bummelei und schlechte Arbeit drauf und dran war, ihr Kollektiv um den Titel einer „Brigade der sozialistischen Arbeit“ und damit um die Prämie zu bringen. Es war mir angenehm, daß sie mir mit ihrem Getöse die Gehörgän152
ge besetzten und so vorerst für die Fortdauer meiner Gedankenlosigkeit sorgten. Ich trank Bier aus einem Halbliterglas, ohne daß ich hätte sagen können, wie es schmeckte; ich richtete den Blick auf eine alte fotografische Stadtansicht, ohne daß ich registrierte, was ich da sah. Die Beine waren schwer und taub wie nach einer langen Wanderung, und dankbar kostete ich die Mattigkeit aus, die mir jetzt auch in die Arme kroch. Ich wollte nichts als sitzen und trinken und – vor allem – nicht von Erinnerungen und Mutmaßungen behelligt werden. Beim Trinken des zweiten halben Liters klärte sich seltsamerweise mein Kopf: Die lauten Stimmen am Tisch begannen mich zu stören, und die Urteile der Männer über ihren abwesenden Kollegen empörten mich wegen der rüden Worte, in die sie gekleidet waren, und allmählich und ohne mein Zutun wurde ich mir über dem Störenden und Empörenden wieder meiner Lage bewußt. Zu meiner Überraschung stellte sich nun ganz deutlich das Abbild einer Szene her, die ich bisher verdrängt haben mußte: Ich sitze mit Katharina beim Mittagessen im Restaurant des Prinzessinnen-Palais; Jakob tritt ein, blickt sich um, will, als er mich sieht, kehrtmachen und das Lokal verlassen, kommt dann aber doch an unseren Tisch, und ich stelle ihm Katharina vor: Frau Manthey, eine Kollegin, sage ich ziemlich verlegen, und er murmelt etwas Höfliches und geht gleich darauf unter dem Vorwand, er werde in einem anderen Lokal erwartet. Was danach geschehen war, ob ich Katharina von Jakob erzählt oder ob sie mich über ihn ausgefragt hatte, wußte ich nicht mehr. Nur diese eine Sequenz war da, wie ein plötzlich erinnertes Stück aus einem ansonsten vergessenen Film. Vergebens versuchte ich, mich auf das genaue Datum zu besinnen; ich kam nur zu dem Ergebnis, daß sich die Begegnung vor einem Monat, vielleicht vor sechs Wochen zugetragen haben mußte. Auch wußte 153
ich nicht mehr, ob ich mich später noch einmal mit Katharina über Jakob unterhalten hatte. Nur diese eine Szene war mir geblieben, und sie spulte noch ein paarmal vor mir ab, ohne daß ich mich dagegen hätte wehren können. Es folgten andere Bilder, doch die waren meiner Phantasie entsprossen: Katharina und Jakob auf dem Altstädter Ring, am Pulverturm, auf der Burg … Und jedesmal machte es in meinem Kopf „klick“, und die beiden erstarrten für Sekunden – immer lächelnd und nebeneinander stehend wie auf einem Schnappschuß aus dem Urlaub. Ich sah sie auch, wie sie gemeinsam das „Alcron“ verließen und bei Kerzenlicht in einem Weinlokal saßen. Intimere Bilder blieben mir, Gott sei Dank, erspart, wohl weil mein Unterbewußtsein die ebenso absurde wie lächerliche Vorstellung unterdrückte, ich könnte sozusagen das Opfer einer verschrobenen Abart der Ödipus-Konstellation sein. Und Grad um Grad steigerte sich, nachdem der erste Schock abgeflaut war und die ausmalende Phantasie lästig zu werden begann, mit dem Mißbehagen an meiner Situation eine diffuse Wut auf Jakob, der es gewagt hatte … Ja, was hatte er denn überhaupt gewagt? Für kurze Zeit gelang es mir, der wägenden Vernunft zur Herrschaft zu verhelfen und mir ganz simple Fragen zu stellen, vor allem die eine: Woraus konnte ich denn überhaupt schließen, daß Jakob und Katharina gemeinsam nach Prag gefahren waren? Weil sich beide zur selben Zeit in Prag aufgehalten hatten? Jakob fuhr doch schon seit Jahren nach Prag, auch schon, als er noch die letzte Klasse besucht hatte, bei jeder sich bietenden Gelegenheit. („Warschau und Danzig sind jetzt für uns zu“, hatte er einmal erklärt, als wir noch gelegentlich eine Art Gespräch miteinander führten, „Budapest ist zu teuer, der Balkan interessiert mich nicht – also bleibt Prag.“) Er hatte ein regelrechtes Faible für diese Stadt entwickelt, 154
kannte sich aus in ihren Kirchen und Kneipen, hatte Freundschaften mit jungen Leuten geschlossen, sprach mit Begeisterung vom Theater am Geländer, wußte, wo Kafkas Geburtshaus und sein Grab auf dem neuen jüdischen Friedhof zu finden waren – er hätte mir und manchem anderen ein kenntnisreicher Cicerone sein können. Warum also sollte er jetzt nicht nach Prag gefahren oder auch geflohen sein, für den Fall, daß er wirklich den Mord begangen hatte? Aber ausgerechnet mit Katharina? Doch vor diese Erwägungen schoben sich bald wieder Bilder, mit einer unentrinnbaren Aufdringlichkeit, wie sie mich zuletzt bei einem Besuch im Haus meines Kollegen Förster genervt hatten, als der mindestens drei Dutzend Dias von seiner Reise nach Kuba im stockdunklen Zimmer und bei dünnem Tee vorgeführt und kommentiert hatte. Klick: Jakob und Katharina in der Nationalgalerie auf dem Hradschin. Klick: Die beiden untergehakt beim Gang über die Karlsbrücke. Klick: Jakob sitzt in der Prager Oper neben Katharina. Und hier war dann die Brücke geschlagen zu einer anderen Vision: Sebastian Engel trifft die beiden im Foyer des Berliner Ensembles, und Jakob erklärt ihm, er hätte die Frau gefunden, nach der er sich schon immer gesehnt habe. „Eine sehr charmante, schöne Frau“, hörte ich Sebastian Engel sagen. Und: „Ich schätze, sie war Ende Zwanzig, Anfang Dreißig. Bei solchen Frauen bin ich mir nie sicher …“ Und Habnicht stand vor mir und sprach den Vers: Jetzt hab ich endlich sein Bestes. Und dabei sah mich der Polizist mit wissenden Augen an. „Verdammter Mist!“ sagte ich, anscheinend ziemlich laut, denn die drei Männer am Tisch verstummten augenblicklich und beäugten mich mit dem feindseligen Erstaunen, in das Angetrunkene oft geraten, wenn sie sich angegriffen fühlen. Ich beeilte mich, ihnen zu versichern, ich hätte nur so vor mich hin gesprochen, wel155
che Erklärung denn auch nach einigem Zögern und verständigendem Blickwechsel angenommen wurde. (Die alte Einmütigkeit, mit der sie verbal über den Kollegen hergefallen waren, ließ sich nach dieser Störung allerdings nicht wiederherstellen, und fortan mutmaßten sie ziemlich lustlos, ob es denn wohl in dieser Saison dem F.C. Union endlich einmal gelingen würde, nicht aus der Oberliga abzusteigen.) In meinem Denken zerriß der Zwischenfall das Gewebe aus Ahnung, Verdacht und Befürchtung, und für kurze Zeit fühlte ich mich befreit, weil die Schnappschüsse nicht mehr vor mir aufgezogen und ich die Stimmen nicht mehr hörte. Es war wohl die Erleichterung darüber, die mich dazu brachte, ein Glas Korn zu bestellen, das ich in einem Zug leer trank, und darauf noch ein zweites. Nachdem ich auch das ausgetrunken und eine Weile die immer öder werdenden Ansichten über die Aussichten besagten Fußballvereins hatte mitanhören müssen, bemächtigte sich meiner eine nun gar nicht mehr wehleidige Stimmung, die ihre Wurzel in der Vermutung gehabt hatte, hintergangen worden zu sein, ohne auch nur einen Schimmer des Bewußtseins zuzulassen, daß ich zuerst und vor allem derjenige war, der durch sein Verhältnis mit Katharina jemanden betrog, nämlich Irene. Die zuvor kurz aufgeflackerte ungerichtete Wut auf Jakob kam zurück und konzentrierte sich, und ich verstieg mich in einen geradezu alttestamentarischen Zorn auf den Sohn, der es gewagt hatte, geheiligte Prinzipien zu verletzen: gegen den Sohn, der sich am Vater vergeht! Noahs Söhne kamen mir in den Sinn und Absalom, der sich wider den Vater erhebt. Einen Platzhirschen hatte er mich genannt. Ja, ganz recht, ich war der Platzhirsch, dagegen mochte er mit schlechten Versen so lange anlamentieren, wie er wollte: Ich blieb der Platzhirsch! Ein Nichtskönner wie er, ein Tagvertuer, der nie etwas aus sich machen würde, wenn 156
er sein Leben weiter so hinbrächte – ein solcher Bursche hatte nicht das Recht, einen Mann zu kränken, dem er Leben und Auskommen und Bildung verdankte und der ihm alle Chancen geboten hatte, sich zu entfalten. Scheinbar immer nüchterner, immer unsentimentaler und härter werdend und dabei geradezu überschwemmt von der Vorstellung, stets ein Wohltäter an Jakob gewesen zu sein und ein Wegweiser in ein Leben voller Sinn und Erfüllung, merkte ich nicht, wie ich stetig ungerechter wurde gegen den Jungen und eine Abneigung in mir aufbaute, die ihn mir gänzlich entfremdete. Nach dem dritten Korn, zu dem ich mir noch einmal ein halbes Liter Bier bestellte, stand für mich felsenfest: Jakob war nicht nur ein undankbarer, gegen alle Sitten verstoßender Mensch. Aus solcher Haltung wuchs mehr, wucherte schlimmere Rücksichtslosigkeit gegen die Mitmenschen. Und ohne dieses Ziel bewußt anvisiert zu haben, doch nicht im mindesten überrascht, als ich es dann erreicht hatte, kam ich zu dem Schluß: Jakob – der Vaterverächter, der Beleidiger, der hemmungslose Egoist – mußte auch ein Mörder sein. Nun war mir alles klar: Dieser Bursche hatte sich der Gretel König entledigt, als die nicht in die Trennung einwilligen wollte. Hatte nicht irgendwer behauptet, daß die junge Frau nicht gesonnen gewesen sei, ihn ohne weiteres freizugeben? Mir fiel trotz heiligem Zorn und heiliger Nüchternheit nicht ein, von wem das gesagt worden war. Jedenfalls gesagt worden war es, und es war ja auch völlig plausibel. Und man hatte ihn gesehen, als er das Appartement verließ. Es wird einen Wortwechsel gegeben haben, stellte ich mir vor, in dessen Verlauf ihn seine grenzenlose Selbstsucht in solche Rage getrieben hat, daß er mit einem Kissen auf sie losgegangen ist. Vielleicht wollte er sie nicht ersticken – aber die Wut hatte ihn übermannt oder vielleicht die Verzweiflung darüber, daß Gretel König seinen hochfliegenden 157
erotischen Plänen im Weg stand. O ja, ich kannte seine Wutausbrüche, schon als Kind hatte er seine Schwester mit dem Küchenmesser bedroht, wegen einer Puppe, die ihr gehörte und die er haben wollte. Da paßte eins zum anderen, auch daß er nicht weiter als bis auf den nächsten Tag dachte. Übermorgen schon lag für ihn in weiter Ferne. Das war immer so gewesen: Was er heute haben wollte, das mußte er auch heute bekommen, selbst wenn er die Mittel, mit denen er es zu erlangen trachtete, am nächsten Tag schon bereute. Eine verzögerte Erfüllung war für ihn keine Erfüllung. Er war ein Schurke, ein Schwein! Wer hatte das gesagt? Ich erinnerte mich auch daran nicht, erinnerte mich überhaupt nicht mehr an Einzelheiten aus den vergangenen Tagen, nicht an all das, was ich durch meine Nachforschungen an Tatsachen erfahren hatte, die mir als entlastend für ihn erschienen waren. Dr. Kümmerer und Florian Schmidt, die ich als mögliche Mörder ausgemacht hatte, geisterten, wenn überhaupt, nur noch als gesichtslose Schemen im Hintergrund herum, und vor ihnen türmte sich, übergroß, Jakob. Und bittere Befriedigung ergriff mich und mischte sich mit heißem Selbstmitleid, einen solchen Sohn gezeugt und großgezogen zu haben, und je länger, desto mehr schnürte mir dann auch die Wehmut, von Katharina verlassen worden zu sein, die Kehle zu. Ich bestellte noch einen Korn. Das bewirkte nun, daß sich meine immer holpriger dahinschießenden Überlegungen eine andere Richtung suchten. Vielleicht war Jakob gar nicht der Schurke, vielleicht war er nur der Verführte, der durch Katharina von Sinnen Gebrachte. Oh, ich kannte diese Frau, die auch bei mir, der ich zuvor nie von der vorgezeichneten Bahn ehelicher Treue abgewichen war (oder doch nur gelegentlich und nie für eine längere Zeit), einen Sturm von Empfindungen ausgelöst hatte. Ich wagte es jetzt 158
noch nicht, mich daraufhin zu befragen, ob ich damals, als ich sie kennengelernt hatte, einer Aufforderung gefolgt wäre, mein bisheriges Leben hinter mir zu lassen und mich ihr ganz zuzuwenden. Aber sie hatte mich ja nicht dazu aufgefordert, nie, nicht mit einer Andeutung; ich war immer nur eine Art väterlicher Freund gewesen, mit dem man sich hin und wieder traf – zum Essen, zum Plaudern, auf einer Fete, gelegentlich auch einmal zu einer intimeren Stunde in ihrer Wohnung. Sie wäre durchaus imstande, Jakob, den ungefestigten Kerl, der noch von Frau zu Frau torkelte, ohne sich für eine entscheiden zu können, vorbedacht mit ihrem spröden Liebreiz um das bißchen Verstand zu bringen, das er besaß. Verglichen mit einer Ramona Paschotka oder einer Gretel König oder wie diese jungen Dinger sonst noch heißen mochten, stellte sie etwas dar, was einem Jakob ungeheuer imponieren mußte: selbstverständliche, nicht zur Schau getragene Selbständigkeit, Geschmack nicht nur in Modeangelegenheiten, Welterfahrung weit über das hierzuland übliche Maß hinaus, auch Bildung … Um einer solchen Frau willen lohnte es sich schon, mit allem anderen zu brechen, radikal, brutal, wenn es nicht anders ging. Und jetzt fiel mir auch ein, daß die beiden nach Plan gehandelt haben mußten: Seit drei Tagen hatte Jakob den Dienst geschwänzt – für eine Tour d’amour ins romantische Prag, wo ihm niemand in die Quere kommen konnte. Und damit stellte sich die Frage: Gab es diesen Modekongreß in Prag überhaupt? Sonntag, am frühen Abend, war ich bei ihr gewesen und hatte den Eindruck gewonnen, daß ich ungelegen kam. Sie müsse sich auf einen Diskussionsbeitrag für den Kongreß vorbereiten, hatte sie gesagt, und ich („Ich Esel!“ titulierte ich mich inzwischen) hatte ihr ein paar Tips für Formulierungen gegeben. Dabei war sie möglicherweise auf nichts anderes ausgewesen, als mich so schnell wie möglich abzu159
wimmeln, weil sozusagen hinter der Tür schon der neue Liebhaber lauerte. Diese Frau, dachte ich, hat sich also ein Jüngelchen angelacht, ein Nichts, einen Burschen, der allenfalls dumme Gedichte gegen seinen Vater fabrizieren konnte … Über alledem stiegen nun doch die Bilder ins Bewußtsein, die ich bisher aus unbewußtem Selbstschutz unterdrückt hatte – der Alkohol hatte die Sicherheitssperren beiseite geräumt, und ich sah die beiden in unverschämten Positionen: auf der Couch, auf dem Teppich, auf einer Wiese (obwohl es zu dieser Jahreszeit noch viel zu kühl war und obwohl ich wußte, daß Katharina ganz und gar nicht der Typ war, der unbekümmert um Örtlichkeit und Umstände seine Befriedigung suchte). Mir war zum Kotzen zumut. „He, Chef, geht es dir nicht gut?“ fragte der Mann neben mir. Ich nahm verschwommen ein noch junges Gesicht mit einer ungewöhnlich breiten Nase und einer niedrigen Stirn wahr. Und dann merkte ich, daß mich der Mann an einem Ellenbogen in der Balance hielt. „Wolltest du untern Tisch? ’n bißchen hart und dreckig da unten.“ Die beiden anderen lachten, und das verletzte meinen Stolz. Ich setzte mich betont aufrecht, umklammerte den Henkel des Bierhumpens und versicherte, es gehe mir ausgezeichnet. „Nischt für ungut, Opa“, sagte der Breitnasige und wandte sich wieder seinen Freunden zu. Ich winkte den Kellner heran, bezahlte mit einem größeren Schein, ohne mir das Wechselgeld herausgeben zu lassen, bemühte mich mehrere Male vergebens, auf die Beine zu kommen, und versuchte, als ich dann stand, eine Verbeugung vor den drei Männern zu machen, ehe ich die Tür ansteuerte. „Vergiß deinen Schutzhelm nicht, Opa!“ hörte ich einen von ihnen rufen, und ich kehrte noch einmal um, 160
nahm, unter dem amüsierten Grinsen der Tischnachbarn, meinen Hut vom Haken und verließ das Lokal. Der Wechsel aus dem freundlichen Mief an die kühle Luft hatte die Wirkung eines Hammerschlags, der mir vorerst den Orientierungssinn raubte. Ich lehnte mich neben der Tür an die Hauswand und wartete darauf, daß die Übelkeit, die mir vom Magen her den Mund sauer machte, abflaute, während ich gleichzeitig hartnäckig die erleuchteten Schaufenster auf der anderen Straßenseite anpeilte, um die Doppelbilder zu verjagen. Mit Mühe nur gewann ich wieder die Herrschaft über meine Wahrnehmung, erkannte, wo ich mich befand, und stellte schließlich durch einen angestrengten Blick auf die Armbanduhr fest, daß ich eine längere Zeit in der Bierstube zugebracht hatte, als mir bewußt gewesen war. Es war bereits nach acht Uhr. Da meine ungewohnte und unbequeme Stellung, kombiniert mit meinem Übelbefinden, keine Fortführung des selbstquälerischen Sinnierens zuließ, wurde ich allmählich nüchterner, die Umrisse der Häuser und die Laternenlichter gewannen wieder festere Konturen, die Beine fingen langsam an, wieder dem Willen zu gehorchen, Magen und Kreislauf stabilisierten sich ein wenig. Meine erste klare Überlegung galt Katharina. Vielleicht war sie schon zurückgekommen, und obwohl ich soeben noch in Gedanken gegen sie gewütet hatte, war jetzt der Wunsch, sie zu sehen, übermächtig. Noch einmal unterquerte ich durch die nun gespenstisch leeren Tunnel den Platz, wählte in einer Zelle in einem Hotelfoyer ihre Nummer und legte auf, als ich nach mehrmaligem Klingeln keinen Anschluß bekam. Es blieb mir wohl nichts, als nach Hause zu fahren, wenngleich mich die Vorstellung, Irene gegenüberzutreten, mit leichtem Horror erfüllte. Nach ein paar weiteren Minuten in der Halle, die ich, umgeben von sehr agilen Touristen aus Rumänien, in einem Sessel verdöste, raff161
te ich mich auf und machte mich auf den Heimweg, der sich durch den um diese Tageszeit üblichen Pendelverkehr ziemlich zeitaufwendig gestaltete, so daß ich erst nach halb elf vor unserem Haus stand. Der angenehme Effekt der Fahrt mit dreimaligem Umsteigen war, daß der Prozeß des Nüchternwerdens Fortschritte machte. Als ich kein Fenster erleuchtet sah, nahm ich an, daß Irene schon zu Bett gegangen sei, und ich war erleichtert. Doch der Eindruck täuschte: Sie saß im Wohnzimmer in ihrem Fernsehsessel und schrak durch das Aufflammen der Deckenlampe hoch. Anscheinend hatte sie auf mich gewartet und war darüber eingeschlafen. Sie blickte mir mit ziemlich banger Erwartung entgegen, und auch ein bißchen Befremdetsein über meinen derangierten Zustand las ich in ihren Augen. Ich entschuldigte mich nicht, gab aber, um aller Erörterung über mein langes Ausbleiben zu begegnen, sofort einen detaillierten Bericht über das, was ich erlebt und erfahren hatte, obwohl ich mich nach nichts heftiger sehnte als nach meinem Bett und einem tiefen Schlaf, in dem ich alle körperliche und seelische Unbill wenigstens für den Rest der Nacht vergessen konnte. Selbstverständlich erwähnte ich mit keinem Wort das, was mich in den letzten Stunden so sehr beschäftigt hatte. Ich sagte nur: „Jakob hat sich der Polizei gestellt.“ „Gott sei Dank! Jetzt wird alles gut.“ Sie war den Tränen nah – den Tränen der Erleichterung diesmal, wie es schien. „Wo war er denn? Doch bei Susanne und Heinz?“ „Nein, irgendwo im Ausland. Genaueres hat mir der Habnicht nicht gesagt.“ Und mir wurde trotz des noch immer zähen Gedankenflusses bewußt, daß da noch einiges an Erklärung und Rechtfertigung auf mich zukam, wenn sich erst einmal alles – auf die eine oder die andere Weise – geklärt haben sollte. Dann sagte Irene: „Dieser Doktor Klein war hier, so 162
um sechs. Er wollte nicht warten, als er hörte, daß du bei der Polizei bist, und ich nicht wußte, wann du zurückkommst. Aber er machte den Eindruck, als sei ihm viel an einem Gespräch mit dir gelegen.“ „Hat er gesagt, was er wollte?“ Ich erinnerte mich schwach des vorwurfsvollen Blicks, den er mir zugeworfen hatte, ehe er mit Ramona Paschotka in seinem Zimmer verschwand. „Er hat zwar viel geredet, aber was er von dir wollte, hat er nicht gesagt. Und den Rest vom Korn hat er ausgetrunken – wir hatten ja nichts anderes mehr im Haus, nachdem dein Pastor … Lassen wir das. Du bist ja auch nicht gerade stocknüchtern.“ Irene lächelte, zum ersten Mal seit drei Tagen. „Elogen hat er mir dabei gemacht. Und er hat mir versichert, daß ich mich um Jakob nicht zu sorgen brauche.“ „ Den Text kenne ich auch.“ Damit versuchte ich, das Auftauchen dieses Mannes in unserem Haus herunterzuspielen; dennoch fragte ich mich natürlich, was er hier gewollt haben könnte. „Der Mann ist wahrscheinlich ein Wichtigtuer, der endlich einmal Gelegenheit hat, sich in Szene zu setzen. Ich bin ihm zweimal begegnet. Das genügt mir.“ „Er bittet dich aber, morgen vormittag ins Krankenhaus zu kommen. Es sei wichtig.“ „Ich habe nicht vor, mich noch länger in die Untersuchungen einzumischen. Jakob ist jetzt da, wo er sein soll. Der Rest ist Angelegenheit der Polizei, nicht meine, nicht deine, nicht die eines Herrn Doktor Klein.“ „Hermann, ich verstehe dich nicht.“ Alle Bereitschaft, an eine glückliche Wendung zu glauben, schien sie verlassen zu wollen. „Geh doch hin. Vielleicht weiß der etwas, das unserem Jakob helfen kann.“ „Ich bin müde, möchte ins Bett.“ Die Bilder – klick! – tauchten plötzlich in Bruchteilen von Sekunden wieder vor mir auf. 163
„Wir müssen doch alles tun …“ „Gute Nacht.“ Ich markierte ein Gähnen. „Morgen ist auch noch ein Tag.“ Ich schlief sofort ein, hatte mich seltsamerweise mit keinen Traumgesichten herumzuplagen, wachte auf ohne den eigentlich zu erwarten gewesenen Kater, und als mich Irene am Frühstückstisch drängend fragte, was für mich auf dem Tagesprogramm stände, erwiderte ich: „Ich werde mich vielleicht doch mit diesem Klein treffen. Mag sein, er hat uns wirklich etwas Wichtiges mitzuteilen.“ Ich sah die Erleichterung in Irenes Miene, und als ich ins Auto stieg, stand sie in der Haustür mit entspanntem Gesicht. Dieses Gesicht sah ich noch vor mir, als ich kurz darauf vor einer Telefonzelle hielt und mich anschickte, Katharinas Nummer zu wählen. Für einen Augenblick schwankte ich, ob ich sie überhaupt anrufen oder doch lieber alles dem Eigenlauf überlassen sollte. Ich wußte, auch wenn ich es mir noch immer nicht recht eingestehen wollte, daß unsere Affäre zu einem Ende gekommen war, unabhängig davon, ob sie sich mit Jakob zusammengetan hatte oder nicht. Denn nach dem, was mir am vergangenen Abend an Rage durchs Hirn gerast war, würde für mich nichts mehr so sein können wie bisher. Und doch wählte ich Katharinas Nummer, und als ich ihre Stimme hörte, waren alle Vorbehalte wie weggewischt.
