Albert Ilien Lehrerprofession
Albert Ilien
Lehrerprofession Grundprobleme pädagogischen Handelns 2., überarbeitete A...
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Albert Ilien Lehrerprofession
Albert Ilien
Lehrerprofession Grundprobleme pädagogischen Handelns 2., überarbeitete Auflage
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. . # 2. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Stefanie Laux Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15460-2
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis ............................................................................................... 5 Im Bildungsabseits............................................................................................ 9 Zur Zweitauflage..................................................................................... 9 Zur gegenwärtigen Gesellschaftsentwicklung ........................................ 9 Argumentationsgang............................................................................. 11 Gruppen-Bildung .................................................................................. 18 1
Hochschullehre mit Lehrproblemen, erste Begriffsklärungen ............. 20 1.1
1.2
1.3
1.4
Probleme mit Berufsvorstellungen von Lehramtsstudierenden ............ 21 Schwierigkeiten der literarischen Form ................................................ 21 Unterschiedliche Vorstellungen vom „guten Lehrer“........................... 22 Vier typologische Gruppen auf drei Betrachtungsebenen..................... 25 Organisationsgeförderte Problemunterschätzung ................................. 29 Zwischenresümee in hochschuldidaktischer Absicht........................... 33 Paradoxale Pädagogik .......................................................................... 36 Konsequenz aus dem Bisherigen .......................................................... 36 Der neuzeitliche pädagogische Imperativ ............................................. 38 Pädagogische Grundparadoxie und Paradoxie als Mitteilungsvorgang 39 Eine zentrale und zwei abgeleitete Paradoxien ..................................... 42 Bildung als professionstheoretischer Leitbegriff.................................. 45 Erziehung und traditionale Gesellschaft ............................................... 45 Bildungsrelevanz gesellschaftlicher Verkehrsverhältnisse ................... 46 Lehrerberuf als Profession nach Oevermann........................................ 48 Professionen als besondere Berufe, Fallanwendung ............................. 48 Materiale Wertbezüge von Professionen und stellvertretende Krisenbewältigung ................................................................................ 51 Therapeutische Funktion des Lehrerhandelns....................................... 52 Diffuse und spezifische Sozialbeziehungen.......................................... 54
2
Drei Ebenen des Lehrerhandelns ............................................................ 57 2.1
2.2
2.3
2.4
3
Der gesellschaftliche Bildungsauftrag an die Lehrer........................... 111 3.1
6
Ebene des Lehrerhandelns, zwei weitere Ebenen................................. 58 Ausgewählte Inhalte und Kompetenzen, das didaktische Dreieck........ 58 Mathetik - Didaktik............................................................................... 59 Probleme (bei) der Stoffauswahl........................................................... 61 Kultur und Didaktik .............................................................................. 63 Pädagogik als politische Reformpädagogik .......................................... 66 Fehleinschätzungen der Inhaltevermittlung .......................................... 68 Schüler als Gruppe................................................................................ 70 Visualisiertes Zwischenfazit ................................................................. 71 Die zweite Ebene: individuelles Arbeitsverhalten................................ 74 Lernen des Lernens............................................................................... 74 Unterschiedliche Handlungsebenen...................................................... 76 Argumentationsmöglichkeiten bei defizitärem Arbeitsverhalten.......... 81 Zugehen auf den sich verweigernden Schüler ...................................... 84 Selektionsdruck und Stoffüberschätzung.............................................. 87 Die dritte Ebene des Lehrerhandelns: kulturelle Grundhaltung............ 89 Schulgesetzlicher Bildungsauftrag........................................................ 89 Vorausgesetztes und Tabuiertes............................................................ 91 Exemplarische Darstellung von Problemschüler-Verhalten ................. 92 Relativierungen..................................................................................... 96 Kritik als Wertschätzung..................................................................... 100 Aktuelle Typen asozialer Schüler-Haltungen ..................................... 102 Bildungsparadoxien auf verschiedenen Ebenen ................................. 105 Architektonischer Aufbau der Ebenen ................................................ 105 Konterkarierter Bildungsauftrag ......................................................... 108
Entstehung des Bildungs-Denkens im 18. Jahrhundert ...................... 112 Bestirnter Himmel über mir und moralisches Gesetz in mir............... 112 Zerbrechen des alten Weltbildes, Reformation und Renaissance ....... 115 Frühaufklärung im Selbstwiderspruch ................................................ 117 Romantische Aufklärung der Aufklärung: Jean-Jacques Rousseau.... 121 Einfühlung .......................................................................................... 124 Seit Rousseau: drei Bildungsparadoxien............................................. 125 Die notwendige Fremdbestimmung des Zöglings bei Kant ................ 127 Die nur durch Zuspitzung auflösbare Gesellschaftsparadoxie ............ 130 Zuchtanstalt Primarschule – Ausflösung der Organisationsparadoxie 132 Kants theoretische Pseudo-Entparadoxierungen................................. 133
3.2
3.3
4
Rückgriff auf die klassische Welt als Vorgriff auf die zukünftige...... 134 Klassische Bildung für Alle ................................................................ 136 Die erst noch anzubildende Humanität bei Johann Gottfried Herder.. 138 Abbild des Schöpfers .......................................................................... 140 Grenzen der Verstandeserkenntnis...................................................... 145 Besonderheiten in Herders Umgang mit den Paradoxien ................... 146 Implementation der Bildung im 19. Jahrhundert ................................ 150 Ideen der Aufklärung und Regress auf die Frühaufklärung ................ 150 Der Wachstumsmythos ....................................................................... 153 „Realistische“ Pädagogik, „progressive“ Politik ................................ 155 Schulsystem als Instrument der nationalen Versöhnung..................... 157 Erledigte Bildungsparadoxien............................................................. 159 Schulische Pädagogik: die große Syntheseleistung ............................ 160 Blick zurück auf Rousseau.................................................................. 162 Selbstmodernisierungs-Gesellschaft: Liquidierung der Bildung? ...... 164 Selbstmodernisierung statt Selbsthumanisierung der Gesellschaft ..... 164 Die globalisierungsbedingte Bildungskrise......................................... 166 Der Zukunfts- und der Sinnbedarf der Pädagogik .............................. 169 Die Erosion der Reformpädagogik ..................................................... 171
Psychische Kosten des Lehrerhandelns ................................................ 175 4.1
4.2
4.3
Pädagogisch relevante Selbst- und Narzissmustheorie nach Kohut ... 176 Abkehr von der Freudschen Triebtheorie ........................................... 176 Wurzeln der „Idee der Menschheit“ in frühkindlichen Erfahrungen .. 179 Vom bipolaren zu einem tripolaren Selbst.......................................... 181 Frühkindliche und lebenslange Selbstobjekte..................................... 184 Menschliches Leben und Empathie .................................................... 186 Empathie am Mutter-Kind-Beispiel.................................................... 190 Empathie als optimale Frustration ...................................................... 192 Störungen............................................................................................ 194 Narzissmus als intersubjektives metapsychologisches Konzept ......... 197 Systemische Empathie, Verbindung von Kohut und Kernberg .......... 199 Nicht-konzentrische systemische Empathie........................................ 199 Regressive Gruppenprozesse .............................................................. 201 Die Bedeutung des Gruppenleiters ..................................................... 203 Pseudoentparadoxierungen als narzisstischer Selbstschutz ................ 206 Handlungsanforderungen und Vereinseitigungen............................... 206 Kurzskizze des Inhaltevertreters ......................................................... 208 Skizze des Schülerfreunds .................................................................. 209 Skizze des Sich-selbst-Darstellers und des Sich-selbst-Schützers ...... 211 7
Schulformbezüge ................................................................................ 212 Pseudo-Entparadoxierungen auf fünf Handlungs-Ebenen .................. 215 Anmerkungen...................................................................................... 216 Sozialwissenschaftliche und beratungsliterarische PseudoEntparadoxierungen ............................................................................ 217 5
Profession ohne Vergangenheit – und Zukunft?.................................. 222 5.1
5.2
Virulenz der Gesellschaftsparadoxie .................................................. 223 Delegierte Humanisierung: Danaergeschenk an die Schulpädagogik. 223 Mobilisierung der Frage nach dem eigenen Erzogen-Sein ................. 226 Verführbarkeit durch Gesellschaftsmythen......................................... 229 Aktuelle Tendenzen der Deprofessionalisierung des Lehrerberufs..... 230 Wachstumsmythos und pädagogische Machbarkeitsillusionen .......... 236 Zur Virulenz der Beziehungsparadoxie .............................................. 239 Vermeintliche Selbstverständlichkeit kindgerechten Umgangs.......... 239 Psychoanalytisch bestätigte Bildung................................................... 242 Entwicklungspsychologische Gesichtspunkte .................................... 243 Professionskompetenzen..................................................................... 246 Selbstreflexive pädagogische Theorie ................................................ 247 Leitungsfunktion des Lehrers ............................................................. 249 Professionelle Selbstreflexion und Gesellschaftskritik ....................... 251 Vorsichtige Vorschläge zum Umgang mit den Paradoxien ................ 253
Literaturverzeichnis ....................................................................................... 259
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Im Bildungsabseits Zur Zweitauflage Als ich erfuhr, dass die Bestände von „Lehrerprofession“ zur Neige gingen, freute ich mich über die rasche Möglichkeit, einige Schwächen des Buches auszumerzen, vor allem der an manchen Stellen überladenen Themen- und Gedankenführung sowie der zu wenig transparenten Gesamtgliederung. Außerdem hatte ich mich in der Zwischenzeit in die Geschichte des Bildungsdenkens des 18. Jahrhunderts neu vertieft. Ich entschloss mich darum zu einer gründlichen Überarbeitung. Dass ich dann gut zwei Drittel des Textes ganz neu verfassen würde, hat mich im Verlauf der letzten Monate allerdings selbst überrascht: Es entwickelte sich aber aus der neuen übersichtlicheren Grundstruktur ganz zwanglos. Ebenso allerdings auch, dass durch die Seitenvorgabe mehrere Themen entfielen. Die Grundstruktur und den revidierten Argumentationsgang stelle ich im Folgenden gerafft dar. Ich versuche in möglichst großer Deutlichkeit klarzumachen, welche Intentionen mich bei meiner Arbeit leiten und wie sie mit meiner kritischen Gegenwartsdiagnose, die ich zunächst kurz anreiße, korrespondieren. Vielleicht ist ein Lesehinweis an dieser Stelle angebracht: Weil die folgende Kurzdarstellung notwendig komprimiert ist, kann sie wohl nur gut geübten Leserinnen und Lesern leicht zugänglich sein. Denen kann sie dann auch nützlich werden. Die anderen sollten sich davon nicht abschrecken lassen und sie vielleicht am Ende als eine Art nachträglicher Gesamtzusammenfassung lesen. Ich habe versucht, den Text so eingängig zu verfassen wie es mir jeweils vom Thema her möglich war. Bei dieser Gelegenheit möchte ich den Hinweis nicht vergessen, dass dieser Absatz meine letzte textliche Berücksichtigung der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen darstellt. Aus Gründen der Textvereinfachung werde ich mich auf die männliche Sprachform beschränken und wäre erleichtert, wenn die Leserinnen dies nicht als Diskriminierung empfinden würden.
Zur gegenwärtigen Gesellschaftsentwicklung Wovon die großen Aufklärer nur träumen konnten, weil sie von einem profunden geschichtsphilosophischen Fortschrittsoptimismus getragen waren, scheint sich heute vor aller Augen von selbst einzulösen: die Verbreitung einer universal 9
umfassenden Kultur, die das Leben bis in alle Winkel der Erde zu vereinheitlichen vermag. Sie manifestiert sich schon äußerlich in einer weltweit verbreiteten Hochhausarchitektur, die vor allem eins nachdrücklich bezeugt: die Machbarkeit der Welt durch den sie – fast – nach Belieben gestaltenden und umgestaltenden Menschen. Die andere Neuigkeit ist noch deutlich jüngeren Datums: täglich schauen wir ins Internet und mit uns Millionen Andere – weltweit. Die Rede ist von dem, was man, selbstverständlich stets ungenau angesichts der Komplexität der zugrunde liegenden Faktoren, als „Globalisierung“ zu bezeichnen pflegt. Ohne sie wäre es kaum zu einem Zusammenbruch der östlichen totalitären Systeme gekommen. Sie scheint, mit der wirtschaftlichen Basis eines ursprünglich westlichen Kapitalismus, wie von selbst auf demokratischen, insbesondere liberalistischen Vorstellungen zu gedeihen. Was jedoch den Aufklärern ein Albtraum gewesen wäre: Die neue weltumspannende Kultur ist prinzipiell human-rücksichtslos angelegt. Sie wird von einer Bevölkerungsminderheit repräsentiert – und überproportional konsumiert – die als Managerelite das Geschehen in den Hochhäusern steuert, während bis in die führenden fortgeschrittenen Industrienationen hinein andere Bevölkerungsminderheiten in eine „Neue Armut“ zurücksinken. Diese Möglichkeit bedroht dann auch die Bevölkerungsmehrheiten zwischen den driftenden sozialkulturellen Extremen mit jederzeitigem Abstiegs und/oder stachelt sie zu verschärftem Aufstiegs-Ehrgeiz an. Ein Klima subkutaner Angst und feindseliger Abgrenzung entsteht, das sich durch die Hektik einer sich normalisierenden alltäglichen Arbeitskonkurrenz als lebendige Dauerkreativität selbst öffentlich miss zu verstehen – und zu beschwichtigen – scheint. Sogar eine an vieles gewöhnte Öffentlichkeit erregt sich, wenn auch politisch wirkungslos und juristisch folgenarm, bei gewissen Firmenübergaben bzw. -übernahmen über obszöne Abfindungen für Spitzenmanager, mit deren Summen man in dem betreffenden Bundesland hätte beispielsweise mehrjährig die Klassenfrequenzen in allen Schulen senken können. Zeitgleich nehmen sich Medienkonzerne nachdrücklich der „Bildungs“Frage an, nicht ohne sie zuvor auf ihren Leisten geschlagen zu haben. Nicht zuletzt auch auf ihren Druck hin wird in dieser Situation die schulische Pädagogik mit flächendeckenden Schulentwicklungsvorhaben beschäftigt, die sich im Wesentlichen am Vorbild der als Erfolgsmodell deklarierten Betriebswirtschaft ausrichten. Wäre dies für einen neutralen Beobachter1 schon befremdlich genug, so würde es diesem vermutlich endgültig die Sprache verschlagen zu sehen, wie sich die deutschsprachige Erziehungswissenschaft, wo sie innovativ werden will und ermüdet von den obsolet gewordenen alten Idealen, einem Empirismus ver1 Den es bekanntlich nicht gibt – wenn es ihn gäbe, verstünde er nichts; ohne Engagement gibt es kein Verstehen. (Diese Feststellung wird im Folgenden ihren Trivialcharakter noch verlieren.)
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schreibt, der sich unbedingt an der „Sauberkeit“ der Forschungsmethoden quantitativ arbeitender Sozialforschung orientiert – während wie angedeutet neuartige Formen der Mitweltverschmutzung an der Tagesordnung sind. In dieser Situation weiß ich wenig Rat und schon gar keine Lösung. Da ich mich aber nicht nur als theoretisch tätiger Pädagoge verstehe, sondern auch als zu praktischem Handeln verpflichteter – durch meine Berufstätigkeit als Hochschullehrer –, kann ich mich den Entwicklungen, die ich seit gut anderthalb Jahrzehnten als solche und immer deutlicher erkenne, nicht einfach durch anderweitige Beschäftigung entziehen. Ich muss – in meinen Vorlesungen, Seminaren und gelegentlichen Vorträgen vor Lehrern oder Schulleitern – Stellung beziehen. So dann auch in der vorliegenden Studie. Allerdings: Je mehr sich die objektiv-gesellschaftliche Ausgangslage einer differenzierten Pädagogik verschlechtert, umso schwieriger wird es auch, diese Prozesse einigermaßen angemessen zu verstehen und, erst recht, überschaubar darzustellen, ohne dabei in allzu holzschnittartige Simplifizierungen zu verfallen. Schließlich wird man mehrere Nachbardisziplinen der Pädagogik hinzuziehen müssen, von der Psychologie und der Soziologie, letztere als gesellschaftstheoretische Makrosoziologie, über die Geschichtswissenschaft etwa in Form der Geistes- und Sozialgeschichte bis zur philosophischen Anthropologie. Bezüglich der neueren Entwicklungen werden Einblicke in die Organisationssoziologie zunehmend nützlicher und solche in die Betriebswirtschaft ständig wichtiger.
Argumentationsgang Nicht zufällig stoßen die von außen kommenden Impulse auch die innerpädagogische Theoriebildung an. Die noch vergleichsweise junge pädagogische Professionstheorie nimmt Anregungen aus der mikrosoziologischen Strukturtheorie auf und stößt kritisch auf Vereinfachungen in öffentlichen und von vielen Lehrern selbst repräsentierten Verständnissen des Lehrerberufs. Ganz anders setzte Wolfgang Klafki an, als er schon vor mehr als zwei Jahrzehnten eine Rückbesinnung der Pädagogik auf ihre Bildungsklassiker forderte, um von daher eine zeitgemäße Didaktik zu begründen. Sie sollte sich der schulischen Bearbeitung der alle angehenden gesellschaftlichen Grund- und Überlebensfragen verschreiben. Letztere nannte er „epochaltypische Schlüsselprobleme“ und versprach sich von ihrer didaktischen Umsetzung eine Mobilisierung der Schülerinteressen. Allerdings zeigt sich inzwischen zunehmend – ich deutete es schon an – die theoretische Pädagogik auffällig bereit, sich außerpädagogische Sichtweisen zueigen zu machen. Sie scheint mir dabei häufig von der illusionären Hoffnung beflügelt, sich ihre Grundprobleme – die ich „Bildungsparadoxien“ nenne – als 11
lösbar vorzustellen, so dass sie diese letzten Endes umgehen kann. Zurzeit sind Adaptionen systemtheoretischer oder bewusst radikal konstruktivistischer Sichtweisen pädagogisch im Schwange, auch hirnphysiologischer Art. Solche „Pseudo-Entparadoxierungen“ begleiten die neuzeitliche Pädagogiktheorie seit ihrer Entstehung – es spricht viel dafür, dass „Bildung“ kaum ohne Selbstmissverständnisse überhaupt je hätte praktisch-schulisch auf den Weg gebracht werden können; schließlich musste sie ja im Zuge der Einführung einer allgemeinen Schulpflicht den – sagen wir: – privilegierten Bevölkerungsschichten schmackhaft und den weniger privilegierten verständlich gemacht werden. Schließlich muss sie auch stets den praktischen Pädagogen, den Lehrern, Mut machen, an den Sinn ihrer Tätigkeit zu glauben. Dabei ist sie immer wieder angewiesen auf gesellschaftlich verbreitete zukunftsoptimistische Hoffnungen, die sich dann jedoch nicht mehr leicht von Mythen und Illusionen scheiden lassen. Zurzeit setzt sich in der neueren pädagogischen Forschung ein dezidierter Hang zu empirischen Studien durch, in dem zwar womöglich fortgesetzt von „Bildung“ die Rede ist – etwa unter dem Label „Bildungsforschung“ –, diese aber leichthin mit dem identifiziert wird, was gesellschaftlich-öffentlich für „Bildung“ gehalten wird und was daran möglichst gut messbar ist. Während sich diese Art empiristische pädagogische Forschung stark von der akademischen pädagogischen Psychologie inspirieren lässt, greift wie angedeutet die pädagogische Theoriebildung zunehmend auf sozialwissenschaftliche Fremdsichten meist soziologischer Provenienz zurück. Noch eine dritte Richtung der theoretischen Pädagogik erscheint mir erwähnenswert, weil es mir vorkommt, als erhalte sie durch die neueren Entwicklungen zusätzlichen Auftrieb: Sie greift allerdings auf eine weit längere Tradition zurück als die beiden erstgenannten Grobtendenzen. Es handelt sich um die pädagogische „Beraterliteratur“, die zumeist aus Setzungen, die als wissenschaftlich beweisbar bzw. bewiesen dargestellt werden, Handlungsanweisungen ableitet für den dann, wie sie suggeriert, unzweifelhaft gelingenden Schulunterricht oder, in neuerer Zeit, für die „Schulentwicklung“. Ihre Konjunktur verdankt diese Literaturgattung, die sich als „praxisorientiert“ definiert, ihrer unablässigen und sich im Zuge wachsender Berufsnöte von Lehrern eher noch steigernden Nachfrage durch ebendiese Klientel. Schon bei der Planung und Durchführung meiner Lehrveranstaltungen ergab sich aus den hier skizzierten Überlegungen ein Basisprogramm, und es stellten sich eine Reihe von Warnschildern wie von selbst auf. Ich wollte die noch im Gang befindliche Professionsdiskussion aufgreifen und dabei aber der Anregung Klafkis grundsätzlich folgen, bei den Bildungsklassikern anzusetzen. Dieser doppelte Zugang, den man als Strukturanalyse des Lehrerhandelns einerseits, als geistesgeschichtlichen Rückgriff auf die Bildungsphilosophie andererseits bezeichnen kann, arbeitet methodenleitend mit der Unterstellung, dass man das 12
Lehrerhandeln unter neuzeitlichen Bedingungen nicht ohne bildungstheoretische Bezüge hinreichend verstehen kann. Im Zuge einer solchen bildungsideegeleiteten Analyse gelange ich zu drei Grundproblemen der neuzeitlichen Pädagogik, die paradoxal strukturiert sind und die ich deshalb „Bildungsparadoxien“ nenne. Deren Konturierung wirft für mein weiteres Vorgehen in der geplanten Aufarbeitung wichtiger bildungsphilosophischer Entwürfe des 18. Jahrhunderts den für mich wertvollen Vorteil ab, als eine Art Heuristik, man könnte aber auch sagen, als hermeneutischer Schlüssel fungieren zu können. Ich befrage die besagten Klassiker – es wird sich um Rousseau, Kant, Herder und Schiller/Humboldt handeln – auf ihren je spezifischen Umgang mit den Bildungsparadoxien, die man, wie ich zeigen will, unschwer dem Rousseauschen Émile entnehmen kann. Selbstverständlich werde ich dadurch dem Perspektivenreichtum keines der genannten Autoren gerecht – die Unterstellung ist jedoch, dass ich bei jedem auf Strukturen stoße, die es wiederum erleichtern, innere Bezüge zwischen ihnen klarer freizulegen. Von da aus kann ich dann – wenn auch dies nur in groben Strichen – das Schicksal dieses Bildungs-Denken anlässlich der Implementation der modernen Schulsysteme im 19. Jahrhundert verfolgen, die sich keineswegs auf wirklich philosophischem, sondern auf dem weltanschaulichen Hintergrund des Wachstumsmythos des 19. und (weitgehend auch) des 20. Jahrhunderts vollzieht. Ich sprach oben bereits von „Pseudo-Entparadoxierungen“: Der Wachstumsmythos bot der Pädagogik die historisch wichtigen weltanschaulichideologischen Pseudo-Entparadoxierungen, so dass etwa ein mehrgliedriges Schulsystem eingerichtet werden konnte, das, wie PISA vermuten lässt, soziokulturelle Segregationen weit eher abbildete als überwinden half, ohne dass man sich doch hätte eingestehen müssen, dass die Institutionalisierung der Pädagogik nur um den Preis der Verstümmelung der Bildungsideen zu haben gewesen war. Schließlich werde ich mich mit den globalisierungs-ausgelösten, tief krisenhaften Entwicklungstendenzen der aktuellen Bildungs-Realität befassen, die zudem zeitgenössisch als kraftvolle Bildungs-Reform verkauft werden. Was hier tatsächlich reformiert wird, ist allerdings mehr die ursprüngliche Semantik des Bildungs-Begriffs: von der her sich leicht zeigen ließe – damit habe ich oben bereits begonnen – dass die aktuelle Bildungsreform an Schulen und Hochschulen mit „Bildung“ ernsthaft nichts zu tun hat. Ich schlage also einen geistes- und sozialgeschichtlichen Bogen von der philosophischen Bildungs-Klassik des 18. Jahrhunderts über die Bildungssystem-Implementation im 19. Jahrhundert bis zur aktuellen, unbemerkt verlaufenden Liquidierung des Bildungs-Denkens, die sich vom Globalisierungsschub seit den frühen 70er Jahren des 20. Jahrhunderts herleitet. Dies lässt sich für mich fassen unter dem Titel „gesellschaftlicher Bildungs-Auftrag an die Lehrer“. Dessen Erörterung wird den zweiten von drei Schwerpunkten bilden; in der hier 13
vorliegenden Gliederung bildet sie Kapitel 3 (da noch ein „Einleitungs-Kapitel“ vorangeht). Der erste der drei Schwerpunkte (Kap. 2) wird zuvor von der angekündigten Struktur-Analyse des pädagogischen Handelns bestimmt. Diese führt nicht nur auf die – zumeist verborgene – Virulenz der besagten „Bildungsparadoxien“ hin, sie deckt auch drei Ebenen des Lehrer-Handelns auf, die zwar untrennbar aufeinander bezogen sind, die aber verschiedene, deutlich unterscheidbare und unterscheidungsbedürftige Handlungslogiken hervorbringen. In meiner Darstellung thematisiere ich mitlaufend immer wieder die Frage, inwieweit sich die bemerkenswerten und unübersehbar verbreiteten Theorie- bzw. Selbstverständnisschwächen in der Pädagogik auf deren paradoxale Grundstruktur zurückführen lassen: indem sie regelmäßig kurzfristig hilfreich scheinende, langfristig untaugliche Formversuche von „Pseudo-Entparadoxierungen“ dar- bzw. bereitstellen. Der dritte der von mir bearbeiteten Themenschwerpunkte (Kap. 4) bezieht sich auf das wichtige Problem der psychischen Belastungen der Lehrertätigkeit, die bekanntlich in vielen Einzelfällen zu erheblichen psychischen Kosten führen. Die notorische Problematik ist mit eindringlichen empirischen Ergebnissen belegt. Letztere interessieren mich nur grundsätzlich, weil es mir darum geht zu zeigen, dass der Lehrerberuf, wird er professionell ausgeübt, aus strukturellen Gründen (also unaufhebbar) kränkungsausgesetzt ist: dadurch dass Lehrer sich einerseits für guten Unterricht auch innerlich-persönlich engagieren müssen, dass sie genau dadurch aber auch andererseits von der Resonanz der Schüler, was ihren pädagogischen Erfolg betrifft, emotional abhängig werden. Damit müssen sie produktiv umgehen können, ohne ihr Engagement je ganz einzufrieren. Der Gesichtspunkt, dass durch unprofessionelles Lehrer-Handeln das Selbstwerterleben der Schüler ernsthaft und folgenreich geschädigt werden kann, liegt der gesamten Reformpädagogik mehr oder weniger offen zugrunde; die Perspektive des der Schülerresonanz ebenfalls in seinem Selbstwerterleben ausgesetzten Lehrers stellt, soweit meine Beobachtungen reichen, in der Lehrerausbildung, auch der reformorientierten, geradezu ein Tabu dar. Wie Lehrer dann mit den unvermeidlichen Kränkungen – oder sagen wir zumindest: Enttäuschungen – umgehen können sollen, bleibt rätselhaft und wird offenbar mit aller Selbstverständlichkeit der stets als unerschütterlich stabil unterstellten Lehrerpersönlichkeit je individuell überlassen. Dies nur festzustellen reicht mir allerdings nicht, ich versuche vielmehr, die subkutanen Beziehungen herauszuarbeiten, die zwischen pädagogisch-gängigen Tabus, Verkürzungen und Naivitäten sowie der Handlungsstruktur des Lehrers bestehen müssen. Die wissenschaftliche Disziplin, die ich entscheidend zu den entsprechenden Erörterungen heranziehe, ist die psychoanalytische Selbstpsychologie, die mir in der von Heinz Kohut ausgearbeiteten Form seit vielen Jahren 14
vertraut ist. Sie bietet den Vorteil einer differenzierten Entwicklungspsychologie, kann also die Situation des Heranwachsenden in ihren möglichen Verletzbarkeiten beleuchten, bevor ich sie auf die Gefährdungen im Lehrerhandeln ausziehe. Heuristisch plausibel lassen sich auch Auswirkungen gesellschaftlicher Belastungsvorgänge auf die Verfassung der Gesamtbevölkerung selbstpsychologisch ableiten, insonderheit der um das Kindeswohl jeweilig besorgten Eltern. Mein Thema verschiebt sich dann von einer – teilweise unbewussten – Kränkungsangst, die der Lehrerberuf strukturell auszulösen geeignet ist (bei entsprechender biographischer Vorgeschichte) auf Zukunftsängste in der Gesamtbevölkerung: die dann wiederum zu Verharmlosungen und Unterschätzungen der pädagogischen Aufgabe in der Öffentlichkeit und bei den betroffenen Lehrern selbst führen. Dasselbe Schicksal ereilt dann allzu häufig eine pädagogische Theoriebildung, die nichts lieber möchte als die Schulpraxis mit Hoffnung auf gutes Gelingen zu erfüllen. In den letzteren Bemerkungen kündigt sich an, dass nicht nur die pädagogische Handlungsstruktur und deren Kränkungsrelevanz für die praktisch arbeitenden Lehrer, sondern auch die Auswirkungen der Veränderungen des gesellschaftlichen Mandats an den Lehrer mithilfe eines selbstpsychologischen Zugangs kritisch durchleuchtet werden können. Ich werde zu zeigen versuchen, dass Zukunftsängste in der Gesamtbevölkerung nicht nur ideologische Formen öffentlichen Selbsttrostes oder der Problemablenkung hervortreiben, sondern auch damit unweigerlich die pädagogische Aufgabe weit simpler erscheinen zu lassen pflegen als dies „eigentlich“ dem allgemeinen Wissensstand entspräche. Wenn man dann wie angedeutet beobachtet, dass der Normallehrer zwar wenig von seiner Bezugswissenschaft Pädagogik hält, aber unablässig auf der Suche ist nach neuen und endlich erfolgreichen „Methoden“, dann lässt sich ein solches grundsätzliches berufliches Selbstmissverständnis zwanglos als der Abwehr einer Angst geschuldet verstehen, die durch ihre Abwehr gerade „unbewusst“ bleiben soll. Im angesprochenen Kapitel zu den psychischen Kosten des Lehrerberufs will ich dann zusätzlich noch einige Hinweise geben, die der andere große amerikanische Narzissmustheoretiker Otto F. Kernberg bezüglich des Verhältnisses von Leitung und Organisation aus einer systemtheoretisch informierten Anwendung psychoanalytischen Beobachtens in Organisationsberatungskontexten gegeben hat. Ich übertrage seine allgemeinen Befunde dann auf den Lehrerberuf. Den Schlussteil des Kapitels bildet eine Wiederaufnahme der Strukturdiskussion. Aus der Struktur des Lehrerhandelns leite ich typologisch vier Möglichkeiten ab, wie der Lehrer die Komplexität des von ihm professionell zu erwartenden Handelns für sich vereinfachen kann. Alle vier Formen, die ich „Inhaltevertreter“, „Schülerfreund“, Sich-selbst-Darsteller“ und „Sich-selbst-Schützer“ nenne, sind – so antagonistisch sie erscheinen – durch zwei Gemeinsamkeiten bestimmt. Sie 15
vermeiden die Konfrontation mit derjenigen Bildungsparadoxie, die ich „Beziehungsparadoxie“ nenne, und sie dienen der (im Normalfall) unbewussten Vermeidung von Kränkungsangst durch den Schüler. Die drei Schwerpunkte meiner Arbeit: Strukturanalyse – gesellschaftliches Mandat – psychische Belastungen werden dadurch so in Beziehung gesetzt, dass zunehmende Fehleinschätzungen ihres Berufs durch die Lehrer selbst verständlich werden. Die Analyse fördert damit Tabus zutage, aber sie kann auch möglichen vorschnellen abschätzigen Moralisierungen beobachtbarer Berufseinstellungen von Lehrern durch vertieftes Verstehen vorbeugen. Ähnliches gilt in Bezug auf meine oben vorgetragene Kritik der derzeit beobachtbaren neueren Trends der Erziehungswissenschaft: bildungsfremder Empirismus, außerpädagogische Theoriebildung, theorieschwache Beraterliteratur. Jeder der drei Trends repräsentiert eine Fehlform, in allen Dreien lässt sich aber Richtiges und Unverzichtbares entdecken. Pädagogik bedarf eines nüchternen Blicks auf das empirisch Beobachtbare wie das praktisch Mögliche, will sie nicht illusionär „abheben“ und naividealistisch „Sein“ mit „Sollen“ verwechseln; dazu bedarf sie der wissenschaftlichen, insbesondere auch der außerpädagogischen Verfremdung, ohne deren aufgeklärten und methodisch kontrollierten Einsatz keine theoretische Pädagogik ihren Namen verdiente; schließlich ist theoretische Pädagogik – allen zurzeit im Schwange befindlichen anderslautenden Verlautbarungen führender Vordenker zum Trotz – immer noch und letzten Endes einzig sinnvoll als praxis-mitverantwortliche, als „réflexion engagée“. Das Basisprogramm, von dem ich oben sprach, besteht also in den besagten drei Schwerpunkten, die in den Kapiteln 2, 3 und 4 nacheinander abgearbeitet sind: wobei von Anfang an immer wieder Vor- bzw. Rückgriffe nötig werden. Die Durchblicke und Zusammenhänge, die sich dabei eröffnen, werden, so hoffe ich, den Preis einer argumentativen Sprunghaftigkeit (an deren Übermaß wie angedeutet die Erstauflage krankte) rechtfertigen. Den Zentralkapiteln vorangestellt ist eine Einführung, die zunächst nichts anderes darstellt als eine systematisierte Aufarbeitung von dreißigjährigen Erfahrungen als Lehrender in der universitären Lehrerausbildung. Ich unterstelle methodenleitend eine Strukturähnlichkeit meiner Tätigkeit mit dem Unterrichtshandeln jedweden Lehrers und versuche den explanativen Sinn eines reflexen Umgangs mit drei Bildungsparadoxien möglichst anschauungsnah nachvollziehbar zu machen. Die drei Paradoxien nenne ich: „Beziehungsparadoxie“, „Organisationsparadoxie“, „Gesellschaftsparadoxie“. Im Kapitel 3 werde ich zeigen, dass die „Gesellschaftsparadoxie“ bereits durch die Frühaufklärung konstituiert wird, dass sie aber erst in Rousseaus Émile nachdrücklich ins Bewusstsein gerückt wird: während dabei simultan erst die beiden anderen Paradoxien ins Blickfeld
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geraten. Die Professionsprobleme des Lehrer-Handelns sind so alt wie die neuzeitliche Pädagogik. Aber sie stellten sich auch mir als Hochschullehrer selbst – und das schon längst, bevor ich sie angemessen auf den Begriff hätte bringen können. Das Kapitel 1 wird dann abgeschlossen durch terminologische Hinweise zu den Begriffen „Bildung“ „Paradoxien“, „Profession“. Erstere setze ich von „Erziehung“ ab; sodann versuche ich den Wortsinn von „Paradoxien“ zu erläutern; bei der Erörterung des „Professions“-Begriffs lasse ich Ulrich Oevermann bezüglich seiner struktursoziologischen Befunde zu Wort kommen, wofern sie mir referierenswert erscheinen und die aktuelle pädagogische Diskussion stark beeinflusst haben. Das abschließende 5. Kapitel nenne ich „Profession ohne Vergangenheit – und Zukunft?“ Es ist, nach der Darstellung von Verbindungslinien der drei Hauptkapitel unter den Leitproblemen der Gesellschafts- und der Beziehungsparadoxie, unvermeidlich mit der Frage beschäftigt: „Was nun?“ bzw. „Was tun?“ Meine (fast) einzige Antwort wird lauten: „Standhalten, den Bildungsgedanken unverkürzt erinnern und ihn, wo immer es noch geht, pädagogisch praktizieren!“ Eine aufgeklärt-nüchterne Sicht auf die gesellschaftliche Gesamtlage muss sich verbinden mit der maßvollen Einsicht in die schulorganisatorisch eröffneten wie die dadurch zugleich verschlossenen Möglichkeiten. Sodann muss sie münden in ein – nach Möglichkeit – redliches, alltäglich individuelles und individualisierendes Begegnungsangebot an die Schüler bzw. Studenten. „Bildung“ muss in dem Begegnungsangebot erfahrbar gemacht worden sein, das sie anerkennt, sofern sie aufgeklärt-selbstreflexiv darüber sprechen können sollen. Dass dies aktivistische Einstellungen enttäuschen muss oder angesichts der neueren Bedingungen der Massenuniversität als naiv erscheinen könnte, ist mir bewusst. Ich setze darauf, dass der Gewinn an Verstehensmöglichkeiten, warum die (nicht nur) pädagogische Gesamtlage sich derzeit so kritisch darstellt, solcherart Enttäuschung nicht nur aufwiegt, sondern deren latenten Illusionismus aufdeckt. Nachdrücklich zu sprechen komme ich auf die berufliche Notwendigkeit einer intensivierten pädagogischen Kooperationskultur unter Lehrern und in den Kollegien. Sie eröffnet Möglichkeiten eines produktiven Umgangs mit der Organisationsparadoxie, ist die entscheidende Ressource, um die Lehrer „lebendig“ zu halten und kann so einfließen in einen berufpraktisch angemessenen Umgang mit der Beziehungsparadoxie. Einige Themen aus der Erstauflage fallen wie angekündigt der Seitenvorgabe bzw. meiner neuen Gesamtkonzeption zum Opfer. Stattdessen werde ich im Schlusskapitel vor den zurückhaltenden Praxisvorschlägen die bedenklichen neueren Entwicklungen in den Schulen und in der universitären Lehrerausbildung, die ich eingangs schon angerissen habe, etwas eingehender darstellen – wobei ich noch einmal die explanative Kraft des vorgeschlagenen Drei17
Schwerpunkte-Ansatzes auf der Basis einer Theorie der Bildungsparadoxien zu bewähren suche. Ich sprach oben nicht nur von einem Basisprogramm, das sich für mich aus meiner Lehrverpflichtung seit Mitte der 90er Jahre immer deutlicher entwickelte, ich erwähnte auch das Auftauchen von Warnschildern. Deren erstes ist das wichtigste. Es hinderte mich jahrelang daran, mit dem soeben skizzierten, komplexen dreifachen Ansatz aus den engen Seminarräumen des Instituts für Erziehungswissenschaft der Leibniz Universität Hannover hinaus an eine größere Öffentlichkeit zu gehen. Ohne Zweifel weist mein Unternehmen – schon wegen der hinzugezogenen Bezugswissenschaften – einen notwenig dilettierenden Charakter auf: Der Absturz ins Dilettantische wird dann zum ständig drohenden Begleiter. Hinzu kommt die ironische Warnung des Francois Lyotard vor „grand récits“ – was ich frei mit Großmythen im wissenschaftlich-philosophischen Gewande übersetzen möchte. Ich habe allen Grund, sie ernst zu nehmen, auch und gerade dann, wenn ich Lyotards Erkenntnis-Relativismus nicht frönen kann, um mich dann mit seiner ethischen Hilfe resignativ aus der Affäre zu ziehen. Die Botschaften der anderen Warnschilder habe ich in den Lehrveranstaltungen immer wieder durchgespielt, seit 2001 übrigens auch in den Vorträgen anlässlich der seitdem kontinuierlich durchgeführten Schulleiterweiterbildungen meiner Projektgruppe. Es geht um die Schwierigkeit, die nicht sehr große Überschneidungsfläche zwischen einem unerlässlichen Minimum an sachlicher Komplexität und einem Maximum an Verständlichkeit für ein möglichst großes Publikum von amtierenden oder zukünftigen pädagogischen Praktikern zu treffen; und dabei der Neigung zu wissenschaftlichem Abheben ebenso zu widerstehen wie der Gefahr der übermäßigen Vereinfachung, die sich bekanntlich nicht ganz selten aus dem Wunsch herleitet, sich für seine Darlegungen wohltuende Bestätigungen durch kurzschlüssig befriedete oder bestätigte Zuhörer zu erschleichen. Die andere, damit zusammenhängende Frage ist, ob es gelingt, die explanative Kraft der jeweils vorgestellten Theorie am praxisnah dargestellten, biographisch erlebten oder erlebbaren praktischen Beispiel zu erweisen.
Gruppen-Bildung Nicht versäumen will ich, zumindest einige meiner treuen gedanklichen Weggenossen der letzten Jahre zu erwähnen. Unter meinen Institutskollegen ist hier Hans-Günter Jürgensmeier zu nennen, dem ich im Zuge unserer gemeinsamen Begleitung der Glocksee-Schule in den 80er Jahren eine sachkundige Einführung in die Bildungstheorie überhaupt verdanke. Detlef Horster und Irmela ReimersTovote versorgen mich seit Jahren verlässlich mit wertvollen Literaturhinweisen, 18
Ulf Mühlhausen und Bernd Trocholepczy mit hilfreichen Feed-backs. Das gilt besonders auch für Helmut Reiser und neuerdings Martin Heinrich sowie meinen Hausgenossen Hans-Ulrich Schiwek. Die Projektgruppe „Bildungsbezogene Schulentwicklungsforschung“ (www.schulentwicklungsforschung.de), die mit mir vor allem Schulberatungen und eine im November 2007 ins siebte Jahr gehende Schulleiterweiterbildung auf der Basis intensiver bildungstheoretischer Selbstverständigung durchführt, hat mich mit großer Zuverlässigkeit begleitet: Petra Kochmann, Bernd Schlierf, Norbert Rode, Dietmar Rose, Michael Thun und – seit kurzem – Fabian Dietrich gebührt mein Dank. Gedanklich herausgefordert hat mich besonders Krassimir Stojanov, der mir zugleich die von Axel Honneth vorgelegte philosophische Anerkennungstheorie nahe gebracht hat. Kamil Niezgoda ist Experte für Globalisierungsfragen – auch mit ihm hat sich der gedankliche Austausch in einigen Buchpassagen deutlich niedergeschlagen. Inge Roggenbuck-Jagau schließlich hat mich als Folge ihrer ergebnisreichen Evaluation des ersten Jahres der gemeinsamen Schulleiterweiterbildung dazu bewegt, das Buchprojekt endgültig in Angriff zu nehmen. Meine Arbeitsgruppe steht für mich in der Nachfolge von Erfahrungen aus meiner besten Studienzeit in jüngeren Jahren. Gewiss hatte ich in der Theologie und Religionsphilosophie beeindruckende Lehrer gehabt, etwa Joseph Ratzinger mit seinen ekklesial-ästhetischen Gesamtschauen oder, mir ein alltagshermeneutisches Denken erschließend, Bernhard Welte in Freiburg. Die nachhaltigste Bildungserfahrung machte ich jedoch nach dem ersten Studienabschluss ein halbes Jahrzehnt lang im Tübinger Ludwig-Uhland-Institut, das Hermann Bausinger in herausragender geistiger Präsenz leitete. Ich war dort in eine Arbeitsgruppe aufgenommen worden, die Utz Jeggle zum Zweck einer sozialgeschichtlich und ethnologisch angelegten, exemplarischen Dorfforschung eingerichtet hatte. Von ihm lernte ich Kulturwissenschaft in Form einer Wissenschaftskultur kennen, die durch und durch kooperativ angelegt war und deshalb besonders problemoffen sein konnte – und die als solche bildete.
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1 Hochschullehre mit Lehrproblemen, erste Begriffsklärungen
Das vorliegende Buch enthält drei argumentative Schwerpunkte:
Struktur professionellen Lehrerhandelns Geschichtlich-gesellschaftliches Mandat an den Lehrer Psychische Kosten der Lehrerprofession
Die Darstellung des ersten und des dritten Schwerpunkts folgt jeweils einer systematischen („synchronen“), die des zweiten überwiegend einer gesellschaftsgeschichtlichen („diachronen“) Betrachtungsweise. Der erste Schwerpunkt ist strukturtheoretisch-systematischer, der dritte tiefenhermeneutisch-systematischer Art. Die drei Schwerpunkte sind nacheinander abgehandelt in den zentralen Kapiteln 2, 3 und 4. Allerdings sind sie thematisch-sachlich so eng verzahnt, dass meinem Bemühen, sie argumentationslogisch zum besseren Leser-Verständnis zu „linearisieren“, enge Grenzen gesetzt waren: nicht zuletzt um eines angemessenen Verständnisses willen. So enthält das vierte Kapitel ausdrückliche Rückgriffe auf die beiden vorangehenden, für diese gilt umgekehrt Analoges. Das fünfte Kapitel schließlich bindet die Ergebnisse aus den zuvor nacheinander abgearbeiteten Schwerpunkt-Kapiteln zusammen, um daraus dann einen bewusst vorsichtigen Ausblick auf zukünftige Entwicklungen abzuleiten, Es geht in der Arbeit fortwährend um ein nüchternes Begreifen der einschlägigen Sachverhalte, das sich aber stets an ein engagiertes Verstehen gebunden sieht. In diesen Zusammenhang soll das erste Kapitel anschauungsnah einführen. Es setzt an dem Praxisfeld an, das mich selbst beruflich-persönlich in den letzten dreißig Jahren mit der Professionsproblematik konfrontierte – längst bevor einige meiner Kollegen diese theoretisch aufgriffen: an meinen Erfahrungen als Hochschullehrer im Fach bzw. im Begleitstudium Pädagogik. Ich lege diesem Ansatz die Unterstellung zugrunde, dass meine Lehrprobleme, die ich mit einem erheblichen Anteil von Lehramtsstudenten habe (bzw. nicht habe, weil sie den von mir angebotenen Veranstaltungen überzufällig aus-
weichen), strukturähnlich sind den alltäglichen Schwierigkeiten tendenziell jedes amtierenden Lehrers. Ich führe sie ursächlich darauf zurück, dass ich an einem „Bildungs“Verständnis festhalte. Dieses grenze ich im zweiten Teil des Kapitels zunächst von dem vormodernen Begriff „Erziehung“ ab. Da „Bildung“ für mich wesentlich im Festhalten an drei „Bildungsparadoxien“ besteht, umreiße ich sodann mein „Paradoxie“-Verständnis, um schließlich die von Ulrich Oevermann wesentlich angestoßene Debatte um die „pädagogische Professionalität“ zu skizzieren. „Professionell“ ist für mich der Lehrer, der reflektiert an „Bildung“ festhält, indem er sie seinen Schülern unterrichtspraktisch erfahrbar macht.
1.1 Probleme mit Berufsvorstellungen von Lehramtsstudierenden Schwierigkeiten der literarischen Form Das vorliegende Buch stellt auf seine Weise eine systematische Zusammenfassung von Lehrveranstaltungen dar, die ich seit Jahren im Studienfach Pädagogik am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Universität Hannover abhalte. In diesen Veranstaltungen geht es um Themen, die teilweise weit auseinander zu liegen scheinen, die aber in meinem Verständnis von Pädagogik dennoch zusammengehören. Die Studierenden haben im Normalfall nicht die Möglichkeit, an allen Veranstaltungen teilzunehmen. Deren jeweiliger Sinn erschließt sich aber eigentlich erst im Gesamtkontext. Das Buch soll eine entsprechende Möglichkeit bereitstellen. Der Wechsel des Mediums bietet aber nicht nur Vorteile wegen der nun möglichen Systematik, er wirft auch eine Schwierigkeit auf, die mit dem Verlust an Unmittelbarkeit des Geschehens in einer Lehrveranstaltung zusammenhängt. Ginge es nur um Vermittlung von Wissen, würde sich diese Schwierigkeit nicht stellen. Aber auch in hochschulischen Lehrveranstaltungen – so meine langjährige Erfahrung – geht es um etwas „tiefer Liegendes“, das der Wissensvermittlung erst Sinn verleiht. Dasjenige, worum es geht, ist nicht selbstverständlich, und es stellt sich auch nicht in jeder Lehrveranstaltung ohne weiteres ein. Es hängt mit dem zusammen, was im Begriff „Bildung“ traditionell zu fassen versucht wurde: wobei immer auch die Begegnung der am Bildungsgeschehen Beteiligten mitgemeint war. Was für „Bildung“ inhaltlich gilt, stellt zugleich das formale Prinzip sinnvollen Sprechens über sie dar. Das will ich später noch genauer ausführen. An dieser Stelle genügt vielleicht die negative Feststellung, dass „Bildung“ als Ansammlung von Tatsachen 21
anzubieten bzw. zu verstehen, die man distanziert lernen, abprüfen und reproduzieren könnte, in meinen Augen ein Missverständnis wäre. Schlimmer noch, es wäre für mich die Einübung einer Praxis, die den Begegnungscharakter dieser Praxis selbst dementierte. „Bildung“ als Lehr-Lern-Thema muss demnach in letzter Instanz der selbstreflexiven Erhellung dessen vermittelt bleiben, was in Lehr-Lernbegegnungen „wirklich“ passiert. Wo die Beschäftigung, etwa mit Wilhelm von Humboldt, dies aus den Augen verlöre, würde sie elitäres l’art pour l’art, wo sie sich auf Quantifizierbares reduzierte, liquidierte sie ihren Sinn. Das Fach Pädagogik, so es am Bildungs-Begriff festhält, ist nicht verschulbar. Den Bildungs-Begriff aufzugeben oder auch nur semantisch abzuflachen, würde alles vereinfachen: um den Preis der Selbstaufgabe der Pädagogik. Die Schwierigkeiten für Publikationen der vorliegenden Art setzen also auf ihre Weise die Schwierigkeiten der pädagogischen Lehre von Pädagogik fort.
Unterschiedliche Vorstellungen vom „guten Lehrer“ Wie sich diese aus meiner Erfahrung mit akademischer Lehre darstellen, will ich im Folgenden skizzieren. Diese Skizze führt sogleich in die Thematik ein, stellt also die Einleitung für die späteren Ausführungen dar. Es zeigt sich dabei, dass die systematische Darstellung keineswegs dem thematischen Vorgehen einer Lehrveranstaltung entspricht. Die Probleme, die ich zur Einführung in dieses Buch schildere, würden Studierende in den ersten Wochen einer Lehrveranstaltung verschrecken – um sie anzusprechen, bedarf es überhaupt erst einer angemessen günstigen gruppendynamischen Vorentwicklung. Um Bildungsphänomene als Begegnungsfragen zu thematisieren, bedarf es hinreichender Bildungsvorerfahrungen und eines zumindest anfänglichen Begegnungsgeschehens unter den Beteiligten. Der Hinweis, dass ich das Buch bewusst als engagierter Hochschullehrer verfasse, mag zunächst noch wenig besagen – vor allem, wenn ich hinzufüge, dass ich Lehramtsstudierende auf ihre zukünftige Berufstätigkeit vorbereite und versuche, ihren Berufswunsch ernst zu nehmen. Insbesondere Lehrer oder schulinteressierte Eltern werden das von einem Pädagogik-Dozenten nicht anders erwarten.2 Die meisten „meiner“ Studierenden nahmen und nehmen ihre eigene Berufsentscheidung offenkundig ernst, und ich nahm und nehme dies meinerseits ernst – so lauten also meine Ausgangserfahrung bzw. meine Reaktion darauf. 2 Unabhängig von den angedeuteten Schwierigkeiten hochschulisch angemessener PädagogikVermittlung verliert eine solche berufliche Schwerpunktsetzung bei der aktuellen bundesweiten Umstellung der Universitäten auf Exzellenz-Konkurrenz auch im Bereich Pädagogik bildungspolitisch an Selbstverständlichkeit, jedenfalls an Wertigkeit.
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Der aufmerksame Leser wird in dieser Formulierung bereits eine Einschränkung erkennen – die „meisten“ sind ja nicht „alle“, ich komme darauf zurück. Ich beginne meine Erörterung mit den Studenten, die ihren Beruf für mich erkennbar ernst zu nehmen bereit sind. Denn leider stellt sich mir auch deren Bereitschaft schon bei noch sehr distanzierter Betrachtung weder eindeutig noch eindeutig positiv dar. Denn die Studierenden mit einer für mich erkennbaren positiven Berufsentscheidung, ein „guter Lehrer“ zu werden, bringen beträchtlich unterschiedliche Vorstellungen von dem mit, was es denn heißen könnte, ein „guter Lehrer“ zu sein. Das Spektrum ist groß, und es enthält auf den ersten Blick zwei Extrempositionen, die numerisch gesehen keineswegs ungewöhnlich selten anzutreffen sind. Die eine Extremposition wird ausschließlich durch ein pädagogisches Ethos der Vermittlung von Rationalität getragen. Ihre Verfechter schicken sich an, ihr zukünftiges pädagogisches Selbstverständnis aus der pädagogischen Förderung eines beobachtungswissenschaftlich bestimmten und leicht objektivierbaren Fachbezugs zu beziehen.3 Ich nenne diese Position im Folgenden „Inhaltevertreter“. Die andere Extremposition, deren Ethos sich unter Vernachlässigung von Inhalten rein auf der Bereitschaft zu einer personzugewandten Förderung von Schülern gründet, nenne ich „Schülerfreunde“.4 Ich werde beide Gruppen später noch typologisch5 als verschiedene Vereinseitigungen der Komplexität pädagogischen Handelns herleiten und genauer beschreiben. Sie sind – wenn auch mit charakteristischen schulformabhängigen Mischungen – in jedem normalen Lehrerkollegium wieder anzutreffen. An dieser Stelle darf ich mich mit einem ersten Fazit begnügen, das ich aus meiner persönlichen Erfahrung als Pädagogik-Dozent ableite. Beide Extrempositionen treten zwar antagonistisch auf (weil die eine das pädagogische Ethos der anderen bestreitet), sie haben aber immerhin die Gemeinsamkeit, dass ihre Verfechter, wo es geht, Lehrveranstaltungen meiden, wie sie mir (und vielen engagierten Fachkollegen natürlich auch!) als pädagogisch angemessen, wenn nicht unerlässlich erscheinen. Meine diesbezüglichen Vorstellungen habe ich schon angedeutet mit 3 Sie ist prototypisch und gehäuft – aber selbstverständlich nicht ausschließlich – bei Studierenden des Gymnasialen Lehramts und des Realschul-Lehramts mit naturwissenschaftlich-mathematischen Fächern zu beobachten. 4 Diese Einstellung ist gehäuft bei Studierenden des Lehramts an Grund-, Haupt- und Sonderschulen anzutreffen. Ich füge allerdings hinzu, dass ich seit Jahren kaum Studienabsolventen beobachte, die später an der Hauptschule unterrichten wollen, wohl aber, da in Hannover die Lehramtsstudiengänge Grund-, Haupt- und Realschulen eine Einheit bildeten, eine große Mehrheit, die eine entsprechende Stellenzuweisung fürchten. 5 Die Herleitung erfolgt aus strukturtheoretischen Erwägungen und muss eine gewisse empirische Relevanz aufweisen, d. h., die typologisch abgeleiteten Gruppen müssen tendenziell beobachtbar sein (Herzog 2003).
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dem Hinweis auf die Notwendigkeit der Kongruenz der formalen Bildungserfahrung mit der inhaltlichen. An dieser Stelle sei nur hinzugefügt: Es geht um Lehrveranstaltungen, in denen die Struktur pädagogischen Handelns genauer erkundet werden soll, damit sich zugleich die Studierenden der eigenen Einstellungsmöglichkeiten auf diese strukturgegebenen Anforderungen versichern können. Es geht also, wenn man so will, um strukturbezogene und dabei selbstreflexivtiefenhermeneutisch angelegte Lehrveranstaltungen. Insofern sowohl „Inhaltevertreter“ als auch „Schülerfreunde“ diese Lehrveranstaltungen von ihrem pädagogisch-wissenschaftlichen Selbstverständnis her ablehnen, zeichnet sich erstens eine gewisse Gemeinsamkeit in den emotionalen Voreingenommenheiten und zweitens – vielleicht überraschend – auch in ihren Wissenschafts-Vorstellungen ab. Was letztere betrifft, so schätzen „Inhaltevertreter“ an der Wissenschaft (wie sie sich diese vorstellen) Objektivität, Beweisbarkeit, also Eindeutigkeit von Sachverhalten, und Realitätsnähe6, wohingegen „Schülerfreunde“ deren Apersonalität, Emotionsunterdrückung und Hintanstellung von Sinnfragen ablehnen. „Schülerfreunde“ haben ein sehr defensives Verhältnis zu einer so vorgestellten Wissenschaftlichkeit, dem man in vielen Fällen die Angst vor eigenen Begabungsdefiziten leicht anmerken kann. „Inhaltevertreter“ suchen hingegen in der Beherrschung einer solchen Wissenschaftlichkeit persönliche Bestätigung und Sicherheit. In der entsprechenden subjektiven Hochschätzung einer auf „Objektivität“ programmierten Wissenschafts-Haltung ist ihre kompensative Funktion schon angedeutet. Warum ich beide Einstellungen für angstbestimmt halte, werde ich später darlegen. Selbstverständlich treffe ich nicht nur Pädagogikstudenten mit verkürztem oder sogar extrem einseitigem Verständnis ihres zukünftigen Berufes an. Selbstverständlich weisen nicht nur „Inhaltevertreter“ oder „Schülerfreunde“ ein leicht greifbares pädagogisches Ethos auf. Es gibt beachtlich viele Studenten, die mir für die angedeuteten strukturbezogenen und selbstreflexiv-hermeneutischen Lehrangebote aufgeschlossen erscheinen. Diese Studierenden – ich nenne sie „offen-engagiert“ – rechnen damit, dass ihr zukünftiger Beruf Ansprüche an sie stellen wird, die nicht einfach zu bewältigen sind, die durch Unterschätzung oder Missachtung der damit einher gehenden Probleme aber gewiss nicht leichter zu bearbeiten sein werden. Dass diese Studenten unter den Lehramtskandidaten eine sehr deutliche Mehrheit darstellen würden, kann ich (leider) nicht behaupten. Denn – dies scheint mir kaum zu bestreiten – die Aufgeschlossenheit für ein genuin pädagogisches Pädagogikverständnis hängt bei den Lehramtsstudenten stark von günstigen biographischen, nicht zuletzt förderlichen schulischen Vorer6 Der Begriff „Realität“ ist hier eingeschränkt auf objektivierbare und machbare Realität und entspricht dem alltagsweltlichen Begriffsgebrauch von „realistisch“.
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fahrungen sowie dem Wissenschaftsverständnis ab, das sie beim Studium ihrer Unterrichtsfächer vermittelt bekommen. Das würde im günstigen Fall das produktive Zusammenspiel häuslichen Umgangs, schulischer Erfahrungserweiterung und universitärer Erfahrungsvertiefung voraussetzen. Die mit gesellschaftlichen Sachzwängen häufig begründeten und noch häufiger ignorierten Tendenzen zu frühzeitigem emotionalem Alleingelassensein von Kindern durch ihre Eltern, schulischer Leistungsfixierung und universitärer Wettbewerbsorientierung bei einem funktionalistischen Wissenschaftsverständnis erschweren meine hochschulische Aufgabe, weil ich (mit nur begrenzt tauglichen universitären Mitteln) bei nicht wenigen Studierenden erst noch Verständnis für „Bildung“ wecken muss, wo ich es doch voraussetzen können sollte.
Vier typologische Gruppen auf drei Betrachtungsebenen Um mich einem Zwischenfazit zu nähern: Ich gehe davon aus, dass unter den Lehramtsstudierenden mit einem für mich erkennbaren pädagogischen Berufsethos – schematisch gesagt – zwei von drei Gruppen ein Lehrangebot, wie ich es für angemessen erachte, eher meiden werden. Die einen – „Inhaltevertreter“ – stellen jede Form von Selbstreflexion automatisch unter das Verdikt der (wie sie häufig in Hannover norddeutsch sagen: „typisch geisteswissenschaftlichen“) „Laberei“, den anderen – „Schülerfreunden“ – erscheint sie intuitiv als überkritisch-destruktiv, weil sie ihren naiven Berufsoptimismus zu gefährden scheint. Eine genauere Beschäftigung mit der Problemstruktur pädagogischen Handelns halten beide Gruppen gleichermaßen für überflüssig, da sie fest davon überzeugt sind, schon im Vorhinein ähnlich genau wie große Teile der erwachsenen Bevölkerung zu wissen, worauf es im Lehrerberuf ankommt: Sie können sich alle darauf berufen, viele Schuljahre lang Schüler gewesen zu sein, und tun das dann auch nachdrücklich. Hinzu kommt schließlich die Gruppe derer, deren Existenz ich zu Anfang meiner Erörterung mit dem Hinweis „die meisten“ (die eben nicht alle sind) indirekt angedeutet habe. Die Zahl der Lehreramtskandidaten, die diesen Beruf in Ermangelung alternativer Vorstellungen oder Wünsche „ergreifen“, sollte man nicht unterschätzen. Ich nenne diese im Folgenden „Nicht-Engagierte“. Ich hoffe, es irritiert nicht übermäßig, wenn ich auf eine Schätzung oder gar anspruchsvollere Quantifizierung der Nicht-Engagierten wie auch der anderen drei Gruppen im Folgenden verzichte. Die Idee, durch genauere Quantifizierung ein tief sitzendes Problem besser verstehen oder gar angehen zu können, ist mir zutiefst fremd. Wichtig ist mir nur, dass diese Grobeinteilung empirisch-real
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begründbar erscheint und dass keine der besagten Gruppen eine unbedeutende Minderheit von Einzelgängern darstellt. Will ich das Berufsethos meiner Lehramtsstudenten ernst nehmen, treffe ich demnach bei einer horizontalen Betrachtungsweise auf zwei Großgruppen, wobei sich die eine, auch numerisch (hoffentlich) weit überwiegende Gruppe noch einmal in drei Untergruppen aufteilen lässt. Die Großgruppen sind: beruflich engagiert erscheinende Studenten und beruflich desinteressiert auftretende. Die erstere Gruppe differenziert sich unter in die beiden antagonistischen Extreme „Inhaltevertreter“ und „Schülerfreunde“ sowie, in der Mitte, die „offen Engagierten“. Abbildung 1:
Ebene Berufsethos
erkennbar Schülerfreunde
offen Engagierte
Inhaltevertreter
Berufsethos Nichtengagierte
nicht erkennbar
Wie angedeutet nehme ich unterhalb dieser „oberen“ Vierfachunterteilung zwei weitere Ebenen wahr bzw. an. Die erste der beiden, also die mittlere der drei Ebenen, wird durch das Wissenschaftsverständnis und das korrespondierende Wissenschaftsverhältnis der Studierenden repräsentiert. „Inhaltevertreter“ sind mit einer beobachtungswissenschaftlich eingeschränkten Wissenschaft bzw. Wissenschaftlichkeit affirmativ hoch identifiziert, „Schülerfreunde“ sind damit ablehnend unteridentifiziert. Beide rechnen nicht ernsthaft mit einem hermeneutischen Typus von Wissenschaftlichkeit, der selbstreflexiv-handlungsrelevant vermittelbar ist. Nur die „normal Engagierten“ sind hierfür offen – und für einen entsprechenden Stellenwert des Pädagogik-Studiums in ihrem berufsbiographischen Werdegang. Bei der Gruppe der „Unengagierten“ addieren sich die Defizite der „Inhaltevertreter“ und der „Schülerfreunde“, weil sie Wissen26
schaft(lichkeit) meiden, aber hierfür keinerlei pädagogisch-ethische Gründe (wie die „Schülerfreunde“) aufbieten, während sie (wie die „Inhaltevertreter“) emotionalen Herausforderungen und personalen Begegnungsmöglichkeiten schon an der Hochschule aus dem Wege gehen. Abbildung 2:
Ebene Wissenschaftsverständnis und -verhältnis
Überidentifikation Ablehnung von Beobachmit Beobachtungstungswissen- Offenheit wissenschaft für selbstschaft reflexive Tiefenhermeneutik Minimalfunktionalismus
Wie angedeutet, sehe ich unterhalb dieser beiden Ebenen „Berufsethos“ und „Wissenschaftsverhältnis“ eine dritte, die man diejenige der „emotionalen Einstellung“ nennen könnte. Ich nehme trotz aller sonstigen Divergenzen sowohl bei den Schülerfreunden wie den Inhaltevertretern als auch den Unengagierten Formen der Angst vor dem zukünftigen Beruf an – genauer gesagt: unterschiedliche Formen des Selbstschutzes vor berufsbedingter Kränkungsangst. Lediglich bei den „normal Engagierten“ würde ich hier von einer – realitätsangemessenen – „Sorge“ bzw. von „Furcht“ sprechen.
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Abbildung 3:
Ebene Emotionale Einstellung
Begegnungsethos, Distanzangst
RationalitätsEthos, Ethos Näheangst von Komplexitätsakzeptanz und Selbstreflexion
Vergleichgültigung von Schülerbeziehung und Fachbezug
Ganz schematisch und ohne Rücksicht auf quantitative Verteilungen beobachte ich also unter den Lehramtsstudenten auf der „horizontalen“ Ebene „Offen Engagierte“, „Schülerfreunde“, Inhaltevertreter“ und „Nichtengagierte“, die sich jeweils „vertikal“ im Hinblick auf ihr Berufsethos, ihr Wissenschaftsverständnis und –verhältnis sowie ihre emotionale Einstellung beträchtlich unterscheiden. Abbildung 4:
Vier typologische Gruppen auf drei Ebenen Berufsethos Schülerfreunde
Inhalteoffen vertreter Engagierte Nichtengagierte
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Wissenschaftsverständnis Emotionale Einstellung
Organisationsgeförderte Problemunterschätzung Welche Schlüsse ergeben sich aus dem Dargelegten? Drei Dinge möchte ich hervorheben: erstens, dass die skizzierten Phänomene so oder so ähnlich „eigentlich“ jedermann bekannt sind bzw. niemanden überraschen würden, also von notorischer Trivialität sind; zweitens, dass sie in der öffentlichen pädagogischen Diskussion und der veröffentlichten Fachliteratur eher ein verschämtes Schattendasein zu führen scheinen; drittens, dass meine Beachtung dieser beiden Tatbestände mir selbst ernst zu nehmende hochschuldidaktische Schwierigkeiten einträgt. Ich muss nämlich in der Konsequenz des Angedeuteten Studierende kritisch mit ihrem eigenen Pädagogik-Verständnis konfrontieren, und ich muss sie darauf vorbereiten, dass es in der theoretischen (oder besser gesagt:) verlautbarten Pädagogik öffentlich leicht aufdeckbare Tabus gibt. Letzteres wird nun Unengagierte, Schülerfreunde und Inhaltevertreter gleichermaßen in sämtlichen Vorurteilen gegen eine theoretisch selbstständige Pädagogik bestärken – welchen Sinn sollte es dann machen, sich der emotionalen Mühe zu unterziehen, die ein engagiertes Studium bereiten würde? Diese angedeuteten Gesichtspunkte möchte ich im Folgenden eingehender diskutieren. Dass es stark unterschiedliche Pädagogik-Vorstellungen unter Lehramtsstudenten geben muss, weiß wirklich jeder. Dass dies schon durch die Mehrgliedrigkeit unseres Schulsystems mitbedingt ist, liegt auf der Hand. Dass es durch stark auseinander gehende Erwartungen an das Schulsystem mitverursacht ist, erschließt sich erst einem etwas eingehenderen Blick – aber um ein öffentliches Geheimnis handelt es sich auch hier gewiss nicht. Wo Menschen allerdings zu harmonisierenden Sichtweisen tendieren – und das tun viele Pädagogen und auch andere Leute, die sich für pädagogisch kompetent halten –, werden sie meiner Unterscheidung vielleicht weitgehend zustimmen, nur dass sie ihr die kritischen Wertungen entziehen würden. „Schülerfreunde“ seien an Grund- oder Förderschulen höchst erwünscht, vielleicht noch in den Gesamtschulen, auf „Inhaltevertreter“ käme es aber vor allem in den Oberstufen der Gymnasien und den Schlussklassen der Realschulen an. Interessanter Weise neigen „Inhaltevertreter“ und „Schülerfreunde“ selbst keineswegs zu einer solchen harmonisierenden Sichtweise. Ich erwähnte bereits, dass beide Gruppen in der Folge ihrer jeweiligen ethischen Grundhaltung die pädagogische Angemessenheit des Berufsethos der jeweils anderen Gruppe bestreiten. Allerdings würden sie deshalb an meinem obigen Diagramm Änderungen vornehmen und dies höchstens unter entwicklungspsychologischen Aspekten abschwächen. Für „Inhaltevertreter“ sind die Grenzen zwischen denen, die ich als „offen Engagierte“ bezeichnet habe, und den „Schülerfreunden“ fließend bzw. unerheblich; ihre Distanz zu den „Nichtengagierten“ ist womöglich in 29
gewissen Hinsichten nicht so groß wie zu den beiden erstgenannten Gruppen. Für „Schülerfreunde“ gilt umgekehrt Analoges. So gesehen, finde ich mich mit meiner kritischen Einschätzung der Berufseinstellungen von Lehramtsstudierenden – formal betrachtet – in einer satten Mehrheitsposition. Tendenziell alle Engagierten – nicht nur Lehramtsstudierende sondern auch amtierende Lehrer – sind übereinstimmend der Meinung, im Lehrerberuf seien viele Personen mit einem defizitärem Pädagogik-Selbstverständnis tätig, und die Defizite begännen bereits mit der Lehrerausbildung. Allerdings könnte man gerade daraus bezüglich meiner Diagnose die – ganz pragmatisch klingende – Rückfrage ableiten, warum ich denn diese allgemein bekannte Ausgangssituation meines Berufshandelns für problematisch hielte. Nicht nur scheint meine Haltung jedwedem Toleranzgebot im Rahmen eines gesunden Alltagsrealismus zu widersprechen, sie lässt sich auch intuitiv betrachtet kaum mit einer eigentlich „wissenschaftlichen“ Beobachterhaltung vereinbaren. Denn von einem Wissenschaftler erwartet man, dass er seine emotionalen Wertungen kontrolliert und sich gerade nicht von – typisch alltagsweltlichen – Voreingenommenheiten leiten lässt. Tatsächlich mache ich wissenschaftlich-nüchtern Beobachtungen, mit denen ich mich als Lehrender nicht einfach abfinden mag. Der Grund liegt wie schon mehrfach angesprochen, am „Bildungs“-Denken, dessentwillen ich die Studenten in dieselbe Pflicht nehme, in die es mich selbst zuvor genommen hat. Allerdings ließ sich die Problematik stark unterschiedlicher, sogar antagonistischer Berufseinschätzungen Studierender im Rahmen der bisherigen Lehrerausbildung – bezogen auf deren sogenannte Erste Phase – durch hochschulische Organisation einerseits, durch bestimmte innerhochschulische Arbeitsteilungen anderseits weitgehend „abfangen“. Ersteres wird unmittelbar dort greifbar, wo Universität (mit Gymnasiallehrerausbildung) und Pädagogische Hochschule (für die anderen Schulformen) getrennt arbeiten. Grob gesagt, wird durch diese organisatorische Trennung eine Verteilung der pädagogischen Ethiken nahe gelegt, die deutlich in die Richtungen „Schülerfreunde“ versus „Inhaltevertreter“ weist. Dabei definiert sich das Ethos der begegnungs-suchenden Schülerfreunde als „pädagogisches“, das der rationalitäts-verpflichteten „Inhaltevertreter“ tut dies allenfalls sekundär: zumal die Organisation der Universität als solche sich keine pädagogisch verstandenen Ansprüche auferlegt und das Pädagogik-Studium der Lehramtskandidaten hier traditionell ein Neben-Dasein führt. Diese Grobaufteilung lässt aber noch reichlich Platz für innerorganisatorische Arbeitsteilungen, die vielleicht dort, wo die Zweiteilung UniversitätHochschule weggefallen ist, sogar noch an Bedeutung gewinnen. Es braucht nur in einem Pädagogischen Seminar hinreichend viele Dozenten zu geben, die je eine der besagten Gruppen „bedienen“. Eine solche Arbeitsteilung hat den Nach30
teil, dass es in dem betreffenden Institut im Prinzip niemals zu sinnvollen Diskussionen über die gemeinsamen Aufgaben, Probleme oder Perspektiven kommen kann: weil die verschiedenen Fachvertreter analog zu „ihrer“ Klientel krass unterschiedliche Vorstellungen von dem verfechten, was eine angemessene Pädagogen-Ausbildung überhaupt ausmachen könnte. Die Seminar-Mitglieder bewegen sich dann untereinander in einem Klima resignierter Toleranz und/oder gereizter Feindseligkeit. Der unerhörte Vorteil der Arbeitsteilung ist jedoch, dass er die Arbeitszufriedenheit jedes einzelnen Dozenten über „seine“ Klientel stabilisieren kann. Dies lässt sich leicht illustrieren. Dozenten, die Studierende gern zu „Inhaltevertretern“ ausbilden möchten, können dabei ihre eigenen Neigungen – als „Inhaltevertreter“ – ausleben und werden durch die positive Resonanz des von ihnen angesprochenen Studenten-Segments in der durchaus auch pädagogischen Angemessenheit ihrer rationaliätsfördernden Haltung bestätigt. Dasselbe gilt für „Schülerfreund“-nahe Dozenten. Es gilt hier gewissermaßen im Quadrat, weil sich unter den gesellschaftlichen Entwicklungen der jüngsten Jahrzehnte „Schülerfreundschaft“ zunehmend nur noch, jedenfalls nirgendwo besser kultivieren lässt als da, wo Schüler nicht real, sondern nur als hoffnungsvoll imaginierte auftauchen: an der Hochschule. Schließlich trifft es auch ohne weiteres auf akademisch lehrende Sich-selbst-Schützer zu: Sie werden stets eine hinreichend große Gruppe gleichgesinnter Studenten finden, die dankbar für die guten Noten sein werden, die sie ohne weitere Anstrengung von ihren „Lehrern“ bekommen können. Ich komme zu einer auf Anhieb verblüffenden Schlussfolgerung: Sollte es in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit eine Gruppe von Personen geben, die den Sachverhalt unvereinbarer Pädagogik-Vorstellungen von zukünftigen Lehrern über Jahre hinweg oder sogar mit den Jahren immer mehr aus den Augen verliert, dann ist es die – der Pädagogik-Dozenten selber. Was auf den ersten Anhieb jedem Außenstehenden als schwer erklärliche BerufsgruppenSondermentalität erscheinen würde, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als organisational hochgradig begünstigt durch die Hochschule bzw. die Universität.7 Jeder Pädagogik-Dozent kann ein gewisses studentisches Segment ansprechen und sich umgekehrt von diesem die Angemessenheit seines Lehrangebots und damit seines Pädagogik-Verständnisses bestätigen lassen. Keine Frage: Eine vernünftige Lehrerausbildung für alle Lehrer kann so nicht gelingen, wiewohl der einzelne engagierte Dozent beachtliche Möglichkeiten hat, „offen-engagierte“ Studierende auf ihren Beruf gut vorzubereiten. Dass jede Regierungspolitik sich hier im Prinzip jederzeit leicht einschalten kann – 7 Ich werde mich unten mit den interessanten Ausführungen Otto F. Kernbergs zu „paranioagenen“ Organisationen beschäftigen, allerdings in anderen Zusammenhängen.