12. Katharinas Wohnung war mir seit dem Tag, da ich sie zum ersten Mal betreten hatte, ein stets angenehmer Aufenthalt gewesen, und das nicht nur der Mieterin wegen. Sie lag in der ersten Etage eines rekonstruierten 164
Hauses am Rand des Stadtzentrums, von wo man auf kurzen Wegen auch zu Fuß zu Theatern, Bars und Museen gelangte, und vermittelte mit ihren beiden weitläufigen hohen Räumen ein Gefühl der Großzügigkeit. Hier, inmitten moderner, zum Teil selbst entworfener Möbel, deren jedes Stück und deren Arrangement mir Charakter und Temperament Katharinas zu offenbaren schienen, fühlte ich mich freier als in den vollgestellten Zimmern unseres Stadtrand-Häuschens, das, umgeben von heckenbegrenzter Bürgerlichkeit, die Langeweile des allzu Geordneten ausstrahlte. Trat man aus Katharinas Haus auf die Straße mit ihren noch immer relativ zahlreichen kleinen Läden und Kneipen, war man mitten im Leben und unter Leuten, die ihren Verrichtungen nachgingen, und selbst der Lärm von Autos und Straßenbahnen wirkte sich weniger abträglich auf meine Stimmung aus als die oft geradezu öde Stille, die mich zu Hause umgab. Abendliche Spaziergänge durch den Kietz, die regelmäßig mit einem Glas Wein in dem kleinen Café an der Ecke endeten, gehörten neben den Stunden mit Jazz vom Plattenteller zu meinen liebsten Erinnerungen aus den letzten Jahren. Als ich jetzt vor der breit ausladenden, durch allerlei architektonischen Schnickschnack der Gründerjahre dem Auge angenehm gemachten Fassade stand und, wie immer, ehe ich das Haus betrat, mit dem Blick die Fenster von Katharinas Wohnung suchte, wuchs Abschiedsstimmung mächtig in mir. Würde ich morgen oder überhaupt noch einmal durch diese Tür gehen, fragte ich mich, und würde ich noch einmal vom Fenster aus auf die Straße hinunterblicken? Die dumme, angelesene Vorstellung vom „verlorenen Paradies“ kam mir in den Sinn, und für einen Augenblick brodelte in mir wieder ein Gemisch aus Groll und Melancholie, das mich fast dazu gebracht hätte, wie ein ratloser Junge mit dem Fuß gegen die Mauer zu stoßen. Verwirrt von 165
dieser Aufwallung, stieg ich die Treppe hinauf. Dabei schlug mir das Herz im Hals. Katharina machte einen übermüdeten Eindruck. Sie war blasser als gewöhnlich, was allerdings ihren Reiz auf mich nicht minderte, und in der Art, wie sie mir die Hand gab (und mich nicht, wie sonst, mit einem Kuß begrüßte), glaubte ich ihre Kraftlosigkeit zu spüren. „Komm ’rein“, sagte sie, und auch ihre Stimme schien mir von Müdigkeit gedämpft. Sie ging mir voran in den Raum mit der großen aufgebockten Holzplatte, die ihr als Arbeitstisch diente und die wie immer mit Zeitschriften, Skizzen, Papierschnitten und Stoffmustern übersät war. Und dann saßen wir in den Sesseln einander gegenüber, und wieder hatte ich Mühe, mich nicht in unkontrollierte Gefühle zu verlaufen. Alles hier war mir vertraut, vom schwarz und braun gemusterten Teppich bis zu dem sehr bunten Hahn an der Wand, einer Farblithographie von Dix; und vor allem natürlich die Frau in den schwarzen Hosen und der kasackartig geschnittenen Bluse, die da saß – die Beine parallel und schräg nebeneinandergestellt, die Arme leger auf den Sesselrand gelagert und die Augen ernst auf mich gerichtet –, war mir so sehr vertraut, daß mich die Vorstellung, sie aufgeben zu müssen, erstarren ließ. Daß ich in den letzten beiden Jahren Irenes Vertrauen getäuscht hatte, diese Überlegung kam mir auch jetzt nicht in den Sinn, auch nicht einer der billigen Rechtfertigungsversuche, mit der ich sonst von Zeit zu Zeit mein Gewissen zu beruhigen trachtete (am nächsten war da immer, vor allem wohl, um die erotische Motivation zu verdrängen, die sorgfältig gepflegte Meinung gewesen, Irene sei im Lauf unserer langen Ehe stumpf geworden und böte nicht mehr die für mein geistiges Wohlbefinden nötige Schärfe des Verstandes). Ich war ganz in den Anblick Katharinas, die ich wahrscheinlich zum letzten Mal sah, verloren. 166
Keiner von uns fand das erste Wort, und Schweigen stand für eine Weile wie eine Wand zwischen uns. „Stell mir schon die Frage“, sagte sie schließlich doch, und sie sagte es so, als bemerke sie nicht, wie sehr ich aufgewühlt war. „Nein.“ Ich wollte, ich konnte die Frage nicht stellen. Zudem verriet mir ihre Aufforderung genug: Sie waren gemeinsam in Prag gewesen, und Katharina nahm an, daß ich davon erfahren hatte. Jetzt gab es für mich keinen Zweifel, auch keine Hoffnung mehr. Alles war klar, und diese Klarheit war es, die mir zunächst die Sprache verschlug. Dann brachte ich, um das Thema nicht direkt angehen zu müssen, mühsam genug den Satz über die Lippen: „Ich hatte in den letzten Tagen Schlimmes zu verkraften.“ „Ich auch.“ Damit hatte sie eine Brücke geschlagen, zurück zu dem Punkt, von dem sie ausgegangen war, und mir blieb jetzt nichts anderes übrig, als in das gefürchtete Gespräch einzusteigen und zu fragen: „Ihr wart also gemeinsam in Prag?“ „Ja, Jakob und ich.“ Und obwohl ich keine andere Antwort hatte erwarten können, traf mich die dürre Feststellung empfindlich, was sich durch eine unwillkürliche heftige Bewegung ausdrückte, die sie nicht übersehen konnte. Sie schickte gleich hinterher: „Ich mache mir selber Vorwürfe, daß ich es dir nicht gesagt habe.“ „Das rührt mich.“ „Du bist bitter.“ „Sollte ich fröhlich sein?“ So weit hat es kommen müssen! dachte ich, und dann noch, in einem letzten Versuch, vor mir selber zu bestehen: Du benimmst dich wie ein enttäuschter Liebhaber aus dem Bilderbuch. Trotzdem war ich unfähig, so viel Souveränität zusammenzukratzen, daß ich mein Verletztsein mit einem 167
selbstbewußten Satz hätte überspielen können. Ja, es gelang mir vorerst nicht einmal, mich zu einer Empörung aufzuraffen, wie zeitweise am vergangenen Abend in der Bierstube. Hölzern saß ich da und wußte nicht, wie ich das Gespräch fortführen, noch was ich mit den Händen anfangen sollte. Katharina ging zum Arbeitstisch und zündete sich eine Zigarette an. Vielleicht wollte sie damit die Szene entkrampfen, die vollends zu erstarren drohte. Es war wohl dieser Versuch, Ungezwungenheit auszustellen, der mich ärgerte und dazu brachte, einen Gefühlsausbruch zu wagen. Jedenfalls hörte ich mich plötzlich laut und mit Nachdruck sprechen, so als hätte ich etwas von großem Belang bekanntzumachen. Aber es war nicht eigentlich ich, der da sprach, nicht der gekränkte, unsicher gewordene Hermann Maul, der von der Enttäuschung dirigiert wurde, die Bindung an einen Menschen verloren zu haben, dessen er sich als Gegenpol zu seinem eintönig gewordenen privaten Leben sicher zu sein glaubte. Da verstieg sich jemand in aggressive Weinerlichkeit, und ich hörte ihn Sätze sagen, die allenfalls kinoreif waren. „An mir liegt dir ja nichts“, ließ ich neben anderem Nonsens laut werden, „an einem alten Kerl, der noch ein paar Ideale hat, zum Beispiel Vertrauen, Verläßlichkeit …“ Und: „Ihr habt euch wohl bon über mich amüsiert, in der Hotel-Bar oder morgens beim Frühstück auf eurem Zimmer …“ Und, schon an der Grenze zur Hysterie: „Ich war dir doch nur noch gut genug zu niveauvollen Gesprächen und zu Ratschlägen, wenn es um die Formulierung von irgendwelchen Referaten ging, während der junge Hund …“ „Jetzt ist es genug!“ So entschieden hatte ich sie noch nicht sprechen hören. Ich kam zu mir wie ein Betrunkener, dem ein Schwall kaltes Wasser über den Kopf gegossen worden ist. Ka168
tharina stand vor mir: schlank, schön, mit steinernem Gesicht. Die Zigarette verqualmte sinnlos zwischen ihren Fingern. „Entschuldige“, sagte ich leise, „es ist wohl besser, wenn ich mich verabschiede.“ „Ich halte es für besser, über Jakob zu reden.“ Die Härte ihres Tons war einer Nüchternheit gewichen, die nicht weniger entschieden klang. „Und selbstverständlich über uns. Wir können nicht auseinanderlaufen wie zwei verschreckte Kinder, die einen groben Unfug angestellt haben und nun nicht mehr weiterwissen.“ „Wenn du meinst.“ Mir war, als hätte ich den letzten Rest von Kraft in diesem sinnlosen und beleidigenden Versuch aufzubegehren vergeudet. Ich spürte auch, daß ich jetzt gar nicht die Energie hätte aufbringen können, die Wohnung zu verlassen. Also nickte ich nur. Katharina setzte sich wieder, sah mich aber nicht an, und mehr zu sich selbst als an mich gewandt, sagte sie: „Es war ein Fehler, und ich bereue ihn – daß ich dich im unklaren gelassen habe, meine ich, nicht, daß ich die Sache mit Jakob angefangen habe. Da gibt es kaum etwas zu bereuen, weil eigentlich noch gar nichts richtig begonnen hat.“ Und obgleich ich nicht im mindesten Miene machte, ihr zu widersprechen, wiederholte sie: „Ja, es hat eigentlich noch gar nichts begonnen.“ Und dann sprach sie davon, daß es ihr wohlgetan habe, von einem jungen Mann verehrt zu werden, und daß gewiß auch ein Reiz darin liege, wenn Vater und Sohn sich einer Frau zuwendeten und ihr dadurch Gelegenheit gäben, den einen im anderen zu entdecken oder ihre Unterschiedlichkeit zu erfahren. Ich ließ das alles unkommentiert, machte mir nicht einmal Gedanken darüber, was es da wohl für Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu entdecken geben mochte, und ich quittierte auch mit Schweigen ihr Bemühen, Jakob mit allerlei trefflichen Charaktereigenschaften 169
auszustatten, desgleichen mit intellektuellen Fähigkeiten, die ich an ihm nie entdeckt hatte. Aus allem, was sie sagte, hörte ich nur die Frau heraus, der es darum ging, sich zu rechtfertigen und mich damit zu demütigen, daß sie mir den nachfolgenden Liebhaber im vorteilhaftesten Licht vorführte. Jakob habe, sagte sie, den Hang zu Freundlichkeit und Höflichkeit mit mir gemein, doch sei er eine Spur herzlicher als ich, weniger formell und viel vitaler. Sie geriet auch ins Anekdotische, schilderte mir zum Beispiel ein wenig stolz und auch ein bißchen belustigt, wie er sie eines Tages mit Theaterkarten in der Tasche vor ihrem Institut abgepaßt und offen erklärt hatte, es liege ihm am Herzen, sie näher kennenzulernen, und wie sie eher neugierig als befremdet gewesen und seiner Einladung gefolgt war. Auf ihre Frage, wie er denn an die Adresse ihrer Arbeitsstelle gekommen sei, hatte er geantwortet, es bedürfe nur geringer detektivischer Fähigkeiten, die Identität einer Person festzustellen, wenn man mit deren ständigem Begleiter unter einem Dach wohne. Das brachte sie so vor, als sei diesem ersten Rendezvous nicht eine mich beleidigende Spitzelei vorausgegangen. Unwillig fragte ich schließlich: „Warum erzählst du mir das alles?“ „Weil ich in den letzten Wochen den Eindruck gewonnen habe, du kennst deinen Sohn nicht.“ „Die Feststellung ist nicht gerade originell. Ich habe sie in den letzten Tagen einige Male hören müssen und bin wohl auch von selbst schon dahintergekommen, wie fremd mir dieser junge Mann geworden ist. Mit Recht übrigens fremd. Denn das paßt doch wohl nicht gut zusammen: Sohn und Konkurrent bei derselben Frau.“ Und vielleicht auch Mörder, um ein Hindernis auf dem Weg zu dieser Frau beiseite zu schaffen, hätte ich fast hinzugesetzt. Doch ich besann mich darauf, daß es in unserer Lage keinen Sinn ergab, mit Anschuldigungen 170
aufzuwarten, zumal ich deren Bewahrheitung trotz allem noch immer fürchtete wie sonst nichts auf der Welt. „Bleib gelassen“, sagte Katharina, nun in besänftigendem, überredendem Ton. „Wenn alles vorbei ist, können wir in Ruhe miteinander sprechen. Vorerst geht es um Jakob.“ Wenn alles vorbei ist! dachte ich, noch immer unfähig, in normalen Bahnen zu fühlen und zu folgern, und natürlich geht es ihr um Jakob, nicht nur „vorerst“. Und was sollte es denn danach zu bereden geben? Ich fühlte mich, als sei mir ein Leck geschlagen worden, durch das unentwegt meine Motivation sickerte, noch irgend etwas in der einen oder der anderen Sache zu unternehmen. Wenn das nicht abgedichtet werden konnte, würde ich binnen kurzem dieses Zimmer verlassen und mich für den Rest der Woche ins Bett verkriechen und versuchen, alles, was mit den beiden zusammenhing, zu vergessen. Diese Wohnung, die mir in glücklicheren Tagen eine Zuflucht vor der Tristesse des ehelichen und des beruflichen Alltags gewesen war, wurde mir von Minute zu Minute fremder, ja widerwärtig bei dem Gedanken, daß auch Jakob in den letzten Wochen hier aus und ein gegangen war. Katharina blieb meine wachsende Lähmung offensichtlich nicht verborgen, denn sie bemühte sich nun – als wüßte ich es nicht längst – mir darzulegen, wie ernst es um Jakob stand. Frauen (und, wie ich jetzt erfuhr, Katharina besonders) verstehen es, mit hartnäckiger Wiederholung immer derselben Hinweise und Argumente ihre Sicht auf die Dinge und ihren Willen durchzusetzen. Was in den nächsten fünf Minuten auf mich niederging, war ein scheinbar plumper, in Wirklichkeit aber raffinierter Appell an mich, meine Enttäuschung und Verletztheit hintanzustellen und meinem Sohn (und Rivalen – diese zweite Eigenschaft Jakobs allerdings ließ sie fortan unerwähnt) beizustehen. 171
Vergebens argumentierte ich, daß ich am vergangenen Tag schon und ohne daß ich von ihrer beider Beziehung gewußt hätte, zu dem Entschluß gekommen sei, alles Weitere der Polizei zu überlassen. Sie gab nicht nach und scheute schließlich sogar nicht vor der Andeutung zurück, ich sei ein Egoist, der sich womöglich um der Reputation und der Karriere willen aus seiner Verantwortung zu schleichen suche. „Es steht noch immer schlecht um Jakob, noch immer!“ sagte sie. „Er ist und bleibt der am stärksten Verdächtige. Und ich werde ihn nicht im Stich lassen. Schließlich habe ich ihn nicht überredet, sich der Polizei zu stellen, um ihn ans Messer zu liefern. Ich will, daß seine Unschuld bewiesen wird.“ „Du hast ihn dazu überredet?“ „So ist es. Und ich bin gestern nachmittag mit ihm in dem Wagen der Polizei hierhergefahren.“ „Du hast also alles gewußt?“ „Was heißt alles?“ „Zum Beispiel, daß Jakob mit dieser Gretel König am Montag endgültig Schluß machen wollte, um sich mit dir zusammentun zu können.“ „Mein Gott, nein!“ Sie sprang auf und zündete sich, wohl um ihrer plötzlich aufsteigenden Erregung Herr zu werden, wieder eine Zigarette an. „Das ist es ja. Nichts habe ich gewußt, nicht einmal, daß er eine feste Freundin hatte. Von einer Gretel König war nie die Rede, von der nicht und von keiner anderen Frau. Glaub mir das.“ „Du sagst es, und was kann ich anderes tun, als dir zu glauben?“ Ich merkte, wie sich die Fronten zu verkehren begannen. Es war nun an mir, Fragen zu stellen und die Antworten zu akzeptieren – oder auch nicht. Das tat mir gut, das gab mir ein bißchen Auftrieb, und die Rolle des Unterlegenen im Wettstreit um die Gunst einer Frau trat, wenigstens vorübergehend, in den Hintergrund. Das Abenteuer mit Jakob hatte sie in Schwierigkeiten 172
gebracht, und wenn sie auch behauptete, nichts als das Wohl meines Sohnes im Sinn zu haben, so mußte es ihr doch auch darum zu tun sein, ihren Anteil an dem Geschehen seit Montag zu erklären. Da ich mich also in der Vorhand sah, fragte ich forsch: „Aber du wußtest, daß Jakob nach Prag fahren wollte?“ „Das hatten wir verabredet.“ „Er hat seit Montagabend den Dienst geschwänzt.“ „Er sagte mir, er habe Urlaub genommen.“ „Um eine neue Beziehung durch einen Trip besiegeln zu können.“ „Was meinst du mit besiegeln ?“ „Vielleicht eine Art vorweggenommener Hochzeitsreise.“ Ohne Rücksicht auf Sachlichkeit und Logik steuerte ich das Ziel an, mich wenigstens mit Worten zu rächen, da ich in der Sache nichts mehr glaubte ausrichten zu können. „Früher war Venedig das Traumziel von Liebesleuten oder Gretna Green, wenn es darum ging, heimlich den Bund fürs Leben zu schließen. Was sollte da heutzutage gegen Prag sprechen? Da gibt’s doch alles, was zwei romantisch entflammte Herzen brauchen: altes Gemäuer überall, Spuren großer Geschichte von der Romantik bis zum Barock, Gassen, durch die Kaiser Karl geritten und später der Golem gestampft ist, heiteres Rokoko … Weißt du, daß ‚Don Giovanni‘ in Prag uraufgeführt wurde?“ „Im Stände-Theater.“ Die lakonische Antwort ernüchterte mich zwar ein wenig, dennoch versuchte ich, die boshafte Litanei fortzusetzen: „Und zwei Liebende, am Moldau-Ufer Hand in Hand …“ „In Prag war mieses Wetter und an eine Promenade nicht zu denken. Und im übrigen hatten wir unsere Probleme miteinander, schon als wir vom Ostbahnhof abfuhren, am Montagabend.“ Diese abermalige sachliche Feststellung brachte mich endgültig aus dem Kon173
zept, und noch ehe ich ihr, mit vor gekränktem Stolz geschwollenem Kamm, ein paar weitere Genre-Bildchen vorstellen konnte, hatte Katharina, meiner Rempeleien überdrüssig, wieder das Heft in die Hand genommen. „Ich möchte dich bitten, deine Albernheiten jetzt und hier zu unterdrücken“, beschied sie mich mit der Miene einer von Amts wegen bestallten Person, die einen nicht zur Sache gehörenden Einwurf zurückweist. „Hör mir bitte zu.“ Und sie gab mir einen Bericht über ihre Zeit mit Jakob seit Montagabend, der meinen jäh aufgeflammten vermeintlichen Triumph über sie schnell wieder löschte. Ja, man sei verabredet gewesen, sagte sie, man habe die Gelegenheit des Modekongresses ausnutzen wollen, zwei angenehme Tage in Prag miteinander zu verbringen. („Wie du darüber denkst, interessiert mich im Augenblick nicht, auch übrigens nicht, welche Vorstellungen du dir im einzelnen über unser Beisammensein machst“, flocht sie in ihren Bericht ein.) Doch als Jakob dann am Montagabend gegen sieben Uhr bei ihr erschien, wirkte er nervös und zerfahren, sagte kaum ein Wort und war nur darauf bedacht, so schnell wie möglich zum Bahnhof zu kommen. „So kannte ich ihn nicht“, berichtete Katharina. „Da war nichts mehr von dem heiteren jungen Menschen, der mich immer spüren ließ, daß er sich freue, in meiner Nähe zu sein. Er hatte keinen Koffer bei sich und erklärte, es sei keine Zeit mehr gewesen, nach Hause zu fahren, er würde sich aber für die paar Tage behelfen können. Auch auf der Fahrt blieb er zunächst schweigsam und fahrig, und bei der Kontrolle an der Grenze steigerte sich seine innere Unruhe noch. Ich habe seine Hand zittern sehen, als er dem Mann von der Grenzpolizei seinen Ausweis übergab. Erst allmählich, als wir durch Böhmen fuhren, änderte sich sein sonderbares Gebaren. Jetzt benahm er sich wie jemand, der eine starke Bedrückung losge174
worden ist, sprach plötzlich intensiv auf mich ein, lachte oft, auch bei Gelegenheiten, die nicht belachenswert waren. Er war wie umgewandelt.“ „Wie schön für dich, daß er sich so bald gefangen hatte und so schnell alles vergessen konnte.“ Mein Groll war doch noch nicht ganz der Spannung und Betroffenheit gewichen, die sich über Katharinas Erzählung in mir aufzubauen begann. „Was vergessen konnte?“ „Das weiß ich doch nicht. Jedenfalls das, was immer es auch war, das ihn so von der Rolle gebracht hat.“ Sie bedachte mich mit einem verärgerten Blick. „Laß deine dummen Einwürfe und hör dir an, was ich mit Jakob erlebt habe.“ Und sie berichtete davon, wie Jakobs Euphorie nur ein paar Stunden angedauert hatte und nach der Ankunft in Prag vollends geschwunden war. „Ich erklärte mir das zunächst damit, daß er um fünf Uhr morgens zu einem Freund an den Stadtrand fahren mußte. Mit dem hatte er die Übernachtungen verabredet. Ich übrigens, wenn es dich interessiert“, schob sie ein, „bin bei einer Kollegin untergekommen.“ „Es interessiert mich nicht sonderlich“, sagte ich und vermerkte diesen Umstand trotz allem mit einem Gefühl der Erleichterung. „Du wolltest von Jakob erzählen.“ Katharina ließ sich durch meinen vorgetäuschten Gleichmut nicht aus der Fassung bringen und fuhr fort: „Wir haben uns am Dienstagmittag in einer Konferenzpause wiedergetroffen, und er wirkte noch niedergeschlagener als am Tag vorher. Und sein Zustand änderte sich nicht am Abend und nicht am folgenden Tag. Es wurde im Gegenteil immer schlimmer mit ihm, und die freundlichen Stunden, die wir uns ausgemalt hatten, fanden nicht statt. Vergebens fragte ich ihn nach dem Grund seines Verhaltens. Er fühle sich nicht wohl, war das einzige, was ich erfuhr, als er am Mittwochabend schon um halb acht eine halbe Flasche Wein stehenließ 175
und sich in sein Quartier zurückzog. Da saß ich denn allein in einem Lokal und war wütend.“ „Er hat an dem Abend seine Mutter angerufen.“ „Davon hat er mir nichts gesagt, als er am nächsten Morgen, also gestern, zum Frühstück in der Wohnung meiner Kollegin erschien, unangemeldet, und er sah elend aus, als habe er die Nacht durchgezecht. Er trank Kaffee und schwieg. Ich spürte, daß er mir etwas mitteilen wollte; doch ich drängte ihn nicht. Und endlich kam er dann heraus mit dem, was ihn die ganze Zeit bedrückte.“ Sie hielt inne, als ob sie sich sammeln müsse, zündete sich die dritte Zigarette an und genoß schweigend die ersten Züge. Vielleicht legte sie diese Pause ein, um die dramatische Wirkung ihres Berichts zu steigern. „Erzähl schon weiter“, sagte ich ungeduldig, „wir sind hier nicht im Theater.“ „Wieder mal besorgter Vater – von einem jungen Hund ?“ Den Spott hatte ich mir nach allem verdient. „Aber lassen wir das. Jedenfalls hat er mir alles erzählt.“ Und das hatte sich – nach Jakobs Darstellung – am Montag ereignet: Er ging nach Beendigung seiner Arbeitszeit gegen sechs Uhr ins Schwesternwohnheim hinüber. Dort war er mit Gretel König verabredet, und er hatte sich vorgenommen, noch vor der Reise sein Verhältnis mit ihr ins reine zu bringen. Mit dem Schlüssel, den sie ihm gegeben hatte, öffnete er die Tür zum Appartement, als sie auf sein Klingeln nicht reagierte, und fand Gretel König in grotesk verrenkter Haltung auf dem Boden liegend. Er sprach sie an, rüttelte sie an der Schulter; er ging ins Bad, kehrte mit einem nassen Handtuch zurück, das er ihr auf die Stirn legte, und er versuchte, ihr aus einem halbvollen Weinglas auf dem Tisch einen Schluck einzuflößen, weil er glaubte, sie sei ohnmächtig. Es dauerte eine geraume Weile, ehe er begriff, daß er vor einer Toten stand. All176
mählich, nachdem er sich wieder und wieder die Frage gestellt hatte, ob Gretel König eines natürlichen Todes gestorben sein könnte oder umgebracht worden war, wurde ihm klar, in welcher Klemme er für den Fall steckte, daß jemand sie ermordet hatte: Von Panik ergriffen, stürzte er aus dem Zimmer. Erst im Treppenhaus wurde ihm bewußt, daß er die Tür nicht ins Schloß geworfen und den Schlüssel hatte steckenlassen, traute sich aber nicht, noch einmal hinaufzugehen, weil er befürchtete, gesehen zu werden. Unentdeckt, wie er glaubte, erreichte er das Freie und lief durch die Straßen. Er fühlte sich gedrängt, das nächste Revier anzusteuern oder einen Streifenpolizisten anzusprechen. Doch wenigstens genauso stark war seine Angst, mit dem Tod Gretel Königs in Verbindung gebracht und, wenn es sich herausstellen sollte, daß sie nicht auf natürliche Weise gestorben war, für ihren Mörder gehalten zu werden, zumal er mit einem, wie er glaubte, zureichenden Motiv belastet war. Am Ende siegte die Angst, ein psychischer Blackout setzte ein, das Denken über den nächsten Tag hinaus fiel völlig aus, und er suchte buchstäblich sein Heil in der Flucht. Er fuhr zu Katharina und bestieg mit ihr den Zug nach Prag. Als Katharina zu Ende gekommen war, bedeckte sie für einen Moment die Augen mit den Händen. Dann sagte sie: „Ich habe ihm natürlich geraten, sich sofort zu stellen, nachdem ich alles erfahren hatte. Und er hat denn auch gleich anzurufen versucht.“ Sie schüttelte den Kopf in Erinnerung an die Vorgänge des gestrigen Morgens. „Du glaubst nicht, wie schwierig das ist, im Ausland die Nummer des hiesigen Polizeipräsidiums und dann auch noch den zuständigen Mann ausfindig zu machen. Zwei geschlagene Stunden hat das gedauert …“ Es stimmte also, was Ramona Paschotka ausgesagt hatte: Jakob war zu der angegebenen Zeit in Gretel Kö177
nigs Appartement gewesen. Das wog schwer. Was den Rest der Geschichte anging, so konnte man ihn akzeptieren oder nicht. Und warum sollte man Jakob Glauben schenken? Das klang mir alles zu abenteuerlich, ein bißchen romanhaft: Ein Mann steht vor der Leiche seiner Freundin und flieht, um nicht für den Mörder gehalten zu werden. „Das ist eine vertrackte Angelegenheit“, sagte ich. „Du hältst Jakob für einen Lügner?“ „Auf mich kommt es nicht an. Die Polizei muß ihm seine Geschichte abkaufen – und dazu noch den wirklichen Mörder finden. Und was das Abkaufen angeht, habe ich meine Zweifel. Da gibt es nämlich einen Hauptmann, Habnicht heißt der, und der macht mir nicht den Eindruck, als ob er auch nur ein bißchen vertrauensselig ist.“ „Den kenne ich.“ „Wen kennst du?“ Ich glaubte mich verhört zu haben. „Hauptmann Habnicht, seit gestern abend.“ „Wieso?“ Meine Verblüffung war beträchtlich. Ich dachte: Hört das denn nie auf, dieses Enthüllen von Unbekanntem? Wie ein abständiger Opa kam ich mir vor, der immer alles als letzter erfährt. „Du denkst doch nicht, daß ich Jakob allein gelassen hätte, in seiner Lage!“ Das war in einem Ton gesprochen, als wäre mir eine ungeheure Dummheit unterlaufen. Entsprechend gereizt reagierte ich und sagte: „Du hast Jakob wohl nicht getraut, hast gedacht, er stellt sich nicht an der Grenze.“ „Spar dir deinen Sarkasmus!“ Katharina warf die Hände hoch, als müsse sie einen Schwarm Fliegen verscheuchen. „Mir ist nicht nach Scherzen zumute. Ich habe die Abschlußsitzung des Kongresses sausen lassen, und wir sind in den nächsten Zug gestiegen. An der Grenze wurden wir erwartet.“ 178
„Von Leutnant Feder.“ „Du bist gut informiert.“ „Ach nein, ich ernähre mich nur von den Brosamen, die vom Tisch der Wissenden für mich abfallen. Aber ich hätte es mir ja denken können, daß du deinen Buhlen nicht im Stich läßt auf seinem schweren Gang.“ „Hermann!“ Sie stampfte mit dem Fuß auf. „Laß mich nicht glauben, daß du ein Ungeheuer bist.“ „Ich bin nur ungeheuer gestreßt und ungeheuer enttäuscht. Verzeih mir.“ Ich beugte mich vor und streckte ihr eine Hand entgegen, und sie drückte sie, ließ sie aber sofort wieder los. „Ja, wir sollten sachlich bleiben. Du bist also mit Jakob zu Habnicht gefahren.“ „Mir blieb nichts anderes übrig, nachdem ich in Feders Auto eingestiegen war.“ Sie versuchte ein Lachen, das sich aber eher wie ein Schnaufen anhörte. „Immerhin sah es so aus, als hätte ich Beihilfe zur Flucht geleistet.“ „Und hast du dich von dem Verdacht befreien können?“ „Ich weiß es nicht. Habnicht hat sich eine Stunde mit mir befaßt.“ „Und was ist dabei herausgekommen?“ „Er hat mich laufenlassen.“ Diesmal klang Katharinas Lachen ungezwungener. „Im übrigen hat er gemeint, er hätte eigenmächtig und ungesetzlich gehandelt, als er mit Jakob verabredete, er solle sich an der Grenze stellen. Aber bei der Dringlichkeit der Sache sei ihm keine Zeit geblieben, ein Verhaftungs- und Auslieferungsersuchen zu stellen. ‚Ich brauchte Jakob Maul schnell‘, hat er gesagt.“ „Warum?“ Katharina zuckte die Achseln. „Er sagte noch: ‚Die Sache ist wahrscheinlich bald ausgestanden.‘ “ „Für wen? Für Jakob?“ 179
Sie saß jetzt wieder da wie zu Anfang: die Beine schräg und parallel nebeneinandergestellt, die Arme leger auf den Rand des Sessels gelegt. „Warten wir es ab“, sagte sie.
13. Abwarten – das war leicht gesagt und schwierig zu praktizieren. Katharina machte ohnehin in dieser Situation nicht gerade den Eindruck, als sei Geduld ihre Haupttugend. Sie sagte denn auch, wie um ihren Rat Lügen zu strafen: „Das Rumsitzen macht mich verrückt. Komm, wir vertreten uns ein bißchen die Beine. Unter Menschen wird mir, glaube ich, wohler.“ Zwar wollte ich die von Dr. Klein vorgeschlagene Gelegenheit, ihn noch einmal aufzusuchen, nicht versäumen, doch brachte ich es nicht über mich, mich jetzt von Katharina zu verabschieden. Und zudem hegte ich noch immer die vage Hoffnung, daß wir einiges zu besprechen hätten, irgend etwas, das jenseits der doppelt scheußlichen Geschichte um Jakob lag, und für den Fall redete es sich vielleicht wirklich besser auf der Straße als in dieser Wohnung, die für uns beide, für mich zumal, doch zu sehr mit Erinnerungen befrachtet war. Für einen Augenblick wollte Sentimentalität mich überwältigen, und ich war drauf und dran, sie zu bitten, noch einmal meine liebste Platte aufzulegen: „As time goes by“ aus dem Film „Casablanca“, bei deren Anhören ich mich stets so gut in die Rolle des edel resignierenden Humphrey Bogart hatte versetzen können. Aber dann tat ich es doch nicht, weil ich fürchtete, mich lächerlich zu machen. Warum auch noch das wahrscheinliche Ende musikalisch untermalen? Als wir durch die Straßen gingen, vorüber an Häusern, von denen viele noch die Spuren der fürchterli180
chen letzten Kriegstage trugen, und an Baustellen, die anzeigten, daß endlich bald Gebäude die Lücken schließen würden, die Bomben und Granaten gerissen hatten, fiel manches von dem von mir ab, was mich in der hinter mir liegenden Stunde so launisch und so widersprüchlich auf meine verquere Lage hatte reagieren lassen. Ich versuchte, als nicht sogleich ein Gespräch aufkommen wollte, mir vorzustellen, dies sei ein Tag wie viele anderen Tage, an denen ich an Katharinas Seite durch die Straßen geschlendert war und mich ihre Nähe zufrieden gemacht hatte, mit mir selbst und der Welt. Für ein paar Minuten gelang es mir beinahe, meine jämmerliche Wirklichkeit zu vergessen. Ich sah die Menschen, die vor einem Fischgeschäft und vor einer Fleischerei anstanden, mit der Gelassenheit dessen an, der im Kietz zu Hause ist und sich ernsthaft fragt, ob es wohl Heilbutt zu kaufen gäbe oder endlich einmal wieder Schweinelendchen; ich wich mit einer komischen, weil übertriebenen furchtsamen Bewegung einem kläffenden Hund aus, sah an der roten Ziegelmauer des alten Telegrafenamts hoch und amüsierte mich wieder einmal an dem Fries von Medaillons, der von dem Bemühen unbeholfener preußischer Baumeister zeugte, der Eintönigkeit ihrer Architektur mit der damals gängigen „Kunst am Bau“ ein wenig abzuhelfen. Und als sich gar Katharina, wohl eher der Gewohnheit folgend als einem Bedürfnis nach engerem Kontakt, bei mir einhängte, erreichte mein trügerisches Wohlbehagen seinen Höhepunkt. Vor dem drei, vier Häuser entfernten Schaufenster des Kunstgewerbeladens hatten wir an einem angenehm kühlen Sommerabend Hand in Hand gestanden, uns an den Scheußlichkeiten aus Holz, Schmiedeeisen und Textilien delektiert, und einer hatte dem anderen vorgeschrieben, welches Prachtstück aus der schauerlichen Kollektion er zu kaufen und bei sich zu Hause an gut sichtbarer Stelle anzu181
bringen oder aufzustellen hätte. Und dort drüben, an der Ecke, waren wir Zeuge geworden, wie ein Betrunkener die Passanten laut und gestenreich aufgefordert hatte, schnellstens ihre Familien aufzusuchen und an dem Tag besonders lieb zu den Kindern zu sein. „Wenn ich nur wüßte, wie wir Jakob helfen könnten“, sagte Katharina, und augenblicklich zerstob die trostreiche Erinnerung; die Realität war übermächtig wieder da. Unwillkürlich lockerte ich den Druck auf Katharinas Hand in meiner Armbeuge. Katharina schien das nicht zu bemerken. „Irgendwo müßten wir doch ansetzen können.“ „Ich habe versucht …“ „Was genau hast du versucht?“ „Ich bin von Pontius zu Pilatus gelaufen, wollte herausfinden, wer die Gelegenheit und einen Grund hätte haben können, das Mädchen umzubringen.“ „Und das sagst du mir erst jetzt?“ Sie sah mich an, als hätte ich mir ein schlimmes Versäumnis zuschulden kommen lassen, und Ungeduld blitzte in ihren Augen. „Du hast mir bisher doch keine Möglichkeit gegeben, zu erzählen, was ich erlebt habe,“ „Jetzt hast du Gelegenheit.“ „Jetzt ist es, fürchte ich, zu spät. Jakob hat sich gestellt, und die Polizei wird sich intensiv mit ihm befassen, wie sie es schon mit den anderen getan hat.“ „Und wer sind diese anderen ? Das möchte ich wissen.“ Wir waren, als wir miteinander zu sprechen begonnen hatten, vor dem Kunstgewerbeladen stehengeblieben, schauten durch die Glasscheibe auf den Kram, der da feilgeboten wurde, und hatten doch keinen Blick für die Fondue-Töpfe aus glänzendem Messing, für die geschnitzten Elefanten und die Schildkröten mit beweglichen Köpfen oder für den besonders pompösen Zeitungsständer aus imitiertem Bambus, der in uns vor 182
Wochen noch schaudervolles Entzücken und einen entsprechenden Kommentar geweckt hätte. „Laß es damit sein Bewenden haben“, sagte ich. „Wir sollten uns nicht mehr einmischen.“ „Wer sind diese anderen ?“ wollte sie noch einmal wissen. „Die Polizei wird schon den Richtigen finden.“ „Die Polizei! Die Polizei!“ Sie geriet in einen Eifer, der vielleicht einer weniger aussichtslosen Sache gut angestanden hätte. „Als ob das Halbgötter wären! Und was ist, wenn der wirkliche Täter sich so geschickt tarnt, daß er nicht entdeckt wird?“ „Vorausgesetzt, es gibt einen, der nicht Jakob Maul heißt.“ „Er heißt nicht Jakob Maul. Ich besitze Menschenkenntnis genug, um das sagen zu können.“ Mein Sohn war wirklich zu beneiden um so viel engagierten Einsatz; aber ich fühlte mich zu abgeschlagen, um jetzt noch ernsthaft Eifersucht aufzubringen. Mir gelang nur der ironische Einwurf: „Menschenkenntnis genug jedenfalls, um den Sohn dem Vater vorzuziehen.“ Sie reagierte nicht darauf, fuhr vielmehr fort, mich zu bedrängen. „Komm, wir setzen uns in unser Café. Da erzählst du mir alles.“ Unser Café – diese Umschreibung der vertrauten Örtlichkeit weckte noch einmal so etwas wie Wehmut in mir, obgleich ich mir darüber völlig im klaren war, daß ich sie der Gewohnheit zuschreiben mußte und nicht erwarten dürfte, sie sei ein Anzeichen von freundlicher Besinnung auf die Stunden, die wir dort miteinander verbracht hatten. Die waren – ich wußte es, und ich setzte dieses Wissen auch sofort gegen die minimale Aufwallung von Gefühlsseligkeit – endgültig dahin. Und als wir dann ein paar Minuten später in unserem Café Platz genommen hatten (von der Serviererin mit vertraulichem Kopfnicken begrüßt und sofort bedient), wie schon 183
so oft an dem ewig kippelnden Tischchen neben der Tür zu den Wirtschaftsräumen, fühlte ich mich denn auch wie in einer unbekannten Umgebung und empfand das vertraute Geruchsgemisch aus Kuchenaroma und Kaffeeduft als fremd und störend. „So, nun erzähl!“ sagte Katharina, nachdem Kaffee und Torte vor uns standen. Und ich berichtete zum wiederholten Mal von meinen Unternehmungen der letztvergangenen Tage und auch von dem, was ich in Habnichts Büro erlebt hatte (wobei ich übrigens, einem nicht ergründeten Impuls folgend, Jakobs perfides Gedicht und den Kommentar des Hauptmanns nicht erwähnte). Mir schien, ich hätte wohl noch nie einen aufmerksameren und so Anteil nehmenden Zuhörer gehabt. Nicht nur, daß Katharina mir buchstäblich die Worte vom Mund ablas; sie drängte mich, diese oder jene Episode oder die eine oder die andere Äußerung zu wiederholen oder eine Mutmaßung zu präzisieren, sparte nicht mit kommentierenden Einwürfen und zeigte durch ihr Mienenspiel deutlich Mißtrauen an oder steuerte spontan Ausrufe bei. Schließlich saß sie schweigend und schwer atmend da, als habe sie das Zuhören erschöpft, und doch meinte ich an ihrem Gesicht zu erkennen, wie heftig es in ihrem Kopf arbeitete. Nach einer Weile sagte sie – und es klang ein wenig verzagt: „Die Angelegenheit scheint komplizierter zu sein, als ich gedacht habe.“ Dabei hatte ich durchaus den Eindruck, sie sähe mich voll Vorwurf an, so als trüge ich Schuld daran, daß es ganz und gar nicht einfach sein würde, aus dem Wirrwarr einander kreuzender Beziehungen und widerstreitender Interessen einen schuldlosen Jakob Maul zu fischen. Doch ihre Verzagtheit und Ratlosigkeit währte nur kurz, und indem sie die Kuchengabel energisch in ihr Stück Schwarzwälder Kirschtorte stach, forderte sie: „Wir müssen etwas unternehmen!“ 184
„Vorhin, in deiner Wohnung, hast du noch gesagt: ‚Warten wir es ab.‘ “ Ich mochte nicht noch einmal auf das erfolglos sich drehende Karussell von Vermutungen aufspringen, hatte genug vom Abwägen von Motiven und Gelegenheiten, die der oder jener gehabt haben könnte. „Es wird sich alles klären, glaub mir, Katharina.“ „Das ist für mich keine Glaubenssache.“ Sie kaute energisch, als hätte sie nicht einen Bissen Kuchen im Mund, sondern ein Stück von einem zähen Steak. „Von selber klärt sich sowieso nichts. Herrgott, wenn ich daran denke, daß der arme Junge im Knast sitzt und der Mörder frei herumläuft und womöglich davonkommt, packt mich die Wut!“ „Immerhin hat der arme Junge sich durch seine Flucht verdächtig gemacht.“ „Das war keine geplante Flucht, das war kopfloses Wegrennen. Hast du mir denn nicht zugehört?“ Das klang fast feindselig. Doch mit dem nächsten Satz schon wechselte sie zur Selbstanklage: „Wäre ich am Montagabend nur aufmerksamer ihm gegenüber gewesen, hätte ich mir nur die Mühe gemacht, herauszufinden, was ihn so offensichtlich bedrückte … Dann wären wir nicht zu der verdammten Reise aufgebrochen, sondern zur Polizei gegangen.“ Sie schüttelte den Kopf, als könne sie ihr Versagen nicht begreifen. „Stell dir nur vor: Zwei Nächte und einen Tag hatte der Mörder Gelegenheit, seine Spur zu verwischen!“ Auf ihren Wangenknochen zeigten sich Male hektischer Röte. „Sprechen wir alles noch einmal durch. Irgendwo muß sich doch eine mürbe Stelle finden, wo wir einhaken können.“ Nach alledem mußte ich einsehen, daß kein Appell an ihre Vernunft oder an ihre Geduld sie davon abbringen würde, sich in Kombinationen und Mutmaßungen zu verlieren, und so fragte ich denn, eher um ihre Aufgeregtheit zu dämpfen oder sie doch ins einigermaßen 185
Sachliche überzuführen, als um uns auf eine verheißungsvolle Spur zu verhelfen: „Was meinte denn Jakob? Der vor allem muß sich doch Gedanken gemacht haben. Im Zug – auf dem Weg zurück – hat er sich da nicht geäußert?“ „Ziemlich wirres Zeug hat er geredet. Vor sich hin gegrübelt hat er, und das führt ja zu nichts als zu größerer Unklarheit. Er hat gesagt, er könne es sich einfach nicht vorstellen, daß einer von seinen Bekannten und Freunden ein Mörder sein sollte. Die Tat müsse von einem Außenstehenden, einem Fremden, begangen worden sein.“ „Und wenn dem so wäre?“ „Dann könnten wir es nicht ändern. Aber erst einmal gibt es Anhaltspunkte, über die nachzudenken sich lohnt. Nimm doch nur diesen Doktor Kümmerer. Der hatte die Gelegenheit – du hast es selbst angedeutet –, und er hatte womöglich auch ein Motiv.“ Der Name weckte in mir einen bisher uneingestandenen primitiven Wunsch: Von allen, mit denen ich im Zusammenhang mit dem Mord gesprochen hatte, war dieser Mann derjenige, den ich am liebsten als Täter überführt gesehen hätte. Doch ich unterdrückte schnell meine Abneigung, klassifizierte sie als ein Vorurteil und bemühte mich, so neutral wie möglich zu erklären, daß uns nichts bekannt sei, was darauf hindeute, Kümmerer könnte der Täter sein; da käme genausogut oder noch eher Florian Schmidt in Frage, denn er sei immerhin direkt in die Liebeskapriolen der letzten Monate verwickelt gewesen. Katharina indes ließ sich nicht so leicht von dem einmal gefaßten Gedanken ablenken und sagte mit der Bestimmtheit eines Fachmanns auf dem Gebiet der Kriminalistik, man komme nicht voran, wenn man nicht alle, auch die scheinbar nebensächlichen oder unbedeutenden Spuren in Betracht ziehe oder sie etwa als unwahrscheinlich verwerfe, ohne sie auf Herz und 186
Nieren geprüft zu haben. „Jakob – das ist mir über deinem Bericht wieder eingefallen – hat von Kümmerer nur abfällig gesprochen, noch ehe diese Gretel König umgebracht wurde. Und einmal hat er gesagt, diesen aufgeblasenen ekelhaften Kerl könnte man ganz einfach aus den Angeln heben, wenn man nur wollte. Es gäbe da gewisse Schriftstücke – mehr allerdings weiß ich nicht. Kümmerer scheint überhaupt ein allseits verhaßter Mensch zu sein, einer, der keine Freunde hat, weil er ehrgeizig bis dorthinaus ist.“ „Das erklärt doch nichts oder nur, daß man geneigt ist, einem unbeliebten Menschen eher etwas in die Schuhe zu schieben als irgendeinem anderen.“ Als hätte sie meinen Einwand nicht gehört, fuhr Katharina unbeirrt fort: „Und wenn Gretel König ihm irgendwie im Weg gestanden hat? Wenn sie etwas gewußt hätte, was ihm die Laufbahn versauen konnte? Du hast gesagt, daß sie einmal seine Freundin gewesen ist. Also muß sie ihn doch genau kennen. Und weshalb ist diese Freundschaft überhaupt auseinandergegangen?“ „Das liegt doch weit zurück.“ Ich merkte, wie ich begann, mich in die Rolle dessen zu begeben, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Vermutungen mit Gegenvorstellungen zu kontern, und der vielleicht sogar seine Befriedigung darin findet, den anderen ins Leere laufen zu lassen. „Oder nimm einmal an, Kümmerer hat Wind davon bekommen, daß Jakob mit Gretel König Schluß machen will, und er bietet sich ihr erneut als Liebhaber an.“ „Und als sie ihn abweist, bringt er sie um und spricht anschließend bei Ramona Paschotka vor.“ „Warum nicht? Wenn er ganz raffiniert ist, verhält er sich so, um seine Ahnungslosigkeit unter Beweis zu stellen.“ „Bis jetzt sind wir es nur, die Ahnungslosigkeit unter Beweis stellen.“ 187