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mit welch bildungsfremden Beweggründen auch immer –, liegt auf der Hand, da die hochschulische Pädagogik und ihre Pädagogen selbst offenkundig nicht in der Lage sind, ihre hochschulische Aufgabe flächendeckend zu lösen, also ihr pädagogisches Mandat selbst einigermaßen konsensuell zu bestimmen. Die Logik der Regierungspolitik ist freilich, um das zu wissen bedarf es eigentlich keiner ausgefeilten Systemtheorie, prinzipiell nicht und deshalb empirisch nur selten die der Pädagogik. Ähnliches gilt von einem strikt erfahrungswissenschaftlichen Wissenschafts-Selbstverständnis (wie es sich seit dem 19. Jahrhundert selbst dominant versteht und öffentlich bzw. öffentlichkeitswirksam darstellt).8 Die letzte Feststellung muss ich freilich erläutern bzw. einschränken, denn sie entspricht zwar der von mir hier verfochtenen Argumentationslogik, aber sie verliert nicht nur an öffentlicher Einsichtigkeit (sofern diese überhaupt je ausgeprägt war), sondern auch an Akzeptanz unter Fachkollegen. Es lässt sich leicht zeigen, dass die Logik von Regierungspolitik und den öffentlich anerkannten Wissenschaftsexperten dem Selbstverständnis der „Inhaltevertreter“, vielleicht sogar dem wissenschaftsbezogenen Minimalfunktionalismus der „Nichtengagierten“ weit näher kommt als demjenigen der beiden anderen typologischen Gruppen. Sie ignoriert die emotionale Naivität der „Schülerfreunde“, wo sie diese nicht offen verachtet, und lässt dadurch deren berufsethisches Potenzial unbearbeitet, so das es „unreif“ bleibt. Vor allem aber ist sie mit den selbstreflexivtiefenhermeneutischen Anteilen einer Pädagogen-Ausbildung, wie ich sie oben als wünschenswert skizziert habe, nicht kompatibel. Der bisherige pädagogische Wildwuchs weicht somit der modernisierten pädagogischen Unterkomplexität. Die Bearbeitung der subjektiv-berufsbiographischen Einstellungen wird Privatsache des studentischen Individuums – was aber unproblematisch sein soll, da es getreu einem unter der Hand vorausgesetzten wirtschaftsliberalistischen Menschenbild als komplett mündig immer schon vorgestellt wird. Ob Qualitätsmanagement an den Schulen oder Bachelor-/MasterStudiengänge nach ingenieurwissenschaftlichem Vorbild in der Lehrerausbildung – die Pädagogik wird aktuell einer gründlichen Reform unterzogen, indem so getan wird, als habe sie ihre im „Bildungs“-Gedanken wurzelnden und je gesellschaftlich verursachten Strukturprobleme selbst verschuldet. Zutreffend daran ist, dass sie sich nicht ernsthaft selbst reformieren kann, so lange sie durch gesellschaftliche Entwicklung vor dem fatalen Dilemma steht, entweder an einem (bezogen auf den gesellschaftlichen Status quo:) realitätsfern scheinenden und dadurch tatsächlich allzu leicht illusionär entgleisenden Selbstverständnis festzuhalten oder aber sich um den Preis der Selbstaufgabe den gesellschaftsöffentlichen Tabus überanzupassen. 8 Dass es sowieso von der Wirtschaft gilt, war vor zehn Jahren sogar noch öffentlich klar, inzwischen zersetzt sich dieses Bewusstsein.
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Das aktuelle öffentliche Tabu schlechthin besteht darin, dass die Forderung nach Selbstmodernisierung der Gesellschaft in allen relevanten Bereichen keinem erkennbaren humanen Sinn mehr folgt. Die ironische romantische Kritik an der Aufklärung, eine „sich selbst mahlende Mühle“ zu sein, wird durch die gesellschaftliche Realität auf bizarre Weise eingelöst – aber der Aufklärung war es noch entscheidend um gesellschaftliche Selbsthumanisierung zu tun. Genau deshalb hatte sie die Pädagogik neuzeitlich in Gang gesetzt. (Darauf komme ich in gebotener Ausführlichkeit zurück.) Wo vermittels der aktuellen „Bildungsreform“ versucht wird, die Pädagogik dadurch flott zu machen, dass ihr das Pädagogische ausgetrieben wird, funktioniert dies unter anderem nur durch eine weitestgehende semantische Verunstaltung des Begriffs, in deren Namen die Reform inszeniert wird: „Bildung“.
Zwischenresümee in hochschuldidaktischer Absicht Bevor ich die wichtigsten Begriffe, mit denen ich arbeiten will, etwas genauer konturiere – Bildung, Paradoxie, Profession – will ich ein kleines Zwischenresümee ziehen, indem ich aus dem Dargelegten hochschuldidaktische Rückschlüsse ziehe. Mit „Reformen“ wie den derzeit flächendeckend durchgeführten Verschulungen der Pädagogik in sogenannten konsekutiven Studiengängen nach dem Muster amerikanischer Ingenieurswissenschaften wird das Inhalts- und das Formspektrum des pädagogischen Lehrangebots weit übersichtlicher als sich dies aus den Konsequenzen meiner obigen Darlegungen ergeben würde. In der Logik der aktuellen Eingriffe etwa wird das Lehrangebot umfassen:
erstens eine gewisse Menge gut abprüfbaren Wissens zu pädagogischen Sachverhalten; zweitens eine bessere Einübung von Pädagogen in Methoden der quantitativen Sozialforschung (als bisher) nach dem Vorbild der pädagogischen Psychologie; drittens eine verstärkte Einführung in die unterschiedlichen soziologischen Paradigmen kombiniert mit einer Einübung in die jeweils aktuellsten Wissenschaftsfachsprachen.
Die gründliche Habitualisierung einer wissenschaftlichen Beobachter-Haltung, am besten noch: aus zweien oder mehreren konkurrierenden Paradigmen, wird, so die Unterstellung, den zukünftigen Lehrern die Gewissheit auf ihren berufsbiographischen Weg mitgeben, dass man mit einiger Distanz noch jeden zwi33
schenmenschlichen Konflikt ganz anders sehen und versprachlichen kann, als normale Leute und praktisch handelnde Lehrer das (derzeit noch) tun. Die Probleme, die ihnen dann später in Gestalt ihrer Schüler zugemutet sind, werden dann voraussichtlich eher als eine Frage der Formulierung und der „Passung“ erscheinen, also der vermutlich funktionalsten Perspektive. So wird das Studium flächendeckend umgerüstet als Einübung in die Lösung von Problemen durch die Vergleichgültigung der Beziehungen, aus denen sie zu erwachsen pflegen und Verabschiedung der Alltagssprache, in der sie noch artikulierbar waren. Umgekehrt besteht die Problematik des Vorschlags, der in meinen obigen Darlegungen steckt, darin, dass es mit einer bloßen Wissensvermittlung und methodischen Kompetenzentwicklung für das pädagogische Handwerk auch im hochschulisch-universitären Rahmen nicht getan wäre, geschweige denn in einer bloßen Einübung in objektivistische wissenschaftliche Beobachterhaltungen. Ich werde diesen zentralen Gedanken in meiner weiteren Argumentation noch genauer zu begründen versuchen. An dieser Stelle seien nur einige elementare Konsequenzen für ein mögliches professionsbezogenes und professionalisierungsrelevantes Lehrangebot im Fach Pädagogik skizziert.
Erstens sind Lehrveranstaltungen notwendig, in denen eine Strukturanalyse der Grundprobleme pädagogischen Handelns mit der – mitlaufenden – Möglichkeit einer gemeinsamen und dabei immer auch individuell zu leistenden Reflexion auf die damit gesetzten berufsbiographisch-subjektiven Leistungsanforderungen eröffnet wird. Zweitens wird eine kritische Bestandsaufnahme gesamtgesellschaftlicher Veränderungsprozesse mit ihren möglicherweise schwerwiegenden Auswirkungen auf das gesellschaftsöffentlich anvisierte Pädagogik-Verständnis nötig. Drittens wird auch eine Reflexion auf die geistes- und sozialgeschichtlichen Ursprünge und den „Sinn“ der Pädagogik unumgänglich – insbesondere auf das einmal mit „Bildung“ Gemeinte.
Vor allem solche Lehrveranstaltungen, die sich mit der erstgenannten Problematik beschäftigen, werfen hochschuldidaktisch schwierige Probleme auf. Aber auch der Sinn der anderen läge in einer Selbstvergewisserung der Pädagogik durch engagiert-betroffene Pädagogen. Es ginge, wie erwähnt, nie um reine Wissens- oder Kompentenzvermittlung, sondern immer auch um eine kulturelle Grundhaltung, die erstere erst sinnvoll machen würden: und die, wie ich schon vorgreifend festhalten möchte, unserer demokratischen Verfassung entspricht. Was den hier von mir verfochtenen und vorgestellten Ansatz betrifft, so optiert er wie schon angedeutet für eine naiv-alltagsweltlich nahe liegende Vorstel34
lung meines beruflichen Auftrags: Ich will „gute Lehrer“ ausbilden und muss „meine“ Studenten schon ganz formal damit konfrontieren, dass nicht alle der unter ihnen konkurrierend kursierenden Berufseinstellungen, was denn ein „guter Lehrer“ sei, richtig sein können. Ein beachtlich großer Teil meiner Studenten will diese Konfrontation aus den dargelegten Gründen nicht. Ich will sie jedoch, und mache deshalb ein Angebot, das – analog einem unerwünschten Begegnungsangebot – bei beachtlich vielen Adressaten auf Ablehnung zu stoßen pflegt. Festzuhalten bleibt die vielleicht verblüffende Einsicht: Die Probleme, die ich mir damit einhandele, „gute Lehrer“ auszubilden, entspringen dem naivalltagsweltlichem Charakter meiner Absicht. In der (zurzeit forciert eingeschärften) Logik universitärer Studien könnte ich diesen Problemen ohne weiteres entgehen. Ich müsste „nur“ die Studierenden als „fertige“ Individuen betrachten, deren Berufseinstellungen – welcher Art auch immer – samt und sonders zu akzeptieren seien. Unterlegen könnte ich diese Einstellung durch neuere relativistische Sichtweisen, die wissenschaftliche Reputation genießen (etwa systemtheoretischer oder konstruktivistischer Provenienz). Wem jede Einstellung gleich gültig ist, kann auf solchem zeitgeistigen Hintergrund noch bequem ethische Toleranz für sich in Anspruch nehmen. Tatsächlich bin ich überzeugt, dass sich Pädagogik nicht auf Wissenschaft – im Sinne von objektivistischer Erfahrungswissenschaft – aufbauen lässt, sondern nur auf einer Philosophie der Bildung. Allerdings muss diese Bildungsphilosophie anschlussfähig sein an alltagsweltliche Vorstellungen, die ihrerseits durch wissenschaftliche Einsichten von Vor-Urteilen befreit und verfeinert werden müssen. Insofern jedes Pädagogik-Studium das mit Pädagogik Gemeinte interpretiert, bedeutet dies bezüglich des Pädagogik-Studiums: 1.
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Es sollte also Bildung lebendig erfahrbar machen können und Begegnungsmöglichkeiten der Beteiligten bei aller notwendigen Vermittlung von Inhalten eröffnen (die man abprüfen kann und sollte). Als PädagogikDozent mache ich ein inhaltliches Bildungsangebot performativ als Begegnungsangebot. Dass es abgelehnt werden kann und häufig wird, hat einen anthropologischen Hintergrund, der sich aber hochgradig gesellschaftsbedingt auswirkt: einerseits in der Freiheit des studentischen Gegenübers und andererseits den biographischen relevanten Erfahrungen, die er mitbringt und zeitgleich an der Hochschule macht. Insofern die pädagogische Lehrveranstaltung pädagogisch glückt, wird der organisatorische hochschulische Rahmen (Leistungsscheine, Examina,
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Konkurrenz) zur Bildungsvoraussetzung – und dadurch erst sinnvoll in eine Voraussetzung von Bildung transformiert. Pädagogisches Denken muss an gesellschaftlich verbreitetes alltagsweltliches Denken anschlussfähig sein, darf sich aber nicht blind an alltagsweltliche Voreingenommenheiten anschließen, sondern muss alltagsweltliches Denken über wissenschaftliche Sichtweisen verfeinern.
In meinem Ansatz geht es um die Bearbeitung dreier Paradoxien – ich werde sie umgehend erläutern. Ich werde später genauer darlegen, was sich jetzt schon abzeichnet: Die Berufsprobleme von Hochschullehrern im Fach Pädagogik sind denen von normalen Lehrern in der Schule strukturverwandt, sieht man davon ab, dass erstere sie bislang aufgrund der angedeuteten organisationalen Bedingungen eines Hochschulstudiums leichter unterschätzen konnten. Für mein Thema Lehrerprofession hat dies eine methodenleitende Konsequenz. Ich muss mich zuvor auf dessen Problematik dadurch eingelassen haben, dass ich die Strukturverwandtschaft mit meiner eigenen Tätigkeit anerkenne.
1.2 Paradoxale Pädagogik Konsequenz aus dem Bisherigen In meiner bisherigen Argumentation habe ich versucht, mich so eng wie möglich an Beobachtungen zu halten, die auch von einem Nicht-Pädagogen einigermaßen gut nachvollzogen werden können. Eine optimale Verständlichkeit werde ich auch im Folgenden anstreben, es wird aber – vom jeweiligen Thema her – phasenweise schwierig sein und insgesamt zunehmend schwieriger werden. Zwar kann man noch bei „Bildung“ den Eindruck gewinnen, als ob dies ein Begriff wäre, bei dem jedermann fachkompetent mitdiskutieren könnte, in meiner Argumentation schließt er sich allerdings erst über ein Verständnis seiner paradoxalen Struktur auf. Dieses erscheint mir wiederum als Voraussetzung für ein angemessenes Professionsverständnis des Lehrerberufs. Dass „Bildung“ paradoxal angelegt sei, wird als Einsicht allenfalls in der Erziehungswissenschaft vertreten, dort allerdings in den letzten Jahren zunehmend häufig (Combe/Helsper 1997, Oelkers 1999, Stojanov 2006). In der Öffentlichkeit wird es umso weniger gesehen, je mehr öffentlich über Bildung verhandelt wird und je mehr „Experten“ in einflussreichen Stellungen außerhalb des Bildungssystems sich zu Wort melden. In den entsprechenden publikumswirksamen Veranstaltungen wird „Bildung“ sehr überwiegend und meist ganz selbstverständlich dargestellt als das, was frühzeitig vermessen und später am berufs36
biographischen Erfolg abgelesen werden kann. Den Messungen geht die Einschätzung von Qualifikationen durch gewisse Expertenkonsense voraus, die als jedenfalls wichtig für ein späteres erfolgreiches Leben in der sich modernisierenden Gesellschaft anerkannt wurden. Trotzdem, entgegen landläufigen Ansichten, erscheint mir der Nachweis einer paradoxen Struktur der Bildungsidee nicht allzu schwer zu erbringen. Zunächst schlage ich vor, die nächstliegenden Konsequenzen aus dem zu ziehen, was ich oben dargelegt habe. Ganz formal betrachtet zeigte sich dort, dass ich alltäglich-routinemäßig auf Studierende treffe, die etwas von mir wollen, das ich ihnen erstens nicht geben will, wobei ich zweitens will, dass sie etwas anderes von mir wollen und zwar drittens, dass sie dies begründet, also einsichtig und freiwillig, wollen. Scharf – aber nicht falsch – gesagt, will ich, dass sie ihr Selbstbild als potentielle Lehrer oder, anders gesagt, ihre Haltung gegenüber dem Lehrerberuf aus freien Stücken (und mit guten Argumenten) ändern. Diese Absicht weist wie schon angedeutet problematische Voraussetzungen und ebenso problematische Handlungskonsequenzen auf. Immerhin handelt es sich um erwachsene Menschen in ihrem Berufsbild, dessen Angemessenheit ich offensiv bestreite, obwohl es sich jeweils sogar einer partiellen gesellschaftsöffentlichen Akzeptanz erfreuen mag. Das ist schon alltagskommunikativ grenzwertig, noch dazu, wo es sich um Leute handelt, die sich anschicken, ihre persönliche Zukunft mit ihrem Berufbild existentiell zu verknüpfen. Das ist aber noch nicht alles. Ich sagte ja: die Studierenden wollen etwas von mir (das gilt selbstverständlich auch von den Unengagierten: sie wollen im Prinzip „nur“ für geringste Leistung beste Noten), das ich ihnen nicht gebe und von dem ich umgekehrt will, dass sie es nicht mehr wollen. Das nimmt Formen eines kränkungsnahen Kampfes miteinander an. Dieser leitet sich wie angegeben aus meinem Willen ab, die Erwartungen der Studierenden auf angemessene Berufsvorbereitung durchaus zu erfüllen, aber so, wie ich diesen Beruf sehe. Unter Pädagogen ist es nicht üblich, solches öffentlich auszusprechen, es klingt nach Anmaßung.9 Nicht umsonst habe ich zu zeigen versucht, dass ich in der Logik des mir gegebenen Bildungsmandats gar nicht anders kann als (nicht wenige) Studierende zu enttäuschen sowie ihr Berufsbild zu verwerfen mit dem Risiko, sie insofern auch persönlich zu kränken – und mir ihre Abwertung meines Angebotes einzuhandeln. Der agonal aufgeladenen Situation entkäme ich nur dadurch, dass ich die untereinander inkompatiblen Grundhaltungen der Studierenden allesamt verwerfen oder für irrelevant halten, ihre Thematisierung ver9 Charakteristisch für deren – ethisch engagierte, theoretisch unbefriedigende – Vermeidungsrhetorik: von Hentig 1996, 15 – 36.
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meiden und mir ersteres nicht anmerken lassen würde.10 Will ich den Zynismus nicht und ist mir Naivität versperrt, bewege ich mich unvermeidlich im angesprochenen Problemkontext der Bildung. Bildung ist paradox. Genauer sollte ich sagen: Bildung als Absicht, ein (noch dazu erwachsenes) Gegenüber auf dem Weg zu sich selbst11 zu unterstützen, ist paradox.
Der neuzeitliche pädagogische Imperativ Was ich berufsalltäglich als Hochschullehrer erlebe, hat einen geistesgeschichtlichen Hintergrund. Mein Vorschlag ist deshalb, sich zunächst kurz und nur vorläufig mit dem typisch neuzeitlichen Selbstbewusstsein des menschlichen Subjekts zu beschäftigen (vgl. Kap. 3). Es setzt sich selbst als Individuum, als einzigartiges, für sich selbst verantwortliches und sich dabei durch sein Handeln selbst hervorbringendes Wesen. Diese Selbst-Setzung des Individuums verfolgt allerdings – dies ist ausschlaggebend wichtig – den Sinn, durch die Individualisierungen der Menschen insgesamt eine zukünftige menschheitliche Selbst-Humanisierung bewirken zu können. Insofern ist es nicht überraschend, wenn dem neuzeitlichen Individuum im Zuge seines zukunftbezogenen Prozesses der Selbstentwicklung unweigerlich klar wird, dass es längst bevor es diesen bewusst zu gestalten beginnen konnte, immer schon auf den Weg gebracht worden ist – durch existenziell bedeutsam gewordene Andere und gerade auch in den frühen Jahren, in welche die eigene Erinnerung nur eingeschränkt zurückreicht. Kurz: Das moderne Individuum entwirft und gestaltet sich seit der Frühaufklärung selbst – und entdeckt sich selbst ein Jahrhundert später durch Rousseau als sozial Ermöglichtes. Bei diesem Sachverhalt – das Individuum als sozial Ermöglichtes – muss man noch nicht von einer Paradoxie sprechen. Für viele philosophische Ansätze handelt es sich eher um eine Trivialität. Wohl aber dann, wenn man sich in die Perspektive eines handlungsbereiten Individuums versetzt, das heranwachsende Individuen wiederum bei ihrer Individualwerdung unterstützen will: ein solches handlungsbereites Individuum heißt im allgemeinen Sprachgebrauch ein Pädagoge (sieht man von anspruchsvolleren Formen der Therapie einmal ab). Der Pädagoge nämlich geht auf den Heranwachsenden in der Absicht zu, ihn bei dessen Individualwerdung oder Selbstwerdung zu fördern. Wollte man diese
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Das lässt sich „authentisch“ umso besser vermeiden, je weniger man das Problem wahrzunehmen bereit ist (vgl. das oben zur Organisation der Hochschule Gesagte). 11 In diesem Fall: zu einem angemessenen Berufsbild
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Absicht in einen „pädagogischen Imperativ“ kleiden,12 so könnte dieser vielleicht lauten: „Sei Du!“ (bzw. „Werde Du selbst!“). Ich halte fest: Die Paradoxie ist durch die pädagogische Absicht konstituiert, die sich ihrerseits auf eine philosophisch-anthropologische (Selbst-)Setzung des Menschen gründet. Diese ist charakteristisch für die neuzeitliche „westliche“ Gesellschaft – also keineswegs für andere, etwa traditionale, Kulturen. Allerdings hinterlässt diese erste vorgeschlagene Formulierung insofern ein unbefriedigendes Gefühl, als das angesprochene „Du“ ja gerade als potentielles „Ich“ angesprochen wird.13 „Sei bzw. werde Ich!“ wäre also genauer, trotzdem aber besonders missverständlich – das auffordernde „Ich“ meint sich ja gerade nicht selbst. Vielmehr ist gemeint: „Sei bzw. werde das Ich, das (nur) Du werden kannst!“ Eine solche Formulierung ist aber wiederum wegen des doppelten dinglich klingenden „das“ ebenfalls unbefriedigend. Wie immer: Was zu den selbstverständlichsten Evidenzen der auf die neuzeitliche Individualvorstellung antwortenden Pädagogik zählt – der sie stets begleitende, ja konstituierende Imperativ –, lässt sich umgangssprachlich keineswegs umstandslos fassen, er erzwingt gewissermaßen eine anthropologischphilosophische Spezialformulierung. So sehr Pädagogik in den letzten Jahrhunderten zum allgemein bekannten Phänomen wurde, so wenig lässt sich ihr paradoxales Grundproblem in eine alltagsgängige, schon gar nicht in eine technische Input-Output-Sprache übersetzen – was, wie sich bereits mehrfach angedeutet hat, zu weit reichenden und bedenkenswerten Konsequenzen führt. Ich schlage mit Bezug auf die Pädagogik, die ihrerseits durch den Handlungsimperativ des Pädagogen sich neuzeitlich konstituiert, folgende Formel vor: Pädagogik ist Fremdförderung zur Selbstwerdung. Darin ist der paradoxale Charakter – wie ich denke – wünschenswert deutlich. Dass er zu schwer wiegenden Handlungsproblemen führt, habe ich an meinem Alltag als Hochschullehrer zu erläutern versucht.
Pädagogische Grundparadoxie und Paradoxie als Mitteilungsvorgang Einen hiermit zunächst auch bis zu einem gewissen Grad inhaltlich gut zu vereinbarenden Vorschlag hat Dietrich Benner unterbreitet. Auch Benner sieht eine 12
Der Imperativ ist gewissermaßen als Aufforderung, also in „hortativem“ Sinne gemeint. Bezogen auf den Pädagogen könnte man jedoch auch von einer Art „kategorischer Imperativ“ sprechen: „Handle stets so, dass der Zögling in der Maxime deines Handelns die Aufforderung zu seiner Mündigkeit/Autonomwerdung wird erkennen können!“ 13 Wiewohl es erst durch die Ansprache als Du zum Ich werden kann. Der konstitutive „Du“Charakter jedes Ich ist etwa bei George Herbert Mead im „Me“ festgehalten. Dennoch bleibt bei ihm das „I“ ursprünglich-selbstbildend tätig.
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„Grundparadoxie“ als konstitutiv für jede pädagogische Praxis an. Diese leitet er aus der Dialektik zweier Prinzipien pädagogischen Denkens und Handelns ab, die beide berücksichtigt werden müssten: das Prinzip der Bildsamkeit und das der Aufforderung zur Selbsttätigkeit. Diese beiden seien jeweils in sich paradox. Die Bildsamkeit des Gegenübers werde unterstellt, auch wenn sie noch keine erkennbaren Auswirkungen zeitige. „Die eigene Bildsamkeit und die eines jeden anderen anerkennen, heißt, positiv gewendet, so auf die Erziehungsbedürftigen einzuwirken, dass diese bei der Erlangung ihrer Bestimmtheit mitwirken“ (Benner 1987, 57)
Nebenbei notiere ich Benners impliziten Hinweis, dass die Anerkennung der Bildsamkeit des anderen mit der Anerkennung der eigenen zusammenhängt – die, so ist zu unterstellen, ihrerseits entsprechend anerkannt worden sein muss. Sodann ist in der Formulierung des Prinzips Bildsamkeit deren universaler bzw. universalisierender Charakter festgehalten: Sie wird jedem Menschen unterstellt. Das zweite Prinzip rückt die Notwendigkeit der einzelfallbezogenen Konkretisierung in den Vordergrund. Der Zu-Erziehende kann im Sinne der Bildsamkeit zu sich selbst nur dann finden, „wenn er durch die pädagogische Interaktion zur selbsttätigen Mitwirkung an seinem Bildungsprozess ausdrücklich aufgefordert wird.“ (64) Die Grundparadoxie liegt für Benner in der Zusammenfassung der beiden dialektischen Prinzipien. Sie bestehe darin, „den Zu-Erziehenden zu etwas aufzufordern, was er noch nicht kann, und ihn als jemanden zu achten, der er noch nicht ist, sondern allererst vermittels eigener Selbsttätigkeit wird.“ (71)
Benners Vorschlag bezieht sich explizit auf die pädagogische Praxis. Eine allgemeine Definition der Paradoxie bzw. des Paradoxes legt Klaus Schäfer (1987) vor. Er bezeichnet das Paradox bzw. die Paradoxie als einen Mitteilungsvorgang, „der seinen Kontext dadurch auf dessen Innovation hin verändert, dass er ein Element dieses Kontextes unter Verstoß gegen die herrschenden Regeln verneinend gegen es selbst kehrt.“ (1055f)
Der entsprechende Kontext wird nach Schäfer durch systemisch-regelhafte Annahmen und Verfahrensregeln in einer strukturierten und dadurch abgrenzbaren Lebenswelt von Menschen gebildet. Die Paradoxie widerspricht einer oder allen Regeln, Gesetzen oder Normen, nach denen die betreffenden Mitglieder der Lebenswelt alltäglich-selbstverständlich verfahren.
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Schäfers Paradoxie-Definition setzt damit einen externen Standpunkt voraus, von dem her das in der Lebenswelt intern geteilte Selbstverständnis kritisch hinterfragt, also irritiert oder verfremdet wird. Damit unterstellt Schäfer methodologisch, dass lebensweltlich geteilte Selbstverständnisse praktisch vorhandene paradoxale Strukturen ignorieren können. Die entsprechenden Selbstverständnisse bereinigen sich demnach selbst um den Preis von Wahrnehmungseinschränkungen.14 Schäfer bindet den Begriff Paradoxie an ein Ethos der Aufklärung. Ihre Mitteilung unterliegt dem Anspruch einer prozeduralen Förderung möglicher Innovationen. Zwar macht die mitgeteilte Paradoxie das lebensweltliche Selbstverständnis der Betroffenen nicht berechenbarer und handlicher, sondern konfliktträchtiger und risikoreicher. Das System wird jedoch auch „inhaltsreicher, vielschichtiger, umfassender“ (1054f). „Paradoxien steigern das Niveau und die Intensität der Beziehungen und Prozesse in einem System und zwischen System und Umwelt.“ (1055)
Das Bestehen auf dem paradoxalen Charakter hat demnach den Sinn, alltagsweltliche Evidenzen auf latente Strukturen kritisch zu hinterfragen. Insofern trifft Schäfers Definition das hier von mir verfolgte Anliegen und das hochschuldidaktische Problem, auf das es sich gründet. Ich bin überzeugt, dass ein Plädoyer für ein nicht-kurzschlüssiges Pädagogik-Verständnis längerfristig nur im Anschluss an alltagsweltlich verbreitete Vorstellungen Aussicht auf Verständnis bzw. Realisierung haben kann, das aber dazu erst einer Irritation – eben durch den Hinweis auf die Paradoxie – bedarf. Offenbar ist das Paradoxe der Paradoxie, dass sie sich als solche in der Alltagswelt unkenntlich macht.
14 Bei Pierre Bourdieu (1993) finden sich Hinweise zur angesprochenen Problematik aus einer anderen theoretischen Sicht: „Die Logik der Praxis, die auf einem System von objektiv schlüssigen Erzeugungs- und Ordnungsschemata beruht und in praxi als häufig ungenaues, aber systematisches Auswahlprinzip dient, weist weder die Strenge noch die Beständigkeit auf, wie sie für die logische Logik typisch sind … indem sie das, was die Praktiken von innen steuert, außerhalb, in der Objektivität, in Form beherrschbarer Grundsätze erzeugt, ermöglicht die wissenschaftliche Analyse eine echte Bewusstwerdung, eine (im Schema verdinglichte) Umsetzung des Schemas in die Vorstellung, mit der man die praktischen Grundsätze symbolisch meistern kann, die der praktische Sinn ausagiert, ohne sich eine Vorstellung davon zu machen oder indem er sich nur halbe und unlängliche Vorstellungen davon macht.“ (187, Herv. i. Orig.)
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Eine zentrale und zwei abgeleitete Paradoxien Tatsächlich geht es im pädagogischen Handeln immer auch darum, den Heranwachsenden als denjenigen zu fördern, der er erst noch werden soll. In der vorliegenden Studie lege ich allerdings einige Akzente etwas anders als Benner dies tut. Ich ziehe gegenüber seiner Option für den Erziehungs-Begriff den BildungsBegriff vor – zu diesem gleich mehr.15 Während Benner auf die Selbsttätigkeit des Zu-Erziehenden abhebt, möchte ich betonen, dass das „Selbst“ der Selbsttätigkeit sich erst durch die Förderung von Seiten des Erziehers oder der Erzieher bilden kann. Der Unterschied mag als Nuance erscheinen – ich insistiere aber stärker als Benner dies mir zu tun scheint – auf dem schwierig-prekären Charakter pädagogisch-interaktiver Prozesse, man könnte sagen: auf der Paradoxität der Paradoxie. Meine hochschulkommunikative Schwierigkeit, Lehramtsstudierende mit unterkomplexem Berufsbild als „Heranwachsende“ zu behandeln, ist bei Benner sprachlich vermieden. Sollten praktische Pädagogen insgesamt dazu neigen, die Komplexität ihres eigenen Handelns deutlich zu unterschätzen, muss dies mit der paradoxiebedingten Komplexität selbst ursächlich zusammenhängen – so setze ich voraus. Kombiniert man Benners pädagogik-spezifische und Schäfers pädagogik-unspezifische Paradoxie-Definitionen, dann wird eine solche methodologische Unterstellung gestützt. Von Schäfer her lässt sich zwanglos vermuten, dass es der von Benner festgestellte paradoxale Charakter ihres Handelns ist, der Pädagogen dazu verleitet, die Paradoxie zu unterschätzen. Wenn ich mich deshalb an diesem Punkt auf Schäfer berufe, dann muss ich allerdings auch auf seine Vorstellungen von „Lebenswelt“ Bezug nehmen, seien diese auch eher vage. Ich werde dies dadurch tun, dass ich auf die organisationalen Praxen achte, in denen Pädagogik stattfindet und in denen sich pädagogische Selbstverständnisse konstituieren. Pädagogische Praxen wären demnach „lebenswelt“-vergleichbar organisiert und würden auf die Teilnehmer dementsprechend sozialisations- oder bildungsrelevant einwirken. Ich habe dies oben bereits im Hinblick auf Pädagogik-Dozenten im organisationalen Kontext der Hochschule/Universität thematisiert. Der Vorteil meiner Formulierung „Fremdförderung zur Selbstwerdung“ scheint mir zu sein, dass in ihr die Paradoxie pädagogischer Handlungsprozesse scharf betont ist – und damit die Wahrscheinlichkeit ihrer Auflösung durch die „Selbsttätigkeit“ der „Zu-Erziehenden“ (in der Terminologie Benners) bewusst in Frage gestellt wird. Ich habe dabei, wie schon mehrmals angedeutet, auch den Pädagogen vor Augen, dessen Gegenüber sich mit einem gewissen formalen 15
Tatsächlich arbeitet Benner mit einem engeren Bildungs-Begriff als ich dies vorschlage.
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Recht nicht mehr als „Zu-Erziehenden“ betrachtet, während der Pädagoge sich selbst aber pädagogisch in der Pflicht sieht, ihn als solchen zu behandeln. In meiner obigen Einleitung habe ich dargelegt, dass und warum eine solche Problematik nicht zuletzt auch auf jeden Pädagogik-Lehrenden an der Hochschule/Universität zukommt, sofern er den Berufswunsch seiner Lehramtsstudenten ernst zu nehmen bereit und in der Lage ist. Meine Hinweise zum Stichwort „Paradoxie“ möchte ich abschließen durch eine vorläufige doppelte inhaltliche Ergänzung. Die besagte Grundparadoxie pädagogischen Handelns, die sich wie dargelegt aus dem Handlungsimperativ ableitet, entlässt durch die gesellschaftsöffentliche Einrichtung eines allgemeinen Schulsystems unvermeidlich zwei weitere Paradoxien aus sich heraus. Ich spezifiziere deshalb die letzten Äußerungen, die für Pädagogen allgemein galten (also z. B. auch für alle Erziehungsberechtigten) und konzentriere mich im Folgenden auf Lehrer. Diese haben es alltäglich und allgegenwärtig mit der besagten Grundparadoxie, die ich Beziehungsparadoxie nenne, und zwei konsekutiven Paradoxien zu tun. Ich nenne letztere die Organisations- und die GesellschaftsParadoxie.
Der Lehrer muss als solcher die Selbstwerdung seiner Schüler fremdfördern wollen (=Beziehungsparadoxie). Diese Absicht ist eine kulturbestimmte und dimensioniert jedwede inhaltliche Kulturvermittlung von Seiten des Lehrers an die Schüler formal mit. Das ist sein beruflicher Auftrag – der zugleich sein Ethos bestimmen muss. Er muss wollen, dass die Schüler dies (mehr und mehr) aus eigenem Antrieb wollen. Die Selbstwerdung als mündige Kulturteilhabe umfasst mehrere Ebenen. Ich unterscheide später Inhalte/Kompetenzen, individuelles Arbeitsverhalten sowie eine kulturelle – zwischenmenschlich-konkrete und universalistisch-allgemeine – Grundhaltung. Der Lehrer muss handelnd damit umgehen, dass der Bildungsauftrag an ihn selbst durch kulturelle Widersprüche und für die Schüler durch erfahrbare gesellschaftliche Humanitätsdefizite in seiner Eindeutigkeit, Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit in Frage gestellt ist. Die Paradoxie lautet: Nur die – hinreichend humanisierte – Gesellschaft könnte den Bildungsauftrag angemessen erteilen: die ihn dann aber auch nicht mehr erteilen müsste. Ich nenne sie Gesellschaftsparadoxie. Der Lehrer muss handelnd damit umgehen, die Selbstwerdung der Schüler durch mündige Kulturteilhabe im Rahmen eines Schulsystems fremdzufördern, das seine Bemühungen zwar organisational ermöglichen, aber ihren Erfolg nicht sichern kann, häufig sogar aspektweise behindert. Die Paradoxie lässt sich formulieren: Schulpädagogik muss organisiert werden, ist aber nicht organisierbar. Außerdem gilt: Je nötiger die Gesellschaft Päda43
gogik hat, umso weniger ist ihre Öffentlichkeit in der Lage, ein Pädagogikangemessenes Bildungssystem einzurichten. (=Organisationsparadoxie16) Ich werde unten zeigen, dass diese drei Paradoxien implizit, aber deutlich greifbar mit Jean-Jacques Rousseau das neuzeitliche Pädagogik-Verständnis zu bestimmen beginnen. Sie werfen unweigerlich – je klarer sie kognitiv erkannt sind umso mehr – emotionale und ethische Probleme für das Lehrer-Handeln auf. Deshalb steht die Geschichte der neuzeitlichen Pädagogik zwar im Bann ihrer Paradoxien, aber doch so, dass diese in immer wieder neuen Anläufen und Formen unterschätzt, missachtet oder außer Kraft setzbar behandelt wurden und werden. Die Geschichte der neuzeitlichen paradoxen Pädagogik ist weitgehend eine Geschichte ihrer immerzu missglückenden SelbstentparadoxierungsVersuche. Alle Formen eines unangemessenen Umgangs mit den pädagogischen Paradoxien nenne ich deshalb im Folgenden „Pseudo-Entparadoxierungen“. Sie beginnen als theoretische – wiederum – mit Rousseaus Emile und verbergen/offenbaren sich schon in der von Rousseau nicht umsonst gewählten Romanform seines Erziehungs-Entwurfs. Theoretische „Pseudo-Entparadoxierungen“ kann man auch die Berufseinschätzungen der studentischen „Schülerfreunde“, „Inhaltevertreter“ und „Nichtengagierten“ nennen. In ihnen kündigen sich jedoch gängige und verbreitete praktische „Pseudo-Entparadoxierungen“ unter amtierenden Lehrern an. Dass die aktuellen „Bildungs“-Reformen an Universitäten, Hochschulen und Schulen den Charakter groß angelegter funktionalistischer „Pseudo-Entparadoxierungen“ aufweisen, habe ich angedeutet. Der Lehrer, also auch jeder Hochschullehrer, muss mit den besagten Paradoxien, von denen die erste die zentrale ist, handelnd umgehen, ohne sie auflösen zu können – ob er es will oder nicht, ob er es weiß oder nicht – es sei denn, er verabschiede sich von den geistigen Bestimmungsgründen der modernen demokratischen Gesellschaft. Diese zu kennen und, wichtiger noch, zu akzeptieren sowie konstruktiv damit umzugehen, würde seine Professionalität wesentlich bestimmen. Die Paradoxien konstituieren das Phänomen, das wir „Bildung“ nennen. „Bildung“ wurzelt demnach im Offenhalten eines für die neuzeitliche Gesellschaft charakteristischen Anspruchs, wonach sich das selbstbestimmte Individuum zu seiner Möglichwerdung auf soziale Erfahrungen zurückführt, die es als Maßstab seines gesellschaftlichen Engagements zu universalisieren bereit ist.
16 Man sieht: Die Organisations-Paradoxie ist vergleichbar einer Ellipse mit zwei Brennpunkten ausgestattet, durch die sie die Problematiken der beiden anderen Paradoxien in sich aufnimmt.
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1.3 Bildung als professionstheoretischer Leitbegriff Erziehung und traditionale Gesellschaft Bildung ist nach dem Gesagten ein Begriff, der wegen seiner paradoxalen Struktur sowohl von der gesellschaftlichen Öffentlichkeit als auch – wegen seiner paradoxiebedingten emotional-ethischen Herausforderungen – von vielen Pädagogen selbst unterschätzt bzw. fehleingeschätzt wird. An dieser Stelle kann ich mich mit einigen Hinweisen, vor allem mit einer Abgrenzung zum Begriff „Erziehung“, begnügen. Bei der Suche nach einer allgemein zustimmungsfähigen Formel für das, worum es in der „Pädagogik“ gehe, bietet sich an, damit das besondere Engagement Erwachsener gegenüber Heranwachsenden zu bezeichnen: das unerlässlich dabei mitwirken soll, dass diese erwachsen oder mündig werden (Menck 1998). Es wird im deutschen Sprachraum umgangssprachlich zumeist mit „Erziehung“ bezeichnet. So sind die Eltern der Kinder im Normalfall die „Erziehungsberechtigten“. Der zunächst juristisch akzentuierte und grundgesetzlich verankerte Begriff macht den für die Pädagogik konsequenzenreichen Sachverhalt deutlich, dass jeder normale Erwachsene für sich erzieherische Kompetenz in Anspruch nehmen darf. Viele theoretisch arbeitende Pädagogen greifen auf den umgangssprachlich verbreiteten Erziehungs-Begriff zur Bestimmung ihres Gegenstandes zurück. Indem sie ihr Fach als „Erziehungswissenschaft“ auffassen, betonen sie dessen genuin wissenschaftlichen Charakter. Dies geschieht nicht immer, aber seit Jahren deutlich zunehmend, um damit auf ein sozialwissenschaftlich-empirisch bestimmtes Selbstverständnis zu verweisen, das sich strikt beobachtungswissenschaftlich-desengagiert versteht. Dadurch soll u. a. einer vorschnellen Inanspruchnahme der theoretisch arbeitenden Pädagogik für Interessen der pädagogischen Praxis ein Riegel vorgeschoben oder andererseits der Platz der Pädagogik im universitären Konzert der politisch anerkannten Wissenschaften gesichert werden. Der Erziehungswissenschaftler beobachtet dann vor allem – eben desengagiert –, was der engagierte Erziehungspraktiker tut oder was bei allem Engagement in der Praxis tatsächlich passiert oder gar herauskommt. Dass ich ein solches Selbstverständnis für aspektweise unerlässlich halte, sei festgehalten. Wo es sich verselbständigt, halte ich es für verfehlt. Andererseits lassen sich durch den Erziehungs-Begriff im Anschluss an die Umgangssprache auch häuslich-informelle und schulisch-formelle Pädagogik begrifflich verklammern. In vielen dieser Ansätze wird „Erziehung“ dezidiert von „Bildung“ abgehoben, so dass eine Zweistufigkeit entsteht: Bildung setzt eine – mehr oder weniger – gelungene Erziehung voraus. Ich werde unten kurz 45
zeigen, wie diese (unglückliche) Unterscheidung schon bei Immanuel Kant grundgelegt ist. Der Erziehungsbegriff verbindet zwar die häusliche und die schulische Pädagogik – was mir prinzipiell sinnvoll erscheint –, er transportiert aber auch historisch vormoderne Pädagogikvorstellungen. Dies wird schon sprachlich an der Verbform „erziehen“ deutlicher. Die Formulierung „Der Erzieher erzieht den Zögling“ ist grammatikalisch-formal einwandfrei. Es fällt aber auf, dass das „Objekt“ der Erziehung, der „Zögling“, sprachlich aus der Mode gekommen ist. Dies hängt, so nehme ich an, mit dem Unbehagen zusammen, das der transitive Charakter des Verbs „erziehen“ aus inhaltlichen Gründen im Lauf des 20. Jahrhunderts mehr und mehr erzeugt hat. Es klingt so, als ob der Erzieher nicht nur genau wüsste, was das für den Zögling Gute sei, sondern dies auch durch erzieherisches Handeln umstandslos bewirken könne: so dass der Zögling am Ende sein, des Erziehers, Werk sei. Das verträgt sich nicht mit dem Gedanken der Individualität, der mit der angezielten Mündigkeit des Heranwachsenden eng verbunden ist. Dem Begriff Erziehung haftet demnach seine Herkunft aus einer vormodernen, traditionalen Kultur an, in der harte Arbeit und eine entsprechend frühzeitig eingeübte Disziplin das Gros der Menschen ihre kargen Lebensgrundlagen erwirtschaften ließen. Der strenge Erzieher, der hier gefordert war, verstand sich selbst aber nicht eigentlich als Individuum im modernen Sinn – er sah sich integriert in (überwiegend) agrarisch bestimmte Lebensformen, die der Natur abgerungen waren und deren Kultur sich mit religiösen Jenseitsvorstellungen verband. Was der einzelne Erzieher zu tun hatte, war im Prinzip streng traditional geregelt und folgte letzten Endes religiöser Sinngebung. Gegen Ende des „pädagogischen“ 18. Jahrhunderts bürgerte sich in der theoretischen deutschsprachigen Pädagogik statt des umgangssprachlichen Wortes Erziehung der Bildungsbegriff ein (Schaarschmidt 1965). Er spiegelt – wie ich schon angedeutet habe und noch genauer zeigen werde – die Paradoxie des „pädagogischen Imperativs“ wider, die im Erziehungsbegriff aufgrund seiner Herkunft aus der traditionalen Gesellschaft nicht mitklingt.
Bildungsrelevanz gesellschaftlicher Verkehrsverhältnisse Als pädagogischer Leitbegriff, mit dem ich zur Bestimmung der Lehrerprofession arbeiten will, bevorzuge ich also den Bildungsbegriff, weil ich mit seiner Hilfe die neuzeitlich entstandene Besonderheit der pädagogischen Praxis besser ausdrücken kann als dies mit dem Erziehungsbegriff möglich wäre. Einen Teil der Gründe hierfür habe ich angedeutet, einen anderen kann ich erst im Zuge der 46
späteren Argumentation deutlicher machen. An dieser Stelle sei noch hinzugefügt, dass ich mir eine Doppeldeutigkeit des Bildungsbegriffs zunutze machen will, die er unabhängig von der Dualität als Ziel- und Prozesskategorie17 aufweist. Im Bildungsbegriff wird im pädagogischen Kontext traditionell betont, dass das einmal in seiner Individualität anerkannte Individuum sich nur selbst bilden könne (Menck 1998). Dieser Gedanke bleibt entscheidend. Ich greife aber auch auf eine andere, einfache Beobachtung zurück und verweise damit noch einmal auf die „soziale Rückseite“ der neuzeitlichen Individual-Vorstellung. Denn das sich selbst verantwortlich Gestalt gebende Individuum entdeckt sich retrospektiv als solches, das seine Selbstgestaltungsmöglichkeiten und -grenzen immer auch von Seiten Anderer eröffnet bekommen hat. Umgangssprachlich wird der Bildungsbegriff deshalb zumeist mit passiven Vorgängen assoziiert, bei denen gerade kein autonom handelndes Subjekt vorausgesetzt ist: wie dies beispielsweise in einer Aussage wie „Das Sprachvermögen des Kindes bildet sich“ zum Ausdruck kommt. Der Reflexivcharakter dieser Formulierung unterscheidet sich grundlegend von dem einer Mitteilung wie „Der Schüler bildet sich durch die freiwillige Lektüre eines anspruchsvollen Textes.“ Ich erlaube mir, die erstere Bedeutung bewusst ins Spiel zu bringen, wonach sich der Heranwachsende bildet – indem er biologischen Entwicklungsgesetzen passiv ausgesetzt ist, in denen er aber immer auch Strukturen des mit ihm geübten sozialen Umgangs verinnerlicht. Von diesem Umgang ist er, je jünger umso mehr, abhängig und die Verinnerlichung erfolgt weitgehend unbewusst. Der hier gemeinte Vorgang ist zwar, wie wir wissen von Anfang an nie nur passiv, aber die Aktivität kann sich erst im Laufe von Jahren zur Autonomie hin entwickeln (Stern 1979, 1991, Dornes 1993). Der Bildungsbegriff teilt damit, anders gesagt, Elemente dessen, was im Allgemeinen unter „Sozialisation“ verstanden wird. Nimmt man Bildung ernst, so muss man nach meiner Überzeugung auch den Sozialisationseinflüssen insgesamt „Bildungsrelevanz“ zuerkennen – durchaus ebenfalls dort, wo sie nicht durch unmittelbaren personalen Umgang, sondern auch wo sie anonym bewirkt werden. Die gesellschaftlichen Verkehrsverhältnisse sind damit grundsätzlich bildungsrelevant – je nachdem kann oder muss der Bildungsanspruch des Pädagogen auch die Aufforderung einschließen, um der Individualität des Schülers willen gesellschaftliche Anpassung zu vermeiden. Dies ist prekär, weil es dem Heranwachsenden lebensweltlich Formen der sozialen Heimatlosigkeit zumutet, die durch alternative Formen der Gewährung sozialer Heimat entwicklungspsychologisch erträglich gemacht werden müssen. Im Prinzip muss Schule dies 17
Bildung wird einerseits vom Prozess her, andererseits vom erreichten Zielzustand her gefasst.
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leisten, wiewohl auch hier wieder gilt, dass sie dies umso weniger kann je nötiger es für (viele ihrer) Schüler werden mag. Pädagogik ganz ohne pädagogische Provinzialität (in der Nachfolge Rousseaus) müsste die soziale Heimat in der blanken Anpassung an die gesellschaftlichen Verhältnisse suchen. Das würde wiederum eine einigermaßen gerecht-glaubwürdige, hinreichend humane Gesellschaft voraussetzen – denn ansonsten kann die blanke Anpassung nur denen nützen, die voraussichtlich zu den Anpassungsgewinnern zählen werden. Die pädagogische Zumutung von Formen der sozialen Heimatlosigkeit, die sie dann selbst schulisch auffangen muss, ist also zweifellos in jeder Hinsicht prekär – sie ist allerdings der Normalzustand der neuzeitlichen Pädagogik, seit es sie gibt, und insofern ist sie auch trivial. Aber: Seit es sie gibt, wird der prekäre Charakter der Pädagogik trivialisiert, also, sozusagen durch Gewöhnung abgeschwächt bis unkenntlich gemacht, öffentlich und nicht zuletzt von ihr selbst, also den theoretisch oder praktisch arbeitenden Pädagogen. Was „Erziehung“ als Begriff betrifft: Wie „erzieherisch“ auch immer sich der Pädagoge versteht – er mag zwar einen tief greifend persönlichkeitsfördernden (oder -hindernden) Einfluss auf das Kind haben, er bewirkt aber durch seine bewussten Erziehungsmaßnahmen weit weniger als durch die Art seines Umgangs insgesamt. Diese ist nicht nur lebensweltlich mitbestimmt (Elternhaus) oder organisational gerahmt (Schule) und insgesamt vielfältig sozio-kulturell beeinflusst, sie ist ihm selbst auch nur teilweise biographisch bewusst oder bewusst gestaltbar. Informelle Erzieher, in erster Linie also Eltern, müssen um diese Sachverhalte in ihrem pädagogischen Handeln nicht wissen. Professionelle Erzieher, also Lehrer, sollten es. Im Bezug auf letztere verwende ich deshalb den Bildungsbegriff. Er kann leicht direktive „erzieherische“ Vorstellungen vermeiden helfen, gleichzeitig aber ist zu verhindern, dass Bildung idealistisch auf Selbstbildung reduziert erscheint. 1.4 Lehrerberuf als Profession nach Oevermann Professionen als besondere Berufe, Fallanwendung Unter den Berufen nehmen Professionen eine Sonderstellung ein. Sie verlangen besondere Qualifikationen, die zunächst durch ein Spezialstudium nachgewiesen werden müssen, sie setzen ein Berufsethos mit strengen Vorschriften voraus, sie führen in der Regel zu einem überdurchschnittlich hohen Einkommen, obwohl sie nach Möglichkeit keiner Marktkonkurrenz ausgesetzt sein sollen, und sind auch in der Öffentlichkeit entsprechend angesehen. Der „klassische“ Professio48
nelle arbeitet selbstverantwortlich-niedergelassen in der eigenen „Praxis“ oder „Kanzlei“, deren Aufsuchen dem potentiellen Klienten ermöglicht und freigestellt ist. So trifft es jedenfalls direkt auf den Arzt und den Rechtsanwalt zu. Bei der wohl ältesten Profession – dem „Seelsorger“ (Priester, Pastor oder Medizinmann, Schamane usw.) – liegt der Fall im Zuge seiner „kirchlichen“ Einsetzung und Kontrolle etwas anders, hier kommen entscheidend kirchenbehördliche Gesichtspunkte ins Spiel. Der Psychotherapeut wiederum, dem man seit dem letzten Jahrhundert ebenfalls einen Professionsstatus zubilligen möchte, kann bislang noch nicht auf eine eindeutig umrissene Ausbildung im Rahmen einer seiner Profession berufsvorbereitend zuarbeitenden universitären Fakultät (wie dies bei Juristen, Medizinern, Theologen der Fall ist) zurückgreifen. Mehrere Merkmale zeichnen nun die genannten Professionen aus. Der Unterstützung oder Hilfe suchende Klient wendet sich einem Professionellen (seiner freien Wahl) zu und schließt mit ihm ein so genanntes „Arbeitsbündnis“. Die Verpflichtung, die er dabei eingeht, setzt im Regelfall geltende Konventionen außer Kraft: etwa durch kommunikative Zulassung, ja, Aufforderung zur Aufdeckung von privaten oder intimen Sachverhalten. Sie wird aber strikt funktionalproblembezogen gehandhabt und mit dem Klienteninteresse begründet. Die Verpflichtung des Professionellen umfasst deshalb immer eine ethische Dimension, die sich aus dem Schutz der partiell preisgegebenen Intimsphäre des Klienten ableitet. Betrachtet man das vom Professionellen erwartete Handeln strukturell, zeigt sich ein – auch wissenschaftstheoretisch höchst interessanter – Sachverhalt. Er muss sein fachwissenschaftlich-allgemein erworbenes Wissen auf die Besonderheiten des sich stellenden „Falls“ dieses einzelnen Klienten an-wenden. Er „leiht“ dem Klienten sein Wissen oder, eine andere Metapher, „stellt“ es ihm „zur Verfügung“. Dabei ergreift er „advokatorisch“ dessen Partei. Fasst man die besagten Professionen in dieser Hinsicht etwas näher ins Auge, zeigen sich zwischen ihnen bei der fallspezifischen Anwendung aber doch markante Unterschiede. Der Rechtsanwalt nämlich mag seinen Klienten in einem Fall vertreten, dessen Folgen für diesen existentiell bedrohlich sein können, diese Bedrohung als solche wird aber in seiner Argumentation (etwa vor Gericht) prinzipiell keine Rolle spielen. Stattdessen können aber fallunabhängige formale Gesichtspunkte (wie zufällige Verfahrensfehler) eine entscheidende Rolle übernehmen. Ganz anders stellt sich die Situation beim Seelsorger einerseits, beim Psychotherapeuten andererseits dar. Beim Seelsorger – man denke paradigmatisch an die Individualbeichte – kommt alles auf die „Reinheit der Gesinnung“ des Gläubigen (= „Klienten“) an, während der Priester zur Beurteilung dieser Reinheit Kriterien herbeizieht, die ihm die kirchliche Tradition bereitstellt, einschließlich der Idee einer solchen Reinheit selbst. Dabei geht es um den letzten 49
Existenzsinn des Gläubigen, der Priester hat dessen Begegnung mit Gott zu vermitteln. Dadurch wird sein Handeln extrem bedeutungsvoll – und gleichzeitig weitgehend entlastet. Denn: sofern diese Begegnung stattfindet, ist sie ein Gnadengeschehen zwischen dem Gläubigen und Gott.18 Die Psychotherapie – insbesondere in Form der Psychoanalyse – erfordert wiederum eine sehr spezifische Fallanwendung, weil sie mit der Idee eines psychisch wirksamen „Unbewussten“ arbeitet. Sie hat zur Folge, platt gesagt, dass nach psychoanalytischer Überzeugung der relevant leidende Patient – der „Neurotiker“ bei Sigmund Freud – nicht angemessen wissen oder spüren kann, woran er „eigentlich“ leidet. Die Therapie kann dann im Prinzip nur insofern erfolgreich sein, als der Patient entweder sein Nicht-Wissen oder Nicht-Spüren in Wissen oder Spüren überführt19 oder aber zumindest sich konstruktiv abfinden lernt mit seinen Defiziten. Die psychoanalytische Therapie ist damit von Anfang an als professionelle Hilfe zur Selbstwerdung angelegt. Sie stellt deshalb ganz besondere Anforderungen an den Therapeuten, weil seine Kunst auf einer extrem diffizilen Deutungsfähigkeit basiert. Er muss dem Patienten Möglichkeiten der Selbstwerdung eröffnen, die diesem aus seiner individuell begrenzten Sicht verschlossen bleiben würden, die er dann aber – durch Vermittlung des Therapeuten – als seine erkennen und ergreifen lernt – im günstigen Fall. Das dabei von vielen Außenstehenden unterschätzte oder gänzlich verkannte Problem20 besteht vor allem darin, dass die neurotische Störung des Patienten (nach Freud) aus Gründen der Traumaabwehr zum Aufbau eines falsch entwickelten Ich-Bildes geführt hat. Jedes voreilige Deutungsangebot – gerade dann, wenn es in der Sache richtig war – stellt dann seinerseits eine (womöglich schwere) Kränkung des Selbstwerterlebens des Patienten dar. Nach Freud besteht deshalb ein Großteil der Therapie aus „Widerstandsanalyse“. Das heißt, der Patient widersetzt sich subjektiv-unbewusst seiner „objektiv“ in den Augen des Therapeuten möglichen Kur. Dessen professionelle Empathie bezieht sich dann nicht nur auf das Gespür für den richtigen Zeitpunkt der – für den Patienten stets schmerzlichen – Deutung, sie verlangt auch eine enorme Selbstdisziplin in der Zurückhaltung als objektiv hilfreich eingeschätzter Deutungsangebote. Nicht zuletzt muss der Therapeut seinen eigenen „Helfer“-Wunsch kontrollieren.21 18
In der Beichte wird die „Absolution“ der Sündenschuld vom Priester nur stellvertretend und durchaus vorbehaltlich der Prüfung göttlicherseits ausgesprochen. 19 Bei Freud heißt das in einer berühmten, aber nicht ganz unmissverständlichen Formel: „Wo Es war, soll Ich werden.“ (Die Formel ist nur für einen Teil des Es sinnvoll anwendbar.) 20 Das trifft insbesondere auf Personen zu, deren Selbstwertgefühl von der Überzeugung rationaler Selbststeuerung hoch abhängig ist – ich komme darauf zurück. 21 Es war also nicht nur seine naturwissenschaftliche Voreingenommenheit, die Freuds Haltung einseitig auf desengagierte wissenschaftliche Distanz zum Patienten festlegte, sondern auch die Erfahrung der Verführbarkeit des Therapeuten durch seine eigene Hilfe-Bereitschaft.
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Materiale Wertbezüge von Professionen und stellvertretende Krisenbewältigung Die Tätigkeit des psychoanalytischen Therapeuten ist von der Absicht einer selbstkontrollierten „Förderung zur Selbstwerdung“ geleitet, wobei der Adressat diese zwar prinzipiell wollen muss, ihr in vielen Einzelschritten aber keineswegs ohne weiteres zustimmen kann. Dies verbindet sie ohne weiteres mit der des Lehrers, zumindest, wenn man die Formel ganz formal fasst. Der Frankfurter Soziologe Ulrich Oevermann hat, ausgehend von den entsprechenden Beobachtungen und Überlegungen (unter Aufnahme von Ausführungen des amerikanischen Soziologen Parsons) die deutschsprachige Diskussion um den Professionsstatus von Lehrern seit Beginn der 90er Jahre stark beeinflusst.22 Selbstverständlich sieht Oevermann, dass der Lehrerberuf – äußerlich betrachtet – gewisse Merkmale einer Profession nicht erfüllt. Weder wird der Lehrer zur Hauptsache pädagogisch ausgebildet – er studiert in erster Linie seine späteren Unterrichtsfächer – noch ist er später freiberuflich tätig. Deshalb kommen auch keine erwachsenen „Klienten“ zu ihm, sondern schulpflichtige Heranwachsende. Oevermann legt nun eine interessante Argumentation vor, um den Lehrerberuf dennoch als Profession auszuweisen. Dabei versucht er, den Professionsbegriff genauer zu fassen, um dann allerdings – sozusagen im selben Atemzug – die Professionalisierung des Lehrerberufs anzumahnen, die er als (nicht nur bezüglich der deutschen Verhältnisse) bislang bemerkenswert defizitär ansieht. An Oevermanns Argumentation kann ich anknüpfen, seine Vorschläge, die Schulpflicht aufzuheben, um den Lehrerberuf über ein pädagogisches „Arbeitsbündnis“ freiberuflichen Verhältnissen anzunähern, sind mir allerdings schwer nachvollziehbar. Oevermann arbeitet, wie er es nennt, strukturtheoretisch bzw. struktursoziologisch. Dabei geht er von gesellschaftstheoretischen Bestimmungen der modernen, also posttraditionalen Gesellschaft aus, in denen der Einzelne verfassungsverbürgt seine persönliche Integrität soll entfalten können, die aber durch Krisenfälle immer wieder gefährdet sein wird. „Professionen“ stellen nach Oevermann berufliche Antworten auf solche Krisenfälle in neuzeitlichen Gesellschaften dar. Professionelle sind es, die dem Einzelnen in bedeutsamen Schwierigkeiten, in denen er sich selbst nicht mehr hinreichend helfen kann, eine fachkompetente Hilfe anbieten. Sie stellen ihm ihre fachspezifisch erworbenen Kompetenzen in konkreten Einzelfällen und fallgenau auf seine Problemsituation bezogen zur Verfügung. Es geht bei den Professionen also zentral um „Krisen22 Ich beziehe mich im Folgenden auf zwei Beiträge Oevermanns (1997 und 2002), denen auch die Zitate entnommen sind.
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bewältigung“ (1997, 81ff). Die entsprechenden Notlagen sind gesundheitlicher, psychischer, religiöser oder rechtlicher Art, und die betroffenen Personen schließen mit dem jeweiligen Professionellen (Arzt, Therapeut, Priester, Rechtsanwalt) ein „Arbeitsbündnis“. Dieser bedarf demnach einer doppelten Kompetenz. Er muss fachspezifisch, und das heißt: fachwissenschaftlich, ausgebildet sein. Und er muss dieses fachallgemeine Wissen auf die konkreten Belange seines jeweiligen Klienten anwenden können. Zuvor muss er dessen individuelle Problemsituation fallgenau verstanden haben. Oevermann spricht hier von einer fallbezogenen „stellvertretenden Deutung“ (1997, 156), neuerdings legt er Wert auf die Formulierung „stellvertretende Krisenbewältigung“ (2002, 30), um das Missverständnis auszuschließen, der Professionelle subsumiere die innere Strukturgesetzlichkeit der jeweiligen Fallstruktur umstandslos unter „vorgefasste Messkategorien oder Konstrukte“. Entscheidend wichtig ist ihm dabei, dass das rekonstruktive Verstehen konkreter Fallstrukturen grundsätzlich keine irgendwie „standardisierbare methodische Operation“ darstelle (2002, 30f). Für Oevermann bestimmen sich Professionen danach, ob sie von drei „materialen Wertbezügen“ bestimmt sind: der „Gewährleistung der somato-psychosozialen Integrität der je konkreten Lebenspraxis“ und der „Gewährleistung von Gerechtigkeit im Zusammenleben des vergemeinschaftenden Verbandes, für den ein gemeinsames konkretes Rechtsbewusstsein gilt“. Die beiden Wertbezüge werden gewissermaßen in ihrer je internen Problematik durch eine dritte quadriert: die „methodische Bearbeitung von Geltungsansprüchen“, insofern die in der primären Lebenspraxis ausgelösten Krisen „von dieser selbst nicht mehr bearbeitet werden können und an eine methodisch gesicherte Expertise der stellvertretenden Problemlösung delegiert werden müssen“ (2002, 23f). Unter der doppelten Voraussetzung, dass der Prozess der Sozialisation grundsätzlich „eine beständige Krisenbewältigung“ für das sich bildende Subjekt sei (2002, 37) und dass historisch im Zuge gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse „die primäre Sozialisation durch die Familie allein die Entwicklung zu einem autonom handlungsfähigen, mit sich identischen Subjekt nicht mehr zureichend gewährleistet“ (2002, 36), sind im pädagogischen Handeln sämtliche drei Wertbezüge, wie sie Professionen kennzeichnen, strukturlogisch gegeben. Therapeutische Funktion des Lehrerhandelns Damit rückt für Oevermann der Gesichtspunkt einer strukturell gegebenen Forderung nach Rücksichtnahme des Lehrerhandelns auf die psychische Verletzbarkeit des Heranwachsenden in den Vordergrund, die er psychoanalytisch52
entwicklungspsychologisch fasst. Aus dieser Forderung ergibt sich für ihn nicht nur ein, sondern entscheidend das Professionsmerkmal des Lehrers. Denn die beiden anderen Funktionen, die der Lehrerberuf nach Oevermann zu erfüllen hat, die wissens- und die normenvermittelnde Funktion machen den Lehrer zum Experten, nicht aber schon zum Professionellen. Zunächst äußert sich Oevermann zur Wissensvermittlung. „Hinsichtlich der Normalform institutioneller Erziehung als des strukturellen Orts pädagogischen Handelns können wir tatsächlich die Funktion der Wissensvermittlung – wozu die Vermittlung vor allem von Erfahrungswissen, Traditionswissen, Kulturtechniken, Praktiken etc. gehört – in den Mittelpunkt stellen.“ (1997, 144)
Um diese Funktion gruppiere sich eine zweite: die der Normenvermittlung. (a. a. O.) Erstere entspreche „grob“ der „Ausbildung“, letztere der „Bildung“ (1997, 145). (Ich möchte schon an dieser Stelle festhalten, dass ich Oevermanns Bildungstheorie-Defizit für den entscheidenden Schwachpunkt seines Entwurfs halte.) „Normenvermittlung läuft .. immer auf die Vermittlung eines Habitus und insofern auf Bildung hinaus – heutzutage auf die Bildung des mündigen Bürgers in der Befähigung zur selbstverantwortlichen Verfolgung des Eigeninteresses unter der Bedingung der Achtung des anderen in seiner Eigenart und Würde einerseits und der Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwohl andererseits.“ (1997, 145)
Nach Oevermann beschränkt sich das pädagogische Handeln traditionell auf diese beiden Funktionen: wodurch das Thema der Professionalisierungsbedürftigkeit „noch nicht thematisch“ werde. (a. a. O.) Was nun die dritte Funktion betrifft – Oevermann nennt sie die „therapeutische“ – so sei diese zwar objektiv strukturgesetzlich gegeben – allerdings fehle das angemessene öffentliche oder berufliche Bewusstsein dieser Gegebenheit. „Im Normalfall ist also eine dritte Funktion des pädagogischen Handelns, die implizit therapeutische, nicht thematisch, obwohl sie faktisch, der objektiven Strukturgesetzlichkeit pädagogischen Handelns gemäß, von dieser Praxis auf die eine oder andere Weise, ob der Pädagoge will oder nicht, wahrgenommen wird. Diese dritte Funktion ergibt sich schlicht daraus, dass im Zuge der Wissens- und Normenvermittlung am sozialen Schulort zwangsläufig eine Interaktionspraxis mit den Schülern eröffnet wird, die – zumindest bis zur Adoleszenzreife bzw. zum Abschluß der Pubertät angesichts des noch offenen Bildungsprozesses des Schülersubjekts – objektiv folgenreich für dessen spätere personale Integrität ist. Der Schüler ist außerhalb der Familie an keinem weiteren sozialen Ort von einer solchen folgenreichen Interaktionspraxis betroffen.“ (1997, 146, Herv. v. mir)
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Diffuse und spezifische Sozialbeziehungen Aus der Strukturgesetzlichkeit des pädagogischen Handelns wächst diesem die besagte therapeutische Funktion nach Oevermann faktisch zu: „weil die anlässlich der Wissens- und Normenvermittlung notwendig werdenden Lehrer-Schüler-Beziehungen angesichts des Übergangscharakters der Latenzphase und angesichts der Ungefestigtheit von Autonomie und Rollenhandlungsfähigkeit des Schülers in dieser Phase immer auch folgenreich sind für die Entwicklung des Schülers als ganzer Person.“ (1997, 147, Herv. i. Orig.)
Für die Entwicklung des Heranwachsenden als „ganzer Person“ oder als „ganzer Mensch“ folgenreich – sind zunächst die familialen Beziehungen. Deren „ganzheitlichen“ Charakter fasst Oevermann als „diffus“ im Unterschied zu „spezifischen Sozialbeziehungen“, die „rollenförmig“ eingeschränkt sind. (1997, 146ff; 2002, 40ff) “Diffus sind solche Sozialbeziehungen, in denen derjenige, der ein Thema vermeiden oder nicht behandeln will, jeweils die Beweislast trägt, was voraussetzt, dass im Normalfall kein mögliches Thema ausgespart bleibt. Das entspricht genau einer Beziehung zwischen ganzen Menschen. In spezifischen Sozialbeziehungen hingegen trägt derjenige die Beweislast, der ein neues, in der Spezifikation der Rollendefinitionen nicht enthaltenes Thema hinzufügen möchte. Das setzt voraus, dass zuvor ein Bereich beziehungsrelevanter Themen konventionell spezifiziert wurde. Dem entspricht genau die Logik von rollenförmigen Sozialbeziehungen, in denen durch institutionalisierte Normen, per Vertrag letztlich, in Rollendefinitionen festgelegt worden ist, was in diesen Beziehungen thematisch ist. Familie ist das Handlungssystem bzw. die Praxisform par excellence, für das diffuse Sozialbeziehungen konstitutiv sind.“ (2002, 40)
Der mit der Ablösung der ödipalen Krise zusammenhängende Eintritt in die Schule ist nach Oevermann genau der Zeitpunkt, „zu dem die Schüler vor die Notwendigkeit gestellt werden, eine verpflichtende soziale Rolle einzunehmen – und zwar in ihrer Beziehung zum Lehrer; die Beziehung zu ihren Mitschülern in der „peer group“ bedeutet statt dessen eine Fortsetzung von nicht rollenförmigem Vergemeinschaftungshandeln, allerdings unter der gegenüber der Familie gänzlich veränderten Bedingung der gleichberechtigten Kooperation“ (2002, 41)
Abgesehen von dem interessanten Hinweis auf die Bedeutung der Lerngruppe als „peer group“ ist hier vor allem festzuhalten, dass Oevermann die Schulzeit 54
bis zur Bewältigung der Adoleszenzkrise nicht als Bruch zwischen „diffusen“ und „spezifischen“ Beziehungen zu den erwachsenen Bezugspersonen (Eltern resp. Lehrer) sieht, sondern als Übergangsphase versteht. „In diesem Moratorium ist es für Schüler geradezu natürlich, in der Beziehung zum Lehrer in struktureller Ambivalenz gleichzeitig sowohl in einer spezifischen Rollenbeziehung zu stehen wie den Lehrer als ganze Person an das Vorbild der Eltern zu assimilieren, also mit ihm eine diffuse Sozialbeziehung zu unterhalten – zumindest in der Imagination bzw. in der Übertragung.“ (2002, 42)
Die entwicklungsbedingte „strukturelle Ambivalenz“, in der die Heranwachsenden Anteile einer spezifischen Rollenbeziehung ebenso an den Lehrer herantragen wie Gesichtspunkte einer diffusen Sozialbeziehung bedeutet zunächst, dass der Lehrer in seiner Berufsrolle nicht beliebig definieren kann, wie er gesehen und behandelt zu werden wünscht, sondern dass er biographischen Erlebnis- und Sichtweisen der Heranwachsenden Rechnung tragen muss, die diese aus ihren außerschulisch wichtigen Beziehungen an ihn herantragen und in deren Logik sie sein Auftreten auf ihre Weise verstehen. Weil nur der Lehrer „zur Restriktivität der spezifischen Rollenbeziehung grundsätzlich befähigt“ (1997, 149) ist, richtet sich sein Verhalten immer auch – zumindest aspektweise – an die „ganze Person“ des Schülers. Der Schüler kann sich, anders gesagt, vor potentiellem Fehlverhalten des Lehrers nicht dadurch schützen, dass er ihn weitgehend unter funktionalen Gesichtspunkten auf sich wirken ließe und unliebsame Aspekte ausfilterte: so wie man es von einem erwachsenen Menschen in funktionalen, etwa beruflichen Zusammenhängen erwartet. „Für ein professionalisiertes Lehrerhandeln wäre nun konstitutiv, die Gegenübertragungsgefühle ähnlich wie ein Therapeut einerseits innerlich zuzulassen und nicht von vornherein abzuwehren, andererseits aber nicht auszuagieren. Genau hier passieren vor allem in der pädagogischen Praxis die Strukturfehler aufgrund fehlender Professionalisiertheit.“ (1997, 159)
Wie angedeutet sieht Oevermann in der therapeutischen Aufgabe23 des Lehrers, sich auf das vom Schüler ausgehende Beziehungsgemisch spezifischer und diffuser Sozialbeziehung beruflich-kompetent einzulassen, dieses aufzunehmen und pädagogisch zu bearbeiten, das entscheidende Professionsmerkmal. Würde der Lehrer nur die Aufgaben der Wissens- und der Normvermittlung erfüllen müssen, könnte man den Lehrerberuf „ingenieurial“ fassen. Damit würde man aber seinen Professionscharakter verfehlen. Oevermann sieht hier – wie mir scheint – 23 Dieser Begriff ist äußerst missverständlich. Tatsächlich meint Oevermann ein kränkungsvermeidendes „prophylaktisches“ Verhalten, das allerdings psychoanalytisch aufgeklärt zu sein hat.
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hellsichtiger als mancher Erziehungswissenschaftler etwas entscheidend Wichtiges. Wenn ich mich seinem Vorschlag, den Lehrerberuf als Profession – in gewisser Hinsicht: als Profession par excellence – aufzufassen anschließe, dann wegen dieser Einsichten und ohne mir die Konsequenzen einhandeln zu wollen, die Oevermann dann daraus zieht.24 Dass der Lehrer den Schüler nachhaltig verletzen kann, darauf macht Oevermann ganz im Sinne seines auch sonst reformpädagogisch inspirierten Ansatzes deutlich. Der Lehrer hat eine Vermittlung zu leisten, die nicht einfach darin aufgeht, den Schülern schwierige Sachverhalte durch schrittweises Vorgehen leichter zugänglich zu machen. Die Vermittlungsaufgabe lässt sich fachimmanent nicht lösen. Sie bedarf vielmehr eines Nachvollzugs der Wahrnehmungsformen Heranwachsender, die den Lehrer nicht nur als Lehrer, also „spezifisch“, sondern auch „diffus“ als emotional-existentiell bedeutsamen Menschen erscheinen lässt. Der Lehrer muss in der Lage sein, diese Wahrnehmungsformen seinerseits wahrzunehmen, er muss sich in die Erlebniswelt seiner Schüler versetzen können. Das setzt bei ihm nicht nur erlernbare „Kompetenzen“ voraus, sondern auch ein Ethos der Bereitschaft, „sich einzulassen“. Oevermann fordert, dass der professionelle Lehrer zur Analyse seiner Gegenübertragungen fähig ist. Damit ist zugleich eine Bereitschaft gesetzt, eigene spontane Erlebnisweisen mit Rücksicht auf die Schüler in Frage zu stellen, wo es nötig ist, an sich zu arbeiten. Ich bin nicht sicher, dass Oevermann die entsprechende Konsequenz eines professionellen Lehrer-Ethos in der wünschenswerten Deutlichkeit zieht: Sie ist aber bei ihm angelegt. Oevermann verlangt jedenfalls professionelle RücksichtNahme des Lehrers auf die Schüler. Dass auch schwierige Schüler das berufliche Selbstwerterleben von Lehrern belasten können, scheint er indessen kaum zu beachten. Vielleicht hätte er es eher sehen können, wenn er mit einem differenzierteren Begriff von Bildung gearbeitet und diese nicht auf Normenvermittlung reduziert hätte.
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Oevermann schlägt u. a. vor, die Schulpflicht aufzuheben, indem er zwar ein kritisches Bild der aktuellen schulischen Bildung entwirft, dabei aber gleichzeitig mit einem (für mich unverständlich) unkritischen Bild gängiger familialer Sozialisation arbeitet.