„Du nimmst mich nicht ernst.“ Verärgert schob Katharina ihren Teller mit dem Rest des Tortenstücks von sich weg. „Ich möchte nur nicht, daß du dich in Absurditäten verrennst.“ Dieser Versuch, sie zu beruhigen, fruchtete nicht; er bewirkte im Gegenteil nur, daß sie sich energisch verbat, als jemand angesehen zu werden, der verdrehten Überlegungen nachhängt. „Wenn dir nichts daran liegt“, sagte sie mit vor Zorn schwerer Stimme, „zur Entlastung deines Sohnes beizutragen, dann scher dich nach Hause. Mich bringst du nicht davon ab, mir über den wahren Täter Gedanken zu machen.“ Der Vorwurf war deutlich. Und ich sagte: „Tu, was du nicht lassen kannst. Ich bin es leid, in dieser stinkenden Bude zu sitzen und rumzuquatschen.“ Ich stand auf, knöpfte mir demonstrativ das Jackett zu und schickte mich an, zum Kleiderständer zu gehen, um meinen Mantel anzuziehen. „Du bleibst!“ Das klang eher beiläufig und selbstverständlich, und gerade dadurch hörte ich aus den zwei Worten eine Forderung heraus, der ich mich nicht entziehen konnte. „Und du wirst weiter mit mir rumquatschen, bis wir alles beredet haben, was es zu bereden gibt.“ Sie deutete auf meinen Stuhl. „Und jetzt setzt du dich wieder hin!“ Mechanisch befolgte ich ihren Befehl, doch verdrossen und nicht ein bißchen neugierig darauf, wie sie ihren Faden weiterspinnen würde und zu welchem Ergebnis sie käme. Vorerst blieb sie dabei, Kümmerers mögliches Motiv zu erörtern, und das mit solchem Nachdruck, daß ein Uneingeweihter hätte annehmen müssen, sie kenne den Mann sehr genau und habe ihn durch intensive Bekanntschaft hassen gelernt. Doch ich hörte aus alledem kaum etwas anderes heraus, als das verzweifelte 188
Bemühen, Jakob zu entlasten und, sei es auf Kosten aller Regeln, vernünftig zu schlußfolgern. Und trotz der Enttäuschung über ihr Verhalten in den letzten Wochen begann sich Mitgefühl in mir zu regen. Denn was hatten jetzt noch Ressentiments für einen Sinn, die darauf hinausliefen, daß mir ein Tort angetan worden war; was hätte selbst meine Einkehr in die Einsicht, daß ich mich angesichts der eigenen Untreue gegenüber Irene nicht beklagen dürfe, bewirken können? Ich war den Spuren meines Sohnes gefolgt, und die hatten mich erschreckt, weil ich nicht im mindesten darauf gefaßt gewesen war, was sich mir da eröffnete; sie hatte sich – leichtfertig oder auch nicht – auf eine romantische Liebelei eingelassen, aus der sie mit vielleicht noch größerem Schrecken, als ich ihn verspürt hatte, gerissen worden war. Die Tage, die hinter uns lagen, waren uns beiden an den Lebensnerv gegangen – es waren Tage, die wir nie mehr würden auslöschen können. Plötzlich hielt sie inne, vielleicht durch meine abwesende Miene veranlaßt, und sah mich forschend und zugleich unsicher an. „Ich weiß, du hältst mich für überspannt“, sagte sie nach einer Weile leise. „Aber versuch mich zu verstehen, bitte. Ich kann jetzt nicht untätig sein.“ „Ich verstehe dich. Mir ist es doch zwei Tage lang genauso gegangen.“ Was trennend zwischen uns gestanden hatte, war niedergerissen oder hatte zumindest für den Augenblick kein Gewicht mehr. Ich sah in ihr nur noch die Frau, die ihre Selbstsicherheit, die ihr reichlich zugemessen gewesen war, verloren hatte und die sich vergebens darum bemühte, einen festen Stand wiederzufinden. Und in Aktivität, und sei es in einer Aktivität um jeden Preis und ohne Aussicht, ein Ziel zu erreichen, sah sie das Mittel, wieder in die Balance zu kommen. 189
Ich hätte ihr gern die Hände gestreichelt, die zu Fäusten verkrampft auf dem Tisch lagen. Statt dessen aber sagte ich nur: „Überlegen wir also weiter.“ „Ja, überlegen wir weiter.“ Mir war, als hörte ich aus ihrer Stimme so etwas wie Erleichterung und Dankbarkeit, aber auch den Beginn der Einsicht, daß alle Anstrengung des Geistes vergebens sein könnte. Und um sich und mir Mut zu machen, setzte sie hinzu: „Es wird alles gut werden.“ „Bestimmt.“ Ich nahm nun doch über das Tischchen hinweg ihre Hände in meine und spürte, wie sie sich entkrampften, und ich sah ein trauriges Lächeln um ihren Mund. „Können wir nicht irgend etwas tun?“ fragte sie, indem sie sich in unserm Café umsah, das um diese Stunde noch kaum besucht war, und ich glaubte jetzt in ihrem Blick dasselbe Gefühl der Fremdheit inmitten einer bisher vertrauten Umgebung zu erkennen, das mich schon seit unserem Eintritt beherrscht hatte. „Eigentlich müßte ich mich mit Doktor Klein treffen; er hat gestern abend um meinen Besuch gebeten. Vielleicht hat er etwas von Belang mitzuteilen.“ „Laß mich jetzt nicht allein.“ Sie sah mich bittend an, und sofort und gegen alle Vernunft regte sich der Hoffnung spendende Gedanke in mir: Sie braucht mich, sie kann auf mich nicht verzichten, und er verdrängte jede Überlegung, ob es nicht doch besser wäre, zum Krankenhaus zu fahren. Noch während ich darauf wartete, daß sie das Gespräch wieder aufnehmen würde, kam mir ein Einfall, von dem ich zwar nicht wußte, ob er sich als sinnvoll erweisen würde, der aber immerhin den Vorteil für sich hatte, daß wir nicht länger unsere Zeit mit mehr oder minder müßigen Erörterungen verbrachten. Also schlug ich vor: „Wollen wir nicht Sebastian Engel einen Besuch abstatten? Ich habe dir von ihm erzählt. 190
Der arbeitet, soviel ich weiß, bei einer Zeitschrift, gar nicht weit von hier.“ „Wenn du meinst …“ Die kleine Unentschlossenheit, die in diesen Worten lag, stand im Gegensatz zu ihrem wieder lebhafter werdenden Mienenspiel. Ich konnte beobachten, wie ihre Lebensgeister von einer Sekunde auf die andere wieder erwachten und ihr eine drängende Neugier in die Augen trieben. „Wer weiß“, sagte ich, und ich hielt mit Bedacht meine Worte so vage wie möglich, „vielleicht kommen wir durch ihn ein Stückchen weiter. Du erinnerst dich daran, was ich von Habnicht erfahren habe: Dieser junge Mann hat bezeugt, am Montag zwischen vier und sechs mit seinem Freund Florian in einer Kneipe in der Stadt Bier getrunken zu haben. Davon hatte er mir nichts gesagt, und es wäre doch wohl der Mühe wert, wenn wir ihn dazu bringen könnten, das vor uns zu wiederholen.“ „Und ob das der Mühe wert ist!“ Sie griff sofort nach ihrer Handtasche. „Den Herrn werden wir uns kaufen.“ Sie konnte es kaum abwarten, daß ich die Rechnung beglich, und als ich ihr in den Mantel half, sagte sie: „Wenn ich dich vorhin richtig verstanden habe, dann gehört dieser Sebastian in die Kategorie der Sensiblen. Mit dem werde ich fertig. Auf solche Typen verstehe ich mich nämlich.“ So hatte ich denn, als wir das Café verließen und auf das Auto zusteuerten, Gelegenheit, mich über die außerordentliche Regenerationsfähigkeit ihrer Psyche zu wundern – oder, um es weniger zurückhaltend zu formulieren, über ihren nicht kleinzukriegenden Glauben daran, mit Männern allemal so umspringen zu können, wie sie es für richtig und für erfolgversprechend hielt.
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14. Wir hatten in zweifacher Hinsicht Glück: Zuerst fanden wir auf dem mit Autos geradezu gepflasterten Platz vor dem Verlagsgebäude sofort eine Stelle, auf der wir den Wagen parken konnten, und dann gelang es dem Pförtner, Sebastian Engel, der sich bereits auf dem Weg in die Kantine befand, telefonisch in die Eingangshalle umzudirigieren, wo wir auf einer kunstlederbezogenen Bank saßen, inmitten von Gummibäumen und ähnlichen pflegeleichtem Grünzeug und wimmelnden Menschen mit geschäftigen Gesichtern. Sebastian Engel, darüber informiert, daß ich ihn erwartete, und sicherlich schon wegen meines unverhofften Auftauchens beunruhigt, näherte sich mit zögerndem Schritt; als er dann aber nahe genug war, um die Frau an meiner Seite zu erkennen, stockte ihm der Fuß vollends, und auf seinem Gesicht stand das blanke Erstaunen. Ich bemerkte, nicht ohne Verständnis für seine Situation, welche Überwindung es ihn kostete, sich wieder in Gang zu setzen und die letzten Meter zurückzulegen, wobei er den Blick unverwandt auf Katharina gerichtet hielt, als könne er seinen Augen nicht trauen. Katharina studierte ihn auf dem letzten Stück seines Weges mit unverhohlener Neugier, und ich meinte ein abschätziges Lächeln in ihren Mundwinkeln zu sehen. „Ich glaube, Sie kennen die Dame schon“, sagte ich, als er vor uns stand, in Jeans und in einem Pullover, der eher originell als modisch wirkte mit seinem verwaschenen bizarren Muster und den hier und dort hervorlugenden losen Enden, und ich wunderte mich, daß mir die Worte, die auszusprechen mir noch vor zwei Stunden erhebliche Mühe bereitet hätten, so glatt von der Zunge gegangen waren. „Guten Tag“, erwiderte er mit belegter Stimme und 192
wußte nicht, ob er eine Hand zur Begrüßung vorstrecken sollte. „Guten Tag. Setzen Sie sich.“ Katharina deutete auf einen Platz links neben sich (so daß sie jetzt zwischen uns saß), und ohne viel Federlesens kam sie zur Sache. „Ich nehme an“, sagte sie, „Sie wissen, daß Jakob wieder zu Hause ist, falls man das so nennen kann, wenn einer in seiner Heimatstadt im Knast sitzt.“ „Ich habe davon gehört.“ Sebastian Engels Stimme war noch immer belegt, und er holte unter einer recht angestrengten Verrenkung der Gesäßpartie und der Schultern ein Zigarettenpäckchen und ein Feuerzeug aus der sehr engen Hosentasche, wohl um Zeit zur Einstellung auf die unerwartete Begegnung und die wahrscheinlich nicht minder unerwartete Frage zu gewinnen. Doch noch ehe er das Feuerzeug aufschnappen lassen konnte, hatte Katharina ihm bereits die nächste Frage gestellt. „Von wem?“ wollte sie wissen, nicht drängend, aber doch so bestimmt, daß dem jungen Mann wieder keine Zeit zum Überlegen blieb und er es erst recht nicht wagte, ausweichend zu antworten. „Von Ramona Paschotka“, sagte er denn auch prompt. „Und wann haben Sie es erfahren?“ „Sie hat heute morgen bei mir angerufen.“ „Und warum?“ „Jakob war doch … ist doch mein Freund, ich meine: unser Freund.“ „Und von wem wußte sie, daß Jakob wieder hier ist?“ „Ich nehme an, von der Polizei. Sie ist für heute morgen noch einmal hinbestellt worden.“ „Hat sie gleich danach mit Ihnen telefoniert?“ „So um zehn.“ „Gab es einen besonderen Grund dafür?“ „Ich weiß nicht … Aber wozu fragen Sie mich das alles?“ „Weil ich es wissen möchte.“ 193
Dieses Frage-und-Antwort-Spiel, das in Sekundenschnelle abgespult wurde, verschlug mir die Sprache. Ich konnte mir durchaus vorstellen, wie Sebastian Engel zumute sein mußte, ihm, der sich von der einzigen kurzen Begegnung mit Katharina in so bewundernden Worten über sie geäußert hatte und der sich jetzt durch sie einem harten Verhör ausgesetzt sah. Ich fühlte ein bißchen mit ihm und erinnerte mich daran, wie vorsichtig und unsicher ich vor zwei Tagen das Gespräch mit ihm geführt hatte (eigentlich hatte er es ja geführt, und ich hatte weitgehend nur auf ihn reagiert), so ganz ohne das, was man im Neudeutschen „drive“ nennt, und eine Spur von Neid auf Katharina in ihrer Selbstsicherheit mischte sich in das Mitgefühl, das ich Sebastian Engel entgegenbrachte. Ich beugte mich ein wenig vor, so daß ich an Katharina vorbei einen Blick auf ihn werfen konnte, und ich sah ihn dasitzen, ihr halb zugewandt, den Mund in ungläubigem Staunen leicht geöffnet, die Stirn gekraust und die unangezündete Zigarette in der einen Hand, in der anderen das Feuerzeug. Er schien ganz beherrscht von der Erwartung, daß der Fragenkatalog fortgesetzt würde. Und dieser Erwartung wurde dann auch entsprochen. Katharina beharrte auf der Beantwortung ihrer letzten Frage. „Hatte Ramona einen Grund, gleich heute früh anzurufen?“ Sein Unwissen und Gleichgültigkeit vorspiegelndes Achselzucken wirkte nicht überzeugend. Er sah mich an, als erwarte er Beistand von mir; doch ich ließ mich wieder gegen die Rückenlehne fallen und hörte ihn sagen: „Ich weiß es wirklich nicht.“ „Und sie hat Sie nicht instruiert, sich so oder so zu verhalten, jetzt, wo Jakob wieder im Land ist?“ Es folgte eine Pause, während der ich nur Sebastian Engels Atem hörte. „Kommen Sie, Sebastian, Sie wollen mir doch wohl 194
nicht erzählen, daß Ramona Sie angerufen und nur gemeldet hat: Jakob sitzt jetzt im Knast.“ Kaltblütig nutzte Katharina den doppelten Vorteil, unverhofft auf der Szene erschienen und auf einen jungen Mann gestoßen zu sein, der in seiner naiven Empfindsamkeit von einer so anziehenden Frau wahrscheinlich alles andere erwartet hatte als ein derartiges Schnellfeuer von gezielten Fragen. Meiner Bewunderung dafür gesellte sich allerdings auch die Besorgnis bei, sie könnte den Bogen überspannen und so am Ende nichts erreichen als trotziges Schweigen. Vielleicht würde Sebastian Engel einfach aufstehen und weggehen. Also glaubte ich, die Galoppade mit einer Einmischung ins Gespräch etwas zügeln zu müssen, damit der gewonnene Vorteil nicht verlorenging. Und ich fragte, mich vorbeugend: „Sicherlich haben Sie sich seit vorgestern weitere Gedanken darüber gemacht, wie Sie sich zu Jakob stellen sollen, wenn er wieder hier ist.“ Er sah mich dankbar an, dafür, daß ich ihm eine Atempause verschaffen wollte, und seine Miene entspannte sich. Doch noch bevor er den Mund zu einer Antwort auftun konnte, fuhr mir Katharina in die Parade. Man solle sich nicht, meinte sie lapidar, in Allgemeinheiten ergehen, wenn man Gelegenheit habe, sich über Konkretes auszusprechen. Und der Ton, in dem sie das vortrug, signalisierte deutlich: Jetzt bin ich dran! Sebastian Engel war so verblüfft, daß er nur ergeben nicken konnte. Und er bat, sie möge die letzte Frage noch einmal stellen, da er vergessen habe, welche Auskunft von ihm gefordert worden sei. Und Katharina, die anscheinend spürte, daß er im Begriff war, alles Störrische vollends abzulegen, fragte noch einmal, diesmal jedoch nicht distanziert und sachlich, sondern verständnisvoll, fast charmant, was Ramona Paschotka ihm in bezug auf sein weiteres Verhalten gesagt habe, und sie versuchte, ihm sogar die Antwort in den Mund zu legen, 195
indem sie fortfuhr: „Hat Sie Ihnen vielleicht empfohlen, auf jeden Fall bei der Aussage zu bleiben, daß Sie und Ihr Freund am Montag zwischen vier und sechs beieinandergesessen haben?“ „Sie klang sehr besorgt.“ Noch einmal wollte Sebastian Engel ausweichen. Aber Katharina ließ keine Verzögerung mehr zu und drängte: „Was genau hat sie gesagt?“ „Daß nichts verloren ist, wenn wir bei unserer Aussage bleiben.“ Ich merkte deutlich, wie schwer es ihm fiel, dieses halbe Eingeständnis einer Verabredung zu einer Aussage über die Lippen zu bringen, und seine Worte wirkten auf mich wie ein Stromstoß. Das Kribbeln, das mir von den Füßen wieder einmal beinaufwärts kroch, signalisierte mir, noch ehe mein Denken sich völlig auf die neue Situation eingestellt hatte, daß wir an einem entscheidenden Punkt angelangt waren. „Also doch Florian Schmidt!“ rief ich. Das war das einzige, was mir in diesem Moment einfiel. Katharina wandte mir das Gesicht zu und bedachte mich mit einem schnellen, verärgerten Blick, ehe sie den jungen Mann fragte: „Nicht wahr, Sebastian, Sie haben sich gar nicht mit Florian getroffen. Sie haben sich …“ „Florian ist mein Freund.“ Die hastig eingeworfene erneute Freundschaftsbeteuerung kam sehr leise, und der nächste Satz sank ins Flüstern ab: „Jakob hat alles durcheinandergebracht. Alles!“ Ich schloß die Augen und genoß das Gefühl der Erleichterung, das mich überflutete. „Sie haben also Gretel König aus dem Weg geräumt, weil sie glaubten, sie sei der Anlaß für das Ende ihrer freundschaftlichen Harmonie.“ Was ist in Katharina gefahren! Ich riß die Augen auf. „Ich? Ich!“ Sebastian Engels Stimme erstickte. Er sprang auf, legte hastig ein, zwei Meter Distanz zwischen 196
sich und uns und stand wie angewurzelt, den Kopf nach allen Seiten wendend, als suche er einen Fluchtweg. Einige Vorübergehende blickten, verwundert über sein seltsames Gebaren, in unsere Richtung. „Oder war es so, daß Sie Gretel umgebracht haben, weil Sie nicht bei ihr landen konnten?“ Katharina sah mich aus kalten, leeren Augen an. „Du hast mir doch von dieser komischen Nummer erzählt, die er abgezogen hat: Der Freund von Romeo liebt Julia.“ „Ja, aber …“ Es gelang mir nicht, meine Gedanken so weit zu sammeln, daß ich einen Satz zusammenbekam. Sie ließ sofort von mir ab, wohl weil mein törichter Gesichtsausdruck ihr verriet, daß mit meiner Unterstützung vorerst nicht zu rechnen sei. „Antworten Sie!“ forderte sie Sebastian Engel barsch auf. Der war zu sehr außer sich, als daß er auf die Verdächtigungen Katharinas hätte reagieren können; mir schien sogar, als sei die Anrede überhaupt nicht in sein Bewußtsein gedrungen. Dann trat er plötzlich mit unsicherem Schritt auf mich zu. „Sie kennen mich doch, Herr Professor …“ Er blickte mich hilfesuchend an und ließ sich dann zu meiner Rechten auf die Bank fallen, so daß ich nun zwischen ihm und Katharina saß. „Sagen Sie der Dame, wer ich bin und daß ich …“ Er bewegte zwar noch die Lippen, brachte aber keinen Ton mehr heraus. „Ich kann mir ein ziemlich genaues Bild von Ihnen machen“, hörte ich Katharina sagen, während ich noch Sebastian Engel zugewandt war. „Und weil ich das kann, sollten Sie nicht länger Ausflüchte suchen. Ich will jetzt wissen, was geschehen ist, am Montag und an den folgenden Tagen. Und Sie werden es mir erzählen.“ Sein Blick war noch immer auf mich gerichtet, jetzt geradezu flehend. „Katharina“, sagte ich, „so kommen wir nicht weiter. Du kannst doch nicht …“ 197
„Ich weiß selber, was ich kann und was ich will.“ Ihre Entgegnung klang äußerst entschlossen, kalt, und ich konnte nicht glauben, daß das dieselbe Frau war, die ich liebenswert gefunden und um deren Verlust ich mich so sehr gegrämt hatte. Sie wandte sich Sebastian Engel nicht einmal zu, als sie ihm ohne jegliche Emotion in der Stimme weiter zusetzte. „Hören Sie auf zu lügen.“ Sie blickte geradeaus, wo hinter dem bis zum Boden reichenden Fenster der Autoverkehr vorüberflutete und Passanten durch einen plötzlichen niederprasselnden Regen hasteten. „Erzählen Sie.“ Alles in mir sträubte sich gegen diesen Ton, gegen diese Methode, einen Menschen zu behandeln. Ich sah nur Sebastian Engels weit aufgerissene Augen in dem hageren, kantigen Gesicht, und ich registrierte, wie sich von seiner schweißnassen Stirn ein Tropfen löste und den Nasenrücken hinunterrann, ohne daß er Anstalten machte, ihn wegzuwischen. Mitleid mit dem jungen Mann, den ich schon als Kind gekannt hatte und der mir immer sympathisch gewesen war, beherrschte mich und der Wunsch, diese Begegnung möchte bald ein Ende haben. „Ich weiß nicht, was geschehen ist.“ Ein letzter, nicht mehr ernst zu nehmender Rest von Trotz lag in dem Satz. „Sie wissen aber, wer Sie aufgefordert hat, diese Aussage zu machen.“ Katharina blickte noch immer durch das Fensterglas auf die Straße. Ihr Körper schien gespannt zu sein wie eine zusammengedrückte Feder. „Das war Florian.“ Er hatte offensichtlich alle Gegenwehr aufgegeben, saß vornübergebeugt und versuchte vergebens, mit den Händen einen Halt an dem Kunstlederbezug der Bank zu finden. „Aber glauben Sie mir: Ich habe nichts mit Gretels Tod zu tun.“ „Wann?“ Das Wort knallte wie ein Schuß. „Am Dienstagmorgen.“ 198
Jetzt war Katharina wie ausgewechselt. Ich hörte, wie sie durchatmete, erleichtert, wie nach dem Abwurf einer schweren Last. Ihre Spannung wich, sie ging an mir vorüber und setzte sich neben Sebastian Engel. „Ich habe Sie nicht gedrängt, um Sie zu quälen“, sagte sie so sanft, daß ich schon befürchtete, sie würde den jungen Mann im nächsten Augenblick in den Arm nehmen, um ihn zu trösten. „Und nun reden Sie sich alles von der Seele, und Ihnen wird wohler.“ Das hätte auch der Hirte Schöbel zu einem seiner Schafe sagen können, dachte ich unwillkürlich, während Sebastian Engel zu sprechen anfing, und dieser unzeitige, so gar nicht zum Ernst der Stunde passende Gedanke war nichts als ein Reflex meiner überstrapazierten Nerven. Denn jetzt, da eine entscheidende Enthüllung bevorstand, füllte sich das durch den Sog von Bangen und Hoffen, auch von Verwirrung und Enttäuschungen entstandene Vakuum, in dem ich mich tagelang befunden hatte, mit ganz normaler Luft, in der es sich wieder beschwerdefrei atmen ließ und in der natürlich auch wieder Gedanken und Vergleiche sich einstellten, die nicht unbedingt schicksalsschwangeren Ursprungs waren. Und dementsprechend gelassener, wenn auch noch nicht gänzlich gelöst, hörte ich Sebastian Engel zu und fand dabei noch Gelegenheit, mich über den Portier in seinem Glaskasten zu amüsieren, der, ganz Verkörperung der ihm aufgetragenen Wachsamkeit, ein mißtrauisches Auge auf uns hatte und immer dann, um den Schein des Unbeteiligtseins zu wahren, beiseite guckte, wenn ich ihn fixierte. Das Geständnis (oder sollte man seinen Bericht eher eine Beichte nennen?), das Sebastian Engel vor der aufmerksam und unbewegten Gesichts zuhörenden Katharina ablegte, bot nichts Überraschendes: Am Dienstagvormittag hatte Florian ihn in der Redaktion aufgesucht und ihn gebeten, er möge, wenn er gefragt werden sollte, 199
behaupten, sie seien am Montag zwischen vier und sechs Uhr beisammen gewesen. „Es handele sich, sagte er, um eine Streiterei mit Ramona. Die sei wieder mal eifersüchtig, überhaupt habe er ihre klettenhafte Anhänglichkeit allmählich satt. Er könne keinen Schritt tun, ohne von ihr kontrolliert zu werden.“ „Und diese Lüge haben Sie dann der Polizei aufgetischt, nachdem am Mittwoch ans Licht kam, daß Gretel König gerade um diese Zeit ermordet worden ist“, stellte Katharina fest, noch immer erstaunlich mild, wenn auch bereits ein Ansatz von Verärgerung in ihrer Stimme schwang. „Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?“ „Ich hatte ihm doch ein Versprechen gegeben.“ „Auch für den Fall, daß damit ein Verbrechen gedeckt werden sollte?“ Jetzt wurde ganz deutlich, daß sie Mühe hatte, den freundlicheren Umgang mit dem jungen Mann aufrechtzuerhalten. Sebastian Engel antwortete nicht sogleich; er zündete sich endlich die Zigarette an, die er noch immer in der Hand hielt, und machte unkonzentriert ein paar tiefe Züge. „Ich weiß, ich hätte das nicht tun sollen. Es war ein Fehler.“ „Einen Fehler nennen Sie das also.“ Katharinas Stimme war bedrohlich leise, und Sebastian Engel wußte dem Satz nicht anders zu begegnen, als noch einmal die bei ihm stets parat liegende Floskel von der Freundschaft, die man nicht enttäuschen dürfe, anzubringen. „Und Jakob? Ist er nicht auch Ihr Freund?“ „Aber er hat doch alles kaputt gemacht!“ Dieser wiederholte Rechtfertigungsversuch, der nichts offenbarte als eine erstaunliche Infantilität dieses anscheinend sonst sensiblen und intelligenten jungen Menschen, wurde so kläglich vorgebracht, daß ich befürchtete, er könne in Tränen ausbrechen, und mir wünschte, Katharina möchte das nutzlos gewordene Gespräch beenden. 200
Wir hatten einen wichtigen Umstand erfahren; den Rest sollte die Polizei erledigen. Daß sich in mir noch immer keine Empörung über das zumindest dumme, wenn nicht gar boshafte Verhalten Sebastian Engels entwickelte, war nur durch die plötzliche Lösung der Spannung zu erklären. Katharina aber dachte nicht daran, von ihm abzulassen; in ihre Lust zur Ergründung seines Charakters schien sich ein ständig wachsender Zorn über sein Tun zu mischen. Und diese Mischung trieb sie zu immer neuen und immer schärfer gestellten Fragen. „Und es war Ihnen gleichgültig, ob Jakob durch ihre Mithilfe in Mordverdacht geriet?“ „Ich konnte doch nicht wissen, ob er nicht wirklich der Mörder ist. Die Flucht und all das …“ „All was?“ „Daß er mit Gretel Schluß machen wollte und so.“ „Aber jetzt wissen Sie, daß er den Mord nicht begangen hat?“ „Nein. Ich kann es mir nur nicht vorstellen.“ „Aber von Florian können Sie es sich vorstellen?“ Sebastian Engel zögerte, ehe er dann sagte: „Jetzt ja. Wenn es mir auch schwerfällt.“ „Und warum können Sie es sich jetzt vorstellen?“ „Weil er von mir sein Alibi für den Montagnachmittag bestätigt haben wollte.“ „Sie wußten noch nicht, daß Gretel König tot war, als Florian Sie am Dienstagmorgen um dieses Alibi gebeten hat?“ Erschrocken bewegte er den Oberkörper ein Stück zur Seite, als müsse er einem Schlag ausweichen. „Ich?“ „Ja oder nein?“ „Natürlich nicht.“ „Und was hatten Sie am Mittwochabend zu besprechen mit Ramona und Florian, ehe Professor Maul zu Ihnen gekommen ist?“ 201
„Die beiden haben berichtet, daß Gretel am Morgen tot aufgefunden wurde.“ Er stockte. „Und weiter?“ „Sie haben mich gebeten, ich sollte, wenn ich gefragt werde, bei dem bleiben, was ich mit Florian verabredet hatte. Florian hat gesagt, es wäre allgemein bekannt, daß er und Jakob wegen Gretel verfeindet sind. Und Jakob würde, wenn man ihn verhaftete, das Ganze so drehen, daß es aussieht, als ob er, Florian, sich an ihm hätte rächen wollen.“ „Haben Sie denn nicht gefragt, ob sie mit dem Mord auch wirklich nichts zu tun hatten?“ „Das haben sie mir gleich gesagt, ohne daß ich zu fragen brauchte. Ramona hat mir versichert, daß Florian unschuldig ist und daß er nur für eine halbe Stunde mit ihr und Gretel im ‚Schloßkrug‘ gewesen wäre. Es ginge nur darum, ihn nicht unnötig einem Verdacht auszusetzen.“ Katharina schüttelte den Kopf angesichts von so viel vorgeblicher Einfalt. „Das alles ist schwer zu glauben“, sagte sie. „Sie sind sich doch im klaren darüber, daß Sie die Geschichte der Polizei vortragen müssen.“ Sebastian Engel nickte, senkte dann den Kopf. „Übrigens“, fragte sie noch, „wann haben Sie denn Florian diesen miesen Freundschaftsdienst erwiesen?“ Und als er nicht gleich begriff, erläuterte sie: „Wann haben Sie die Polizei belogen?“ „Gestern morgen. Da ist einer von der Kripo bei uns zu Hause aufgetaucht, so ein jüngerer Mann. Noch ehe ich in den Verlag gefahren bin.“ Ich konnte mir lebhaft vorstellen, was für einen Wirbel das Erscheinen eines Kriminalisten – zumal wenn es Feder mit seiner pomadigen Art gewesen sein sollte – bei den Engels ausgelöst hatte. Katharina schwieg, und ich hoffte schon, sie würde sich nun, da der Sachverhalt geklärt war, zufriedengeben; doch als ich sie ansah, stand tiefe Nachdenklichkeit 202
in ihrem Gesicht. Offensichtlich beschäftigte sie irgend etwas, worauf die keine Antwort fand. Dann sagte sie, mehr zu sich selbst: „Wenn man nur wüßte, wo dieser Florian die drei Stunden wirklich zugebracht hat?“ „Was meinst du damit?“ Ich verstand partout nicht, worauf sie hinauswollte. „Wenn er Gretel König umgebracht hat, wird er bei ihr gewesen sein.“ „Allein? Ramona Paschotka hat doch ausgesagt, sie habe noch eine Flasche Wein mit Gretel getrunken.“ „Drei Flaschen, behauptet Habnicht.“ „Eben – drei. Ist es vorstellbar, daß die Mädchen drei Flaschen getrunken haben, in ungefähr einer Stunde? Und nachdem sie bereits eine Flasche im Lokal geleert hatten?“ „Vielleicht waren sie zu dritt. Oder …“ Mir kam eine neue Idee. „Und wenn Florian die ganze Zeit über allein mit Gretel gewesen wäre und Ramona hätte ihre Geschichte nur erfunden, um ihn zu schützen? Sie scheint ihn doch sehr zu lieben, und da ist es doch nicht unmöglich …“ „Allein bei ihr. Ja“, sagte Katharina, fiel aber sofort wieder in nachdenkliches Schweigen, indes Sebastian Engel dasaß, als erwarte er von einem von uns die Erlaubnis, sich zu entfernen, oder Anweisung darüber, was er als nächstes zu tun habe. Als sie ihn nach ungefähr einer halben Minute noch einmal ansprach, zuckte er zusammen. „Wissen Sie, ob Florian davon Kenntnis hatte, daß Jakob sich von Gretel trennen wollte?“ „Ich habe dem Herrn Professor schon gesagt, daß er es von mir nicht erfahren hat.“ „Aber Ramona Paschotka wußte davon“, warf ich ein. „Warum hast du mir das nicht schon früher gesagt?“ fuhr Katharina mich an, und ich bemerkte an ihr eine Unruhe, die ich mir nicht erklären konnte. Sie blickte 203
erst mich an, dann Sebastian Engel, als sei sie sich unschlüssig, an wen sie das Wort richten sollte, und schwieg dann doch. „Ich habe es eben vergessen. Und ist das denn jetzt noch so wichtig?“ „Von wem wohl konnte sie das wissen?“ „Natürlich von Gretel König selber.“ Wir verlieren uns in Nebensächlichkeiten, dachte ich. „Ramona behauptete, Gretel sei nicht die Dezenteste gewesen und habe überall herumerzählt, sie werde Jakob den Abschied nicht leicht machen.“ „Dann könnten es also noch andere gewußt haben, alle, die …“ Sie beendete den Satz nicht und vollführte mit der Hand eine Bewegung, als versuche sie etwas Naheliegendes zu greifen. „Also: Florian, Doktor Kümmerer, Doktor Klein – eben alle.“ „Und vergiß Ramona nicht.“ „Natürlich auch Ramona, die hat es dir ja gesagt.“ Und sie wandte sich, noch immer in nachdenklichem Ton, an Sebastian Engel: „Hat Ihnen Florian einmal erklärt – oder auch nur angedeutet, er habe die Absicht, zu Gretel König zurückzugehen?“ „Nein, ganz gewiß nicht, da bin ich sicher.“ Das kam wie aus der Pistole geschossen. „Und warum sind Sie da so sicher?“ „Weil er … Er hielt mich eben nicht für kompetent in solchen Dingen“, erwiderte er, und dabei blickte er drein, als habe er etwas Ehrenrühriges über sich offenbart. Nun glaubte ich zu begreifen, in welche Richtung Katharinas Gedanken sich bewegten: Wenn Florian zu Gretel König gegangen war, nachdem Ramona sich in ihr Appartement zurückgezogen hatte, und er hatte sie gebeten, sich wieder ihm zuzuwenden, und einen Korb bekommen … Die Rage, der gekränkte Stolz, die unglückliche Eigenschaft, nicht verlieren zu können – das zusammengenommen ergab ein explosives Gefühls204
gemisch, das sich durchaus in einer Kurzschlußhandlung entladen konnte. Vielleicht hatte Gretel diesen Dr. Kümmerer Florian vorgezogen, den sie doch offensichtlich für später erwartete, und ihm das womöglich auch zu verstehen gegeben. Wenn man das annahm, ergab sich auch ein Motiv für Kümmerers Besuch. Das Fazit aus alledem konnte nur lauten: Florian Schmidt war der Mörder. Oder? Gesetzt einmal den Fall, es hätte sich umgekehrt verhalten und Gretel hätte Florian den Vorzug gegeben und Kümmerer abblitzen lassen: Wäre es dann nicht doch denkbar, daß Kümmerer die Nerven verloren hatte, als er später bei ihr vorsprach? Schließlich konnte auch der keine Mißerfolge verdauen, wie ich von Dr. Klein wußte … Katharinas Worte: „Ich begleite jetzt Sebastian zu Hauptmann Habnicht“, rissen mich aus dem Rundlauf der Gedanken. Sie stand vor mir und machte eine energische Kopfbewegung in Richtung des jungen Mannes. „Kommen Sie.“ „Sie trauen mir wohl nicht zu“, wagte der einzuwenden, „daß ich allein dahin gehe und die Wahrheit sage?“ Sie sah ihn an wie eine Mutter ihren ihr widersprechenden Sohn und bestimmte: „Ich gehe mit!“ Und sie achtete nicht auf ihn, als er halblaut maulte, er sei jedenfalls kein Feigling. „Und ich?“ Mich schien sie in ihre Pläne nicht einbezogen zu haben. „Soll ich etwa hier auf dich warten? Ich könnte euch doch zu Habnicht fahren.“ „Das lohnt sich bei der kurzen Strecke nicht. Fahr lieber zu deinem Doktor Klein. Schließlich bist du mit ihm verabredet!“ „Und wann und wo sehen wir uns wieder?“ „Ich melde mich.“ Das sagte sie, als sie mir schon halb den Rücken zugewandt hatte, und dann verließ sie so eilig die Halle, daß Sebastian Engel ihr kaum zu folgen vermochte. 205
15. Ich saß noch eine Weile da, ohne einen Gedanken fassen zu können. Weder spürte ich Befriedigung darüber, daß Florian, dieser arrogante Flegel, oder Kümmerer, der nicht minder unsympathische Kerl, wahrscheinlich des Mordes überführt werden würden, noch machte mich die mich jetzt bedrängende Vorstellung, bald wieder mit Jakob unter einem Dach zu wohnen, recht froh. Daß er wieder frei, daß er von dem Makel des Mordverdachts gereinigt sein würde, ja, das erleichterte mich. Aber ich wußte nicht, wie ich ihm begegnen sollte, nach allem. Also rettete ich mich vorerst für ein paar Minuten in Gedankenleere, bis sich dann die Verpflichtung, Dr. Klein einen Besuch abstatten zu müssen, wieder meldete. Die Aussicht, mich noch einmal dem sächsischen Wortgeriesel aussetzen zu müssen, hob indes nicht gerade mein Wohlbefinden. Zudem verspürte ich, als sich mein Kopf wieder mit der Welt zu beschäftigen begann, einen gehörigen Appetit, und ich beschloß, erst einmal ein Restaurant aufzusuchen, um mich für die Begegnung mit Klein zu stärken. Sicherlich stand im Hintergrund dieses Entschlusses die Hoffnung, ich könnte mich so lange in einem Lokal aufhalten, daß es zu spät wäre, noch ins Krankenhaus zu fahren. Ich vergewisserte mich auf meiner Uhr: es ging schon auf zwei zu. Worüber auch sollte ich mit dem Mann sprechen, jetzt noch, da sich alles zu entdröseln begann? Gestern abend hätte eine Unterhaltung mit ihm möglicherweise von Nutzen sein, hätte sie vielleicht Aufschlüsse vermitteln können. Aber heute? Erst als ich vor dem Eingang stand, merkte ich, daß ich automatisch die Bierstube angesteuert hatte, in der ich am vergangenen Abend zu Gast gewesen war, und die Erinnerung an die selbstquälerischen, in Betrunkenheit mündenden Grübeleien und Zweifel, die mich hier 206
heimgesucht hatten, ließen mich zögern einzutreten. Aber ich schob meine Bedenken beiseite, indem ich mir einredete, ich sei gefeit gegen den üblen Genius loci. Kaum jedoch hatte ich an dem nämlichen Tisch Platz genommen (denn wieder war, wie mir zum Possen, nur dieser eine Stuhl frei, und wieder führten drei robuste Männer ein reichlich lautes Gespräch), überfiel mich mit Ungestüm die Erinnerung an das Unbehagen, dem ich ausgesetzt gewesen war. Vergebens versuchte ich, mich in meine alltägliche Sphäre zu retten, mir etwa vorzustellen, wie demnächst die wissenschaftliche Konferenz über die Hanse ablaufen könnte, auf deren Planung ich bereits so viel Zeit verwandt hatte; denn ich mußte mich ja allmählich mit dem Gedanken anfreunden, wieder einer geregelten und qualifizierten Tätigkeit nachzugehen, anstatt wie ein wild gewordener Reporter Leute zu interviewen. Immer wieder driftete ich ab, sah mich als das Häufchen Elend und wahrscheinlich viel ramponierter, als ich tatsächlich gewesen, vor meinem Bier sitzen, und mit dem Bild kam alles wieder herauf, was mich so sehr bedrückt und geängstigt hatte. Es half nicht im mindesten, daß ich wütend auf mich selber wurde; schließlich resignierte ich und bequemte mich zu der Einsicht, daß das Ende einer so engen und so langen Freundschaft zwar gedanklich einigermaßen schnell aus der Welt zu bringen war, daß Gefühle jedoch träger, lastender und auch belastender sind, und ich ahnte etwas von der sehr wenig verlockenden Aussicht, daß ich noch für eine geraume Zeit mit den Wellen zu kämpfen haben würde, die das Ende der Affäre mit Katharina aufgeworfen hatten. „So was bleibt nicht in den Kleidern hängen“, pflegte meine Mutter zu sagen, wenn ihr etwas das Herz schwer gemacht hatte, und die Wahrheit des Spruchs spürte ich jetzt und hier. Als der Kellner mit gezücktem Kugelschreiber an meinen Tisch trat, um meine Bestellung aufzunehmen, 207
sah ich ihn nur dumm an. Ich stand hastig auf, sagte: „Danke, ich habe es mir anders überlegt“, und ich machte meinen zweiten unrühmlichen Abgang aus dem Lokal. Da ich einer von den Autofahrern bin, die sich nie so recht an die verfügbaren PS gewöhnen, ja sogar Angst vor ihnen habe, weil ich nicht genau weiß, wie sie entstehen und ob zum Beispiel die Bremsen wirklich den Wagen zum Halten bringen, wenn es erforderlich ist, steuerte ich auch an diesem Tag vorsichtig und überkonzentriert mein Gefährt durch den lebhaften Verkehr. Das lenkte mich wenigstens ab von der Misere, die mich einzuholen drohte. Ich würde im „Schloßkrug“ etwas essen, hatte ich beschlossen; von dort waren es nur ein paar Schritte zum Krankenhaus – für den Fall, daß ich doch noch Lust verspüren sollte, mit Dr. Klein zu sprechen. Da ließ es sich gut sein, das wußte ich von vielen Spaziergängen, die dort ihr Ziel gefunden hatten, da gab es eine gute Küche („Hausmannskost“, sagte man früher), und da konnte ich ein paar Biere trinken, den Mazda stehenlassen und zu Fuß nach Hause gehen. Aber auch im „Schloßkrug“, wo ich eine dreiviertel Stunde später saß, unter Papiergirlanden, die möglicherweise von einer Faschingsfete hängengeblieben oder für eine kommende Festivität dieser Art angebracht worden waren (weil ja die Menschheit von einem Aschermittwoch nichts mehr wissen will), auch im „Schloßkrug“ also befiel mich Beklemmung, kaum daß ich Platz genommen und statt des Biers eine Flasche Weißwein vom Balaton bestellt hatte, weil mit einemmal ein Heißhunger auf Forelle in mir wach geworden war und weil sich Bier und Forelle nach Müllerin-Art nicht vertragen. Jetzt stellte ich, zwanghaft und ohne zu wissen, wie ich dem hätte abhelfen sollen, Vermutungen darüber an, wo wohl an dem verhängnisvollen Montag die drei jungen Leute um die Mittagszeit geses208
sen haben mochten. Ich tastete die Tische mit Blicken ab und meinte mich am Ende für den Tisch entscheiden zu müssen, der in meiner Blickrichtung lag und der mit einem eisernen und mit Topfblumen behangenen Raumteiler vom übrigen Lokal abgetrennt war. Das, dachte ich, während ich nach einem kräftigen Schluck gegen den Durst nur noch am Glas nippte, ist wohl der Platz für die Stammgäste. Und Stammgäste werden möglicherweise die beiden jungen Frauen gewesen sein. Wie mochten sie sich gruppiert haben – Gretel König, die ich nur von einem Foto her kannte und die mich doch einige Tage lang mehr beschäftigt hatte als viele mir engbefreundete Menschen, Ramona, dieses äußerlich so robust wirkende und doch, wie ich erfahren hatte, so verletzliche Wesen, und Florian, der Mörder, der Flegel, der Mann, der nicht verlieren konnte? Hatten Ramona und Florian nebeneinander auf der Polsterbank gesessen und Gretel ihnen gegenüber? Oder die beiden Mädchen auf der Bank und Florian an der Stirnseite des Tischs? Keiner von ihnen hatte wohl gewußt, daß es ihr letztes Beisammensein zu dritt war. Oder wußte es Florian, wenn er denn der Mörder war, doch? Hatte er schon geplant, Gretel König umzubringen? Und worüber mögen sie gesprochen haben? Etwa über Jakobs Entscheidung, Gretel zu verlassen? Es soll fröhlich zugegangen sein, das wußte ich von Ramona, so fröhlich, daß die beiden jungen Damen anschließend noch mit einer Flasche Wein (Habnicht sagte: mit drei Flaschen) in Gretels Appartement gezogen sind. Nur die beiden? Nicht auch Florian? Und ein paar Stunden später war eine von ihnen tot, hatte aufgehört zu existieren, zu atmen, weil ihr ein anderer zu lange ein Kissen aufs Gesicht gedrückt hatte. Hör auf! rief ich mich zur Ordnung, du machst dich verrückt! Aber die einmal in Gang gesetzte Vorstellungskraft ließ sich nicht bremsen und hakte sich an 209
dem Problem fest, daß ein junger Mensch – gesund, lebenslustig (zu lebenslustig, meinte Frau Fink, die Hausbesorgerin), offensichtlich auch gescheit und attraktiv – plötzlich nicht mehr da war. „Wir wissen alle vom Tod, aber wir glauben nicht an ihn“, hat einmal jemand gesagt, vielleicht Pascal oder Kirkegaard oder Freud oder sonstwer – ich erinnerte mich nicht. Genauso ging es mir, ich scheute den Tod, scheute schon seine Erwähnung; er kam mir fremd vor, feindlich. Wie auch hätte ich, ein Lebender, in die eigene Negation hineinfinden können? Ich war immer erschrocken, wenn einer, mit dem ich womöglich vor kurzem noch zu tun gehabt, mit dem ich Worte gewechselt hatte, von einem Tag auf den anderen nicht mehr da war. Wie mein jüngerer Kollege Kanter zum Beispiel, ein Mann in der Blüte seiner Jahre, wie man so sagt, der vor einem halben Jahr auf der Autobahn gegen einen Brückenpfeiler gefahren war. Oder wie Florian Schmidts Mutter – niemand hatte gedacht, daß plötzlich ihr Leben zu Ende sein sollte, viel zu früh. Aber dergleichen Fälle waren ja – wenn man das Wort in diesem Zusammenhang überhaupt benutzen durfte – erträglich, jedenfalls nicht vergleichbar mit dem Tod der Gretel König. Da handelte es sich um Mord, und Mord kannte ich aus Zeitungen, aus den Nachrichten, aus mehr oder weniger unterhaltsamen Büchlein und Spielchen. Und natürlich auch von Leuten wie Shakespeare; ich hatte als Student einmal die Personen gezählt, die in seinem „Titus Andronicus“ auf offener Bühne gemeuchelt werden, und war allein bei den Hauptfiguren auf mehr als zwanzig gekommen … Bei allem hatte ich keinen Gedanken daran verschwendet, ich könnte mit Mord einmal sozusagen „live“ in Berührung kommen. „Einmal Müllerin“, annoncierte der Kellner, indem er mit gebremstem Schwung den großen Teller mit dem Hauptgericht und einen kleinen mit der obligaten Roh210
kost vor mich hinstellte. „Guten Appetit, der Herr“, sagte er und ließ ein professionelles Lächeln sehen. Nun hatte ich, Gott sei Dank, vorerst damit zu tun, die Forelle so zu zerlegen, daß die Mittelgräte möglichst vollständig vom Fleisch getrennt wurde. Und nachdem ich zu essen angefangen hatte, fiel mir zu dem Tisch hinter dem Raumteiler nichts weiter ein, als daß er ein Tisch war, sonst nichts. Der Hirnqualm schien mit einemmal wie weggeblasen, der Hunger verlangte sein Recht, und da der Fisch – wenn man davon absah, daß er nur lauwarm war – einen angenehm unaufdringlichen und durch Dill in Richtung auf Natur und gesunde Bekömmlichkeit gelenkten Geschmack hatte, wurde auch der Gaumen befriedigt. Ich war dabei, die Reste vom Skelett abzusammeln und eine verirrte Gräte aus den Zähnen zu ziehen, als mir Dr. Kümmerer ins Blickfeld geriet, wie er den als Windfang dienenden grünen Lodenvorhang beiseite schlug. Auch er sah mich sofort und schien sich einen Augenblick darüber unschlüssig zu sein, ob er meine Anwesenheit mit einem Rückzug quittieren sollte oder nicht. Dann aber trat er doch in den Raum und steuerte ohne Zögern auf den Tisch zu, an dem ich saß. Ich registrierte den Vorgang mit leichtem Grauen, denn jeden anderen eher als ihn hätte ich mir jetzt zum Gesprächspartner gewünscht. Zu stark blockierten die Erinnerung an das zweimalige Zusammentreffen mit ihm und der Gedanke, daß er vielleicht der Mörder war, jeden möglichen Ansatz von Sympathie oder auch nur von Duldung. Schon seine Erscheinung – das Kreuz durchgedrückt, so daß der Eindruck erweckt wurde, er balanciere eine unsichtbare Last auf dem Kopf, das Kinn so hoch wie möglich gereckt, eine schwarze Aktentasche an einem steifen linken Arm – brachte mich dazu, das Fischbesteck fallen zu lassen. 211