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2 Drei Ebenen des Lehrerhandelns
Das folgende Kapitel bildet den ersten Schwerpunkt der vorliegenden Studie.Es bezieht sich auf die Struktur des Lehrerhandelns, sofern dieses in einem anspruchvollen Sinne als „professionelles“ betrachten werden soll. Damit greife ich Oevermanns Vorschlag auf, den ich zuvor dargestellt habe. Allerdings leite ich die Strukturanalyse grundsätzlich von einem „Bildungs“-Denken her, das ich später im vierten Kapitel auf die von Rousseaus Émile angestoßenen Bildungsphilosophien von Kant, Schiller/Humboldt und Herder zurückführen werde. Insofern grenze ich die Lehrertätigkeit deutlich gegen ein „Erziehungs“-Verständnis ab, wie es einem traditional-vormodernen gesellschaftlichen Selbstverständnis entspringt. In der Konsequenz des „Bildungs“-Ansatzes wird deutlich, dass die Lehrertätigkeit von einem tiefgreifenden Strukturproblem bestimmt wird, das bildungsphilosophischen Ursprungs ist und zugleich eine psychologisch relevante Folgewirkung im Sinne einer gravierenden berufsbiographischen Dauerbelastung zeitigt. Weil „Bildung“ für mich in einer „kulturellen Haltung“ wurzelt, besteht sie wesentlich im Offenhalten der „Bildungsparadoxien“ und im praktisch-konstruktiven Umgang mit ihnen. Deren Existenz wurde schon im Einleitungskapitel im Kontext der Hochschullehrprobleme bereits angedeutet, das vorliegende Schwerpunktkapitel läuft dann auf ihre systematische Explikation hinaus. Ich werde meine Darstellung der „kulturellen Haltung“, der das Lehrerhandeln gelten soll, mit grund- und schulgesetzlichen Vorgaben fundieren, wie sie neuzeitlich-demokratischen Verfassungen folgen. Zunächst beschäftige ich mich mit den Ebenen des Lehrerhandelns. Unzweifelhaft hat der Lehrer Inhalte und Kompetenzen zu vermitteln (oder „Unterrichtsstoff“ – wie immer man das nennen möchte). Dabei zeige ich, dass bereits die Diskussion dieser Ebene, die von einer breiten Öffentlichkeit einschließlich eines Teils der Lehrer selbst irrtümlich für die einzig relevante gehalten wird, unweigerlich auf zwei weitere Ebenen hinführt, die jeweils eine eigene Handlungslogik des professionellen Lehrers erzwingen. „Unter“ der Ebene der Inhaltevermittlung tritt eine Ebene des angemessenen individuellen „Arbeitsverhaltens“ in Erscheinung. Sie wird in den letzten Jahren zunehmend häufig von pädagogischen „Experten“ unterschiedlicher Provenienz unter dem Titel „Lernen des Lernens“ angesprochen. Diese Rede ist schon von der Formulierung her zweischneidig. Sofern dadurch von der Beachtung der dritten Ebene abgelenkt
wird, die der Vermittlungsnotwendigkeit einer „kulturellen Grundhaltung“ gilt, ist sie der beobachtbar um sich greifenden funktionalistischen Verengung des öffentlichen Pädagogik- bzw. „Bildungs“-Verständnisses geschuldet. Sobald der Lehrer bei einzelnen Schülern Defizite der kulturelle Grundhaltung antrifft, wird seine Arbeit kommunikativ prekär und psychisch belastend.
2.1 Ebene des Lehrerhandelns, zwei weitere Ebenen Ausgewählte Inhalte und Kompetenzen, das didaktische Dreieck Es ist die Aufgabe des Lehrers, den Schülern ausgewählte Inhalte und Kompetenzen zu vermitteln. Eine solche Formulierung könnte sicherlich von einer größeren Öffentlichkeit ohne besondere Bedenken akzeptiert werden. Man denke nur an die oben zitierte Feststellung Oevermanns, wonach wir „die Funktion der Wissensvermittlung – wozu die Vermittlung vor allem von Erfahrungswissen, Traditionswissen, Kulturtechniken, Praktiken etc. gehört – in den Mittelpunkt stellen“ können (1997, 144). Die Formel lässt sich im sogenannten „didaktischen Dreieck“ abbilden: Abbildung 5:
Didaktisches Dreieck Inhalte / Kompetenzen
Schülergruppe
Lehrer
Schon ein etwas nachdenklicherer Blick auf das Didaktische Dreieck kann illustrieren helfen, was sich von Oevermann in wünschenswerter Deutlichkeit lernen ließe: dass das Lehrerhandeln hochkomplex ist und dass es – womöglich infolge seiner Komplexität – zu vereinfachenden Einschätzungen durch die Öffentlichkeit und sogar durch viele Pädagogen selbst verleitet. 58
Im Folgenden soll deshalb diese Komplexität mit Blick auf das „didaktische Dreieck“ herausgearbeitet werden. Die Befunde, die sich daraus ergeben, leiten zu weiteren Kompliziertheiten weiter, die ich anschließend diskutiere. Meine Darstellung ist zunächst „kritisch“ im ursprünglichen Wortsinn, man könnte auch sagen „analytisch“, bevor sie an den gegebenen Stellen „kritisch“ im umgangssprachlichen Sinne gegenüber verbreiteten Sichtweisen und Praxen innerhalb der institutionalisierten Pädagogik wird. Beginnen möchte ich mit einer ersten Unterscheidung. Sie bezieht sich, sieht man auf die Graphik, auf die Reihenfolge, die der Lehrer bei der Vermittlung von Inhalten und Schülern bevorzugt, mithin auch auf die Richtung. Gibt er die Inhalte den Schülern vor, oder kommt er erst über die Schülerinteressen zu den Inhalten?
Mathetik - Didaktik Anlässlich seines damals vielbeachteten Gutachtens zur fraglichen Existenzberechtigung der Freien Schule Frankfurt hat Hartmut von Hentig eine von Comenius stammende Unterscheidung zweier grundsätzlicher Vermittlungsformen von Schülern und Inhalten wiederaufgenommen (von Hentig 1985). Er unterschied einen „mathetischen“ von einem „didaktischen“ Zugang.25 „Didaktisch“ ist ein Zugang, bei dem im Prinzip der Lehrer festlegt, welche Inhalte/Kompetenzen den Schülern nahe zu bringen sind, was also diese lernen sollen. „Didaktisch“ wäre der Ansatz bei den von außen festgelegten Lernbedarfen. Als „mathetisch“ hingegen ist ein Zugang bei den alltagsweltlich mitgebrachten, also außerschulisch gemachten Erfahrungen der Schüler und den daraus abgeleiteten subjektiven Lernbedürfnissen, bei dem, was sie möglichst von sich aus lernen wollen. Der Unterschied lässt sich im Blick auf das obige Dreieck leicht verdeutlichen. Feststellen möchte ich zuvor noch zweierlei. Der hier verwendete Begriff von „Didaktik“ ist weitaus enger gefasst als der in den verbreiteten deutschsprachigen Didaktiken zugrunde gelegte. Letztere enthalten alle – viele sogar mit nachdrücklicher Betonung, wenn auch ohne den entsprechenden Begriff – „mathetische“ Elemente oder sind sogar grundsätzlich „mathetisch“ strukturiert. Zweitens ist die Unterscheidung nur als schematisch verstandene sinnvoll und nützlich. Eine Didaktik ohne Mathetik wäre ein pädagogischer Grenzfall analog zum umgekehrten Fall einer Mathetik ohne Didaktik. Das sieht von Hentig selbstverständlich genauso. Er plädiert deshalb für eine verstärkte Würdigung und praktische Umsetzung mathetischer Orientierungen in den im öffentlichen Schulsystem gängigen unterrichtlichen Vermittlungsfor25 Die altgriechische Unterscheidung von „Mathesis“ und „didaskein“ bildet den sprachlichen Hintergrund: Ersteres bedeutet das „Lernen“, letzteres „lehren“.
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men.26 Dass die Unterscheidung nach einer kurzen Blütezeit in den hessischen Schulbehörden wieder aus der öffentlichen Diskussion verschwunden zu sein scheint, sagt wenig über ihre Aktualität und explanative Kraft. Ich habe bereits auf die Existenz von „Inhaltevertretern“ und „Schülerfreunden“ hingewiesen. Die einen sind im besagten engen Sinn „Didaktiker“, die anderen „Mathetiker“. Man kann sich unter besonnenen Pädagogen leicht darüber einigen, dass der „hinreichend gute Lehrer“ solcherart Vereinseitigungen vermeiden muss und beide Zugangsweisen ernst nehmen und beherrschen soll, wozu ihm nicht zuletzt sinnvolle Methoden zur kompetenten Verfügung stehen müssen. Ich setze dieses Postulat demnach im allgemeinen pädagogischen Konsens fürs Folgende voraus, wiewohl der bildungsöffentliche Diskurs zunehmend von „Leistungs“Forderungen dominiert wird, in denen regelmäßig verengte „didaktische“ Zugänge präferiert (und kaschiert) zu werden pflegen. Allerdings erweist sich unter diesem Gesichtspunkt die Bedeutung der obigen Formel komplizierter als sie auf Anhieb zu sein schien. Ein „mathetischer“ Zugang setzt in jedem Fall ein bereits hinreichend etabliertes Vertrauensverhältnis zwischen Lehrer und Schülern, eine Konsolidierung der Schüler als Gruppe und eine unterrichtliche Einbeziehung der lebensweltlichen Schülererfahrungen in den Unterricht – Stichwort: „Öffnung von Schule“ – voraus. Damit ist ein Themenfeld eröffnet, das sich zunächst auf die Qualität der personalen Begegnung aller Beteiligten im Unterricht bezieht. Ich bin überzeugt, dass der hiermit angeschnittene Problembereich in seiner realen Problematik öffentlich weit unterschätzt, aber auch in Teilen der theoretischen Pädagogik folgenreich vernachlässigt wird: in letzterer nicht durch Ignoranz sondern durch eine Unterschätzung, die zumeist schon in der Wahl der bevorzugten objektivistischen wissenschaftlichen Paradigmen erleichtert wird. Damit eng zusammen hängt die Unterschätzung der pädagogischen Relevanz der Bildungsparadoxien. Bevor ich diese Erörterung der Problematik personaler Begegnung im Unterricht wieder aufnehme, will ich noch kurz die Komplikation der obigen For26 Von Hentigs Gutachten grenzt sich von einem behördlicherseits didaktiklastigen PädagogikVerständnis offen und einem alternativschulisch überbetonten mathetischen eher indirekt ab. Dass von Hentig der Freien Schule Frankfurt ein respektables Zeugnis ausstellt, begründet er keineswegs mit ihrem Selbstverständnis (dazu erschien es ihm aus konzeptuellen Gründen zu konzeptlos), sondern mit dem pädagogischen Charisma der Schulleiterin. Eine „Freie Schule“ gibt demnach besonders fähigen Pädagogen einen besonderen Freiraum – sie hängt dann aber auch komplett von den entsprechenden Persönlichkeiten ab: und kann als „antiautoritäre“ am allerwenigsten auf maßgebliche Autoritäten verzichten. Wer sich mit alternativen Schulprojekten, allen voran Summerhill, beschäftigt hatte, den konnte diese Einsicht allerdings nur bedingt überraschen. Von Hentigs Gutachten wäre im Übrigen ein frühes Beispiel einer „externen Evaluation“ bzw. „Schulinspektion“, die ihren Namen tatsächlich verdient hätte.
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mel bereits an dem Punkt aufgreifen, der am einfachsten erscheinen könnte, dem der Inhalte/Kompetenzen. Ich darf dies unter dem Stichwort „Stoffauswahl“ tun, die in der Schulpädagogik häufig als Frage der „Didaktik“ thematisiert wird (wobei der Begriff eine etwas andere Bedeutung als in den Comenianisch/Hentigschen Unterscheidung bekommt).
Probleme (bei) der Stoffauswahl Insofern Schülern ja nicht alles Wissen nahegebracht werden kann, tut sich offenbar mit dem oben benützen Adjektiv „ausgewählt“ ein vielschichtiges Problemfeld auf: Schulisches Wissen ist insofern wörtlich ein „elitäres“ Wissen, als diesem zuvor eine besondere Bedeutung zuerkannt worden sein muss. Dies war in der neuzeitlichen Schule aus historischen und philosophischen Gründen von Anfang an so unvermeidlich wie es problematisch war. Historisch ist die Einrichtung von Schulsystemen für alle Heranwachsenden schon dadurch begründet gewesen, dass auch für Mitglieder der unteren Gesellschaftsschichten das ökonomisch notwenige Wissen spätestens im 19. Jahrhundert nicht mehr bloßem häuslichem Imitationslernen anvertraut werden konnte. In der Schule musste damit gesellschaftlich erworbenes Wissen in kondensierter Form an den Nachwuchs weitergegeben werden: wodurch sich dann allerdings die Produktion neuen Wissens wiederum zunehmend beschleunigte. War das tradierte Wissen demnach bereits zu umfänglich geworden, um außerschulischalltagsweltlich vermittelt zu werden, so veraltete nun – durch die schulische Vermittlung – das jeweils vorhandene Wissen immer schneller. Dies gilt sogar schon für die Zeit vor der Einrichtung öffentlichverpflichtender Schulsysteme, etwa für die Frühaufklärung des 17. Jahrhunderts, die ihrerseits das von ihr naturwissenschaftsförmig konzipierte Wissen außerordentlich expandieren ließ. Für sie ist die Idee eines gesellschaftlichen Fortschritts programmatisch. Dieser soll insbesondere durch Wissen vorangebracht werden können. Aber die Menge des zur Verfügung stehenden Wissens ist schon im 17. Jahrhundert so groß geworden, dass sie in weit angelegten Enzyklopädien erst gesammelt, geordnet und zugänglich gemacht werden muss. Damit hat schon – deutlich vor den französischen Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts – Francis Bacon zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges begonnen. Im Übrigen stirbt 1716 mit Gottfried Wilhelm Leibniz der letzte als solcher geltende „Universalgelehrte“. Mit der Aufklärung wird der besagte gesellschaftliche Fortschritt in kritischer Einstellung als Notwendigkeit, in fortschrittsoptimistischer aber auch als Möglichkeit einer Humanisierung der Gesellschaft gedacht. Darin fällt der schu61
lischen Pädagogik eine zentrale Rolle zu: Öffentliche (= schulische) Pädagogik dient der aufklärerisch-politischen Absicht nach der Selbsthumanisierung der Gesellschaft. Das heißt ganz selbstverständlich, dass der Sinn der schulischen Stoffauswahl bzw. „Didaktik“ nach aufklärerischer Überzeugung darin liegt, über die aktuell erreichte gesellschaftliche Realität hinauszuführen: was (wie dezidiert auch immer) eine konstruktive Kritik der bestehenden gesellschaftlichen Verkehrsverhältnisse zum Zweck ihrer Verbesserung voraussetzt. Schulische Didaktik enthält demnach konstitutiv gesellschaftskritische Elemente und ein utopisches Moment. Gerade darin unterscheidet sich die neuzeitliche Schule von einer traditionalen, wie sie etwa ein sich so verstehender „Gottesstaat“ einrichten mag. Ist in letzterer die Stoffauswahl schon im Vorhinein kanonisiert – als unhinterfragte, jenseitig verbürgte Tradition – so muss in jener der Stoff seinen Sinn erst noch zukünftig erweisen. Er wird notwendig selbstreflexiv, indem er relativ wird zu einem Sinn, der sich – im Zuge gesellschaftlicher Selbsthumanisierungsprozesse – teilweise erst noch als solcher herausstellen muss. Es wird gleich zu zeigen sein, dass diese aufklärerische Grundeinstellung nicht mehr aufgebbar ist, so lange wir an unseren demokratischen Verfassungen festhalten wollen. Darin tritt aber auch (einmal mehr) ein zentrales Problem jeder neuzeitlichen Schulpädagogik zutage. Einerseits soll sie im Zuge ihrer flächendeckenden organisationalen Einrichtung jedermann in ihrem Sinn verständlich sein. Andererseits ist ihr seit der Frühaufklärung eine Kompliziertheit mit auf den Weg gegeben, wie sie eben in Begriffen wie „gesellschaftskritisch“, „utopisch“ und „selbstreflexiv“ angedeutet wurde. Ein Verständnis dieser Begriffe und damit der Funktion von Schule bzw. Pädagogik, wie es den Aufklärern (insbesondere dann den aufklärungsselbstkritischen des 18. Jahrhunderts im Gefolge Jean-Jacques Rousseaus) vorschwebte, würde allerdings ein erfolgreiches Durchlaufen-Haben jener Institution voraussetzen. Aber schon bei der Einrichtung der allgemeinverbindlichen Schulsysteme gilt: Will man den sie tragenden Bildungssinn auch so genannten bildungsfernen Bevölkerungsteilen verständlich machen, muss man zunächst an ihre vorhandenen alltagsweltlichen Vorstellungen, die wiederum hochgradig mit ihrem wirtschaftlichen Überleben-Müssen vermittelt sind, anknüpfen. Man denke in diesem Kontext nur an die gravierenden sozialen und wirtschaftlichen Missstände etwa der Landbevölkerung und dann der Industriearbeiterschaft im frühen 19. Jahrhundert! Gleichzeitig sind ausschließlich solche Gesellschaftsschichten imstande, ein Bildungssystem real einzurichten, denen die öffentlichen oder gar privaten Finanz- und Machtmittel hierzu zugänglich sind. Deshalb werden sich die Interessen privilegierter Gesellschaftsteile mit den Alltagsvorstellungen weniger 62
privilegierter Schichten zu einer neuen Synthese verbinden, in der die sozialen Widersprüche zugleich beides erfahren: Sie werden ebenso greifbar wie sie ideologisch verbrämt werden. Man denke etwa an das englische Privatschulwesen! Die Tendenz der implementierten Schulpädagogik, offenkundige Widerspiegelungen gesellschaftlicher Disparitäten zuzudecken und zu rechtfertigen, hängt in buchstäblicher „Dialektik der Aufklärung“ mit der verfassungsverbürgten politischen Selbstverpflichtung auf gesellschaftliche Selbsthumanisierung ursächlich zusammen. Das kann – je nachdem, wie diese Vorstellungen, Realitäten und Disparitäten beschaffen sind – auf eine weitgehende Liquidierung der angedeuteten aufklärerischen Leitideen hinauslaufen, die aber unbedingt als rhetorische Fassade festgehalten werden müssen. Dieser Gesichtspunkt wird mich im Zusammenhang der Implementation der modernen Schulsysteme im 19. Jahrhundert auf dem Legitimationshintergrund des Wachstumsmythos noch beschäftigen. In den modernen Schulsystemen werden deshalb auch gesellschaftliche Missstände, Vorurteile und Widersprüche organisatorisch verfestigt, wiewohl die großen Bildungsideen in ihren Präambeln heilig gehalten zu werden pflegen. Eine bedenkliche Folge der Einrichtung öffentlicher Schulsysteme ist dann, dass sich jeder Erwachsene nach ihrem Durchlaufen als pädagogisch kompetent bzw. erfahren, wenn nicht als hinreichend gebildet sehen darf, dass aber die eigenen „realen“ Erfahrungen mit dem bestehenden Schulsystem eine Beschäftigung mit dessen ursprünglich maßgeblichen Bildungsideen als überflüssig erscheinen zu lassen droht. Die biographisch erfahrene Schulrealität liefert dann den Interpretationsschlüssel zu dem mit „Bildung“ Gemeinten, das dann als mehr oder weniger liebenswürdig-weltfremder Ästhetizismus „verstanden“ wird, analog vielleicht zur Eröffnung des englischen Parlaments durch die prunkvoll hineinschreitende Königin. Wie ich eingangs angedeutet habe, treffe ich eine entsprechende Einstellung durchaus auch bei einer Mehrheit des Lehrer-Nachwuchses in den letzten Jahren an. Ich habe das Problem bereits auf die Gesellschafts- und die Organisationsparadoxie der Pädagogik zurückgeführt. Kultur und Didaktik Die Frage der neuzeitlichen schulischen Didaktik führt uns in geschichtlicher Perspektive auf den Begriff der „Kultur“. Dass schulische Inhalte im Prinzip zwar „ausgewählt“, aber nicht „elitär“ im gängigen Wortsinn sein sollten, könnte man leicht aus der aufklärerischen Tradition ableiten. Indem sie sich von einem traditionalen und transzendentalistischen Weltverständnis abgesetzt hat, ersetzte 63
sie konkret das allgemeine Selbstverständnis einer „Christenheit“ durch den Begriff der „Kultur“. In der obigen Formulierung geht es dementsprechend um kulturell ausgewählte Inhalte und Kompetenzen. Allerdings betreffen die bereits gegebenen Hinweise auch die hier gemeinte Bedeutung von „Kultur“. Es geht mit diesem Begriff zunächst darum, dass die Auswahl der Inhalte/Kompetenzen, die der Lehrer vermitteln soll, gegenüber einer demokratischen Öffentlichkeit legitimiert werden können müssen. Das mit „Kultur“ Gemeinte bezieht sich demnach zwar notwendig auf gesellschaftlich Vermittelbares und insofern auf bereits Vorgegebenes. Ein völliges Missverständnis wäre allerdings nach dem Gesagten die Vorstellung, Schüler sollten kritiklos an bestimmte kulturelle Gegebenheiten herangeführt und entsprechend „angepasst“ werden. Genau das wäre ein Rückfall in traditionale gesellschaftliche Selbstverständnisse. Was für die Pädagogik gilt, ist wie schon erwähnt in den neuzeitlichdemokratischen Verfassungen ohne weiteres greifbar. Sie enthalten nämlich seit der Aufklärung die kulturelle Selbstverpflichtung einer beständigen gesellschaftlichen Selbsthumanisierung. Ohne sie lässt sich auch das Wesen der neuzeitlichen Pädagogik nicht erfassen. Von ihr her erst lässt sich die Bedeutung der Bildungsidee erschließen – die man keineswegs ausschließlich aus der Betonung des sich selbst suchenden und verwirklichenden Individuums ableiten darf.27 Dies wird mich noch ausführlich beschäftigen. An dieser Stelle will ich den Hinweis exemplarisch mit Blick auf unsere Verfassung illustrieren. Man kann sich fragen, welcher Status der Fundamentalaussage „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ zukommt. Gewiss ist ihr genauer Sinn umstritten, weil er mit dem jeweiligen Menschenbild variiert28 – sie platt als gesellschaftliche Selbst-Beschreibung des Status quo zu interpretieren, liefe jedenfalls entweder auf einen nichts sagenden Begriff von „Würde“ hinaus oder aber auf eine ideologische Realitätsverbrämung, bei der man nach den sie leitenden Interessen fragen müsste. Der fragliche Leitsatz hat demnach nicht deskriptiv beschreibenden, sondern präskriptiv normativen Charakter. Neuzeitliche demokratische Gesellschaften verpflichten sich mit verfassungsverbürgten Selbstbindungen darauf, das in ihren Möglichkeiten stehende zu praktizieren und – durch ihre politischen Organe – zu veranlassen, die Normvorgabe Realität werden zu lassen. 27
So wird – leider – auch die klassische Bildungsidee insbesondere mit Berufung auf Johann Wolfgang von Goethe – häufig vereinseitigend fehlinterpretiert. 28 Nicht nur sind Anfang und Ende des menschlichen Lebens umstritten, auch, was zu einem menschenwürdigen Leben hinzugehört, ist es. Axel Honneth z. B. geht davon aus, dass Arbeitslosigkeit unter den gegenwärtigen gesellschaftlich-sozialen Bedingungen den Tatbestand einer Verweigerung der Würde darstellt (Honneth 2000a).
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Die so gerahmte gesellschaftliche „Kultur“ orientiert sich im Unterschied zur Kultur einer traditionalen Gesellschaft nicht an unhinterfragbaren tradierten und/oder transzendenten Zielen, die beispielweise in heiligen Schriften kodifiziert sind bzw. für ein zukünftiges jenseitig-„himmlisches“ Leben angestrebt werden. Gewiss entwickeln auch moderne Gesellschaften ihre Normen, ihre Traditionen und ein entsprechend traditionsgestützes Selbstbewusstsein.29 Die neuzeitlich bestimmende Blickrichtung geht jedoch in die Zukunft, und zwar in eine irdisch-diesseitige und dabei selbstverantwortlich zu gestaltende. Diese eröffnet von vornherein eine soziokulturell selbstkritische, auf die prinzipiell universalistische Überschreitung der jeweiligen Lebensformen ausgerichtete Dimension: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. In der kulturbestimmten Auswahl von Unterrichtsgegenständen geht es also nicht primär um kognitives Wissen oder individuelle Fertigkeiten, sondern um eine Grundhaltung, wie sie in den modernen Verfassungen umrissen ist. Das Wissen und die zu vermittelnden Kompetenzen beziehen umgekehrt ihren Sinn aus dem kulturellen selbstreflexiven Selbstverständnis der Gesellschaften.30 Sie – Wissen und Kompetenzen – stehen exemplarisch für die Kultur, die ihnen ihren Sinn verleiht. Sie schöpfen demnach die Kultur nicht aus, so wie diese in Wissbarkeiten und Fertigkeiten nicht aufgeht. Das bedeutet aber: Eine „Aneignung“ von Wissen und Kompetenzen bewegt sich auf einer anderen Realitätsebene als eine „Aneignung“ der Kultur.31 Erstere erweitert „horizontal“ den Kompetenzund Leistungsspielraum des Individuums, letztere wurzelt in seiner freien Entscheidung, sich „vertikal“ von einer es umfassenden Sozialität tragen zu lassen, der es zu dienen bereit ist und die umgekehrt seine Würde begründet. Wissenserwerb kann eog-zentrisch funktionalisiert werden, Kulturerwerb macht sozial rücksichtslose Ego-zentrik als Selbst-Entfremdung diskriminierbar. Wissensinhalte können „angeeignet“ oder „erworben“ werden, ohne sie gibt es 29 Dieses hält insbesondere Ereignisse und „klassische“ historische Kontexte in Erinnerung, die sich auf seine Selbstkonstituierung beziehen: Die Französische Revolution stellt insofern nicht nur für Franzosen ein herausragendes geschichtliches Ereignis dar, insofern es die „Geburt“ eines genuin modernen staatlich-gesellschaftlichen Selbstbewusstseins anzeigt. 30 Zu einem entsprechenden Kulturbegriff vgl. Schnädelbach 1992, 158 – 182. Der Kultur-Begriff umfasst nicht nur die Teilhabe an einem minimal-allgemeingültigen Wissens- oder Kompetenzenkanon. Erst recht darf Kultur nicht als „nationale Hochkultur“ simultan hochstilisiert und eingeengt werden (Stojanov 2006). Vgl. hierzu die einschlägigen „Bildungsaufträge“ an das Schulsystem in den Landesschulgesetzen. 31 Es sieht so aus, wie wenn die unter zeitgenössischen Pädagogen anzutreffende Rede von der professionell nötigen „Fach-, Selbst- und Sozialkompetenz“ meine Darlegungen bestätigen würde. Der „Kompetenz“-Begriff scheint mir für Inhalte oder Fertigkeiten, auch für Arbeitsverhalten durchaus geeignet. Bezüglich des vom Lehrer geforderten Umgangs mit sich selbst und mit Schülern suggeriert er jedoch eine methodisch aufbereitbare Lernbarkeit, die das Gemeinte, so es sinnvoll sein soll, vollständig verfehlt und der verbreiteten Methodengläubigkeit unter Pädagogen Vorschub leistet.
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keine Kultur. Aber: Kultur kann nicht in demselben Sinne angeeignet werden wie Wissen oder Können. „Aneignung“ von Kultur entspricht vielmehr dem, was hebräisch „glauben“ meinte: „existenziell Stand fassen“. Der neuzeitliche „Kultur“-Begriff, der jede mögliche Didaktik erst bestimmt, säkularisiert den Begriff „Christenheit“ – und schreibt dabei eine durchaus religiös zu nennende Komponente fort. Allerdings handelt es sich um eine innerweltliche Religiosität, man kann deshalb auch von einer „innerweltlichen Transzendenz“ sprechen.32 Das Problem der Stoffauswahl, das sich in der obigen, harmlos klingenden Definition der Lehreraufgabe sogleich stellt, relativiert diese also – buchstäblich – indem es sie auf ein neuzeitliches kulturelles Selbstverständnis verweist. Dass damit der Streit um die richtige Didaktik nicht beendet, sondern erst eröffnet ist, versteht sich von selbst. Festzuhalten ist auch, dass durch den Bezug auf die moderne Verfassung jedwede Schuldidaktik auf Grundfragen des gesellschaftspolitischen Selbstverständnisses zurückführt. Dass damit Pädagogik parteipolitisch auftreten müsse oder dürfe, ist damit freilich nicht gemeint – eher schon bedeutet es, dass sie einer demokratischen Öffentlichkeit bedarf (Benner 2005), die um ihre eigene Kultur weiß und diese schätzt. Das sei kurz am Beispiel der „Reformpädagogik“ deutlich gemacht.
Pädagogik als politische Reformpädagogik Wenn Pädagogik entsprechend ihrem Zentralbegriff Bildung, vermittelt über einen neuzeitlich enttraditionalisierten Kultur-Begriff, eine universalistische Grundhaltung mitmeint, kann sie eben nicht auf die Beherrschung von Wissensinhalten und gewissen dazu gehörigen Kompetenzen eingegrenzt werden, so wie das in den meisten öffentlichen Diskussionen geschieht. Verfehlt erscheint es mir darum auch, wenn man „Allgemeinbildung“ entsprechend reduziert diskutiert (vgl. aber Tenorth 1999a). Durch eine solche Reduktion wird wie erwähnt entweder stillschweigend der im Bildungsbegriff enthaltene Anspruch einer humanisierenden Selbstkultivierung der Gesellschaft aufgegeben oder aber als eingelöst vorausgesetzt. Ohne Zweifel verweist der Reduktionismus auf eine Verkennung der Gesellschaftsparadoxie der Pädagogik. In der Reformpädagogik wird traditionell und in immer wieder wechselnden Gestalten gegen reduktionistische Pädagogik- bzw. Bildungsvorstellungen angearbeitet, die mit der Einrichtung öffentlicher Schulsysteme unvermeidlich wur32
Dies ist von Rousseau grundgelegt und lässt sich unschwer bei Kant, Herder, Goethe oder Schiller nachweisen. Eine wichtige Rolle hat dabei – jedenfalls für Herder und Goethe (sowie Lessing) der niederländische Philosph Baruch Spinoza gespielt (Korff, 99-121, Damasio 2005)
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den. Vielen reformpädagogischen Ansätzen sind deshalb die pädagogischen Implikationen wichtig, die sich im neuzeitlichen Kulturbegriff ausmachen lassen. Denn Kultur soll einerseits den Individualitäten der Heranwachsenden deren – ihnen gemäße – Entfaltungsmöglichkeiten eröffnen können, sie soll, metaphorisch gesprochen, den Lebens-Raum erschließen und die Lebens-Mittel für deren Selbstwerdung dar- bzw. bereitstellen. Was auf den ersten Blick als sozialromantischer Harmonismus und eine gesteigerte Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse der Heranwachsenden missverstanden werden könnte, ist die einzige glaubwürdige Legitimation des kulturbestimmten Eingriffs in deren Selbstwerdung. Die neuzeitliche Kultur verpflichtet sich in den demokratischen Verfassungen selbst, sich den Heranwachsenden als eine zur gesellschaftlichen Selbsthumanisierung bereite und fähige erfahrbar zu machen.33 Dies kann sie dadurch am besten, dass sie den Heranwachsenden und deren Lebens-Bedürfnissen zumindest bereichsweise den Lebens-Raum gibt, der von diesen als angemessen bejaht werden kann.34 Die Reformpädagogik versteht sich insofern konsequent politisch, als sie die Bereitschaft der neuzeitlichen Kultur zur fortwährenden gesellschaftlichen Selbsthumanisierung den Heranwachsenden selbst erfahrbar zu machen sucht, also pädagogisch ernst nimmt. Greift man etwa Oevermanns Hinweis auf entwicklungsbedingt diffuse Sozialbeziehungen bei Heranwachsenden auf, dann ist man schon unmittelbar bei der reformpädagogischen Forderung nach verlässlichen Sozialerfahrungen, die Heranwachsende mit Ihresgleichen und zugewandten Pädagogen in der Schule machen können sollten, damit sie diese später kosmopolitisch erweitern können (vgl. Stojanov 1999).35 Die beiden wohl meistbeachteten reformpädagogischen deutschen Ansätze der letzten Jahrzehnte, Hartmut von Hentigs Bielefelder Laborschule und – auf didaktischer Ebene – Wolfgang Klafkis Konzept der „epochaltypischen Schlüsselprobleme“ (von Hentig 1996, Klafki 1996) weisen bei allen Unterschieden die Gemeinsamkeit der Forderung auf, dass Schule in einer anspruchsvollen und weit gefassten Dialektik von gesellschaftspolitischem Auftrag und Eigen-Sinn 33
Die Formulierung ist sozialisationstheoretisch-psychoanalytisch ungenau. Besser müsste sie lauten: „Die neuzeitliche Kultur sollte sich, vermittelt durch die entsprechenden häuslichen Umgangsformen, den Heranwachsenden … erfahrbar gemacht haben, bevor ihr Verständnis reflexiv eingeholt wird.“ 34 Das Problem, was diese Lebensbedürfnisse „eigentlich“ sind und welche eher Ausdruck einer bereits unangemessenen gesellschaftlichen Angepasstheit darstellen, ist mit der Forderung selbstverständlich nicht gelöst, sondern erst als Ernsthaftes eröffnet. 35 In Honneths Anerkennungsphilosophie ist dieser Gesichtspunkt unter Aufnahme psychoanalytischer Einsichten in die früheste Kindheit hinein verlängert – durch die Anerkennungsform der Liebe/Fürsorge –, bevor er universalistisch geöffnet wird: durch die Anerkennungsform des Rechts. Bei Diskussionen um den Kulturbegriff wird die Bedeutung von Sozialerfahrungen im Nahbereich häufig unterschätzt (Stojanov 2006).
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des Erlebens von Heranwachsenden bestimmt sein müsse: und zwar so sehr, dass dadurch das Schulleben selbst inhaltlich („Schlüsselprobleme“) und formal („Gesamtschule“ bzw. „embryonic society“) bestimmt werden. Aus reformpädagogischer Sicht muss also die Pädagogik bzw. die Schule gesellschaftspolitisch verstanden sein, um sich ernsthaft pädagogisch aufstellen zu können. Umgekehrt gilt: Neuzeitliche Pädagogik versteht sich reformpädagogisch.
Fehleinschätzungen der Inhaltevermittlung Die abstrakte Formulierung „kulturell als wichtig ausgewählter Inhalte und Kompetenzen“ mag öffentlich akzeptanzfähig erscheinen, jede Reformpädagogik insistiert darauf, den Sinn der ausgewählten Inhalte den Heranwachsenden erfahrungsnah zu vermitteln, indem die damit gemeinte Kultur (möglichst) im Unterricht selbst schon als glaubwürdig human erscheint. Auch das wirft natürlich mehr Probleme auf, als dass es sie beantwortet. Jeder Konkretisierungsversuch jedenfalls, welches denn nun konkret die besonders wichtigen Inhalte und Kompetenzen seien, kann eigentlich nur im Bewusstsein seiner Vorläufigkeit erfolgen – und der Kontroversen, in die er unweigerlich in einer modernen komplexen Gesellschaft verstrickt ist, selbst wenn diese nicht von sozialen Widersprüchen zerrissen wäre. Wie schon festgestellt, ist die Menge des für das gesellschaftliche Funktionieren notwendigen Wissens schon seit Jahrhunderten so gewaltig, dass sie von niemandem auch nur annähernd überschaut, geschweige denn beherrscht werden könnte. Jeder Standpunkt, von dem aus man eine mögliche Kriteriologie zur Auswahl des wünschenswerten Wissens formulieren wollte, müsste im Bewusstsein seiner Relativität vertreten werden und zugleich die Interessen offen legen, die ihn im Unterschied zu anderen Positionen leiten. Während es also höchst schwierig wäre, einen Diskurs zur Klärung der entsprechenden Probleme zu organisieren (der längst die Grenzen nationaler Perspektiven überschreiten sollte), veraltet Wissen zunehmend rascher und werden Kompetenzen in immer kürzeren Zeiträumen obsolet, während andere, neuartige, wichtig werden. So erneuert sich unaufhörlich die Frage nach dem wünschenswerten Minimalwissen und -können für Alle simultan zu den gesellschaftlichen Veränderungen. Die jeweilige Zeitverzögerung möglicher Reformen ist ebenso wenig aufhebbar wie die Unbeantwortbarkeit der Frage nach der Angemessenheit des jeweils erreichten Status quo zur Bewältigung der in den kommenden Jahren anstehenden Probleme – die man ja immer nur ausschnittweise erkennen kann. Die pädagogisch interessierte Öffentlichkeit scheint jedoch zusammen mit einem Teil der Lehrer vorauszusetzen, dass das, was den Schülern inhaltlich und kom68
petenzentwickelnd vermittelt werden soll, umstandslos den einschlägigen behördlichen Vorgaben – insbesondere den Rahmenrichtlinien – zu entnehmen sei. Der Verengung der Vorstellungen von angemessenem pädagogischem Handeln auf Wissensvermittlung wie sie die Vorstellungen von Bevölkerungsmehrheiten wohl immer schon und immer noch dominiert, folgen dann Unterstellungen eines selbstverständlich oder gar naturwüchsig geltenden Kanons kulturellen Wissens und Könnens. Wie angedeutet wird die Fehleinschätzung dadurch geradezu quadriert, dass die Frage nach dem wünschenswerten Wissens- und Könnensminimum als Frage nach der „Allgemeinbildung“ semantisch fehlformuliert wird. Die in solchen pragmatischen Antworten auf unlösbare pädagogische Probleme steckenden Verkürzungen werden im Umkehrschluss auf das ausgeweitet, was die Schule den Schülern als kulturell wichtige Begabungen oder Leistungen attestiert. Sie verankern Verengungen des Kulturverständnisses im Selbstbewusstsein Heranwachsender. Auch hier kommt wieder die Dialektik zum Tragen, dass die Pädagogik, seit sie durch die neuzeitlichen Gesellschaften in Form von Schulsystemen eingerichtet und für alle Kinder verpflichtend gemacht wurde (also insofern von Anfang an) sich in jener angedeuteten seltsamen Zwischenexistenz bewegte zwischen einer Fassade, die von großen Teilen der Öffentlichkeit für das Ganze gehalten wird und einem weitgehend unterschätzten, wenn nicht verkannten kulturellen Untergrund, der dem Ganzen erst Sinn zu verleihen vermag. Für die neuzeitlichen Verfassungen gilt Analoges wie für die Einrichtung von Schulsystemen: Gerade deren Verfassungsverbürgtheit verführt die Öffentlichkeit in den demokratischen Gesellschaften dazu, den normativ-utopischen Sinn ihrer Kultur mit ihrer empirischen Realität zu verwechseln. Die sogenannte „Individualisierung“, die sich aktuell als Begleitscheinung der wirtschaftlichen Globalisierung zur vorherrschenden Trivialanthropologie entwickelt, leistet dem Nachlassen sozialen Mitgefühls für die sogenannten Modernisierungsverlierer Vorschub. Wo dadurch das (Mit-)Gefühl für Erwachsene aus gesellschaftlichen Randgruppen, die von der wirtschaftlich-sozialen Prosperität ausgeschlossen sind, mit Verweis auf die angebliche Unantastbarkeit ihrer (formalen) Würde schwindet, ist auch der Schritt nicht weit zu einer kollektiven Unterschätzung der Bildungsrelevanz entsprechender Erfahrungen für Heranwachsende – und wie sich dadurch die Lehrerarbeit schleichend erschwert. Dies gilt natürlich besonders, aber keineswegs ausschließlich, für die Kinder der „Neuen Armen“. Heutige Lehrer arbeiten verstärkt und mit schlechten Karten an der kulturellen Sinngebung der Inhalte, „bevor“ sie zu diesen erst vorstoßen können.36 36
Das „bevor“ ist nur strukturlogisch, nicht im Sinne zeitlicher Abfolge gemeint.
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Für das Thema „Inhalte und Kompetenzen“ bedeutet das, dass jeder schulisch präsentierte Stoff doppelt relativiert werden muss, wobei sich aber die Relativierungen wie angedeutet auf zwei unterschiedliche Realitätsebenen vollziehen. Auf der „horizontalen“ Ebene stellt jeder Stoff, eine Auswahl unter denkbaren anderen Stoffen dar, auf der „vertikalen“ bezieht er seinen Sinn aus der Kultur, die sich den Zielen einer gesellschaftlichen Selbsthumanisierung verschreibt. Jeder Stoff ist damit doppelt „exemplarisch“.
Schüler als Gruppe Über das Beispiel der stets auch „mathetisch“ reflektierten Reformpädagogik lässt sich neben der Frage der Stoffauswahl auch ein zweites Problem leicht angehen, das sich in der Ausgangsformulierung der Lehreraufgabe schon ankündigte. Reformpädagogische Ansätze zeichnen sich regelmäßig dadurch aus, dass sie auf die Schülergruppe reflektieren. Diese soll sich als solche finden, und von diesem Erlebensprozess versprechen sich reformpädagogische Ansätze in aller Regel wichtige – vielleicht entscheidende – pädagogische Wirkungen. Wie immer man die Aufgabe des Lehrers bei der Vermittlung der kulturell ausgewählten Inhalte/Kompetenzen auch bestimmen mag – ein konstitutiver, wenn auch oft unterschätzter Teil seiner Tätigkeit besteht darin, die Schülergruppe als Gruppe in ihrem Selbstfindungsprozess zu unterstützen. Was reformpädagogische Ansätze dabei von gängigen zeitgenössischen Forderungen nach mehr „Kooperation“ in der Schule grundsätzlich (wenn auch vielleicht rhetorisch allzu unauffällig) unterscheidet, ist die Bedeutung des Postulats, also die Semantik des jeweils gemeinten Begriffs von Zusammenarbeit. Im Zuge der jüngeren Veränderungen in den Unternehmensstrukturen mit der Tendenz zur „Dezentralisierung und Vermarktlichung innerbetrieblicher Entscheidungen“ (Voswinkel, 75) und einer neuartigen „Wertschätzung der Selbstorganisation der Beschäftigten“ (76) ist von wirtschaftlicher Seite die Forderung nach schulpädagogischer Förderung von kooperativen Fähigkeiten bzw. Gewohnheiten erhoben worden. Dies scheint manchen Reformpädagogen zu vorschneller Freude über die traditionell unerwartete „Schützenhilfe“ verleitet zu haben. Die Forderung ist hingegen in aller Selbstverständlichkeit effizienzbezogen begründet, also strikt funktional gemeint und hat die Kehrseite, dass sie – wie im Firmenmanagement auch – stets auf Marktkonkurrenz bezogen verstanden wird.37 Die jeweils zusammenarbeitende Gruppe leiste mehr als ihre isolierten 37 Voswinkel zeigt sehr ernst zu nehmende Folgekosten für die erwachsenen Beschäftigten selbst als die Wirkung „doppelt subjektivierter Arbeit“ auf. Um wie viel folgenreicher im Sinne negativer
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Individuen dies könnten und sei deshalb leistungsfähiger. Was rhetorisch als Betonung der Kooperation der Gruppe dargeboten wird, transportiert dann mehr oder weniger verdeckt die Marktförmigkeit des angebotenen Selbstverständnisses. Ernsthafte Reformpädagogik ist von solchen Reduktionismen weit entfernt.38 Für sie geht es darum, die „Vereinzelung des einzelnen“ Schülers zu vermeiden, die durch das Schulsystem in seinen gängigen Formen gefördert, wenn nicht: betrieben zu werden pflegt, um umgekehrt Erfahrungsmöglichkeiten seines sozialen Charakters mit anderen Heranwachsenden zu eröffnen. Dieser soziale und insofern prinzipielle zur Kooperation bereite Charakter ist universalistisch gemeint. Nebenbei halte ich fest, wie in der aktuellen Diskussion funktionalistische Schulreformen in rhetorische Nähe zur „Reformpädagogik“ gerückt werden.39 Im Kontext der Bestimmung der Lehreraufgabe kündigt sich allerdings nach den bisherigen Erörterungen der pädagogischen Aufgabe, illustriert am „didaktischen Dreieck“, eine gravierende Komplikation an. Fallen nämlich die zu vermittelnden Inhalte/Kompetenzen schon mit der ebenfalls zu vermittelnden kulturellen Grundhaltung keineswegs zusammen, so taucht in der Konsequenz der letzten Hinweise auf die Schüler als Gruppe noch eine weitere Ebene im unterrichtlichen Handlungsprofil des Lehrers auf. Der Lehrer vermittelt, und zwar unvermeidlich in der Art, wie er die Schüler als Gruppe anspricht und damit in ihrem Gruppenbildungsprozess fördert oder nicht fördert (oder sogar aktiv behindert), Formen des Arbeitsverhaltens und der Arbeitsdisziplin. Das tut er, indem er Inhalte/Kompetenzen vermittelt, ganz gleich, ob er es bewusst oder unreflektiert tut. Dass es beim Arbeitsverhalten des Schülers grundsätzlich um individuelle Habitualisierungen geht – so dass auch soziales Verhalten logisch je subjektiv angeeignet wird (oder eben nicht), werde ich unten herausarbeiten. Zunächst reicht der exemplarische Hinweis auf die Existenz einer dritten Ebene zwischen Stoffvermittlung und kultureller Grundhaltung: Arbeitsverhalten.
Visualisiertes Zwischenfazit Ich fasse kurz zusammen: Ich ging davon aus, dass es die Aufgabe des Lehrers sei, den Schülern als kulturell wichtig ausgewählte Inhalte und Kompetenzen zu Sozialisationsfaktoren bzw. Bildungserfahrungen werden sich solche betriebswirtschaftlichen Tendenzen als Folge ihrer Anwendung auf die Schulpädagogik bzw. die Schüler erweisen! 38 Was nicht heißt, dass sie nicht die Gewinne an pädagogischer Komplexität häufig mit Naivitäten gegenüber der gesellschaftlichen Realität bezahlt (Stojanov 1999). 39 Allerdings wird auch, offenbar um die Neuartigkeiten zu betonen, gleichzeitig das betriebswirtschaftliche Vokabular bewusst eingesetzt. Das erscheint dann am Schluss so, als ob ein „Total Quality Management“ der (und zwar: einzige) Schlüssel zu (mehr) „Bildung“ sein könne. Ganze Universitätsgremien sind seit Jahren mit „work-loads“ und „credit points“ beschäftigt.
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vermitteln. Der bezüglich des Stoffauswahl-Problems in Erscheinung getretene Kultur-Begriff erwies sich als bedeutsam: weil er die potentiell in Frage kommenden Inhalte/Kompetenzen mit einer Sinngrundierung versieht, durch die zugleich jeder Begriff der pädagogischen „Aneignung“ oder des „Lernens“ humanistisch-„vertikal“, also kulturell verankert wird. Der Lehrer vermittelt, indem er Inhalte und Kompetenzen vermittelt, stets auch ein Grundverständnis unserer demokratischen Kultur. Dieses setzt zwar kognitives Wissen unerlässlich voraus, es geht aber keineswegs darin auf. „Verstehen“ im eigentlichen Sinn kann man das mit neuzeitlicher Kultur Gemeinte erst, wenn man sich im Sinne einer Grundhaltung darauf einlässt: im dargelegten Sinn einer religiös zu nennenden innerweltlichen Transzendenz. Der Lehrer bewegt sich damit auf zwei Ebenen der Vermittlung, wobei „Vermittlung“ auf der Ebene der Inhalte etwas grundsätzlich anderes besagt als auf der Ebene der kulturellen Grundhaltung. Auf die Schwierigkeiten der letzteren, die allerdings erst im Konfliktfall auftreten, um dort für den Lehrer nicht mehr direkt „lösbar“ zu sein, werde ich noch eingehen. Bei der Frage, ob und wie der Lehrer die Schüler bei der Vermittlung von Inhalten/Kompetenzen als Gruppe anspricht, zeigte sich nun, dass er auch Formen der sozialen Aneignung dieser Inhalte und Kompetenzen anbietet bzw. nahe legt (oder sogar erzwingt). Wenn ich hierfür den Begriff des „Arbeitsverhaltens“ vorschlage, so ist dies pragmatisch gemeint. Auch ein Begriff wie „Arbeitsdisziplin“ oder „Methodenkompetenz“ kommt dem Gemeinten nahe. Für diese Ebene hat sich in den letzten Jahren zunehmend die Rede vom „Lernen des Lernens“ eingebürgert, und zwar speziell in den öffentlichen ExpertenDiskussionen, die sich dadurch von den unreflektierten Vorstellungen größerer Bevölkerungsteile absetzen. Die Formel scheint zwar reformpädagogische Intentionen aufzugreifen, der Begriff „Lernen“ legt aber auch semantisch nahe, von erwachsenen „fertigen“ Individuen auszugehen, die ihr Verhalten bereits autonom steuern. Ich werde im Folgenden die Ebene der Inhalte/Kompetenzen verlassen und mich der Diskussion der beiden anderen Ebenen – individuelles Arbeitsverhalten, kulturelle Grundhaltung – zuwenden, wobei ich mit dem „Lernen des Lernens“ beginne. Zuvor aber will ich das Zwischenfazit visualisieren, indem ich die zweidimensionale Darstellung des Didaktischen Dreiecks zur Dreidimensionalität erweitere. Der Lehrer bewegt sich professionell auf – mindestens – drei, noch dazu deutlich unterscheidbaren Ebenen. Er soll – mindestens – drei sehr unterschiedliche Arten des Lernens seiner Schüler fördern: die zwar untrennbar verbunden sind, aber im einzelnen doch unterschiedlichen Sinnverweisungen und Vermittlungslogiken folgen. Er soll den Schülern vermitteln:
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Ausgewählte Inhalte/Kompetenzen Individuelles Arbeitsverhalten Kulturelle Grundhaltung
Wichtig ist, im Kontext der Professionalität des Lehrer-Handelns die genannten Ebenen sorgfältig zu unterscheiden. Denn auf allen drei Ebenen soll der Lehrer handeln, aber auf jeder der Ebenen folgt sein Handeln einer eigenen Logik. Abbildung 6:
Drei Ebenen des Lehrerhandelns
Inhalte / Kompetenzen Schülergruppe
Individ. Arbeitsverhalten Kulturelle Haltung
Lehrer
Allerdings möchte ich an dieser Stelle noch einmal betonen, dass es sich hier um eine strukturbezogene Darstellung handelt. Ein fundamentales Missverständnis wäre es, das Vorgetragene als möglicherweise änderbare Außenerwartung an Lehrer aufzufassen.40 Ich behaupte: Dem Lehrer, der unterrichtet, stellen sich
40 Bei Lehrerfortbildungen habe ich mehrfach die Reaktion „Was sollen wir denn noch alles leisten?“ oder „Was wollen Sie denn noch alles von uns?“ erlebt. Die letztere Frage personalisiert das Problem zusätzlich, so als ob theoretisch arbeitende Pädagogen sich bisweilen zusätzliche Ansprüche an den Praktiker ausdächten, die längerfristig als Berufserschwernisse erscheinen müssen. Ein solches Wahrnehmungsstereotyp sollte insbesondere theoretisch arbeitenden Reformpädagogen zu denken geben. Offenbar wäre es wichtig, in der Lehrerausbildung zwischen ethisch-individuellen und strukturgegebenen Anforderungen genauer zu unterscheiden, damit pädagogisches Scheitern nicht kurzschlüssig personifiziert wird.
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diese drei Ebenen, ja sogar: Er handelt auf diesen drei Ebenen.41 Letzteres bedeutet allerdings (leider) keineswegs, dass er es auch bewusst tut oder tun will, geschweige denn, dass er sich über die Folgen seines Handelns Rechenschaft ablegt. Das Gesagte gilt „automatisch“, sofern er sich nur im Rahmen des kulturellen Selbstverständnisses neuzeitlicher demokratischer Gesellschaften verortet. In diesem Sinne ist die vorgeschlagene Ebenen-Unterscheidung strukturtheoretisch gemeint.
2.2 Die zweite Ebene: individuelles Arbeitsverhalten Lernen des Lernens Vorab will ich festhalten, dass sich im herkömmlichen Schulbetrieb zwei Orte unterscheiden lassen, in denen das Arbeitsverhalten des Schülers sich darstellt und für den Lehrer direkt oder indirekt beobachtbar wird: im Unterricht und beim Nach- und Vorbereiten des Unterrichts durch den Schüler – traditionell bei den „Hausarbeiten“ –, das seines eigenen Antriebs bedarf. (Nebenbei bemerkt, tendieren Reformschulen – ebenso wie Eliteinternate – zu einer Vereinheitlichung des Lebensvollzugs der Schüler, die auch diese Zweiteilung aufhebt.) Was nun die Ebene der Förderung eines angemessenen Arbeitsverhaltens betrifft, so unterscheidet sie sich in mehrfacher Hinsicht von der des Inhaltelernens bzw. der Kompentenzentwicklung. In der aktuell öffentlichen pädagogischen Diskussion lässt sich wie angedeutet beobachten, wie sie unter dem Stichwort „Lernen des Lernens“ gegenüber einer naiv-alltagsweltlich verbreiteten Fixierung auf Inhalte-Vermittlung immer mehr in den Vordergrund gerückt wird. Letzteres geschieht auffällig im Kontext von Argumentationen, die sich „reformbewusst“ geben und von sich öffentlich präsentierenden „Bildungsexperten“ geführt werden. Sie greifen dabei auch auf innerpädagogische Sichtweisen zurück, und umgekehrt zeigen sich (so habe ich den Eindruck) zahlreiche theoretisch arbeitende Pädagogen vorschnell erfreut, wenn ihr diesbezügliches Gedankengut auch von Wirtschaft und Politik aufgegriffen zu werden scheint. Während wir Zeugen eines sich beschleunigenden technischen Fortschritts werden, scheint auch die öffentliche pädagogische Diskussion immer wieder zu Neuentdeckungen genötigt, die sie allerdings sehr überwiegend aus zwei äußerst 41 Ich behaupte allerdings nicht, dass die Formulierungen, die ich verwende, und die Unterscheidungen, zu denen ich komme, kanonischen Anspruch erhöben: Was ich hingegen behaupte, ist eine besondere Komplexität der neuzeitlich geforderten Lehrerbegabung, die sich – als solche – nicht organisatorisch vollständig herstellen lässt, sondern von der real gelebten gesellschaftlichen Kultur aller Beteiligten zehren muss.
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denkwürdigen Quellen schöpft. Die erste habe ich eben kurz angedeutet: Die neuere so genannte „Schulreform“-Debatte versorgt sich mit den Maximen und der Rhetorik außerpädagogischer Bereiche – insbesondere zurzeit aus der Betriebswirtschaft. Die andere „Quelle“ besteht im Wesentlichen darin, dass Vergessenes, also „eigentlich“ längst Gewusstes, wieder neu entdeckt wird.42 Dass sich das Lernen irgendeines Stoffes im Prinzip auf die Lernbereitschaft und Lernfähigkeit bezüglich anderer – diesem verwandter – Stoffe auswirkt und auswirken muss, ist allerdings wohl so alt wie pädagogisches Nachdenken selbst. Der Eifer bei der Neuentdeckung dieses Sachverhalts verdankt sich wohl eher den dem Kontrast zu Einschränkungen des öffentlichen Blicks auf die Stoffvermittlung. Das „Lernen des Lernens“ ist aber wie schon angedeutet keineswegs mit der „Aneignung“ der oben skizzierten kulturellen Grundhaltung identisch. Wo man bei ihm stehen bleibt, ist seine lautstarke Propagierung äußerst bedenklich. Schüler, die Inhalte lernen, lernen auch Methoden des Inhaltelernens mit. Es mag sinnvoll sein, diese Methoden heutzutage offensiver bzw. stärker „für sich“ zu präsentieren als das in früheren Zeiten üblich war – dem Gewinn an Offenheit für das je Neue (also für den neuen Stoff) steht allerdings die Gefahr gegenüber, jedwedes Alte (nämlich den soeben gelernten Stoff) bis zur völligen Austauschbarkeit und damit zur Belanglosigkeit zu relativieren. Man kann sagen: Die Bagatellisierung der Stoffe verträgt sich hervorragend mit ihrer Funktionalisierung zum Abprüfen von „Leistung“, sie verhindert jedoch, dass sie transparent werden können für ihren kulturellen Sinn. Das will ich nur äußerst zurückhaltend am Beispiel andeuten: In den letzten Jahren erlebe ich in meinen universitären Lehrveranstaltungen als Normalität, dass das Gros der Studierenden kaum (u. a.) ein geschichtliches Minimalwissen abrufen kann. Ohne ihre historische soziale und geistesgeschichtliche Tiefendimension lassen sich jedoch nicht die Besonderheiten unseres demokratischen Selbstverständnisses oder unserer Verfassung verstehen – selbstverständlich auch nicht das, was wir meinen, wenn wir „Pädagogik“ oder „Erziehung“ oder „Bildung“ usw. sagen. Das führt bei vielen unmittelbar zum dann deutlich gezeigten Desinteresse. Studenten, die sich dann doch auf anspruchsvollere Bildungs-Angebote einlassen, berichten, sie hätten das Meiste schon einmal „gelernt“, dann aber wieder vergessen, weil sie nicht gesehen hätten, wozu es nützlich oder hilfreich sein könne. Sie haben demnach in der Schule simultan mit den Inhalten auch deren anschließendes Vergessen „gelernt“. Abgerundet werden derartige Tendenzen durch pseudopädagogische Einsichten von der Art, man müsse nichts wissen, außer, wie und wo die Dinge zu 42 Zur gesamtgesellschaftlichen Tendenz der gegenwärtigen westlichen Gesellschaften, ihre kulturellen Wurzeln in Vergessenheit geraten zu lassen: vgl. Eric Hobsbawm 1998 und Charles Taylor 1992.
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finden seien. Je weniger man weiß, umso weniger ahnt man, wie wenig das ist; wer nichts weiß, wird auch im Internet nach nichts suchen. Die undifferenzierte Propagierung des Schlagwortes „Lernen des Lernens“ stellt wie angedeutet schon semantisch eine Rationalisierung dar. Denn der Begriff „Lernen“ geht immer vom aktiven, als lernfähig und lernbereit vorausgesetzten Schüler aus. Was aber, wenn der Schüler ein defizitäres Arbeitsverhalten aus Sicht des Lehrers an den Tag legt und wenn dieser dann beginnen muss, korrigierend auf jenes einzuwirken? In der eleganten Formel vom Lernen des Lernens wird das hier gemeinte Problem sprachlich-semantisch vertuscht. Handelt es sich um ein zu vernachlässigendes, weil allzu selten auftretendes Phänomen, oder sollte es sich hier nicht vielleicht doch um eines der besonders belastenden Probleme heutiger Lehrer handeln? Man könnte vermuten: Die um sich greifende Wertschätzung der Formel verdankt sich deren Nähe zu einem wirtschaftspädagogischen Denken, in dem das handelnde Subjekt stets als das seiner selbst mächtige, sich selbst steuernde Individuum vorausgesetzt wird, das ökonomisch-utilitaristisch seine Interessen verfolgt. In der Pädagogik geht es hingegen um die Förderung junger Menschen, damit sie diese Individuen noch werden können: allerdings kultivierte.
Unterschiedliche Handlungsebenen In einer Reihe hochschulischer Studiengänge ist es organisatorisch durch die Massenuniversität erzwungen ohne dass es Fachvertreter als problematisch zu sehen scheinen, dass der Dozent seinen Vorlesungsstoff den Studenten offeriert – nehmen wir durchaus an: methodisch korrekt – ohne dies mit dem Interesse zu verbinden, jeder Zuhörer möge diesen auch wirklich aufnehmen. Ein solches Verhalten erschiene gegenüber jugendlichen Schülern in einer Schule zwar als bizarr, ist aber auch dort keineswegs völlig ungewöhnlich. Man muss sich nur einen „Inhaltevertreter“ vorstellen, der grundsätzlich stark an seiner Selektionsaufgabe orientiert ist und zugleich konkret mit deutlichen Vor-Selektionen zu operieren gewohnt ist: der also von vornherein damit rechnet, dass bestimmte Schüler den angebotenen Stoff in der wünschenswerten Zeit höchstwahrscheinlich nicht lernen können oder wollen. Der Lehrer würde sich demnach (zumindest gegenüber bestimmten Schülern) darauf beschränken, den Stoff unterrichtlich vorschriftsmäßig zu vermitteln, auf eine spätere Prüfung, ob der Stoff längerfristig behalten worden sei, würde er jedoch im Prinzip verzichten können. Denn deren negatives Ergebnis würde seine Vorannahme nur bestätigen. Dass ein solches Verhalten trotzdem unter Lehrern vorkommt – und wie gesagt an Hochschulen, Universitäten usw. in manchen Studiengängen gang und 76
gäbe ist –, setzt implizit voraus, dass nur so (oder jedenfalls auch so) eine „objektive“ Auswahl der fachgeeigneten Schüler/Studenten für möglich gehalten wird. Würde nicht ein Teil der Lernenden selbst unter solch entfremdeten Lernbedingungen die geforderten Prüfungsleistungen erbringen können, zöge sich der pädagogische Reduktionismus gewiss bald öffentliche Kritik zu. Festzuhalten ist, dass die so jeweils herausgefilterte „Elite“ nicht nur bestimmte überdurchschnittliche Begabungen, sondern auch besondere psychische Fähigkeiten zur Selbstfunktionalisierung aufweisen wird: die kaum ohne narzisstische Kollateralschäden zu haben sein werden. Inhaltevermittlung ohne Beachtung und ggf. Förderung des Arbeitsverhaltens des Schülers läuft auf eine naturwüchsig scheinende Segregation der Schüler in erfolgreiche und erfolglose hinaus. Nicht selten wendet sich der „Inhaltvertreter“ durchaus emotional wertschätzend den Erfolgreichen zu – hinterher, nachdem sie es ihm bewiesen haben, dass sie von sich aus, also ohne seine Hilfe, seinem Unterricht haben folgen können. Für den erfolglosen Schüler erweist sich eine Einstellung bloßer Inhaltvermittlung hingegen als dessen Missachtung. Sie stellt insofern eine zwar vielleicht indirekte, aber doch bildungsrelevante Kränkung des Schülers dar: die dieser im Normalfall nur mithilfe eines stark gefestigten Selbstwertgefühls oder durch Entwertung der kulturellen Bedeutung des für ihn unzugänglichen Lernstoffes überwinden kann. Für ersteres ist es funktional günstig, wenn der Schüler von seinem Elternhaus mit einem elitären Selbstbewusstsein ausgestattet wurde, damit er die Attestierung seiner mangelnden Leistungs- und damit Kulturfähigkeit43 besser wegstecken kann (Hartmann 2002, Bourdieu 1997). Der Schritt zur Förderung des Arbeitsverhaltens des Schülers stellt nun aber insofern einen gravierenden Wechsel der Handlungsebene des Lehrers dar, als dieser seine Aufmerksamkeit von der Ebene des eigenen Handelns weg auf die der Reaktionsweisen der Schüler verlagert. Die Bedeutung der damit einhergehenden Verschiebung des Aufmerksamkeitsfokus wird vielleicht deshalb gerade von Pädagogen unterschätzt, weil sie gewohnt sind, das Lehrerhandeln ganz selbstverständlich auf die durch es bewirkende Schülerreaktion zu beziehen. Lehrer sind es in diesem Sinne gewohnt, zwischen Schülern und Stoff „bifokal“ zu denken.44 Das Handeln ohne eine solche Relationierung erschiene dem Normallehrer schlicht unverständlich, jedenfalls nicht pädagogisch. Das ist zwar – selbstverständlich – angemessen, schützt aber nicht vor Vereinfachungen: wie schon angedeutet, unterschätzen Lehrer im Gefolge ihrer Ausbildung häufig die 43
“Kultur” ist hier im reduktionistischen Sinne des Inhaltevermittlers gemeint. Hans Rauschenberger (1985) spricht deshalb kritisch von einer „didaktischen Mentalität“, weil der kulturelle und existenzielle Gehalt durch den Gesichtspunkt der Vermittelbarkeit an die Schüler und der Verwendbarkeit im Unterricht von Lehrern habituell zu gering veranschlagt werde. 44
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„trifokale“ Komplexität der pädagogischen Situation, wie sie im Didaktischen Dreieck anschaulich werden könnte. Die vorschnelle „Bifokalisierung“ des eigenen Handelns, die nicht zuletzt das Resultat einer durchgängig zu normativ ausgerichteten Lehrerausbildung sein kann, weist nämlich einen ersten gravierenden Nachteil auf: weil das, worum es angeblich geht, die Rücksicht auf den Schüler, durch genau die vorschnelle Art, wie sie erfolgen soll, unauffällig zu kurz kommen kann. Wenn der Lehrer nämlich, wie das in großen Teilen der pädagogischen Beraterliteratur propagiert wird, in all seinem Tun stets den Schüler im Blick zu haben vermeint, können sich sehr schnell zwei Vereinfachungen einschleichen.45 Die erste Vereinfachung bezieht sich auf die Annahme, „der“ Schüler46 müsse mit einer gewissen Naturwüchsigkeit auf das vom Lehrer gemachte Unterrichtsangebot genau so reagieren wie dieser meint, es gemacht zu haben. Wird hier eine 1:1-Reaktion „des“ Schülers als natürlich vorausgesetzt, so steckt dahinter ein – vielleicht unauffälligeres – naives Selbst-Bild des Lehrers. Es basiert auf einer Selbstüberschätzung, wonach der handelnde Lehrer, so er nur guten Willens zu sein vermeint, sich der Angemessenheit seiner eigenen Beweggründe und der Eindeutigkeit seines Handelns genauso sicher sein kann wie der entsprechenden Wirkung auf die Schüler. An dieser Stelle zeigt sich zum wiederholten Mal, wie normative Setzungen in der Pädagogik die Erfahrbarkeit der alltäglichen Ereignisse überlagern können.47 Wenn ich darum darauf insistiere, einen Ebenenwechsel vom eigenen pädagogischen Handeln des Lehrers auf seine Wirkung auf Schüler ernst zu nehmen, dann schließt dies die Beachtung zweier unterschiedlicher Arten von Handlung ein. Gewiss gibt es keinen Versuch eines kommunikativen Handelns, der nicht eine „interaktive“ Aufmerksamkeit für das Gegenüber voraussetzt – dies gilt noch für jeden kommunikativen Akt –, aber in der Pädagogik kommt 45 Wie sie in der Psychoanalyse allgemein als „Projektionen“ bzw. „Übertragungen“ oder in der Systemtheorie speziell als „Trivialisierungen“ bekannt sind. 46 In der Öffentlichkeit ist häufig die Rede von „der“ Schule, wenn man von der Unterschiedlichkeit der Schulformen ablenken will und von „dem“ Schüler, wenn die Möglichkeit, dass Schüler sehr unterschiedlich auf ein und dasselbe Unterrichtsangebot reagieren können, vernachlässigt werden soll. 47 Ich unterscheide damit „Ereignis“ und „Erfahrung“, indem ich damit rechne, dass subjektive Voreingenommenheit die angemessene Verarbeitung von „Ereignissen“ im Sinne realistischer „Erfahrung“ stark einschränken kann. Meine methodische Vermutung, dass gängige (in der Beraterliteratur und in der Lehrerausbildung verbreitete) Typen der pädagogischen Theoriebildung die Praxis der Praktiker langfristig eher belasten als erhellend begleiten, führe ich auf die Kombination von Vereinfachung, normativer Überlastung und latenter Angstabwehr bis zum Machbarkeits-Größenwahn zurück. An dieser Stelle macht es die herkömmliche gängige Pädagogik ihren Kritikern leicht (vgl. etwa die Arbeiten von Luhmann/Schorr). Die Konsequenz, sie zum Zwecke der Selbstaufgabe über sich selbst aufzuklären, hilft ihr allerdings nicht weiter.
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eine zusätzliches Anliegen des Pädagogen hinzu, wie der Schüler mit dem Angebot umgeht und wie er es in Verhalten transformieren soll. 48 Die Konzentration des Pädagogen bei der Durchführung des Unterrichts – dies gilt umso mehr je mehr er der vorherigen Planung folgt – ist prinzipiell eine Konzentration auf eigenes Handeln, die Aufmerksamkeit auf die Reaktionen der Schüler ist Konzentration auf Fremdhandeln.49 Diese ist wie gesagt pädagogisch nie desengagiert, und das bedeutet: Der die Wirkungen seines Unterrichtshandelns auf die Schüler beobachtende Lehrer ist prinzipiell bereit, sein Unterrichtshandeln selbst gegebenenfalls auf Reaktionen von Schülern aktiv einzustellen, die er als defizitär einschätzt, um diese dann zu ändern. Auch hier gilt wieder, dass der Lehrer zumindest die Bereitschaft aufbringen muss, sein eigenes Unterrichtshandeln schülersensibel zu ändern50 – aber das Arbeitsverhalten des Schülers (soweit beobachtbar) – kann er nicht ändern, obwohl er es ja ändern will. Das muss der Schüler selbst wollen. Der Lehrer will, dass der Schüler will. In der Struktur der Lehreraufgabe liegt: Er muss in das Verhalten des Schülers im gegebenen Fall korrigierend eingreifen wollen. Damit ist eine Schwelle überschritten. Ein Eingriff in das Verhalten einer anderen Person gilt in modernen Gesellschaften (zu Recht) als kommunikativ fragwürdig, jedenfalls als höchst begründungspflichtig.51 Das scheint sich kaum irgendwo eindringlicher in das öffentliche Bewusstsein eingeprägt zu haben als im Bereich der Pädagogik. In der Wirtschaft, denkt man an das Verhältnis Arbeitgeber-Arbeitnehmer, hat es so ernsthaft noch nie gegolten (weshalb der Wirtschaftsliberalismus traditionell-ostentativ das seiner selbst mächtige Individuum 48 Diese Sorge entfällt bei nicht-pädagogischen (und gilt, insofern sind Oevermanns entsprechende Hinweise gut begründet, verschärft bei therapeutischen) Kommunikationen. Psychoanalytisch ist die therapeutische „Sorge“ schwer zu fassen. Gewiss darf der Therapeut dem Patienten die Verantwortung für seine Entwicklung nicht abnehmen. Allerdings wäre nach Heinz Kohut der bloß „desengagierte“ Analytiker Freudschen Verständnisses ein Selbstmissverständnis, das sich den naturwissenschaftsgläubigen Voreingenommenheiten Freuds verdankt (vgl. auch Lorenzer 1973). 49 Der Ausdruck „Fremdhandeln“ sei erlaubt. Gemeint ist „Handeln eines Anderen“, wobei damit durchaus auch eine nahe stehende und gut vertraute Person gemeint sein kann. „Fremdhandeln“ soll die Andersheit des Anderen betonen, die mir nie ähnlich zugänglich sein kann wie mein Selbst-Sein. Letzteres gilt auch angesichts der Relativierungen der besagten Mikro-Theorien (wie Psychoanalyse oder Systemtheorien): Selbst wenn ich mich selbst nicht so kennen (geschweige denn: verwirklichen) kann wie die Frühaufklärung oder die Bewusstseinsphilosophie dies suggerierten, so bin ich mir doch anders zugänglich als der Andere mir dies je sein wird. Das schließt nicht aus, dass der Andere aufgrund seiner Außenperspektive einzelne Beweggründe meines Inneren besser erschließen kann als ich selbst. Darauf basiert noch jede anspruchsvolle Therapie – sie schließt aber stets, soll sie erfolgreich sein, die engagierte Mitarbeit des Patienten ein. 50 Die alte Salzmannsche Maxime, der Lehrer müsse den Fehler des Schülers immer bei sich selbst suchen, wird vor allem in der Lehrerausbildung immer wieder eingeschärft: so als sei dadurch ein Scheitern der Annahme des Schülers für den Lehrer grundsätzlich-automatisch vermeidbar. 51 Nicht umsonst kam der „Erziehung“ der „Zögling“ abhanden.
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ideologisch-selbstverständlich voraussetzt). Gewiss will der Lehrer, dass der Schüler will, aber, wie verschämt auch immer die Pädagogik damit umgeht und wie sehr sie dies verbrämt: Der Lehrer will es. Ein kurzer Blick zurück ergibt: Wenn man grundsätzlich mit solchen Schülern rechnet, die ein dem Lehrerwillen immer schon vorauseilend entgegen kommendes Lernverhalten an den Tag legen, bleibt das angedeutete – durchaus nicht nur psychologisch, sondern auch philosophisch-anthropologisch zu nennende – Grundproblem des neuzeitlichen pädagogischen Lehrerhandelns tendenziell unsichtbar. Es wird erst sichtbar, wenn der Schüler nicht so handelt wie der Lehrer es am liebsten voraussetzen würde, wenn er also kein Verhalten an den Tag legt, das auf Lernbereitschaft schließen lässt. Der Lehrer muss dann versuchen, ihn zu einer Verhaltensänderung zu bewegen. Ich gehe im Folgenden davon aus und werde Gründe benennen für die These, wonach Lehrer noch zu keinem Zeitpunkt, seit es ein öffentliches Schulsystem gibt, ähnlich häufig mit für sie nicht-wünschenswertem Lernverhalten von Schülern konfrontiert waren wie in den letzten Jahren unter den Bedingungen einer sich beschleunigenden wirtschaftlichen Globalisierung mit ihren sozialen Folgewirkungen. Vorläufig gesagt erhöht sich der Leistungs-, Konkurrenz- und Anpassungsdruck auf Individuen, während sich die nationalstaatlich organisierten kollektiven Solidarnetze auflösen: diese doppelte Bewegung schlägt sich wie erwähnt in einer Ideologisierung nieder, in der das Individuum, je mehr es unter Fremdzwänge gerät, als seines Glückes eigenmächtiger Schmied dargestellt wird.52 Auf die Pädagogik wirken sich diese realen und semantischen Veränderungsprozesse verheerend aus. Das was Lehrer verstärkt leisten müssen, nämlich auf Verhalten von Schülern mit Veränderungsabsicht einwirken zu müssen, verfällt dem öffentlichen semantischen Code des selbstbestimmten Individuums, dem Leistung ständig frühzeitiger abzuverlangen ist. Das pädagogische Handeln wird sprachlos. Genauer wäre es allerdings zu sagen: Die Sprachlosigkeiten, die sich Pädagogik traditionell unter für sie scheinbar günstigeren gesellschaftlichen Konstellationen des ungebrochenen Wachstumsmythos relativ ungestraft leisten konnte, werden ihr zunehmend zum (Selbst-)Verständigungs-Verhängnis. Damit verstummt sie auch öffentlich.
52 Die beachtlich hohe Zahl der Modernisierungsverlierer in den fortgeschrittensten Industrienationen – es handelt sich um ein gutes Zehntel der erwachsenen Bevölkerung, die für eine noch höhere Zahl von Heranwachsenden zuständig sind – hat es dieser marktliberalistischen Sichtweise zufolge nicht besser verdient.
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Argumentationsmöglichkeiten bei defizitärem Arbeitsverhalten Was nun die zweite Lernebene des Schülerverhaltens bzw. des entsprechenden Lehrerhandelns betrifft, so kann Einwirkung prinzipiell nötig werden! Wie sonst soll der Lehrer die Freiwilligkeit des Schülerlernens, wo sie nicht schon mit in die Schule gebracht wird, nachträglich „kultivieren“? Ich will im Folgenden einige grundsätzliche Möglichkeiten schematisch durchspielen, wie Lehrer mit dem sich ihnen stellenden Problem einer Fremdeinwirkung auf Schüler umgehen können. Zunächst mag man sich einen wenig engagierten Lehrer – in der oben vorgeschlagenen Diktion einen „Sich-selbst-Schützer“ vorstellen, der von seinen Schülern lediglich, das aber aus Bequemlichkeitsgründen nachdrücklich, verlangt, dass sie seinen Unterricht äußerlich nicht stören, während ihm ihr sonstiges Verhalten prinzipiell gleichgültig ist. Ein solcher Lehrer übt die Schüler in die Fähigkeit ein, in wechselnden Situationen ein wechselndes Rollenverhalten an den Tag zu legen, also zwischen dem, was sie tun, und dem, was sie empfinden, strikt zu unterscheiden und sich an der jeweiligen situativ maßgeblichen Autorität zu orientieren. Dies trägt vormoderne autoritäre Züge. Von einem guten Lehrer erwarten wir, dass er zwar von seinen Schülern konsistentes Verhalten verlangt, dass er aber nicht so naiv oder normenfixiert ist zu glauben, dass diese nicht auch – zumal altersentsprechend – situationsbedingt „über die Stränge schlagen“ können. Der Ausdruck „konsistentes“ Verhalten macht das oben bereits angedeutete Sprachproblem noch einmal deutlicher: Der Lehrer will ein Verhalten im Schüler „befestigen“, das den pädagogischen Moment seiner Vermittlung übersteigt, das also im Prinzip vom Schüler verinnerlicht, habitualisiert, wird. Wie bereits betont bedeutet dies: Der engagierte „gute“ Lehrer greift absichtlich und absichtsvoll nachhaltig in die psychische oder charakterliche Entwicklung des Schülers ein, wo dies nötig wird. Würde es bei keinem Schüler nötig sein, wäre das Lehrerhandwerk ein recht einfaches, jedenfalls keine „Profession“ in einem anspruchsvolleren, etwa im Oevermannschen Sinne. Ich schiebe eine Beobachtung ein. In der theoretischen Pädagogik, insbesondere der erbauungsberaterischen, ist nicht selten die Rede von „dem (einzelnen) Schüler“, und dies im vorausgesetzten Kontext prinzipiell arbeitswilliger Schüler. Vereinfacht diese Rhetorik schon die Vielfalt der Schülerinteressen und -verhaltensweisen, so lenkt sie zusätzlich von einem wichtigen Tatbestand ab. Die Zuwendung des Lehrers zum Einzelschüler wird unterrichtlich in den allermeisten Fällen erst nötig und unverzichtbar, wenn der Schüler ein defizitäres Verhalten aufweist, im gelingenden Normalunterricht hat es der Lehrer immer mit einer Vielzahl von Schülerindividuen zu tun. Das Zweiergespräch, noch dazu 81
wo es um Konflikte geht, setzt eine vom normalen Unterrichtshandeln deutlich unterschiedene Logik voraus. Durch die auffällige Konzentration in großen Teilen der Lehrerausbildung auf unterrichtliches Handeln vor der Klasse wird dieses nicht nur zumeist vereinfacht, die Simplifizierungen haben auch zur Folge, dass die Notwendigkeiten besonnenen Lehrerhandelns im Einzelgespräch gegenüber dem problembereitenden Schüler ähnlich verzichtbar erscheinen wie seine Kooperationsbedürftigkeit im Kollegium oder zumindest mit Kollegen. Der besagte Eingriff muss begründet werden, nicht nur gegenüber dem betroffenen Schüler. Im Prinzip hat der engagierte Lehrer drei Begründungsmöglichkeiten. Die erste läge in einer Argumentation wie etwa: „Zwang war immer schon nötig!“ oder „Kinder müssen erst einmal lernen, sich zurück zu nehmen.“ Eine solche – entwicklungspsychologische – Argumentation wäre performativ seltsam, weil der Lehrer dann den Schüler als jemanden ansprechen müsste, der mündig mit seiner Unmündigkeit umgehen soll. Eine zweite Variante würde mit einer doppelten Pointe arbeiten, wobei die Gewichtung der beiden Pointen wieder unterschiedliche Untervarianten ermöglicht. Die Argumentation wäre hier etwa so: „Wenn Du später im Leben erfolgreich sein willst, musst du dich bereits in der Schulzeit anstrengen.“ Die Bedeutung dieser Pointe würde dann verschärft werden können durch den Hinweis, dass die Zahl der später zu erreichenden attraktiven oder lukrativen Stellen begrenzt ist oder – noch schärfer – dass Arbeitslosigkeit und soziale Ausgrenzung demjenigen drohen, der sich im Beschäftigungssystem nicht hinreichend erfolgreich wird verorten können. Was die erste Pointe betrifft (der Appell an frühzeitige Verantwortung für die eigene Lernentwicklung), so kann sie sich unter dem Gewicht der zweiten (Hinweis auf ein unerbittlich ökonomischen Zwängen folgendes Beschäftigungssystem) stark verlagern. Denkbar ist ja, dass dem Heranwachsenden klar gemacht wird, dass er in einem bestimmten Alter – entwicklungsbedingt – lernfähiger ist als später, dass er also seine zukünftige Kulturpartizipation jetzt schon mitsteuern kann. Logische und psychologische Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass der Heranwachsende sich eine solche Partizipation ernsthaft wünscht, dass er also die Kultur der Erwachsenen antizipativ schätzt. Sie muss ihm dann als wertvoll erscheinen, und das heißt als ihn potentiell bereichend und als kollektiv gerecht.53 Wird nun in der simulierten pädagogischen Argumentation die zweite Pointe durch das 53 In historischer Hinsicht muss ich argumentativ einräumen, dass die Wertschätzung gesellschaftlicher „Kultur“ durch neuzeitliche gesellschaftliche Eliten möglicherweise häufig ebenfalls stark vormodern geprägt ist, insofern sie aristokratisch-elitäre Züge trägt. „Kollektiv gerecht“ bedeutet dann gerade keine Allgemeinzugänglichkeit der Kultur. Anders herum gesagt: Auch stark unterschiedliche Distribution kann dann noch „kollektiv gerecht“ erscheinen (Bourdieu 1997).
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Bild eines naturwüchsig-agonalen Beschäftigungsmarktes unter verselbständigten Verdrängungsbedingungen verschärft, entfällt also die Vorstellung einer irgendwie gearteten Verteilungsgerechtigkeit, verschiebt sich die erste Pointe einigermaßen zwingend von den zu fördernden Fähigkeiten weg auf das schulisch-testierbar Vorweisbare. Sobald die Unterrichtsinhalte den Sinn verlieren, eine zukünftige Kulturteilhabe als persönliche Bereicherung, als Ausentwicklung eigener Begabungen darzustellen, werden sie doppelt sinn-los, um dann ihren Sinn funktionalistisch aus dem Gebot der Selbstbehauptung angesichts agonaler Konkurrenz zu substituieren. Ich möchte die Neuartigkeit solcher Entwicklungen für das Gros der Schulabsolventen im Blick auf frühere historische Phasen nicht dramatisieren – aber auch nicht bagatellisieren. Immerhin stellt eine frühzeitige Vorbereitung Heranwachsender auf eine erwachsene Konkurrenzgesellschaft ein Politikum ersten Ranges dar, das sozialpsychologisch unterlegt zu werden droht durch eine Bevorzugung von Individuen, die sich ihrer Sozialtauglichkeit durch eine früherworbene Mentalität der beständigen Selbst-Zertifizierung im Blick auf die gerade angesagten Zertifikate versichern. Was also das zweite prinzipiell mögliche Argument eines Lehrers betrifft, der seine Schüler zu einem besseren Arbeitsverhalten bewegen möchte, so erweisen sich die aktuellen Entwicklungen auf den Arbeitsmärkten der führenden Industrienationen als ein Danaergeschenk an die Pädagogik. Sie hat, um es in aller Schärfe zu sagen, die Möglichkeit, mit absolut realitätsbeglaubigten Hinweisen auf eine kaum gesteuerte und jedenfalls als von der „zuständigen“ Politik kaum steuerbar eingeschätzte Beschäftigungsentwicklung Jugendliche frühzeitig zu disziplinieren und gleichzeitig – als Schule (und öffentlich als Bildungspolitik) – ihre gesamtgesellschaftliche Bedeutung dramatisch zu betonen. Nie oder zumindest selten54 war Schule so wichtig, nie wurde so viel über „Bildung“ diskutiert, nie waren so viele (außerpädagogische) Experten „zuständig“, nie wurden pädagogische Erfolge ähnlich empirienah evaluiert – wohl noch nie wurde der Begriff „Bildung“ einer ähnlich gründlichen semantischen Entleerung unterzogen wie gegenwärtig.55 Mit der Verkehrung des Bildungs-Begriffs gehen eine Entwertung der Unterrichts-Inhalte und eine Aufwertung der Zertifikate einher, durch die weniger die Aneignung der Inhalte selbst als ihre rasche Aneignungsfähigkeit bescheinigt wird. Auf der Interaktionsebene Lehrer-Schüler greifen Funktionalisierungsim54 Man denke als wichtige Ausnahme an die bewusste Förderung des sozialistischen Menschen insbesondere durch die DDR-Pädagogik. 55 Ich stelle dies durchaus mit Blick auf die bekannten Elitarisierungen des Bildungsbegriffs im 19. Jahrhundert fest.
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perative und sklerotisieren die Beziehungen. Schüler lernen frühzeitig, sich selbst zu managen und marktgängig zu präsentieren, Lehrer sollen sie dabei unterstützen. Die Kultur aufgeklärter und engagierter Erwachsener, die durch die Lehrer selbst repräsentiert wird, löst sich in Berechenbarbeiten und Präsentationsimperative auf. An die Stelle der Idee einer humanistischen Gestaltbarkeit der gesellschaftlichen Verkehrsformen tritt die Idee individueller Selbstverwirklichung, die sich allerdings ohne kränkende Nebenfolgen für das jeweilige Selbstwertgefühl nur die Durchsetzungsfähigsten werden leisten können: wobei den „Selbsten“ der Heranwachsenden durch die Betonung, es ginge nur immer um sie selbst, die Idee hierzu – ein sozial und kulturell sinnbestimmtes und sinnbestimmendes „Selbst“ sein zu können – frühzeitig ausgetrieben wurde. Ein Szenario wie eine pädagogische Horrorvision, zugegeben. Deutlich sollte werden: Die pädagogische Beförderung kindlich-jugendlichen Arbeitsverhaltens durch einschüchternde Hinweise auf eine inhuman organisierte Erwachsenenwelt hat das Potential, Pädagogen und Pädagogik kurzfristig zu einer Wichtigkeit zu verhelfen, die ihre schon mittelfristige Selbstaufgabe verdecken könnte. Indizien hierfür sehe ich allerdings reichlich.56
Zugehen auf den sich verweigernden Schüler Was die dritte Grobvariante der pädagogischen Beeinflussung von Schülern mit defizitärem Arbeitsverhalten betrifft, so fällt auf sie von der zweiten – Appell an den individuellen Ehrgeiz im Blick auf reale gesellschaftliche Verkehrsformen – ein mächtiger Schatten. Ich werde sie im Folgenden ganz schematisch darstellen. Sie entspricht dem Handeln des in meinen Augen „guten“ bzw. professionellen Lehrers: und setzt bei diesem eine kulturelle Haltung voraus, die in seiner Persönlichkeit verwurzelt sein muss. Sie besteht im Wesentlichen darin, dass der
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Dass der Lehrer zur Förderung erwünschten Arbeitsverhaltens die beiden holzschnittartig vorgestellten Argumentationsvarianten – die entwicklungspsychologische und die an individuellen Ehrgeiz appellierende – leicht kombinieren könne, geht aus den letzten Hinweisen gesteigerter SelbstEvaluation, die man schon Kindern anträgt, ohne weiteres hervor. Wichtig ist mir der Hinweis, dass der Eingriff, den man den Kindern zunehmend und zunehmend frühzeitiger zumutet, immerzu als Selbst-Ermutigung semantisch euphorisiert wird. Es wird – menschheitsgeschichtlich erstmalig – ein unerbittliches Über-Ich kollektiv errichtet, das durch seine Begründung in gesamtgesellschaftlichen Sachzwängen ganz Ich-gemäß erscheint und zugleich durch die Aufnahme offen narzisstischer Gratifikations-Ankündigungen Es-konform dargeboten wird. Es ist anzunehmen, dass die hier Freudianisch umrissene Konstellation real am ehesten dem Selbst- und Selbstwerterleben von neuerfolgreichen Modernisierungsgewinnern korrespondiert und nun der Gesamtbevölkerung verschrieben wird.
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Lehrer auf die Vorbildwirkung seines fachlichen Handelns und auf die Kraft seiner gewaltfreien Argumentation setzen muss. Das erste, was er nötig hat, „Einfühlung“ bzw. „Empathie“. Sie wird mich noch ausführlich beschäftigen. Die hier gemeinte Einfühlung muss zunächst unterschieden werden von einer Fähigkeit, die der Lehrer bereits auf der Inhaltsebene an den Tag legen muss: Bereits dort muss er ja „trifokal“ denken und die fraglichen Unterrichtsinhalte oder die zu fördernden Kompetenzen so anbieten, dass sie von den normalen Schülern altersangemessen aufgegriffen und angeeignet werden können. Schon hier, auf der ersten Ebene des Lehrerhandelns ist eine Doppelbegabung des Lehrers gefordert, eigentlich – genau genommen – sogar eine Dreifachbegabung. Er muss jedweden Unterrichtsstoff analytisch durchdringen, also strukturell begriffen haben. Er muss sich zweitens in die Aufnahmefähigkeit und Lernweisen von Heranwachsenden der jeweiligen Altersstufe hineinversetzen können. Er muss demnach drittens eine methodische Synthese zwischen dem analytisch durchstrukturierten Stoff und der Lernfähigkeit der Schüler erstellen können. Die eigentliche Begabung des Lehrers liegt in der Vermittlung. Was nun den zunächst vielleicht winzig erscheinenden, in der pädagogischen Realität jedoch gravierenden Unterschied zum korrigierenden Eingriff in das Arbeitsverhalten von Schülern auf Ebene 2 ausmacht, so liegt dieser im Übergang vom anzunehmenden Normalschüler zum Einzelfall des Problemschülers. Man könnte auch sagen: Auf Ebene 1 Inhalte-/Kompetenzvermittlung kann der Lehrer noch weitgehend schematisierend erlernen, was für ihn zu tun ist. Die Rücksicht auf den Normalschüler lässt sich durchaus standardisieren. Er braucht dann nur dem zu folgen, was in den unzähligen Lehrerhilfen der Beraterliteratur bereits an kondensiertem Erfahrungswissen vorliegt. Der Übergang zum problematischen Einzelfall setzt hingegen eine andersartige Fähigkeit und eine neuartige Handlungsbereitschaft voraus. Dies lässt sich schon ganz äußerlich am geforderten Aufmerksamkeitsfokus ablesen. Auf der Ebene 1 hat der Lehrer sozusagen den Schüler als abstrakten Mittelwert vor Augen. Er unterrichtet mit allenfalls lerngruppenspezifischen Varianten, was er so ähnlich auch in einer Parallelklasse unterrichten würde. Auf der Ebene 2 tritt eine Doppelung seiner Aufmerksamkeit insofern ein, als er für den einzelnen Schüler mit defizitärem Arbeitsverhalten eine Abweichung gegenüber der unterstellten Norm erwartbaren Verhaltens registriert und dabei zumindest ansatzweise individuelle Konturen dieses Abweichens feststellt. Diese zu erkennen bedeutet für den Lehrer bereits, sich simultan entscheiden zu müssen, wie er mit dem abweichenden Verhalten umgeht und wie er die nun geforderte Sonder-Aufmerksamkeit in sein ja weiterlaufendes, auf den gesamten Lernverband bezogenes Unterrichtshandeln einfließen lässt. 85
Man sieht angesichts einer solchen Konstellation unmittelbar, dass der Lehrer abwägen muss zwischen zwei – im Prinzip antagonistischen – Gesichtspunkten: dem Lernbedarf der Lerngruppe und dem Einzelbedürfnis57 des Schülers mit unangemessenem Arbeitsverhalten. Weil beide Gesichtspunkte wichtig sind und ihre jeweilige Verfolgung berechtigt ist, kann nicht schematisch entschieden werden, was im Einzelfall zu tun ist. Der Lehrer muss vielmehr fallbezogen entscheiden, und zwar augenblicklich,58 ob er etwa das beobachtete unangemessene Arbeitsverhalten des betreffenden Schülers methodisch – vorläufig oder längerfristig – übergeht oder ob er es direkt angeht (unter Zurückstellung der Aufmerksamkeit auf die Gesamtgruppe) oder ob er es irgendwie in das Gesamtgeschehen zu integrieren versucht, etwa, indem er dem fraglichen Schüler eine neuartige Sonderaufgabe zuweist, die diesem die Chance gibt, sein Arbeitsverhalten zugunsten der Lerngruppe neu auszurichten usw. Wie immer: Das vom Lehrer durch den individuell schwierigen Schüler abverlangte Handeln muss fallsensibel auf dessen Persönlichkeit abgestimmt sein ohne die situativen Belange der Gruppe zu vernachlässigen. Was den Schüler mit mangelndem Arbeitsverhalten betrifft, so ist auch hier ein weites Spektrum von Möglichkeiten denkbar, das ich nur ganz grob andeuten will. Es mag von einem Schüler reichen, der sich nicht über einen längeren Zeitraum konzentrieren kann, über einen, der gehemmt und schüchtern ist, bis zu einem solchen, der nicht einsehen will oder kann, warum er sich denn überhaupt schulisch anstrengen soll. Vergleicht man den unkonzentrierten oder schüchternen Schüler mit dem gutwilligen, aber weniger begabten, so sind hier Überschneidungen bezüglich der vom Lehrer-Handeln geforderten Vermittlungsleistung denkbar. Der gutwillig-unbegabte Schüler will jedenfalls lernen, der unkonzentrierte oder der gehemmte Schüler vielleicht auch. Allerdings wird es der unkonzentrierte situativ nur so lange aktiv wollen, wie er noch nicht aktuell unkonzentriert ist: was vielleicht gerade seine Konzentrationsstörung ausmacht. Der schüchterne wird wiederum nur unter der Bedingung lernen wollen können, dass seine Schüchternheit dabei vom Lehrer nicht offengelegt wird. Im Fall des Ersteren muss der Lehrer den günstigen, aber knappen Zeitraum konzentriert nützen, im Fall des Letzteren muss er die besondere Lernunterstützung, die er bieten muss, als solche zugleich unkenntlich machen. Sie gerät sonst zur Demütigung gerade desjenigen Schülers, der durch seine Schüchternheit ohnehin schon durchgängig bedroht ist, sich 57
Das Problem liegt hier im Vorliegen zweier Arten des Bedürfnisses, eines real empfundenen und eines methodisch unterstellten. Der Schüler mit defizitärem Arbeitsverhalten zeigt im Normalfall gerade kein Bedürfnis, das Defizit zu überwinden; der Lehrer hingegen unterstellt dem Schüler – advokatorisch – dass er „eigentlich“ ein angemessenes Lern- bzw. Arbeitsbedürfnis haben sollte. 58 Die Entscheidung hinauszuschieben wäre auf jeden Fall auch eine Entscheidung.
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situativ bloßgestellt erleben zu müssen. In beiden Fällen gilt das Gebot einer höchst prekären Fallsensibilität. Der Lehrer begibt sich demnach – je engagierter und offener er für das Schülerproblem ist, umso eher – in eine schwierige Balance zwischen unerlässlicher Hilfe und verletzender Beschämung. Erst recht wird diese prekäre Situation greifbar, wenn man sich dem dritten Beispiel zuwendet, dem schulmüden Schüler, der sich in den Augen des Lehrers anschickt, seinen zukünftigen Werdegang möglicherweise biographisch folgenschwer zu gefährden. Denn dieser Schüler wird umgekehrt (ich schlage vor, das Beispiel so zuzuspitzen) die Schule und demnach auch das Engagement des Lehrers entwerten. Der Lehrer, der in seinem Sinne auf den Schüler einwirken will, muss sich dabei in einem logisch ersten Schritt aus der vorgängigen Entwertung durch den Schüler befreien, um überhaupt erst dessen Gehör zu finden. Dann, in einem zweiten Schritt, muss er dessen Entscheidung so kritisieren, dass er das Selbstwertgefühl des Schülers nicht mit verletzt. Das ist umso schwieriger, je mehr sich der Schüler innerlich mit seiner Entscheidung schon identifiziert hat. Ich breche die Erörterung hier ab, weil ich auf der folgenden dritten Ebene noch ein schärfer dilemmatisches Beispiel diskutieren werde. Festgehalten werden sollte, dass jeder Versuch, pädagogisch auf längerfristiges, das heißt charakterlich abgesichertes, Arbeitsverhalten verändernd einzuwirken, eine prekäre Balance erfordert, die den Lehrer bei seiner berufsangemessenen Unterstützung des Schülers schnell als kränkenden Angreifer erscheinen lassen kann. Die Problematik, die hier je spezifisch ins Spiel kommt, hängt mit dem Selbstwerterleben der betreffenden Schüler zusammen. Ich bezeichne sie im Anschluss an psychoanalytische Positionen in einem weiten Sinne als „narzisstische“ Problematik. Das auf das „schwierige“ Individuum bezogene Problem erweist sich dabei jedes Mal als subtil in die Schwierigkeit verwoben, den Lernbedarf der Gesamtgruppe nicht ungebührlich hintanzustellen oder, umgekehrt, seine Bearbeitung dem letzteren umstandslos zu opfern.
Selektionsdruck und Stoffüberschätzung Bevor ich mich der dritten Lernebene zuwende – die den sozialen Grundhaltungen gilt – möchte ich den Ertrag der Betrachtung der beiden ersten Ebenen kurz auf einen weiteren Gesichtspunkt hin zuspitzen. Dass der Lehrer Inhalte und Kompetenzen an die Schüler vermitteln soll, ist unbezweifelbar seine Aufgabe. Dass es niemals nur und in gewisser Weise nicht einmal entscheidend um Inhalte oder Kompetenzen gehen kann, erwies sich im Blick auf den kulturellen sinnstiftenden Hintergrund, der den Inhalten/Kompetenzen zugrunde liegt und ihre Auswahl steuert. 87
Dennoch sind reduktionistische Vorstellungen in der Gesamtbevölkerung selbst verbreitet, wonach es nur um Inhalte oder Kompetenzen gehen soll. Verständlich erscheint ein solches Missverständnis unter zwei Aspekten. Zum einen wäre zumindest denkbar, dass die besagten kulturellen Werte so selbstverständlich in der Bevölkerung – weil in der Verfassung – verankert sind, dass ihre reale Wirkmächtigkeit im alltäglichen gesellschaftlichen Geschehen nicht mehr ernsthaft bezweifelt werden kann. Zum anderen ist denkbar, dass das Selektionsproblem der Schule so sehr dominant wird, dass sich die Öffentlichkeit ein klares Bewusstsein der Relativität der ausgewählten Inhalte/Kompetenzen nicht mehr leisten kann. Wenn nämlich deutlich wird, wie stark schulisch gemessener Erfolg die Biographien Heranwachsender mitbestimmt (und welch fatale Folgen Misserfolg zeitigen kann), fällt es schwer, der Relativität – und das heißt, der gesellschaftlichen Willkür – eingedenk zu bleiben, die nun gerade die im Augenblick gültigen schulisch-inhaltlichen Leistungskriterien hervorgebracht hat und keine anderen. Die reale Wirkung der Selektion treibt dann die Überschätzung der kulturellen Bedeutung ihrer Kriterien naturwüchsig hervor. Dieser zweite, wenn man so will: pragmatische, Gesichtspunkt steht zum ersten in einem Antagonismus, der wiederum wegen der unterschiedlichen Aufmerksamkeitsebenen unauffällig bleiben kann. Denn es liegt in der Logik, man könnte auch sagen: im Ethos der neuzeitlichen gesellschaftlichen Kultur, dass die Selektionsfunktion des Schulsystems die anderen Funktionen nie überlagern darf. Warum nicht? Weil wir ansonsten in einer wesentlich vormodern-agonalen Verdrängungsgesellschaft leben müssten, während sich die moderne Gesellschaft unter den Anspruch ihrer Selbsthumanisierung stellt.59 Die Schule bedarf also, damit man ihre Inhalte ernst nimmt, einer gesellschaftlichen Kultur, die diese Inhalte zugleich einsichtsvoll relativiert. Wo sie überschätzt werden, ist ihr Sinn bereits desavouiert. Aufschlussreich ist deshalb besonders, wie gesamtgesellschaftlich mit der zweiten Ebene, der des zu fördernden Arbeitsverhaltens der Schüler umgegangen wird. Diese Ebene dominiert wie dargelegt in jüngerer Zeit als „Lernen des Lernens“ zunehmend die öffentlichen Experten-Diskussionen, zumal hier (möglicherweise) reformpädagogisch orientierte Pädagogen auf besonderes Entgegenkommen außerpädagogischer 59 Vormoderne Gesellschaften oder Kulturen haben im Prinzip keine Probleme mit massiven sozialen Disparitäten, weil sie diese ohne weiteres mythisch und/oder transzendenzbezogen als Wille Gottes oder Wirkungen von Götterhandeln deuten können. Diese Möglichkeit entfällt im modernen Kontext, jedenfalls als öffentlich anerkannte. Eine Sonderstellung nehmen hier die alttestamentlichen Propheten, insbesondere Amos, Hosea oder Jesaja, ein. Bei ihnen steht Gott zu seinem Angebot eines Bundes, in dessen Konsequenz seine eigenen Attribute von den an ihn glaubenden Juden repräsentiert werden müssen. Schließlich ist alttestamentlich der Mensch „nach dem Bilde Gottes“ von diesem geschaffen. Die Bildungsidee des 18. Jahrhunderts nimmt diesen Gedanken säkularisierend wieder auf.
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Bildungsexperten aus Wirtschaft und Politik rechnen dürfen. Diese Verschiebung ist mehr als zweischneidig. Ich habe oben schematisch zu zeigen versucht, wie der Lehrer, der auf das Arbeitsverhalten seines Schülers Einfluss nehmen will, dies argumentativ begründen kann. Er kann demnach einfach auf seine Autorität pochen und auf formale entwicklungspsychologische Angewiesenheiten des Schülers rekurrieren; er kann zweitens den individuellen Ehrgeiz des Schülers in Verbindung bringen zu gesellschaftlich-knappen Arbeits- und Einkommensverhältnissen, er kann sich demnach gegebenenfalls sogar auch eine egoistisch überzogene Aufstiegsmentalität des Schülers (und der dahinter wirkenden Eltern) kurzfristig zunutze machen; er kann drittens eine fallbezogen-individualisierende Zuwendung zum Schüler versuchen, in der er sich selbst als Vorbild setzt. Mit dieser dritten Variante – die erst den Lehrerberuf als echte Profession eröffnet – werde ich mich noch ausführlicher im Blick auf die dritte Ebene der sozialen Haltungen beschäftigen.
2.3 Die dritte Ebene des Lehrerhandelns: kulturelle Grundhaltung Schulgesetzlicher Bildungsauftrag Dass es in Schule und Unterricht letzten Endes immer um eine sozial-kulturelle Grundhaltung geht, lässt sich schon wie oben dargelegt beim Blick auf die Inhalte/Kompetenzen zeigen, die zu vermitteln die öffentlich für selbstverständlich erachtete Aufgabe der Schule ist. Denn der jeweilige Stoff ist immer ein ausgewählter, und er wird ausgewählt im Hinblick auf seine besondere Tauglichkeit, den dahinter stehenden sozial-kulturellen Sinn sichtbar werden zu lassen. So wird man es auch nicht als bloße Rhetorik abtun müssen, wenn in den sogenannten „Bildungsaufträgen“ der deutschen Schulgesetze (die Ländersache sind) entsprechende Äußerungen vorliegen. Der Schule wird darin jeweils der Auftrag erteilt, die Persönlichkeiten der Schüler so zu fördern, dass sie engagiertverantwortliche Staatsbürger werden, die sich für die Durchsetzung der Menschenrechte einsetzen und auch im kommunikativen Nahbereich rücksichtsvoll und zu sozialer Bindung fähig mit sich und Anderen umgehen. Zur Illustration zitiere ich einen kurzen Auszug aus der Eröffnung des Niedersächsischen Schulgesetzes: „Die Schülerinnen und Schüler sollen fähig werden, die Grundrechte für sich und jeden anderen wirksam werden zu lassen, die sich daraus ergebende staatsbürgerliche Verantwortung zu verstehen und zur demokratischen Gestaltung der Gesellschaft beizutragen,
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nach ethischen Grundsätzen zu handeln sowie religiöse und kulturelle Werte zu erkennen und zu achten, ihre Beziehungen zu anderen Menschen nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Toleranz sowie der Gleichberechtigung der Geschlechter zu gestalten ... Die Schule hat den Schülerinnen und Schülern die dafür erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln. ...“ (NSchG, §2)
Im ersten Satz des zitierten Bildungsauftrags wird von einer „Grundlage des Christentums, des europäischen Humanismus und der Ideen der liberalen, demokratischen und sozialen Freiheitsbewegungen“ für das schulische Handeln gesprochen. „Die Schule soll“ dezidiert „die Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler ... weiterentwickeln.“60 Lehrer werden insofern juristisch auf ein philosophisches Menschenbild verpflichtet. Es sieht vor, die Förderung der Individualität der Heranwachsenden im Medium eines pädagogisch-sozialen Geschehens zu betreiben: weil die kulturbestimmte und -bestimmende Sozialität als das zu entfaltende Wesen der Individualität gesehen wird. Lehrer werden beruflich darauf verpflichtet, eine philosophisch vorausgesetzte Humanität, eine anspruchsvolle, wesentlich universalistische, ethisch-moralische und kulturbejahende Grundhaltung ihrer Schüler in konkreter Hinwendung zu ihnen pädagogisch zu fördern und darin den Kern der inhaltlich bestimmten Kulturvermittlung zu sehen. Die Vorgaben des Bildungsauftrages stellen auffallend hohe ethische Ansprüche an die Schüler. Denkt man diese genauer durch und versucht man, sich das Gemeinte etwas konkreter vorzustellen, dann zeigen sich mehrere Voraussetzungen, die untereinander vernetzt sind bzw. sein müssen. Als erstes mag ins Auge fallen, welch weitreichende Wirkung der Schule – als Institution – hier zugetraut wird. Hinzu kommt: Diejenigen „Kenntnisse und Fertigkeiten“ sind auszuwählen, die zur Entwicklung der kulturellen Grundhaltung „erforderlich“ sind. Der Tenor des Gesetzestextes ist anspruchsvoll-optimistisch. Allerdings zeigt sich, dass er weitere Voraussetzungen einschließt. Sie betreffen wie bereits angedeutet zunächst die Lehrer, denn diese müssen – das ist intuitiv einsichtig und bedarf keiner aufwändigeren sozialisationstheoretischen Begründung – das kulturelle Ethos, das sie den Schülern vermitteln wollen, diesen irgendwie erfahrbar vorleben. Dass dies im Medium der Förderung von „Kenntnissen und Fertigkeiten“ zu geschehen hat, ist nach dem soeben Gesagten klar, es muss aber 60
Im Niedersächsischen Schulgesetz wird demnach die Beziehungsparadoxie durchaus von Anfang an betont – wenn auch die Forderung an Schule bzw. Lehrer, „die Persönlichkeit“ (im Singular!) der Schüler „weiterentwickeln“ zu sollen, unstatthaft transitiv formuliert ist.
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auch die Form bestimmen, in der das schulisch-unterrichtliche Geschehen sich vollziehen soll. Der unterrichtliche Umgang der Lehrer mit den Schülern ist demnach buchstäblich nach „den Grundsätzen der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Toleranz sowie der Gleichberechtigung der Geschlechter zu gestalten.“ Damit sind bezüglich der professionellen Qualifikation der Lehrer hohe Maßstäbe gesetzt. Sie gehen unzweifelhaft, wenn auch indirekt, aus dem Gesetzestext selbst hervor. Zwei andere – logische bzw. soziologische und psychologische – Voraussetzungen scheint der Text sehr selbstverständlich zu machen. Wären sie es tatsächlich, würden besondere Schwierigkeiten des Lehrerberufs entfallen.
Vorausgesetztes und Tabuiertes Die erste Voraussetzung, die im Gesetzestext soziologisch gemacht wird, deren Status aber jedenfalls nicht unumstritten sein kann, ist die gesellschaftliche Geltung sowie das Maß der alltagsweltlichen Realisierung der besagten ethischen Normen. Der Bildungsauftrag (der ja zunächst an „die Schule“ im Singular geht), dürfte den Schülern unmöglich etwas abverlangen, das nicht gesellschaftliche selbstverständliche Realität wäre; andererseits: wenn es nur gesellschaftliche selbstverständliche Realität wäre, müsste er es nicht. Was die Schüler sollen ist demnach, sich für diejenigen ethischen Einstellungen entscheiden (und zwar freiwillig und aus Einsicht), die für das Bestehen und die Förderung der gesellschaflichen Kultur unerlässlich und die doch offenbar nicht selbstverständlich verbreitet bzw. üblich sind. Das hiermit angesprochene Problem lässt die Gesellschaftsparadoxie der neuzeitlichen Pädagogik von Schülerseite her aufscheinen. Der Gesetzestext deutet an, dass Pädagogik sich einem Ethos verpflichtet, das sich keineswegs in allen gesellschaftsüblichen Verkehrsverhältnissen verkörpert hat: in welchen bzw. in welchen nicht, das ist nicht näher erläutert. Mit der Möglichkeit, dass der mündig-couragierte Einsatz für eine menschenwürdige zukünftige Gesellschaft, den heutige Schüler auch und gerade später an den Tag legen sollen, durch gesellschaftliche Sachzwänge wie etwa einen nennenswert hohe Arbeitslosigkeit irgendwie eingeengt sein könnte, scheint der Gesetzestext nicht zu rechnen. Die Frage, ob der Bildungsauftrag, der hier so nachdrücklich der Schule erteilt wird, überhaupt von allen relevanten gesellschaftlichen Kräften und Organisationen ernsthaft getragen oder unterstützt wird, ist im Gesetzestext nicht angesprochen. Die zweite entscheidende und vom Gesetzestext übergangene Voraussetzung ist sowohl sozio- als auch psychologischer Art. Sie betrifft das Tabu der neuzeitlichen Pädagogik – wobei ich unter Tabu einen Sachverhalt verstehe, den 91
wirklich jeder normale Mensch kennt und der doch – oder gerade deshalb? – in „normaler pädagogischer Rede“ nicht gedacht, jedenfalls nicht öffentlich geäußert zu werden pflegt. Zwar besteht das Tabu demnach gesellschaftsöffentlich, aber die Tabuierung scheint doch bereichsbezogen-spezifisch gestuft zu gelten. Die Pädagogik, genauer gesagt die Schulpädagogik, ist gesellschaftsweit derjenige Bereich, in dem das Tabu rhetorisch besonders konsequent durchgesetzt ist. Das Tabu heißt: Nicht (mehr) jeder Schüler ist pädagogisch erreichbar. Ich könnte noch pointierter sagen: Es gibt wirklich Problemschüler. Besieht man sich den besagten Gesetzestext, so möchte man hinzufügen: Schon gar nicht ist jeder Schüler für eine solch anspruchsvolle Haltungsbildung erreichbar. Wie eben dargelegt, bedürfte es nämlich notwendig besonders günstiger – humaner, als „gerecht“ erfahrbarer – gesellschaftlicher Verkehrsformen, die sich als entsprechend günstige Aufwachsbedingungen Heranwachsender auswirken. Hinzukommen müssten dann noch – sozusagen als hinreichende Bedingung – entgegenkommende psycho-logische Voraussetzungen beim einzelnen Schüler. Sie wurzeln – oder kulminieren – in seiner Annahme des pädagogischen Angebots, wobei ich methodisch voraussetze, dass es kultur- und schülerangemessen, also professionell, unterbreitet wurde. Um – streng logisch – von Pädagogik sprechen zu können (wo sie praktisch ist oder sein soll), genügt es nicht, vom Pädagogen, seinen Absichten und seinem Handeln zu sprechen. Scharf gesagt, muss der praktisch handelnde Pädagoge damit leben, dass sein Handeln erst durch dessen Annahme von Seiten des Schülers zu einem pädagogischen wird. Das Problem ist jedenfalls mehr als eine theoretische oder logischästhetische Subtilität. Dass es in der Geschichte der Pädagogik – durch diese selbst – immerzu aufgeworfen und zugleich immer wieder zugedeckt wurde, muss Gründe haben. Mit diesen will ich mich noch eingehend beschäftigen. Zunächst aber geht es exemplarisch um die Möglichkeiten, die einem Lehrer angesichts eines sich „schwierig“ im Sinne von (umgangssprachlich) „asozial“ verhaltenden Schülers bleiben. Ich nenne ihn den Problemschüler.
Exemplarische Darstellung von Problemschüler-Verhalten Ich schlage vor, sich einen Lehrer („L“) vorzustellen, der sich einem Problemschüler („S“) gegenüber sieht, der einen anderen Schüler („O“=Opfer) misshandelt. Sagen wir: S schlägt mitleidlos auf einen offensichtlich schwächeren Schüler O ein. S mag den Grund für die Misshandlung benennen: Er ist über O wütend geworden. Wichtig ist bei der Konstellation: S ist nicht bereit, hinterher sein Handeln zu bedauern, wiewohl er den es auslösenden Wut-Affekt ja abreagiert 92
hat. S begründet also sein Handeln direkt durch seine Wut über O, keineswegs durch die Qualität von O’s wutauslösendem Handeln (das kann also eine Bagatelle gewesen sein) und indirekt dadurch, dass es ihm als körperlich Stärkerem zustehe, Wut am Schwächeren auszuagieren. In universitären Lehrveranstaltungen habe ich gelegentlich ein Rollenspiel mit der besagten Konstellation durchführen lassen, wobei meine Vorgabe war, den Lehrer und den Schüler S in einem Vier-Augen-Gespräch zusammen zu führen. Ich musste allerdings immer hinzufügen, dass der Lehrer nicht nach persönlich-zufälligen Gründen von S fahndet, die sein Verhalten gegenüber O hätten bestimmt haben können: etwa, dass O ihn zuvor seinerseits schwer geärgert, gedemütigt o. Ä. habe. Lehrer wie Pädagogik-Studenten suchen – nach meiner Erfahrung – stets nach ähnlichen Ausweichgründen, die ein Strukturproblem auf die Ebene von zufälligen individuellen Gegebenheiten verlagern und einen „Deus ex machina“-Effekt haben. Was zunächst als pädagogisch hochproblematische Konstellation erscheint, erweist sich dann – angeblich – bei Beachtung ausschlaggebender Details als gut nachvollziehbares Verhalten, das pädagogisch zu bearbeiten dann keine Mühe mehr bereitet. Dass solche Details für möglich gehalten werden, erscheint methodisch sinnvoll – viele Pädagogen (insbesondere die betont schülerfreundlichen) unterstellen jedoch dogmatisch, dass ihr eventuelles Fehlen nur darauf beruhen könne, dass sie noch nicht gefunden wurden bzw. noch nicht lange genug danach gesucht worden ist. Die für Pädagogen sinnvoll zu fordernde Fallsensibilität degeneriert dann zur unabschließbaren Suche nach der richtigen rettenden Verhaltenserklärung, die den Problemschüler nachträglich als Vorurteils-Opfer mehr als rehabilitiert. Wo kein Schüler problematisch sein darf/kann, erspart der übermäßig schülerzugewandte Lehrer sich tatsächliche Fallsensibilität. Der Lehrer stellt sich in meinem Rollenspiel die Aufgabe, S zu einer Veränderung seiner Haltung zu bewegen. Die Rollenspiele der jeweiligen Pädagogik-Studenten wiesen im Lauf der Jahre gewiss manche Varianzen auf, beispielsweise trat „der Lehrer“ mal eher ernst und streng, mal eher vorsichtig um Verständnis werbend auf. Stets aber begann er relativ bald mit der Aufforderung, dem Vorschlag oder der Bitte an „S“, sich doch einmal in „O“ hineinzuversetzen. Es bestätigt sich als Selbstverständlichkeit: Die Vorstellung, „sich in einen Anderen hineinzuversetzen“, wird von Lehramtsstudenten als grundlegend für pädagogisches Handeln betrachtet. Sie hängt mit der oben so genannten Beziehungsparadoxie unmittelbar zusammen (und ist wie angedeutet Rousseausches Erbe). Die Rollenspiele förderten dann regelmäßig und jeweils nach sehr kurzer Zeit die argumentative Not des jeweiligen „Lehrers“ zutage. Denn die Aufforde93
rung weist an sich schon semantische und performative Schwierigkeiten auf. Semantisch zeigt sich schnell, dass „sich in einen Anderen hineinzuversetzen“ eine Metapher für etwas ist, das man demjenigen, der sie versteht, nicht zu erläutern braucht und das man demjenigen, der sie nicht versteht, nicht erläutern kann.61 Was die performative Schwierigkeit betrifft, so fordert der RollenspielLehrer seinen Schüler ja zu etwas auf, was dieser dezidiert nicht will. Das Problem besteht nicht darin, dass S „zufällig vergisst“, sich in O hineinzuversetzen, sondern dass er das absichtlich nicht will. Mehr noch: Er will es nicht mit einer aus seiner Sicht durchaus „ethisch“ oder „anthropologisch“ zu benennenden Begründung. Auch diese ist es wert, genauer betrachtet zu werden. Die Begründung arbeitet mit einem „Herr-Knecht-Denken“ oder soll ich sagen mit einem naturwüchsigen Macht-Ohnmacht-Schema im Bereich interpersonaler Beziehungen.62 Der Lehrer fordert S also zu genau dem auf, was S mit der besagten „anthropologischen“ Begründung ablehnt. Er versetzt sich deshalb nicht in den Mitschüler O hinein, weil es ihm zustehe, Wut gegenüber Schwächeren direkt auszuleben. Man könnte ebenso gut sagen: S beweist sich symbolisch durch Misshandlung von O, jedenfalls mächtiger als dieser zu sein. In jemanden, der unter einem steht, kann man sich nur bedingt hineinversetzen, jedenfalls nicht so wie
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Beharrt man beispielsweise – womöglich im Zeichen „wissenschaftlicher“ Präzision – auf einer genauen Begriffsklärung, begibt man sich also in eine konsequente Beobachterhaltung gegenüber dem alltagsweltlich für gängig gehaltenen Phänomen „Sich-in einen-Anderen-Hineinversetzen“, dann zersetzt es sich gewissermaßen automatisch: und mit ihm die Pädagogik. Die Belehrung, die dann der alltagsweltlichen Naivität etwa von Seiten einer konsequent systemtheoretischen oder radikal konstruktivistischen Seite zuteil werden kann, gleicht allerdings dem Wiederfinden der selbst versteckten Ostereier – oder sollte man metaphorisch-treffender vom Nicht-mehrFinden der vorher entfernten sprechen? Denn die Auflösung des Phänomens ist nicht einfach Resultat einer „genauen“ Analyse sondern bereits deren methodologische Voraussetzung. Einer sich distanzierenden Beobachtung ist das Phänomen „Sich-in-einen-Anderen-Hineinversetzen“ deshalb nicht mehr zugänglich, weil diese sich der spachlichen Erfassung des besagten Phänomenbereichs von vornherein verweigert hat. Seltsamerweise hat der Lehrer gegenüber dem jeweiligen Problemschüler S ein ähnlich gelagertes Problem. S verweigert sich dem Akt des „Sich-hinein-Versetzens-in-den-Anderen“ durchaus analog dem entschlossenen Beobachtungswissenschaftler – allerdings nicht gerade aus erkenntnis- oder wissenschaftstheoretischen Gründen, sondern aus „ethischen“, die mit seinem Selbstbild und seinem Sozialverständnis zusammenhängen. 62 Die Abscheu – zu der Pädagogen in solchen Fällen gern tendieren – verliert etwas an Selbstverständlichkeit, wenn man einerseits davon ausgeht, dass historisch ein rücksichtsarmes Herr-KnechtDenken der gesellschaftliche Normalfall war, der nur bereichsweise durch die Religionen oder ansatzweise durch die Aufklärung in Frage gestellt wurde: man denke an den Umgang mit Soldaten durch Feldherren aller Zeiten oder auch die Arbeitsbedingungen in manchen Industrien bis auf den heutigen Tag.
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in einen potentiellen Partner – in gewisser Hinsicht sollte man es vielleicht auch nicht. Da nun der Lehrer nicht annehmen darf, der von ihm beobachtete Akt der Missachtung von O durch S sei letzterem nur zufällig unterlaufen, weil er vielmehr davon auszugehen hat, dass S nicht nur O definiert – als anthropologisch minderwertig weil physisch unterlegen – sondern auch sich selbst – als entsprechend höherwertig – kommt der Lehrer in eine dilemmatische Situation. Er tritt ja auf als Anwalt von Gerechtigkeit und Humanität, die natürlich immer performativ, also im Handlungsvollzug selbst repräsentiert sein wollen. Der Lehrer sagt aber, zumindest indirekt, dass nicht nur S’ Sicht auf O falsch und inhuman sei, er muss auch durchblicken lassen, dass er S’ Sicht auf sich selbst, sagen wir: sein Selbstbild, verwirft. Was für den Lehrer selbstverständlich ist, dass er nämlich O und S auf einer Stufe sieht, ist für S ja dezidiert eine Herabstufung. Was der Lehrer S bezüglich O vorwirft, praktiziert er in S’ Augen diesem gegenüber selbst: Er wertet ihn ab. Je mehr er dies dementiert, umso mehr greift er das Selbstbild und das Bild der sozialen Realität von S insgesamt an. Dem Dilemma ist – situativ-argumentativ jedenfalls – nicht zu entkommen. Dass der Lehrer nicht dürfte, wozu er vielleicht „der Einfachheit halber“ neigen könnte, nämlich seine Macht auszuspielen, vielleicht durch Drohung mit schulischen Sanktionen, liegt auf der Hand. Erstens und grundsätzlich würde er damit in den Augen des Schülers das praktizieren, was er diesem vorwirft: rücksichtslose Machtausübung. Zweitens und realistisch betrachtet, kann er O kaum nachhaltig vor S schützen, denn dieser kann ja jenem außerhalb der Schule auflauern und ihn ähnlich gnadenlos traktieren wie er es soeben vorgeführt hat. Drittens bedarf er, um mit schulischen Sanktionsmitteln arbeiten zu können, eines zumindest minimalen Interesses von S an der eigenen Schulkarriere; auch diese letztere Bedingung ist nicht bei allen Schülern gegeben – im Regelfall bei den schwierigsten am wenigsten. Auch eine vierte theoretische Möglichkeit erweist sich im Konfliktfall normaler Weise als untauglich: der Verweis auf geltende demokratische Sozialvorstellungen. Wenn er nicht eine (wie immer verdeckte) Drohung mit Sanktionen sein soll, appelliert er an erfahrene Bedingungen eines gerechten Sozialwesens. Er kann demnach für den Schüler nur dann gelten, wenn diesesr auch die erfahrbare Alltagsrealität des Schülers bestimmt: was ja durch dessen gezeigtes Verhalten und die dahinter stehende Haltung dementiert wird. Lebt dieser beispielsweise in einem Sozialmilieu, in dem aggressive Affekte unkontrolliert gegenüber Schwächeren ausgelebt werden, dann hat er das entsprechende Verhalten bereits (wörtlich) am eigenen Leibe erlebt und es erscheint ihm deshalb auch als „normal“, also ethisch-anthropologisch angemessen. L’s Verweis wiederum auf ge-
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sellschaftliche Normalität sieht dann im günstigsten Fall weltfremd aus, im ungünstigen erweist es sich als Bumerang. Der Lehrer steckt im Dilemma.
Relativierungen Um das besagte Dilemma als auflösbar zu denken, muss der Lehrer es in jedem Fall relativieren. Ich stelle dies im Folgenden schematisch-strukturell dar. Was das Problem betrifft – S misshandelt O – so hat der Lehrer durch sein Eingreifen dieses keineswegs gelöst. Man könnte eher sagen, er hat es sich selbst zueigen gemacht und dadurch eine interaktive Komplikation eingeführt. Zunächst wird aus dem Problem zwischen S und O63 ein Problem zwischen L, S und O. Allerdings nicht nur das. Denn durch den Einsatz des Lehrers kommt eine vollständig neue und nach eigener Gesetzmäßigkeit strukturierte Ebene der Auseinandersetzung ins Spiel. Man kann sagen: Der Lehrer führt sich in die Interaktion ein und, sofern er nicht naiv ist, tut er das mit dezidiertem Autoritätsanspruch. Wie soeben deutlich wurde, darf diese Autorität aber nicht „autoritär“, also mit Gewalt durchgesetzt werden. Autorität ohne Gewaltausübung nennen wir umgangssprachlich Vorbild. Der Lehrer schließt nämlich aus dem äußerlich asozialen Verhalten und den entsprechenden Begründungen von S, dass es aus einem innerlichen Haltungsdefizit entspringt, das man – zwar schematisch, aber doch zwingend – folgender Maßen etwas genauer beschreiben kann: S fehlt eine innere Instanz, die ihm das Sich-Hineinversetzen in O erlauben könnte (und, wäre sie vorhanden, sogar gebieten würde). Die gemeinte „innere Instanz“, die man christlich-traditionell mit „Gewissen“ zu umschreiben pflegt, würde dafür sorgen, dass sich S nicht nur in O, sondern überhaupt in jeden potentiellen menschlichen Partner so weit hineinversetzen könnte, dass ihm spontan aggressiv-abwertende Verhaltensweisen gar nicht erst in den Sinn kämen – wenigstens solange nicht wie keinerlei Notwehr aus Angst gegeben ist: wie im konstruierten Beispiel, Das Handeln des Lehrers folgt einer psychostrukturellen Unterstellung und bewegt sich in der schon mehrfach aufgerufenen geistesgeschichtlichen Tradition. Ich werde zunächst die strukturelle Unterstellung darstellen.
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Es ist allerdings denkbar, dass Menschengruppen auf soziale Verachtung mit verminderter Selbstachtung reagieren. In einem solchen Fall – O empfände seine Demütigung als „normal“-angemessen – würde sich das Handlungsproblem des Lehrers um eine ganze Dimension erweitern. Allerdings muss er ohnehin fortlaufend auch O bei seinen Interventionen beachten, selbst wenn er seine Aufmerksamkeit auf S fokussiert.
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Ein biblisches Verbot wie „Du sollst nicht töten“ scheint auf eine angeboren-natürliche Aggressivität unter Menschen zu verweisen. Die besagte innere Instanz würde dann diese Aggressivität zu unterdrücken haben – und dabei gewissermaßen eine innere Aggressivität zur Verhinderung einer potentiellen sozialen Aggressivität darstellen. Im Zusammenhang der Kontrolle eines spontanen aggressiven Affektes – die Wut im obigen Beispiel – müsste die unterdrückende Instanz gewissermaßen automatisiert sein (sonst käme sie, wo sie nötig wäre, stets zu spät). Das ebenfalls biblische „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ geht allerdings deutlich weiter und verweist auf Möglichkeiten der sozialen Identifikation unter Menschen, die die Aggressivität an sich relativieren würden. Die „innere Instanz“ wäre dann eher eine solche der Vermittlung möglicher Verständigung unter Menschen. Der Unterschied beider Vorstellungen lässt sich vielleicht traditionell so illustrieren. Im Aggressions-Verbot nimmt „das Gewissen“ die innere Position eines verbietenden autoritären Vaters ein, im IdentifikationsAngebot das Verhalten einer Mutter, die zwei Geschwister zu versöhnen sucht – die sie beide liebt – gerade auch dann, wenn diese in Konflikt geraten. Die Liebe der Mutter verbindet dann nicht nur potentiell die streitenden Kinder, indem sie beide aus Liebe zur Mutter das konkurrierende Geschwister respektieren müssen, sondern indem sie längerfristig die Liebe der Mutter, die auch dem Geschwister gilt, internalisieren.64 Meine methodische Unterstellung lautet demnach: Der Lehrer, der sich in die von S ausgehende Abwertung von O kritisch einschaltet, unterstellt Vorstellungen, die einer solchen „mütterlichen“ Intervention unter Geschwisterkindern korrespondieren. Dass der Lehrer so handelt, liegt, so meine mitlaufende methodische Unterstellung, in kulturellen Annahmen, die das Zusammenleben posttraditionaler demokratischer Gesellschaften regeln.65 Was der Lehrer nun versucht, ist, sich handelnd auf das situative Fehlen der „inneren Instanz“ im Schüler einzustellen, genauer gesagt: auf die Kompensation dieses Fehlens. Eine solche Kompensation muss er versuchen, will er seiner pädagogischen Absicht (und, auf einer anderen Ebene, seinem beruflichöffentlichen Auftrag) treu bleiben. Wie meine Hinweise schon nahe legen sollten, muss der Lehrer damit aktiv in Angriff nehmen, persönlich eine hinreichend 64
Es wäre interessant, die Ergebnisse der Studien von Tomasello (2002) hier weiterzudenken. Ich finde diese psychostrukturellen Annahmen am besten in neueren psychoanalytischen Theorien, etwa in der von Heinz Kohut entwickelten Selbstpsychologie expliziert. Was ihre geistesgeschichtliche Herkunft betrifft, so werde ich diese Annahmen noch ausführlich im Kontext der Entstehung des Bildungsdenkens darstellen. An dieser Stelle sei nur der Hinweis gegeben, dass der Lessingsche Vater in der Ringparabel des „Nathan“ die skizzierte „mütterliche“ Vermittlungsqualität zwischen rivalisierenden Geschwistern in auklärerisch-klassischer Weise repräsentiert. 65
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hohe psychische Bedeutung für den betreffenden Schüler zu erlangen, die familiäre bzw. lebensweltliche Defizite auszugleichen vermag. Die Relativierung, von der ich oben sprach, besteht darin, dass der Lehrer die bisherige Biographie des Schülers ernsthaft als Faktor für die Begründung seines Handelns veranschlagen muss. Er muss sich dabei bewusst auf deren mögliche Defizite einstellen wollen. Dadurch kann er – ich behaupte: nur dadurch – sein eigenes Akzeptanzverhältnis zum Schüler S aufrechterhalten. L entschuldigt S’ Verhalten,66 indem er mit einer psychologischen Konstruktion arbeitet, etwa so: Die Aufwachsbedingungen von S sind „schuld“, dass er sich so verhält wie er es tut, denn innerlich „ist“ er „eigentlich“ anders als er sich äußerlich verhält. Er ist sogar „in Wirklichkeit“ ein Anderer als der, der er zu sein vermeint. Der Lehrer arbeitet also mit einer psychologisch hochriskanten Konstruktion auf philosophisch-anthropologischem Hintergrund. Sie lautet ungefähr so: Wenn Heranwachsende „gute“ Aufwachsbedingungen – angefangen in ihren Herkunftsfamilien – antreffen, werden sie zu sozialen Individuen bzw. wenigstens nicht zu asozialen. Dieses allgemeine Gesetz gilt auch für S. Soweit er sich real asozial verhält, ist er asozial geworden, und dabei den positiveren Möglichkeiten entfremdet worden, die in ihm –noch – verborgen sind. Die vom Lehrer in Anschlag gebrachte Vorstellung vom Individuum denkt also in dessen Entwicklung stets basale soziale Konstitutionsbedingungen hinzu. Letztere müssen, man könnte sagen: psychologisch, weil anthropologisch zwingend, im Falle von S unzureichend gewesen sein. Die einzige hier statthafte Ausnahme kann nicht einfach ungünstige erbliche Veranlagung, sondern nur eine gravierende Hirnverletzung sein, sieht man vielleicht von Autismus ab. Zu dem, was dem Schüler S psychisch fehlt, hätte er also die Anlage gehabt. Der Lehrer geht mit dieser Konstruktion im Konjunktiv so um, dass er dem Schüler die besagte Anlage zuspricht, indem er ihm nun nachträglich die Chance gibt, sie zu entfalten. Diese Chance versucht er ihm zu geben, indem er sich ihm als potentiell wichtige Bezugs-Person zuwendet, gewissermaßen anbietet. Der Respekt vor dem Schüler schließt allerdings auch ein Gespür für dessen Leiden ein, das ihn die eigentlich nötigen Sozialerfahrungen zum eigentlich
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Der Begriff „Schuld“ oder „Entschuldigen“ spielt in pädagogischen Texten bemerkenswert häufig eine sehr seltsame bzw. gar keine Rolle. Wenn der Lehrer einerseits den Schüler ernst nehmen soll als Persönlichkeit, dieser aber andererseits sich z. B. offen asozial verhält, dann kommt die Frage nach „Schuld“ unvermeidlich ins Spiel, jedenfalls irgendwann. Die Alternative wäre: Jedes Handeln jedwedes Schülers ist „in Ordnung“, also auch asoziales. Dann wird eine geforderte therapeutische Haltung des Lehrers mit dem objektiven Schülerverhalten schlicht verwechselt. So kann Pädagogik eines ihrer schmerzlichsten Probleme vermeintlich lösen: durch Ebenenkonfusion.
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angemessenen biographischen Zeitpunkt eben nicht hat machen lassen.67 Im Prinzip muss der Lehrer es für möglich halten, dass die nicht hinreichend geförderte Anlage schwer geschädigt wurde, ja, dass also der Schüler so geschädigt ist, dass er mit seinen schulischen Mitteln nicht mehr Entscheidendes ausrichten kann. Der Lehrer muss beides: auf die gute Anlage setzen und mit ihrer womöglich schweren Beschädigung rechnen. Tut er ersteres nicht, muss er den Problemschüler von vornherein als offen asozial beschuldigen und entsprechend bekämpfen, tut er letzteres nicht, handelt er naiv und latent größenwahnhaft; er wird sich ohne weiteres alle möglichen pädagogischen und therapierelevanten Wirkungen zutrauen und auch dazu tendieren, den Zeitfaktor für kompensatives pädagogisches Handeln zu unterschätzen. Die aktuelle Lehrerausbildung scheint mir (zumindest im Bereich der Schulpädagogik) unter naiver Beachtung der aufklärungsphilosophischen Maximen einseitig auf die gute Anlage aller Schüler zu setzen: Vielleicht ist hier ein zentraler Grund dafür zu sehen, dass so viele Junglehrer einen „Praxisschock“ erleiden, der manche noch in der Berufsanfangsphase resignieren lässt. Präjudizieren naiv-philosophische Voreingenommenheiten der Lehrerausbildung Defizite der Schulrealität? Der Relativierung auf der Zeitschiene durch Rekurs auf biographische Hintergründe mit zu vermutenden Defiziten korrespondiert dann die Relativierung der Situation selbst. Der Gedanke, durch ein Vier-Augen-Gespräch Nennenswertes „klären“ oder gar „lösen“ zu können, beruht auf einer zugleich naiven und ungeduldigen Fehleinschätzung des Problems selbst und der sich daraus ergebenden pädagogischen Handlungsmöglichkeiten. Das besagte Gespräch wird im Normalfall nötig sein, es kann eigentlich sinnvoll nur als Ankündigung eines künftigen Bemühensprozesses um Verständigung von Seiten des Lehrers verstanden werden. Der Schüler soll also internalisieren können, was der Lehrer ihm anbietet und wie er es tut: ein sozial-rücksichtsvolles „Gewissen“, das fähig ist, sich in andere „hineinzuversetzen“. Allerdings wird das aktuelle Vier-Augen-Gespräch nicht nur in die Zukunft hinein relativiert – es versteht sich hier als eine Art deutliche Weichenstellung – es sollte auch im günstigen Fall zeitlich rückwärtig bereits relativiert sein: durch eine Vorgeschichte, in der sich hinreichend viel Vertrauen zwischen L und S aufgebaut hat. Nur so kann das Ansinnen des Lehrers aus der Problemschüler67 Die Formulierung muss ihre Gültigkeit auch da behalten, wo der Lehrer auf typische Verwöhnungsphänomene trifft. In einer traditionell patriarchalischen Kultur ist es denkbar, dass männliche Kinder zu einem Macho-Verhalten verführt werden, indem sie beispielsweise die Minderschätzung ihrer weiblichen Geschwister als alltäglich erleben. Einer aufgeklärten Sicht auf den Menschen wie sie den westlichen demokratischen Verfassungen zugrunde liegt, korrespondiert hingegen die Annahme, dass die Minderentwicklung von Einfühlung in das Leiden Schwächerer (etwa durch soziale Diskriminierung) selbst eine Form des Leidens – weil der Selbstentfremdung – sei. Demzufolge wäre niemand Täter, der nicht zuvor Opfer geworden wäre.
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perspektive insofern wiederum „relativiert“ werden, als es nicht autoritäranmaßend wirken soll. Damit ist freilich noch nicht alles gesagt – eher wird das Problem nach diesen Vorweg-Relativierungen erst richtig konstelliert. Denn, wie gut auch immer die Vorbedingungen zwischen Lehrer und Schüler sein mögen – das Fehlen der „inneren Instanz“ des Schülers, das sich im rücksichtslosen Umgang mit Schwächeren zeigt, muss ja erst noch bearbeitet werden.
Kritik als Wertschätzung Hier setzen sich die Relativierungen fort. Die erste hängt mit der absichtsvollen narzisstischen Kränkung zusammen, die der Lehrer dem Problemschüler nicht ersparen kann. Denn der Lehrer bescheinigt ihm wie schon erwähnt implizit ein falsches Selbstbild. Fasst man diesen Vorwurf noch genauer, kritisiert er ja nicht nur eine Art kognitiven Irrtums von Seiten des Schülers, sondern vielmehr einen falschen Aufbau seines Selbstwerterlebens. Die Kritik zielt also in die Persönlichkeit des Schülers selbst hinein und bescheinigt dieser so etwas wie eine Selbstentfremdung mit einer selbsttäuschend falsch begründeten Identität. Dies ist für den argumentierenden Lehrer so prekär wie unumgänglich. Allerdings ist das noch nicht die ganze Schwierigkeit. Denn der Lehrer kritisiert sowohl verbal-semantisch als auch performativ in seiner Art des Umgangs mit beiden Schülern (S und O) diejenigen Verhaltensvorbilder, an denen sich der Problemschüler S offenbar orientiert. Zu denen werden – gerade auch dann, wenn sie als „Vorbilder“ in einem emphatischen Sinn eher versagt haben – auf jeden Fall die Eltern von S zählen. Wie immer: Der Lehrer kann nicht vermeiden, die biographisch relevant, d. h., „lieb“ gewordenen Vorbilder S’ einer der Sache nach scharfen Kritik zu unterwerfen. Dass der Lehrer das individuelle Selbstbild und die Vorbilder von S infrage stellt, mag man zunächst für eine überflüssige Dopplung des Arguments halten, es ist es aber nicht,68 im Gegenteil. Denn es zeigt sich, dass der Lehrer nicht nur das
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Ein solcher Einwand setzt eine stark „individualisierende“ Sicht auf den Heranwachsenden voraus und verfehlt schon damit das Problem: Denn eine „Individuierung“ in einem emphatischanspruchsvollen Sinn setzt gerade hinreichend befriedigende Erfahrungen mit Vorbildern und gelungene Formen der Ablösung von ihnen voraus. Interessanter Weise arbeitet das neuzeitliche ökonomistisch-liberalistische Denken mit der Vorstellung des stets schon individuierten Individuums, es verwechselt also einen emphatisch-normativen Begriff mit einem empirischen. Wo Pädagogik ökonomistisches Denken übernimmt – was aktuell auf breiter Front geschieht – merzt sie ihr eigenes Problembewusstsein durch diesen semantischen „Kunstgriff“ im Ansatz aus. Dabei schiebt sie die Individualitätsunterstellung, die ökonomistisch
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Selbstbild und das es aufbauende Selbstwerterleben, sondern auch die biographisch-personalen Vorbilder von S und damit dessen gesamte lebensweltlichkulturelle Realitätssicht infrage stellt. Der Lehrer, der sich in den Ausgangskonflikt von S mit O einschaltet, übernimmt damit eine Aufgabe, die man in aller Nüchternheit als äußerst riskant und gewagt bezeichnen muss. Sie setzt bei ihm nicht nur persönliche Fähigkeiten auf hohem Reifeniveau voraus, sondern sie bietet auch wenig Aussichten auf erfolgreiche Bewältigung ohne günstig entgegen kommende Rahmenbedingungen, die übrigens ebenfalls eine Relativierung darstellen: seines Auf-sich-allein-gestelltSeins nämlich. Je isolierter der Lehrer handeln muss, umso geringer sind seine Erfolgsaussichten. Das Selbstwerterleben keines normalen Menschen, erst recht nicht das eines normalen Heranwachsenden, darf bloß infrage gestellt werden. Das gilt gerade dann, wenn, wie der Lehrer ja handlungsleitend annimmt, Schädigungen des Selbstwerterlebens des Problemschülers vorangegangen sein müssen. Der Schüler muss in der Auseinandersetzung mit dem Lehrer durch diesen „mitlaufend“ bestätigt werden. Der Schüler muss also irgendwie spüren können, dass die harte Kritik des Lehrers zugleich oder sogar als solche Ausdruck einer Wertschätzung ist. Je mehr die Kritik des Lehrers berechtigt ist, je weniger sich der Problemschüler also in sein Opfer hinversetzen will, je härter ihn die Kritik demnach treffen muss, umso enger wird sich die Erlebniszone des Schülers gestalten, innerhalb derer er die Kritik zugleich als Ausdruck einer Wertschätzung des Lehrers spüren kann – ohne sie völlig „verstehen“ zu können. Denn, wie oben gezeigt, die Wertschätzung des Lehrers gilt der von ihm unterstellten „guten Anlage“ des Schülers, nicht bestimmten, vom Schüler selbst aber für wichtig erachteten Aspekten seines realen Erscheinungsbildes und auch nicht seines aktuellen Selbstbildes. Die Kritik muss also immer schon relativiert sein durch eine sie tragende Wertschätzung. Hinzu kommt: Die – schwierige – Interaktion Lehrer/Schüler sollte aufgehoben sein in einen sozialen Kontext, der zunächst von der Lerngruppe des Schülers gebildet und womöglich von der ganzen Schule und ihrem Sozialklima gerahmt wird. Der Lehrer bedarf also der Unterstützung etwa durch die Klassenkameraden von S und O, er bedarf gelingender gemeinsamer Lernprozesse der Schüler, die ihnen individuell zurechenbare Erfolgserlebnisse vermitteln; der Lehrer bedarf auch der kollegialen Stützung, um gegenüber S die nötige Fallsensibilität und den langen Atem mitzubringen. Die hier wünschenswerten hilfreichen Faktoren sind allgemein bekannt. Sie bilden das Arsenal der Beraterliteratur: Deren „einziger“ Fehler besteht darin, das, was dem Lehrer nur Erwachsenen gilt, auf Heranwachsende vor: verdoppelt also unter Missachtung aller entwicklungspsychologischen Befunde die ideologische Voreingenommenheit des Wirtschaftsliberalismus.
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helfen kann, sein Problem mit S konstruktiv durchzuhalten, als Automatismus zu präsentieren, durch den es gar nicht erst entsteht.69
Aktuelle Typen asozialer Schüler-Haltungen Im Folgenden möchte ich die Betrachtungsrichtung noch einmal von der Struktur des vom Lehrer geforderten Handelns weg auf mögliche Typen von Problemschülern lenken, die gravierende Defizite im Bereich sozialen Verhaltens aufweisen. Ausgegangen war ich von einem relativ abstrakten Beispiel. Ich möchte mich nun kurz vier Beispielen für asoziales Schülerverhalten mit spezifischem soziokulturellem Hintergrund zuwenden, die mir in mancher Hinsicht exemplarisch und für die aktuelle Situation in den Schulen typisch erscheinen. Ich konstruiere wieder ganz holzschnittartig Typen, die ich selbst beobachtet habe oder Schilderungen mir bekannter Lehrer entnehme. Sie verweisen auf bestimmte Sozialmilieus, die dazu tendieren, ein kulturelles Sonderleben zu führen, und haben den Vorteil zu illustrieren, dass gravierende Handlungsprobleme von Lehrern in bestimmten Schulformen gewiss hoch repräsentiert sind, dass sie sich aber im Prinzip auf alle verteilen.
Ein Schüler zeigt ein aggressiv-verächtliches Verhalten gegenüber Mitschülern, weil diese „Kanacken“ seien und in Deutschland nichts zu suchen hätten. Der Schüler gibt sich als Neonazi zu erkennen. Ein deutschstämmiger Schüler aus Osteuropa zeigt das bereits diskutierte Verhalten gegenüber Mitschülern, indem er auf kleinste vermeintliche Kränkungen mit rücksichtsloser Aggressivität reagiert, die auch vor ernsthaften Verletzungen nicht zurückscheut. Ein Schüler zeigt ein aggressiv-verächtliches Verhalten gegenüber bestimmten deutschen Mitschülern, weil er die hiesige Kultur verachtet. Der Schüler gibt sich als religiöser Fundamentalist zu erkennen. Ein Schüler zeigt ein verächtliches Verhalten gegenüber allen Personen, die nicht seinem Sozialmilieu angehören. Die Eltern des Schülers zählen unzweifelhaft zu den Modernisierungsgewinnern.
Festhalten möchte ich zunächst, dass ein professionell arbeitender Lehrer gegenüber allen vier Typen des Problemschülers in schwierigste Handlungsprobleme 69 Es handelt sich dabei um den für die Pädagogik insgesamt typischen Versuch der Vermeidung von größenwahnhaften Illusionen der Bewirkbarkeit pädagogisch erwünschten Verhaltens. Der Größenwahn entsteht erst durch den Vermeidungszwang, durch den er sich zugleich (not-dürftig) kaschiert. Ich gehe darauf noch ein.
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gerät. Der offenen Gewalt, die von Schülern der Typen 1, 2 und 3 ausgehen kann, setzt sich der Lehrer, der sich in schlichtender Weise einschaltet, möglicher Weise selbst aus. Er kann also nicht ausschließen, für sein Engagement selbst auch – durchaus physisch – bedroht zu werden. Die Zivilcourage, die hier gefordert ist, muss umso höher bewertet werden, je mehr der einzelne asoziale Schüler sich von einer Subkultur Gleichgesinnter unterstützt sieht, wobei dann „Mutproben“ oder „Ehrbeweise“ vor den Gesinnungsgenossen auch und gerade am Lehrer exemplarisch statuiert werden können. Umgekehrt ist umso mehr Zivilcourage gefordert, je mehr der Lehrer von seinem eigenen gesellschaftlichkulturellen Hintergrund im Stich gelassen wird: der in seinem Kollegium konkret beginnt und sich etwa in der Situation der Stadtteile, aus der die Schüler stammen, fortsetzt.70 Man wird vermuten müssen, dass im aktuell erlebbaren gesamtgesellschaftlichen Modernisierungs-Klima, das durch offenkundig krasser werdende Disparitäten bestimmt wird, nicht nur die Sozialverantwortung der Veränderungsgewinner tendenziell Schaden nimmt, sondern auch die mangelnde Beteiligung an der Prosperität „am unteren Rand“ der Gesellschaft Formen der Zunahme von Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft hervorbringt. Während durch die Fremdenfeindlichkeit aus einem nationalsozialistischem Vorstellungsfundus die vor allem ökonomisch bedingten Erfahrungen eigenen sozialen Ausgeschlossenseins auf eine nationalistische oder rassistische Ebene projiziert werden, um sie dadurch kompensativ abzuwehren – man gehört dann demonstrativ „dazu“ –, sind die entsprechenden Integrationsdefizite von Migranten, etwa von Aussiedlern oder nichtchristlichen Migranten der zweiten Generation, zusätzlich soziokultureller Art. Was die Aussiedler-Kinder betrifft, so kommen sie aus einer Herkunftskultur, in der möglicherweise schon ihre Eltern „als Deutsche“ sozial geächtet und verfolgt wurden – in ihrer deutschen „Heimat“ werden sie dann z. B. „als Russen“ beargwöhnt. Tatsächlich kann es leicht zwischen Heranwachsenden des neonazistischen, des ausgesiedelten und des fundamentalistischen Typs zu realen Auseinandersetzungen kommen, die dann nicht selten mit sich gegenseitig aufschaukelnder Rücksichtslosigkeit geführt werden. Möglich ist, dass ähnliche reale Konflikte zwischen Heranwachsenden der drei ersten und des vierten Typus weit weniger häufig stattfinden. So gesehen tendieren die von den ökonomischen oder sozialen Modernisierungsgewinnen Ausgeschlossenen dazu, sich das Leben gegenseitig schwer zu machen, also ihre relativen Modernisierungsverluste soziokulturell zu quadrieren, während die innere Gleichgültigkeit der Gewin70 Die „unauffälligste“ Form des „Im-Stich-gelassen-Seins“ schleicht sich durch die semantischen Verschiebungen des öffentlichen Diskurses ein, wonach in der Schule nur „Leistung“ zählt: Die Lehrer, die besonders anspruchsvolle Arbeit zu leisten haben, werden dafür keineswegs öffentlich besonders geschätzt, geschweige denn unterstützt.
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ner sich darin fortsetzt, dass sie von solchen Konflikten im doppelten Wortsinn unberührt bleiben. Meine obige Feststellung, der Lehrer, wenigstens sofern er professionell arbeitet, gerate gegenüber allen vier Typen asozialer Schüler in enorme Handlungskonflikte, ist allerdings ergänzungsbedürftig. Immerhin wird der Lehrer durch den asozialen Schüler des Typs 4 kaum physisch bedroht. Die Frage ist, ob sich Lehrer angesichts asozial-elitärer Haltungen von Schülern, sofern diese nicht als unterrichtsstörend oder gar physisch gewalttätig auffallen bzw. besonders schwache Schulleistungen erbringen, überhaupt zum pädagogischen Eingreifen genötigt sehen sollen. Denn unverkennbar nehmen in den letzten Jahren Tendenzen gewisser Schulen zu, sich als EliteförderungsAnstalten der Öffentlichkeit zu präsentieren. In dem Maß, wie dieses geschieht, unterwerfen sich die Schulen öffentlich vorherrschenden „Leistungs“Vorstellungen, die sie in eine pädagogische Semantik transformieren – sie unterwerfen sich damit „unter der Hand“ den Verkehrsregeln ihrer (insbesondere ökonomisch-globalisiert erfolgreichen) Klientel. Dass das mit „Bildung“ ernsthaft einmal Gemeinte dabei auf der Strecke bleibt, ist historisch-grundsätzlich nicht neu, neuartig sind allerdings einige Erscheinungsformen. Was die einzelnen Lehrer betrifft, so geraten sie nämlich durch das Ringen um den schulischen Elite-Status mehr und mehr in die Rolle vormoderner Domestiken, als die etwa die Hauslehrer noch im 18. Jahrhundert nicht selten geführt wurden: seinerzeit allerdings gab es eine gerade vom wirtschaftlich prosperierenden Bürgertum repräsentierte und geschätzte Hochkultur. In den Augen der Schüler, die heute häuslich in einem Klima des Modernisierungsgewinns aufwachsen, sind Lehrer insgesamt, auch die höchstdotierten, relative Modernisierungsverlierer, die sich z. B. die Ferienhotels gewisser Managerschichten, in die auch deren Sprösslinge einkehren, gar nicht leisten könnten. Die globalisierte Einheitskultur der Spitzenmanager ist in sich ignorant gegenüber der von der Aufklärung intendierten „Kultur“: weil sie sich von der Intention der Humanisierung der Menschheit ablöst, indem sie diese durch ein renaturalisiertes Leistungsverständnis ersetzt. Diesem fallen dann alle zum Opfer, die den so definierten Leistungs-Erfolg selbst in ihrer Biographie nicht mehr nachweisen können: an erster Stelle die Lehrer der Gewinner-Kinder. Die Zivilcourage des Lehrers an einer entsprechenden Schule beträfe somit vor allem seine Resistenz gegen zu erwartende narzisstische Dauer-Kränkung durch bestimmte Problemschüler, die schon seinen Berufsstatus verachten. Was die drei anderen Typen asozialen Schülerauftretens betrifft, so gehört es zur political correctness des (zumindest in Deutschland) aktuell beobachtbaren pädagogischen Diskurses, dass neonazistische Tendenzen mit weit weniger öffentlichem und rhetorischem Entgegenkommen rechnen dürfen als etwa funda104
mentalistisch-religiöse oder religiös erscheinende, jedenfalls wenn sie auf einen Migrationshintergrund bezogen werden, während man die Integrationsprobleme der Aussiedler offenbar hofft aussitzen zu können. Für den Lehrer, der mit einem Vertreter dieser drei Typen konfrontiert ist, macht es allerdings wenig Unterschied, womit das offen asoziale Verhalten jeweils begründet wird.71
2.4 Bildungsparadoxien auf verschiedenen Ebenen Architektonischer Aufbau der Ebenen Ein Blick zurück auf die drei Ebenen des Lehrerhandelns zeigt ihren architektonischen Aufbau, und er deutet zugleich an, warum dieser so leicht unterschätzt werden kann. Denn in jedem Unterricht steht – alltäglich und unbezweifelbar – die Wissens- und Kompetenzvermittlung im Vordergrund. Hier kommt nun Entscheidendes auf den Lehrer an. Ob reflektiert oder nicht: Vorausgesetzt bzw. mitgedacht ist in diesen Vordergrund-Phänomenen, so sie gelingen können sollen, immer dasjenige, was ich soeben bezüglich der beiden anderen Lern- bzw. Handlungsebenen des Lehrers vorgetragen habe. Auf der zweiten Ebene muss der Schüler das Lernen immer schon ansatzweise gelernt haben. Dies zerfällt bei genauerem Hinsehen in ein vordergründigeres „Können“ und ein hintergründiges „Wollen“. Der Schüler muss, um die vom Lehrer angebotenen Unterrichtsinhalte aufzugreifen, dies trivialerweise auch können, und er muss es können wollen. Was Ersteres betrifft – beispielsweise –, muss er sich im Unterricht hinreichend auf das Angebotene konzentrieren können; dahinter steht, dass er sich darauf auch einlassen will. Das alles „will“ wiederum der Lehrer, der Unterrichtsinhalte vermitteln will. Dass nun jeder Schüler will, was der Lehrer will, ist jedenfalls eine beachtlich unselbstverständliche Konstellation. Schon der Blick auf die zweite Ebene zeigt, dass der Lehrer etwas wollen muss, was er keineswegs „bewirken“ kann – erleichtern ja, provozieren vielleicht, behindern jedenfalls, aber eben nicht bewirken: das Wollen des Schülers. Was auf der ersten Ebene – so der Unterricht einigermaßen reibungslos abläuft – verdeckt oder doch jedenfalls völlig unauffällig bleibt, springt auf der zweiten Ebene ins Auge. Man wird man sich mit dieser erst befassen, sofern es auf der ersten Ebene über Einzelfälle hinaus zu Problemen kommt. Was erst auf der 71 Erst recht bringen Gymnasiasten, die z. B. den „Ehrenmord“ an einer jungen Frau durch ihre Brüder mit „kulturellen“ oder „religiösen“ Gründen billigen, den professionell handelnden Lehrer in schwerste Bedrängnis. Sie verweisen auf neuartige Mischformen sozialer Randzonen in einer sich hektisch wirtschaftlich modernisierenden und dabei kulturelle Kollateralschäden willig oder naturwüchsig in Kauf nehmenden gesellschaftlich-politischen Öffentlichkeit.