Er blieb in gebührendem Abstand von mir stehen und sagte forsch, als habe er die Formel zuvor einstudiert: „Ich muß mich wohl bei Ihnen entschuldigen, Herr Professor.“ „Wofür?“ Mehr fiel mir zu dieser überfallartigen Eröffnung nicht ein. „Na ja, Sie wissen schon.“ Er trat näher, zog den Reißverschluß seiner dreiviertellangen Wildlederjacke energischer als nötig herunter, quälte sich aus dem Webpelzfutter, warf das Kleidungsstück auf den dritten Stuhl am Tisch und nahm mit einem „Sie gestatten doch?“ mir gegenüber Platz, noch ehe ich protestieren konnte. Er legte die Hände in Gebetshaltung gegeneinander, stützte das Kinn auf die Daumen und sah eine Weile haarscharf über meinen Scheitel hinweg. „Ich war unbeherrscht Ihnen gegenüber“, sagte er schließlich, als vermelde er eine Neuigkeit, „ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist.“ „Vielleicht hat Sie Ihr schlechtes Gewissen dazu gebracht.“ Da war ich denn soeben erst von den Fragen um den Tod von Gretel König losgekommen – und nun trat dieser Mann hinzu, überaus selbstbewußt (um seine Schwäche zu überspielen, wie ich mir gar zu gern eingeredet hätte) und zu allem anderen eher berechtigt, als sich an meinen Tisch zu setzen, und gefährdete im Nu mein geistiges Gleichgewicht aufs neue. „Vielleicht auch das schlechte Gewissen“, gab er mit Nußknackerlächeln zu. „Aber mir liegt wirklich viel daran, daß Sie mich nicht in unangenehmer Erinnerung behalten.“ Daran liegt mir überhaupt nichts, hätte ich ihm ehrlicherweise entgegenhalten sollen; doch ich war zu sehr erstaunt, fühlte mich zu sehr überrumpelt, als daß mir die richtigen Worte eingefallen wären. Statt dessen erwiderte ich nichts und tat so, als sei ich ganz damit beschäftigt, das Glas noch einmal vollzugießen. 212
Dr. Kümmerer jedoch ließ sich von meinem Schweigen nicht abschrecken; er strich sich den akkurat geschnittenen Schnurrbart und sagte unbeschwert, als habe er nie ein unfreundliches Wort, geschweige denn handfeste Verleumdungen und Verdächtigungen gegen Jakob über die Lippen gebracht: „Nun scheint ja Ihr Filius das Gröbste hinter sich gebracht zu haben.“ Das trieb mir die Wut in den Hals. „Was erlauben Sie sich!“ erwiderte ich scharf. „Kümmern Sie sich gefälligst um Ihre eigenen Angelegenheiten.“ Einerseits fühlte ich mich wohl, weil ich Dampf hatte ablassen können; doch gleichzeitig bedauerte ich, mich dadurch um die Erläuterung seiner ziemlich vagen Anspielung gebracht zu haben. „Das tu’ ich ohnehin.“ Gelassen präsentierte er mir unausgesetzt sein Lächeln, und ich hatte wieder einmal Gelegenheit, mich davon zu überzeugen, daß preußische Korrektheit und Unverschämtheit Hand in Hand gehen können. „Und wenn es jedermann so gründlich täte wie ich, wäre mehr Ordnung in der Welt.“ Noch aufgebrachter über die Arroganz, die mir hier entgegenschlug, und kaum mehr imstande, meine Wut zu zügeln, zischte ich ihm entgegen: „Es ist jammerschade, daß Sie noch immer frei herumlaufen.“ „Ich kann Ihnen nachfühlen, daß Sie so denken.“ Nun begann seine Selbstsicherheit doch ein wenig zu bröckeln; das Lächeln schwand, und mit einer schnellen Bewegung fuhr er mit dem Zeigefinger zwischen Hals und Hemdkragen. Und die nächsten Sätze klangen nicht mehr ganz so souverän: „Trotzdem würde ich es mir an Ihrer Stelle gründlicher überlegen, was ich laut werden lasse. Immerhin gibt es so etwas wie einen rechtlichen Schutz gegen Beleidigung.“ „Ausgerechnet Sie müssen mich daran erinnern, nach Ihrer gestrigen Aufführung!“ „Ich habe mich entschuldigt.“ 213
Vom hinzutretenden Ober verlangte er eine Tasse Kaffee und einen französischen Kognak. „Einen großen, bitte“, schickte er der Bestellung hinterher, „ich habe nämlich etwas zu feiern.“ Offensichtlich wollte er damit signalisieren, daß ihm wohl ums Herz sei. Und ich schnappte auch prompt nach dem Köder und ließ mich zu der Frage hinreißen: „Trinken Sie darauf, daß man Ihnen eine weiße Weste bescheinigt hat?“ „So ist es, verehrter Herr Professor.“ Er hatte anscheinend das schwache Tief, in das er vorübergehend geraten war, überwunden und lächelte auch wieder. Ich hätte in diesem Augenblick wirklich viel darum gegeben, den Mann in Schwierigkeiten zu sehen. Alles in mir sträubte sich gegen seine aufdringlich zur Schau gestellte Biedermannsart. Aber ich wußte ja: Abneigung ist ein schlechter Ratgeber, und weil ich ein wohlerzogener Mensch bin, unterdrückte ich diese verwerfliche Sehnsucht, aber gleicherweise auch den mächtig gewordenen Drang, das Lokal zu verlassen. Denn seine Andeutung bezüglich Jakobs hatte doch so viel Neugier in mir wachgerufen, daß ich beschloß, ihr auf den Grund zu gehen und in Erfahrung zu bringen, ob er wirklich etwas wußte. Ich mochte nicht direkt fragen, mußte aber das Gespräch am Laufen halten, und so sagte ich, ein bißchen provozierend: „Ein Ehrenmann also vom Scheitel bis zur Sohle.“ Er nickte langsam und bedeutungsschwer, ehe er antwortete: „Man hat mir am Zeug flicken wollen, um von sich selber abzulenken. Man hat auf eine ganz schäbige Art versucht, mich als Mörder in Verdacht zu bringen.“ „Wer ist man ?“ Sein Lächeln schien ihm ein für allemal ins Gesicht gegraben und machte ihn widerwärtig. „Ja, wer ist man ? Dreimal dürfen Sie raten.“ „Ich war schon immer ein schlechter Rätsellöser.“ 214
„Wer es auch gewesen ist – es hat sich wieder einmal bewahrheitet: Es ist nichts so fein gesponnen … und: Wer andern eine Grube gräbt …“ Und wie um mich in seine blendende Laune einzubeziehen, fügte er hinzu: „Jedenfalls bin ich froh, froh für Sie, meine ich, daß die schwere Last von Ihnen genommen ist.“ Nach einer Pause, die dadurch entstand, daß der Kellner den Kaffee und den Kognak vor ihn stellte, sagte er: „Ich gebe zu, ich habe mich anscheinend in bezug auf Jakob Maul geirrt. Es sprach ja auch alles gegen ihn. Aber wie das so ist: Der Schein trügt oft.“ Ich war nicht in der Stimmung, mich länger mit geflügelten Worten abspeisen zu lassen, und forderte energisch: „Jetzt reden Sie mal Klartext.“ „Gern.“ Er hob die Tasse hoch und roch an seinem Kaffee. „Also: Ich habe heute morgen bei meiner Unterhaltung mit dem Genossen Hauptmann Habnicht – aus der ich übrigens voll rehabilitiert hervorgegangen bin – den bestimmten Eindruck gewonnen, daß der Mann seine Pappenheimer kennt. Dem kann man kein X für ein U vormachen. So wie er die Verleumdung meiner Person durchschaut hat, hat er sich auch nicht irremachen lassen in bezug auf Ihren Sohn. Als ich ihn nämlich fragte, wer denn der Mörder von Schwester Gretel sei, hat er geantwortet, die Ermittlungen seien noch nicht abgeschlossen, aber soviel könne er schon verraten, daß ich mich mit meiner Annahme getäuscht hätte.“ Das trug er vor, als sei es sein Verdienst, daß Jakob jetzt außer Verdacht zu sein schien. Obwohl mir jeder andere als Bote dieser Nachricht lieber gewesen wäre, konnte ich doch meine Erleichterung nicht verbergen. Mag sein, daß mir das vom Gesicht abzulesen war, vielleicht auch hatte ein tieferer Atemzug, ein befreiender Seufzer, mich verraten; jedenfalls nahm Dr. Kümmerer die Gelegenheit wahr, mich noch einmal und nachdrücklicher seiner Freude 215
über die Zerstreuung des Verdachts gegen meinen Sohn zu versichern. „Gewiß, mein Betragen Ihnen gegenüber war nicht astrein“, fuhr er fort. „Aber ich steckte in einer aufs äußerste gespannten psychischen Situation; war sozusagen rings von Feinden umgeben, zu denen leider auch Ihr Sohn gehörte, von Feinden, die mit allen Mitteln meinen Sturz zu betreiben suchten, einer von ihnen schließlich sogar mit dem gezielten Ausstreuen des Verdachts, ich könnte der Mörder sein.“ Du lieber Himmel! dachte ich, das hört sich an, als spreche da nicht ein simpler Krankenhausarzt, der sich gegen ein paar Angriffe zur Wehr setzen mußte, sondern ein Staatsmann, dem es gelungen ist, eine mächtige, den Umsturz planende Fronde zu zerschlagen. Und dieses Gehabe verschaffte mir soviel Abstand von Kümmerer, um auch das Komische an dieser Figur zu entdecken. So geriet denn meine Formulierung ein wenig ironisch, als ich fragte: „Gehörte auch Schwester Gretel – zu diesen Feinden rings – ich meine natürlich, als sie noch lebte?“ „Die vor allem“, erwiderte er ganz ernst, und ich gewann den Eindruck, er betrachte insgeheim ihr schlimmes Ende als verdiente Strafe für den Tort, den sie ihm angetan hatte. „Ihr Versuch, sie am Montagnachmittag in ihrer Wohnung anzutreffen, hatte wohl nichts mit Ihrem geplanten Sturz zu tun?“ Er antwortete nicht sogleich und beschränkte sich dann auf die wenig befriedigende Auskunft: „Ich hatte private Gründe.“ „Und Sie vermuten auch nicht, daß ihr Tod im Zusammenhang mit den Feindseligkeiten gegen Sie steht?“ „Das kann ich Ihnen nicht sagen“, beschied er mich, und mir blieb die Wahl, anzunehmen, er wisse nichts oder er dürfe mir keine Auskunft geben. „Am besten befragen Sie darüber Doktor Klein.“ Und nach einem 216
Schluck Kaffee, als habe er erst noch sein Ressentiment hinunterspülen müssen, sagte er: „Mit dem haben Sie sich ja ohnehin besser verstanden als mit mir.“ Die Erwähnung Kleins ließ mich an dessen Einladung denken, und sowenig wichtig mir ein erneutes Zusammentreffen noch vor einer Stunde erschienen war, so wünschenswert kam es mir jetzt vor, nach Kümmerers Andeutungen. Vielleicht konnte Dr. Klein sie ergänzen. Und ich gab das Gespräch, das ich ohnehin nicht gesucht hatte, um so leichteren Herzens auf, als ich alles für mich Wichtige erfahren zu haben glaubte. „Das ist eine gute Idee“, sagte ich, „ich werde Doktor Klein besuchen. Leben Sie wohl.“ „Dann wünsche ich Ihnen viel Vergnügen. Hoffentlich treffen Sie ihn noch an.“
16. Die an sich harmlosen Sätze hatten in Kümmerers Mund einen solch hämischen Klang angenommen, daß sie mich auf dem ganzen Weg zur chirurgischen Klinik beschäftigten. Bedeuteten sie, ich könnte ein Mißvergnügen an Dr. Klein haben – für den Fall, daß ich ihm überhaupt noch begegnete? Zweimal klopfte ich vergebens an die Tür zu Dr. Kleins Zimmer. Vielleicht war er wirklich schon gegangen. Dennoch drückte ich die Klinke nieder, und die Tür gab nach. Mein Blick fiel sofort auf den Arzt, der hinter seinem Schreibtisch mehr hing als saß: der Kopf war auf die Seite gesunken, das spärliche Haar stand nach allen Seiten ab, der Mund war leicht geöffnet, die Brille auf die Nasenspitze gerutscht, die Arme hingen schlaff herab. Vom Schock ergriffen, blieb ich jäh stehen, und in meinem 217
seit drei Tagen mit Außergewöhnlichem strapazierten Hirn blühte sofort die Annahme: Der ist tot! Doch nach einigen Sekunden hörte ich ein leises Schnarchen und sah ein Zucken in Kleins Gesicht. Ich wollte schon die Tür wieder von draußen schließen, als ich lautes Stöhnen vernahm. Unwillkürlich tat ich einen Schritt nach vorn, wahrscheinlich aus dem Drang, Hilfe zu leisten. Dr. Klein glotzte mich aus halbgeöffneten Augen stumpf und verständnislos an, und als er mich nach einer geraumen Weile erkannte, riß er sie gänzlich auf und mühte sich, unbeholfen und ergebnislos, auf die Beine zu kommen. Er sprach mich dabei auch an, doch verloren sich seine Worte in einem hilflosen Gurgeln, dem ich keinen Sinn entnehmen konnte. Endlich gelang es ihm doch, sich zu erheben, und dann stand er schwankend da, vornübergebeugt und sich mit den Händen auf die Schreibtischplatte stützend. So verharrte er eine Weile, ehe er langsam den Kopf hob und, so gut es gehen wollte, den Oberkörper aufzurichten versuchte. Währenddem redete er andauernd Unverständliches. „Wenn ich Ihnen ungelegen komme …“, sagte ich. „Morgen geht es Ihnen sicherlich besser.“ Er schüttelte heftig den Kopf, sagte wieder etwas, das ich nicht verstand, und tappte hinter dem Schreibtisch hervor, wobei er sich noch immer auf die Platte stützte. Bei dieser Operation streifte er eine zu zwei Dritteln leer getrunkene Kognakflasche, die mit einem lauten Knall am Boden zersplitterte. Als habe ihn dieses Malheur ein bißchen wacher werden lassen, stellte er sich nun freihändig hin und vollführte unsicher eine einladende Handbewegung, die ich als Aufforderung, Platz zu nehmen, deutete. „Entschuldigen Sie“, war das erste, was ich verstand. „Muß eingeschlafen sein.“ Die am Boden liegenden Scherben beachtete er nicht. 218
Während ich mich nun setzte und der aus der zerschlagenen Kognakflasche aufsteigende Duft sich mit dem mir wohlbekannten Aroma aus Kaffee und verbranntem Tabak mischte, straffte Dr. Klein den Oberkörper und begann sich den Kittel zuzuknöpfen, was er aber aufgab, nachdem er bereits am ersten Knopfloch gescheitert war. Dabei bat er mich noch einmal um Entschuldigung. Es folgten zwei, drei Minuten, während deren er – noch immer stehend, noch immer schwankend, noch immer vor sich hin murmelnd – um eine akzeptable Haltung rang, und ich bedauerte, seiner Aufforderung, Platz zu nehmen, Folge geleistet zu haben. Dieses Bedauern wurde genährt durch ein Gefühl leisen Abscheus vor der Verfassung des Mannes, und erst als ich mich darauf besann, in welch beklagenswertem Zustand ich selber am Abend zuvor gewesen war und wie hämisch mir Kümmerer vor ein paar Minuten viel Vergnügen für meinen Besuch bei Dr. Klein gewünscht hatte, verflüchtigte sich mein Vorbehalt. Ich wußte ja nicht, was den Arzt dazu gebracht hatte, sich am hellen Tag (ich blickte bei diesem Gedanken unwillkürlich auf die Uhr und stellte verwundert fest, daß es bereits zehn Minuten nach fünf war) in einen derartigen Zustand zu versetzen, obwohl ich ahnte, daß es einen Zusammenhang zwischen seiner Betrunkenheit und den triumphierenden Reden Kümmerers geben mußte. Inzwischen hatte sich Dr. Klein mir gegenüber niedergelassen und sich eine erloschene Pfeife zwischen die Zähne gesteckt. Er starrte mich unentwegt an, wobei er abwechselnd eines der Augen zukniff. Und urplötzlich sagte er mit hohler Stimme ganz langsam, als koste es ihn unendliche Kraft, ein Wort ans andere zu reihen: „Sie sehen vor sich einen Säufer, Herr Professor.“ Und dann rezitierte er erstaunlich geläufig den Vers des Archipoeta, den ich schon einmal, allerdings unter freund219
licheren Umständen, aus seinem Mund gehört hatte: „Meum est propositum in taberna mori.“ Die nachdenkliche Miene, die er aufsetzte, als lausche er seiner eigenen Stimme hinterher, geriet ihm ganz und gar zur Grimasse und ließ ihn sehr töricht aussehen. „Nein“, sagte er nach einer Weile, „es war mir nicht vorherbestimmt, am Schnaps zu krepieren. Das habe ich mir selber eingebrockt, ich allein – ich allein – ich allein …“ Er hatte die Augen geschlossen und wiegte den Oberkörper im Takt der sich anscheinend ohne seinen Willen wiederholenden Wörter. Ich fürchtete schon, er werde wieder in den Zustand des Stupors zurückfallen, aber dann sagte er, langsam zwar noch und noch stockend, jedoch ein wenig klarer als zuvor und ohne Kampf mit den komplizierteren Lauten: „Sie sehen vor sich einen pflichtvergessenen Arzt, einen geschaßten Leiter, einen Gamma-Alkoholiker nach der Klassifikation von Jellinek, einen schlimm Süchtigen, der das Übel des Suffs noch vergrößert, indem er Weckamine schluckt, um morgens auf die Beine zu kommen und tagsüber auf den Beinen zu bleiben.“ Er kramte in der Kitteltasche, holte ein Glasröhrchen heraus, hielt es mir vor die Nase und schüttelte es leicht, so daß die darin enthaltenen Pillen klapperten. „Prophylhexedrin“, verkündete er, und mit dem Wort hatte er nun doch Schwierigkeit. „Sagt Ihnen das etwas? Erhöht den Blutdruck, beschleunigt den Puls, hemmt die Darmperistaltik – man fühlt sich topfit, hellwach, könnte Bäume ausreißen. Und in Wirklichkeit kann es passieren, daß man eine halbe Stunde braucht, um eine Glühbirne einzuschrauben, weil Kraft und Konzentration fehlen.“ „Hören Sie auf, bitte!“ Mit steigendem Befremden hatte ich seinen Monolog verfolgt, und entsprechend dringlich muß wohl auch meine Aufforderung ausgefallen sein. Er ließ die Hand mit dem Glasröhrchen augenblick220
lich sinken. „Ich höre ja schon auf“, murmelte er unsicher. Doch kurz darauf gewann seine Stimme wieder an Festigkeit und Lautstärke, als er sagte: „Der Kollege Kümmerer hat mich als einen klinischen Fall eingestuft, und der ärztliche Direktor ist mit ihm einer Meinung, denn der hat …“ „Herr Doktor Klein“, sagte ich noch nachdrücklicher als zuvor, „ich bin nicht …“ „… gekommen, um das Gelaber eines gewesenen Arztes anzuhören. Das wollten Sie doch sagen.“ Er entstöpselte das Glasröhrchen, schüttelte einige winzige weiße Kügelchen auf seine Handfläche und schluckte sie. Für ein paar Sekunden schloß er die Augen und atmete einige Male tief ein und aus. Als er die Augen wieder aufschlug, sagte er: „Warum eigentlich sollten Sie mich nicht anhören? Sie sind doch, hoffe ich, ein verständiger Mann und nicht einer von den Klugscheißern und Angepaßten, die das Menschliche, das Reinmenschliche nicht verstehen oder nicht verstehen wollen.“ Und er ließ, ehe ich noch einen Einwand erheben konnte, einen Abriß seines Lebens folgen, hastig und immer hastiger vorgetragen. Er begann bei seinem Medizinstudium zu Anfang des Krieges, seinem Einsatz in einem Feldlazarett nach vier Semestern und den grauenhaften Eindrücken, die er dort empfangen hatte und deren man nur durch Schnaps und andere Rauschmittel Herr habe werden können. („Die alten Füchse“, sagte er, „haben sich gar nicht mehr mit Kognak abgegeben, die haben nur noch von der Nadel gelebt.“) Und er endete bei den immer wieder unternommenen und immer wieder vergeblichen Versuchen, völlig vom Alkohol loszukommen. „Selbsttherapie nützt da auf die Dauer nichts, auch nicht, wenn man medizinische Kenntnisse hat.“ Vielleicht begannen die Pillen schon zu wirken, denn seine Gesten wurden lebhafter, und es gelang ihm sogar, den Tabakrest in der Pfeife anzuzünden. 221
„Aber ich habe mich bemüht“, fuhr er nach einigen gepafften Zügen fort, „unausgesetzt, habe schließlich die Wirkung des Alkohols durch diese Amphetamine bekämpft. Denn die Chirurgie ist ein gnadenloser Beruf. Da müssen Sie antreten, Tag für Tag, und eine sichere Hand haben, Tag für Tag. Und ich hatte eine sichere Hand, habe sie noch.“ Er streckte die Rechte von sich, und ich beobachtete, wie sich, von Sekunde zu Sekunde stärker, die Anstrengung, ein Zittern der Hand zu vermeiden, auf seinem Gesicht abzeichnete: der Unterkiefer schob sich nach vorn, die Stirn furchte sich, die Haut färbte sich rot. „Sehen Sie!“ sagte er nach einer halben Minute mit groteskem Stolz. Er ließ die Hand sinken und atmete tief durch wie nach einem zu langen Tauchversuch. „Ist das nun eine sichere Hand oder nicht, Herr Professor Maul?“ Ich wußte nicht sogleich, was ich antworten könnte, saß einfach da wie ein grüner Junge, dem ein Erfahrener die Welt erklären will. Dabei war offensichtlich, daß mir nur ein gescheiterter Mensch einzureden versuchte, er sei ganz auf der Höhe und im Recht gegen alle anderen und erfolgreich. Und mich überkam angesichts dieses peinlichen und für mich unlösbaren Widerspruchs die Indolenz, die sich oft bei mir einstellt, wenn ich mich in aussichtsloser Lage fühle, und die sich darin ausdrückt, daß ich in einem hohen Maß gleichgültig werde gegen meine Umgebung und nur noch darauf bedacht bleibe, die eigene Haut so heil wie möglich zu erhalten. „Vielleicht“, wandte ich halbherzig ein, „sollten Sie doch einmal den Versuch machen …“ „Ach!“ unterbrach er mich ungeduldig. „An guten Ratschlägen hat es mir nie gefehlt. Aber glauben Sie mir: Ich weiß am besten, wie ich mit mir umgehen muß.“ Um ihm nicht länger als Klagemauer dienen zu müssen, fiel mir kein anderes Mittel ein, als ihn zu fragen, 222
warum er mich am vergangenen Abend habe sprechen wollen. „Ich? Sie?“ Er schien sich nicht zu erinnern, und es sah so aus, als seien seine letzten Energiereserven verbraucht. Er lehnte sich weit zurück und legte den Kopf in den Nacken. So saß er, schwer atmend, einige Zeit, die sich mir zu Stunden zerdehnte. Doch dann riß er sich plötzlich aus dem Sesselchen und fuchtelte so heftig mit den Händen, daß ich schon glaubte, er würde sich im nächsten Augenblick auf mich stürzen: „Die sollen mich kennenlernen! Von wegen: vorläufige Beurlaubung, Entziehungskur, unverantwortbares Risiko für die Patienten …“ Und er rief gegen die Wand, als stünde dort sein Widersacher: „Kollege Kümmerer, Sie haben gegen mich intrigiert, haben mich bei der Krankenhausleitung denunziert. Sie haben alles unternommen, mich aus dem Weg zu räumen, um meine Stelle zu bekommen. Aber ich weiß genug von Ihnen, um Sie heute noch hinter Schloß und Riegel zu bringen.“ Obwohl mir der Aufenthalt in diesem Raum immer unheimlicher wurde, begann meine Gleichgültigkeit zu schwinden, und ich fragte, die Worte so wählend, daß in ihm nicht der Eindruck entstehen konnte, ich wolle mich in seine Angelegenheiten mischen: „Ist das nicht ein bißchen übertrieben, was Sie da sagen?“ Er hörte mich anscheinend nicht, fuchtelte vielmehr noch heftiger mit den Händen und schrie in abgerissenen, mir dem Sinn nach vielfach kaum verständlichen Sätzen seine Anklage gegen Kümmerer heraus, der ich so viel entnehmen konnte, daß der ein durch und durch korrupter Mensch sei. „Ein altes Haus hat sich dieser Schuft gekauft, übernommen hat er sich, und jetzt müssen ihm die Patienten die Modernisierung bezahlen. Pfui Teufel!“ Der plaudernde Dr. Klein mit dem harmlosfreundlichen Lächeln auf dem Gesicht war völlig hinter dem Mann verschwunden, der sich wie von Sinnen aus223