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zweiten Ebene ins Auge springt, aber ausschließlich im Defizit-Fall mangelnden Arbeitsverhaltens des Schülers, ist die pädagogische Beziehungsparadoxie. Beim Blick auf diese Ebene zeigt sich rückwärtig, dass sie auch schon auf der ersten Ebene subtil wirksam ist. Der Schüler nämlich muss dort bereit sein zu lernen, was der Lehrer ihm anbietet. Der paradoxen Aufforderung „Lerne freiwillig, was ich Dir auftrage!“ ist demnach dort – im Gelingensfall – durch den Schüler selbst bereits Folge geleistet. Die Paradoxie ist dann „entparadoxiert“: und zwar durch den Schüler. Dass man die pädagogische Praxis zureichend durch das Handeln des Lehrers beschreiben könne – oder gar auf die Intentionen des Lehrers verkürzen dürfe – ist demnach eine bemerkenswert unzulässige Abstraktion, ein Denkfehler72oder zumindest eine Phänomenverkürzung. Der Denkfehler wird in der Praxis offen kundig, sobald die Gelingens-Voraussetzungen des erfolgreichen Unterrichts nicht mehr selbstverständlich gegeben sind. Auf der ersten Lehr-Lern-Ebene ist die Beziehungsparadoxie im Unterschied zu Konflikten auf der zweiten noch latent. Ein Blick auf die dritte Ebene zeigt, wie man auf der zweiten Ebene die Paradoxie (unzulässiger Weise) unkenntlich machen kann: was dann auf der dritten Ebene offen selbstwidersprüchlich wäre. Auf der zweiten Ebene kann der Lehrer nämlich im Prinzip dem Schüler drohen bzw. versuchen, ihm Angst einzuflößen. Was mit steigenden politisch unbewältigten Problemlagen für die Pädagogik und die Pädagogen immer bequemer zu werden scheint – die Drohung mit zukünftigen Nachteilen bei mangelndem Schulerfolg oder die entgegen gesetzte Verlockung – ist in Wirklichkeit eine pädagogische Bankrotterklärung.73 Die Arbeit mit der Furcht der Schüler bzw., umgekehrt, mit ihrem individuellen Ehrgeiz, ist wesentlich vormodern. Eliminiert ist „postmodern“ allerdings jedweder vormoderne Sinn der pädagogischen Obödienz: etwa der religiösen Tugend der „Demut“ oder einer Folgsamkeit gegenüber „Gottes Auftrag“. Auf der zweiten Ebene ist der Lehrer vielleicht versucht, sich formal vormoderner bzw. postmoderner Formen der Gewaltausübung zu bedienen, um Schüler dann doch noch zum Lernen zu „motivieren“ – auf der dritten Ebene ist das offen unsinnig, weil der dort in Erscheinung tretende Problemschüler sich außerhalb der Normen positioniert, innerhalb derer eine schulisch legalisierte 72 Es sei denn, die Verkürzung ergäbe sich zwangsläufig aus dem theoretischen Paradigma, das die Verbindung oder Begegnung von Individuen zu erfassen aus wissenschaftstheoretischen Gründen von vornherein sich weigerte. Ich gebe zu, dass es mir schwer fällt nachzuvollziehen, was z. B. die „strukturelle Kopplung“ „autopoietischer Systeme“ wirklich meinen kann, zumal ich ja dabei nicht auf persönliches Erleben zurückgreifen darf. Noch weniger leicht fällt es mir, den Sinn der Substitution alltagsweltlicher Begriffe der Pädagogik durch solche funktionalistischen Termini einzusehen. 73 Dass sich pädagogische Erfolgsmodelle, etwa „Elite-Schulen“, solcher Bankrotterklärungen befleißigen, ändert nichts an der Feststellung.
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strukturelle Gewalt wirksam werden könnte. Die vier von mir zuletzt beigebrachten Beispieltypen machen sogar deutlich, dass bestimmte schwierige Schüler selbst auf subkulturell anerkannte Formen einer Gegengewalt zurückgreifen können, die mit der verfassungslegitimierten Staatsgewalt offen konkurriert oder diese für ihre Zwecke funktionalisiert (wie insbesondere, aber nicht ausschließlich im Fall einer sozial rücksichtslosen Modernisierungsgewinner-Mentalität). Der Blick auf die dritte Ebene – die der sozialen Haltungen – offenbart also, dass eine Bejahung des modernen demokratischen Rechtsstaats und der in seine Verfassung eingegangenen Grundüberzeugungen auf der ersten Ebene – Inhalte-, Kompetenzvermittlung – immer mitgedacht ist. Ich habe oben darauf hingewiesen, dass dies allerdings schon aus dem Problem der Auswahl der möglichen Unterrichtsinhalte direkt ableitbar ist: Sie sollen ja kulturbedeutsam sein – Wolfgang Klafki sprach vom „Bildungsgehalt“. Was auf der zweiten Ebene als traditionsreiche Verführungsmöglichkeit von Pädagogen erscheint – Drohung bzw. narzisstische Verführung mit Erfolgsaussichten – erweist sich auf der dritten Ebene als pädagogischer Irrweg. Allerdings gilt für die dritte Ebene etwas Ähnliches wie für die zweite. Dass sie existiert, wird direkt erfahrbar nur im Konfliktfall, und eben nicht im Fall gelingenden Unterrichts. Die erste Ebene kann demnach die beiden anderen Ebenen verdecken. Die erste Ebene, als Ebene des Vordergrunds, bezieht ihren Sinn von der zweiten und diese ihren Sinn von der dritten Ebene. Ohne die beiden anderen Ebenen ist die erste Ebene sinn-los, ohne die dritte ist es die zweite. Deshalb wäre jede Beendigung reformpädagogischen Engagements beim „Lernen des Lernens“ verfehlt. Zugleich gilt: Wo die beiden „unteren“ Ebenen vorausgesetzt werden dürfen – sofern die Schüler bereits mit einem hinreichend entwickelten Arbeitsverhalten und einer hinreichend gefestigten kulturellen Grundhaltung in die Schule kommen – wirft pädagogisch angemessenes Handeln kaum nennenswerte Probleme auf. Die Grundschwierigkeit ist, und sie hängt direkt mit der Beziehungsparadoxie zusammen, dass die Probleme des Lehrerhandelns, wo sie auf der zweiten und erst recht auf der dritten Ebene auftreten, für den Lehrer nicht lösbar sind – obwohl seine Professionalität in der beharrlichen Bearbeitung solcher Probleme erst kulminiert. Nicht nur das. Die Beziehungsparadoxie, die schon auf der zweiten Ebene deutlich auftritt und auf der dritten nicht mehr mit Gewaltandrohung, Angsteinschüchterung oder Erfolgsverlockung verdrängt werden kann, führt unmittelbar die beiden anderen Bildungsparadoxien mit sich, deren Existenz ich im Anfangskapitel schon zu zeigen versucht habe. Schüler, die nur unzureichende oder offen kulturablehnend-asoziale Grundhaltungen mit in die Schule bringen, haben die Erfahrung einer glaubhaft demokratischen und demokratisierten, also humanen bzw. humanisierten Gesellschaft im Rahmen ihrer Aufwachswelten offen107
kundig nicht oder nicht hinreichend gemacht. Sie repräsentieren in gewisser Hinsicht die biographisch-personifizierten Auswirkungen disparitärer gesellschaftlich-realer Lebensbedingungen, die von ökonomischer Exklusion über soziale Segregation bis zu dadurch geförderter Fremdenfeindlichkeit reichen. In meinen Beispielen transformieren die Problemschüler (einschließlich emotional verwahrloster Modernisierungsgewinner-Kinder) allerdings ihr OpferSein in eine offene oder elitär verdeckte Täter-Rolle. Diese Verwandlung macht die pädagogische Aufgabe so schwierig: Das Opfer zieht jede erdenkliche pädagogische Anteilnahme auf sich, der Täter stellt aber die eigentliche Herausforderung dar. Ich habe oben schon angedeutet, dass das angemessene pädagogische Handeln nicht umhin kann, dem jetzigen Täter irgendwie schonend erfahrbar zu machen, dass er zuvor Opfer war, sein Leiden also in gewisser Weise zu wiederholen, auch wenn es in Verwöhnung bestand. Das schließt eine Form der indirekten Leidens-Zufügung voraus, die nicht wenige Pädagogen, sofern sie immerzu und umstandslos nur Gutes tun wollen, offenbar tief zu verschrecken geeignet ist. Verschont werden sie von solchem Schrecken durch die schlechte Utopie der pädagogisch-erbaulichen Beraterliteratur.
Konterkarierter Bildungsauftrag Im misslingenden oder, genauer gesagt, im aufgrund defizitärer sozialer Haltungen von Schülern gar nicht erst wirklich stattfindenden Unterricht erfährt der Lehrer an Leib und Seele, dass der gesellschaftliche Bildungsauftrag an die Schule so eindeutig nicht ist, als dass sich relevant große „Randgruppen“ ihm nicht doch entziehen bzw. ihn für irrelevant erklären könnten. Das heißt, dass es außerhalb der Schule gewisse sozialisationsrelevante Erfahrungsfelder geben muss, die den Bildungsauftrag konterkarieren. Die Gesellschaftsparadoxie habe ich oben so umschrieben, dass die Gesellschaft, um den Bildungsauftrag angemessen erteilen zu können, bereits hinreichend human oder gerecht organisiert sein muss. Meine obigen Beispiele sollten andeuten, dass diesbezügliche Defizite in zweifacher Hinsicht denkbar sind. Zum einen kann es geschehen, dass sich bestimmte Aufwachsmilieus Heranwachsender aus den allgemein geltenden Verkehrsverhältnissen herauslösen und ein parallelkulturelles Eigenleben zu führen beginnen. Zum anderen kann es sein – hierfür kann die Systemtheorie in besonderer Weise sensibilisieren – dass sich die Eigenlogik gewisser gesellschaftlicher Subsysteme so weit ausdifferenziert, dass sie sich nicht mehr in allgemeine Belange integrieren bzw. reintegrieren lässt.
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Die wirtschaftliche Globalisierung ist so beschreibbar, dass das ökonomische „Subsystem“ durch die politischen, traditionell nationalstaatlichen Organe nicht mehr hinreichend gesteuert werden kann. Die von ihm dabei erzielten Gewinne werden subsystem-logisch konsumiert (auffällig stark durch die führenden Manager), die zunehmenden Kollateralschäden, beginnend mit einer Massenarbeitslosigkeit in den fortgeschrittensten Industriestaaten jedoch auf das politische System abgewälzt, dessen Handlungsspielraum gleichzeitig durch Verminderung der Steuereinnahmen verkleinert wird. Damit beginnt ein verhängnisvoller Kreislauf, weil das öffentliche Funktionieren des gesellschaftlichen Subsystems Ökonomie nicht nur die Integration bestimmter Sozialmilieus erschwert (etwa von Gesellschaftsmitgliedern „mit Migrationshintergrund“), sondern auch sozial problematische Milieus durch „Neue Armut“ und „Neue Reiche“ erzeugt (Habermas 1985, 1998, Hartmann 2002). Bildet man diese Beobachtung auf einer diachronen Biographiedimension ab, so treffen Lehrer vermehrt auf Schüler, die aus problematischen, also gesellschaftlich unversöhnten Sozialverhältnissen – man könnte auch sagen: sub- oder parallelkulturellen Lebenswelten – stammen einerseits und/oder auf solche, die sich bewusst vorbereiten auf ein „erfolgreiches“ Leben in einer von sozialdarwinistischer Konkurrenz prädominierten Erwerbswelt. Das bedeutet, dass die Zahl von Schülern zunimmt, die das Beziehungsangebot, das der Lehrer durch seinen Unterricht macht, nicht mehr annehmen können ebenso wie die Zahl derer, die es von einem gewissen Alter ab nicht mehr wollen. Letztere treten dann vermehrt in der Schulform auf, die sich traditionell am selbstgewissesten auf „Bildung“ bezieht, um den Begriff dann elitaristisch auszuhöhlen. Auch im zeitgenössischen Gymnasium treten vermehrt Problemschüler auf. Entparadoxierungsunfähige bzw. entparadoxierungsunwillige Schüler stellen die Lehrer jedenfalls vor größte Probleme: Die Beziehungsparadoxie erfährt der Lehrer demnach als dimensioniert durch die Gesellschaftsparadoxie. Dass die Organisationsparadoxie die Problematik dann schulisch-konkret rahmt, versteht sich von selbst. Unser Schulsystem ist als solches schon durch seine Mehrgliedrigkeit mit den nahegelegten Delegationstendenzen von Anfang an auf die Bearbeitung der Paradoxien kaum eingerichtet, es fungiert im öffentlichen Bewusstsein eher zu ihrer Verschleierung. Wo es dies dann doch muss – in den Sonderschulen – führen diese ein gewisses pädagogisches Eigenleben. Ist es Zufall, dass sie in der Rede vom „dreigliedrigen“ Schulsystem verschwiegen werden? In der Logik der Gesellschaftsparadoxie können solche und ähnliche Kurzschlüsse gar nicht vermieden werden, jedenfalls so lange nicht, wie sich die Kluft zwischen demokratischer Verfassung und gesellschaftlich-alltäglicher Realität nicht weiter schließt als das bislang historisch geschehen ist. In der Konsequenz der Organisationsparadoxie verstärkt die Schule die Probleme, die au109
ßerschulisch verursacht sind, weit eher, als dass sie diese lösen könnte. Ihr Alltag verleiht der gerade deshalb unbedingt not-wenigen Lehrerarbeit bisweilen den dramatisch-aussichtslosen Charakter, den wir aus altgriechischen Mythen kennen. Allerdings bleibt im Vorgriff auf Kap. 5 festzuhalten, dass Lehrerkollegien, wo sie ernsthaft pädagogisch kooperieren, beachtliche Möglichkeiten zu einer pädagogisch-sinnvollen Ausgestaltung ihres Schullebens finden können. Diese wären allerdings nicht als „Auflösung“ der Organisationsparadoxie misszustehen – die es gar nicht geben kann –, wohl aber als produktiver Umgang damit: der den Schülern und nicht zuletzt den Lehrern selbst berufsbiographisch zugute käme. Die bisherige Darstellung macht die Komplexität des Lehrerberufs deutlich. Der Beruf setzt Kompetenzen voraus, die sich gut fördern bzw. lernen, also organisatorisch ausbilden lassen (bei hinreichend hoher Intelligenz) ebenso wie er Persönlichkeitsbegabungen umfasst, die schon vor der Ausbildung hinreichend entwickelt worden sein sollten – daher die halb berechtigte, halb mythische Rede vom „Charisma“, das man „hat oder nicht hat“. Der Blick auf diese letzteren Begabungen lässt deutlich hervortreten, dass der Lehrerberuf nicht nur strukturell schwierig, sondern strukturell kränkungsangst-bedroht ist. Mit diesem Gesichtspunkt, dessen Wirksamkeit schon bei der Darlegung seiner strukturellen Komplexität immer wieder mitlaufend deutlich wurde, werde ich mich noch eingehend beschäftigen. Festzuhalten ist, dass der Lehrerberuf in besonderer Weise in die gesellschaftliche Realität „verstrickt“ ist: wenn man zur gesellschaftlichen Realität auch die Sinngebungen und Illusionen hinzurechnet, die sich die Gesellschaft gesellschaftsöffentlich selbst angedeihen lässt.
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3 Der gesellschaftliche Bildungsauftrag an die Lehrer
Die Strukturanalyse des Lehrerhandelns erfolgte von vornherein unter Bezugnahme auf die Bedingungen eines neuzeitlichen und schließlich demokratisch verfassten gesellschaftsöffentlichen Selbstbewusstseins. Insofern war auch in der „synchronen“ Analyse ein Vorgriff auf die „diachrone“ Entwicklung neuzeitlichen Gedankenguts notwendig. Im folgenden Kapitel wird ein Bogen geschlagen von der Phase der theoretischen Konstitution des neuzeitlichen „Bildungs“-Denkens in der zweiten Hälfte des „pädagogischen“ 18. Jahrhunderts über die Phase der praktischen Einrichtung von mehrgliedrigen Schulsystemen im 19. Jahrhundert bis zur aktuellen Phase der Krise der Schulsysteme. Ich werde zeigen, wie die Einrichtung der modernen Schulsysteme im 19. Jahrhundert noch unter nationalstaatlichen, wenn nicht nationalistischen Vorzeichen erfolgt war. Unterlegt war sie durch die Wachstumsvorstellung, die es in breiten Bevölkerungskreisen mit ihren beeindruckenden technischen Innovationen und für jedermann erfahrbaren ökonomischen Fortschritten zu weltanschaulicher Glaubensgewissheit brachte. Die Neuerungen waren schließlich (wenn auch nicht ohne Kampf der Arbeiter) zunehmend mehr Menschen materiell zugute gekommen. Dieser von mir so genannte „Wachstumsmythos“ verliert, wie ich zuletzt zeige, durch die doppelte Zukunftsbedrohung in der ökologischen Krise und der Massenarbeitslosigkeit, die beide Mitte der 80er Jahre auf dem vergänglichen Höhepunkt ihrer öffentlichen Bewusstheit angekommen waren, kollektiv und ideell an Glaubhaftigkeit – und mit ihm die bis dahin von ihm getragenen Schulsysteme. Spätestens, wenn die mit den gesellschaftlichen Krisenentwicklungen überforderten nationalstaatlichen Politikregime mit der Auflösung ihrer Sozialsysteme beginnen, erfasst die Krise auch die Schule. Ich werde im kommenden Kapitel meine Ausführungen zur paradoxalen Bestimmung des „Bildungs“-Denkens aus dem vorangegangen Kapitel dazu nutzen, die Entwürfe der Bildungs-Klassiker und ihr Ringen um Lösungen der Paradoxien in Grundstrukturen nachzuzeichnen. Nachdem Rousseau die drei Bildungsparadoxien – die Beziehungs-, die Organisations- und die Gesellschaftsparadoxie – im Émile eindringlich vor Augen geführt hat, ringen jeweils
Kant, Schiller/Humboldt und Herder um deren angemessene theoretische Erfassung und um Konturen schulpraktischer Lösungs- bzw. Umgangsformen damit. Rousseaus Hoffnung auf die Natur wird von Kants Vertrauen in die Vernunft ersetzt, während Schiller und Humboldt sich entscheidende Vorgriffsmöglichkeiten auf eine menschenwürdigere Zukunft der Menscheit vom Rückgriff auf die klassische Antike versprechen. In Kapitel vier wird deutlicher werden, warum ich Herders Bildungsdenken für das angemessenste halte.
3.1 Entstehung des Bildungs-Denkens im 18. Jahrhundert Bestirnter Himmel über mir und moralisches Gesetz in mir Im „Beschluss“ seines moralphilosophischen Hauptwerks, der „Kritik der praktischen Vernunft“ und am Vorabend der Französischen Revolution schreibt Immanuel Kant einen berühmt gewordenen Text, mit dem ich meine Darstellung eröffnen möchte: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise suchen und bloß vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz. … Der erstere Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit als eines tierischen Geschöpfs, das die Materie, daraus es ward, dem Planeten (einem bloßen Punkt im Weltall) wieder zurückgeben muß, nachdem es kurze Zeit (man weiß nicht wie) mit Lebenskraft versehen gewesen. Der zweite erhebt dagegen meinen Wert als einer Intelligenz unendlich durch meine Persönlichkeit, in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart…“ (Kant 1967, 186, Herv. i. Or.)
Zunächst mag an diesem Text auffallen, dass die „Bewunderung und Ehrfurcht“, durch die der „bestirnte Himmel“ und das „moralische Gesetz“ das „Gemüt“ des Philosophen „erfüllen“, im Laufe seines Lebens zunehmen, jedenfalls sofern sich „das Nachdenken damit beschäftigt“. Diese Beobachtung, mit der Kant offenbar für jeden Menschen sprechen will, ist insofern bemerkenswert, weil die „Erfüllung“ des „Gemüts“ ja eigentlich nicht gesteigert werden kann – höchstens vielleicht dadurch, dass sich das „Gemüt“ selbst erweitern würde, oder dadurch, dass es im Laufe seiner Entwicklung „Bewunderung und Ehrfurcht“ immer intensiver zu spüren lernte. Es deutet sich hier so etwas wie ein Bildungs-Denken als Vorstellung einer Gemüts-Bildung an. Sie würde sich aus dem „Nachdenken“ über 112
jene zwei „Dinge“ entwickeln, die je unterschiedliche „Offenbarungen“ darstellen, die aber beide ins Unendliche gehen: die sichtbare materielle Welt und die „unmittelbar“ bewusste „Intelligenz“. Zu achten ist darauf, dass es bei Kant ums Nachdenken, nicht etwa ums Nachempfinden der Natur geht. Während das Innewerden der ersteren „mich“ auf die Wichtigkeit eines bloß materiellen Geschöpfs zurückwirft, das angesichts des unendlichen Universums nur unwichtig sein kann – ein kurzfristig personifizierter, sinn-loser Zufall – hebt „mich“ das nachdenkliche Bewusstsein der letzteren aus jedem der Sinnenwelt zugänglichen Leben heraus und in eine ganz anders geartete Existenz hinein, die sich als sinnerfüllt begreifen darf. Es ist die Existenz eines Wesens, das sich das universale Sittengesetz zueigen gemacht hat, das es sich selbst – autonom – gab, weil und nachdem es dies in sich angelegt sah und „unmittelbar mit dem Bewusstsein seiner Existenz“ „verknüpft“ hat. Kant fährt nun fort, für die „Behandlung der moralischen Anlagen unserer Natur“ einen Weg einzuschlagen, der nicht hinter das zu seiner Zeit bereits erreichte Niveau der Naturwissenschaften und der mit ihnen gegebenen Naturerkenntnis zurückfallen möge. Er fordert dazu „Wissenschaft (kritisch gesucht und methodisch eingeleitet)“. Sie sei die „enge Pforte, die zur Weisheitslehre führt“, die wiederum „Lehrern zur Richtschnur dienen soll, um den Weg zur Weisheit, den jedermann gehen soll, gut und kenntlich zu bahnen und andere vor Irrwegen zu sichern: eine Wissenschaft, deren Aufbewahrerin die Philosophie bleiben muß…“ (a.a.O., 188, Herv. i. Or.)
Kant kommentiert mit diesen Sätzen noch einmal die von ihm vorgelegte „Kritik der praktischen Vernunft“, die er, wie schon in der „Methodenlehre“ zuvor, unmittelbar an die von ihm entworfene Pädagogik anschließt. Mit diesen wissenschaftstheoretischen Bemerkungen greift er polemisch, (für seine Verhältnisse) geradezu ironisch, einige Zeitgenossen an, die seine Vorstellungen von Wissenschaft/Philosophie/Pädagogik nicht teilen. Er will deren „Genieschwüngen vorbeugen“ (a.a.O., Herv. i. Or.). Ich werde im Folgenden einige Gemeinsamkeiten zu zeigen versuchen, die Kant im Ausgangstext mit jenen kritisierten Zeitgenossen – allen voran: Johann Gottfried Herder – dennoch bei aller Polemik verbinden. Kants Text beginnt auffällig mit einer Spannung, weil „Bewunderung und Ehrfurcht“ aus einer Nüchternheit erwachsen, die sich mit der selbstverständlichsten Evidenz verbindet. Nun ist freilich „das moralische Gesetz in mir“ nicht auf dieselbe Weise zu „sehen“ und schon gar nicht „mit dem Bewusstsein meiner Existenz“ zu „verknüpfen“ wie jener „bestirnte Himmel“. So wenig die „Nüchternheit“ in beiden Hinsichten dieselbe sein kann, so wenig kann es die Evidenz sein, auf die Kant seine Moral (und seine Pädagogik) gründet. 113
Für Kant ist selbstverständlich, dass seine Wahrnehmung des Weltalls durch und durch neuzeitlich geprägt ist, sich also nicht mehr traditionalistisch orientiert. Er betrachtet die „äußere Sinnenwelt“ in einer Beobachterhaltung der „desengagierten“ Rationalität, wie sie seit der Frühaufklärung für naturwissenschaftliche Forschung charakteristisch ist. Diese Rationalität ist selbstdiszipliniert und vom subjektiven Gefühl befreit, ihre Gegenstände wiederum verweisen auf sich selbst und ihre inhärenten Gesetzmäßigkeiten, nach denen sie funktionieren. Sie verweisen nicht „über sich hinaus“, also auf transzendente Mächte und Kräfte, auch nicht auf eine „schöne Ordnung“74 oder ein permanentes göttliches Schöpfungseingreifen. In seiner „Kritik der reinen Vernunft“ hat Kant auf seine Weise fortgesetzt und zu begründen versucht, was die Frühaufklärer – wie Descartes, Galilei, Locke, Hobbes, Francis Bacon, Bayle, Diderot, Voltaire – begonnen haben, nämlich die Realitätswahrnehmung von subjektiven Wünschen und Sehnsüchten zu befreien. Abergläubische Voreingenommenheiten im Verbund mit Unmündigkeit und Autoritätshörigkeit sollten dadurch ebenso überwunden werden, wie man erwartete, dass sich dadurch die Vision einer humanen Welt und einer humanisierten Gesellschaft erst freisetzen lassen würde. Kants Text lässt sich nun gerade auch im Blick auf die Frühaufklärung kritisch lesen. Er läuft dann darauf hinaus, dass eine konsequente naturwissenschaftlichdesengagierte Realitätsbetrachtung, in der sich der Mensch lediglich der Natur entgegen setzt, ihn zugleich nötigt, sich selbst als Teil dieser von ihm objektivierten Natur zu sehen. Was immer er dann erkennt, und wie sehr auch immer sein Erkennen den eigenen Anschauungsformen und Verstandeskategorien folgt: Es läuft darauf hinaus, dass er zu einem bedeutungslosen Nichts schrumpft. Damit würde die Erkenntnis selbst sinnlos – geschweige denn dasjenige, das die frühaufklärerische Wende überhaupt erst motiviert hat: die Idee der Humanwerdung des Menschen in einer humanisierten Welt. So sehr Kant die Evidenz des moralischen Gesetzes betont, so gewiss ist sie für ihn eine andere als die der unendlichen äußeren Sinnenwelt. So sehr sie ihm gegeben sein soll, so sehr muss er sie sich doch, im Vollzug seiner Willensautonomie, erst noch zueigen machen: wovon die „Kritik der praktischen Vernunft“ eindringlich handelt. Wie immer man dies fassen will – dass im Menschen ein ihn Übersteigendes angelegt ist, das er sich erst noch zueigen machen muss – es setzt eine Zurück-Wendung des Subjekts auf sich selbst voraus, durch die es erst die Enge einer ego-zentrischen Welt und deren Sinnlosigkeit hinter sich lassen kann. Anders gesagt: Der bloße Blick des Subjekts auf sich selbst qua Objekt würde den Sinn liquidieren, den das Subjekt qua Subjekt sich selbst, seiner inne74 Wie man das Wort „Kosmos“ übersetzen könnte und wie etwa das aristotelische Weltverständnis zu interpretieren wäre.
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ren Spontaneität, seiner (mit Kant gesagt:) „Intelligenz“ in der Beachtung der Vernunftideen erst zu-erkennen bzw. immer schon zu-erkannt haben muss. Das neuzeitliche (also in einer posttraditionalen Welt lebende) menschliche Individuum wird demnach es selbst nur in einer – in ihm selbst angelegten – Selbstüberschreitung. Nur so wird es menschlich. Zu dieser Möglichkeit (die aus Kants Sicht evidentermaßen sein Wesen ausmacht) muss es sich entscheiden. Was Kant, so verstanden, mit den von ihm ironisierten „Adepten des Steins der Weisen“ mit ihren „Genieschwüngen“ verbindet, soll weiter unten noch deutlich werden können. Die angedeutete Selbstüberschreitung, die für Kant den Menschen erst zum Menschen macht, setzt die moralisch-existenzielle Anerkenntnis der sinnstiftenden „regulativen Ideen“ der „reinen Vernunft“ voraus: Welt, Seele, Gott. Der einzelne Mensch findet sich bei nüchternster Bewusstmachung dessen, was sein Erkennen stets über sich hinaustreibt, ohne dies je in Erkanntes überführen zu können, zu dessen Anerkennung genötigt – um dadurch erst mit sich identisch zu werden. Da jedem Menschen dieselbe naturhafte Ausstattung zur Selbsttranszendierung angeboren ist, findet sich der Einzelne zugleich in einer schicksalhaften Verpflichtung gegenüber all den Anderen vor. Sie füllt zumindest grundsätzlich, worin die je individuell auferlegte Verpflichtung ihre Handlungsmaxime findet: im moralischen Universalismus des „Kategorischen Imperativs“. Kants Text bezeugt seinen dezidiert aufklärerischen Versuch, die Aufklärung, die ich unter Frühaufklärung fasse, über sich selbst hinauszuführen. Das haben zu seiner Zeit – zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts – auch die anderen Theoretiker auf ihre Weise versucht, mit denen ich mich beschäftigen will. Was von Kant folgerichtig „Moralisierung“ genannt wurde, wird dann für sie ein zentraler Gesichtspunkt ihres Denkens: Bildung.
Zerbrechen des alten Weltbildes, Reformation und Renaissance Die Aufklärung hatte sich zum Ziel gesetzt, die Menschwerdung des Menschen und die Humanisierung der menschlichen Gesellschaft zu betreiben, eine Zielsetzung, die so in einer traditionalistischen Gesellschaft kaum möglich ist.75 Denn: Die Lebensperspektive der traditionalistisch sich verstehenden Menschen ist nicht nur durch die Vergangenheit – eben die Tradition – vorherbestimmt, sie ist auch wesentlich transzendentalistisch ausgerichtet; man könnte sagen: sie wird durch eine eher statische, dabei „vertikale“ Welt-Anschauung festgelegt. Was wichtig ist, was den Sinn des menschlichen Lebens ausmacht, ist nicht nur 75
Ich stütze mich im Folgenden vor allem auf Arbeiten von Charles Taylor (1983, 13-49, 1994) und Honneth (2000, 11-69).
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„von früher her“ vorbestimmt, es kommt auch wesentlich „von oben“. Deshalb verbirgt – und offenbart – sich hinter der sichtbaren Realität entscheidend eine unsichtbare, die zugleich mythisch in die sichtbare hineinwirkt. Man denke hier nur an den „Schutzengel“, der auch heute noch so manchen im Unglück rettet, das er als solches offenbar nicht hat verhindern können oder wollen oder an seine inzwischen obsoleten Antagonisten, die „Hexen“. Das traditionalistisch-mittelalterliche Welt-Bild war nicht nur mythisch, sondern auch geo-zentrisch organisiert. Nicht nur wölbte sich ein Himmel über die als Scheibe gedachte Erde – mit einer Hölle darunter –, vom Himmel wurde auch das Geschick über Welt und Menschen verfügt. Vom göttlichen Jenseits her war die Erde „Schöpfung“ – und ebenso war die Erlösung durch den Gottessohn „vom Himmel hoch“ gekommen, um am „Jüngsten Tag“ ein zweites und letztentscheidendes Mal vom Himmel aus über die Menschheit als ganze und das heißt zugleich auch, über jeden Einzelnen, wieder zu kommen. Dem Zerbrechen des geozentrischen Weltbildes folgten nicht zufällig die Hochzeit der Renaissance von Italien aus und die Reformation in Mitteleuropa. In der ersteren entdeckte der Mensch nicht nur seine irdische Schönheit, indem er sie am antiken Götterideal maß, es wurde auch das christliche Heilsgeschehen als Gesamtepoche bedeutend relativiert. Die heidnische Vorgeschichte Italiens und Griechenlands wurde dabei in ihrer Bedeutung für die Menschheitsentwicklung rehabilitiert bis hin in die demonstrative Wertschätzung des klassischen Lateins eines Cicero im Vergleich zum simplen mittelalterlich-kirchlichen „Küchenlatein“. Was als Verstärkung eines kulturgeschichtlichen Traditionalismus imponieren könnte, ist jedenfalls auch eine bedeutende Selbst-Relativierung der katholischen Christenheit gewesen. Die berühmtesten Renaissance-Künstler profitierten dabei von einem Kunst-Mäzenatentum, das aus dem frühkapitalistischen Fernhandel der oberitalienischen Städte erwachsen war; die Kunst diente auch insofern der Selbstdarstellung der weltlich Erfolgreichen – Ähnliches wäre in einer Welt der Gotik nicht denkbar gewesen. Durch die Reformation wiederum wurde das dramatische Erlösungsgeschehen seiner katholischen Zwischenglieder, der himmlischen und der irdischen, weitestgehend entkleidet. Nicht mehr Priester, Bischöfe oder sonstige kirchlichprofessionelle Helfer geleiteten den Gläubigen mit sakramentaler Hilfestellung vor das Angesicht Gottes, das durch dessen Hofstaat, etwa durch entgegenkommende Heilige bis hin zur Gottesmutter oder durch Engel von Schutz- bis Erzengeln eröffnet (oder auch zugestellt) wurde. Der protestantische Gläubige blickte insofern schon auf eine weit gehend entmythisierte Welt. Allerdings blieb er immer noch auf das jenseitige Leben „vertikal“ ausgerichtet, seine verstärkte Hinwendung zum profanen Leben war und blieb für ihn – Gottesdienst.
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Man könnte sagen, in der Reformation sei die Perspektive des Jenseits, die im Angesicht Gottes kulminiert, durch den Wegfall der katholischen Zwischenglieder noch weit unmittelbarer in das alltägliche Leben gerückt. Nicht nur, dass der gläubige Protestant allabendlich Gewissenserforschung betreibt – die katholischen Auflagen für den Durchschnittsgläubigen sind hier weit offener – es gibt auch kein zwischenzeitiges Aufatmen durch eine kirchenamtliche Absolution. Die Lutherische Frage, wie „ein gnädiger Gott“ zu „kriegen“ sei, gewinnt reformatorisch den Charakter einer religiös-existentiellen Dauer-Beunruhigung. Folgt man Max Weber, wird die religiöse Grundlage im Lauf der folgenden Jahrhunderte mehr und mehr aufgezehrt. Die psychische Ruhelosigkeit des seine Prädestination sich beweisenden calvinistischen Frühkapitalisten wird sich in der Folgezeit zu einem rein säkularen Kapitalismus verselbständigen, der als Wachstumsglaube im 19. Jahrhundert die frühaufklärerischen Visionen eines Francis Bacon umsetzen und die Etablierung von Bildungssystemen in allen fortgeschrittenen Gesellschaften tragen wird.
Frühaufklärung im Selbstwiderspruch Die Visionen der Frühaufklärung verbreiteten sich zum Ende des Dreißigjährigen Krieges als geistige Bewegung in ganz Europa, die sich insgesamt zwar von jedem konfessionell gebundenen Christentum löste, die allerdings zur Reformation weit stärkere Affinitäten aufwies als zum hergebrachten – imperialen – Katholizismus mit seinen starken mythischen Elementen. Die Hinwendung des Protestantismus zum profanen Leben wurde durch die Aufklärung insofern radikalisiert, als die Verfechter der letzteren sich von dem Projekt der SelbstHumanisierung des Menschen resp. der Gesellschaft, in der sie lebten, neuartig leiten ließen. Das „vertikale“ christlich-mittelalterliche und auch noch reformatorische Welt-Verständnis wurde damit durch seine „Horizontalisierung“ endgültig modernisiert. Insofern die Reformation bereits mit der Entmythisierung der Welt begonnen hatte, insofern sie – vorbildlich im Pietismus – beobachtbare Verwahrlosungserscheinungen Heranwachsender nicht als gottgewollt hinzunehmen gedachte, gab es hier Anknüpfungspunkte: vor allem also auf dem Feld der praktischen Humanität als dem Feld der Pädagogik. Der entscheidende Impetus der Aufklärung ist dabei, wie sich leicht zeigen lässt, von Anfang an von einem subtilen und tief reichenden Selbstwiderspruch bestimmt, den der obige Kant-Text auf seine Weise ausarbeitet. Ich will dies am aufklärerischen Gesellschaftsverständnis aufzeigen. Das sich auf seine menschlichen Gestaltungskräfte besinnende selbstbewusste Individuum, das Welt und Gesellschaft zu humanisieren sich anschickt, muss das bewusst utopisch gefasste 117
Ziel seiner Bemühungen – eben die humanisierte Gesellschaft – denkerisch vergegenwärtigen. Man kann das hiermit Gemeinte an zwei Fragen leicht illustrieren:
Der die wünschenswerte Humanisierung voraus-denkende Denker muss sich fragen, inwiefern er für Bevölkerungsmehrheiten einer Gesellschaft Ziele formulieren darf, die diese – gemäß seiner eigenen kritischen Einschätzung – gar nicht teilen können. Anders herum muss er sich fragen, wie sein eigenes HumanitätsVerständnis sich im Kontext einer inhuman lebenden Gesellschaft überhaupt hat entwickeln können.
Sieht man von Baruch de Spinoza ab, der das aufgeworfene Probleme vielleicht wie kein anderer erkannt, jedenfalls im Zuge seines ethischen Pantheismus sehr eigenständig bearbeitet hatte, dann tendierten die führenden Frühaufklärer insgesamt zu einer das Problem objektivistisch angehenden Lösung. Die erkenntnistheoretische Maxime der Selbst-Versachlichung, durch die sich beobachtungsförmiges „objektives“ Fakten- und Regelwissen gewinnen lassen sollte, musste das avantgardistisch-einsame Subjekt bereits als hinreichend vernunftfähig ansetzen, bevor es sich auf seinen Weg der vernünftigen Humanisierung der Objektwelt machte, die der Subjektwelt moralisch zugute kommen sollte. Anders gesagt, musste sich der aufklärerische Denker dann von Anfang an eine Humanität zusprechen (die er anderen absprach) um sie anschließend stellvertretend für jene diesen nahe zu bringen. Das scheinbar versachlichte Bewusstsein erschien demnach als anmaßend, ohne die eigene Prätention ernsthaft begründen zu können. Es ist in vielen geistesgeschichtlichen Darstellungen selbstverständlich, den Gesichtspunkt der „Individualität“ als charakteristisch für die Aufklärung und damit für die Neuzeit insgesamt zu erklären. Gewiss ist dieser „Individualismus“ eine charakteristische neuzeitliche Errungenschaft, ich möchte aber festhalten, dass er sich aufklärerisch ableitet aus dem „Projekt“ der Selbsthumanisierung der Menschheit, dass er also von Anfang an einem kollektiven – universalen – Sinn folgte. Die Entdeckung der Individualität ist einerseits der Humanisierung geschuldet, sie ergibt sich andererseits durch die neuartige Betonung eines distanzierten – selbstdiszipliniert die eigenen Sehnsüchte kontrollierenden – Zugangs zur Natur (oder sollte man sagen: Zugriffs?). Die Frühaufklärung setzt auf die (in diesem engeren Sinne verstandene) Vernunft-Entwicklung und kann dadurch die neuzeitliche Pädagogik entscheidend auf den Weg bringen: indem sie zugleich die Gesellschaftsparadoxie glaubt längerfristig entparadoxieren zu können. Denn der Fortschritt der individuell 118
situierten Vernunft soll die gesellschaftliche Selbsthumanisierung bewirken können. Das zentrale Problem, wie die Humanisierung des Menschengeschlechtes durch eine die Realität kritisch distanzierende Verstandes-Haltung avantgardistischer Einzelner vorangetrieben werden können soll – und wie dieses Ziel nicht gerade dadurch schon im Ansatz verfehlt werden muss – stellt sich nicht zufällig in der Pädagogik am schärfsten: die ihrerseits durch die aufklärerische Horizontalisierung der Welt-Anschauung aber überhaupt erst neuzeitlich und neuartig entsteht. Denn: dass der Pädagoge, bevor er dem Kind objektives Wissen oder objektivierendes Denken beibringen will, zu ihm eine Beziehung aufgenommen haben muss, setzt Rousseau voraus. Und auch, dass wenn dies in der frühesten Jugend versäumt würde, die Erfahrung einer möglichen Humanisierung menschlichen Miteinanders einen kaum wieder gut zu machenden Schaden im Bewusstsein des Heranwachsenden nähme. Diese Kritik betrifft also das frühaufklärerische Denken insgesamt und auch dessen Pädagogik, für die wie kein anderer Jan Amos Comenius steht. Mit Comenius beginnt die Geschichte der neuzeitlichen Pädagogik in der Fremde und insofern nicht nur beiläufig als „Utopie“ im Wortsinne. Die Geschehnisse des Dreißigjährigen Krieges haben den Böhmischen Bischof aus seiner Heimat vertrieben, wo viele seiner Glaubensgenossen ihr Leben haben lassen mussten. Comenius entwickelte im niederländischen Exil die Vision einer humaneren Gesellschaft, einer Heimat gebenden Menschheit, die hierzu aber ihr Schicksal von nun an selbst in die Hand nehmen müsse. Noch während des Dreißigjährigen Krieges verfasst Comenius seine „Didactica Magna“, in der er „alle alles auf allhafte“ (resp. „ganzheitliche“) Weise lehren will. In seiner Hochschätzung des Wissens erscheint Comenius als typischer Frühaufklärer. Er verbindet diese aufklärerische Einstellung mit einer im Ganzen christlich-reformatorischen (und dabei platonisch beeinflussten) Weltsicht. Bei vielen Aufklärern des 17. und 18. Jahrhunderts, insbesondere den englischen und mehr noch den französischen, löst sich die Idee, den Fortschritt der Menschheit aus Unmündigkeit und autoritärer Hörigkeit mittels des Wissens um die innerweltliche Natur der Dinge betreiben zu können, ausdrücklich aus dem christlichen Ursprung. Sie werfen der christlichen Religion, insbesondere in der katholischen und auch der lutherischen Form vor, von Menschen gemachte Verhältnisse mit dem göttlichen Willen zu begründen. Überhaupt liegt der Aufklärung ein Wechsel der welt-anschaulichen Einstellung zugrunde, wonach die lebensbedeutsamen Wahrheiten nicht länger aus geoffenbarten Schriften oder kirchlichen Traditionen, also aus der überirdischen Transzendenz, bezogen werden können, sondern in der innerweltlichen Natur aufgesucht werden müssen. 119
Schließlich war es auch dieselbe Heilige Schrift, auf die sich die wichtigsten Kriegsparteien des Dreißigjährigen Krieges jeweils berufen hatten: das hatte nicht nur die verschiedenen Konfessionen, sondern das Christentum in seiner Grundaussage des menschgewordenen Gottessohns unglaubwürdig gemacht. Damit hatte sich auch das Organ des Menschen zur Erlangung seiner wichtigsten Wahrheiten verlagert. Nicht mehr der – demütige – Glaube wie noch im katholischen Mittelalter oder bei Luther war es, der den Zugang zum Sinn und zur Wahrheit des menschlichen Lebens eröffnen können sollte, sondern fortan einzig die selbstbewusste Vernunft, sei es als sich aus Erfahrung empiristisch aufbauende, sei es als mit Strukturen rationalistisch bereits grundausgestattete. Wo das beginnende neuzeitliche Denken in pädagogisch-praktisches Engagement umgesetzt wurde, spielte vor allem der reformatorische Impuls – insbesondere unter pietistischem Einfluss – eine entscheidende Rolle. Beides zusammen – Aufklärung und Reformation – brachte die neuzeitliche Pädagogik vom 17. Jahrhundert an zunächst auf den Weg.76 Der bei Comenius noch theistisch vorgestellte christliche Gott wurde aufklärungs-typisch zum deistischen77 distanziert. Der Schöpfer bleibt dann in seinem Schöpfungswerk existent, aber der Erlöser mitsamt der das Erlösungswerk begleitenden und als solches kenntlich machenden Offenbarung verfällt der philosophisch-theologischen Kritik. In gläubigen reformatorischen Kreisen wiederum konnte sich die pietistische Herzensfrömmigkeit dem Elend durch Krieg und Not entwurzelter Gesellschaftsschichten, insbesondere den Verwahrlosungserscheinungen Heranwachsender nicht verschließen. Hierfür exemplarisch sind die „Stiftungen“ des August Hermann Francke in Halle zum Ende des 17. Jahrhunderts. Für diese Grundhaltung wird ein Jahrhundert nach Francke auch der von Rousseau beeinflusste christliche Pädagoge Heinrich Pestalozzi noch stehen. 76 Ich sehe an dieser Stelle von der pädagogikgeschichtlichen Bedeutung der Renaissance und des italienischen Humanismus ab, obwohl sie im deutschen Neuhumanismus eine bedeutende Wirkung ausübten (Grassi 1992). Der Mensch wird hier seiner Welt vorgängig-sinnlich verbunden und sprachlich eingewurzelt gedacht – eine desengagierte Naturbeobachtung oder gar -beherrschung erscheint allenfalls als sekundär. Das damalige Persönlichkeitsideal ist jedoch eher der quasi-aristokratische Geistesgebildete, der sich aus der Normalbevölkerung heraushebt und kontemplativen in seiner ästhetischen Geisteswelt lebt. 77 Der „(mono)theistische“ Gott hat sich in „Heiligen Schriften“ offenbart, der „deistische“ Gott hat seine Absichten in der Schöpfung selbst, also der äußeren und inneren Natur des Menschen kundgetan. In der Frühaufklärung kommt es auf die Erkenntnis und Beherrschung der äußeren Natur an, durch Rousseau verlagert sich der Fokus entscheidend auf die innere. Auch Kant vertritt einen Deismus, der den Akzent entscheidend auf die innere Natur des Menschen legt. Bei ihm heißt es: „Die Vorsehung hat gewollt, dass der Mensch das Gute aus sich selbst herausbringen soll, und spricht, so zu sagen, zum Menschen: >Gehe in die Welt,< - so etwa könnte der Schöpfer den Menschen anreden! - >ich habe dich ausgerüstet mit allen Anlagen zum Guten. Dir kömmt es zu, sie zu entwickeln, und so hängt dein eignes Glück und Unglück von dir selbst ab.< (Kant 1964, 702)
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Man kann beiden Bewegungen – Aufklärung und Reformation – gegen deren Selbsteinschätzung eine gemeinsame Grobrichtung nachsagen, insofern sich die betreffenden Menschen so oder so daran machten, ihre Welt selbst und selbstständig humaner zu gestalten – die einen im Auftrag, den ihnen der deistische Gott in ihrer natürlichen Vernunft, die anderen gemäß den Weisungen, die ihnen der Erlösergott in seinen Heiligen Schriften erteilt hatte. Achtet man eher auf die Unterschiede beider Richtungen, erscheint in der christlichen ein fundamentaler Zweifel an der Fähigkeit der Menschen, ganz aus eigener Kraft, im bloßen Rekurs auf die eigene Vernunft – und im ausschließlichen Rückgriff auf die darin angelegte Mitmenschlichkeit – die Dinge wirklich so human gestalten zu können wie es den eigenen Träumen entspricht. Ohne Erweckung einer Gottesfrömmigkeit – so lässt sich insofern die Einstellung der christlich-pietistischen Pädagogik zwanglos interpretieren – wird es keine dauerhafte Mitmenschlichkeit geben können. Nicht umsonst ist die reformatorische Hinwendung des Individuums unmittelbar vor das Antlitz Gottes bei Luther wie bei Calvin mit der Radikalisierung der Frage seiner Rechtfertigung verbunden – die anthropologische Skepsis bestimmt demnach auch jedweden pädagogisch-reformatorischen Neuansatz mit.
Romantische Aufklärung der Aufklärung: Jean-Jacques Rousseau Vor diesem Hintergrund78 erscheint der Entwurf des „Emile“ in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Denn einerseits betont Rousseau das aufklärerische Vertrauen an das naturhaft angeborene Gute im Menschen, andererseits aber trägt er dem genuin christlich-religiösen Einwand Rechnung, das Projekt der Aufklärung sei von Anfang an gefährdet durch die menschliche Selbstüberschätzung der „Machbarkeit“ der Welt. Für Rousseau besteht der Grundfehler aber nicht in der Missachtung des christlichen Erlösungsangebots, sondern in der verfehlten Vorstellung, sich aus der Natur herausdividieren zu können, um sie
78 Rousseaus geistesgeschichtliche Situation wird durch die französische Aufklärung geprägt, die ungleich radikaler und materialistischer auftritt, als es die stärker unter pietistischem Einfluss stehende Deutsche tut. Rousseaus soziokultureller Erfahrungshintergrund wird gleichzeitig durch das arrivierte Großbürgertum in (Genf und) Paris bestimmt. Die deutschen Rezipienten Rousseaus, mit denen ich mich unten beschäftigen werde, leben in weitaus „rückständigeren“ sozialen Verhältnissen, allerdings steht ihnen die französisch-materialistische Aufklärung in einigen ausgeprägten Vertretern am Potsdamer Hof des Preußenkönigs Friedrichs des Großen vor Augen. Ein erheblicher Teil ihrer Ablehnung der französischen Kultur hängt damit zusammen.
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hinterher nach eigenem Gutdünken zu beherrschen.79 Denn der Mensch, der die „äußere“ Natur objektiviere, habe seine „innere“ immer schon verraten und mit ihr das, was ihn allererst mit seiner Um- und Mitwelt verbindet. Der distanzierte intellektuell-wissenschaftliche Zugriff auf die darin objektivierte „Natur“ eröffne auch die Möglichkeit zu deren rücksichtsloser Nutzung für eigene Zwecke. Zygmunt Baumann beschreibt den hier gemeinten Grundwiderspruch folgendermaßen: „Die moderne Wissenschaft entstand aus dem überwältigenden Ehrgeiz, die Natur zu besiegen und sie menschlichen Bedürfnissen unterzuordnen. Die vielgerühmte wissenschaftliche Neugier, die angeblich die Wissenschaftler vorwärts trieb, „dahin zu gehen, wohin die Menschen sich bislang nicht wagten“, war niemals frei von der erfreulichen Vision der Kontrolle, Verwaltung und Verbesserung der Dinge (d. h. von der Vision, sie fügsamer, gehorsamer, dienstwilliger zu machen.) Ja, Natur bedeutete zunehmend etwas, das dem menschlichen Willen und der menschlichen Vernunft subordiniert werden sollte – ein passives Objekt zweckgerichteten Handelns, ein Objekt, das selbst zweckfrei war und deshalb darauf wartete, die Zwecke in sich aufzusaugen, die ihr von menschlichen Herren eingeflößt wurden. Der Begriff der Natur steht in seiner modernen Fassung im Gegensatz zum Begriff der Humanität, durch den er geschaffen wurde. Er steht für das Andere der Humanität. Er ist der Name für das Ziellose und das Bedeutungslose. Die Natur scheint, da ihr eine inhärente Integrität und Bedeutung abgesprochen wird, ein willfähriges Objekt für die Freiheiten des Menschen zu sein.“ (1995, 57, Herv. i. Orig.)
Durch seine Wendung, die als Begründung der Romantik gilt, steht Rousseau auch quer zum protestantischen Arbeitsethos (schon gar in dessen kapitalistischen Ausprägungen). Die Verbindung der inneren menschlich-subjektiven zur äußeren Welt ist bei ihm nicht über die gemeinsame Bezugnahme auf den Erlösergott, sondern rein durch den Schöpfergott garantiert. Insofern ist auch die Einbeziehung der nicht-menschlichen Natur deutlich stärker akzentuiert: Der alttestamentliche Auftrag an den Menschen, „sich die Erde untertan“ zu machen, diese also vorwiegend funktional zu betrachten, kann für Rousseau so nicht gelten. Schon ein distanzierter Blick auf den Émile offenbart weitere Besonderheiten des Rousseauschen Denkens und insbesondere seiner Pädagogik. Deren utopischer Charakter wird offen und auch indirekt mannigfach betont. Rousseau kann sich allein schon durch die Romanform Darstellungen erlauben, die buchstäblich unerhört und auf ihre Weise noch visionärer waren als es Comenius’ 79
So wie es von Descartes’ berühmten Cogito nahe gelegt wird: Das Einzige, das der Mensch sicher weiß, ist sein zweifelndes Denken. Damit wird die gesamte außerhalb des Bewusstseins liegende Realität einschließlich der göttlichen zunächst in Frage gestellt, also kritisch distanziert.
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immerhin sachbezogene „Große Didaktik“ hatte sein können. Im Roman lässt sich die Entwicklungsgeschichte des kleinen Waisenjungen erzählen – kein Elterneinfluss stört also das pädagogische Arrangement einer vollständigen „fürsorglichen Belagerung“ und auch keine persönliche Erfahrung, wie sie etwa Pestalozzi wenige Jahrzehnte später zu verarbeiten hatte. Der Roman ist also strikt als Geschichte einer Beziehung von Erzieher und Zögling konzipiert, der Autor kann seiner Phantasie freien Lauf lassen, indem er alle theoretischen Mutmaßungen über die Natur des Kindes etwa und wie sie sich fachmännisch zu sich selbst entwickeln lasse, ungestört unterbringen darf.80 Entscheidend an der Beziehungsgeschichte ist beides: dass es um eine enge Beziehung geht und dass das Kind sich erst dadurch in die richtige Richtung entwickeln kann. Dass jede anspruchsvolle, der Natur des Kindes angemessene Pädagogik immer eine engagierte Beziehung zum Pädagogen voraussetze, ist wohl das eigentlich Bahnbrechende des Rousseauschen Ansatzes. Gewiss ist der Emile seinem Erzieher regelrecht ausgeliefert, und dieser verfolgt auch mit beachtlicher Konsequenz, also erzieherischer Härte, seinen Auftrag. Allerdings: Dem Ausgeliefert-Sein des Emile geht eine Art Selbst-Auslieferung des Erziehers voraus. Den Auftrag, dem er so konsequent – als Anwalt der Natur des Kleinen – Folge leistet, hat er sich selbst erteilt oder sollte man sagen: muss ihm seine eigene Natur erteilt haben. So gesehen wäre es sogar die Natur des erwachsenen Erziehers, die zu ihrer Erfüllung des erzieherischen Umgangs mit dem Zögling bedürfte. Der Erzieher – als Prototyp des Erwachsenen schlechthin – bedarf dann der erzieherischen Beziehung zum Heranwachsenden. Der Erzieher begegnet im Zögling zugleich dem Kind, das er war, und das er – das ist nun wesentlich – er-innern muss, um sich nicht seiner eigenen Natur zu entfremden. Rousseaus radikale Zivilisationskritik steckt schon in seinem pädagogischen Arrangement einer „pädagogischen Provinz“, indem er die Erziehung fernab der großen Stadt stattfinden lässt, um den Heranwachsenden davor zu bewahren, so zu werden wie es die zeitgenössischen Erwachsenen geworden sind. Das Kind soll vor der gängigen Selbstentfremdung geschützt werden, die öffentlich als selbstverständliche Normalität gilt, es muss also zunächst und ganz grundsätzlich gegen den Einfluss der „normalen“ Erwachsenen abgeschottet werden. Der Erzieher hingegen, um Erzieher sein zu können, darf eben nicht der normalen Entfremdung anheim gefallen sein. Während er die Entfremdung der anderen angepassten Erwachsenen als solche durchschaut, müssen diese ihn umgekehrt für einen kauzigen Sonderling halten, vielleicht sogar für einen, den zweifelhafte 80 Rousseau liefert gerade darin ein Vorbild dessen, was die Pädagogik fortan (bis auf den heutigen Tag) bewegen wird bzw. soll: angeblich „praktische“ Beispiele ihres vorbildlichen Gelingens, die eine hervorragende Rolle in der Lehrerausbildung an den Hochschulen, in der Beraterliteratur und nicht zuletzt in den engagierten Medien spielen.
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Motive zu seinem Erziehungsverhältnis bewegen. Der Erzieher ist bei Rousseau demnach gesellschaftlich isoliert, auf allgemeines Verständnis oder gar öffentliche Unterstützung seines Handelns darf er wohl nicht hoffen.
Einfühlung Was nun sein Verhältnis zum Kind betrifft, so ist es durch zwei zusammengehörige Fähigkeiten ausgezeichnet – und hierin liegt eine weitere fundamentale Besonderheit: Er bedarf einer Rücksichtnahme auf das Kind, die man etwa als Einfühlung81 bezeichnen kann, und diese wiederum wurzelt, wie erwähnt, in der Erinnerung an das Kind, das er selbst gewesen ist, und das in ihm irgendwie lebendig geblieben sein muss. Denn das Kind weist seine eigen-sinnige Form des Menschseins auf. Sie gilt es, erzieherisch zu berücksichtigen und so zu fördern, dass sie kontinuierlich in erwachsenere Welt-Sichten und Selbst-Verständnisse hineinreifen kann, damit sie, bei aller sich entwickelnden Vernunft, sich nicht ihrer humanen Ursprünge entledigt. Der Rousseausche Erzieher begibt sich, wie schon angedeutet, in ein höchst dialektisches Verhältnis zum Kind, denn das gibt, was es bekommt, stets zurück, jedenfalls längerfristig. Der Eröffnung einer humanen biographischen Perspektive für das Kind korrespondiert die Bereicherung des Erziehers durch die lebendige Antwort des Kindes, das Beziehungs-Geschenk ist wechselseitig und weist auch darin immer über den Binnenraum der Beziehung selbst hinaus: weil es beide Partner verändert und dadurch Begegnungsmöglichkeiten mit zukünftigen Dritten, ja mit der ganzen naturhaften Welt, eröffnet. Festzuhalten ist freilich: Das Kind ist nach Rousseau schon mit einer tiefen Beziehungsfähigkeit auf die Welt gekommen, es ist spontan zur Kontaktaufnahme, sogar zur Identifikation mit den Lebewesen seiner Um- und Mitwelt imstande, gerade dann, wenn es diesen nicht gut geht und ohne dass es sie näher kennen muss. Das Kind, das des Erziehers bedarf, der sich seiner annimmt, erbarmt sich von sich aus spontan jedweder leidenden Kreatur, derer es mitfühlend ansichtig wird. Es ist von seiner innersten Natur her mitleidens-fähig, also genau das, was die auf ihren gesellschaftlichen Schein eitel bedachten und so miteinander konkurrierenden normalen Erwachsenen, wie Rousseau sie in Paris vorfindet, nach seinem strengen Urteil nicht mehr sind.
81 Das Wort soll von Herder, der von der Lektüre des Emile stark beeinflusst war, in seiner Bückeburger Zeit um 1774 erfunden worden sein in: „Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele“. „Einfühlung“ wurde 1909 ins Englische übersetzt mit dem Kunstwort „Empathy“ und ist inzwischen als Empathie wieder in die deutsche u. a. pädagogische Diskussion zurückgekehrt.
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Nur nebenbei halte ich fest, dass die Fähigkeit des Erziehers zu mitfühlendem Mitleiden auch bedeutet, dass die Entwicklung der angeborenen guten Vernunftnatur den Menschen zu einem Leben des Leidens am gesellschaftlichen Status quo disponiert – solange die Menschheit jedenfalls so sehr hinter den humanen Möglichkeiten zurückbleibt, die Rousseau in der Erziehung noch zur freien Entfaltung zu bringen versucht. Vielleicht könnte man sagen: Der Erzieher verwandelt sein Leiden an der entfremdeten Gesellschaft (deren Missachtung seines Tuns für ihn noch das geringste Problem ist) durch sein erzieherisches Handeln in Produktivität um und antizipiert in seinem Verhältnis zum Kind die Verkehrsformen einer besseren zukünftigen Welt.82
Seit Rousseau: drei Bildungsparadoxien Rousseaus Roman ist eine unerhörte Provokation gewesen, gewissermaßen eine literarisch-pädagogische Vorwegnahme der Französischen Revolution.83 Er warf zahlreiche Fragen auf, von denen ich drei Grundprobleme, die paradoxalen Zuschnitt haben, im Folgenden kurz herausgreifen möchte. Rousseaus Erzieher greift mit absichtlicher und mit absichtlich-nachhaltiger Wirkung in die Individualwerdung des Heranwachsenden ein. In gewisser Hinsicht wollen das auch die wissensvermittelnden Aufklärer und erst recht die pietistisch-frommen Erzieher vor ihm. Aber: Erstere rechnen mit einem kognitivistischen Automatismus im Sinne von: „Je mehr Wissen, umso weniger Autoritätshörigkeit und Aberglaube!“ Letztere folgen den Weisungen der Schrift. Erst bei Rousseau liegt demnach die volle Verantwortung in der Authentizität der Hinwendung des Erziehers zum Kind selbst. Diese wiederum ist aber (das wird noch unter Punkt zwei deutlicher) alles andere als gesellschaftlich selbstverständlich und auch die einfühlsamen Fähigkeiten in die Natur des Kindes, deren der Erzieher unerlässlich bedarf, sind es nicht. Das Problem des Erziehers ist demnach theoretisch-moralisch, wie er seinen Eingriff in die Persönlichkeit des Kindes begründen kann, den er als unerlässlich setzt und womit er sich die Fähigkeit zutraut, dies zum Wohl des Kindes nicht nur zu sollen, sondern überhaupt erst zu können. Sein praktisches Problem ist, 82 Oskar Negt, Gründer der alternativen Hannoverschen Glockseeschule, bezeichnet in seinem seinerzeit viel beachteten Aufsatz „Schule als Erfahrungsprozeß“ (1975, 36) das Schulprojekt als einen „Vorgriff über die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse hinaus“. Der Gesamtschulbewegung Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre lag insgesamt eine vergleichbar utopisch-optimistische Mentalität zugrunde. 83 Deren Verlauf hat Rousseau tragischer Weise auch negativ beeinflusst. Robespierre berief sich in seinem Wüten gegen „entfremdet-unnatürliche“ Personen, die er massenhaft guillotinieren ließ, auf Rousseau.
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dass er dem Kind eine Begegnung anbieten muss, auf die dessen Natur entspricht und auf die das Kind deshalb mit Akzeptanz antwortet. Letzteres kann er wollen – er muss es sogar – aber er kann es nicht erzwingen – er darf es nicht einmal erzwingen wollen. Diesen Schwierigkeiten die groß genug sein müssen, dass Rousseau Émiles Eltern sterben lässt, liegt die oben schon dargelegte Beziehungsparadoxie des pädagogischen Handelns zugrunde. Der Pädagoge will die Selbstwerdung des Heranwachsenden fremdfördern. Nach Rousseau erscheint die Paradoxie jedoch wie angedeutet dadurch aufhebbar, dass das Kind von Natur aus sozial eingestellt, man könnte auch sagen: begegnungsfähig und damit kulturfähig ist. Der Erzieher kann die Selbstwerdung des Kindes deshalb fremdfördern, weil dieses von Natur aus begegnungsoffen ist – also muss der Erzieher seinerseits sich dem Kind naturangemessen nähern.84 Die Paradoxie der Fremdförderung zur Selbstwerdung ist – nach Rousseau – unvermeidlich für jedwedes pädagogische Handeln und jedenfalls nur durch beider-seitige freiwillige Begegnung unter Rekurs auf die Natur des Menschen auflösbar. Von Rousseau her ist deutlich, dass diese Fremdförderung zur Selbstwerdung Heranwachsender umso konzentrierter in Angriff genommen werden muss, je not-wendiger dies gesellschaftlich erscheint. Allerdings gilt gerade dann: Je mehr eine gesellschaftliche Öffentlichkeit ihrer Humanisierung durch Erziehung bedarf, umso unfähiger ist sie, eine angemessenes öffentliches Bewusstsein hierzu zu entwickeln, geschweige denn: die angemessenen praktischen Schritte einzuleiten. Insofern gilt auch: Nur diejenige gesellschaftliche Öffentlichkeit könnte ein angemessenes Bewusstsein von Erziehung (oder Pädagogik oder Bildung usw.) entwickeln, die dessen nicht mehr bedürfte – weil ihr allgemeiner Umgang mit Heranwachsenden selber human wäre. Die Gesellschaftsparadoxie des pädagogischen Handelns ist demnach in der Romananlage des Émile klar gesehen, wonach die Gesellschaft, je nötiger sie die sie humanisierende Erziehung hat, umso unfähiger ist, diese zu wollen. Rousseau tritt damit das Erbe der Frühaufklärung an, in der das Problem erkannt wurde – allerdings, und gerade das macht Rousseaus Kritik aus – falsch aufgelöst (also „entparadoxiert“) wurde. Implizit beweist also der verfehlte Umgang der Frühaufklärung mit der Gesellschaftsparadoxie deren Virulenz. Wäre das aufgeklärte Pariser Bürgertum zu humanisierender Erziehung fähig, müsste Rousseau seinen Émile nicht vom normalen gesellschaftlichen Leben absondern.
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Man kann mit Rousseau und den Romantikern sagen, der Mensch sei „von Natur aus“ ein Kulturwesen, was aber zugleich kultur-kritisch gemeint ist: Die Kultur muss „natürlich“ sein bzw. erst noch werden.
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Die gesellschaftliche Paradoxie schlägt wie angedeutet unmittelbar in den ersten Problemzusammenhang zurück. Wie soll der gesellschaftlich als Außenseiter agierende Erzieher eine ruhige, mitfühlende Haltung ohne eitles Sendungsbewusstsein, aber im Gespür für die wahren Naturanlagen des Menschen entwickeln können – wenn er sich dabei prinzipiell ausschließlich auf ebendieses individuell-subjektive eigene Gespür verlassen muss? Schließlich sieht er ja, dass die nach seiner Überzeugung entfremdet lebenden, fühlenden und handelnden erwachsenen Zeitgenossen sich selbst jedenfalls nicht als entfremdet einstufen würden (sondern etwa als realistisch, illusionsfrei o. Ä.) Das Gesellschaftsproblem hat noch eine praktische Seite, womit ich bei der dritten Paradoxie bin. Nach Rousseau ist ja die naturgemäße Erziehung etwas, das nicht nur einzelnen privilegierten Kindern zukommen darf85 – sie muss vielmehr allen zukommen können. Demnach müsste die gesellschaftliche Öffentlichkeit in großem Stil pädagogische Provinzen einrichten, die nun in zugebilligter Subversivität gerade nicht der öffentlichen Organisationslogik folgen dürften: Sie müsste die Einrichtung solch gesellschaftsabweichender Anstalten („Schulen“) den geeigneten Erziehern überlassen, ohne, beispielsweise, über öffentlich teilbare Kriterien zu verfügen, wie sich geeignete von ungeeigneten Erziehern trennen ließen und ohne eigentlich selbst geeignete Erzieher in größerer Zahl als „normale“ Erwachsene hervorbringen zu können usw. Das alles läuft auf Schwierigkeiten hinaus, die realistisch nicht lösbar erscheinen. Auf die zwei Seiten der Organisationsparadoxie wurde oben schon hingewiesen. Je humanisierungsbedürftiger die Gesellschaft ist, umso bildungsunangemessener wird sie ihr Schulsystem organisieren. Zugleich gilt, dass angemessene Erziehung nicht selbst organisiert werden kann – weil sie in interpersonaler Begegnung wurzelt. Fasse ich die drei Punkte zusammen, dann ergibt sich: Der Rousseausche Erzieher will dezidiert die Selbstwerdung des Zöglings (jedes Zöglings als umfassende gesellschaftliche Aufgabe) fremdfördern, ohne für seine erzieherischen Absichten auf ein öffentliches gesellschaftspolitisches Verständnis rechnen oder auf echte organisatorisch-praktische Unterstützung zumindest im Sinne von förderlichen schulischen Freiräumen zurückgreifen zu können.
Die notwendige Fremdbestimmung des Zöglings bei Kant Rousseaus Schrift muss sich wie ein Lauffeuer verbreitet haben. Als Johann Gottfried Herder 1764 Königsberg verlässt, hat er schon bei seinem Lehrer Im85 Es ist schon makaber, dass „Émile“ durch seine Eigenschaft als Waisenkind pädagogisch privilegiert ist. Man wird darin auch unbewusste biographische Reminiszenzen Rousseaus sehen müssen.
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manuel Kant den „Émile“ studiert. Kant und Herder repräsentieren auch prominent – jeder auf seine Weise – wie man mit den von Rousseau aufgeworfenen Forderungen und Problemstellungen umgehen kann. Wollte man Kants eigene Position und darin seine Stellungnahme zu Rousseau86 in aller Kürze skizzieren, könnte man vielleicht zunächst auf das enge Aneinanderstoßen von anthropologischem Pessimismus (wie er eher christlichprotestantischem Denken entspricht) und Optimismus (wie er für viele Aufklärer typisch ist) verweisen. Das Kind (jedes Kind87) kommt bei Kant mit einer vollständigen Anlage zur Vernunft auf die Welt – die in seinem ersten Lebensjahrzehnt noch stets abrufbar erscheint. Gleichzeitig aber ist diese Vernunft nicht voll entwickelt, weil das Kind in den ersten Lebensjahren seiner Sinnlichkeit spontan folgt, die durchaus der menschlichen Anlage zur „Tierheit“ entspricht. Die Sinnlichkeit muss erst gezähmt werden, damit die Vernunft sich danach entfalten kann. Diese Zähmung kann nun das Kind selbst gerade nicht leisten, es bedarf hierzu des Pädagogen, der als Advokat der Vernunft die Sinnlichkeit des Kindes gegen dessen kindhaft-unvernünftige Bedürfnisse unterdrückt.88 Hat er dies im Sinne einer gelingenden Erziehung langjährig-erfolgreich praktiziert, kann der Heranwachsende zunehmend seine eigene Vernunft gebrauchen, um seine Sinnlichkeit fortan selbst zu zügeln und ein Leben im Sinne des „Sittengesetzes“ zu führen. Wie Kant es sich genau vorstellt, ob überhaupt und wie die Vernunft als solche direkt „erzogen“ werden kann oder soll, ist schwer nachzuvollziehen.89 86
Direkt zu pädagogischen Fragen hat Kant sich zweimal geäußert: in der posthum erschienenen Vorlesungsnachschrift „Über Pädagogik“ (1964) und in der „Methodenlehre zur Praktischen Vernunft“ (1967). 87 Kant (1967) illustriert dies am Beispiel eines „Knaben“, so wie auch seine philosophisch gesonnenen Erzieher „Männer“ sind. 88 Die von der Spätromantik und der Reformpädagogik bevorzugte Metapher vom Pädagogen als Gärtner kann man für Kant durchaus anwenden: Der Pädagoge unterdrückt die triebhaften Neigungen wie der Gärtner das Unkraut entfernt, damit sich die Vernunft ähnlich wie die langsamer wachsende Zierpflanze entwickeln kann. Kant hat auch kein Problem, die organisationsbezogene Paradoxie („Erziehung muss organisiert werden, kann aber nicht organisiert werden“) zu entparadoxieren, weil das Individuum der anstaltsmäßigen Zucht (=Schule) bedarf. 89 Anton Hügli (1999) stellt zunächst eine „Doppeldeutigkeit“ fest. Sie „besteht darin, dass Kants Terminus >Mensch< sowohl das Individuum wie auch das Kollektivum >Menschheit< meinen kann, und sie zeigt sich in der Frage, wie genau man es nimmt mit der Identität des Menschen, der macht, und des Menschen, der gemacht wird.“ (40) Sodann nimmt er Bezug auf den bekannten Kantischen anthropologischen Dualismus vom Menschen „als Bürger zweier Welten“: „Die völlige Unabhängigkeit des intelligiblen Willens von allen empirischen Ursachen bedeutet konkret: Der intelligible Wille ist durch keine andere, außerhalb von ihm liegende Ursache zu beeinflussen, weder durch Belohnung und Bestrafung noch durch innere Triebfedern wie Ehrbegierde, Selbstliebe oder Mitleid. Durch keine andere (außerhalb von ihm stehende) Ursache heißt aber auch: durch keine pädagogische Handlung anderer.“ (48)
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Für die vorliegende Erörterung reicht vielleicht der Hinweis, dass in der Folge von Kants idealistischem Vernunft-Konzept einerseits und seiner dualistischen Anthropologie andererseits eine Auflösung des von Rousseau aufgeworfenen Zentralproblems jeder neuzeitlichen Erziehung erreicht wird: wie sich der bewusste Eingriff in die Persönlichkeit des Heranwachsenden rechtfertigen ließe. Was die Paradoxie der Interaktion Erzieher-Zögling betrifft, so zählt seine Formulierung zu den meistzitierten Pädagogik-Texten überhaupt. Sie lautet: „Eines der größesten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne. Denn Zwang ist nötig! Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange? Ich soll meinen Zögling gewöhnen, einen Zwang seiner Freiheit zu dulden, und soll ihn selbst zugleich anführen, seine Freiheit gut zu gebrauchen. Ohne dies ist alles bloßer Mechanism, und der der Erziehung Entlassene weiß sich seiner Freiheit nicht zu bedienen.“ (1964, 711)
Selbst wenn man das harte Wort „Zwang“ vermeidet und durch ein weicher scheinendes ersetzt, bleibt für Kant der paradoxe Sachverhalt klar, dass sich die Freiheit (bzw. Mündigkeit) des Heranwachsenden nur als fremdbestimmt mit ermöglichte entwickeln kann. Die Selbstwerdung der individuellen Freiheit ist nur vermittels Fremdförderung durch Erzieher möglich. Zwar kann das Kind dies zunächst kaum wirklich wollen, aber hinterher – wenn sich seine Vernunft entfaltet hat – wird es dem strengen Erzieher dankbar sein. Die auf die Interaktion Erzieher-Kind bezogene Paradoxie einer Fremdförderung zur Selbstwerdung kann deshalb von Kant mithilfe seiner „Vernunft“Vorstellung mühelos entparadoxiert werden. Von Kant her erscheint demzufolge die zeitweilige Fremdbestimmung des Zöglings durch den Erzieher nicht nur erlaubt, sondern absolut notwendig, damit die Vernunft des Heranwachsenden überhaupt lernen kann, sich von der Sinnlichkeit selbst zu befreien. Die Verschiebung gegenüber Rousseau von der „Natur“ zur „Vernunft“ durch Kant hat dabei mehrere Konsequenzen. Erstens wird die Schwierigkeit Rousseaus, wonach der erwachsene Erzieher ja nicht mehr die unverdorbene Natur des Kindes ohne weiteres in sich selbst zum Richtmaß seines Handelns machen kann, scheinbar aufgelöst, ebenso wie im Interaktionsverhältnis Erzieher-Zögling bei Kant alle symmetrieähnlichen Vorstellungen ausgemerzt werden. Sodann vereinfacht sich auch innerpsychisch das Geschehen (im Erzieher), denn das Gefühl (etwa für die individuellen Bedürfnisse des Kindes) scheidet als möglicher Kandidat eines Zuganges zur Vernunft aus. Der gute Erzieher ist nichts anderes als ein Philosoph (Kantischer Denkart), der das Sittengesetz vertritt.
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Die nur durch Zuspitzung auflösbare Gesellschaftsparadoxie Damit nun hat Kant ein Rousseausches Zentralproblem theoretisch gelöst, während er sich in das nächste unlösbar zu verstricken scheint. Wie soll sich – man denke etwa an die absolutistisch-merkantilistische Staatsordnung ausgangs des 18. Jahrhunderts – die Handvoll Philosophen der Kantisch-korrekten Denkungsart politisch so in Szene setzen können, dass sie letzten Endes die gesamte Gesellschaft durch ihre sittengesetzlich-angemessene Erziehung zu einer vernünftigen machen, also humanisieren könnte? Tatsächlich sieht Kant die von mir so genannte gesellschaftliche Paradoxie in aller Schärfe, er spitzt sie gegenüber Rousseau eher noch zu. Sie erscheint bei Kant in indirekter aber überdeutlicher Formulierung: „Ein Prinzip der Erziehungskunst, das besonders solche Männer, die Pläne zur Erziehung machen, vor Augen haben sollten, ist: Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglich bessern Zustande des menschlichen Geschlechts, das ist: der Idee der Menschheit, und deren ganzer Bestimmung angemessen, erzogen werden. Dieses Prinzip ist von großer Wichtigkeit. Eltern erziehen gemeiniglich ihre Kinder nur so, daß sie in die gegenwärtige Welt, sei sie auch verderbt, passen. Sie sollten sie aber besser erziehen, damit ein zukünftiger besserer Zustand dadurch hervorgebracht werde. Es finden sich hier aber zwei Hindernisse: 1) Die Eltern nämlich sorgen gemeiniglich nur dafür, dass ihre Kinder gut in der Welt fortkommen, und 2) die Fürsten betrachten ihre Untertanen nur wie Instrumente zu ihren Absichten. Eltern sorgen für das Haus, Fürsten für den Staat. Beide haben nicht das Weltbeste und die Vollkommenheit, dazu die Menschheit bestimmt ist, und wozu sie auch die Anlage hat, zum Endzwecke. Die Anlage zu einem Erziehungsplane muß aber kosmopolitisch gemacht werden.“ (a. a. O., 704)
Das Fazit der Passage lautet, knapp gesagt, dass alle „normalen“ Erwachsenen unfähig sind, Kinder angemessen zu erziehen. Eltern passen ihre Kinder an bestehende Verhältnisse an, ganz gleich wie „verderbt“ diese auch seien. Fürsten (also die Repräsentanten der Staatsmacht, die über die Mittel zur Einrichtung öffentlich-schulischer Erziehung verfügen) funktionalisieren ihre Untertanen. Dennoch ist für Kant auch die gesellschaftliche Paradoxie entparadoxierbar. Zwar kann nach Kant in einer Gesellschaft unmündiger Erwachsener keine gescheite Erziehung eingerichtet werden – jedenfalls nicht von der Bevölkerungsmehrheit und auch nicht von „unaufgeklärten“ Fürsten. Im Prinzip reicht für Kant aber ein einziger, „der Idee des Weltbesten“ fähiger Pädagoge, um auf Dauer das Licht der Aufklärung in den Menschen anzuzünden: weil es ihr wahres inneres Wesen ist und weil man es in jedem Kind noch leicht entzünden kann. Zwar sind einzig philosophisch (im Sinne Kants) gesonnene „Männer“ als Pädagogen geeignet: weil sie der utopischen und kosmopolitischen Vision einer 130
zukünftig humaneren Menschheit fähig sind; aber die in jedem Kind noch unentfremdete Vernunft kann von ihnen zwanglos angesprochen und zum Leben erweckt werden. Die Kinder werden sich dann später nicht mehr in die Unmündigkeiten der bestehenden Erwachsenen-Welt hineinfügen, sie werden eine bessere, humanere Gesellschaft begründen.90 In Kants Konzept wird pädagogisches Handeln entscheidend wichtig für die Humanisierung nicht nur jedes Heranwachsenden, sondern für das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen insgesamt. Pädagogik wird zum Motor des ursprünglich aufklärerischen Selbsthumanisierungs-Projekts der Moderne. Dabei wird Pädagogik von Kant radikal-paradoxal definiert, was direkt mit ihrem bewusst „utopischen“ Charakter zusammenhängt. Durch seine VernunftVorstellung kann er die beiden Paradoxien aber auch konsequent entparadoxieren. Man kann sogar sagen: Nur eine Pädagogik, die sich beiden Paradoxien in aller Schärfe stellt, verdient für Kant überhaupt ihren Namen – alles andere wäre Anpassung der Heranwachsenden an bestehende Unmündigkeit. Umgekehrt gilt: Nur wo die Paradoxie ausgehalten wird, dass nämlich gute Erziehung von Philosophen betrieben wird, kann sie auch aufgelöst werden. Denn: Die Anlage zur Vernunft mag in noch so vielen zeitgenössischen Erwachsenen unentfaltet geblieben (Kant spricht von „Rohigkeit“, 1964, 701) oder sogar zu einer Egozentrik entfremdet worden sein (Kant: „Wildheit“, a. a. O.) – mit jedem Kind kommt sie aber als noch unverwüstete Anlage neu auf die Welt. Sie ist wie ein Same, der aufgehen muss, wenn nur das Sonnenlicht bereits freigesetzter Vernunft auf die ihn umgebende Erde fällt. Wo der erste Philosoph, der die Wahrheit des Sittengesetzes erkannt hat, seine Botschaft verbreitet, wird die Vernunft in seinen Zuhörern sich entwickeln können, ja müssen – weil sie deren wahrem Wesen, ihrem intelligiblen Sein entspricht. Es ist also das Sittengesetz selbst in den Menschen, jedenfalls in allen Kindern, das dem Philosophen-Erzieher sein Mandat erteilt. Man könnte auch sagen: Es ist die zukünftige Gesellschaft, die die erzieherischen Eingriffe legitimiert, ja erfordert. Der philosophisch ausgerichtete Erzieher hat die gegenwärtige Erwachsenenwelt und deren offenkundige Unmündigkeit nicht zu fürchten,91 genau gesagt sogar nicht zu beachten. Kant löst also die gesellschaftliche Paradoxie konsequent auf – sie ist „nur“ ein Problem der normalen Menschen (von Eltern bis zu Fürsten), nicht des visionär-utopisch handelnden Pädagogen. Für ihn ar90 Kant stellt sich allerdings vor, dass das seine Zeit braucht und eine Generation die nächste erziehen muss (1964, 702). 91 Diese Furchtlosigkeit hängt allerdings untrennbar mit Kants moralischem Rigorismus zusammen. Man beachte, dass der sittengesetzlich handelnde Mann in seinem pädagogischen Musterbeispiel (1967, 178f) die Zerstörung seines irdischen Lebens durch ein gesellschaftspolitisch lückenloses Netz von bösartig-intriganter Gewalt nicht fürchtet. Wenn er etwas fürchten würde, dann wäre dies der Verlust seiner Moralität, d. h., seines wahren, „intelligiblen“ Mensch-Seins.
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beitet die Vernunft in den Kindern gemeinsam mit der Zeit, weil sich von Generation zu Generation die vernunftgemäße Erziehung verbreiten wird.
Zuchtanstalt Primarschule – Ausflösung der Organisationsparadoxie Was die dritte Bildungsparadoxie angeht, dass gute Erziehung nämlich zwar irgendwie gesellschaftsdeckend für alle Kinder organisiert werden müsste, in ihrem Wesen – als enge Beziehung – aber nicht organisierbar sein kann, so ist diese für Kant erst recht leicht lösbar. Denn erstens gilt es ja für den Erzieher gerade nicht, dass er sich auf die individuellen Bedürfnisse des Kindes besonders einzustellen habe. Die Vernunft hat in Form des Kategorischen Imperativs einen strikt transindividuellen Charakter, ebenso wie sie umgekehrt die Freiheit von den ego-zentrischen Neigungen voraussetzt. Zweitens muss die Kantische Erziehung unbedingt anstaltsförmig, also „schulisch“, durchgeführt werden, jedenfalls so lange noch Eltern ihre eigene Unmündigkeit als kurzschlüssige Aufstiegsorientierung ihren Kindern anerziehen. Da Schule einerseits sein muss, andererseits es dort auf Begegnung oder Einfühlung gerade nicht ankommen darf, wird die dritte Bildungsparadoxie, die bei Rousseau noch zu den Seltsamkeiten der individualisierten pädagogischen Provinz geführt hat, bei Kant problemlos liquidiert. Wollte man Kants Antwort auf Rousseau nach den zu vermutenden Anwendungs- bzw. Popularisierungsmöglichkeiten sondieren, dann ließe sich auch hier ein hartes Beieinander höchst kritischer, sich gegen jede Vereinnahmung sperrender, und „bequemer“, also politisch leicht popularisierbarer Gesichtspunkte ausmachen. Kant verwirft rigoros jede Pädagogik, die ihren Fokus auf Nützlichkeit und damit gesellschaftliche Funktionalität oder Anpassung legt. Pädagogik ist Moralerziehung oder sie ist keine. Pädagogik ist Aufgabe einer gesellschaftlichen Elite – der Philosophen – und keineswegs der alltagsweltlichen Praktiker oder gar der Techniker. Pädagogik ist „kosmopolitisch“-universalistisch anzulegen und dabei bewusst utopisch. So weit, so sperrig. Andererseits ist nach Kant pädagogisch strenges Handeln nicht nur unabänderlich, es ist auch – im Vergleich zu Rousseau – keineswegs von der Einfühlung des Erziehers, sondern ausschließlich von seiner vorbildlichen Moralität, schon gar nicht von der aktuellen Zustimmung des Zöglings abhängig. Die Rousseauschen Komplikationen, wann der Verstand zu entscheiden und wieweit das Gefühl zu assistieren habe, entfallen. Kant hegt die Vorstellung, dass eine erziehungswissenschaftliche Bestandsaufnahme des jeweilig pädagogisch schon Bewährten möglich und generationsübergreifend fortschrittsfördernd sein wird. Da Kant gegenüber der Sinnlichkeit von unerbittlicher Strenge ist, bestätigt er 132
ganz die christlich-traditionalen Erziehungs-Vorstellungen: die einerseits sowohl reformatorisch als auch andererseits durch ein aufstiegsehrgeiziges Bürgertum unter (früh)kapitalistischen „Leistungs“-Gesichtspunkten womöglich noch historisch verstärkt worden sind. In der pädagogische Tradition, vom implementierten Schulsystem bis zur üblichen erziehungswissenschaftlichen Theoriebildung, wurde Kant nachhaltig bis auf den heutigen Tag durch seine scharf zweistufige Entwicklungstheorie wirksam, wonach das Kind stets der Zucht bedarf, bevor es – nach erfolgter erfolgreicher Einflussnahme des Erziehers – in die Phase der „Moralisierung“ eintreten kann. Die Stufenfolge „Erziehung“/“Bildung“ verdankt sich einer Dualisierung, die dem Kantischen Denken korrespondiert. Wird beides auf ein mehrgliedriges Schulsystem projiziert, ergibt sich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit, dass letzteres einer Minderheit vorbehalten bleibt: was selbstverständlich gerade nicht in Kant Sinn lag.
Kants theoretische Pseudo-Entparadoxierungen Kant bestätigt nachdrücklich die Bedeutung der drei Paradoxien, die sich aus Rousseaus Entwurf ergeben. Er bestätigt sie offensiv, indem er sie gleichzeitig lösen zu können glaubt. Was bei ihm als theoretische Lösung erscheint, stellt sich zugleich als gesellschaftspolitische und schulpädagogisch-praktische Aufgabe auf unbestimmte Zeit dar. Damit die Öffentlichkeit dies durchhalten kann, bedarf sie der Vision ihrer eigenen – besseren – Zukunft, die ihrerseits eine Art Glaube voraussetzt. Bei Kant soll der Glaube aus der Einsicht der kritischen Vernunft, also aus der Philosophie selbst stammen – das erscheint den meisten anderen bildungstheoretisch wirksamen Zeitgenossen Kants nicht nachvollziehbar. Festzuhalten bleibt, dass Kant die Existenz der pädagogischen Paradoxien bestätigt, indem er sie einer Lösung zuführt, die rein theoretischer Natur ist. Rousseaus Ausweg in die Romandarstellung führt bei ihm in eine abstrakte Theorie, die doch von der gesellschaftlichen Öffentlichkeit irgendwie umgesetzt werden können soll. Verwirft man Kants theoretische Lösung als „Pseudo-Entparadoxierung“, bleiben dennoch die Paradoxien – und zwar unlösbar – bestehen. Man könnte von Kant (und schon von Rousseau) lernen, dass die neuzeitliche theoretische Pädagogik dazu neigt, die von ihr selbst unumgänglich aufgeworfenen Paradoxien – eben weil es Paradoxien sind – vorschnell und am Schreibtisch zu entparadoxieren.
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Rückgriff auf die klassische Welt als Vorgriff auf die zukünftige Friedrich Schiller hat sich noch weit stärker als Wilhelm von Humboldt von Kant beeinflussen lassen, aber auch er greift nicht ausschließlich auf die idealistische Evidenz der Vernunft zurück. Beide beleben stattdessen das Erbe der Renaissance (Grassi 1992, VIII). Eine Kantisch sinnlichkeitsbereinigte Vernunft wäre für sie eine sterile, unkreative, letzten Endes sogar widervernünftige. Schon 1793/94 beschäftigt sich Schiller in Auseinandersetzung mit Kant mit der Frage, wie man angemessen „denken“ und argumentieren könne im gegenwärtigen Zeitalter des aufgeklärten „Vernünftelns“: da doch „der abstrakte Denker .. gar oft ein kaltes Herz“ (6. Br., Herv. i. Or.)92 habe. „Nicht genug also, dass alle Aufklärung des Verstandes nur insoferne Achtung verdient, als sie auf den Charakter zurückfließt; sie geht auch gewissermaßen von dem Charakter aus, weil der Weg zu dem Kopf durch das Herz muss geöffnet werden. Ausbildung des Empfindungsvermögens ist also das dringendere Bedürfnis der Zeit, nicht bloß weil sie ein Mittel wird, die verbesserte Einsicht für das Leben wirksam zu machen, sondern selbst darum, weil sie zu Verbesserung der Einsicht erweckt.“ (8. Br.)
Nach Schiller hapert es keineswegs in seiner Zeit an „Aufklärung des Verstandes“, wohl aber an „Ausbildung des Empfindungsvermögens“. Das ist für ihn keine leicht hinzunehmende Nebenwirkung einer expertenhaft gesteigerten Rationalität, sondern es macht in seinen Augen den Verstand untauglich, sowohl „das Leben“ hinreichend zu verstehen, als auch (was vielleicht noch fataler ist) die Begrenztheit seines Begreifens zu begreifen. Scharf gesagt, ist der bloß rationale Verstand irrational und in der Tendenz größenwahnhaft. Ganz sinngemäß formuliert Wilhelm von Humboldt zwei Jahre zuvor in seinem vielleicht schönsten Bildungstext, die „Erhabenheit“ des gebildeten Menschen drücke sich in „gefühlvollen Ideen“ und „ideenreichen Gefühlen“ aus (1980). Scharfsinn allein ist demnach gerade nicht dasjenige, worauf es im Zusammenhang der „Bildung“ ankommt, „Bildung“ ist wieder Begegnung, und nicht zufällig tun sich Schiller und Humboldt schwer, den Bildungs-Adressaten nicht schon von vornherein als bildungsfähig und bildungswillig, also bereits als „gebildet“ zu setzen. Die Begegnung, auf die alles ankommt, ist allerdings weniger die zwischen zwei Partnern als solche. Es ist vielmehr Begegnung im Medium einer gemeinsamen ästhetischen Erfahrung, in der sich beide, der BildungsAnbietende und sein Gegenüber von einem erhabenen „Gegenstande“ emporge92 Ich gebe im Folgenden den jeweiligen Brief aus den Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (Schiller 2000) an, in dem sich das jeweilige Zitat findet.
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hoben erleben, der ihnen Möglichkeiten ihres eigenen Menschseins – den gewöhnlichen Alltag transzendierend – erschließt. Auch die Gefühle unterliegen dabei ein Bildungsprozess: Sie werden veredelt. Auch diese Transzendierung des Bestehenden ist (wie in der Aufklärung) eine innerweltliche, sie vollzieht sich am Beispiel der klassischen Kunst, die Visionen eines humaneren ästhetischen Zusammenlebens aktualisiert. Nichtaufklärerisch, um nicht zu sagen: dezidiert aufklärungs-kritisch, ist dabei die Hinwendung zur Antike unter bewusster Wiederbelebung von Haltungen aus dem italienischen Humanismus und der daran anschließenden Renaissance. Sie bedeutet zunächst einmal in der direkten Konsequenz der oben schon beschriebenen Kritik an der verengten Rationalität der Aufklärung eine Rehabilitierung des sinnlichen Erlebens und damit auch alltagsweltlicher Erlebnisqualitäten, wie sie durch erfahrungswissenschaftliche Spezialisierungen gerade vermieden werden müssen. Für die Neuhumanisten ist die beobachtungswissenschaftliche Naturerfahrung, wie sie im Zuge der Frühaufklärung als Befreiung des Menschen vom Aberglauben propagiert wird, kein wirkliches Vorbild menschlichen Erkennens, sondern eine methodologische Erfahrungseinschränkung, die grundsätzlich aufgehoben bleiben muss. Hinzu kommt dann aber noch ein zweites wichtiges Moment. In der Hinwendung zum (bewusst stilisierten) antiken, insbesondere griechischen Vorbild wird die genuin aufklärerische Idee verworfen, die menschliche Vernunft könne aus sich selbst und aus der bloßen Kritik des Bestehenden heraus die bessere Welt entwerfen. Diese Idee ist den Neuhumanisten philosophisch zu idealistisch und psychologisch zu anmaßend, insofern dann die verengte Vernunft das Ganze eines humaneren Lebens denkerisch vorweg nehmen will. Ihr Argument lautet etwa, dass der Mensch das neue Bessere irgendwie und ansatzweise schon erfahren haben müsse, um es sich angemessen vorstellen zu können. Durch die Begegnung mit der Klassik, so der Gedanke, wird den Heranwachsenden ästhetisch erfahrbar gemacht, dass die aktuellen gesellschaftlich-lebensweltlichen Verkehrsformen der Menschen unter dem Gesichtspunkt des Menschenmöglichen nicht das letzte Wort sein müssen – und nicht sein dürfen. Gewinnt für Schiller die Schaubühne eine entscheidende Bedeutung für die Erwachsenenbildung, so entwirft Humboldt eine Gemeinschafts- und Gesamtschule, in der alle Kinder nicht primär zu gut funktionierenden Bürgern (oder gar Untertanen) erzogen werden, sondern sich zu individuellen Persönlichkeiten entwickeln dürfen sollen. Das führt auch terminologisch zu einer wichtigen Verschiebung: Bildung ersetzt Erziehung. Man wird erzogen, aber man bildet in letzter Instanz sich selbst. Für Humboldt ist (ähnlich für Schiller) klar, dass die intensive Abarbeitung an der griechischen Kultur und Sprache (insbesondere) erst die Bedingung der 135
Möglichkeit einer individuellen Selbstentfaltung eröffnet. Nebenbei möchte ich darauf hinweisen, dass er in seiner Sprachtheorie das kompetente Beherrschen einer fremden Sprache unter Einschluss eines lebendigen Zugangs zu der in der Sprache verkörperten je spezifischen Kultur als unerlässliche Dezentrierungserfahrung für die Teilnehmer neuzeitlicher Gesellschaften erachtet. Nur wer eine fremde Kultur gut kennt, je „höher“ sie steht, umso besser, kann die Welt, die ihm die eigene Muttersprache zunächst eröffnet hat, ernsthaft relativieren. Dies aber ist die Voraussetzung jedweden menschheitlichen Universalismus, der Humboldt ebenso sehr am Herzen liegt wie er den Aufklärern wichtig ist und wie Kant ihn im Sittengesetz begründen will.
Klassische Bildung für Alle Was die oben diskutierten Bildungsparadoxien betrifft, so ergibt sich aus dem neuhumanistischen Ansatz eine scharfe Absage an Kants Lösungsvorschläge aus der Verwerfung seiner Vorstellungen von „Vernunft“. Was sich ohne weiteres ableiten lässt, ist, dass es nach Humboldt (wie Schiller) unbedingt Schulen geben muss, in denen allen Kindern das Angebot einer klassischen Bildung gemacht wird. Allerdings ist damit die oben so genannte organisationale Paradoxie keineswegs als leicht lösbar dargestellt – eher im Gegenteil. Es scheint vielmehr, dass auch Humboldt und Schiller mit psychologisch-sozialisationstheoretischen und begabungsbezogenen Unterstellungen arbeiten, die viel über ihre persönlichen Hochbegabungen und frühzeitig geweckten Interessen aussagen, aber kaum für tendenziell alle Kinder zutreffen konnten. Um die Bildungsparadoxien mit Humboldts Konzept anzugehen, hätte es günstigerer Lebensbedingungen gerade auch der unterprivilegierten Gesellschaftsschichten und – wie schon erwähnt – besonderer begabungsfördernder Aufwachsbedingungen aller Kinder bedurft. Scharf gesagt, hätten die gesellschaftlichen Verkehrsverhältnisse insgesamt, die sich auf den Umgang mit dem Nachwuchs niederschlugen, ganz andere sein müssen als es die seinerzeit realisierten waren, die Humboldt ja nicht umsonst erst noch humanisieren wollte.93 93 Die Arroganz, die Schiller mit kritischem Blick auf Kant den „verfeinerten Ständen“ vorwarf, wonach ihre besondere „Aufklärung des Verstandes“ nämlich ihre besten natürlichen Anlagen zerstört habe, so dass der „Egoism“ „mitten im Schoße der raffiniertesten Geselligkeit … sein System gegründet“ habe, hätte er vielleicht auch ein Jahrhundert später den Absolventen der „höheren Bildung“ nachsagen können. „Stolze Selbstgenügsamkeit zieht das Herz des Weltmanns zusammen, das in dem rohen Naturmenschen noch oft sympathetisch schlägt…“ (5. Br.) Die neuhumanistische Hoffnung, im Anschluss an Rousseau von der „sympathetischen“, mitleidbereiten Lebenshaltung der „niedern und zahlreichern Klassen“ her schuldidaktisch an die ästhetischen Formen der Klassik anschließen zu können, sollte sich als illusorisch erweisen. Die Bereitschaft, sich den Formen der
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Um die neuhumanistische Antwort auf Rousseau mit Blick auf die im Raum stehenden Bildungsparadoxien zusammenzufassen, lässt sich sagen: Wie Rousseau geben die Neuhumanisten die aufklärerische Absicht, den Einzelmenschen und dadurch die Gesellschaft pädagogisch zu verbessern, nicht auf. Ihr Ansatz lässt sich vielmehr als Versuch einer Neubegründung verstehen, der die Einseitigkeiten der rationalitätsgläubigen Aufklärung vermeiden will. Sowohl der Rousseausche Rekurs auf die Natur des Kindes als auch die Kantische philosophische Berufung auf die Vernunft, durch die er die drei Paradoxien theoretisch lösen zu können glaubt, erscheinen den Neuhumanisten als (unnötig) ungeschichtlich und zugleich psychologisch als Überforderung, weil die Gegenwart für die Zukunftsgestaltung dann nicht genug Orientierungshilfe aus der Vergangenheit bezieht und zu wenig an die naturwüchsig-humanen Ressourcen anknüpft, wie man sie in der Masse der einfachen Bevölkerung als noch selbstverständlich verbreitet betrachtet. Dass der Begriff „Bildung“ in diesem Kontext an Bedeutung gewinnt und den Begriff „Erziehung“ ersetzen soll, ist kein Zufall, weil der Pädagoge ein Angebot macht und nicht unmittelbar erzieherisch eingreift. Das muss vom Heranwachsenden angenommen werden, damit es als ein solches wirklich werden kann. Man könnte sagen: Indem die Neuhumanisten die Bereitschaft aller Kinder, ihr spezifisches klassisches Bildungsangebot anzunehmen, unhinterfragt vorauszusetzen scheinen, haben sie die interaktionsbezogene Bildungsparadoxie gewissermaßen für leicht lösbar erklärt – mit Unterstellungen, die dem Idealismus der Kantischen Vernunft in nichts nachstehen. Die denkerische Schwierigkeit, die sie dadurch mehr umgehen als lösen, besteht wie schon erwähnt darin, dass die Kinder immer schon hinreichend gebildet gedacht werden, damit sie dann als bildungswillig vorgestellt werden können. Dass auch die gesellschaftliche Paradoxie von den Neuhumanisten klar unterschätzt wird, habe ich schon angedeutet. Damit, dass ihr „Bildungs“-Begriff im 19. Jahrhundert gesellschaftspolitisch-soziologisch elitarisiert werden könnte, haben sie offenbar kaum gerechnet. Vielleicht war es ihre gegenüber der Aufklärung stärkere Hinwendung zur Geschichte, die ihrem Denken dann geschichtsphilosophisch zum Verhängnis wurde. Denn der romantische Dreischritt, wie ihn etwa Schiller unterstellte, wonach einem Zeitalter der kraftvollen Natürlichkeit „höheren Bildung“ zu öffnen, war offenbar am ehesten von bestimmten bürgerlichen Gesellschaftskreisen zu erwarten, die sich durch die vorgezeigte Bildung auch ihr Eintrittsbillett in gesellschaftlich privilegierte Stellungen erhofften, die ihnen „von Geburt her“ eher verschlossen geblieben wären. Nebenbei zeigte sich, dass eine gewisse formale Bildung, die sich im rechtzeitigen Erwerb fremder Sprachen eröffnet hatte, durchaus funktional in die Bekleidung verantwortlicher öffentlicher Stellungen einbringen ließ, ganz abgesehen davon, dass damit auch die Sondersprachen von Experten und Professionellen dem allgemeinen Sprachverkehr partiell entzogen werden konnten.
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(vorbildlich: die alten Griechen) ein Zeitalter des naturentfremdeten „Vernünftelns“ folgen würde (seine damalige Jetztzeit, vorbildlich: die Deutschen), damit sich irgendwann ein Zeitalter der Versöhnung von Natur und Vernunft anschließen könne, stellte eine Transformation des aufklärerischen Fortschrittsglaubens dar, deren Optimismus die Schwierigkeiten der modernen Gesellschaftsentwicklungen bei aller zeitdiagnostischen Schärfe etwa seiner „Briefe über Ästhetische Erziehung “ immer noch unterschätzen ließ.
Die erst noch anzubildende Humanität bei Johann Gottfried Herder Herder hat sich noch in Königsberg, wo er 1762-1764 bei Kant studierte und mehr noch von Hamann tief beeindruckt wurde, mit dem soeben erschienenen Émile auseinandergesetzt. Er hält zentrale Anliegen Rousseaus anders fest als Kant dies tut und auch als es die von ihm beeinflussten Neuhumanisten tun werden. Herder entwickelt einen dezidierten Bildungs-Begriff, den er über die Facetten seiner Vorstellung von Humanität ausdifferenziert. Ich werde im Folgenden einige Textstellen von ihm zu Wort kommen lassen, die er ein Vierteljahrhundert nach dem Émile in Weimar verfasst hat. Beginnen möchte ich aber mit einem Zitat aus einem Text, der etwa zeitgleich mit den oben angesprochenen Bildungsschriften von Humboldt und Schiller, übrigens auch in Briefform, entstanden ist: „Das Menschengeschlecht, wie es jetzt ist und wahrscheinlich lange noch seyn wird, hat seinem größesten Theil nach keine Würde; man darf es eher bemitleiden, als verehren. Es soll aber zum Charakter seines Geschlechts, mithin auch zu dessen Werth und Würde gebildet werden. …Humanität ist der Charakter unsres Geschlechts; er ist uns aber nur in Anlagen angebohren, und muß uns eigentlich angebildet werden. Wir bringen ihn nicht fertig auf die Welt mit; auf der Welt aber soll er das Ziel unsres Bestrebens, die Summe unsrer Uebungen, unser Werth seyn …Humanität ist der Schatz und die Ausbeute aller menschlichen Bemühungen, gleichsam die Kunst unsres Geschlechts. Die Bildung ist zu ihr ein Werk, das unabläßig fortgesetzt werden muß; oder wir sinken, höhere und niedere Stände, zur rohen Tierheit, zur Brutalität zurück.“ („Briefe zur Beförderung der Humanität“, 1793-1797, Brief 27, zit. Nach Noack 1986, 211)
Das Zentralproblem der neuzeitlichen Pädagogik, das ich als Gesellschaftsparadoxie umschrieben habe, ist im Zitat schon subtil-stilistisch festgehalten. Herder geht vom Menschengeschlecht aus, um sich sogleich in Rousseauscher (ähnlich Kantischer oder zeitgleich Schillerscher) Manier kritisch von dessen gegenwärtigem Erscheinungsbild zu distanzieren. Sodann formuliert er als entscheidende 138
Norm des „Geschlechts“, über das er in Objektform spricht, es müsse „gebildet“ werden. Das Verb wird also bis an die Grenze der stilistischen Zulässigkeit transitiv verwendet, so als ob Herder aus der Distanz der erst noch und „wahrscheinlich“ kaum bald zu erreichenden Norm zu sprechen scheint. Dann aber, im nächsten Satz, geht er in die Teilnehmerperspektive, die er dann im solidarischen „wir“ bzw. “uns“ festhält, während er die Notwendigkeit, dass „uns“ „unser Charakter“ – Humanität – erst noch „angebildet“ werden müsse, sprachlich scharf betont. Der letzte Satz klingt geradezu wie eine prophetische Drohung, die an das Entweder-Oder der Kantischen Moralphilosophie erinnert. Klar ist die Norm: Der Mensch muss zum Menschen werden. Unklar ist selbstverständlich, wer „uns“ denn Humanität anbilden soll, wenn wir es nicht selbst tun. Es zeichnet sich ab, dass Herder Rousseaus Sozialkritik affirmativ aufgreift, während er die Selbsthumanisierung des Menschengeschlechtes als die Aufgabe der Menschheit bestimmt. Die Ausgangslage ist also vergleichbar dramatisch, jedenfalls zirkulär, denn ein „würdeloses“ Menschengeschlecht kann seine Selbst-Humanisierung nicht wirklich wollen. Den Ausweg, sich begnadete außergesellschaftliche Erzieher auszudenken (wie Rousseau) oder die Kinder tätigen Philosophen anzuvertrauen (wie Kant) oder die Pädagogik als Kulturvorrat ästhetischer Inspirationen aus Jahrtausende alten Objektivationen für eine bessere zukünftige Welt aufzustellen (wie Schiller oder Humboldt), verschließt sich Herder in seiner eben nicht nur stilistisch gemeinten, sondern inhaltlichen Wendung zum „Wir“. Was ihm mit dieser Wendung bleibt, ist die Aufgabe, die „Anderen“ in dem anzusprechen, was, wie er überzeugt ist, ihre wahre Identität ausmachen würde, wenn sie ihnen nur „angebildet“ worden wäre. Diese An-Sprache kann nichts anderes sein als eine Art Appell zur Selbst-Besinnung, und es ist von vornherein klar, dass dadurch jeder mögliche Bildungs-Text immer den Charakter eines solchen Appells behalten muss. Man wird ohne Geringschätzung und im Blick auf seinen Beruf als Seelsorger sagen können: Herder ist Bildungs-Prediger. Herder muss sich dann logischer Weise der Frage stellen, inwiefern er sich einen privilegierten Zugang zur Eigentlichkeit des menschlichen Daseins zutraut: Er verpflichtet sich also auf Selbstreflexivität, aber, anders als bei Kant und auch bei den Neuhumanisten, ist diese für ihn an das Kriterium der fühlbaren Solidarität zu den potentiellen Adressaten gebunden. Die Texte über Bildung wollen dezidiert für Bildung werben und müssen sich selber als Bildungs-Angebot performativ verstehen. Was ich die interaktionsbezogene Bildungsparadoxie genannt habe, ist bei ihm weit weniger „gelöst“ als dies bei Kant und auch bei den Neuhumanisten der Fall zu sein scheint. Herder sieht sie als Paradoxie, die für unabsehbar lange Zeit durchzustehen bleibt.
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Abbild des Schöpfers Beim Versuch, seinen überwiegend „würdelos“ lebenden Zeitgenossen deren eigentliche Humanität vor Augen zu führen, nimmt Herder, wie ich gleich zu zeigen versuche, die Rousseausche Anthropologie entscheidend auf, er radikalisiert sie in gewisser Hinsicht sogar. Sein Begriff Humanität ist eine differenzierende Ausgestaltung dessen, was bei Rousseau die „pitié“ im nebulösen Naturzustand des Menschen sein soll. Herder dekliniert die Bedeutungsfacetten dieses für ihn entscheidenden Begriffes in einem (für seine sonstigen Schreibgewohnheiten auffallend) gut gegliederten Text aus den „Ideen zur Geschichte der Philosophie der Menschheit“ durch, den er von 1784 bis 1791 geschrieben hat (zit. n. Noack 1986, 200-210). Ich bespreche den Text schrittweise anhand kurzer Auszüge. „Ich wünschte, dass ich in das Wort Humanität alles fassen könnte, was ich bisher über des Menschen edle Bildung zur Vernunft und Freiheit, zu feinern Sinnen und Trieben, zur zartesten und stärksten Gesundheit, zur Erfüllung und Beherrschung der Erde gesagt habe, denn der Mensch hat kein edleres Wort für seine Bestimmung als er selbst ist, in dem das Bild des Schöpfers unserer Erde, wie es hier sichtbar werden kann, abgedruckt lebet.“
Herders Argumentation ist vom christlichen Glauben bestimmt. Der Mensch ist alttestamentlich nach dem Bild des Schöpfers von diesem gebildet und soll sich neutestamentlich-paulinisch zum Ebenbild Gottes weiterbilden. Der Bildungsbegriff nimmt also bei ihm ganz bewusst und etymologisch entscheidend die Tradition christlicher Frömmigkeit auf, die durch die mittelalterliche Mystik vermittelt ist. Herders Gottesbild allerdings steht – wie beispielsweise das von Lessing oder Goethe vertretene – stark unter pantheistischem Einfluss, der von Spinoza herkommt (Herder 1982b). Auch das protestantische Arbeitsethos der „Erfüllung und Beherrschung der Erde“ klingt an, während die von Kant so betonten Werte der „Vernunft und Freiheit“ mit „Sinnen und Trieben“, der Gesundheit und des Schaffens in einem Atemzug genannt und damit in lebendige Beziehung gebracht werden. Auffällig sind die Adjektive „feiner“ und „zart“. Der Mensch ist von vornherein vielfältig verbunden gedacht mit der ihm anvertrauten Erde – über seine Vernunft wie über seine Gefühle und Strebungen, über seine Leiblichkeit wie über seine Arbeit. Herders Ausgangsposition ist von vorn herein als kritische Absage an die erkenntnistheoretische Dürre der aufklärerischen, rationalistischen oder empiristischen Bewusstseinsphilosophie zu verstehen. Deutlich ist jedenfalls, dass er gegenüber Kant und Rousseau das traditionale Moment betont, im Unterschied
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zu den Neuhumanisten verankert er es aber entscheidend in einem spinozistisch aufgeklärten Christentum. „…Alle Triebe eines lebendigen Wesens lassen sich auf die Erhaltung sein selbst und auf eine Theilnehmung oder Mittheilung an andre zurückführen; …Indessen ist’s wahr, dass der Bau des Menschen vorzüglich auf die Verteidigung, nicht auf den Angriff gerichtet ist; … Seine Gestalt selbst lehret ihn also Friedlichkeit ..: der Humanität erstes Merkmal.“
Herder beginnt mit zwei Feststellungen der Naturbeobachtung, die mit naturwissenschaftlich-selbstverständlichem Anspruch formuliert zu sein scheinen. Dass der Selbsterhaltung eine Selbstüberschreitung aller Impulse sämtlicher lebendigen Wesen korrespondiere, ist allerdings eine philosophische Festsetzung, keine Naturbeobachtung als solche. Für Herder scheint der behauptete Sachverhalt hingegen evident. Bedenkt man die erstzitierte Textstelle, müsste es ihm selbst aber fraglich gewesen sein, ob seine Feststellung tatsächlich so auch für diejenigen Menschen gelten könne, deren Humanität sich nicht hinreichend hat entfalten können. Denn Selbsterhaltung als Naturgesetz lässt sich unzweifelhaft beobachten, „Theilnehmung oder Mitteilung an andre“ aber nicht: Sie ließe sich auch ohne weiteres als Ausdruck der Selbsterhaltung im Sinne der Arterhaltung interpretieren. Sie als naturgesetzliche Selbstüberschreitung zu sehen, setzt also eine entsprechende Selbstdeutung des beobachtenden/interpretierenden Subjekts voraus. Diese theoretische Schwierigkeit wird sich im weiteren Text wiederholen. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass Herder aus dem Körperbau des Menschen auf seinen eigentlichen Charakter zu schließen versucht. Herder nimmt die Physiologie zu Hilfe, sie möge die Menschen genau das lehren, was Herder selbst ihnen sagen will: dass Friedlichkeit ihr – bereits biologisch bestimmtes – eigentliches Wesen sei. „Unter den Trieben, die sich auf andere beziehen, ist der Geschlechtstrieb der mächtigste. …Was dem vierfüßigen Tier …Begattung ist, ist bei ihm seinem Bau nach Kuß und Umarmung. Auch die Liebe sollte bei den Menschen human sein, dazu bestimmte die Natur, außer seiner Gestalt, auch die spätere Entwicklung, die Dauer und das Verhältnis des Triebes in beiden Geschlechtern; ja sie brachte diesen unter das Gesetz eines gemeinschaftlichen freiwilligen Bundes und der freundschaftlichsten Mitteilung zweier Wesen, die sich durchs ganze Leben zu Einem vereint fühlen.“
Um sich die Besonderheit der hier vorgetragenen Ableitung zu vergegenwärtigen, mag ein kurzer Blick auf Sigmund Freuds erste Triebtheorie erhellend wirken. Auch Freud ging von einem Triebdualismus Selbsterhaltung und Libido 141
aus, aber er interpretierte letztere geradezu als List der Natur, durch welche diese die Arterhaltung sichert, während er Liebe und Verliebtheit in eins setzt und in kaum zu steigernder Nüchternheit als „Sexualüberschätzung“ tituliert. Herder hypostasiert also seine kulturspezifische Sicht auf den Geschlechtstrieb und die eheliche Liebe als Naturbeschreibung und würde sich damit nicht nur die Kritik der naturwissenschaftlich gesonnenen Frühaufklärung, sondern auch neuerer Betrachtungsweisen zugezogen haben, die in der Berücksichtigung empirischer Sexualpraktiken zugleich die Bedingung der wünschenswerten Liberalisierung der traditionell als kulturell legitimierten sähen.94 Festhalten möchte ich an dieser Stelle jedenfalls, dass Herder seinen universellen und die äußere Natur einschließenden Humanismus auch beim Erwachsenen in freundschaftlich-intimen Zweierbeziehungen verankert sein lässt. „Da außer der mitteilenden Liebe alle anderen zärtlichen Affekten sich mit der Theilnehmung begnügen, so hat die Natur den Menschen unter allen Lebendigen zum theilnehmendsten geschaffen, weil sie ihn gleichsam aus allem geformt und jedem Reich der Schöpfung in dem Verhältnis ähnlich organisiert hat, als er mit demselben mitfühlen sollte. …Sonderbar ist’s, dass das Gehör so viel mehr als das Gesicht beiträgt, dies Mitgefühl zu erwecken und zu verstärken … Genug, die Erfahrung ist wahr und sie zeigt beim Menschen den Grund seines größern Mitgefühls durch Stimme und Sprache.“
Die Metapher vom Menschen als Bild Gottes wird hier nach der Seite der Schöpfung hin gewendet. Die äußere Natur findet sich in der inneren des Menschen in gewisser Weise abgebildet, „ähnlich organisiert“, so dass auch hier wiederum das Mitfühlen, Rousseaus pitié, als eine Art naturgesetzlicher Auftrag an den Menschen gesehen wird. Die Differenz zu einem bloß distanziert mit Natur experimentierenden, womöglich ökonomisch kalkulierenden Naturzugang, wie er als aufklärerische (und teilweise frühkapitalistisch-religiöse) Errungenschaft imponiert, könnte kaum größer sein. Herder beobachtet, dass der Gesichtssinn eher zu einem distanzierten Umgang mit der Welt der Anderen führt als das Gehör: dem Klagelaut der gequälten Kreatur kann sich der Mensch – so Herder – schlechter verschießen als ihrem bloßen Anblick. Umgekehrt wird für Herder die Stimme das ausgezeichnete 94 Insofern kann man Herder hier leicht einen unzulässigen Wechsel auf eine andere Argumentationsebene nachweisen. Der Protest gegen kulturbestimmte Voreingenommenheiten, die im Namen der Naturordnung (zumeist einer göttlich verfügten) verfochten werden, mag berechtigt gewesen und geschichtlich befreiend geworden sein – um die Notwendigkeit einer sozialen-kulturellen Interpretation des eigenen Sexualverhaltens kommt allerdings niemand und keine Kultur herum. Der bloße Verweis auf natur- oder sozialwissenschaftliche Empirie als Antwort auf ethische Fragen ist bekanntlich nichts anderes als ein naturalistischer Fehlschluss – in dieser oder jener Richtung.
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Organ des Menschen, um sich dem Anderen zuzuwenden. Die Sprache, lange bevor sie Mitteilung „objektiver“ Sachverhalte ist, ist immer schon ein Sprachereignis zwischen den Menschen, durch das der Angesprochene von der Zuwendung des Sprechenden berührt und darin gewissermaßen aus dem Zustand des Isoliertseins herausgeführt ist. Das Sprachereignis verändert beide, den Sprecher, der sich mitteilt, und den Angesprochenen, der dadurch am Mitgeteilten Anteil nehmen kann. Sprache ist ein Begegnungsereignis. „Bei den Menschen ist die Mutterliebe höherer Art …Im väterlichen Hause entstand die erste Gesellschaft, durch Bande des Bluts, des Zutrauens und der Liebe verbunden … Der Mensch ist also zur Gesellschaft gebohren; das sagt ihm das Mitgefühl seiner Eltern, das sagen ihm die Jahre seiner langen Kindheit.“
Bei den Menschen ist die Mutterliebe mehr als Brutpflege, und es wird kein Zufall sein, dass sie im „väterlichen“ Hause stattfinden soll. Dass Herder als Aufwachsbedingung das im Auge hat, was in der neueren Psychoanalyse „Triangulierung“ heißt und nach dem Vorbild weiblicher und männlicher Bezugspersonen fragt, sei festgehalten. Den letzten Satz möchte ich besonders unterstreichen. Er beginnt gemäß dem aristotelischen „zoon politikón“ in einer auffallend dynamischen Formulierung „zur Gesellschaft gebohren“. Dieses sein gemeinschaftliches Wesen muss dem Menschen nämlich erst sinnenhaft mitgeteilt werden – im für das Kind fühlbaren Mitgefühl der Eltern (nebenbei: auch hier wieder nicht nur der Mutter). Rousseaus naturhaft angeborene pitié wird von Herder – wenn man so will – bildungsrelevant gewendet. Dadurch fällt noch einmal ein Licht auf die bisherige Argumentation, vor allem, wo sie scheinbar naturgesetzlich, biologistisch oder physiologisch geführt wird. Durch die Sprachform selbst – die Sprache ist eben wesentlich Begegnungsangebot und insofern Selbstmitteilung – ist eine bloß objektivierende Ausdrucksweise überschritten, und diese erscheint ihrerseits als eine Sonderform von Sprachgestalt, die ihren letztlich humanen Sinn immer erst in der Vermittlung zu der Begegnungs-Matrix bezieht, der sie entstammt. Bevor und indem Sprache bildet, bildet Mitgefühl. Das Wesen des Kindes, wenn es als human-gemeinschaftliches angesprochen wird, wird darin von seinen Eltern vorgängig als solches interpretiert. Dadurch ist die scheinbar naturförmige Betrachtung immer schon sinnhaft-kulturell gerahmt, eine bloß distanzierende würde – umgekehrt – das Kind nicht nur in seinem Wesen verfehlen, sie würde, als dauerhafte, die Bildung des Kindes durch Unterlassung von Zu-Wendung gewissermaßen vereiteln. Herder bewegt sich demnach in einem hermeneutischen Zirkel, den überschreiten zu wollen, etwa um zu größerer aufklärerischer „Objektivität“ der Aussage zu gelangen, für 143
ihn un-sinnig wäre. Dass er sein Schreiben selber als performatives Geschehen sieht, wurde schon erwähnt. Da die Sprache nicht transzendierbar, ihrerseits aber „Ausdrucksgeschehen“ ist, bewegt sich der Mensch immer schon in der sprachlichen Gemeinschaft, das gilt selbstverständlich auch (und gerade) für den Autor selbst. Dass Herder über „Humanität“ überhaupt sprechen kann, verdankt er logischer Weise nicht einfach dem eigenen kritischen Bewusstsein, der eigenen kognitiven Vernunft oder dem privilegierten Zugang zu ästhetisch-klassischen Weltsichten, sondern er muss sie als soziale Realität kindlich erfahren haben, um sie dann in eine wiederum für Andere verständliche Sprache fassen zu können. Über „Humanität“ als eine bloß fehlende zu sprechen, wäre demnach eine Absurdität. Man müsste logischer Weise hinzufügen: Damit über „Humanität“ sinnvoll gesprochen werden kann, muss das damit sinnvoll Gemeinte hinreichend gesellschaftlich und je persönlich erfahrbar geworden sein. Erfahrbar wird es zunächst über die Einfühlung von Seiten der Eltern. Schon 1774, in seiner Bückeburger Zeit, verbindet Herder den biblischen Gedanken der Gottesebenbildlichkeit des Menschen mit dem seiner Naturverwurzelung in der Schöpfungsordnung, die zugleich ein vitales Selbstgefühl einschließt, das schließlich Voraussetzung für das Mitgefühl mit Anderen ist. „Siehe die ganze Natur, betrachte die große Analogie der Schöpfung: alles fühlt sich und seinesgleichen, Leben wallet zu Leben. Jede Saite bebt ihrem Ton, jede Fiber verwebt sich mit ihrer Gespielin, Tier fühlt mit Tier; warum sollte nicht Mensch mit Menschen fühlen? Nur er ist Bild Gottes, ein Auszug und Verwalter der Schöpfung, also schlafen in ihm tausend Kräfte, Reize und Gefühle; es muss also in ihnen Ordnung herrschen, dass alle aufwachen und angewandt werden können, dass er Sensorium seines Gottes in allem Lebenden der Schöpfung, nach dem Maße es ihm verwandt ist, werde. Dies edle allgemeine Gefühl wird also eben durch das, was es ist, Erkenntnis, die edelste Kenntnis Gottes und seiner Nebengeschöpfe durch Würksamkeit und Liebe. Selbstgefühl soll nur die Condition sine qua non, der Klumpe bleiben, der uns auf der Stelle festhält, nicht Zweck, sondern Mittel. Aber notwendiges Mittel, denn es ist und bleibt wahr, dass wir unsern Nächsten nur wie uns selbst lieben. Sind wir uns untreu, wie werden wir andern treu sein? Im Grad der Tiefe unseres Selbstgefühls liegt auch der Grad des Mitgefühls mit andern; denn nur uns selbst können wir in andre gleichsam hineinfühlen.“ (1982a, 372, Herv. v. mir)
Für den Bildungsgedanken bedeutet dies: Bildung findet fundamental darin statt, dass Eltern ihren eigenen lebendigen Schöpfungsbezug den Kindern leiblichsinnlich und bevor sie zu Sprache und reflexer Bewusstheit95 kommen, erfahrbar machen. Dies geschieht durch Einfühlung, die ihrerseits die entsprechende kind95
Herder verwendet hierfür den Begriff „Besonnenheit“.
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liche Anlage zu sich selbst ermutigt. Herders Bildungsdenken ist von dem Wort nicht zu trennen, das er im zitierten Text in den deutschen Sprachgebrauch eingeführt hat: „Einfühlung“.
Grenzen der Verstandeserkenntnis Ich komme nun zum Ausgangstext aus den „Ideen“ zurück. „Aufrichtig ist der Mensch geschaffen, und wie in seiner Gestalt alles dem Haupt dienet, wie seine zwei Augen nur Eine Sache sehen seine zwei Ohren nur Einen Schall hören …, so wurde auch im Innern das große Gesetz der Billigkeit und des Gleichgewichts des Menschen Richtschnur; was du willt, daß andre dir nicht thun sollen, thue ihnen auch nicht; was jene dir thun sollen, thue du auch ihnen.“
Kants moralphilosophischer Kategorischer Imperativ wird hier zu einer umgangssprachlich gebräuchlichen ethischen Alltagsnorm ermäßigt. Die Begründung liegt nicht in einer intelligiblen Natur des Menschen, sondern ergibt sich direkt aus der dargestellten Gottebenbildlichkeit. Allerdings gilt auch hier, dass Herder nicht im Ernst annehmen kann, dass dies allen Menschen empirisch einsichtig sein kann, wohl aber zeigt sich noch einmal, warum er Menschen, die ihre Humanität nicht haben entwickeln können, als „würdelos“ bezeichnet. Indem sie sich etwa egozentrisch verhalten, verstoßen sie gegen ihr eigenes inneres Gesetz. „Endlich ist die Religion die höchste Humanität des Menschen …Wenn des Menschen vorzüglichste Gabe Verstand ist, so ist’s das Geschäft des Verstandes, den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung aufzuspähen und denselben, wo er ihn nicht gewahr wird, zu ahnen. …Nun sehen wir in den Werken der Natur eigentlich keine Ursache im Innersten ein; wir kennen uns selbst nicht, und wissen nicht, wie irgend Etwas in uns wirket. …Sobald der Mensch .. seinen Verstand in der leisesten Anregung brauchen lernte, das ist sobald er die Welt anders als ein Tier ansah, musste er unsichtbare mächtigere Wesen vermuten, die ihm helfen oder ihm schaden. … Religion ist also, auch schon als Verstandesübung betrachtet, die höchste Humanität, die erhabenste Blüte der menschlichen Seele. Aber sie ist mehr als dies: eine Übung des menschlichen Herzens und die reinste Richtung seiner Fähigkeiten und Kräfte. Wenn der Mensch zur Freiheit erschaffen ist und auf der Erde kein Gesetz hat, als das er sich auflegt, so muß er das verwildertste Geschöpf werden, wenn er nicht bald das Gesetz Gottes in der Natur erkennet und der Vollkommenheit des Vaters als Kind nachstrebet. … Wahre Religion ist also kindlicher Gottesdienst, eine Nachahmung des Höchsten und Schönsten im
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menschlichen Bilde, mithin die innigste Zufriedenheit, die wirksamste Güte und Menschenliebe.“
Herder unterscheidet zwei Formen der Religiosität. Der menschliche Verstand, so stellt er kategorisch fest, gelangt nicht einmal zur Erkenntnis seines eigenen Lebensgrundes: „Wir kennen uns selbst nicht“ ist eine selbstkritische Feststellung, deren agnostizistischer Charakter aber durch die Anlage zur Religion mehr als aufgehoben wird. In den Gestalten und Gesetzen der Natur kann die wahre Ursache der menschlichen Existenz nicht erkannt werden, der Mensch muss sich beziehen auf das, was ihn erst – für ihn selbst unerkennbar – existieren lässt. Der Mensch mag noch so viele Naturgesetze erkennen, aber warum überhaupt „etwas“ (darunter er selbst) ist und nicht nichts, transzendiert jede Naturerkenntnis. Damit weist der Verstand des Menschen in der kognitiven Erkenntnis seiner Grenzen über diese hinaus, so dass er sich in der „Übung des Herzens“ aufheben kann. Der Mensch fügt sich, dem Bild des Schöpfers dadurch zu entsprechen, dass er diesen innerweltlich nach besten Kräften durch „die wirksamste Güte und Menschenliebe“ repräsentiert. Der religiöse Mensch hat keine Wahrheit für sich (etwa in Form von Glaubensdogmen), er lebt sie – für andere erfahrbar, ähnlich wie der von Herder hoch geschätzte Lessing dies als religiös-aufgeklärtes Ideal in der Ringparabel fordert. Das Bild, das der religiöse Mensch anderen bietet, ist das Abbild eines gütigen Gottes, in dem sich der Andere wo nötig an sein wahres Selbst erinnern lassen kann. Umgekehrt gilt: Da der Mensch auf Erden das mächtigste Geschöpf ist, droht dieser von ihm die größte Gefahr, wo er „verwildert“ das Gesetz seiner Verbundenheit mit allem Geschöpflichen missachtet. Die Gottebenbildlichkeit des Menschen hat diese beiden Seiten. Wo der Mensch sich selbst zum Gott aufschwingt und die irdische Realität als nach nur seinem (und nicht auch des Schöpfers) Bilde machbar erklärt, droht er, sie zu zerstören – nachdem er sich größenwahnhaft von seinem Inneren entfremdet hat.
Besonderheiten in Herders Umgang mit den Paradoxien Vergleicht man Herders Ansatz mit den Entwürfen seiner zeitgenössischen Vorgänger oder Nachfolger, fallen einige Besonderheiten ins Auge. Die erste, gewissermaßen atmosphärische, ist eine (insbesondere geschichtsphilosophische) Verlangsamung, eine Entschleunigung, die alle Zukunftsperspektive stark an die gegenwärtige Realität, an deren alltäglich gelebte Praxis bindet – und zwar mit allen Fähigkeiten, die den Menschen ausmachen, Vernunft, Gefühl, Leiblichkeit und Arbeit.
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Man könnte sagen: Die typisch neuzeitliche Aufbruchsstimmung wird gleich in mehreren Hinsichten gedämpft, die Möglichkeiten, die rousseauisch als ganze entfremdet, unmündig oder unkultiviert eingeschätzte Menschheit mit Hilfe von Avantgarden voranzubringen, wie sie aufklärerisch gehegt werden, entfallen weitgehend. Der Mensch – oder sollte man doch im Geiste Herders genauer sagen: die Menschheit – verfügt über kein neuartiges Organ (wie etwa die soeben enttraditionalisierend freigelegte Vernunft bei Kant) und keine neuartigen Geschichtsentdeckungen (wie etwa die ästhetische inspirierende Wirkung klassischer Vorbilder bei den Neuhumanisten), die dann ihrerseits den fortschrittlichen Denkern helfen könnten, auch die Masse der Anderen nach vorn zu bringen. Herder distanziert sich mit Hilfe seiner Sprachphilosophie von der Idee des fortschrittlichen Denkers, der, nachdem er sich von der Masse der Zeitgenossen mental losgesagt hat, nun den besseren Zustand der Menschheit mehr oder weniger sozial isoliert in seiner Theorie visionär antizipieren können soll. Für Herder ist das kulturbestimmte Sprachgeschehen transzendentale Bedingung jeden Denkenkönnens, das Bewusstsein noch des genialsten Individuums ist immer schon ein sozial und kulturell zu sich selbst an-gesprochenes, bevor es kreativ werden kann und es muss gewissermaßen im Modus der sozialen Antwort auf die Alle bewegenden Fragen bleiben, um wirklich kreativ sein zu können. Man sieht sofort, dass Herder anders mit den drei Bildungsparadoxien umgeht als die bislang vorgestellten Zeitgenossen, er gibt alle Möglichkeiten einer „Lösung“ aus der Hand, außer einer, die seine Bildungsidee begründet und zugleich orientiert. Der „besonnene“ Mensch muss sich in der Religion einer Transzendenz anvertrauen, die innerweltlich seine Güte als Frömmigkeit des Herzens eröffnet, als Feingefühl für die ihm anvertraute Welt – und natürlich in Sonderheit für die ihm anvertrauten Kinder, denen er durch sein „elterliches Mitgefühl“ erst die Welt als solche eröffnet. Bildung bedarf nach Herder der Transzendenz – die innerweltlich erfahren worden sein muss. Denn die Sinngrundierung allen Handelns durch das frühkindlich erfahrene Mitgefühl bleibt, die rücksichtsvoll-einfühlsame Liebe der Eltern wird vom Kind umwandelnd verinnerlicht in eine gleichsinnige Grundhaltung dem eigenen Dasein gegenüber. Philosophisch vorbereitet auf diese Forderung, die Menschheit müsse sich in der Transzendenz beheimatet sehen, ist Herder wie schon angedeutet durch seine zunächst von Hamann, dann von Leibniz, Shaftesbury und Spinoza stark beeinflusste Naturphilosophie sowie seine Sprach- bzw. Kulturtheorie (Herder 1982b, Menze 1980). Die Welt als Mit-Welt und Um-Welt ist dem Menschen stets vorgängig sinnhaft sprach- und kulturspezifisch erschlossen. Das auf sich gestellte Bewusstsein wie bei Descartes oder
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das ursprünglich leere wie bei Locke wäre für Herder nichts als eine Art Selbstabstraktion und wäre als solches: nichts. Die zentrale Interaktionsparadoxie wird demnach von Herder insofern gewürdigt, als er die Individualwerdung des Subjekts entscheidend an seine praktischen Sozialerfahrungen bindet, die zwar stets sprachkulturell spezifiziert sind, aber im Gefühl des Individuums für sich selbst wurzeln, das ihm durch seine frühkindlich entscheidenden Bezugspersonen eröffnet wurde. Was bei Rousseau noch Wirkung einer gesellschaftlich unverdorbenen Natur sein sollte, ist bei Herder konsequent an eine gesellschaftskulturell gerahmte, häuslich bildende Praxis gebunden. Damit das Kind seinen natürlichen Charakter entfalten kann, muss es fundamentale soziale, also kulturell bestimmte und dann (sprachlich) bestimmbare Erfahrungen real gemacht haben. Wie sehr Herder auch das Erlernen fremder Sprachen im Sinne einer kulturellen Dezentrierung später wichtig sein mag als wichtige schuldidaktische Vorgabe – es ist die im elterlichen Mitgefühl vorsprachlich-sinnenhaft erfahrene Sinngrundierung, die jedes humane Sprachgeschehen tragen wird. Damit verbieten sich auch alle Vorstellungen einer „lauffeuerhaften“ Verbreitung der Vernunft in der ansonsten unmündigen Gesellschaft, wie etwa Kant sie glaubte hegen zu dürfen. Die bei Herder in Sprachkulturen ausgelegte Menschheit stellt eine Solidargemeinschaft dar. Letzten Endes gelingt die Humanisierung nur gemeinsam, und sie muss, wie gesagt, in den Aufwachswelten der Kinder sinnlich-sinnhaft erfahren worden sein. Herder muss sich also ganz anders als seine Zeitgenossen auf die Suche machen, die Anzeichen und Vorzeichen einer zukünftigen Humanität im Schon-Jetzt der alltagsweltlichen Praxen aufzusuchen. Da diese Humanität aber gerade nicht in, beispielsweise, besonderer Intellektualität, hervorragendem Wissen oder ungewöhnlicher Kultiviertheit liegt, ist sie kein Attribut gesellschaftspolitisch herausragender Eliten, sie ist dadurch auch gerade nicht objektivierbar und ihre Existenz ist grundsätzlich nicht empirisch beweisbar. Damit handelt sich Herder eine Reihe von argumentativen Schwierigkeiten ein, die sich insbesondere in schulpädagogischer Hinsicht zeigen lassen. Es ist Herders Anthropologie, wonach Individualität sich wirklich nur im Reichtum erfahrener Sozialität entwickeln lässt, die ihm weitgehend die Möglichkeit nimmt, schulpädagogischen Einflüssen für die Humanwerdung des Menschen entscheidende, sozusagen kulturkorrigierende Wirkungen zuzutrauen, wie das vor allem bei Kant (und der Frühaufklärung sowieso) oder den Neuhumanisten der Fall ist. Es ist vielmehr die Lebenspraxis des häuslichen Alltags, in der die entscheidenden Haltungen grundgelegt werden müssen. Während die Schule hier immer nur aufbauen, aber nicht selber grundlegend wirken kann, muss gleichzeitig das gesellschaftsöffentliche Leben der Erwachsenen so organisiert sein, dass 148
es Raum lässt für eine sorgfältige Kinderbetreuung und auch, dass es die Fähigkeiten des einfühlenden Mitgefühls in seinen Teilnehmern nicht zerstört. Umgekehrt gilt aber, dass Schulen eine Begegnungskultur eröffnen müssen, die distanzierende kognitive Erfassung von Realität nicht erübrigt, aber grundsätzlich trägt. Herders Position lässt sich zuspitzen. Die Beziehungsparadoxie ist für ihn sehr wohl lösbar – sein Leitbild des innerweltlich religiösen, sozial einfühlsamen, vernünftigen und kreativen Individuums steht dafür – aber die Lösung muss gewissermaßen in den häuslich-lebensweltlichen Alltagspraxen der normaler Zeitgenossen kulturell vorermöglicht und sprachlich verständigungsorientiert eröffnet sein. Sobald Bildung zur Humanität lebensweltlich praktisch wird, wird auch die Beziehungsparadoxie „entparadoxiert“. Durch artifizielle gesellschaftsgewollte Maßnahmen kann sie hingegen nicht einmal richtig erfasst, geschweige denn gelöst werden. Das bedeutet zunächst eine Absage an die genuin aufklärerischen Machbarkeits-Vorstellungen, wonach die Selbsthumanisierung der Gesellschaft beschleunigt werden könnte. Die gesellschaftliche Paradoxie ist also von Gesellschaftsseite her nur durch Solidarisierungen „lösbar“, die zugleich lebensweltlich praktisch werden müssen. Isolierte Maßnahmen werden eher isolierend wirken. Zugleich ergeben sich ernüchternde Konsequenzen für jede aufklärerischtechnologische Pädagogik – halte sie sich auch für noch so progressiv. Eine Schule, die die misslungene Vorarbeit des Elternhauses beliebig kompensieren zu können glaubt, übernimmt sich und treibt die Defizite eher voran, die sie überwinden will. Gewiss kann die Schule leisten, was das Elternhaus nicht vermag, etwa die Dezentrierung durch Sprachvermittlung universalistisch zu fördern, aber überspringen kann sie die Vorleistungen des Elternhauses nicht. Wie aber soll die Schule – als Organisation – leisten, worin nach Herder – Bildung wurzelt: einfühlsame Begegnung, wie der Lehrer? Schon 1765 beschört Herder in seiner noch heute lesenswerten ersten Schulrede in Riga die „Grazie“ als wichtigstes Professionsmerkmal des Lehrers: „Den gelehrtesten Lehrer kann ein Schüler schätzen, aber bloß wegen seiner Gelehrsamkeit wird er ihm nichts zutrauen; den scharfen Lehrer kann ein Schüler fürchten, aber er wird ihn fliehen; nur den liebenswürdigen wird er schätzen und achten und sich ihm überlassen. Er muß auf seiner Stirn gleichsam die einfältige und erhabne Wahrheit eines Vaters lesen können, der nichts spricht, was er nicht denkt; er muß das liebenswürdige und muntre Herz eines Freundes sehen – und alsdann hat der Lehrer alles gewonnen: seine Grazie der Einfalt hat der Jugend das Herz genommen; alles, was er vorträgt, ist schön; sie folgen ihm auch auf beschwerlichem Wege…“ (1982, Vb, 248f)
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Unter den Bildungsklassikern erscheinen mir die hier deutlich werdenden Tendenzen (auch) Herders zur Pseudo-Entparadoxierung der Beziehungsparadoxie durchaus als die differenziertesten und paradoxie-nächsten: er benennt zumindest die notwendige Bedingung ihrer Lösung, die hinreichende Bedingung – wonach die positive Resonanz des Schülers auch durch den besten Lehrer nicht automatisierbar ist – scheint ihm verborgen. Letzteres trifft auf seine Zeitgenossen Kant oder Humboldt ohnehin zu, aber mit Ersterem ist er ihnen zweifellos voraus.
3.2 Implementation der Bildung im 19. Jahrhundert Ideen der Aufklärung und Regress auf die Frühaufklärung Als im Laufe des 19. Jahrhunderts im Zuge der Frühindustrialisierung die Bildung implementiert wird – durch Einrichtung von Schulsystemen und Einführung einer Schulpflicht für alle Kinder –, geschieht manches, das man von den großen Bildungstheoretikern des 18. Jahrhunderts her hätte vermeiden müssen oder das von ihnen gewissermaßen vorweg befürchtet worden war.96 Festzuhalten bleibt allerdings, dass die klassischen Theoretiker sich untereinander in ihren Bildungsvorstellungen und deren möglichen Konkretisierungen ja keinesfalls einig gewesen waren. Ich möchte im Folgenden wieder eine sehr summarische Darstellung geben, die vielleicht den Vorteil aufweist, Grundstrukturen markant herausarbeiten zu können. Diese Grundstrukturen aus der Implementationsphase des modernen Schulsystems bleiben – so meine Hypothese – bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wirksam. Ich behaupte sogar, die heutigen meinungsführenden bildungspolitischen Kräfte arbeiten umso verbissener mit diesen Strukturen, je mehr sich der sie tragende Gesellschaftsmythos öffentlich als obsolet erwiesen hat. Ich versuche demnach zweierlei: einerseits das Erbe der Theorieentwürfe des 18. Jahrhunderts in den realen Etablierungen des Schulsystems des 19. Jahrhunderts aufzuspüren, um andererseits ein vertieftes Verständnis der aktuellen Bildungsund Schulkrise zu eröffnen und die Frage zu thematisieren, wie und warum diese – als Krise – so geflissentlich ignoriert und politsemantisch als „Bildungsreform“ verkauft werden kann. So gesehen bewege ich mich in einem Programm, das, wie eingangs schon erwähnt, Wolfgang Klafki vor mehr als zwanzig Jahren umrissen hat: wonach es heute wichtiger denn je sei, zur Bewältigung der drängendsten Zukunftsfragen 96
Die historische Einschätzung dieses Implementationserfolges variiert unter den zeitgenössischen Bildungsexperten beträchtlich: man vergleiche exemplarisch die Einschätzung Wolfgang Klafkis (1996) mit der von Jürgen Oelkers (1989).
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der Menschheit (die er als „epochaltypische Schlüsselprobleme“ fasst) sich auf die großen bildungstheoretischen Entwürfe des ausgehenden 18. (und des beginnenden 19.) Jahrhunderts zu besinnen. Ich beginne mit dem, was stattfand und was nicht stattfand, um dann in die Begründungen hineinzugehen. Was stattfand war, dass im Laufe des 19. Jahrhunderts eine allgemeine Schulpflicht für alle Kinder eingeführt wurde. Man erkennt auf den ersten Blick die Umsetzung der aufklärerischen Idee einer „Bildung für Alle“. Dies bleibt unberührt von den bekannten gesellschaftstheoretischen und ökonomischen Motiven, wonach der Grad der vor allem durch die Industrialisierung bedingten gesellschaftlichen Sozial- und Arbeitsdifferenzierung und das Niveau der dynamisierten Arbeitsleistungs-Erfordernisse ein traditionelles Imitationslernen der Kinder als unzulänglich ausgewiesen hatte. Zugleich werden, auch das ist typisch aufklärerisch, die Kinder insbesondere der sozial niederen Schichten dem Einfluss ihrer Eltern schulzeitweise entzogen, nicht zu vergessen auch der Möglichkeit ihrer übergriffigen häuslichökonomischen Funktionalisierung durch Kinderarbeit. Was nicht stattfand, war die Umsetzung der hochfliegenden idealistischen Vorstellungen, wie sie vor allem bei Rousseau, Kant und den Neuhumanisten greifbar sind. Da Kant schärfer als die anderen Zeitgenossen es formuliert hat, lässt es sich von ihm her auch besonders leicht nachweisen. Davon, dass „die Anlage zu einem Erziehungsplane .. kosmopolitisch“ und in seinem Sinne einer „Moralisierung“ gemacht worden wäre, konnte nun kaum die Rede sein. Ich bin versucht, die seinerzeit leitenden Gedanken als eine Art Spiel zu formulieren, bei dem die relevanten Denker so berücksichtigt wurden, dass sie gegeneinander ausgespielt wurden – wodurch keiner wirklich ernsthaft zum Zuge kam. Während sich mit Kant vorzüglich die Forderung nach unerbittlicher Strenge im Umgang mit den jungen „undisziplinierten“ Kindern ableiten ließ und Herders Betonung der „Einfühlung“ bzw. „Grazie“ auf der Strecke blieb, ließ sich mit Herder die Schule, insbesondere die „Volksschule“ im Unterschied zu den Kantischen Ideen rechristianisieren, wobei dies aber (mit Blick auf die rivalisierenden Konfessionen) wiederum nationalistisch-spätromantisch überformt wurde. Die Kombination der beiden amputierenden Rückgriffe ergab dann ganz zwanglos die Einrichtung einer strikt autoritären, nationalistisch ausgerichteten und je christlich-konfessionell grundierten Volksschulbildung, während das neuhumanistische Erbe eines Humboldt oder Schiller der „Höheren Schule“ zugeschlagen wurde. Hier sollte dann „Bildung“ stattfinden, während für die große Mehrheit der Schulabsolventen „Erziehung“ für ausreichend erachtet wurde. Auch hier, in dieser Sequentialisierung: erst Erziehung, dann Bildung, konnte man sich allzu leicht auf (den wie gesagt: vorweg amputierten) Kant berufen. Bei Kant allerdings sollte das Stadium der Erziehung („Zucht“) keineswegs nur bei 151
sogenannten besonders Begabten in das Stadium der Bildung („Moralisierung“) überführt werden, sondern bei allen Kindern. Wie ließen sich aber diese Segregationen, die dann ein mehrgliedriges und durch viele Jahrzehnte die sozialen Sezessionen nur für Einzelne und nur unter Mühen überwindbares Schulsystem mit scharf getrennten Schulformen hervorbrachten, mit der aufklärerischen Grundoption vereinbaren? Wie ließen sie sich (in Deutschland dann entsprechend später) mit einem demokratischen Staatsverständnis kombinieren? Die Auflösung dieser – marxistisch betrachtet – „Widersprüche“ in scheinbare Dialektiken erfolgte im Zusammenhang einer Entparadoxierung der Gesellschaftsparadoxie, von der her wiederum dann sowohl die Beziehungs- als auch erst recht die Organisationsparadoxie sich scheinbar auflösen ließen. Diese Auflösung arbeitete, grob gesagt, mit den Mitteln der Aufklärung selbst, allerdings – das wird sich gleich zeigen, mit den Mitteln genau derjenigen Frühaufklärung, gegen deren Einseitigkeiten die oben aufgeführten Bildungsdenker des 18. Jahrhunderts noch protestiert hatten. Die besondere Pointe dieser Rezeption frühaufklärerischen Denkens im 19. Jahrhundert speziell im Schuldsystem besteht in der Mobilisierung genuin aufklärerischer welt-anschaulicher Grundpositionen, die nationalstaatlich integriert, besser gesagt: reduziert und zugespitzt und der Industrialisierung angepasst werden. Diese aufklärerischen Grundpositionen, wie sie sehr wohl auch für die besagten Bildungsdenker des 18. Jahrhunderts galten, sind erstens, dass Bildung ein Menschenrecht für Alle sei – daraus wird die Schulpflicht für Alle abgeleitet – und dass die Menschheit insgesamt zu Fortschritten ihrer Vernunft bzw. Kultur im Sinne einer Selbsthumanisierung nicht nur verpflichtet, sondern durchaus auch fähig sei. Hinter letzterem steht ein geschichtsidealistischer Fortschrittsoptimismus. Zu diesen beiden aufklärerischen Grundeinstellungen gesellt sich im 19. Jahrhundert dann drittens der Rückgriff hinter Rousseau und Kant auf frühaufklärerische Vorstellungen, wie sie vielleicht am ausdrücklichsten bei Francis Bacon ausformuliert sind. Diese re-etablieren das von Rousseau und Kant kritisierte naive Rationalitäts-Selbstverständnis, wonach, schematisch gesagt, 152
eine die Natur in ihren Gesetzen kühl erforschende Natur-Erkenntnis zu Erkenntnis-Fortschritten führt, die sich als Freisetzung neuartiger Möglichkeiten der naturgesetzausnutzenden menschlichen Technologie führt, die sich ökonomisch umsetzen lässt, wodurch sich die menschliche Arbeitsproduktivität steigern und mit ihr der Wohlstand Aller einerseits und
die privat nutzbare Freizeit für Alle andererseits beträchtlich erhöhen lässt; was wiederum die Menschen in der Folge der Linderung ihrer elementaren Daseinsnot (überharte Arbeit, Krankheit, Hunger, frühzeitiger Tod) und in der Erweiterung ihrer Möglichkeiten zu selbstgestalteter Privatheit sittlich-moralisch vervollkommnen wird.
Der Rückgriff auf frühaufklärerische Vorstellungen bricht jedoch mit ihrem autoritätskritischen Impetus und wird stattdessen je nationalistisch unterlegt. Das erscheint mit spätromantischen Denkmitteln leicht möglich, also irgendwie auch im Rückgriff auf Herder. Wichtig ist insbesondere, dass sich der Nationalismus in den führenden Industrienationen des 19. Jahrhunderts jeweils kosmopolisch, also sendungsbewusst, definiert, wofür im deutschen Sprachraum die peinliche erste Strophe der Nationalhymne ähnlich wie das dekuvrierende Diktum „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ charakteristisch stehen.