tobte. Und um ihm aus seiner geradezu delirischen Wut herauszuhelfen, wagte ich die Frage: „Können Sie das auch alles beweisen, was Sie da vorbringen?“ „Beweisen?“ Er ließ die Arme sinken, blickte, wie erwachend, um sich und machte eine Miene, als sähe er mich zum ersten Mal. Dann fuhr er noch einmal mit der Hand in die Kitteltasche und bediente sich wieder aus dem Glasröhrchen. Er warf mir einen mißtrauischen Blick zu, als fragte ich zuviel. „Beweisen kann ich nichts. Bei solchen Geschäften werden keine Rechnungen und Quittungen ausgestellt.“ Er schien drauf und dran, auf den vielzitierten Boden der Tatsachen zurückzukehren, und wären die stumpfen, von den Brillengläsern zusätzlich verzerrten Augen nicht gewesen und nicht der Speichel in seinen Mundwinkeln, hätte man glauben können, er habe seinen Rausch hinter sich gebracht. „Aber Schwester Gretel …“ „Die konnte wohl etwas beweisen?“ Ich überlegte, ob es nicht besser wäre, wenn ich Dr. Klein informierte, daß ich Kümmerer getroffen und daß der mir erzählt hatte, die Kriminalpolizei hege keinen Verdacht mehr gegen ihn. Doch noch ehe ich mich entscheiden konnte, sprach Dr. Klein schon wieder. „Die war schlau“, sagte er. „Ja, die war wirklich schlau.“ Er wischte sich den Speichel aus den Mundwinkeln, und als er die Hand wieder sinken ließ, lag ein listiger Zug um seinen Mund. „Die war zu schlau“, fuhr er mit unerwarteter Munterkeit fort. „Die wollte alle und jeden in die Tasche stecken.“ „Sie auch?“ Eine vage Vermutung, ich könnte einem Mann gegenübersitzen, dem Gretel Königs Tod zumindest sehr zupaß gekommen war, stellte sich ein, und ich hatte Mühe, mir meine Beklemmung nicht anmerken zu lassen. „Die glaubte, alle an der Leine führen zu können wie brave Hündchen“, fuhr er fort. „Die Queen der Klinik 224
wollte sie sein.“ Das klang wie „Gwien der Glinik“, registrierte ich automatisch, obwohl mir in diesem Moment nach allem anderen zumute war, als Dr. Kleins Idiom zu belächeln. Der listige Zug um seinen Mund vertiefte sich, so daß er an einen Theaterschurken erinnerte. „Ich mochte sie ja gut leiden, sehr gut sogar. Und sie mich auch, glaube ich. Aber sie konnte es nicht lassen, von jedem etwas wissen zu wollen. Jedem schnüffelte sie hinterher, jedem Arzt, jeder Schwester. Und sie war gar nicht fein, wenn es darum ging, einen Vorteil für sich aus diesem Wissen herauszuschlagen. Wissen ist Macht, hat sie einmal zu mir gesagt, als sie mir vorschlug, mit ihr gemeinsame Sache gegen den Kollegen Kümmerer zu machen. Sonst …“ „Sonst?“ „Naja …“ Er schien nach einer treffenden Umschreibung zu suchen. „Ich habe meine Achillesferse, das haben Sie ja heute selber erlebt. Und diese meine … sozusagen Schwäche wollte sie gegen mich ausspielen – hat sie angedeutet –, wenn ich nicht nach ihrer Pfeife tanzen würde, gemeinsam mit Kümmerer, wenn es sein mußte. Erst Kümmerer und dann mich oder umgekehrt wollte sie kippen. Eben die Queen wollte sie sein, herrschen wollte sie. Aber da hatte sie sich geschnitten, ganz gewaltig geschnitten.“ Meine Beklemmung wuchs; mir war wieder einmal, als läge mir ein Stein auf der Brust, der mir das Atmen schwer machte. Dennoch fragte ich: „Was meinen Sie damit?“ „Sie ist tot“, stellte er schlicht fest. Der listige Zug um seinen Mund war verschwunden, als er seine klarer gewordenen Augen auf mich richtete und fragte: „Wieso interessiert Sie das so sehr, was in unserer Klinik vor sich gegangen ist?“ „Weil … weil …“ Ich tastete nach dem Fläschchen mit dem krampflösenden Nitrangin, das ich seit meinem 225
Infarkt stets in der linken Jackentasche bei mir trug, für den Fall, daß die Verspannungen bedrohlich wurden. „Weil ich meinem Sohn helfen muß, das wissen Sie doch.“ Oder hätte ich sagen sollen: Weil Sie sehr wohl der Mann sein könnten, der Gretel König aus dem Weg geräumt hat, weil sie zuviel von Ihnen wußte? Ich löste den obersten Hemdknopf und zog den Krawattenknoten ein Stück tiefer. „Aber es sieht ja nun so aus, als wäre er nicht mehr im Verdacht.“ „Sieht es so aus?“ Er zeigte keine Anteilnahme, so daß ich mir nicht sicher war, ob er überhaupt über die Entwicklung des Falles seit gestern auf dem Laufenden war. „Wie schön für ihn. Aber wieso interessieren Sie sich dann überhaupt noch für das, was hier los war?“ Und wieder war ich feige, wieder schreckte ich vor der Möglichkeit zurück, ich könnte mich in Komplikationen begeben, denen ich nicht gewachsen war, und anstatt ihm entgegenzuhalten, daß er es doch gewesen sei, der mich mit seinem besoffenen Gerede in all die Unappetitlichkeiten hineingezogen hatte, behauptete ich: „Sie haben recht, mich geht das alles nichts an. Nichts mehr an.“ Ich spürte sein Mißtrauen, aber auch Besorgnis lag jetzt in seinem Blick. Vielleicht regte sich in seinem vom Alkohol umnebelten und von Amphetamin aufgeputschten Hirn die Vermutung, mir könne es schlecht gehen. Er erkundigte sich jedoch nicht nach meinem Befinden, sondern stellte nur fest: „Ich glaube, das ist auch besser für Sie.“ Meine Herzkranzgefäße entkrampften sich allmählich, und gleichzeitig fühlte ich, wie kalter Schweiß mir aus allen Poren brach. Verstohlen wischte ich mir die nassen Handflächen an den Hosenbeinen trocken. „Bei Ihrem Herzen dürfen Sie sich nicht zuviel zumuten“, sagte Dr. Klein, und ich dachte sofort an meine Sekretärin und hätte beinahe über diese alberne stereo226
type Redewendung gelacht. Seine Stimme klang jetzt frischer, und offensichtlich wirkten die kleinen weißen Pillen auch auf sein Erinnerungsvermögen. Denn er sagte, als habe er mich nicht vor kurzem noch dumm angesehen, als ich fragte, weshalb er mich sprechen wollte: „Übrigens war ich gestern abend bei Ihnen zu Hause, habe ein bißchen mit Ihrer reizenden Gemahlin geplaudert. Oder plaudern müssen, weil Sie nicht da waren.“ „Und weshalb sind Sie gekommen?“ „Ach, das ist womöglich nicht mehr so wichtig.“ Dennoch schickte er dem gleichgültig klingenden Satz hinterher: „Ich wollte wissen, was Sie mit der armen Schwester Ramona angestellt haben.“ „Angestellt?“ „Sie war gestern nachmittag ganz aus dem Häuschen, weinte, wollte sich partout nicht trösten lassen, schien überhaupt am Rand ihrer Kräfte zu sein. Und außerdem hatte ich das Bedürfnis, mich mit einem vernünftigen Menschen auszusprechen. Die letzten Tage waren zu hart für mich, glaube ich.“ Für wen nicht? dachte ich. „Und für das arme Mädchen erst.“ Er schüttelte den Kopf, als müsse er eine lästige und quälende Erinnerung verscheuchen. Dann fiel sein Blick auf die Flaschenscherben am Boden, die ihn jetzt zu stören schienen. Ächzend ließ er sich in die Hocke nieder und begann sie aufzusammeln und in den Papierkorb zu werfen.
17. Fast hätten wir das heftige Klopfen an der Tür überhört, weil ein zur Landung ansetzendes Düsenflugzeug in diesem Augenblick das Zimmer mit Heulen und Brausen erfüllte. Habnicht trat als erster ein, heute ein 227
alter, müder Mann, wie ich schon an Schritt und Haltung erkannte. Sein Blick blieb an dem noch immer am Boden kauernden Dr. Klein hängen; der beeilte sich, seine lächerliche Stellung aufzugeben, und kam keuchend auf die Beine. Dann ging er zum Wandschalter und knipste die Deckenbeleuchtung an. Jetzt, im grellen Neonlicht, zeigten sich deutlich Spuren von zu großer Anstrengung und vielleicht auch von Schlafmangel in Habnichts Gesicht: eine ins Grünliche spielende Blässe, stark ausgeprägte Tränensäcke und tiefe Schatten unter den Wangenknochen. Auch der ihn anscheinend immer begleitende Leutnant Feder wirkte gebeugt und gebeutelt, strahlte jedenfalls nicht mehr das Flair des smarten Konfektionärs aus, mit dem er bisher geglänzt hatte. „Ein kleines Malheur“, sagte Dr. Klein verlegen, und er wies auf die Stelle, wo die Glassplitter gelegen hatten und wo sich jetzt nur noch die Lache als dunkler Fleck auf dem gelben Fußbodenbelag abzeichnete. „So ein kleines Malheur ist ja noch zu verkraften“, merkte Habnicht an, und aus der Art, wie er das sagte, hörte ich die durch Überarbeitung und Müdigkeit herbeigeführte Bereitschaft heraus, an allem Anstoß zu nehmen. „Hoffentlich tragen Sie auch Ihr größeres Unglück gelassen.“ Und als Dr. Klein ihn peinlich berührt und auch ein wenig verängstigt ansah, machte er eine wegwerfende Handbewegung, die deutlich ausdrückte, wie wenig ihm der Sinn danach stand, sich an diesem Abend an Nebensächlichem zu verschwenden. Ich zog unwillkürlich den Kopf ein. Mein Bedarf an Aufregung und Unfreundlichkeit war auf lange Zeit hinaus gedeckt, und alles, was ich mir wünschte, war, nicht angesprochen zu werden. Doch mein Wunsch erfüllte sich nicht: Ich bekam als nächster Habnichts Gereiztheit zu spüren. „Sieh da, der Herr Professor sind, wie immer, am 228
Brennpunkt des Geschehens. Aber diesmal war ich auf Sie vorbereitet. Es wäre für Sie besser gewesen, Sie hätten die letzten Tage mit Angeln zugebracht, das ist weniger nervenzehrend.“ Und als er sich unaufgefordert auf den Platz setzte, auf dem zuvor Dr. Klein gesessen hatte, nahm er auch den Adlatus aufs Korn: „Sie stehen da ’rum, Genosse Feder, als ob Sie nicht dazu gehörten“, raunzte er, woraufhin Feder (preußische Tugenden sind eben unausrottbar) ohne Widerspruch das Rückgrat straffte und offensichtlich erwartete, daß ihm eine Anweisung zuteil würde. Habnicht aber schien nicht daran zu denken, seinem Tadel irgendeine zweckdienliche Bemerkung hinzuzufügen. Er stützte vielmehr die Ellenbogen so schwer auf das Tischchen, daß ich befürchtete, es könnte unter der Last seines massigen Oberkörpers zusammenbrechen, und ließ den Kopf hängen. Er schwieg, und sein Schweigen bewirkte, daß sich niemand traute, den Mund aufzutun. Die Luft war weniger mit Spannung als mit Unbehagen geladen. Ich hörte in meinem Rücken Dr. Klein hüsteln, so als wollte er auf sich aufmerksam machen, und dachte: Hoffentlich sagt der nur kein falsches Wort; in dem Zustand, in dem er sich noch immer befindet, kann er im Nu ein Riesenspektakel heraufbeschwören. Doch als er dann wirklich sein übliches Angebot machte, indem er fragte, ob dem Herrn Hauptmann mit einer Tasse Kaffee gedient sei, hob der nur den Kopf und sagte: „Wenn Sie einen Schnaps für mich hätten …“ „Leider nein.“ Dr. Klein wies mit einem schmerzlichen und bedauernden Lächeln auf den feuchten Fleck am Boden. „Na, dann brühen Sie eben einen Kaffee.“ Habnicht ließ den Kopf wieder sinken. „Ich weiß nur nicht, ob mir Kaffee bei meiner Grippe zuträglich ist. Heute früh hatte ich achtunddreißigzwo.“ 229
Er faßte sich an die Stirn. „Im Laufe des Tages werden wohl noch einige Zehntelgrade dazugekommen sein. Ein Schnaps wäre schon richtig gewesen. Da kenne ich mich aus.“ Dr. Klein näherte sich ihm beflissen, wenn auch mit noch immer unsicheren Schritten, und es sah so aus, als wollte er dem Kriminalisten den Puls fühlen. Doch der machte eine energische Abwehrbewegung. „Brühen Sie Kaffee, Doktor“, sagte er. „Soll ich runtergehen und am Kiosk ein Fläschchen kaufen“, erbot sich Leutnant Feder, und ich konnte es ihm vom Gesicht ablesen, wie froh er gewesen wäre, wenn er seinem Chef hätte nützlich sein und dabei gleichzeitig für eine Weile den Raum hätte verlassen können. „Es gibt ganz kleine, fünf Zentiliter.“ „Das weiß ich auch“, wies Habnicht ihn zurück, und er hob nicht einmal den Kopf. „Begeben Sie sich lieber auf die Intensivstation und fragen Sie die junge Dame, wie es steht.“ Der Leutnant Feder kam indes nicht dazu, das Zimmer zu verlassen, da in diesem Moment Katharina die Szene betrat. Sie stand einige Sekunden lang unschlüssig und sich orientierend in der Tür. Auch sie wirkte erschöpft; nichts schien ihr von dem Elan geblieben zu sein, mit dem sie noch am Mittag Sebastian Engel zugesetzt hatte. Keine Regung zeigte sich auf ihrem Gesicht, als sie mich erkannte. Habnicht erhob sich schwerfällig, er wollte es sich offensichtlich nicht nehmen lassen, Dr. Klein Katharina vorzustellen. „Das ist Doktor Klein – Frau …“ „Manthey“, ergänzte Feder, als seinem Vorgesetzten nicht sofort der Name von der Zunge wollte, und erntete dafür einen unwirschen Blick. „Jedenfalls jemand mit Kopf und Herz“, stellte er fest, und er fügte murmelnd hinzu: „Was man nicht von allen Leuten sagen kann.“ Und auf mich deutend, sagte er mit 230
all der Boshaftigkeit, deren er noch fähig war: „Diesen Herrn brauche ich Ihnen wohl nicht vorzustellen.“ „Natürlich nicht“, erwiderte ich, und das Bewußtsein, kumpanenhafter Flegelei ausgesetzt zu sein, machte mir die Kehle eng. Habnicht, der seit Katharinas Eintritt ein bißchen lebhafter wirkte (sicherlich wollte er vor ihr seine Müdigkeit und Kraftlosigkeit verbergen), verkündete: „Nehmen Sie bitte Platz.“ Und er bot Katharina sein Sesselchen an, während er sich mit der an Dr. Klein gerichteten Floskel „Sie gestatten doch“ hinter den Schreibtisch verfügte. Dort thronte er dann wie ein Lehrer, der seiner Schulklasse etwas Wichtiges zu eröffnen hat. Dr. Klein blieb nichts übrig, als sich auf die Untersuchungspritsche zu setzen, die so hoch war, daß er nur mit den Fußspitzen den Boden berührte. Leutnant Feder verharrte wie eine Schildwache neben der Tür und bemühte sich, so energisch und dienstlich auszusehen, wie es seinem Metier zukam. Habnicht wandte sich zunächst an Katharina. „Wie geht es ihr?“ fragte er. „Die Ärzte glauben, sie wird durchkommen.“ Katharina, offensichtlich unter dem Eindruck eines bedrückenden Erlebnisses stehend, sprach leise. „Ich wollte eigentlich noch länger vor der Intensivstation warten. Aber Ihr Kollege Homberg sagte, ich solle gehen. Helfen könne ich nicht, und er müsse ohnehin bleiben. Er will Sie benachrichtigen, wenn sich ihr Zustand verschlechtern sollte.“ Dr. Klein riß die Augen weit auf, als sei die Gewißheit von etwas Schlimmem über ihn gekommen. Dennoch fragte er: „Von wem ist die Rede?“ „Das sollten Sie doch wissen“, sagte Habnicht barsch. „Oder haben Sie wirklich keine Ahnung, was hier vor sich gegangen ist?“ „Schwester Ramona?“ fragte Dr. Klein zaghaft. 231
Als der Name fiel, stockte mir der Atem. Noch ein Verbrechen also. Das war mein erster Gedanke, und mein zweiter: Dieser Florian Schmidt schreckt vor nichts zurück! Und während noch eine unnatürliche Stille auf uns allen lastete, setzte sich in meinem Kopf wie von selbst eine Gedankenkette zusammen, deren einzelne Glieder schon seit langem bereitgelegen hatten: Ramona Paschotka wußte, daß Florian Schmidt der Mörder war – sie hat ihn aus Liebe gedeckt, indem sie Jakob in Verdacht gebracht hat –, und nun war sie selber das Opfer dieses Burschen geworden, wahrscheinlich weil sie ihm mit ihrem Wissen gefährlich werden konnte oder weil sie die Nerven verloren hatte und die Wahrheit sagen wollte. Ich hatte also recht gehabt, von Anfang an, seit meinem Gespräch mit Florian Schmidt. Mein Instinkt hatte nicht getrogen. Aber ein Gefühl des Triumphs wollte sich nicht einstellen; ich spürte nicht einmal Erleichterung darüber, daß jetzt endgültig der Schrecken von mir genommen war. Mitgefühl mit der jungen Frau, die vielleicht noch mit dem Leben würde zahlen müssen, überlagerte alles andere. „Haben Sie ihn wenigstens verhaften können?“ hörte ich mich in die Stille hinein fragen. „Wen?“ „Florian Schmidt.“ „Ja, den haben wir festgenommen. Und er hat auch ein Geständnis abgelegt.“ Seine Stimme klang, als habe er keine rechte Freude an seinem Erfolg. „Gleich nachdem Frau Manthey uns diesen Burschen mit der Falschaussage angeschleppt hat, sind wir zur Universität gefahren und haben ihn vom Fleck weg mitgenommen“, ergänzte Feder. „Bei uns geht eben alles blitzschnell, wenn wir die Beweise beisammen haben.“ „Aber diesmal doch wohl nicht schnell genug!“ Alles in mir empörte sich gegen diese Selbstgefälligkeit. 232
„Sonst läge Ramona Paschotka wohl nicht auf der Intensivstation.“ „So ist es“, sagte Habnicht, seltsam in sich gekehrt, „ich hätte sie gleich dabehalten sollen, heute morgen, als sie noch einmal zur Vernehmung in meinem Büro war. Ihr Sohn, der bisherige Hauptverdächtige, war ja entlastet, nachdem er sich gestellt hatte und wir bis in die Morgenstunden hinein seine Aussage mit unseren Ermittlungsergebnissen verglichen haben und beide in Einklang bringen konnten – oder doch so gut wie entlastet. Und auch der Haftbefehl lag schon in meiner Schreibtischschublade. Hätte ich sie also nicht mehr gehen lassen, dann wäre sie jetzt nicht da, wo sie ist. Vielleicht hat die Grippe sich mir aufs Gehirn gelegt. Es tut mir leid.“ Diese Töne hatte ich, nach den Erlebnissen mit ihm in den drei Tagen, von ihm nie erwartet, und fast hätte ich mich in der Überlegung verloren, daß der Mensch eben auch durch Fehler zum Besseren in sich finden kann. Doch war ich erst einmal zu sehr verwirrt von der beiläufigen Erwähnung eines Haftbefehls gegen Ramona Paschotka. Die Irritation aber dauerte nur so lange, bis mir einfiel: Ramona Paschotka konnte sich dadurch strafbar gemacht haben, daß sie den Tatverdacht auf Jakob geschoben hatte. Aber war dem denn wirklich so? Mir hatte sie versichert, nur die aus Rücksicht auf meinen Sohn zunächst zurückgehaltene Beobachtung, wie Jakob Gretel Königs Zimmer verließ, an Habnicht weitergegeben und nicht behauptet zu haben, Jakob sei der Mörder. Möglicherweise war das Zurückhalten einer Aussage bereits eine strafbare Handlung und konnte Festnahme nach sich ziehen. Ich kannte mich da überhaupt nicht aus. „Wie hat sich denn alles abgespielt?“ fragte ich, nachdem ich mich dank Habnichts freundlicherer Gesinnung und auch durch die juristischen Überlegungen so weit 233
erholt hatte, daß die Wißbegier ihr Recht forderte. „Oder dürfen Sie darüber nicht sprechen, weil …“ „Was meinen Sie mit alles abgespielt ?“ Habnicht schien aus der eher nachdenklichen Stimmung wieder in seine übliche Haltung zurückfallen zu wollen, nur weil ich die falsche Vokabel gewählt hatte. „Ich meine: Waren die drei, so wie Ramona Paschotka und Florian Schmidt behauptet haben, gemeinsam im ‚Schloßkrug‘? Und ist der junge Mann früher gegangen?“ „So war es, und er hat sich tatsächlich nach ungefähr einer halben Stunde verabschiedet.“ Das erstaunte mich so sehr, daß mir ein „Ach, wirklich?“ herausrutschte. „Aber wir, Frau Manthey und ich, haben doch von Sebastian Engel erfahren, daß Florian Schmidts Alibi abgesprochen war.“ Habnicht ignorierte meinen Einwand, erklärte vielmehr: „Es herrschte nämlich nicht, wie behauptet worden ist, Harmonie am Tisch, sondern im Gegenteil eine äußerst gereizte Stimmung. Dicke Luft, sozusagen.“ Hier mischte sich Leutnant Feder ein, der anscheinend seiner ihm von Habnicht zugewiesenen Statistenrolle überdrüssig war. Er sagte: „Gretel König hatte es darauf abgesehen, diesem Florian Avancen zu machen. Und das wieder vertrug Ramona nicht. Denn die liebt den jungen Mann sehr und hatte Angst, ihn zu verlieren. Gretel König war ja nun wieder frei, wenn ich das mal so sagen darf, und Florian hatte sie sich nie aus dem Kopf schlagen können.“ Habnicht hatte, während Feder Auskunft gab, die Hände über dem Bauch gefaltet, drehte die Daumen umeinander und machte kein Hehl daraus, daß er von der Einmischung seines Kollegen nicht gerade entzückt war. Seine Miene sagte deutlich aus: Wenn hier überhaupt jemand etwas erzählt, dann bin ich es. Und als Feder den nächsten Satz beginnen wollte, riß er wieder 234
das Gespräch an sich, und Feder mußte sich damit begnügen, durch ein Achselzucken eine Art von Protest anzudeuten. „Jedenfalls ist Florian Schmidt gegangen, nach einer guten halben Stunde, wie er behauptet, als die Mädchen mit ziemlich harten Worten aneinandergerieten. Er ist eben, weiß Gott, kein Held, sondern nur ein verwöhnter Bengel, dem bisher alles in den Schoß gefallen ist und der an dem Tag lieber aus der Distanz abwarten wollte, was sich aus dem Streit der Frauen ergab, als sich offen für die eine oder die andere zu erklären.“ „Ja, aber wo ist er denn die ganze Zeit über gewesen?“ Mir wollte es nicht in den Kopf, daß er sich so früh verabschiedet haben sollte, da doch sein Alibi hinfällig war und Habnicht mir am Tag zuvor noch erklärt hatte, es seien drei Personen in Gretel Königs Zimmer gewesen. „Und wer war denn der dritte in Gretels Appartement?“ Habnicht nahm die Hände auseinander und machte eine beruhigende Geste. „Eins nach dem anderen, Herr Professor. Er ist zurückgekommen, gegen drei Uhr – so einfach ist das. Er behauptet, er habe gehofft, die Damen hätten sich getrennt, im Streit oder nicht, und er wollte Gretel König aufsuchen, um – nennen wir es einmal so – die Möglichkeiten und Modalitäten einer Fortsetzung der Freundschaft zu klären. Er war froher Erwartung und hatte zwei Flaschen Wein gekauft. Die leeren Flaschen haben wir dann mitsamt der einen Flasche, die die Mädchen aus dem ‚Schloßkrug‘ mitgebracht hatten, bei Frau Fink entdeckt, die sie beim Müllcontainer gefunden hatte und dem Altstoffhandel zuführen wollte. Und alle drei waren fein säuberlich abgewischt, keine Fingerabdrücke waren drauf, natürlich abgesehen von denen der Frau Fink.“ Er schnaufte halb verächtlich, halb belustigt. „Nun gut: keine Fingerabdrücke also.“ Die umständliche Erzählweise machte mich nervös. 235