Der Wachstumsmythos Liegt der gesellschaftspolitische Basisfehler dieses weltanschaulichen Konglomerats, das ich als „Wachstumsmythos“ bezeichnen möchte, in der strikt nationalistischen Rahmung, die mit einer gewissen Notwendigkeit die kosmopolitisch um Hegemonie rivalisierenden Großmächte im Ersten Weltkrieg aufeinander losgehen lassen wird, dann lässt sich die moralphilosophische Selbsttäuschung mit Leichtigkeit am Wechsel vom vorletzten zum letzten Punkt der obigen vermeintlichen Kausalreihe ablesen, jedenfalls wenn man Kants Unterscheidung der Logik der theoretischen („reinen“) von der der moralisch-ethischen („praktischen“) Vernunft ernst zu nehmen gewillt ist. Kants für seine Pädagogik entscheidendes Insistieren darauf, dass der wünschenswerte Fortschritt ein moralischer sein muss, um Fortschritt genannt werden zu dürfen, basiert erkenntnistheoretisch auf der Feststellung, dass sich Naturerkenntnis und moralische Einsicht (in das Sittengesetz) nicht aufeinander reduzieren lassen. Die frühaufklärerische Rationalität ist so gesehen nicht nur reduziert, sie ist auch gerade in ihrer Reduziertheit hybrid. Man könnte sagen: Sie überspringt wissenschaftsgläubig die Selbstreflexion, die auf je ihre Weise Rousseau, Kant, Humboldt, Schiller und Herder nicht nur gefordert, sondern auch exemplarisch zu üben versucht haben. Selbstreflexion ist, auch das kann man von den Klassikern lernen, gerade kein einsamer Akt eines sich selbst in die Welt denkenden isolierten Bewusstseins, sondern sie bedarf der Begegnung mit dem Anderen – was selbst noch für Kants entindividualisierende Sicht auf das heranwachsende Individuum gilt. 153
Der Wachstumsmythos synthetisiert auf eine durchaus bestechende Weise ganz unterschiedliche Tendenzen, er löst auch wie schon erwähnt scheinbar die drei Bildungsparadoxien – darauf werde ich etwas später zurückkommen. Eine erste Syntheseleistung wurde bereits angedeutet. Im Wachstumsmythos werden zwei genuin aufklärerische welt-anschauliche Gesichtspunkte so kombiniert, dass sie genau dadurch ihr eigentlich kritisches Potenzial verlieren. Gewiss nämlich sollen durch den wachstumsinduzierten Fortschritt alle Menschen in menschenwürdige Verhältnisse hineinfinden können97 – diese Forderung wird nun mit Hilfe der aufklärerischen geschichtsphilosophischen Fortschrittsvorstellung doppelt verzeitlicht: Zwar wird sie einerseits in eine unabsehbare Zukunft verlagert, dies muss andererseits aber dadurch nicht als problematisch-unkonkret erscheinen, weil sich gleichzeitig im Hier und Heute so viel unbezweifelbarer „Fortschritt“ abspielt, dass das Zukunftsversprechen gewissermaßen seinen utopischen Charakter zu verlieren scheint – es wird irgendwie alltäglich-greifbar eingelöst. Tatsächlich sind die Fortschritte der Naturwissenschaft mit ihren ungeheuren Eingriffen in die Natur und den Alltag der Menschen, die nun gezwungen sind (oder werden) ihren Arbeitsrhythmus auf die Desiderate der industriellen Produktion einzustellen bis hin zu massenhaften Migrationsbewegungen, unübersehbar. Unübersehbar ist auch – worauf etwa ein kritischer Gesellschaftsdiagnostiker wie Jürgen Habermas (1985) nachdrücklich hinweist – dass die Industrialisierung einen beachtlichen Teil ihrer Versprechungen tatsächlich eingelöst hat ungeachtet ihrer Rückgriffe auf vormoderne Mentalitäten etwa in den Kriegen: indem erstmalig in der Geschichte der westlichen Welt massenhaft Menschen aus traditionell ärmlichen Verhältnissen nun ein Privatleben entwickeln und einen bescheidenen Wohlstand erarbeiten können. Allerdings ist genau dies, die empirische Beweisbarkeit des Fortschritts die entscheidende Bedingung der Möglichkeit des Glaubens an den Wachstumsmythos. Denn unter nachaufklärerischen Bedingungen darf ein Mythos nun gerade nicht als das erscheinen, was er ist, nämlich als ein Mythos – sonst erschiene der Glaube an ihn ebenfalls als das, was er ist, nämlich als eine Art des massenhaften Aberglaubens. Der neuzeitliche Wachstumsmythos gibt sich im 19. Jahrhundert den Charakter wissenschaftlicher Fundiertheit bzw. Beweisbarkeit. Das fängt schon mit dem Begründer der modernen Soziologie an, mit Auguste Comte. Die vom Mythos vermittelte scheinhafte Sicherheit hat aber zumindest ihren doppelten Preis. Denn wenn der Fortschritt erst einmal so vorgestellt und gewissermaßen „operationalisiert“ wird, dass er „empirisch beweisbar“ ist, bedeutet dies in der Konsequenz des Kantschen Denkens, dass der moralphilosophische Fehlschluss öffentlich denküblich wird, der moralische Fortschritt würde sich 97 Das gilt auch durchaus noch – wenn auch in unbestimmt weiter Ferne – für die kolonialisierten Völker der „Dritten Welt“.
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automatisch aus dem technisch-materiellen ergeben. Eine Folge der Verbreitung des Wachstumsmythos in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit ist dann, dass sich im Anschluss an den Zusammenbruch des gewissermaßen an seiner idealistischen Großartigkeit kläglich scheiternden Hegelschen Denksystems (Taylor 1983) die ernst zu nehmenden Philosophen aus dieser öffentlichen „WeltAnschauung“ umso mehr verabschieden, je mehr diese massenhaft wird: Das gilt von Kierkegaard bis Nietzsche, von Schopenhauer bis Marx, der den Fortschrittsglauben zwar beibehält, ihn aber entscheidend an den revolutionären Umsturz der ökonomischen Verkehrsverhältnisse bindet. Analoges gilt von der modernen Kunst, die die neue Unverständlichkeit der gesellschaftlichen Realität auf ihre Weise widerzuspiegeln beginnt. Den Bevölkerungsschichten, die sich noch zu Anfang des 19. Jahrhunderts in Armut und Unterentwicklung befunden haben, ist der Wachstumsmythos hingegen sehr leicht „beizubringen“ gewesen – vielleicht nicht in seiner Konsequenz, einer industrios-selbstausbeuterischen Arbeitsmoral, wohl aber in seiner ideologischen Überzeugungskraft und deren Versprechungen. Was erstere, die Arbeitsmoral, betrifft, hatte die nun schlagartig zu politischen Ehren kommende Pädagogik im Sinne einer rücksichtslosen Disziplinierung der Kinder Enormes zu leisten, was letztere betrifft, das Versprechen auf Linderung der aktuellen Daseins-Not und Verheißung einer besseren Zukunft, war ihre Aufgabe dagegen ein Leichtes. Allerdings: Schon wegen der nun abgeforderten Selbstdisziplinierung der Massen und der Heranwachsenden musste die Glaubwürdigkeit des Wachstumsmythos erfahrbar bewiesen werden, und das ging nicht einfach über äußere Veränderungen, etwa die Einführung der Eisenbahn, den Bau gigantischer Bahnhöfe oder Fabrikhallen, das Aus-dem-Boden-Stampfen ganzer Industrieregionen, sondern ausschließlich dadurch, dass die Söhne der Industriearbeiter erlebten, dass es ihnen zumindest etwas besser ging als ihren Vätern. Dann war auch der Blick auf die Söhne der Industriellen und anderer gesellschaftlich Einflussreicher, die spätestens durch die weiterführenden Schulen sozial-kulturell sorgsam getrennt in ihre zukünftigen Privilegien eingewiesen wurden, gut erträglich. Kants Forderung, die Vernunft müsse von Generation zu Generation durch verbesserte Pädagogik verbessert gefördert werden, war hier gewissermaßen handgreiflich-einfach „vom Kopf auf die Füße gestellt“.
„Realistische“ Pädagogik, „progressive“ Politik Der Wachstumsmythos erscheint also von Anfang an für viele philosophisch informierte Intellektuelle eine gigantisch-kollektiv angelegte Selbsttäuschung der 155
Moderne. Je nachdem, ob sie von ihnen der Aufklärung eher angelastet wird – was in gewisser Hinsicht berechtigt erscheint – oder nicht – was in anderer Hinsicht berechtigt erscheint – führt dies zu ihrer Abkehr von dem „Projekt“ einer Selbsthumanisierung der Menschheit oder zu meist schwer nachvollziehbaren Differenzierungen bei deren Rettungsversuch. Es zeichnet sich ab, dass sich unter den gesellschaftlichen Subsystemen, die sich öffentlich ausdifferenzieren, Philosophie, Kunst und übrigens selbstverständlich auch Religion in eine tendenziell gesamtgesellschaftskritische bzw. esoterische Lage versetzen müssen. Denn sie lehnen den Wachstumsmythos ab, insofern sie ihn als Mythos intellektuell bzw. intuitiv bzw. durch die Transzendenzorientierung aus Glaubensgründen durchschauen. Für die Jurisprudenz, die Medizin und die Naturwissenschaft und – allen voran: die Ökonomie – gilt dies hingegen nicht. Eine gewisse Sonderrolle spielen öffentliche Politik und Pädagogik, erstere, weil sie schon unter monarchisch-konstitutionellen, erst recht unter demokratischen Bedingungen neu begründungspflichtig, letztere, weil sie durch ihre schulische Implementation bedeutungsvoll wird. Sie werden im 19. Jahrhundert zur Legitimation des nationalen Verfassungsstaats neuartig wichtig. Nicht zufällig entstehen allgemeine Schulpflicht und allgemeine Militärpflicht unter nationalen Vorzeichen – die militarisierte Politik und die zuarbeitende Pädagogik machen sich, wo sie sich etablieren, zu Vorreitern des Wachstumsmythos. Der „Realismus“, auf den sie verpflichtet werden bzw. dem sie sich willig verpflichten, ist entscheidend wachstumsmythologisch begründet. Das bedeutet, nebenbei, dass sich die Pädagogik, je erfolgreicher sie sich zur Förderung der Wachstumseliten etabliert, umso mehr von der großen Philosophie löst und naturwissenschaftspropädeutisch aufstellt, während sie die Klassiker musealisiert, um sie einer Elite-Kultur einverleiben zu können. Letztere muss sich ihre kulturelle Dignität umso mehr bestätigen, je entschlossener sie ihre sozialen Privilegien aus der öffentlichen Durchsetzung und Umsetzung des von Anfang an „eigentlich“ durchschaubar ideologischen Wachstumsmythos bezieht. Auch die Politik muss sich, gerade da, wo sie konservative oder sogar reaktionäre Züge aufweist, als „progressiv“ ausweisen. In Deutschland etwa besorgt das adlige Militär unter preußischer Führung die Reichseinigung, nachdem Österreich wenige Jahre zuvor aus der Konkurrenz ausgeschieden werden konnte. Jahrhundertealte regionale Selbstverständnisse werden im Reich zur nationalen Einheit zusammengepfercht, wobei innenpolitisch die rabiat nachgeholte Industrialisierung nach dem außenpolitischen Triumph über den „Erbfeind“ den Wachstumsmythos durchsetzt, wie gesagt, unter autoritär-nationalen, militanten Vorzeichen. Wie Zygmunt Bauman (1995) eindringlich gezeigt hat, sind die Juden in ganz Europa diejenigen „Fremden“, die innerstaatlich die vorangetriebenen 156
„Volks“-Einigungen zu kontrastieren haben. Nicht nur werden sie durch die Industrialisierung und den zugrunde liegenden Wachstumsmythos zu der Heimatlosigkeit verurteilt, die sie dann – mit Marx, Freud, Kafka – der Moderne als deren inneres Schicksal diagnostizieren, es ist auch nur noch eine Frage der Zeit, wann sich die innenpolitisch-nationalistisch funktionalisierte außenpolitische Militanz auch unmittelbar gegen die bekannten „Fremden im eigenen Land“ richten wird.
Schulsystem als Instrument der nationalen Versöhnung Wollte man die Rede vom Militär als „Schule der Nation“ besonders erst nehmen, fiele immerhin ein höchst erhellendes Licht auf die Schule selber. Meine Hinweise sollten schon andeuten, dass sich gerade am deutschen Beispiel zeigen lässt, wie der Wachstumsmythos traditionalistisch-autoritäre und demokratischrepublikanische politische Vorstellungen gleichermaßen zu konkretisieren und zu transformieren in der Lage scheint. Da er sich mit der Durchsetzung gleicher oder ähnlicher realer Lebensverhältnisse Zeit nehmen darf, weil es zunächst ja immer um einen materiellen Fortschritt geht, kann er ungleichen Sozialverhältnissen nicht nur den politischen Stachel nehmen, er kann sie sogar legitimieren – sofern eben der massenhafte Fortschritt auch für den je Einzelnen erfahrbar wird und sich seine Realitätsangemessenheit insofern selbst beweist. Der Arbeiter, der sich als Rädchen in einer gigantischen Maschinerie erfährt, deren technisches Funktionieren als ganzes er ebenso wenig verstehen kann wie ihre Markttauglichkeit, die er aber an seiner Lohntüte ablesen kann, wird ganz nebenbei daran gewöhnt, dass es Leute an der Firmenspitze gibt, die mittelbar und existenzsichernd für ihn sorgen. Die Frage, ob diese vielleicht vor allem unmittelbar für sich selbst sorgen, wird erst virulent, wenn seine Firma ihn in eine für ihn existenzbedrohliche Krise stürzt. Das Modell des kapitalistischen Unternehmens grundiert dann jedwedes Modell von Demokratie, so dass sich die alltägliche Erfahrung etabliert, dass das eigene Wohlergehen – wie gesagt ablesbar am familieninternen Generationenfortschritt – von der eigenen Bemühung (als notwendiger Bedingung) einerseits, aber entscheidend vom erfolgreichen, grundsätzlich undurchschaubaren Funktionieren gesellschaftlicher Funktionseliten andererseits (als hinreichender Bedingung) abhängt. Der Demokratisierungsgrad der modernen Demokratien wird demnach durch das kapitalistische Wirtschaftssystem entscheidend relativiert – der Unterschied zu feudal-autoritären oder gar faschistischen Verhältnissen wird eingeebnet und der Rückfall bzw. Absturz in beide Richtungen mithin erleichtert.
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Für das Schulsystem könnte sich die Konstellation äußerlich kaum günstiger darstellen. Denn zunächst erscheint es wie ein groß angelegtes und großartiges Medium der gesamtgesellschaftlichen Versöhnung. Erstens soll es ja – gut aufklärerisch – der Humanisierung der Menschheit dienen. Diese wird einerseits einer fernen Zukunft anvertraut – jedenfalls in den Details – andererseits aber wird unverzüglich-unbezweifelbar schon jetzt damit begonnen – durch den erkenntnismäßigen, technischen und ökonomischen Fortschritt, der real immer mehr Menschen erfasst, die vorher in Armut gelebt haben. Zweitens dient es ja unzweifelhaft jetzt schon der zweiten gut aufklärerischen Prämisse, dass eben sämtliche Menschen als vernunftbegabte Wesen zu sehen und zu fördern seien: Die allgemeine Schulpflicht beweist geradezu die Ernsthaftigkeit der Umsetzung dieser Maxime. Der Schillerschen Forderung, man müsse die Aufklärung des Kopfes an die Herzen der Masse heranbringen, ist dadurch Genüge getan, dass der erwünschte Humanfortschritt aus den Idealismen einer ästhetischen Klassik oder sittengesetzlichen Moral in die alltägliche Erfahrbarkeit der „niedern und zahlreichern Klassen“ verlagert wird. Während Schiller scheinbar noch nachdrücklicher umgesetzt wurde als er es sich selbst je hätte träumen lassen, werden seine Werke mit ihren Botschaften einem ausgewählten Publikum so zugänglich gemacht, dass dieses in den Botschaften (und dass sie öffentlich aufgeführt werden) den Beweis erblicken darf, dass sie gesamtgesellschaftlich hinreichend umgesetzt wurden. Gewiss werden Schillers (oder Humboldts oder Kants) Ideen, der Fortschritt müsste ein innerer moralischer sein, um ein wirklicher sein zu können, auf diese Weise unter der Hand als idealistische Verstiegenheiten verworfen, aber doch so, dass man sich nun umso glanzvoller auf die Kronzeugen der eigenen Humanität berufen kann – wobei nationalistische, etwa franzosenkritische Anklänge bei den Klassikern besonders willkommen geheißen werden. Im Wachstumsmythos ist die aufklärerische Selbstkritik, wie sie eben die Klassiker im Anschluss an Rousseau geübt hatten, durch Regress auf frühaufklärerische Vereinfachungen ausgehebelt, während sich die durch ihr Schulsystem als fortschrittlich erweisende Gesellschaft dadurch bestätigt, die „eigentlichen“, also realistischen, Visionen der Klassiker eingelöst zu haben. Kurz: Die Öffentlichkeit der industrialisierten Wachstumsgesellschaft behauptet die gesellschaftliche Bildungsparadoxie als prinzipiell gelöst, weil sie nachweislich auf dem Weg in eine humane Zukunft und insofern schon hinreichend human sei. Mit diesem unerhörten weltanschaulichen Schachzug haben sich die beiden anderen Bildungsparadoxien gleich mit erübrigt, die organisationsbezogene sowieso, aber auch die philosophisch provokantere Beziehungsparadoxie.
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Erledigte Bildungsparadoxien Was letztere betrifft, so erlaubt, ja erfordert das große Ziel der Humanisierung der Menschheit unter den eigenen nationalen Vorzeichen ganz selbstverständlich von allen Heranwachsenden große Selbstdisziplinierung, wie sie vom Bürgertum, gerade wo es kapitalistisch erfolgreich tätig war, ja ohnehin längst geübt wurde. Ähnliches galt sogar vom Adel, zumindest da, wo er seinen männlichen Nachwuchs durch die Fegefeuer militärischer Kadettenanstalten schickte. Armut und Rückständigkeit der Unterprivilegierten konnten hingegen leicht als „selbstverschuldete Unmündigkeit“ durch kulturferne Faulheit und Ausschweifung dargestellt werden. Den Schulen oblag damit eine zentrale gesamtgesellschaftliche Mission, insbesondere den die Kinder erziehenden Volksschulen. Die christlichen Kirchen konnten sich mit ihrer skeptischen katholischen oder pessimistischen protestantischen Erbsünden-Anthropologie wirkungsvoll in das große nationale Ganze einbringen, das letztlich der Humanisierung der Weltgesellschaft dienen sollte, jedenfalls da, wo die staatlichen Gestaltungsansprüche des Schulsystems nicht offen mit den kirchlichen kollidierten.98 Bezogen auf die Beziehungsparadoxie bedeutete dies, kurz und knapp, dass der erzieherische Einfluss zum Zweck der Disziplinierung der Heranwachsenden dringend gefordert – und damit als solcher unproblematisch – erschien. Die Selbstwerdung der Heranwachsenden musste erzieherisch fremdgefördert, ja, zur Not fremdgeformt werden. Fehler konnten zunächst eigentlich nur in Versäumnissen der Disziplinierung liegen, freilich sollten religiöse und vaterländische Belehrungen und Haltungsförderungen positiv hinzukommen – abgesehen von den Kulturtechniken, deren Beherrschung nun für stetig wachsende Bevölkerungsteile wichtiger wurde. Von allen Zitaten der Klassiker hatte Kants Diktum, wonach „Zwang .. nötig“ sei zum Zweck der Kultivierung der Freiheit, die besten Chancen, sich im pädagogischen Selbstbewusstsein einzunisten, anderes wie sein entschlossener Kosmopolitismus etwa blieb demgegenüber im Abseits. Was die Organisationsparadoxie betrifft, so wurde deren Problematik unter den Vorzeichen der absoluten Notwendigkeit der Etablierung der Schule der Nation für alle jungen Männer und der nationalen Schule für alle Kinder ohne weiteres eliminiert, sie verlagerte sich eher auf organisatorische, finanzielle und 98
Wo sie es taten, blieben den Kirchen, jedenfalls in nicht wenigen Ländern, Möglichkeiten einer mehr oder weniger insgeheimen Schulkonkurrenz mit den staatsbehörden-abhängigen Teilen des Schulsystems über das Privatschulwesen. Sie neigten weltweit, von den Niederlanden bis nach Südamerika, dazu, den staatlichen Schulen nachzuweisen, dass eine fundierte Transzendenzorientierung keineswegs mit Einbußen an innerweltlicher Konkurrenz- und Durchsetzungsfähigkeit erkauft werden müsse, ganz im Gegenteil.
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wie angedeutet auf Probleme der ideologischen Einflussnahme etwa zwischen Staat und Kirchen. Unter den Prämissen des Wachstums gelang vielmehr eine höchst eindrucksvolle Synthese von Allgemeinerziehung für Alle und gezielter Förderung von Eliten, wobei beide, die Volksschulmassenerziehung und die Bildung an der Höheren Schule, dem Fortschritt dienen sollten. Denn evident war, nicht nur an den modernen Industriebetrieben, sondern auch in den staatlich-bürokratischen Organisationen, dass es zum Funktionieren der modernen nationalen Massengesellschaft – ob demokratisch oder konstitutionellmonarchisch – jedenfalls der Funktionseliten bedurfte, die das Wohl Aller, auch und gerade der von Privilegien und einflussreicheren Positionen Ausgeschlossenen, besorgten. Der Krieg erwies sich hier zusätzlich als „Vater aller Dinge“ – insbesondere was die Einigung des Deutschen Reiches betrifft, andere westliche Nationalstaaten konnten sich bereits auf die Unterwerfung von „Kolonien“ im Weltmaßstab konzentrieren. Dass an den Gymnasien zukünftige Privilegierte – Unternehmer, Juristen, Naturwissenschaftler, Politiker – ausgebildet wurden, musste die Masse der Volksschulabsolventen keineswegs nachdenklich stimmen: denn diese würden später für sie sorgen, indem sie den allgemeinen nationalen Fortschritt vorantreiben, also auch zumindest indirekt für sie selbst mitsorgen würden.
Schulische Pädagogik: die große Syntheseleistung Was im Angesicht der Klassiker als ein Verrat an Erziehung, Bildung oder Moralisierung hätte erscheinen müssen – die Funktionalisierung des Bildungssystems für gesellschaftliche, soziale und wirtschaftliche Erfordernisse, die Mehrgliedrigkeit des Schulsystems mit der gezielten Erschwernis von Aufstiegschancen für Kinder aus sozial schwächerer Herkunft, das Auseinanderreißen von Erziehung und Bildung mitsamt der grotesken semantischen Verengung des Bildungsbegriffs, die Unterbesoldung der Pädagogen mit den pädagogisch anspruchsvolleren Aufgaben usw. – konnte nun als großartige Synthese von aufklärerischem Humanisierungsanspruch und besonnen-realistischer Umsetzung, als Kombination von Allgemeinerziehung und Begabtenbildung, als Versöhnung von Kapitalismus und Staatsform, ja Demokratie, von Konkurrenz und Kooperation, von Nationalbewusstsein und Kosmopolitismus propagiert werden. Wer wie angedeutet in dieses System nicht hineinpassen konnte, waren die konkurrierenden anderen industriell fortgeschrittenen Nationen mit ähnlichen Hegemonialansprüchen, wer nur bedingt hineinpassen durfte – trotz aller schmerzlichen Assimilationsanstrengungen – das waren wie erwähnt die Juden.
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Es war nötig, den Bildungssinn dieses mehrgliedrigen Schulsystems für evident zu halten. Diese Evidenz ergab sich aus dem Widerschein des alltäglich erfahrbaren Realismus des Wachstumsmythos, ihn galt es, gerahmt in nationales Pathos, am Leben zu halten. Auch er wäre (und war) durch bloße Nachdenklichkeit und den jederzeit möglichen entmusealisierenden Rückgriff auf die Bildungsklassiker als bloßer Mythos zu durchschauen gewesen. Der Wachstumsmythos als Mythos der national bewerkstelligten Machbarkeit einer besseren Welt war offenbar der Preis für die aufklärerische Abschaffung der traditionellen Mythen – dadurch dass sich entscheidende Teile der modernen Naturwissenschaft ihre letzte welt-anschauliche Begründung von diesem Mythos besorgten, wurde er nicht rationaler noch wissenschaftlicher. Was die Pädagogik betrifft, so trat sie als ganze einen echten Siegeszug an, es gelang ihr im Zuge des 19. Jahrhunderts und dann in gewissen Sprüngen im 20. ihre öffentliche Wertschätzung unaufhörlich zu steigern. Der Preis hierfür war wie schon erwähnt vielfältig, und er lässt sich ganz unschwer am Umgang mit den Bildungsparadoxien ablesen. Der höchste, also verhängnisvollste Tribut der Pädagogik an ihre eigene rasante Erfolgsgeschichte war, dass diese auf der Missachtung der Bildungsparadoxien beruhte, die sich ihrerseits als semantische Verflachung und Zerstückelung dessen auswirkte, was sinnvoll unter Pädagogik oder Bildung zu verstehen gewesen wäre. Eine glatte Missachtung der Bildungsparadoxien war nach Rousseaus Émile kaum noch möglich – es sei denn man hätte die Erinnerung daran oder aber auch an Kant oder die Neuhumanisten auslöschen können. Da dies also kaum möglich war, bot sich nur noch an, ihren Kosmopolitismus dadurch außer Kraft zu setzen, dass man die Auflösung der Paradoxien als beweisbares Erfahrungsdatum behauptete. Genau dies war mit Hilfe des Wachstumsmythos möglich, wobei, wie schon dargelegt, die Kombination von alltäglicher Erfahrbarkeit materiellen Fortschritts und die Vertagung der endgültigen Einlösung des gesellschaftsweiten Selbsthumanisierungsanspruchs in eine unbestimmte Zukunft, die nur begonnen haben musste, entscheidend war. Damit konnte die gesellschaftliche Öffentlichkeit durch ihre politischen Sprecher mit dem Anspruch auftreten, zwar nicht schon tatsächlich human(isiert) zu sein, wohl aber, sich unzweifelhaft auf dem besten Wege hierzu zu befinden, so dass jedwede Kritik an den gegebenenfalls einzuräumenden Humanitätsdefiziten Gefahr lief, diese unnötig zu verlängern statt sie zu überwinden.
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Blick zurück auf Rousseau Soweit die subjektivierende Rede hier zulässig ist, kann man sagen: Die nationale Gesellschaft begann öffentlich, sich ihre Humanität zu bescheinigen, der Wachstumsmythos begründete dies, indem er seine Evidenz als realistische Welt-Anschauung erzeugte, das Schulsystem gliederte sich gesamtgesellschaftsintegrierend ein. Es fällt hier auf, angesichts der gesellschaftlichen Bildungsparadoxie, die nun gesellschaftsöffentlich als aufgelöst behauptet und dadurch außer Kraft gesetzt wird, dass das Bildungssystem nun nicht mehr die Rolle wahrnehmen kann, die ihm Rousseau zugedacht hätte: advokatorisch die Rücksicht auf den Eigen-Sinn des kindlichen Lebens einzufordern. Stattdessen wird die Pädagogik gewissermaßen von der Organisations- und der Beziehungsparadoxie selbst ereilt. Die Dominanz von gesellschaftlich-sozialen und ökonomischen Imperativen schlägt zunächst in die letztere unmittelbar hinein. Lehrer, wo sie überwiegend Kinder disziplinieren müssen, ohne ihnen begegnen zu dürfen oder zu können, müssen die Einfühlung, zu der sie vielleicht noch fähig gewesen wären, aus Gründen des psychischen Selbstschutzes unterdrücken – Mitleid würde zur Berufserschwernis. Also wird das Kind nur für denjenigen Lehrer nicht zur psychischen Bedrohung, der ohnehin keine wirkliche Beziehung zum Kind hat – das gilt freilich nicht für Kinder, denen es von Hause aus gut geht, es gilt „nur“ für Kinder, die zu Hause wenig emotionale Unterstützung haben. Der Lehrer gleicht sich dem Juristen und dem Polizisten an, der das Eigentum derer verteidigt und schützt, die ohnehin privilegiert sind und bei denen viel zu schützen ist. Selbstverständlich ist dies mehr als holzschnittartig dargestellt, zumal wenn man den Zeitraum von mehr als einem Jahrhundert bedenkt, den ich vor Augen habe. Aber es mag doch auffallen, dass Rousseau und Herder im hierarchischen Schulsystem fast immer „nach unten durchgereicht“ werden. Es reicht bei ihnen für die Grundschule und – wie mir scheint – relativ nachdrücklich für die Pädagogik der Sonder- bzw. Förderschule. Der Kleinen und Behinderten darf man sich pädagogisch etwas einfühlsamer annehmen – was übrigens für die Kleinen in den letzten Jahren zunehmend wieder zurückgenommen wird. Damit dies zumindest bei den Behinderten weiterhin geschehen darf, sind diese schon im Vorhinein als solche schulformspezifisch etikettiert, und die Kleinen dürfen sich der Rücksichtnahme nur so lange erfreuen, wie ihre Schulleistungen noch nicht ins gleißende Licht des öffentlichen Interesses geraten. Man könnte sagen: Die gesellschaftliche Öffentlichkeit ist bereit, pädagogisch differenziertes, d. h. einfühlsames, Handeln nur bei denjenigen Heranwachsenden zuzulassen, deren gesellschaftlich-soziale Zukunftstauglichkeit noch offengelassen werden darf bzw. nicht in besonderer Weise in Frage gestellt ist. Oder anders: Die differen162
zierteste Pädagogik findet jenseits der öffentlichen Aufmerksamkeit – und Wertschätzung – statt. Umgekehrt bleibt festzuhalten, dass, insofern es der Pädagogik „gelingt“, Politik und Öffentlichkeit auf die pädagogische Bedeutung der frühen Kindheitsjahre aufmerksam zu machen, dann umgehend mit einer Beendigung differenzierender Einfühlung zugunsten „gezielter“ Begabungs- und Leistungsförderung zu rechnen ist. Auf die bisweilen sehr denkwürdigen Wirkungen pädagogisch gut gemeinter Aufklärung werde ich gleich zurückkommen. Wo Rousseau geradezu wörtlich ernst genommen scheint – in den Landerziehungsheimen etwa – lässt sich eine besonders dekuvrierende Entdeckung machen. Der verstärkte und bewusst familiarisierend arbeitende Zugriff auf die dortigen Heranwachsenden, deren Eltern sich großenteils die Heimfinanzierung, aber offenbar keine nachhaltigere persönliche Betreuung ihrer Kinder leisten können, wird nicht selten und wie mir scheint: in den letzten Jahren auffällig zunehmend mit besonderen Leistungen vorzeigbarer Art begründet, die in solchen Internaten treibhausmäßig gezüchtet werden können sollen. Was die organisationsbezogene Bildungsparadoxie betrifft, so habe ich bisher nur darauf abgehoben, dass Bildung als Bildungsbegegnung nicht organisational erzeugt oder gar „erzwungen“ werden kann und dass jede Gesellschaft auch ihre real existierenden Humanitätsdefizite in der Schulorganisation abbilden wird. Was ich bislang nicht thematisiert habe, ist der eigentlich organisationstheoretische Gehalt der Paradoxie. Er besagt, dass jede Organisation durch sich selbst ihre Leitziele entscheidend mitdefiniert. Bezogen auf das mehrgliedrige Schulsystem bedeutet dies nichts anderes, als dass das mit Bildung, ja mit Schule überhaupt Gemeinte durch die Mehrgliedrigkeit selber auseinander gerissen wird. So gesehen heißt es, dass der Studienrat in einer anderen beruflichen Realität agiert als der Realschullehrer oder gar der Hauptschullehrer oder gar der Sonderschullehrer. Man kann diesen Sachverhalt noch dadurch verstärken und scheinbar normalisieren, dass man unterschiedliche Gehaltsstufen, Ausbildungsgänge und ausbildende Institutionen zwischenschaltet. Daran wiederum besonders interessant ist, dass jeder Ausbildungsgang – sobald er organisiert ist – organisationsspezifische Sichtweisen auf die gesellschaftliche Realität aufweist, auf die er angeblich ausbildet. Was die im 19. Jahrhundert vor dem Horizont des Wachstumsmythos etablierte Schulpädagogik betrifft, so differenziert sie sich in mindestens ebenso viele unterschiedliche Schulpraxen aus wie es Schulformen gibt. Diese Schulpraxen weisen ihre je eigene pädagogische Alltagslogik auf, die sich wiederum – organisationsbedingt – hochgradig von einer theoriebestimmten pädagogischen Logik unterscheidet, wie sie an einer auf Wissensgenerierung spezialisierten Institution wie der Universität vertreten werden kann, und diese wiederum steht in – organi163
sationsbedingter – Konkurrenz zur pädagogischen Ausbildungslogik von Studien- oder Ausbildungsseminaren. Dass jede Schulbehörde – wieder organisationsbedingt – ihre eigene Sichtweise auf Schulen hervorbringt, die sich von der der Praktiker und der Ausbildungs-Theoretiker ihrerseits stark unterscheidet – und natürlich auch von der Logik eines seiner parteibestimmten Bildungssicht folgenden Kultusministers an der Spitze der Kultusbehörde (die mit Leuten vor seiner Amtszeit besetzt ist, die seine Amtszeit überwiegend überdauern werden) erwähne ich nur der relativen Vollständigkeit willen am Rande. Der Preis der Pädagogik für ihre gesellschaftliche Durchsetzung ist, wie sich schon an dieser Stelle leicht zeigen lässt, hoch. Darauf, dass sie von Rousseau her gedacht problematisch sein müsste, habe ich oben schon hingewiesen. Womit Rousseau jedenfalls nicht gerechnet hat, war die Durchsetzung des Machbarkeitsmythos als massenhafte Weltanschauung des 19. Jahrhunderts. Dieser löste gewissermaßen alle Befürchtungen Rousseaus ein, indem er suggerierte, sie auflösen zu können.
3.3 Selbstmodernisierungs-Gesellschaft: Liquidierung der Bildung? Selbstmodernisierung statt Selbsthumanisierung der Gesellschaft Wo die Pädagogik von einer die Allgemeine Schule einrichtenden gesellschaftlichen Öffentlichkeit selbst weltanschaulich kondensierte Zukunftshoffnungen angeboten bekommt, kann sie dem aus äußeren und inneren Gründen in ihren praxisbezogenen Selbstverständnissen nur unter besonderen Bedingungen widerstehen, wobei die theoretische Pädagogik, will sie der praktischen realistische Praxishilfen zuarbeiten, dazu tendieren wird, die entsprechenden weltanschaulichen Hintergründe eher zu affirmieren als zu kritisieren. Ich habe am Beispiel des Wachstumsmythos zu belegen versucht, dass die Pädagogik im Zuge ihrer gesellschaftlichen Institutionalisierung nicht nur dazu neigt, zeitgeschichtlich dominierenden „Weltanschauungen“ zu folgen, auch wenn diese mit etwas kritischer Distanz als „Gesellschaftsmythen“ zu durchschauen sein könnten, sondern dass sie diese geradezu benötigt, um damit ihre Paradoxien wenigstens dem Anschein nach und für größere Öffentlichkeiten glaubhaft entparadoxieren zu können: selbstverständlich dann allerdings im Sinne von PseudoEntparadoxierungen. Pädagogik tendiert insgesamt dazu, sich diesen Mythen anzuvertrauen und sie womöglich noch zu verstärken. Was seit Etablierung des modernen Schulsystems im 19. Jahrhundert galt, gilt auch unter den aktuellen Bedingungen des Umbaus der Gesellschaft zu einer Leistungsgesellschaft unter Bedingungen eines globalisierten Wirtschaftswett164
bewerbs. Der Wachstumsmythos aus dem 19. Jahrhundert wird seit Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts in zunehmender Beschleunigung von einem sich postmodern verstehenden Selbstmodernisierungsmythos abgelöst. Der erstere war noch aufklärerisch inspiriert, weil es um einen wachstumserzeugten sozialen Fortschritt für alle Menschen gehen sollte: das Wachstum sollte Motor und Mittel zum Zweck eines kognitiv-technisch-ökonomischen Fortschritts werden, der dann in einen sittlich-moralischen sich verlängern sollte und damit der Selbsthumanisierung der Gesellschaft dienen würde. Im Mythos der Selbstmodernisierung hingegen wird die sich ständig überholende Modernisierung zum Selbstzweck. Die sich in ihren wichtigen Funktionssystemen beständig selbstevaluierende Gesellschaft optimiert pausen- und atemlos ihr Funktionieren, organisiert also eine permanente unruhige Selbstbeobachtung, die sie gleichzeitig davon abhält, den humanen Sinn der organisierten Selbstüberholung noch als solchen in Frage zu stellen. Die harte Gesellschaftskritik eines Rousseau, Kant, Herder oder Schiller ist hier zur Karikatur verzerrt. Was die historische Zäsur zwischen Wachstums- und Selbstmodernisierungsorientierung betrifft, so folge ich dem Vorschlag, sie globalisierungsbedingt in den beginnenden 70er Jahren des abgelaufenen Jahrhunderts anzusetzen (Hobsbawm 1998, 16-33). Der Neoliberalismus als das inzwischen weltweit vorherrschende wirtschaftspolitische Paradigma hat zu einer Öffnung der Gesellschaften in Richtung einer ökonomisch angebahnten Weltgesellschaft geführt, die sich etwa als Auflösung des realsozialistischen Machtblocks ausgewirkt hat. Als eigentlicher Beginn der Ära der „Marktradikalen“ mit ihrer „marktanarchistischen Utopie des minimalen Staates“ (Beck 1997) wird die Aufhebung der festen Wechselkurse zwischen den Währungen der großen Industrieländer 1973 (das System von Bretton Woods) betrachtet. Damit die Auflösung der Steuerungsmöglichkeiten der Wirtschaft von seiten der territorialen nationalstaatlichen Politik nicht sozialpathologisch entgleist, bedarf es nach Habermas supranationaler politischer Steuerung (1998; Martin/Schumann 1996, 72f, Altvater 2007). Ich werde zu zeigen versuchen, inwiefern diese Zäsur, die gesellschaftlich erst langsam erfahrbar wurde, den Beginn einer tief greifenden Krise der spätmodernen Pädagogik markiert, die von Teilen ihrer Akteure eher erlitten als wahrgenommen zu werden scheint. Die Gründe für die überwiegend hilflosuntauglichen bzw. an der falschen Stelle aktivistischen Reaktionen sehe ich in den historisch gewachsenen Selbstverständnissen der pädagogischen Aufgabe mit angelegt, die auf Pseudo-Entparadoxierungen basieren.
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Die globalisierungsbedingte Bildungskrise In der demokratisch verfassten Gesellschaft ist pädagogische Kompetenz jedem erwachsenen Bürger im Sinne einer Erziehungsberechtigung für seine potentiellen Kinder verfassungsrechtlich garantiert. Dies ließ sich unter den Bedingungen des modernen Wachstumsmythos popularisieren und trug damit zum gesellschaftlichen Selbstbewusstsein einer hinreichend hohen, wenn auch öffentlich zumeist konzedierter Maßen noch steigerbaren Umsetzung von Humanitätsansprüchen bei. Wenn nun, wie dies seit drei Jahrzehnten beschleunigt geschieht, die Wachstumsgesellschaft, die letzten Endes durch Wirtschaftswachstum auf ihre soziale und universale Humanisierung gesetzt hat, sich zu einer globalisierten Modernisierungsgesellschaft entwickelt, zeitigt dies tief reichende Auswirkungen, die selbstverständlich auch das öffentliche Bildungs-Verständnis betreffen. Die vielleicht entscheidende Voraussetzung des Wachstumsmythos war, dass die Gesellschaft, vermittelt über die nationalstaatliche Politik, jederzeit die Möglichkeit der steuernden Einwirkung auf ihre eigene Entwicklung behielt: Mochten die Wirtschaft oder auch die Wissenschaft ein zunehmend selbstbestimmtes Eigenleben führen, die gesellschaftliche Öffentlichkeit traute sich in der Form der nationalstaatlich organisierten Politik grundsätzlich die Möglichkeit zu, die gegebenenfalls problematischen oder schädlichen Nebenwirkungen solcher Dynamiken etwa für die betroffenen Individuen einzugrenzen (Eide 2000). Das vielleicht wichtigste Charakteristikum der wirtschaftlichen Globalisierung ist es aber, die international organisierte Ökonomie so weit von der nationalstaatlich begrenzt agierenden Politik unabhängig zu machen, dass sich die Steuerungsrichtung umzukehren beginnt. Wo bislang der staatliche Einfluss das Wirtschaftssystem noch stark bestimmen konnte, diktieren inzwischen Wirtschaftsinteressen zunehmend die politischen Entscheidungen, wobei sich eine fatale Spirale öffnet. Denn die materielle Basis der staatlichen Eingriffe und Strukturvorgaben wird entscheidend durch das Steueraufkommen bestimmt, das von der Prosperität einer staatlich kontrollierten Wirtschaft abhängig ist. Zwar prosperiert die Wirtschaft als solche weltweit im Zuge ihrer Globalisierung, sie konsumiert aber ihre Gewinne, nicht zuletzt mit obszönen Gehältern für ihre Spitzenmanager, während sie die Kollateralschäden auf die Bevölkerungsmehrheiten bzw. die staatlichen Politiken abwälzt. Automatisierungsprozesse und die Auslagerung der Wirtschaftsstandorte auf Billiglohnländer erzeugen in den fortgeschrittenen Industrienationen eine dauerhafte Arbeitslosigkeit, die durch einen Niedriglohnsektor mühsam verdeckt bzw. erträglich gemacht werden soll. Die nationalstaatlich arrondierte Politik verliert dadurch nicht nur an Steuerungsfähigkeit gegenüber den wirtschaftlichen Interessen, sie büßt auch Gestaltungs166
möglichkeiten im sozial-kulturellen Bereich empfindlich ein – während die Zahl der von ihr zu versorgenden Modernisierungsverlierer zunimmt.99 Die Schule ist ganz vordergründig-materiell bereits von den entsprechenden Entwicklungen betroffen, weil die öffentliche Hand in eine Verteilungsnot nach allen Seiten ihrer bisherigen Zuständigkeit geraten ist. Auch von den mittelbaren Folgen ist sie schwer betroffen – insbesondere der Bedrohung ihrer Absolventen durch Arbeitslosigkeit. Verheerende Auswirkungen zeitigen jedoch die verdeckten Folgen der Entwicklung, und dass sie so gravierend sind, hängt mit ihrer Verdecktheit zusammen. Wenn in einer Gesellschaft der Glaube an ihre Selbsteinwirkungsmöglichkeit bezüglich ihrer eigenen Probleme schwindet, ist dieses schon folgenreich genug, es besteht aber eine sozialpsychologisch bedingte Tendenz, die entsprechenden Vertrauensverluste im Rahmen öffentlich propagierter Selbstverständnisse unkenntlich zu machen. Wo das alltägliche Leben für relevant große Bevölkerungsteile unwirtlicher wird, muss zunehmend Wert auf kompensative Fassaden gelegt werden. Durch sie soll ein diffuses positives Allgemeingefühl gerettet werden, wonach es der Bevölkerung insgesamt hinreichend gut gehe. Die ihm entgegen gesetzten Gefühlslagen werden individualisiert und an die sozialen Ränder der Gesellschaft verlagert. Illusionäre Inszenierungen von Wohlergehen sind dabei keineswegs bloßer Schein, da die neueren Entwicklungen tatsächlich bestimmte Gruppen von Modernisierungsgewinnern hervorbringen. Solche Gruppen, „die es sich leisten können“, sowie andere, die gern dazu gehören würden, übernehmen dann den kompensativen Part der gesellschaftsöffentlichen Selbstbeschwichtigung, wobei die Massenmedien im besagten Kontext zunehmend an Bedeutung gewinnen. Besonders problematisch erscheinen die semantischen Verschiebungen der öffentlichen Sprache und das Obsoletwerden von Themen,100 die sich einer selbstverständlichen Rücksichtnahme der einschlägigen Medien auf Publikums99 Seit Mitte der siebziger Jahre sind ein Rückgang der Sozialhaushalte, verschlechterte Zugangsbedingungen zu den Versicherungssystemen sowie zunehmende Einkommensdisparitäten in den OECD-Ländern zu beobachten. „Steuern auf Spitzeneinkommen, Kapital und Gewerbe sind in den OECD-Gesellschaften soweit gesunken, dass sich der aus Gewinnsteuern erzielte Anteil am gesamten Steraufkommen seit Ende der achtziger Jahre drastisch verringert hat, und zwar zuungunsten des Anteils aus Verbrauchersteuern und aus den Einkommensteuern der Normalverdiener“ (Habermas 1998, 106; dazu Heitmeyer 1997, 165ff) 100 „Auch in der politischen Öffentlichkeit entfalten die Konflikte, die sich heute auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene abzeichnen, ihre beunruhigende Kraft allein vor dem Hintergrund eines normativen Selbstverständnisses, wonach soziale Ungleichheit und politische Unterdrückung nicht naturgegeben, sondern gesellschaftlich produziert – und deshalb grundsätzlich veränderbar sind. Aber seit 1989 scheinen sich immer mehr Politiker zu sagen: Wenn wir die Konflikte schon nicht lösen können, müssen wir wenigstens den kritischen Blick entschärfen, der aus Konflikten Herausforderungen macht.“ (Habermas 1998, 92, Herv. i. Orig.)
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resonanzen und Einschaltquoten verdanken. Zu den Themen, über die man in den letzten Jahrzehnten zunehmend im Stil von hinzunehmenden Naturgegebenheiten zu sprechen begonnen hat, zählen vor allem die ökologische Bedrohung und die Massenarbeitslosigkeit. Die erstere betrifft die kollektive Zukunft, letztere die individuelle. Ganz anders scheint der Sachverhalt bei dem anderen wichtigen Zukunftsthema zu liegen. Der „Bildung“ mit seiner traditionellen semantischen Emphase eines erfolgreichen und gut bestückten Lebens ist im vergangenen Jahrzehnt zunehmend thematisch geworden und hat den weit nüchterneren Begriff „Lernen“, der auf Anstrengung deutet, auffällig in die zweite Reihe gedrängt. Die bereits angedeuteten Tendenzen zur öffentlich sanktionierten Realitätsverkennung und Bewusstseinsspaltung bewirken weitere semantische Verschiebungen des mit „Bildung“ Gemeinten. Immer deutlicher wird ein Reduktionismus, der „Bildung“ mit „Leistung“ und „Qualität“ assoziiert. Unverkennbar sind Symptome einer semantischen Verflachung im öffentlichen Sprachgebrauch bzw. einer kollektiven „reaktiven Abwehr“ beobachtbar. Analog der Selbstdefinition einer zunehmend an Integrationskraft verlierenden Gesellschaft wie „Spaßgesellschaft“, oder wissenschaftlich-seriöser: „Wissensgesellschaft“ (Willke 1998), wird die um sich greifende Bildungskrise in den letzten Jahren zunehmend als kraftvoll-tiefgreifende Bildungsreform dargeboten. Die Bildungskrise wurzelt wesentlich im Glaubwürdigkeitsverlust der Gesellschaft selbst, also in dem sich verbreitenden Zweifel daran, dass die gesellschaftlich-ökonomisch vorangetriebenen Entwicklungen einem humanen Sinn für das Gesellschaftsganze folgen und darin dem Wohl prinzipiell aller Gesellschaftsmitglieder dienen könnten. Eine demokratische Gesellschaft muss aber grundsätzlich als sinnvoll organisiert und im Prinzip gerecht erlebt werden können – und das gilt insbesondere für Heranwachsende. Wo sie nicht in diesem Sinne erlebt wird, wirkt sie nicht nur verlogen, sondern auch aggressivbedrohlich. Ihre Ordnung und ihre Verkehrsformen – ganz gleich mit welchen Verfassungstexten sie sich darstellt – erscheinen dann als Instrumente in der Hand von Minderheiten, die ihre eigenen Interessen unbekümmert um die Situation Schwächerer durchsetzen und wo möglich juristisch-rechtsstaatlich geschützt ausleben können. Je offen-ungerechter die Demokratie, umso höher ihre verdeckte Kriminalisierungswirkung nicht nur, aber bevorzugt auf ungefestigte Heranwachsende.
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Der Zukunfts- und der Sinnbedarf der Pädagogik Es sind nicht zuletzt die neuzeitlichen Verfassungen gewesen, mit deren Hilfe religiöse Jenseitsorientierungen zur Kompensation erfahrbarer sozialer Disparitäten in Frage gestellt wurden, ein Prozess, der unter Globalisierungsbedingungen beträchtlich beschleunigt wird, wiewohl er offenbar – und leider allzu gut verständlich – auch fundamentalistische Gegenbewegungen im Weltmaßstab provoziert. Die Berufung auf ein Jenseits, das erfahrenes Unrecht „später“ ausgleichen könnte, um es aktuell besser aushaltbar zu machen, kann zumindest in den westlichen Gesellschaften nicht mehr unverdächtig artikuliert werden. Die Schule bedarf aber einer Sinnunterstellung bezüglich der gesellschaftlichen Verkehrsformen von der Bildungsidee her. Erleben die Heranwachsenden die Gesellschaft, in der sie aufwachsen im Ganzen als ungerecht oder gar strukturell gewaltförmig, müssen sie zwangsläufig eine Schule, die auf friedliche Verständigung und Gerechtigkeit setzte und sich rücksichtsvoller Umgangsformen mit den Heranwachsenden befleißigte, in der Tendenz selbst als welt- oder realitätsfremd erleben. Auf Verständigung setzender innerschulischer Umgang setzt sich dann selbst dem Verdacht aus, nicht ganz ernst genommen werden zu müssen. Umgekehrt lebt der Bildungsanspruch, den der Lehrer gegenüber dem Schüler geltend macht, von der zumindest impliziten Unterstellung, er werde zu seinem – des Schülers – wohlverstandenem Nutzen erhoben: das wird vielen Schülern, die zu Hause die Depressivität ihrer unfreiwillig arbeitslosen Eltern alltäglich erleben, schwer plausibel zu machen sein. Nur so kann aber die Auferlegung von Lernanstrengungen legitimiert werden, nur so hat der Bildungsanspruch des Lehrers Aussicht darauf, vom Schüler als legitim anerkannt, also entparadoxiert zu werden. Umgekehrt muss die Leistungsbewertung für den Lehrer zu einem Albtraum werden, wenn ihre allokativen Wirkungen die biographischen Zukunftschancen des Schülers womöglich dramatisch-negativ beeinflussen können. Konstitutiver Bestandteil der gegenwärtigen Bildungskrise ist also, dass sie in den letzten Jahren zunehmend falsch diagnostiziert wird. Die Verlagerung des gesellschaftlichen Ansinnens einer langfristigen Selbsthumanisierung in die Richtung einer Selbstmodernisierung verdeckt die bildungsideelle Krise der Schule wirkungsvoll und eröffnet statt dessen ein aktivistisches Management an der Leistungs- und Qualitätsfront. Die gegenüber der sich globalisierenden Wirtschaft auf ihre nationalstaatlich begrenzten Steuerungsmöglichkeiten zurückgeworfene staatliche Politik entdeckt den Bildungsbereich als Feld neuartiger Gestaltungskraft, indem sie diesem Modernisierungsdefizite nachsagt und ihm gleichzeitig die stärkere Orientierung an Marktmechanismen auferlegt. Auf Länderebene werden die Kultusminister immer einflussreicher. Die Bildungspolitik 169
profiliert sich zunehmend – und drückt dem mit Bildung Gemeinten zunehmend ein politisches, nicht selten: parteipolitisches, Fremdverständnis auf. Der im Zuge von Individualisierungsprozessen ohnehin in die Richtung individueller beruflicher Erfolgsfähigkeit verschobene Bildungssinn wird damit bildungspolitisch und schulsystemisch abgesichert. Er wird so nicht nur aus der Schule in die Wirtschaft herausverlagert, er führt auch umgekehrt dazu, dass die Pädagogen selbst, als Angehörige einer gesellschaftlich höchstens mittelmäßig erfolgreichen Bevölkerungsgruppe, ihren Expertenstatus in Bildungsfragen nun dezidiert an die Modernisierungsgewinner abgeben müssen, zu denen sie selbst nicht mehr gehören. Zu wachstumsgläubigen Zeiten waren innerhalb der Pädagogik sehr deutliche Positionsprofilierungen möglich. Schulpädagogischen Experimenten wurden noch Anfang der 70er Jahre in einigen deutschen Bundesländern Spielwiesenähnliche Startbedingungen zugebilligt. Wenig später artikulierte sich dann ein ausdrücklicher „Mut zur Erziehung“, der simultan mit der Proklamierung alter „Bildungs“-Werte an den von ihm dominierten Gymnasien der disziplinierten Selbstfunktionalisierung von zukünftigen Modernisierungsgewinnern Vorschub zu leisten bestens geeignet war. Während die Pädagogik-Vorstellungen sich politisch-öffentlich konterkarierten und dadurch gegenseitig neutralisierten, profitierten sie noch insgesamt von den Machbarkeitsunterstellungen des Wachstumsmythos. Ihr Prestige auf unabsehbare Zeit verloren haben seit Spürbarwerden der Globalisierungs-Nebenwirkungen einzig diejenigen Ansätze, die sich, als pädagogische, gesellschaftsverändernde Effekte in gesellschaftskritischer Absicht zutrauten. Warum dies nicht anders sein konnte, wird im Globalisierungsinformierten Rückblick offen kundig. Die damalige, Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre politisch antretende Pädagogik hatte nicht nur ihren pädagogischen Einfluss auf die gesellschaftliche Öffentlichkeit völlig überschätzt, sondern auch den zukünftigen Einfluss der Politik auf die Wirtschaft. Aufschlussreich erscheint im Rückblick insbesondere die Tendenz zu technischen Unterrichtsmodellen – genauer gesagt zur methodischen Automatisierbarkeit gelingen Unterrichts – in den frisch gegründeten Gesamtschulen, die sich ihrerseits auf die Vorstellung gründete, die Überlegenheit der eigenen Schulform sei erziehungswissenschaftlich-empirisch jederzeit (und jedermann) beweisbar. Gravierende Fehleinschätzungen wird man der damaligen kritischfortschrittlichen Pädagogik nur in den (allerdings nicht ganz seltenen) Fällen anlasten dürfen, in denen sie mit marxistisch begründeten Zukunftsvoraussagen aufwartete, deren „latenter Hegelianismus“ (Habermas) inzwischen peinlich deutlich wurde. Allerdings war auch die sich politisch-progressiv, zumal die sich antiautoritär verstehende Pädagogik als solche bemerkenswert unterkomplex 170
angelegt war – woran ihre aufwändige, aber überaus selektive PsychoanalyseRezeption nichts änderte. Im Gegenteil immunisierte sie sich dadurch lediglich gegen Außen-Kritik. Nicht auszuschließen ist, dass die demonstrative Bereitschaft von Reformpädagogen, den Bildungs-Begriff auf den des Lernens zu reduzieren oder gar durch den der Emanzipation übertreffen zu wollen (vgl. aber Klafki, 1998), seine Annexion in Deutschland durch eine unternehmensorientierte Schulentwicklung seit den 90er Jahren erleichtert hat. Vielleicht hat auch die damalige kritische Pädagogik insgesamt dazu beigetragen, den Wert psychoanalytisch aufgeklärter Sichtweisen auf pädagogische Probleme längerfristig zu desavouieren.
Die Erosion der Reformpädagogik Das Passungsproblem einer konservativen Pädagogik unter den Bedingungen des Wachstumsmythos zu der affirmativen einer sich selbst modernisierenden Globalisierungsgesellschaft ist, wie ich bereits betont habe, tiefgreifend, es ist aber auch aspektweise unauffällig im Erscheinungsbild, so dass sich hier Veränderungen schleichend vollziehen können. Eine wachstumsorientierte Gesellschaft setzt wie erwähnt das Wachstum nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Zweck ihrer Selbsthumanisierung, wie konsequent oder glaubwürdig auch immer. Die sich unter Globalisierungsbedingungen selbst modernisierende Gesellschaft hingegen betreibt die Selbstmodernisierung als eine Art Selbstzweck bzw. Zweckersatz. Konnte zur Aufrechterhaltung des Wachstumsmythos (und musste noch) bis etwa in die Mitte der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts darauf verwiesen werden können, dass es tatsächlich von der letzten älteren Generation zur jetzigen jüngeren Generation im Groben und Ganzen wirtschaftliche und soziale Fortschritte gegeben habe, und zwar Fortschritte für tendenziell alle Bevölkerungsmitglieder, so begann sich im Modernisierungsmythos nun der Blick ohne Rück-Sicht auf die Auf-derStrecke-Bleibenden nach vorn in die Zukunft zu richten. Von dieser gilt seitdem, dass sie dringend und drängend immerzu gestaltet im Sinne von um- und neugestaltet werden muss. Mit ihrer politischen Etablierung im 19. Jahrhundert musste die Pädagogik dem gesellschaftlichen Status quo größere Dignität zuerkennen – sie wurde also zu großen Teilen gesellschaftspolitisch affirmativ bzw. konservativ. Während eine politisch konservative Pädagogik immer schon die bestehenden Startvorteile der bislang privilegierten Gesellschaftsgruppen mit der Begründung ihrer Kulturtüchtigkeit fortschreiben mochte, konnte sie ihren Einfluss weitgehend auf Bestandserhaltung der bisher üblichen Bildungsmaßnahmen, etwa eine frühzeitige 171
wissensorientierte Disziplinierung der zukünftigen Anwärter auf die Mitgliedschaft in den gesellschaftlichen Funktionseliten, konzentrieren. Konservative Pädagogen beriefen sich mit einer gewissen Selbstverständlichkeit auf Leistungen, die gesellschaftlich notwendig oder förderungswert seien und die sie ihren Schülern auch deshalb kompetent abverlangen könnten, weil sie diese selbst erbrächten bzw. biographisch erbracht hätten. Sie arbeiteten für die Bestandserhaltung einer Gesellschaft, die sich einerseits ein bereits bewahrenswert hohes Humanitätsniveau bescheinigte, die andererseits im Zuge der Wachstumsorientierung gelassen weitere Fortschritte erwartete. Ungleich komplizierter erwies sich die Bildungsparadoxien aber für sich politisch kritisch oder progressiv verstehende Pädagogen. Sie wurden durch die von ihnen ins Auge gefasste Humanisierung der Gesellschaft zu der Frage gezwungen, aufgrund welcher besonderen Einsichten sie um die besseren Zukunftsmöglichkeiten der Menschheit glaubten wissen zu können. Hinzu kam die Frage, aufgrund welcher besonderen Fähigkeiten sie annahmen, diese Möglichkeiten in ihrer Person jeweils vorbildhaft erfahrbar für die Schüler vorleben zu können. Ohne ein besonderes Selbstverständnis und ein gewisses Sendungsbewusstsein war es ihnen kaum möglich, ein politisch-pädagogisches AvantgardeBewusstsein zu entwickeln. Dieses musste zugleich wiederum, aus Gründen der Selbstachtung und des pädagogischen Ethos vor sich selbst verdeckt werden. Zu diesem psychologischen Grund kam ein politischer. Denn ein AvantgardeBewusstsein ist notwendig elitär, die politische Pädagogik hatte wie jede reformpädagogische aber stets eine bestandselite-kritische, also anti-elitäre Stoßrichtung. Politisch progressiv eingestellte Pädagogen beriefen sich deshalb traditionell auf etwas, das außerhalb ihrer Personen und ihrer persönlichen Entwicklung liegen musste und das nur im konsequenten Rekurs auf ursprünglich aufklärerische und romantische Ideen zu mobilisieren war. Dies waren einerseits die humane Natur des Heranwachsenden selbst und andererseits der humanfortschrittliche Gang der Geschichte. Konnten damit die besonderen Einsichten, die man sich zutraute, begründet werden – etwa im Rahmen eines marxistischen Sozialmythos (Schnädelbach 1992, 236) –, so gab es für das zweite Problem einer authentischen Vorbildhaftigkeit der eigenen Person nur eine einzige scheinbare Lösung, die allerdings mit der Einsicht in die gute Natur der Heranwachsenden logisch-eng verbunden ist. Der Pädagoge handelt so, wie es ihm die Natur des Heranwachsenden vorschreibt – in extremer Konsequenz, wie es ihm der Heranwachsende selbst mitteilt. Sich politisch progressiv verstehende Pädagogik tendierte deshalb, wo sie nicht mechanistisch-sozialistischen DiamatVorstellungen folgte – zu Formen dezidierter Schülerfreundschaft. Dadurch war es großen Teilen der politisch Antiautoritären aus ideologischen Gründen kaum 172
möglich, ihren Heranwachsenden wichtige Orientierungshilfen zur Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls zu vermitteln.101 Indem Vorstellungen einer möglichen Humanisierung der Gesellschaft im Zuge ihrer Umstellung auf Selbstmodernisierung philosophisch und gesellschaftstheoretisch desavouiert werden, droht der Pädagogik inzwischen der Verlust ihrer reformpädagogische Avantgarde insgesamt. Dass sich besonders kritisch verstehende Teile dieser Avantgarde noch zu Zeiten das reformpädagogische Denken durch Radikalität an den falschen Stellen unglaubhaft gemacht haben, als sich die Globalisierungskrise schon abzeichnete, entbehrt nicht einer historischen Tragik. Demgegenüber erhalten die der Bestandserhaltung verpflichteten Pädagogik-Varianten, insofern sie traditionell immer schon für eine frühzeitige Disziplinierung der Heranwachsenden plädierten, scheinhaft Auftrieb. Allerdings müssen sie die Einstellung zu den von ihnen bislang als wichtig erachteten Inhalten modifizieren. Letztere verlieren zunehmend ihren kulturellen Eigenwert und haben stattdessen eher als Übungsbeispiele der zweiten Handlungsebene (vgl. Kapitel 2), derjenigen des individuellen Arbeitsverhaltens, zu fungieren. Die Inhalte als solche werden dann zunehmend austauschbar, während nur noch das „Lernen des Lernens“ gelernt werden soll. Mit der Distanz zu den Inhalten wird grundsätzlich nicht nur distanzierteres Verhalten zum eigenen Lernen eingeübt, sondern auch Distanz zu den Sinnfragen des eigenen Lebens, zur eigenen Person und zum Menschheitsschicksal insgesamt also. Es kommt zu tiefgreifenden Umwälzungen der öffentlichen pädagogischen Aufmerksamkeit. Bis vor wenigen Jahrzehnten erhielt noch – besonders greifbar im jeweiligen „Bildungsauftrag“ des betreffenden Schulgesetzes in allen deutschen Ländern – die Schule von der gesellschaftlich-politischen Öffentlichkeit den Auftrag, Grundlagen zu deren weiterer Humanisierung in der Zukunft durch Bildung der Heranwachsenden heute zu sichern. Demnach gab die Gesellschaft als politische Öffentlichkeit der Schule den Auftrag, sie (=die Gesellschaft) zukünftig-vorgreifend zu humanisieren. Die Schule stellte demnach ein gesellschaftliches Sub- oder Funktionssystem dar, dessen Mandat sich auch aus der weiteren Humanisierungsbedürftigkeit ableitete, die sich die Gesellschaft damit zumindest indirekt selbst bescheinigte. Die Pointe der oben skizzierten neuen Bildungsdiskussion liegt darin, dass inzwischen eine in bestimmten Bereichen bzw. Subsystemen bereits modernisierte Gesellschaft in ihren öffentlichen Verlautbarungen von der Schule das Aufholen der selbstverschuldeten Unmündigkeit erwartet: Nicht mehr humanisiert die Schule die humanitätsbedürftige Gesellschaft, sondern die Gesellschaft 101
Bezogen auf die Glocksee-Schule in Hannover vgl. Ilien 1990, 1994, 80ff
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modernisiert die modernitätsrückständige Schule. Das wird öffentlich als so unbezweifelbar notwendig dargestellt, dass sich Sinnfragen erübrigen.
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Psychische Kosten des Lehrerhandelns
Das folgende Kapitel gilt den psychischen Kosten professioneller Lehrertätigkeit. Ich sehe sie im ursächlichen Zusammenhang mit unzureichenden Berufsselbstverständnissen vieler Lehrer und mit Verkürzungen im Bereich der Erziehungswissenschaft selbst, die dann den öffentlich verbreiteten Fehleinschätzungen wenig entgegen zu setzen hat – wenn nicht gar Vorschub leistet. Indem ich auf die Erträge der beiden vorangegangenen Kapitel zurückgreife, mache ich plausibel, dass hier eine neuzeitlich-philosophisch freigesetzte Angst der Menschen vor den tatsächlichen Gestaltungsmöglichkeiten ihrer eigenen Zukunft wirksam wird. Die Lossagung vom christlichen Erlösergott als Voraussetzung des typisch modernen Projekts der Selbsthumanisierung des Menschen setzte Pädagogik erst eigentlich, jedenfalls neuartig frei. Die Theorie, die ich heranziehe, muss demnach sensibel sein für entwicklungspsychologische Aufwachsvoraussetzungen von Kindern. Diese muss sie beziehbar machen auf die zentrale und für mich unaufgebbare Einsicht des pädagogischen Bildungs-Denkens seit Rousseau: dass junge Menschen zum Mündigwerden immer auch der sie anerkennenden Zuwendung Erwachsener bedürfen. Die entsprechend intersubjektiv angelegte Theorie muss zudem für Mobilisierungsbedingungen von biographisch erworbenen Erwachsenen-Ängsten aufgeschlossen sein, ebenso dafür, dass diese weitgehend unbewusst zu sein scheinen. Zu einer entsprechend anspruchsvollen psychologischen Theorie scheint am ehesten die Psychoanalyse imstande – selbstverständlich erst, sofern sie sich von den Befangenheiten ihres Begründers in einem naturwissenschaftlichen Selbstverständnis losgesagt hat. Ich greife für meine Darstellung auf die selbstpsychologischnarzissmustheoretischen Arbeiten von Heinz Kohut zurück. Ihre Befunde scheinen mir besonders gut geeignet, ein erhellendes Licht in die schwierigen Zusammenhänge zu werfen, die viele Lehrer berufsbiographisch belasten. Kohuts „Empathie“-Begriff scheint mir für professionelles Lehrerhandeln zentral. Ich ziehe allerdings, um eine dyadische Perspektivenverkürzung zu vermeiden, Ergebnisse von langjährigen psychoanalytisch fundierten, zugleich „systemisch“ ansetzenden Organisationsberatungen von Otto F. Kernberg hinzu. Durch das analytische „Empathie“-Verständnis lässt sich nicht nur die Diskussion der Professionsstruktur von Lehrern anreichern. Ich wende die psycho-
analytischen Befunde auch auf typologische – unprofessionelle – Praxisvereinfachungen von Lehrern an. Ich unterscheide „Inhaltevertreter“, „Schülerfreunde“, Sich-selbst-Darsteller“ und „Sich-selbst-Schützer“. Den Abschluss bilden Hinweise auf typische Pseudo-Entparadoxierungen im Verständnis des Lehrerhandelns in der außer- wie der innerpädagogischen Theoriebildung.
4.1 Pädagogisch relevante Selbst- und Narzissmustheorie nach Kohut Abkehr von der Freudschen Triebtheorie Sigmund Freud vertrat bekanntlich die Vorstellung, dass Triebe, insbesondere der Sexualtrieb, die Dynamik der psychischen Entwicklung bestimmen und dass deren kulturell erzwungene Unterdrückung psychisches Leiden verursache: das zugleich der Preis der Kultur sei. Heinz Kohut revidiert diese Vorstellungen tiefgreifend (Kohut 1987, 81ff).102 Dies beginnt bei den narzisstischen Bedürfnissen, die für ihn die Psychogenese vorantreiben und in ihrer Entwicklung dominieren, ebenso wie es entsprechende Störungen sind, die seinen Patienten zu schaffen machen. Für Kohut „ist die vorherrschende Persönlichkeitsorganisation unserer Zeit nicht charakterisiert durch die einfache horizontale Spaltung, welche durch Verdrängung entsteht. Die Psyche des modernen Menschen – die von Kafka, Joyce und Proust beschriebene Psyche – ist geschwächt, multifragmentiert .. und unharmonisch. Daraus folgt, dass wir unsere Patienten nicht angemessen verstehen und sich selbst erklären können, wenn wir dies mit einem Modell unbewusster Konflikte tun, das für die Aufgabe ungeeignet ist.“ (1987, 96)
Die Beachtung narzisstischer Bedürfnisse fokussiert weniger auf innerpsychische Konflikte, wonach sich Triebe zwischen Anwachsen der Triebspannung, Entladung, zeitweiligem Erlöschen und Problemen ihrer Unterdrückung bewegen. Die Bedürfnisse hingegen verweisen auf intersubjektive Konflikte. Allerdings spielen deshalb die Triebe bei Kohut keine unwichtige Rolle; ihr Erscheinungsbild hängt aber sehr stark von der narzisstischen Entwicklung ab. Insbesondere erzeugen narzisstische Frustrationen im Regelfall Aggressionen – bzw. verstärken 102
Helmut Reiser (2005, 6ff) arbeitet die Problematik der psychoanalytischen Triebtheorie für das Verhältnis von Pädagogik und Psychoanalyse heraus. Für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts stellt er fest, „dass die damalige Pädagogik auch wenig Veranlassung hatte, ihr Selbstverständnis auf der Psychoanalyse aufzubauen. Die Vorstellung, dass sich alle Antriebskräfte des Kindes aus libidinösen oder aggressiven Trieben entwickeln … war der Pädagogik aus guten Gründen nicht zu vermitteln.“ (9)
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diese beträchtlich. Die narzisstische Entwicklung hat auch starken Einfluss auf die Verlaufsformen der Entwicklung der sexuellen Triebe. Kohut betont für die selbstpsychologische Psychoanalyse, „dass wir mit Trieberfahrungen und nicht mit Trieben umgehen; dass, wenn das Selbst gesund ist, die Triebe nicht isoliert erlebt werden, sondern als immanente Modalität dieses gesunden Selbst; und dass unter diesen Umständen – selbst wenn wir uns gegen unsere Aggression und Wollust wehren – keine pathogenen Konflikte entstehen, so groß unser Schmerz und so verzehrend unsere Kämpfe auch sein mögen.“ (297)
Die narzisstischen Bedürfnisse haben eine dialektisch-duale Struktur: Der Mensch braucht, knapp gesagt, ein ausreichendes Maß an bergender und haltgebender Zuwendung, aus dem sich dialektisch eine Bereitschaft zur Selbstständigkeit und damit ein Bedürfnis nach vertrauensvoller Freigabe durch die Pflegepersonen entwickelt.103 Beides sollte ihm, sich dabei prozedural entwickelnd und beständig verändernd, von den primären Bezugspersonen hinreichend gewährt werden. An dieser Stelle lässt sich ein weiterer zentraler Unterschied zu Freud festhalten. Die narzisstischen Bedürfnisse sind bei Kohut so konstituiert, dass sie – im deutlichen Unterschied zu Trieben – keine ego-zentrische Struktur aufweisen. Die „Mutter“ – als Begriff der primären Bezugspersonen – „befriedigt“ nicht einfach etwas am Kind, sondern sie tritt vermittels seiner Bedürfnisse und einer diesen Bedürfnissen korrespondierenden eigenen Haltung in eine personal bestimmte Beziehung zum Kind. Freuds Triebe hingegen drängen immer irgendwie auf „Entladung“ und müssen, um kulturell dienstbar gemacht zu werden, einen Prozess der internen Veredelung, der „Sublimation“ erfahren. Dabei muss sich Freud die Begründung des „sozialen“ Charakters dieser libidinösen Bestrebungen letzten Endes aus der Fortpflanzung entleihen – aus einer biologistischen Sichtweise also. Die Verlagerung des Fokus von „Trieben“ zu „Bedürfnissen“ stellt demnach eine tiefgreifende Revision der Freud’schen Sichtweise dar. Die besagten „Bedürfnisse“ sind der äußeren Beobachtung ungleich schwerer zugänglich als „Triebe“, die sich in unverhüllter Form auch im tierischen Bereich beobachten lassen. Die Bedürfnisse verbinden also eine von Geburt an sozial engagierte 103
Was als ausreichendes Maß an bergender Zuwendung bzw. als angemessenes Bedürfnis nach Selbstständigkeit zu gelten hat, ist für Kohut weder ohne weiteres beobachtbar, noch einfach an geltenden Standards abzulesen. Ich werde später darlegen, dass nach Kohut Tendenzen in der von ihm beobachteten zeitgenössischen Gesellschaft feststellbar sind, wonach insbesondere kleinen Kindern keine hinreichende „empathische“ emotionale Bergung zuteil wird, und sie gerade deshalb „selbstständig“ scheinende Verhaltensweisen frühzeitig entwickeln, mit denen sie ihr – umgangssprachlich gesagt – frühzeitiges Verlassensein gesellschaftlich erfolgreich überkompensieren.
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Subjektivität mit den frühkindlichen Pflegepersonen, die allerdings ihrerseits auf den kindlich-bedürftigen Beziehungswunsch, der immer auch eine Beziehungsanfrage ist, angemessen reagieren müssen. Diese sozial engagierte, sozialfähige Subjektivität nennt Kohut das „Selbst“, während er die korrespondierende Fähigkeit der Pflegepersonen als „Empathie“ bezeichnet. Die Betonung einer angeborenen Sozialfähigkeit des Kindes bedeutet allerdings gerade nicht, dass Heranwachsende jedweder Aufwachsbedingungen sich empirisch zu „sozialen“ im Sinne von friedfertigen oder gar universalistisch orientierten Erwachsenen entwickeln müssten. Wird die Sozialbedürftigkeit von Heranwachsenden übermäßig frustriert – und dies ist nicht nur im Sinne individueller Pathogeneität des elterlichen Pflegeverhaltens zu verstehen, sondern auch als Folge gesellschaftlicher oder lebensweltlicher problematischer Einstellungen und Umgangsformen – können die ursprünglich potentiell sozialen Fähigkeiten in selbstpsychologischer Konsequenz auch eine potentiell sozial bedrohliche Destruktivität entfalten. Der Hintergrund dieses Paradigmenwechsels in der Psychoanalyse scheint relativ einfacher Natur zu sein. Kohut nimmt das, was Freud als „Übertragung“ beobachtet und analysiert hatte, als etwas ernst, das nicht nur auf unglücklichfrustrierte (stets kulturell mitbedingte) Triebschicksale des Patienten verweist und nun seiner deutenden Aufklärung und Auflösung durch den Analytiker harrt, sondern auch als aktuellen Beziehungswunsch, der zugleich in Maßen beantwortet werden muss, damit die in ihn einfließenden traumatischen Gehalte überhaupt bearbeitet werden können. Wo Freud auf der wissenschaftlich-theoretischen Haltung beharrt, aus der sich der Therapeut durch die Verführungen der Übertragung nicht herauslocken lassen dürfe, stellt Kohut fest, dass er als Therapeut gefordert ist, den Beziehungswunsch des Patienten nicht nur distanziert zu tolerieren, sondern auch – und zwar für diesen erfahrbar – angemessen zu erfüllen (248ff). Dass dies nicht undialektisch zu verstehen ist, werde ich im Zusammenhang der „optimalen Frustration“ zeigen. Als Folge des Bedürfnisses des Patienten nach gewissen Formen der Anerkennung durch den Therapeuten würde eine bloß distanzierte Reaktion auf dieses Bedürfnis den Tatbestand einer Kränkung durch Verweigerung darstellen. Kohut unterstellt, dass genau dies, die Verweigerung angemessener Beziehungen wichtiger Pflegepersonen zu dem kleinen Kind, das der Patient war, die Wurzel seines heutigen Leidens als Erwachsener darstelle. Dies im therapeutischen Umgang fortzusetzen, wäre mehr als widersinnig. Kohut schlägt also den Weg eines hermeneutischen Zirkels ein, denn die Wahrnehmung eines Beziehungsbedürfnisses des Patienten als eines legitimen überschreitet die distanzierte Beobachterhaltung, die sich quasi-naturwissenschaftlich versteht. Er selbst muss zumindest potentiell beziehungsbereit sein, um das Bedürfnis entsprechend aufzu178
schlüsseln. Es verstehen schließt ein, sich von ihm angesprochen zu erleben. Kohut stellt entwicklungspsychologisch fest, dass Kinder zur Entwicklung eines kohärenten, nicht-fragmentierten Selbst die Befriedigung von Bedürfnissen brauchen, die ihr Selbstwerterleben betreffen. Diese Feststellung wird zur methodischen und methodologischen Voraussetzung seiner Therapie von Erwachsenen. Allerdings gilt: Nur eine gegenüber den Bedürfnissen des Patienten offene therapeutische Praxis lässt diese auch erst als solche deutlich werden. An dieser Stelle ist noch einmal der Vergleich mit Sigmund Freud aufschlussreich. Kohut stellt fest, dass Freuds höchster Wert Wahrheit (bzw. Wissen) gewesen sei.104 Freuds Wahrheitssuche, so Kohut, mache die implizite Voraussetzung, dass die Wahrheit nur auf dem Wege strenger Selbstkontrolle, also „Triebkontrolle“, zu erlangen sei. Der so konzipierte, sich voraussetzungslos setzende Wahrheitsbegriff ist nach Kohut aber „zeitbedingt“ (96).