Warum nur diese Geschichte von den Flaschen neben der Mülltonne? Wollte Habnicht damit die gründliche Arbeit seines Teams herausstreichen? Und was der nachdrückliche Hinweis auf die fehlenden Fingerabdrücke bedeuten sollte, war mir vollends unklar. Um ihn wieder auf das Eigentliche zu bringen, fragte ich geradezu: „Hat er Gretel König angetroffen oder nicht?“ „Eins nach dem anderen. Bei unseren Nachforschungen ist alles wichtig, auch leere Flaschen, auch fehlende Fingerabdrücke. Aber um auf Ihre Frage zu kommen: Natürlich hat er sie angetroffen.“ Zum ersten Mal an diesem Abend sah ich so etwas wie ein Lächeln auf seinem Gesicht, und ich argwöhnte, er wollte sich auf meine Kosten lustig machen, wollte mir, dem Dilettanten, sozusagen nebenbei vorführen, wie wenig ich von der Materie und den Methoden, ihr zu Leibe zu gehen, verstand. „Doch zu seiner Enttäuschung war sie nicht allein. Die beiden Mädchen saßen, wohl auf Drängen Ramonas nach Klärung der Verhältnisse, noch immer beisammen, in Gretels Appartement. Und noch immer war die Mißstimmung nicht abgeflaut, sondern eher noch befördert worden. Er habe zu vermitteln versucht, sagt Florian Schmidt, und das ist ihm wohl auch gelungen. Die beiden Flaschen Wein zusätzlich müssen auf die trinkungewohnten Mädchen lähmend und beruhigend gewirkt haben. Aber nur vorübergehend. Als die Auseinandersetzungen trotz aller vorausgegangener gegenseitiger Freundschaftsbeteuerungen wieder aufflammten und Gretel sich anschickte, einige Lächerlichkeiten aus Ramonas Intimleben mit Jakob Maul zum besten zu geben, hat unser Held erneut sein Heil in der Flucht gesucht. Das war so gegen vier Uhr, sagt er.“ „Und das glauben Sie ihm?“ Ich begriff kaum mehr etwas von dieser Version des Ablaufs der Ereignisse. „Wir wissen es inzwischen.“ 236
„Aber dann muß er doch noch einmal zurückgekehrt sein.“ „Er ist zurückgekehrt, um elf Uhr nachts, nach der Veranstaltung in der Uni. Als ihm Gretel König nach mehrmaligem vergeblichem Klingeln nicht öffnete und er wieder weggehen wollte, ist ihm Ramona aus ihrer Wohnung entgegengetreten, ganz verzweifelt.“ Habnicht lehnte sich zurück und schwieg. Auch die anderen sagten nichts. Dr. Klein putzte mit verbissenem Eifer seine Brille; der Mann neben der Tür betrachtete die Spitzen seiner Schuhe; Katharina kramte in ihrer Handtasche. „Soll das heißen …“ „Genau das.“ Habnicht fegte mit der Hand über einen Ärmel, als habe sich da ein hartnäckig haftendes Fädchen festgesetzt. Dann sagte er: „Sie wollten doch Kaffee brühen, Herr Doktor.“ Und Dr. Klein nickte, anscheinend nüchtern geworden, aber trotzdem nicht Herr seiner Glieder. Er hampelte wie eine schlecht geführte Marionette quer durch den Raum zur Fensterbank, wo er sich, ehe er den elektrischen Kochtopf am Waschbecken vollaufen ließ, noch einmal aus dem Röhrchen bediente und sich leicht schüttelte, als er die Pillen schluckte. „Das wär’s denn wohl“, sagte Leutnant Feder deutlich ungeduldig. Wahrscheinlich wollte der Mann nach Hause und ins Bett, nach den strapaziösen Tagen und der durchwachten letzten Nacht. Doch niemand schien sich mit dieser Bemerkung als Abschluß zufriedengeben zu wollen. Ich am allerwenigsten. Ramona Paschotka, dachte ich wieder und wieder, so als ob der klangreiche Name mir weiterhelfen, etwas erklären könnte. Ich versuchte, mir unser erstes Zusammentreffen vorzustellen, in unserem Haus, von dem mir nichts als eine flüchtige Erinnerung geblieben war; ich sah sie, die großgewachsene und 237
sportlich wirkende junge Frau, wie sie neben mir auf dem Krankenhausgelände umherging, wie sie mit mir auf der Bank saß, den Rhododendronbusch im Blick. Ich hörte sie wieder von ihrer Sehnsucht nach Ruhe, nach klaren Verhältnissen, nach Ehrlichkeit und Verläßlichkeit sprechen, und ich begriff ihre Verzweiflung, als sie befürchten müßte, wieder den Freund zu verlieren, und ihren Zorn darüber, auch ihn an dieselbe Frau zu verlieren. Kurzschlußhandlung nennt man das wohl. Ich schluckte heftig, um nicht losheulen zu müssen, und ich genierte mich nicht. Die Darstellung der weiteren Ereignisse durch Habnicht konnte ich nicht mehr mit derselben Spannung und der Konzentration verfolgen, den ich ihrem Anfang entgegengebracht hatte. Zwar nahm ich davon Kenntnis, daß Florian Schmidt, als er in dieser Nacht vor der völlig entnervten und von ihrer Tat entsetzten Ramona stand, die eigene Fassungslosigkeit bald überwand und nach einem Ausweg suchte; doch das Tatsächliche wurde für mich immer wieder von Fragen nach der seelischen Situation der beiden jungen Leute überlagert, aus der ein Fehlverhalten nach dem anderen entsprungen war. Wie tief mußte Florians Verletztsein über seine Niederlage bei Gretel gesessen haben, wie stark mußte sein Haß gegen Jakob gewesen sein, daß er (er hatte es beim Verhör am Mittag zugegeben) Ramona vorschlagen konnte, Jakob den Mord anzulasten. Und wie groß mußte Ramonas Entsetzen gewesen sein und wie bedingungslos ihre Liebe zu Florian, daß sie, wenn auch erst am Donnerstag und sicherlich nach heftigen Gewissensqualen, den Verdacht auf Jakob gelenkt hatte. Habnicht schien gefühlsmäßig weit weniger engagiert; sicherlich konnte er es sich nicht zumuten, anders als sachlich und professionell an ein Verbrechen heranzugehen. Dennoch durchbrach manchmal Anteilnahme auch den Lauf seines Berichts, besonders als er 238
davon sprach, wie die beiden in Angst darauf gewartet hatten, ob Jakob seine Entdeckung angezeigt hatte oder nicht, und wie sie, als den Dienstag über niemand von der Polizei aufgetaucht war, am Abend des Tages den Entschluß faßten, mit Hilfe des Schlüssels, den Jakob steckengelassen hatte, in Gretels Appartement einzudringen und alle Spuren zu beseitigen. „Das muß man sich einmal vorstellen“, sagte er mit Ekel in der Stimme, „da liegt die tote Freundin auf dem Teppich, mit offenen Augen, und die beiden tanzen ’rum und wischen und wischen! Ich kann nicht nachvollziehen, wie dem Mädchen zumute gewesen ist. Diese psychische Verheerung … Heute mittag ist sie voll durchgebrochen in diesem Selbstmordversuch.“ Er bedeckte die Augen mit der Hand. Dann aber schlug seine Stimme um. „Die saudummen Gören!“ Er donnerte mit der Faust auf den Schreibtisch. „Polieren alles: Tisch, Sessellehnen, Klinken, Türen, den Kleiderschrank, die ganze Badezimmereinrichtung. Spülen die drei Gläser, stellen sie aber auf dem Küchenschrank ab, daß sie jedem Blinden mit Stock auffallen mußten, entfernen anschließend vom Abwaschtisch alle Fingerspuren. Von den Weinflaschen habe ich Ihnen ja schon erzählt.“ Er hielt inne, als sei er erschöpft von der Aufzählung dieser Aktivitäten. Dann fuhr er fort: „Florian Schmidt hat mir dieses blöde Vorgehen damit zu erklären versucht, daß wir auf keinen Fall auf Fingerabdrücke von ihm stoßen durften, damit die Behauptung, er habe die beiden jungen Frauen nicht wiedergesehen, nachdem er sich im ‚Schloßkrug‘ von ihnen verabschiedet hatte, nicht in sich zusammenbrach. Eine viel zu komplizierte Pfuscharbeit!“ sagte er verächtlich, und mir schien, es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre in ein Loblied auf intelligente Verbrecher ausgebrochen. Mittlerweile hatte Dr. Klein den Kaffee aufgebrüht, stellte vor jeden von uns (nur Feder an der Tür winkte 239
ab) eine von den großen Tassen und verfügte sich wieder auf die Untersuchungspritsche. Habnicht führte die Tasse eine Weile unter seiner Nase herum, wie um mit den aromatischen Schwaden seine Lebensgeister zu wecken, dann trank er und verzog das Gesicht vor Behagen. „Ja, diese Wischerei“, begann er wieder. „Wir fanden eine sozusagen keimfreie Wohnung vor und mußten uns natürlich unseren Reim darauf machen. Als wir letzte Nacht Jakob Mauls Aussage hatten und wußten, daß er auch manche Möbelstücke und andere Gegenstände angefaßt hatte, wußten wir auch, daß die eifrige Säuberung nach dem Montagabend vorgenommen worden war. Vorausgesetzt natürlich, daß Jakob Maul nicht log und nicht doch der Mörder war und den makabren Hausputz selber veranstaltet hatte.“ Und er fügte, nicht direkt eitel, doch zumindest sehr selbstbewußt hinzu: „Aber nach über zwanzig Jahren in diesem Gewerbe gewinnt man die Fähigkeit der Menschenbeurteilung. Und außerdem hatte ich vor der Vernehmung Jakob Mauls ein langes Gespräch mit Frau Manthey. Wie gesagt: Menschenkenntnis …“ Er schenkte Katharina ein Lächeln, das wohl gewinnend sein sollte, aber auf seinem massigen Gesicht recht verloren wirkte. Habnichts Ausstellung von Scharfsinn und Menschenkenntnis und die Hochachtung vor sich selber imponierten mir nicht. Ich sah nur die Szene vor mir, wie sich Ramona Paschotka und Florian Schmidt in Gretels Appartement bewegten. Hatten sie der Toten wenigstens das Gesicht bedeckt? Was mochten sie miteinander gesprochen haben? Hatte Florian gesagt: Da, der Aschenbecher muß noch abgewischt werden? Hatte Ramona gedrängt: Komm, laß uns gehen, ich halte es hier nicht mehr aus? Habnicht stellte nun, wieder nachdenklicher und bescheidener geworden, Betrachtungen darüber an, wa240
rum sein Verdacht sich nach der Einvernahme Jakobs auf Florian Schmidt konzentriert hatte und warum er geneigt gewesen war, Ramona nur als Mitwisserin anzusehen, die den Täter deckte. „Kopflosigkeit, gepaart mit einem pervertierten Bedürfnis zu bestrafen, dachte ich, hat den Burschen dazu gebracht, Gretel König zu töten, nachdem sie ihn abgewiesen hatte. Ramona Paschotka war für mich nur zweite Wahl. Aber immerhin habe ich natürlich auch in Betracht gezogen, daß sie der Gretel körperlich überlegen war, nicht gerechnet die Kräfte, die durch Alkohol und Verzweiflung freigesetzt werden.“ Er verzog das Gesicht, nieste dreimal und brachte die nächste halbe Minute damit zu, die rebellische Nase mit dem Taschentuch zu bearbeiten. Die Pause nutzte Leutnant Feder dazu, wieder einmal zu Wort zu kommen. „Ich glaube, der Genosse Hauptmann stapelt hier ein bißchen zu tief“, sagte er mit dem nötigen Respekt, aber auch mit einer Spur von Auflehnung in der Stimme. „Das war wirklich nur ein kleiner Schlenker in unserer Arbeit. Wenn wir …“ „Ach was!“ Habnicht hielt mitten im Naseputzen inne. „Hier haben wir schlicht und ergreifend versagt. Und wenn Frau Manthey nicht gekommen wäre …“ „Frau Manthey?“ Die Nennung des Namens stimulierte wieder meine Aufmerksamkeit. „Ja, Frau Manthey.“ Er steckte das Taschentuch ein und sah Katharina mit einem Blick an, in dem ich neben der Hochachtung für sie auch ein gerüttelt Maß an Sympathie zu erkennen glaubte. „Als sie heute mittag bei uns reingestürmt kam, den verlogenen Engel am Schlafittchen, hat sie mich vom allerersten Moment an bearbeitet, Ramona Paschotka sofort zu verhaften. Sie und niemand anderer sei der Täter.“ Das setzte mich denn doch in Erstaunen. Mir gegenüber hatte sie nichts dergleichen geäußert, und als ich sie fragte, wie sie auf den Gedanken gekommen sei und 241
warum sie mir nichts davon gesagt habe, antwortete sie: „Hätte ich dich denn davon überzeugen können?“ „Wahrscheinlich nicht so schnell.“ „Das ist es, und da für langes Reden keine Zeit blieb, habe ich eben gehandelt. Im übrigen hast du mir eine so hervorragende Beschreibung vom seelischen Zustand Ramonas gegeben, daß meine Gedanken wie von selbst in die richtige Richtung liefen. Den Rest hat meine – verzeihen Sie, Herr Habnicht – Menschenkenntnis bewirkt. Oder sollte ich besser sagen: meine Frauenkenntnis? Ich habe mich einfach in das Mädchen versetzt und mich gefragt, wie ich in ihrer Lage gehandelt haben könnte.“ Im hellen Neonlicht sah ich ganz deutlich, wie sie errötete. „Jedenfalls haben Sie mich überzeugt“, sagte Habnicht, und dann berichtete er, wie er mit Feder zur Universität gefahren war und Florian Schmidt verhaftet hatte, während sich gleichzeitig ein Kollege (eben jener Homberg, der jetzt noch vor der Intensivstation Wache schob) auf den Weg zum Schwesternwohnheim „Florence Nightingale“ machte. „Frau Manthey hat mich so dringlich gebeten, den Genossen Homberg begleiten zu dürfen, daß ich es ihr nicht abschlagen konnte. So habe ich denn zum zweiten Mal in dieser Angelegenheit gegen die Vorschriften gehandelt“, schloß er und blickte herausfordernd zu Leutnant Feder hinüber, der so tat, als messe er dem Satz keine Bedeutung bei. „Ich bin heilfroh, daß wir uns so sehr beeilt haben.“ Ich sah Katharina die Beklemmung an, die sie wohl noch immer bei der Vorstellung befiel, sie könnte nicht rechtzeitig bei Ramona Paschotka eingetroffen sein. „Der Arzt meint, eine halbe Stunde später wären vielleicht alle Rettungsversuche vergebens gewesen. Die Überdosis an Schlafmitteln muß sehr hoch gewesen sein. Ich weiß nicht mehr, wie viele Packungen da neben der Couch lagen. Ich hielt sie für tot …“ 242
„Ich hab’s geahnt, ich hab’s geahnt!“ jammerte Dr. Klein, und er sah zum Erbarmen aus, wie er da auf der Pritsche hockte, ganz in sich zusammengesunken und mit baumelnden Beinen. „Was haben Sie geahnt?“ wollte Habnicht wissen. „Daß sie sich etwas antun könnte. Sie war gestern nachmittag so unglücklich.“ Er wandte sich an mich. „Wenn Sie zu Hause gewesen wären, hätten wir sie besuchen können. Allein fühlte ich mich nicht stark genug dazu. Aber zu zweit … Wer weiß, vielleicht hätte ihr das geholfen. Wir sind doch verständige und vernünftige Männer.“ Sind wir das wirklich? fragte ich mich, und ich dachte daran, wie ich während der Zeit, da Dr. Klein in unserem Haus saß und meinen letzten Korn wegtrank, in einer Kneipe in sinnlosem Hader mit mir und der Welt gelegen hatte. „So, nun ist aber Schluß!“ entschied Habnicht und rekelte sich aus dem Schreibtischsessel hoch. „Grippe und fehlender Schlaf, das ist zuviel für einen – nun ja – nicht mehr ganz jungen Mann.“ Zu Katharina sagte er: „Es tut mir leid, daß wir uns wahrscheinlich nicht mehr sehen werden.“ Er blickte ihr lange in die Augen. „Bleiben Sie so gescheit und mitfühlend, wie ich Sie kennengelernt habe.“ „Trotzdem: auf Wiedersehen.“ Katharina gab ihm die Hand und lächelte. Als er sich mir zuwandte, war der warme Ton aus seiner Stimme geschwunden, und es klang fast wie eine Anweisung, als er sagte: „Sie sollten sich beeilen, nach Hause zu kommen, Herr Professor. Ihr Jakob ist längst bei seiner Mutter. Und denken Sie dann und wann mal an unser gestriges Gespräch: Bilderauswechseln und Flaschenpost und so weiter.“ Dann ging er zu Dr. Klein, der von der Pritsche heruntergerutscht war. „Nicht wahr, Sie hätten gern Ihren 243
Kollegen Kümmerer hinter Schloß und Riegel gesehen, wegen Mordes an Schwester Gretel.“ Und als Dr. Klein allzu heftig den Kopf schüttelte, stellte er fest: „Ich weiß es, Herr Doktor. Sie haben von Anfang an alles getan, um ihn in ein schlechtes Licht zu setzen. So etwas fällt auf, glauben Sie mir das. Inzwischen verstehe ich Sie auch, und auch ich würde ihn gern hinter Schloß und Riegel sehen – aber wegen einer anderen Sache. Ich habe ihn heute vormittag ein wenig näher kennengelernt, da ist er nämlich aus sich rausgegangen, auch in bezug auf Sie und Ihr Problem. So sehr erleichtert war er, als ich ihm zu verstehen gab, es läge kein Verdacht gegen ihn vor, daß er ins Quatschen geriet und gar nicht mehr aufhören wollte.“ Habnicht verzog bei der Erinnerung das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. „Wirklich, ein feiner Zeitgenosse. Was er nicht weiß, ist: Wir haben im Appartement der Toten ein Bündel schriftlicher Bekundungen von Patienten gefunden, die er nach allen Regeln der Kunst geschröpft hat. Und wenn er uns auch weismachen wollte, er habe Gretel König am Montagnachmittag aus alter Freundschaft besuchen wollen – wir sind uns so gut wie sicher, daß es diese Erklärungen waren, die ihn bewogen haben, ins Schwesternwohnheim zu gehen. Um die ging es ihm, die wollte er Gretel König abhandeln oder – wer weiß? – sie ihr mit Gewalt abnehmen. Aber gerade weil wir sie gefunden haben, kam er als Täter so gut wie nicht in Betracht. Denn wer tötet schon jemanden, um eine bestimmte Sache an sich zu bringen, und läßt ebendiese Sache dann liegen? Aber ungeschoren kommt dieser schäbige Kümmerer nicht davon, das garantiere ich Ihnen. Das Bündel wird am Montag auf dem Tisch der Krankenhausleitung liegen. Also: Kopf hoch, Herr Doktor! Ich glaube nicht, daß der Ihr Nachfolger wird. Und berappeln Sie sich.“ Der Arzt sah dem Kriminalisten dankbar und ein 244
wenig getröstet hinterher, als der schwerfällig, von Leutnant Feder gefolgt, aus dem Zimmer stampfte. An der Tür drehte er sich noch einmal um und trompetete: „Ein schönes Wochenende allerseits!“ Es wurde nicht, leicht, uns von Dr. Klein zu verabschieden. Er wollte uns lange nicht gehen lassen, und erst als ich ihm versprach, in Kontakt mit ihm zu bleiben, konnten wir uns verabschieden. Im Korridor standen wir dann einander gegenüber, Katharina und ich, und mir fiel nichts ein, was ich ihr hätte sagen können. Als ich ihr schließlich anbot, sie nach Hause zu bringen, sagte sie: „Ich gehe noch mal auf die Intensivstation. Ich muß mich um das Mädchen kümmern.“ Es wurde mir zwar schwer, den Satz über die Lippen zu bringen, aber dann fragte ich doch: „Soll ich Jakob etwas von dir ausrichten?“ „Ich glaube nicht.“ Und nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: „Ich habe viel zu bedenken.“ Ja, dachte ich auf meinem Heimweg durch den Abend, ich habe auch viel zu bedenken.
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– Kurzwort für Delikte, Indizien, Ermittlungen – erscheint seit 1970. Einem Wunsch vieler Leser folgend, veröffentlichen wir eine alphabetische Aufstellung aller bis einschließlich 1986 erschienenen Titel, wobei Nachauflagen innerhalb der Reihe nicht berücksichtigt sind. Wir müssen darauf aufmerksam machen, daß alle Auflagen vergriffen sind; es ist zwecklos, Bestellungen an den Verlag zu richten.
Manfred G. Abel, Bankraub 12.55 h Arkadi Adamow, Kreise auf dem Wasser Joe Alex, Der Tod spricht in meinem Namen Eric Ambler, Die Maske des Dimitrios László András, Der Fall Laurentis László András, Tod am Donauufer Frank Arnau, Lautlos wie sein Schatten Jens Bahre, Der stumme Richter Rudolf Bartsch, Der Mann, der über den Hügel steigt Horst Bastian, Die Brut der schönen Seele Karl Heinz Berger, Geschäftsrisiko Karl Heinz Berger, Getünchte Gräber Karl Heinz Berger, Premiere in N. Karl Heinz Berger, Sirenengesang Karl Heinz Berger, Wein für ehrenwerte Männer Vera Caspary, Die gefährliche Wahrheit Bernd Diksen, Leere Hände Bernd Diksen, Der halbe Tod Bernd Diksen, Der Verlierer zahlt Bernd Diksen, Das Vorurteil Jerzy Edigey, Mord nach Alphabet Jerzy Edigey, Der Tod wartet vor dem Fenster Jerzy Edigey, Der Tote mit dem Schlüssel Jerzy Edigey, Urlaub in der Vorsaison Jan Eik, Poesie ist kein Beweis Václav Erben, Ein Denar in Mädchenhand Václav Erben, Der einsame tote Mann Václav Erben, Der Tod des talentierten Schusters
Fritz Erpenbeck, Tödliche Bilanz Fritz Erpenbeck, Der Fall Fatima Fritz Erpenbeck, Der Tote auf dem Thron Gerhard Harkenthal, Lokaltermin Josef Hayes, An einem Tag wie jeder andere Paul Henricks, Sieben Tage Frist für Schramm Richard Hey, Ein Mord am Lietzensee Chester Hirnes, Lauf, Nigger, lauf! Jürgen Höpfner, Verhängnis vor Elysium Anne Holden, Wahrheit aus zweiter Hand Jacek Joachim, Die Jagd auf den Hecht Christa Johannsen, die Schattenwand Eva Kačirková, Ein verhängnisvoller Ausflug Eva Kačirková, Eine Falle für die Katze Wolfgang Kienast, Gillermanns Tod -ky, Ein Toter führt Regie -ky, Es reicht doch, wenn nur einer stirbt Ed Lacy, Geheimauftrag Harlem Hans-Ulrich Lüdemann, Tödliches Alibi Hans-Ulrich Lüdemann, Das letzte Kabinettstück Hasso Mager, Bartuschek ist nicht mehr da Hansjörg Martin, Der Kammgarnkiller Louis Martin, Mokka vor dem Mord Louis Martin, Die Nacht vor dem Urlaub Ed Mazzaro, Einer gegen Chicago Hartmut Mechtel, Auf offener Straße Ruth und Hubertus Methe, Filmriß Klaus Möckel, Haß Klaus Möckel, Drei Flaschen Tokaier
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