Wurzeln der „Idee der Menschheit“ in frühkindlichen Erfahrungen Der dem Menschen angeborene „Narzissmus" ist also ein Doppelbedürfnis zwischen Geborgen- und Freigelassenwerden. Für Kohut ist mit seiner Konstatierung keinerlei negative Wertung verbunden, wie sie von der griechischen Sage her vielleicht nahe liegen könnte. In der Verwendung eines im alltagsweltlichen Sprachgebrauch eher pejorativ gemeinten Begriffs steckt eine bewusste Kritik neuzeitlicher anthropologischer (nicht zuletzt vom Christentum beeinflusster) Alltagsvorstellungen, wonach der „Narzissmus“ des Kindes zu bekämpfen sei: während die Alltagskultur der Erwachsenen (nach Kohut) narzisstische Störungen aspektweise favorisiert – und das eine mit dem anderen im Sinne einer „Wiederkehr des Verdrängten“ verbunden ist. Der „Narzissmus“ wird erst dann zur narzisstischen Störung, wenn er übermäßig frustriert wird. Kohuts Darlegungen der internen Strukturen des Selbst verdanken sich seinen Erfahrungen in psychoanalytischen Therapien, genauer gesagt, (zunächst) zwei für ihn einigermaßen unterscheidbaren Hauptgruppen von Übertragungserfahrungen. Die beiden Haupttypen von Übertragung, die Patienten auf ihn als Analytiker richten, sind die idealisierende und die Spiegel-Übertragung (Kohut 1973). Daraus schließt er zurück auf die grundlegenden Selbst-Bedürfnisse, gespiegelt zu werden und idealisieren zu können, die in der Kindheit individuell charakteristisch von den elterlichen Bezugspersonen, den „Selbstobjekten“, befriedigt oder frustriert worden sein müssen und nun in der Therapie wiederbelebt werden. 104
„Wenn wir uns Freuds ethischer Einstellung zuwenden, können wir sagen, dass seine Ethik vor allem eine Ethik der Wahrheit war.“ (Kohut 1987, 88)
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Kohut betont, „(1) dass die Selbstobjekt-Übertragungen spontan und ohne jede aktive Ermutigung von seiten des Analytikers entstehen und (2) dass ihre Analyse im Zentrum der analytischen Aufgabe steht. Mit anderen Worten, die SelbstobjektÜbertragungen entstehen infolge der Tatsache, dass gewisse Entwicklungsbedürfnisse in der Kindheit nicht angemessen beantwortet, andererseits aber auch nicht vollständig frustriert wurden.“ (Kohut 1987, 288).
Beide Gesichtspunkte – Spiegelung und Idealisierung – enthalten passive und aktive Gesichtspunkte. Das Selbst wird spiegelnd gestützt – und entwickelt daraus selbstbewusste eigene Aktivität ebenso wie es aus den internalisierten Idealisierungen Zielvorstellungen gewinnt, denen es nachstrebt. Kohuts Konzentration auf das erlebnisnah konzipierte Selbst betont, wie bereits dargelegt, dessen Bedarf nach stärkenden Sozialbeziehungen. Dies gilt für beide Pole des Selbst. Denn der Pol des in seinem Wert bestätigten Selbst verdankt seine Bildung eben solchen, nämlich verlässlichen, Erfahrungen mit den frühkindlichen „Selbstobjekten“. Da das Kleinkind noch keine hinreichende Differenzierung von Selbst und Umwelt vornehmen kann, nimmt es sich selbst und seine Erlebniswelt als tendenziell „unendlich" wahr. Von daher hat es auch das Bedürfnis, in dieser eigenen Welt bestätigt zu werden. Kohut bevorzugt den Begriff „spiegeln" („mirroring")105. Dass ein „reifer" erwachsener Mensch sich und sein Leben und dessen Sinn wertschätzen kann, hängt demnach wesentlich davon ab, dass das kindliche „Größen-Selbst" hinreichend von Pflegepersonen gespiegelt wurde. Durch hinreichende Spiegelung kann sich die kindliche Grandiosität auf das Maß einer realistischen Selbsteinschätzung transformieren. Wo dies nicht hinreichend erfolgt, verbleibt das Subjekt in Aspekten seines Selbst offen oder verdeckt egozentrisch-asozial bzw. „größenwahnhaft".106 Was den zweiten Pol des Selbst, die erwachsenen Idealvorstellungen betrifft, so entwickeln sich diese aus der kindlichen „idealisierten Eltern-Imago". Auch die Eltern werden vom kleinen Kind noch als tendenziell allmächtig wahrgenommen. In dem Maße, wie das Kind die Wahrnehmung seiner Eltern auf ein realistisches Maß reduziert, lernt es einerseits, eine von ihm getrennte Objekt105
Der Begriff ist nur eingeschränkt tauglich, weil das Kind im „Spiegel“ zugleich zunehmend die Andersheit des „Spiegelnden“ in seiner Wertschätzung wahrnimmt (vgl. Tomasello 2002). Schließlich nimmt das Kind im spiegelnden Gegenüber dessen Zuwendung auch darin wahr, dass dieses Werdemöglichkeiten des Kindes antizipiert und deshalb spontane Bedürfnisse auch frustriert. 106 „Größenwahnhafte“ Tendenzen sind – als verdrängte – unbewusst. Ihre Äußerungsformen im manifesten Verhalten können sehr vielfältig sein. Kohut unterscheidet vertikale von horizontalen Spaltungen. Krankhaft-arrogante Selbstüberschätzung ist ebenso möglich wie zwanghaftgeltungsbedürftiges Verhalten. Die Störungen können bei vertikaler Spaltung durchaus auch Tendenzen der Selbstabwertung usw. annehmen. Der „Größenwahn“ bei offenkundiger Selbstabwertung zeigt sich in den unerfüllbaren Ansprüchen, die das Subjekt unbewusst an sich stellt (Kohut 1973).
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welt zu akzeptieren. Seine andererseits dadurch freigesetzte Möglichkeit zu größerer Unabhängigkeit von den Eltern wird psyche-aufbauend begleitet, indem es wichtige Attribute des erfahrenen Betreuungsverhaltens der Eltern „internalisiert". Die Erfahrung, von den eigenen Eltern vorbehaltlos-empathisch geliebt worden zu sein, kann zum Ideal einer auch fremde Menschen einschließenden, also vorbehaltlosen, Humanität als leitender Idealvorstellung führen (vgl. Kohut 1975, 162). Nach Kohut kann so die psychogenetisch-individuelle Entwicklungsbedingung der moralphilosophischen Leitvorstellung einer universalistischen Solidarmoral erklärt werden (vgl. Kohut 1975, 140ff). Sie verdankt ihren „unendlichen" und durch negative Erfahrungen nicht zu erschütternden Charakter der kindlichen Grandiosität, mit der das Kind seine Bezugspersonen ausstattet (= die „idealisierte Eltern-Imago"), um sie dann als zweiten Pol des Selbst zu internalisieren. Der Zeitpunkt der Transformation des idealisierten Eltern-Bildes in innerlich leitende Vorstellungen, durch die das Subjekt seine empirische Realität moralisch-normativ transzendiert, entspricht der Freudschen „ödipalen Phase". Für Kohut ist damit ein moralisch-humanistischer Universalismus (wie er etwa der Aufklärung und dem Bildungsdenken nach Rousseau und Kant zugrunde liegt) in der psychischen Struktur von Subjekten dann verlässlich verankert, wenn sie hinreichend verlässlich durch ihre frühen Pflegepersonen wertschätzende Zuwendung erfahren haben. Eine solche anspruchsvolle Grundhaltung wäre demnach grundgelegt durch eine hinreichend gelungene Entwicklung in den ersten Lebensjahren. Ich nehme an, dass Kohut die Notwendigkeit weiterer kulturell stützender Erfahrungen für einen menschheitlichen Humanismus in der Entwicklung Heranwachsender damit nicht in Frage stellt: dass es zu dessen Sinnverständnis aber entsprechender Vorerfahrungen bedarf, deren Ausfall später nur unter günstigen Bedingungen kompensiert werden kann.
Vom bipolaren zu einem tripolaren Selbst In dem letzten von Kohut verfassten und nach seinem Tod herausgegebenen Werk modifiziert er seine Erfahrungen mit narzisstischen bzw. SelbstobjektÜbertragungen noch einmal und kommt demnach auch zu einer differenzierteren Einschätzung der Struktur des Selbst. Während er 1971 noch die „Zwillingsübertragungen“ als Untergruppe der „Spiegelübertragungen“ diskutiert (Kohut 1973, 140ff), entschließt er sich ein Jahrzehnt später dazu, sie als eigenständigen Typus zu fassen und damit von einem „bipolaren“ Selbst (Kohut 1979, 150ff) zu einem tripolaren überzugehen (1987, 275ff). 181
„Im Hinblick auf die Tatsache, dass wir jetzt das Selbst als aus drei Hauptbestandteilen gebildet ansehen (dem Pol der Strebungen, dem Pol der Ideale und dem intermediären Bereich der Begabungen und Fertigkeiten) möchte ich gleich hinzufügen, dass wir die Selbstobjekt-Übertragungen in drei Gruppen unterteilen: (1) jene, bei denen der geschädigte Pol der Strebungen versucht, die bestätigend-billigenden Reaktionen des Selbstobjekts hervorzurufen (Spiegelübertragung); (2) jene, bei denen der geschädigte Pol der Ideale nach einem Selbstobjekt sucht, dass seine Idealisierung annimmt (idealisierende Übertragung); und (3) jene, bei denen der geschädigte Zwischenbereich der Begabungen und Fertigkeiten ein Selbstobjekt sucht, das sich für die tröstende Erfahrung essentieller Ähnlichkeit zur Verfügung stellt (Zwillingsoder Alter-Ego-Übertragung).“ (1987, 275)
Obwohl Kohuts Beschreibung des dritten Selbst-Pols bzw. der ZwillingsÜbertragung vielleicht auf Anhieb gewisse Verständnisschwierigkeiten aufwirft, erscheint er schon aus einem sehr einfachen Grund äußerst aufschlussreich für eine stärker schulpädagogisch akzentuierte Fragestellung. Denn die Entdeckung und Entwicklung von Talenten und Fertigkeiten kann nur sehr bedingt in die ganz frühen Entwicklungsphasen des Kleinkindes fallen. Tatsächlich greift Kohut zur Illustration auf Alltagsereignisse zurück, die bereits ein reiferes Kind – etwa ein vierjähriges voraussetzen (282). Die kindliche Entwicklungsphase, um die es hier geht und in der die Kinder „emotional analoge Stützung“ (283) erfahren müssen, sei tatsächlich, in psychoanalytisch-traditionellen Termini, nicht die ödipale, sondern die Phase der Latenz „im Alter von etwa vier bis zehn Jahren“ (ebd.). Vorläufer solcher Erfahrungen sieht Kohut in frühkindlichen Gefühlen, die sich „von der Bestätigung des Empfindens her(leiten), dass man ein menschliches Wesen unter anderen menschlichen Wesen ist.“ (286) Entsprechende frühe Störungen, wie sie „unvergesslich beschrieben in Kafkas Die Verwandlung“ seien (285), würden „von dem Fehlen menschlicher Menschen in der Umgebung des kleinen Kindes her(rühren)“ (286, Herv. i. Orig.) Kohut geht bei der weiteren Erörterung von „Zwillingschaften“ im späteren Leben beiläufig auch auf „nicht-sexuelle Freundschaften zwischen Angehörigen des gleichen Geschlechts“ ein. (287) Kohut sieht eine Verbindungslinie zwischen dem Verhalten einer erwachsenen Bezugsperson, die dem Kind einen kreativ-spielerisch zu gestaltenden Freiraum offen lässt – während sie durchaus ihrer eigenen Beschäftigung nachgeht – und dem kindlichen Erleben von gleichaltrig-gleichberechtigten Kindern, wie es etwa im englischen Begriff „peer“ gemeint ist. Der dritte Selbstpol weist zunächst eine vertikale Struktur auf – das Kind in Anwesenheit von ihm kreativen Raum gebenden Erwachsenen. Diese horizonta-
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lisiert sich (zunehmend?) bis in Freundschaften und spätere Liebesbeziehungen hinein, sie verbindet „Aspekte unserer grundlegenden Ähnlichkeit“, „ein menschliches Wesen unter anderen menschlichen Wesen“ (286) zu sein mit besonderen produktiven und kreativen Neigungen des Selbst des Heranwachsenden. Wenn Kohut die Ergebnisse einer „normalen Entwicklung“ des Selbst bzw. einer „erfolgreichen Analyse“ diskutiert, stellt er für den Optimalfall eine emotionale Unterstützung des Selbst durch „reife Selbst-Selbstobjekt-Beziehungen“ bezüglich aller drei der genannten Pole bzw. Selbst-Bereiche fest. Es gebe aber auch „mit Sicherheit große Variationen innerhalb des Spektrums der Normalität oder Reife.“ (290) Bezogen auf die drei besagten Selbstpole fasst er noch zusammen: „Gewisse Menschen sind vorwiegend kreativ und selbstexpressiv, und ihr kreatives Selbst wird von der tatsächlich eintretenden oder zumindest zuversichtlich erwarteten Zustimmung des Selbstobjekt-Milieus gestützt, in dem sie leben. Andere werden vorwiegend dadurch gestützt, dass sie sich durch Ideale erhoben fühlen – aller stützenden Kräfte, die unsere Kultur zu jeder gegebenen Zeit und an jedem gegebenen Ort zu unserer Verfügung stellt, d. h. unsere gegenwärtigen kulturellen Selbstobjekte, gehören hierher. Mit anderen Worten, Kultur kann tatsächlich als Selbstobjekt funktionieren ... Schließlich gibt es noch andere Menschen, die die Stützung, die ihr Selbst aufrechterhält, hauptsächlich daraus beziehen, dass sie sich von Alter Egos umgeben fühlen. ...“ (ebd.)
Der erste Typus repräsentiert das verlässlich gespiegelte „Größen-Selbst“, das der Spiegel-Übertragung korrespondiert, der zweite den Anteil der internalisierten Ideale, die aus der Eltern-Imago stammen, der dritte das Selbst, wie es sich in der Zwillings-Übertragung zeigt. Eine gewisse kulturelle Kreativität spielt für Kohut in jeder normalen Entwicklung eine entscheidende Rolle. Würde man seine Darstellung bewusst kritisch nuancieren, wäre das Spektrum der von ihm für angemessen gehaltenen Entwicklungen sehr groß. Man könnte sich Personen vorstellen, deren Selbst sich relativ unabhängig von den sie umgebenden Mitmenschen präsentieren und das auch kaum erkennbaren kulturellen Idealen nachstreben würde. Andere wären denkbar, die ihre Wirkung auf Mitmenschen im Blick auf die von ihnen verfolgten Ideale stark zurückstellen würden. Eine dritte Gruppe ergäbe sich, deren Selbst sich vornehmlich – möglicherweise relativ unabhängig von kulturübergreifenden Idealen – der solidarischen Nähe zu Mitmenschen zu versichern trachten würde. Keine Frage – Kohuts Darlegungen werfen manches Problem auf und können nur als sehr grobe Klassifizierungs-Hilfe gelten. Auf zwei Aspekte möchte ich aber besonders verweisen. Der erste ist, dass nach Kohuts Darstellung pro183
fessionell arbeitende Lehrer aus naheliegenden Gründen über ein gut gefestigtes Selbst in Beziehung auf alle drei der besagten Selbst-Pole verfügen können sollten. Der zweite besteht in Analogien, die zwischen der Honnethschen Anerkennungsphilosophie (Honneth 1992, 2000a), die dieser dem jungen Hegel entnommen hat, und dem Kohutschen Konzept eines tripolaren Selbst, aufzutauchen scheinen. Stojanov interpretiert Honneths Anerkennungsverständnis als potentiell bildungstheorie-relevant (2006). Im vorliegenden Kontext kann ich diesen interessanten Gedanken nicht verfolgen. Soviel nur: Das Honneth-Hegelsche Schema einer ersten und vorbehaltlosen, individualisierenden Anerkennung durch Fürsorge bzw. Liebe lässt sich zwanglos mit den Kohutschen Schilderungen der Spiegelung des frühkindlichen Größen-Selbst parallelisieren. Die Anerkennungsform des Rechts, die dem Kind eine prinzipiell universalisierende SelbstStützung, aber auch Selbst-Relativierung zumutet, kann mit Hilfe von Kohuts „umwandelnder Verinnerlichung“ der „idealisierten Eltern-Imago“ entwicklungspsychologisch plausibel ausgearbeitet werden, die dritte Stufe einer Anerkennung durch „Solidarität“ bzw. „Leistung“ weist deutliche Ähnlichkeiten zu Kohuts Schilderungen auf, in denen die kreativen Leistungen des heranwachsenden Kindes sich der stützenden – solidarischen – Erfahrung Alter-Egos verdanken.
Frühkindliche und lebenslange Selbstobjekte Kohut versucht den sprachlichen Schwierigkeiten bei der Beschreibung vorsprachlicher Erlebnisformen von Kleinkindern u. a. durch die Formel von den „Selbstobjekten" zu begegnen. „Selbstobjekte" sind die vom Kind erst sukzessive in ihrem Eigenleben stärker wahrgenommenen erwachsenen Bezugspersonen.107 Der Ausdruck „Selbstobjekte" bezieht sich also zunächst auf die kindliche Perspektive und soll verdeutlichen, dass die diesbezüglichen „Objekt"-Erfahrungen, also Erfahrungen, die das Kind mit den Bezugspersonen macht, deshalb so folgenreich für die „Selbst"-Entwicklung des Kindes sind, weil es die Selbstobjekte eben noch nicht als von ihm getrennte Personen erlebt, deshalb: „Selbstobjekte“. Wichtig ist auch, sich in diesem Zusammenhang zu verdeutlichen, dass für das Kind der subjektive Erlebnisraum mit den wichtigen „Selbstobjekten" sein ganzes Erleben dominiert, also als tendenziell „unendlich" wahrgenommen wird. 107
Ich sehe keine prinzipiellen Schwierigkeiten, die Erkenntnisse der neueren Säuglings- bzw. Kleinkindforschung, wie sie etwa Daniel Stern (1979, 1991) vorgelegt hat (Dornes 1993) mit Kohuts Sichtweise abzugleichen.
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Diese psychogenetische Unterstellung hat bedeutsame Auswirkungen. „Unendlichkeit" lebt gerade in den Idealvorstellungen des reifen Erwachsenen als universaler Humanismus weiter. Sie ist bei religiösen Menschen z. B. personalisiert als die Vorstellung von Gottes mehr oder weniger gütiger Allmacht. „Unendlichkeit", diesmal allerdings negativ, charakterisiert nach Kohut (offen oder heimlich) auch alle relevanten psychischen Störungen im Sinne einer Störung des jeweiligen Narzissmus. „Größenwahnhafte“ Vorstellungen verbinden das eigene Selbst mit Wichtigkeitsunterstellungen tendenziell „unendlicher“ Art. Narzisstische Störungen erscheinen durchgängig als Unfähigkeit, potentielle personale Partner anders als nur mehr funktional reduziert in den Blick nehmen zu können. Psychoanalytisch ist dann von „Partialobjekten“ die Rede.108 Im Prinzip laufen demnach alle psychischen Störungen auf Formen der Egozentrik hinaus, die im Regelfall auf überindividuelle Gruppen oder sogar Massen übertragen werden, denen man selbst angehört. Da narzisstisch gestörte Menschen kein verlässlich starkes Selbstwertgefühl aufweisen, neigen sie dazu, z. B. ihre Wünsche nach eigener Stärke so exklusiv auf die eigene Gruppe projizieren, die dann als naturwüchsig privilegiert erscheint, sei es durch Geburt, Leistung oder göttliche Erwählung, dass dann Personen außerhalb kein Mitgefühl mehr verdienen. In besonderen Fällen können sie hassens- und in Extremfällen vernichtenswerte Feinde darstellen. Wie schon erwähnt, weisen narzisstische Störungen immer auch unreife aggressive Impulse auf, die allerdings gegebenenfalls autoaggressiv gewendet sein können, während regelmäßig noch sexuelle Störungen hinzukommen. Die entscheidende Qualität, die das Verhalten der Selbstobjekte aufweisen muss, um narzisstische Störungen zu vermeiden, ist Empathie. Psychische Normalität – oder Gesundheit – ist für Kohut direkt ausgezeichnet durch die Fähigkeit des Menschen, sich angemessene Selbst-Objekte zu suchen. Diese behalten dann etwas vom Charakter der frühkindlichen Bezugspersonen, weil der erwach108
Mit dem Narzissmus-Konzept werden zwar einige wichtige Fragen beantwortet, aber viele weitere erst eröffnet. Der administrative oder der wirtschaftliche Bereich verdanken ihre Effizienz und bestimmte Formen von Gerechtigkeit gerade der Abstraktion von subjektiv-personalen Befindlichkeiten. Der Wirtschaftsmanager, der ein Großunternehmen „saniert“, muss sich systematisch über die schicksalhaften Auswirkungen seiner Anweisungen für die betroffenen Arbeitnehmer hinwegsetzen. Umgekehrt lässt sich aus narzissmustheoretischer Sicht beobachten, dass „größenwahnhaftes“ Auftreten im politischen oder massenmedialen Kontext häufig funktional gefordert zu sein und etwa beraterisch gefördert zu werden scheint. Relevante Bevölkerungsanteile reagieren positiv auf Personen, die „Führer“- oder „Leitbild“-Qualitäten suggerieren. Insbesondere sind auch Vorurteilsneigungen und die Tendenz zu Freund-Feind-Schematisierungen in Fundamentalismen jeder Couleur narzissmustheoretisch aufzuschlüsseln. Allerdings liefert das psychoanalytisch mögliche Verstehen entsprechender Störungen, die massenreligiösweltanschauliche Verbreitung finden können, noch kaum Hinweise auf politische Hintergründe und angemessene Umgangsformen damit.
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sene Mensch sie durch freien Entschluss mit einer für ihn existentiellen Bedeutsamkeit auszeichnet. „So erhebend die Erfahrung eines Selbst, das zu einem Mittelpunkt unabhängiger Initiative geworden ist, auch sein mag, die Aufrechterhaltung eines solchen Selbst erfordert immer ein reaktionsfähiges Selbstobjekt-Milieu, das zu finden und zu sichern man lernen muß.“ (295)
Menschliches Leben und Empathie „Empathie" ist für Kohut ein Schlüsselbegriff, der die entwicklungspsychologischen Annahmen seiner Psychoanalyse ebenso begleitet, wie er die psychoanalytische Verstehenstheorie fundiert. Pointiert gesagt, hat es dem heute psychisch leidenden Subjekt in seiner Kindheit aspektweise an Empathie von Seiten spiegelnder und idealisierbarer Selbstobjekte gemangelt – Empathie ist darum das, was der Analytiker dem Analysanden anbieten muss. Man könnte auch formulieren: Der Analytiker muss dem Analysanden die ihn nachträglich „heilende" Erfahrung spiegelnder, idealisierbarer oder unauffällig begleitender Selbstobjekte ermöglichen. Der entsprechende Empathie-Begriff weist demnach eine Reihe von Besonderheiten auf (vgl. Körner 1998). Die vielleicht für die psychische Entwicklung wichtigste ist, dass Empathie nicht „Mittel zum Zweck", sondern primär „Selbstzweck" ist. „Mittel zum Zweck" wäre sie beispielsweise dann, wenn eine Mutter „mittels" Empathie versuchen würde, „herauszufinden", was das Kind braucht: etwa Fütterung, erzieherische Eingriffe, usw. „Empathie" wäre dann eine Art Erkenntnisinstrument, durch das man die heimlichen Beweggründe eines anderen errät, um sie für eigene Zwecke zu benutzen. Im negativen Extrem könnte eine solche „Empathie" durchaus auch missbraucht werden, und in genau diesem Sinne braucht der moderne Werbepsychologe oder der Demagoge „Empathie". Von dieser Art „Empathie“ grenzt sich Kohut scharf ab – er kann ihr Funktionieren gleichzeitig mit unbefriedigten narzisstischen Bedürfnissen erklären, die kurzschlüssig abgerufen werden. In grundsätzlich-anthropologischer Perspektive schreibt er 1973: „1. Empathie, das Erkennen des Selbst im Anderen, ist ein unentbehrliches Mittel der Beobachtung, ohne das weite Bereiche des menschlichen Lebens, einschließlich des menschlichen Verhaltens im sozialen Umfeld, unverständlich bleiben. 2. Empathie, die Erweiterung des Selbst, um den Anderen einzuschließen, stellt ein starkes psychologisches Band dar zwischen Individuen, das – vielleicht mehr noch als die Liebe, Ausdruck und Sublimation des Sexualtriebes – der Destruktivität des Menschen gegenüber
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seinen Mitmenschen entgegenwirkt. 3. Empathie, das annehmende bestätigende und verstehende Echo, das vom Selbst hervorgerufen wird, ist eine psychologische Nahrung, ohne die menschliches Leben, wie wir es kennen und schätzen, nicht bestehen könnte.“ (1975, 44)
Der hier verwendete Empathie-Begriff ist emphatisch und normativ. Sein Geltungsanspruch geht selbstverständlich weit über die psychoanalytische Praxis hinaus und ist nicht nur für die Pädagogik, sondern für gesellschaftliches Zusammenleben – als eine Art empathiebezogener Anerkennungstheorie – insgesamt relevant. Seine sozialromantische Gestalt und auch die fehlende Präzision scheinen allerdings mit dieser Relevanz unmittelbar zusammen zu hängen. Im engeren analytischen Kontext definiert Kohut folgendermaßen: „Empathie ist die Operation, die das Feld der Psychoanalyse definiert. Eine Psychologie komplexer psychischer Zustände ist nicht vorstellbar ohne den Gebrauch von Empathie. Sie ist ein wertneutrales Beobachtungswerkzeug, das (a) zu korrekten oder unkorrekten Resultaten führen, (b) im Dienst mitfühlender oder feindseliger oder leidenschaftslos-neutraler Ziele stehen und (c) entweder rasch und außerhalb des Bewusstseins oder langsam und absichtlich mit konzentrierter, bewusster Aufmerksamkeit benutzt werden kann. Wir definieren sie als „stellvertretende Introspektion“ oder, einfacher, als eines Menschen (versuchte) Erfahrung des Innenlebens eines anderen Menschen unter gleichzeitiger Beibehaltung der Einstellung eines objektiven Beobachters.“ (1987, 251)
Für Kohut ist „Empathie" zwar das hervorragendste Erkenntnisinstrument der Pflegepersonen des Kleinkindes, aber dies ist sie gewissermaßen „nebenbei". „Empathie" ist für ihn die das Kleinkind bergende Verbundenheit zu ihm. Umgekehrt weist eine angemessen-empathische „technische“ Haltung des Analytikers „elterliche“ Züge auf: „Eltern bzw. Analytiker beharren darauf, dass sich das Kind und der Analysand unangenehmen Realitäten stellen, einschließlich der Grenzen, die jeder von uns anerkennen muß, doch sie tun das unter gleichzeitiger Anerkennung der Tatsache, dass jeder von uns sich zu Recht besonders und einzigartig fühlt und dass wir nicht existieren können, wenn wir nicht die Bestätigung durch andere spüren, einschließlich und vor allem unserer Eltern und derer, die später eine elterliche SelbstobjektBedeutung für uns gewinnen.“ (273)
„Empathie" ist für Kohut insofern Selbstzweck in der Beziehung der Bezugspersonen zum Kind, als sie die entscheidende Voraussetzung zur Entwicklung eines angemessenen Selbst-Bewusstseins und Selbst-Wertgefühls des Heranwachsenden ist. Dies aber heißt nichts anderes als dass der Heranwachsende die ihm von 187
den Selbstobjekten erfahrbar angebotene Empathie verinnerlicht und in eine sein „Selbst" lebenslang stützende psychische Struktur umwandelt. Bei Kohut heißt dieser Vorgang umwandelnde Verinnerlichung („transmuting internalization"). In der Psychotherapie geht es, wie schon erwähnt, nach Kohut um genau dasselbe, nur dass das, was ursprünglich-biographisch nicht hinreichend stattfand, nun als nachträgliche „Reparatur" defekter Selbst-Strukturen (und auf diese begrenzt) im Rahmen einer zu diesem Zweck künstlich eingerichteten therapeutischen Beziehung erfolgen soll. In dem Begriff „umwandelnde Verinnerlichung“ ist das Problem angesprochen, das in der Pädagogik als Beziehungsparadoxie auftaucht. Seine Auflösung wird von einer Begegnungsdialektik abhängig gedacht, in der das Kind sich von seiner Bezugsperson wahrgenommen und vorgängig akzeptiert – „geliebt“ oder zumindest „gemocht“ – erlebt, wodurch beide tatsächlich in eine beiderseitige Beziehung eintreten. Eine solche Beziehung ist aspektweise durchaus partnerlich und im Ganzen doch nicht symmetrisch,109 weil das Kind auf das Beziehungsangebot durch den Erwachsenen angewiesen bleibt. Glückt sie, entwickelt sie sich über Jahre hinweg in eine zunehmende Symmetrie hinein. Dabei erweitert sich die Beziehungsdialektik von Selbst-Selbstojekten sukzessive zu einer welthaften dritten Dimension (Stojanov 2006). Sie stellt einen „mitweltlich“, also sozial und – bei glückender Nahbeziehung – tendenziell universalistisch entworfenen Horizont möglicher Erfahrung bereit. Die „Welt“ erschließt sich dem Kind deshalb virtuell über frühkindlich-glückende Begegnung mit einer Erfahrung des vorgängigen Gemocht-Seins, die es jedenfalls sich nicht selbst geben kann. Damit ist die Welt als menschlich bedeutsame und alle Menschen bergend beheimatende prinzipiell eröffnet. Nach dem bislang Angedeuteten zeigt sich, dass „Empathie" zunächst eine Weise des aktuellen Sich-Einfühlens in den Erlebniszustand eines anderen Menschen ist, was zur Folge hat, dass der Sich-Einfühlende einen Affekt in sich empfindet, der dem des Gegenübers irgendwie gleichen soll. Im Englischen bedeutet „empathy“ etwa soviel wie (seit Herder:) „Einfühlung“ im Deutschen (Kohut 1973, 338, Anm.). Der Begriff ist eng verwandt mit „Sympathie". Im Kontext der psychoanalytischen Therapie akzentuiert „Empathie" eine Art Verhaltensanweisung, wonach der Therapeut seinem Gegenüber, dem Analysanden, in einer 109
In der pädagogisch-psychologischen Beraterliteratur findet sich mit einer gewissen Regelmäßigkeit eine undialektische Betonung beider Gesichtspunkte zugleich, aber zeitversetzt. Zunächst pflegt die bereits vorhandene Partnerfähigkeit des Heranwachsenden betont zu werden. Dann folgen ingenieurial-technische Vorschläge, wie der Pädagoge mit dieser Partnerschaft alleinverantwortlich umzugehen hat. Die beraterischen Betonungen der zwar angeblich immer schon gegebenen – durch falsches pädagogisches Handeln aber unmittelbar zerstörbaren – Partnerfähigkeit Heranwachsender bewegen sich nicht selten in einem pädagogischen Selbstverständnis, das sich selbst „gesellschaftskritisch“ einschätzt.
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Haltung verantwortlichen Sich-in-diesen-Hineinfühlens begegnen soll. „Empathie" ist demnach „asymmetrisch" akzentuiert, „Sympathie" eher symmetrisch. „Sympathie" klingt nach affektiver Spontaneität, „Empathie" meint hingegen eine disziplinierte Affektivität. Hier zeigt sich, dass „Empathie" als Einstellung gegenüber den narzisstischen Bedürfnissen des emotional abhängigen Analysanden die Bereitschaft und Fähigkeit bedeutet, diesem Selbstwertgefühl und Idealisierungsmöglichkeit zwar verlässlich anzubieten, eine über die Analyse hinaus währende Abhängigkeit aber gerade zu vermeiden. „Empathie" umfasst demnach ein Bedeutungsspektrum zwischen aktuellem Mitfühlen und kontinuierlichem Sich-Verbunden-Fühlen, wobei beides zusammengenommen die Möglichkeit eröffnen soll, hinreichend angemessen wahrzunehmen, wie die narzisstischen Bedürfnisse des abhängigen Partners befriedigt werden können. Wichtig ist Kohut, dass die psychoanalytische Empathie von raschem intuitivem Erkennen abgegrenzt wird und erst recht auf schnelle Reaktionen im Sinne von Deutungen verzichtet. Zugleich zeigt sich, dass „Empathie“ in einer Verbindung von Einfühlung einerseits und der Fähigkeit, das Gefühlte begrifflich formulieren zu können, andererseits besteht. Im „Empathie“-Begriff sind emotionales Mitgefühl und kritische kognitive Erfassung der Situation, sind Nähe und Distanz, zusammengedacht. Kohut fasst dies begrifflich durch die Unterscheidung von Verstehen und Erklären (Kohut 1987, 264ff). „Die Erklärungsphase unterscheidet sich in einer wichtigen Hinsicht von der Verstehensphase, nicht nur kognitiv, sondern, was bedeutsamer ist, auch emotional. Die Intensität der archaischen Bindung einer Identität innerer Erfahrungen, begründet auf der Fähigkeit des Analytikers, den Patienten richtig wahrzunehmen und dann mitzuteilen, was er wahrnimmt, verringert sich, wenn der Analytiker vom Verstehen zum Erklären übergeht. Der entscheidende Punkt jedoch ist, dass sich zwar die archaische Verschmelzungsbindung verringert, dass aber eine empathische Bindung auf einer reiferen Erfahrungsebene an ihre Stelle tritt. ... Während er seine Erklärungen gibt, versetzt der Analytiker den Patienten in die Lage, sich weiterhin durch die Tatsache gestützt zu fühlen, dass er, der Analytiker, seine Selbstobjekt-Funktionen behält und dem Patienten ipso facto ermöglicht, sich selbst und seinen Problemen gegenüber objektiver zu werden.“ (265, Herv. i. Orig.)
Dadurch, dass der Therapeut die Bedürfnisse fallsensibel erfasst, relativiert er sie zugleich, er überschreitet sie auf Möglichkeiten ihrer Reifung hin, durch die der Patient zu der Unabhängigkeit gelangen kann, die – als Bedürfnis – ebenso in ihm angelegt ist. Genau diese letzteren Möglichkeiten muss er dem Patienten in der Art seines Verständnisses anbieten: das also stets eine, die archaischen Abhängigkeitswünsche auch frustrierende Aufforderung zu einem reiferen SelbstSein enthält. 189
Empathie am Mutter-Kind-Beispiel Kohut geht ausdrücklich davon aus, dass „Empathie“ nicht nur den professionellen therapeutischen Habitus, sondern auch die wünschenswerte Haltung der – mit Winnicott gesagt: – „good enough mother“ auszeichnet. Wie er sich in diesem alltagsweltlich-normalen Kontext „Empathie" denkt, stelle ich im Folgenden schematisiert am Beispiel eines Mutter-Kleinkind-Umganges dar. Ich gehe aus von einem etwa drei Wochen alten Säugling. Er schreit, und zwar nach kurzer Zeit sehr heftig – „verzweifelt". Worin zeigt sich die „Empathie" der Mutter? Als erstes löst das Schreien des Kindes in der Mutter einen starken unwillkürlichen Affekt aus. Die Mutter empfindet das aktuelle Leiden des Kindes intensiv mit. Dieser Mitleidens-Affekt stellt alle anderen möglichen Interessen in den Hintergrund und nötigt sie zu einer Reaktion konkreten Handelns. Ziel des Handelns ist es, das aktuelle Leiden des Kindes zu beenden. Der Mitleidens-Affekt bewegt die Mutter demnach zu konkretem Handeln. Ist der Affekt als gefühlter Affekt nicht stark genug (etwa, wenn die Mutter nur aus Pflichtbewusstsein oder aus kognitiven Erkenntnissen heraus handelt), wird sich der Affektmangel in einem unmittelbaren Defizit an leiblicher Zuwendung äußern, an – umgangssprachlich gesagt – mangelnder Warmherzigkeit und Zärtlichkeit, die das Kind sinnlich zu spüren bekommt. Die Stärke des Mitleidens-Affekts entscheidet überhaupt erst darüber, ob die Mutter innerlich genötigt ist, das aktuelle Bedürfnis des Kindes nicht als Störung ihrer eigenen Interessen zu empfinden und „genervt" zu reagieren, sondern sich das Gesetz ihres eigenen Handelns vom Bedürfnis des Kindes, das es – so sei das Beispiel zu verstehen – (noch) nicht aufschieben kann, vorgeben zu lassen. Mit Kohut ist davon auszugehen, dass sich das Kind in der Qualität seines Affekt-Empfindens erst wahrgenommen fühlt, wenn es die korrespondierende Affekt-Qualität der Mutter (ihr Mit-Leiden110) sinnlich spürend erfahren kann, Daniel Stern spricht hier von „affect-attunement“. Kohut geht wie bereits dargelegt davon aus, dass Heranwachsende ohne angemessene Empathie-Erfahrung Schwierigkeiten haben werden, sich selbst als hinreichend wahrgenommen zu fühlen, und später die situativ angemessenen Gefühls-Qualitäten entwickeln zu können. Seine Sichtweise schließt eine starke Kulturabhängigkeit dessen, was als „angemessene Gefühls-Qualität“ empfunden werden kann – sogar: welche Gefühle als solche gefühlt und wahrgenommen/benannt werden können – nicht aus, sondern ein.
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Rousseaus pitié aus dem seltsamen Naturzustand des Menschen muss demnach nach Kohut real – sozial – erfahren worden sein. Man achte auf die Ähnlichkeiten der Kohutschen Einsichten mit denen Herders knapp zwei Jahrhunderte zuvor!
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Die Erfahrung der affektiv spiegelnden Mutter ist aus der Sicht des Kindes demnach beides, eine Erfahrung des sinnlich vermittelten Verständigtseins (im vorsprachlichen Sinne) mit dem sozial bergenden Selbstobjekt als Möglichkeitsbedingung der Erfahrung des Verständigtseins (Sich-Identisch-Fühlens) mit sich selbst. In philosophisch-anthropologischer Konsequenz bildet für Kohut demnach die hinreichende – sinnliche – Erfahrung sozialen Verständigtseins mit den Selbstobjekten sowohl die Möglichkeitsbedingung selbstbewussten Verständigtseins mit den eigenen inneren Impulsen als auch angemessen differenzierter sprachlicher Verständigung von Menschen miteinander. Dies schließt die Möglichkeit kulturell bedingter Einschränkung von sprachlichen Differenzierungsmöglichkeiten nicht aus, sondern ein. Selbstverständlich erfährt das Kleinkind im obigen Beispiel nicht ausschließlich das Mit-Leiden der Mutter mit seinem eigenen Affekt. Würde die Mutter nämlich ähnlich hilf- und grenzenlos verzweifelt wie das Kind mit-leiden, würde das von ihr auf den Arm genommene, leiblich „aufgehobene" Kind ja nur eine Fortsetzung, sogar eine Verstärkung der eigenen bedrohlichen Gefühle erleben. Denn die hinreichend empathische Mutter ist keineswegs nur vom Mitleid alarmiert. Vielmehr ist ihr Mitleid seinerseits integriert in eine Haltung „gelassener Gefasstheit", in der ihr Mitleidens-Affekt gleichzeitig aufgehoben sein muss. Kohut stellt sich vor, dass erst ein hohes Maß an Krisenbelastbarkeit der inneren Gelassenheit der Mutter die Voraussetzung für die Fähigkeit intensiven Mitleidens bildet. Mitleiden ist demnach dialektisch ermöglicht durch sein scheinbares Gegenteil, das Gefasstbleiben. Insbesondere verweist „übermäßiges" Mitleiden darauf, dass die Pflegeperson zu sehr sich selbst im Kind bemitleidet – ihr Mitleiden gilt demnach zu wenig dem Kind und zu sehr sich selbst mit der Folge, dass das Kind vom unkontrollierten Affekt des Selbstobjektes zusätzlich mitbelastet wird. Denkwürdigerweise macht das Kind demnach die Erfahrung des Verlassenseins nicht nur mit der affektiv unbeteiligten oder affektgehemmten, zu wenig mitleidenden Mutter, sondern auch mit der überaffektiven, also mit dem Kind überidentifizierten und deshalb zu stark mitleidenden Mutter, die das Kind zugleich unbewusst zur Abfuhr eigener Affekte funktionalisiert. Die kurzfristig abrufbare Fähigkeit zu spontan-mitleidvollem Affekt muss also integriert sein in eine längerfristig kontinuierte Haltung gelassener Zuwendung. Das Kind wiederum erfährt im ersten Moment der Tröstung seiner Bedürfnisspannung, dass die Mutter nicht nur sinnlich erfahrbar mit ihm mitleidet, sondern, ebenso sinnlich erfahrbar, dass sie prinzipiell gelassen bleibt. Diese dialektische Struktur von Empathie gibt den Blick frei für eine bedeutsame Entwicklungs-Dynamik. Wenn das Kind nämlich nur dann das Mitlei191
den der Mutter als bergend erleben kann, wenn dieses Mitempfinden aufgehoben ist in die Vermittlung von Gelassenheit, dann hat erfahrenes empathisches Mitleiden in sich immer die Wirkung nicht nur der Affekt-Bestätigung, sondern gerade darin auch der Affekt-Veränderung. Die „umwandelnde Verinnerlichung“ erfahrener Empathie bedeutet demnach immer auch eine Umwandlung des Affekts insofern, als das Kind durch die Mutter lernt, den eigenen Affekt zwar ernst- und wahrzunehmen, aber auch, ihn genau dadurch zu mildern. Im Anschluss an Kohut lässt sich sagen: Damit das Subjekt den eigenen Affekt überhaupt als solchen wahrnehmen kann, muss es ihn abgemildert haben durch eine Grundhaltung vertrauensvoller Gelassenheit – gegenüber sich selbst. Diese Fähigkeit, die eigenen Affekte zu mildern und eine Haltung selbstbewusster Gelassenheit zu entwickeln, ist demnach für Kohut konstituierend für die Entwicklung der Kohärenz des Selbst. Selbstverständlich setzt dieser Prozess voraus, dass die unmittelbaren leiblichen Bedürfnisse (Ernährung, Pflege) tatsächlich erfüllt werden – aber die Art und Weise, in der das geschieht, muss empathisch sein. Jemanden empathisch verstehen bedeutet dann, ihm die Möglichkeit der Selbst-Stärkung anzubieten.111
Empathie als optimale Frustration Vielleicht ist nach dem bisher Dargelegten der Eindruck eines harmonistischen Menschenbildes und einer dementsprechenden Entwicklungspsychologie bei Kohut entstanden. Ein solcher Eindruck lässt sich leicht korrigieren im Verweis auf Kohuts Darstellung der „optimalen Frustration", wobei deren besondere Relevanz für bildungstheoretische Fragestellungen zwanglos einsichtig wird. Die „optimale Frustration" sollte nach Kohut fast den gesamten Prozess des Heranwachsens begleiten. Sie stellt eine qualitative Bestimmung des mit Empathie Gemeinten dar. Das „fast" bezieht sich darauf, dass allerdings die ersten Lebenswochen des Neugeborenen auszunehmen sind. Denn Kohut geht davon aus, dass in der allerersten Lebensphase ein maximales Sich-Einstellen der „Mutter" auf die Bedürfnisse des Kleinkindes auch optimal ist. Danach, so Kohut, ist ein maximales Bedürfnis-Befriedigen des Kleinkindes nicht mehr optimal. Das Kind nämlich hat bis dahin die Erfahrung gemacht, dass auf seine starken Bedürfnisspannungen, die es durch Schreien manifestiert, eine irgendwie geartete Bedürfnisbefriedigung folgt. Dadurch kommt es zu Veränderungen des Schreiens, weil die Bedürfnisspannung an Totalität, also an 111
Die Schwierigkeit in den späteren Lebensphasen ist allerdings, die wirkliche Stärkung von einer Bestätigung zu differenzieren, die den anderen nur kurzschlüssig in narzisstischen Selbstbefangenheiten stärkt.
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„Verzweiflungs"-Intensität, verliert. Durch die Verlässlichkeit der bisher erfahrenen Befriedigungen der jeweiligen Bedürfnisspannungen beginnt sich, so Kohut, ein vorsprachliches „Gedächtnis" im Kind zu entwickeln, wonach der heftigen Spannung ein Befriedigungserlebnis folgen kann, wodurch sich die Spannung wiederum, jedenfalls in ihrer Anfangsphase, ansatzweise zu mildern beginnt. Wenn die „Mutter", nun in dieser Phase des ersten, noch nicht heftigen Schreiens zu früh reagiert und bereits die aufkeimenden Bedürfnisse des Kleinkindes befriedigt, nimmt sie ihm nicht nur die Möglichkeit der Erfahrung, dass es, und zwar langsam zunehmend, Bedürfnisspannung „selbst“ aushalten kann, sie mobilisiert auch nicht hinreichend die „Erinnerung", dass die Bedürfnisbefriedigung irgendwie von außen kommt, also nicht einfach eine Kausalfolge der inneren Spannung ist. Was umgangssprachlich „Verwöhnung“ genannt wird, ist eine Folge nicht hinreichend geförderter Fähigkeit des Kindes, Bedürfnisspannung auszuhalten.112 Ich habe „selbst" soeben in Anführungszeichen gesetzt, weil die entsprechende Erfahrung tatsächlich für die Bildung des zukünftigen „Selbst" von großer Wichtigkeit ist. Denn dass das zukünftige Selbst die nach Kohut wünschenswerte Kohärenz aufweist, hängt damit zusammen, dass es seine Bedürfnisund Triebspannungen einigermaßen verlässlich organisieren lernt. Bedürfnisspannung im angedeuteten Sinne „selbst" aushalten zu lernen, bedeutet die Aktivierung der Erinnerung, dass frühere Bedürfnisse bereits befriedigt wurden. Der durch die Erinnerung geleistete Rückgriff auf früher Erlebtes impliziert damit den Vorgriff auf die bevorstehende Befriedigungsmöglichkeit, die Erinnerung an Gewesenes eröffnet das Vertrauen ins zukünftig Mögliche, wobei diese Zukunftsspanne beim Kleinkind noch sehr kurz sein wird. Während sich also in einer diachronen Horizontalen ein Zeitbezug entwickelt, in dem der erinnernde Rückgriff auf erlebte Befriedigung das vorgreifende Vertrauen auf Zukünftiges eröffnet, bahnt sich in einer synchron-vertikalen Bewegung das Erleben-Können der eigenen Angewiesenheit auf eine pflegende „Mutter" an. Das „Selbst" beginnt sich keimhaft von einem „Alter Ego" zu differenzieren, das nicht nur für den nächstkünftigen Zeitraum als überlegen, sondern in der Tendenz als „unendlich" überlegen wahrgenommen wird – gemäß der durch eigene innere Struktur noch nicht relativierten Totalität des frühkindlichen Erlebensraums. Das „Selbst" begegnet der Andersheit des anderen aus einem grandiosen Unendlichkeitserleben heraus, das im Erleben des völligen Abhängigseins sehr schnell in ein Nichtigkeitserleben umschlagen kann, wenn ihm nicht die real 112 In besonderen Fällen der Verwöhnung werden sogar innere Spannungen an sich schon als eine schwer erträgliche Zumutung empfunden.
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erfahrbare Zuwendung von Seiten der „Mutter" zuteil wird. Das im Zentrum seines inneren Universums zum Bewusstsein seiner selbst erwachende Kind muss sich im Zentrum der Aufmerksamkeit seiner „Mutter" finden können, um von ihr die Grandiosität zuerkannt zu bekommen, mit der es sie, ihr Anderssein als „Selbstobjekt" schrittweise erkennend, vorgängig ausgestattet hat. Diese Dynamik, bei der die Entwicklung des „Selbst", die Entdeckung des für die eigene Existenz konstitutiven bedeutungsvollen Anderen und der sanfte Abbau der kindlichen Grandiosität, die auch den Selbstobjekten zwischenzeitig zugedacht wurde, eine spannungsvolle Einheit bilden, ist nach Kohut, wie bereits erwähnt, abhängig vom empathischen Verhalten der „Mutter" bzw. der „Selbstobjekte". Die Empathie bedeutet, nach einer ersten Phase maximaler Bedürfnisbefriedigung, den Übergang zu einer Einstellung optimaler Bedürfnisbefriedigung, die sinngleich ist mit optimaler Frustration. Die Bezugspersonen behandeln das Kind stets im Vorgriff auf Entwicklungsmöglichkeiten, die es aktuell gerade noch nicht hat, zu denen es aber durch den Umgang herausgefordert wird. Empathie erscheint deshalb nicht als plattes Sich-Einstellen auf kindliche aktuelle Wünsche, sondern als eine Haltung, in der das Kind auf der Grundlage verlässlicher Zuneigung auf seine selbständigeren, vernünftigeren und rücksichtsvolleren zukünftigen Fähigkeiten hin behandelt wird, auf dass es sie entwickeln möge. Das Maß der Erfahrbarkeit einer solchen Haltung entscheidet darüber, inwieweit das Kind das ihm angebotene Bild sich selbst zu eigen machen, also in ein kohärentes „Selbst" „umwandelnd verinnerlichen" kann. Die formale Übereinstimmung mit der oben zitierten pädagogischen Grundparadoxie Dietrich Benners ist evident, „den Zu-Erziehenden zu etwas aufzufordern, was er noch nicht kann, und ihn als jemanden zu achten, der er noch nicht ist, sondern allererst aufgrund eigener Selbsttätigkeit wird“. Empathie enthält somit ein realutopisches Element. Das Kind wird behandelt als der Mensch, der es gerade noch nicht ist, damit er dieser werden könne. Die Übereinstimmung mit der oben zitierten Definition der pädagogischen Grundparadoxie von Dietrich Benner ist evident.
Störungen Selbstverständlich hat sich Kohut als Psychoanalytiker besonders intensiv mit der Frage beschäftigt, woran sich suboptimale Entwicklungsverläufe ablesen lassen. Einen Gesichtspunkt, der für eine pädagogische Bildungstheorie besonders bedenkenswert sein könnte, will ich im Folgenden kurz wiedergeben. Wie die obige Skizze einer optimalen Entwicklung zum „kohärenten Selbst" andeutet, können Störungen sich auf alle beteiligten Referenzpunkte beziehen. 194
(Meine Hinweise beziehen sich lediglich auf wahrscheinlich-mögliche Tendenzen!) Kleinkinder, deren Bedürfnisse „überfürsorglich" befriedigt wurden, würden nach Kohut im Erwachsenenalter in der Tendenz Schwierigkeiten entwickeln, nicht nur die Andersheit anderer Menschen und damit deren Selbstständigkeit anzuerkennen, sondern auch mit ihren eigenen Bedürfnissen angemessen umzugehen. Denkbare Tendenzen wären etwa ein dauerforderndes Verhalten gegenüber der Mitwelt, aber auch schnelles Resignieren bei (für Außenstehende vielleicht) geringfügigen Schwierigkeiten. Kleinkinder, die emotional eher unterversorgt worden wären, würden sich später vielleicht recht gut mit Situationen des Allein-(gelassen-)Seins abfinden können, sie hätten aber in der Tendenz Schwierigkeiten, eigene Bedürfnisse und die ihrer Mitwelt angemessen wahrund ernst zu nehmen und die gesellschaftliche Realität anders als unter Funktionalitätsgesichtspunkten zu betrachten, die sie wiederum ihrerseits zu kontrollieren versuchen würden. In diesen Zusammenhängen geht Kohut auch Entstehungsbedingungen gängiger wissenschaftlicher Intelligenz unter dem Gesichtspunkt möglicher Pathogenität nach (1975, 28ff). Kohuts Argumentation bewegt sich dabei auf zwei Ebenen. Einerseits hat er offenbar die Aufwachsbedingungen renommierter Wissenschaftler im Rahmen psychoanalytischer Therapien exemplarisch studieren können, andererseits geht er von Strukturerfordernissen moderner wissenschaftlicher Tätigkeiten aus und schließt von daher auf diesen entgegenkommende psychische Voraussetzungen zurück. Kohuts kritische These ist, dass vom Selbstverständnis der modernen Wissenschaftlichkeit her, die ja von zahlreichen Subjekten habitualisiert worden sein muss, berufskollektive Kompensationsmöglichkeiten für frühkindlich erfahrene Empathiestörungen strukturell angeboten werden. Kohut geht davon aus, dass die systematische Trennung von subjektiver Emotionalität einschließlich den Existenzsinn betreffender Fragen und objektiver Wissenschaftlichkeit eine größenwahnhafte Realitätsbemächtigung sowohl verdecken als auch ermöglichen kann, die auf vorzeitiges frühkindliches Alleingelassensein zurück verweisen würde. Die hier mobilisierte Intelligenz, die ihre Leistungsfähigkeit prothesenartig durch methodischtechnologische Verfahren steigert, würde versuchen, eine Realität in objektivierender Einstellung zu erfassen und zu kontrollieren, zu der sie den emotionalen Zugang vorgängig verloren hätte. Kohut spricht hier von einem „tool-and-method-pride“ („Werkzeug-und-Methoden-Stolz") (20ff).
Der die Subjektivität scheinbar zurücknehmende Objektivismus tendierte demnach zu einem kollektiven „Subjektivismus“, in dem die anthropologische Bestimmung des Menschen als eines sozialen Wesens in die kaum sinnvolle Orientierung eines bloß natur-beherrschenden Wesens verkehrt würde. Problematisch wird diese Orientierung für Kohut dann, wenn die naturwissenschaftlich geübte 195
und hier im Prinzip unumgängliche Einstellung als Grundhaltung auch auf Gegebenheiten des sozialen Lebens angewendet wird. Für Kohut ist klar, dass auch und gerade Wissenschaft in der Empathiefähigkeit des Menschen ihre letzte und zentrale anthropologische Bestimmung findet – oder die wissenschaftliche Rationalität würde in sich irrational. Kohuts Überlegungen sind insofern auch schulpädagogisch von Belang, als er damit zu rechnen scheint, dass gewisse als Hochbegabungen imponierende Phänomene sich frühkindlichen Störungen mitverdanken können, die erlittenen Empathiemangel in der Form der intellektuellen Arbeit transportieren und deshalb auch deren sozial rücksichts-lose Nebenfolgen mitbedingen – ganz im Sinne des Freudschen Wiederholungszwangs. Bedenklich ist demnach, dass unbewusste, auf Störungen beruhende Bemächtigungsphantasien intellektuelle Leistungen nicht nur beflügeln und mitmotivieren, sondern auch formal mitbestimmen könnten. Da diese aufgrund ihres größenwahnhaften Charakters immer elitär orientiert sind, liegt es nahe, narzisstisch ungefestigte Heranwachsende, insbesondere, wenn sie entsprechende Empathiedefizite aus der Kindheit mitbringen, mit der Aussicht auf die Angehörigkeit zu gesellschaftlichen Eliten zu verstärkten intellektuellen Lern- und Selbstdisziplinierungsleistungen zu verlocken. In einer empathiearmen Gesellschaft wäre dann in Weiterführung Kohutscher Gedanken zu befürchten, dass sich konventioneller Empathiemangel durch die entsprechend schulpädagogisch favorisierten Lernleistungen unerkannt mitreproduzierte. Die Schule würde dann bestimmte Verlaufsformen von narzisstischen Störungen bei Schülern zumindest indirekt präferieren, indem sie diesen Kompensationschancen für ihre häuslich erlittene Empathiearmut unter Leistungsgesichtspunkten durch gesellschaftliche Privilegierung in Aussicht stellt. Wenn Kohut darauf insistiert, dass das Verstehen vom heranwachsenden Gegenüber selbst als solches erlebt werden muss, bedeutet das aber auch, dass es umso schwieriger ist, einen Menschen zu verstehen, je weniger Verständnis dieser bisher erlebt hat. Denn nach Kohut ist eine Voraussetzung des Verstehens so etwas wie eine emotionale Begegnung mit dem Anderen. Wenn er diese Begegnungsmöglichkeit von sich aus nicht anbietet – so wie es nach Kohut das Kleinkind noch selbstverständlich-naturbedingt tut – dann bleibt das Verstehen erstens äußerlich und zweitens fehlt ihm die Möglichkeit der kommunikativen Bestätigung durch den Adressaten. Für Kohut ist es ohne weiteres denkbar, dass ein Mensch – durchaus auch ein noch junger – so wenig Verständnis von Seiten seiner Bezugspersonen biographisch erlebt hat, dass er tiefer gehendes Verstehen nicht nur nicht als solches wahrnehmen kann, sondern sogar als Bedrohung, etwa als übergriffige Aufdringlichkeit, empfinden muss.
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Dass man im Gefolge einer solchen Einschätzung in bestimmten Fällen die Möglichkeiten sinnvollen schulpädagogischen Handelns drastisch eingeschränkt sehen muss, liegt auf der Hand. Kohuts Werk gibt Fallstudien einer großen Vielfalt narzisstischer Störungen. Mit ihnen muss der professionelle Psychoanalytiker sehr selbstverständlich umgehen. Umso auffälliger ist, wenn man bei einem Großteil der pädagogischen Literatur, die sich als praktisch hilfreich darbietet, nicht einmal Hinweise auf die Möglichkeit solcher Störungen findet – geschweige denn, wie man als Pädagoge schulalltäglich damit umgehen könnte. Anfügen möchte ich noch, dass es neben den möglichen, narzissmustheoretisch problematischen Grobtendenzen einer emotionalen Überversorgung bzw. Unterversorgung, die beide in ein einigermaßen kontinuierliches und verlässliches Betreuungsgeschehen eingebettet sind, noch eine dritte Richtung gibt, die insgesamt durch diskontinuierliche Zu- und Abwendung der Bezugspersonen zum oder vom Kind charakterisiert ist. In dieser Grobtendenz würde ich ein Spektrum von Verhaltensweisen der Bezugspersonen am Werke sehen, die deren situativ wechselnden Impulsen und Bedürfnissen geschuldet sind, ohne dass ein unteres Minimum an rücksichtsvoller Bezugnahme zu den kindlichen Bedürfnissen zumindest nach Kontinuität beachtet würde. Das Kind wäre vielmehr den Launen und Befindlichkeiten und womöglich den – situativ durchbrechenden – Triebansprüchen seiner erwachsenen Betreuer ausgesetzt. Die Folge wären zumindest tendenziell Formen der emotionalen „Verwahrlosung“, das Sozialverhalten des zukünftigen Erwachsenen wäre in der Tendenz als unzuverlässig, aber auch aggressiv-rücksichtslos zu erwarten. So sehr sich in solchen Kontexten jede Pauschalisierung verbietet und so sehr sich auch Mischformen der drei Grobtendenzen denken lassen bis an die Grenzen einer für Kohut wünschenswerten empathischen Zuwendung zum Kind bzw. dessen narzisstischer Entwicklung hin, scheint es mir doch sehr angebracht, gerade auch die letztere Grobtendenz nicht zu unterschätzen. Bei der Lektüre psychoanalytischer Texte (auch der Kohutschen) zeigt sich eine Bevorzugung von entwicklungspsychologischen Vorstellungen, die der eigenen Klientel entsprechen. Die Klientel psychoanalytischer Therapien stellt bis heute sicherlich keinen auch nur annähernd repräsentativen Bevölkerungsquerschnitt dar.
Narzissmus als intersubjektives metapsychologisches Konzept Ich möchte das Kohut-Referat kurz im Blick auf einen neueren narzissmustheoeretischen Entwurf ergänzen. Martin Altmeyer (2002) beruft sich psychoanalytisch entscheidend auf den englischen Kinderanalytiker Donald W. Winnicott, während er sich philosophisch stark von Axel Honneths Anerkennungsphiloso197
phie beeinflusst zeigt.113 Altmeyer geht dem Zusammenhang von Narzissmus, Intersubjektivität und Anerkennung nach. Dabei fasst er den Narzissmus dezidiert als intersubjektives metapsychologisches Konzept. „Subjektivität ist intersubjektiv vermittelt.“ (153) Die Selbstwerdung ist nur als Fremdförderung möglich, die zugleich Kulturteilhabe vermittelt und eröffnet. „Erst aus der Erfahrung der Anerkennung durch das primäre Objekt taucht das Selbst als etwas Eigenes auf. … Die Frage der intersubjektiven Anerkennung von Abhängigkeit und Unabhängigkeit zwischen Selbst und Objekt bildet den intersubjektiven Kern und das überdauernde Thema des Narzißmus.“ (163) „Die Anderen sind der Spiegel, in dem wir unser Selbstbild reflexiv erwerben und unser Selbstwertgefühl regulieren. Die Anderen sind es, auf deren Anerkennung wir angewiesen sind und von denen wir uns doch unterscheiden müssen, um uns als Individuen zu fühlen.“ (165)
Wegen des narzissmustheoretisch zentralen Themas des Verhältnisses von Abhängigkeit und Unabhängigkeit kommt Altmeyer zur Feststellung eines „paradoxen Sachverhalts“: Kann die „mütterliche Liebe und Fürsorge in eine wertschätzende Selbstbeziehung“ umgewandelt werden, „bleibt diese intersubjektive Spur erhalten. … Sie .. wandelt sich allmählich zu einer Spiegelfunktion für das entstehende Selbst und setzt sich in dessen Struktur als identitätsbildendes Gefühl von Einzigartigkeit und individueller Besonderheit fest, das aber paradoxerweise über Anerkennung entstanden und auf Anerkennung angewiesen ist. Im gelungenen Fall einer „gesunden“ narzißtischen Entwicklung ist dieses affektiv-szenische Korrelat der internalisierten Fürsorgebeziehung gewissermaßen unsichtbar: es gehört zur selbstverständlichen seelischen Grundausstattung des Selbst und reguliert die innere Balance leise und unauffällig, mit einem Seitenblick auf die inneren Objekte und die äußere Welt.“ (166)
Zwanglos lässt sich die intersubjektiv konzipierte Narzissmustheorie gemäßigtkonstruktivistisch in eine sozialisationstheoretisch fundierbare Bildungstheorie weiterführen. „Der Narzissmus lässt sich als eine subjektive Konstruktion an der Nahtstelle zwischen Selbst und Objekt verstehen. Er stellt geradezu die Verbindung zur Welt her. Die äußere Welt ist keine Projektion der inneren. Die innere Welt ist aber auch keine Projektion der äußeren, die äußere Welt bildet sich in der inneren nicht einfach ab.“ Denn: „..die subjektive Anerkennung der Realität – psychoanalytisch gesprochen:
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Altmeyers dezidierte Kohut-Kritik (160) kann ich übergehen. Sie erscheint mir auf einem Fehlverständnis zu beruhen. Ähnliches gilt für die ansonsten instruktive Studie von Eagle 1988.
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die Bildung innerer Strukturen über die Verinnerlichung von Objektbeziehungen – (ist) ein schöpferischer Akt.“ (166f, Herv. v. mir)
Im Zentrum der von Altmeyer zugrunde gelegten Anthropologie findet sich eine Bildungsparadoxie, die – psychoanalytisch selbstverständlich – in den frühkindlichen Phasen besonders folgenreich wirksam ist bzw. bearbeitet werden muss und – psychoanalytisch ebenso selbstverständlich – deren nachträgliche Bearbeitung die Hauptaufgabe der Therapie ist. „Die Theorien einer intersubjektiven Genese des Selbst oder der Identität (wie die von Winnicott oder Mead) haben es mit einem paradoxen Sachverhalt zu tun. Sie müssen nämlich zeigen, wie ein Individuum Einzigartigkeit und Unabhängigkeit erwirbt, zugleich aber in seiner Selbstdarstellung auf die Anerkennung durch Andere angewiesen, also abhängig bleibt. Aus diesem Widerspruch gibt es theoretisch keinen Ausweg, er lässt sich aber darstellen. Ich habe die Vermutung, daß der Narzißmus geradezu die Darstellungsform dieser paradoxen Situation ist und zugleich die Form der Lösung: er verbindet die besondere Behauptung des Eigenen mit dem allgemeinen Anspruch auf Anerkennung.“ (167)
4.2 Systemische Empathie, Verbindung von Kohut und Kernberg Nicht-konzentrische systemische Empathie Altmeyer kommt Kohut in seiner Anthropologie sehr nahe, er legt aber kein dem Kohutschen vergleichbares Empathiekonzept vor. Dieses müsste allerdings kritisch revidiert werden, soll es für eine pädagogische Professionstheorie fruchtbar gemacht werden. Bei Kohut ist Empathie dyadisch angelegt, ihr Verständnis ist dem psychoanalytisch-therapeutischen Prozess geschuldet, in dem sich der Therapeut weitgehend aus der Normalität gesellschaftsüblicher Zweierbeziehungen heraus hält. Selbst der dyadisch angelegte Umgang der Mutter mit dem Kind, sobald dies das frühkindliche Stadium größter Abhängigkeit überschritten hat, bezieht aber Gesichtspunkte der Außenwelt mit ein, etwa indem die Mutter auf einen angemessenen Umgang des Kindes mit sich selbst, seinen eigenen Möglichkeiten, Grenzen und Bedürfnissen, mit Personen der näheren oder weiteren Mitwelt und Bedingungen der häuslich-lebensweltlichen Umwelt wie Gegenstände, materielle Rahmenbedingungen, Regeln und Vorschriften sowie naturhafte Gegebenheiten usw. einwirkt. Die hier geforderte Empathie ist also durch den Einbezug der personalen Mitwelt und der sächlichen Umwelt grundsätzlich mehrpolig angelegt. Die Mutter muss demnach in ihren empathischen Umgang zum Kind 199
sowohl dessen sachangemessenen Umgang mit sächlicher Umwelt als auch personaler Mitwelt antizipativ integrieren. Im günstigen Fall begänne letzteres beim Vater, würde die Geschwister und sodann andere Erwachsene oder Kinder einbeziehen. Hier scheint mir ein Vorschlag von Interesse, den Kohuts amerikanischer Psychoanalytiker-Kollege Otto F. Kernberg (2000) vorgelegt hat. Kernberg versteht seinen Ansatz objektbeziehungstheoretisch, das heißt, er geht davon aus, dass in den kindlichen Entwicklungsphasen Interaktionsstrukturen internalisiert werden, während er gleichzeitig – stärker als Kohut – dem Freudschen trieb- und instanzentheoretischen Denken verhaftet bleibt. Ich beziehe mich im Folgenden auf Studien im Bereich von Gruppenprozessen und Organisationsentwicklungen, die Kernberg im Kontext seiner „Theorie offener Systeme“ psychoanalytisch untersucht.114 „Die Systemebene, an deren Relevanz für die Gruppenprozesse die wenigsten Zweifel bestehen, ist wahrscheinlich diejenige, die das Individuum – oder seine Persönlichkeit – als Subsystem begreift, die Gruppe als das zu untersuchende Hauptsystem oder „Zielsystem“ .. und die soziale Organisation innerhalb deren die Gruppe funktioniert, als Suprasystem der Reihe. In der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie konstituieren internalisierte Objektbeziehungen das Subsystem des Zielsystems, das durch die psychischen Strukturen (Über-Ich, Ich und Es) repräsentiert wird, während die Persönlichkeit als ganze das Suprasystem der Reihe darstellt. All diese Systeme – von den internalisierten Objektbeziehungen bis zu sozialen Organisation – können innerhalb eines einzigen Hierarchiekontinuums lokalisiert werden. … Die Situation in Gruppen ist jedoch komplexer.“ (185f)
Bevor ich auf Kernbergs Pointe im letzten Satz komme, möchte ich kurz festhalten, dass Kernberg sich im zitierten Text auf seine Arbeit als psychoanalytisch ausgebildeter Gruppenpsychotherapeut bzw. Organisationsberater bezieht. Allerdings lässt sich ohne weiteres sagen, dass auch der Lehrer in seiner Arbeit vor der Klasse mit regressiven Belebungen „internalisierter Objektbeziehungen“ der Schüler einschließlich regressiven Gruppenverhaltens rechnen muss – ebenso wie die Institution Schule formgebend (als „Suprasystem“ nach Kernberg) in die Arbeit des „Hauptsystems“ einwirkt. Ein Empathieproblem, wie es sich einem
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„Eine systemtheoretische Betrachtung von Organisationen sieht die Institution als ein umfassendes System, das verschiedenartige Subsysteme dynamisch und hierarchisch integriert (außer den üblichen Aufgabensystemen und Verwaltungsstrukturen der Organisation beispielsweise die Persönlichkeit des Leiters und den Charakter von Gruppenprozessen); sie definiert die Umwelt der Organisation als eine Zusammensetzung von Suprasystemen, die auf dynamisch und hierarchisch organisierte Weise Auswirkungen auf die Institution nehmen.“ (69f) Zu beachten ist, dass Kernbergs „Systemtheorie“ sehr anschauungsnah angelegt ist und nicht entfernt so radikal wie etwa die Luhmannsche ansetzt.
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Elternteil mit streitenden Kindern stellt, würde Kernberg als „systemisches“ bezeichnen. Kernberg besteht darauf, dass der optimale Gruppenleiter die vermeintliche Hierarchie der unterschiedlichen Systemebenen keineswegs starr interpretieren wird. Sofern er das dennoch täte, „vernachlässigt(e) er sowohl die kreativen Möglichkeiten als auch die destruktiven Gefahren, die mit einem umfassenderen Gewahrsein der Gesamthierarchie der auf seine Entscheidungsprozesse einwirkenden Systeme verbunden sind.“ (185) Denn: Es „finden fortwährend verwirrende Veränderungen in der Ordnung der Systemebenen statt, und man kann „nicht-konzentrische“, einander überschneidende Hierarchien verschiedener Systemebenen beobachten. Sie alle wirken auf den Gruppenleiter ein und verlangen eine ständig neu erfolgende Determinierung der Grenzfunktionen, die im jeweiligen Augenblick im Vordergrund stehen und somit die Prioritäten seiner Interventionen zu bestimmen haben.“ (185, Herv. v. mir)
Regressive Gruppenprozesse Mit dem letztgenannten Zitat wird die Komplexität jedweder Leitungsfunktion von Arbeitsgruppen betont. Bevor ich darauf zurückkomme, möchte ich noch einmal auf die potentiell regressionsfördernde oder -verhindernde Wirkung der Arbeitsweise von Gruppen für alle Beteiligten hinweisen. Zu den Gesichtspunkten, die im professionstheoretisch-pädagogischen Zusammenhang besonderer Beachtung wert scheinen, gehört Kernbergs „Beobachtung, dass sich sehr kranke Patienten in Gruppen, die über eine stabile Struktur und klar definierte und konsequent vertretene Aufgaben verfügen, ganz normal verhalten können. Im Gegensatz dazu können absolut gesunde und gut angepasste, hochqualifizierte Fachleute, die im Kontext regressiver Gruppen mit inadäquater Aufgabenstruktur arbeiten, sehr rasch auf abnorme Verhaltensweisen regredieren.“ (11f)
Demnach verbietet sich eine verengt individualisierende, das Individuum konstant setzende Sichtweise, die es unabhängig vom sozialen Kontext zu erfassen versucht. Gruppen, in denen die individuelle psychische Stabilität günstig unterstützt wird, arbeiten nach Kernberg stets „aufgabenorientiert“ im angedeuteten Sinne, also mit „klar definierten und konsequent vertretenen Aufgaben“. Schon an dieser Stelle mag sich die Frage aufdrängen, inwieweit die organisationalen Bedingungen sowohl der Schule als auch der Lehrerausbildung die geforderte Bedingung erfüllen. Ich werde dazu in den beiden folgenden Kapiteln noch Eini-
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ges ausführen.115 Die entsprechende Rückfrage gewinnt an Brisanz, wenn man eine weitere Beobachtung Kernbergs heranzieht, die aus der einschlägigen Literatur (beginnend bei Sigmund Freuds „Massenpsychologie und Ich-Analyse“) reich belegt ist und die für ihn axiomatischen Charakter hat. Kernberg vertritt nämlich die „Auffassung .., daß Gruppenprozesse eine elementare Bedrohung der persönlichen Identität darstellen, eine Bedrohung, die mit der Tendenz der Gruppe zusammenhängt, primitive Objektbeziehungen, primitive Abwehroperationen und primitive Aggression mit vorwiegend prägenitalen Zügen zu aktivieren“ (118, vgl. 21)
Kernberg meint mit dieser Formulierung alle Gruppenprozesse, sowohl die in Großgruppen als auch in Kleingruppen stattfindenden. Gruppenprozesse als solche bedrohen demnach die Identität der beteiligten Individuen, wobei zur Abwehr individueller Identitätsdiffusion in Großgruppen vor allem eine „Idealisierung des Hordenführers“ bzw. eine „Idealisierung der Gruppenideologie“ erfolgen kann, während sich in unstrukturierten Kleingruppen regressive Prozesse beobachten lassen, die Wilfred R. Bion in „Abhängigkeits-“, „Kampf-Flucht-“ und „Paarbildungs-“ Gruppen unterschieden hat. In Gruppenprozessen kommen damit Triebimpulse und Verhaltensweisen zum Vorschein, die in Zweier- oder häuslichen triadischen Beziehungen normalerweise unter Kontrolle bleiben. Durch ihren „präödipalen“, also den frühen psychosexuellen Reifungsstufen entsprechenden, Charakter sind die betreffenden Impulse in der Tendenz ebenso irrational wie unkontrollierbar. Kernberg legt Wert darauf, nicht nur die Bedrohung der Identität ins Auge zu fassen, die von Gruppenprozessen ausgeht, sondern auch die „primäre Gratifikation, welche die phantasierte Auflösung der Grenzen zwischen dem Selbst und den primitiven Vorläufern des Ich-Ideals vermittelt“ (118) nicht zu unterschätzen, die von Freud analog zu Zuständen der Verliebtheit erläutert wird (a. a. O.). Die Mitglieder einer Gruppe üben demnach auch einen gewissen „verführe-
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„Die erste Voraussetzung für das effiziente Funktionieren einer Organisation – einschließlich ihrer Leitung – ist das adäquate Verhältnis zwischen der Gesamtaufgabe der Organisation und ihrer administrativen Struktur; die Aufgabe darf nicht trivial, sondern muß bedeutungsvoll sein, sie darf die verfügbaren Ressourcen nicht überfordern, sondern muß „machbar“ sein“ (67) Dabei hängt ihre Effizienz „ von der Angemessenheit ihrer menschlichen und materiellen Ressourcen und von ihrer Interaktion mit der Umwelt ab. Wenn diese Ressourcen zur Erfüllung der Aufgabe nicht ausreichen, wenn der normale Austausch von Ressourcen und „Produkten“ über die Grenzen der Institution zusammenbricht oder widersprüchliche Ziele oder eine mangelnde Klärung von Prioritäten die funktionale Beziehung zwischen Aufgabe und Verwaltungsstruktur beeinträchtigen, dann zersetzen sich die Strukturen der Aufgabengruppen in der Organisation, die Moral geht verloren, und die Gruppenprozesse innerhalb der Organisation regredieren.“ (67f)
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rischen“ Druck auf die betreffende Führungskraft aus, sich in einer der Richtungen zu disponieren, die Bion beschrieben hat.
Die Bedeutung des Gruppenleiters Kernberg hält offenbar die Unterscheidung von regressiven „GrundannahmenGruppen“ gemäß der narzisstisch verstandenen „Abhängigkeit“ bzw. der paranoiden von „Kampf-Flucht“ für besonders weiterführend. Von der „Abhängigkeitsgruppe“ werden demnach „narzisstische Persönlichkeiten“ leicht zur Übernahme von Führungspositionen verführt, von der von Kampf-Flucht-Phantasien bestimmten Gruppe gilt dies für paranoide Persönlichkeiten. Was Kernberg darunter genauer versteht, erläutert er in zwei komplementären Richtungen. Einerseits beschreibt er die Tendenz von Gruppen und Organisationen zur Regression, wobei er sich am Begriff der „Paranoiagenese“ orientiert: in den demnach die Aspekte narzisstischer Störung integriert sind (145ff). Andererseits arbeitet er die wünschenswerten Qualitäten von Führungskräften heraus. Was letztere betrifft, so benennt Kernberg zunächst vier Faktoren, „von denen die Effizienz der Leitung abhängt, in (a) der Persönlichkeit des Leiters; (b) der Art seiner technischen und konzeptuellen Kompetenz; (c) der Angemessenheit der Aufgabendefinition, der Verfügbarkeit von menschlichen und materiellen Ressourcen und dem Setzen von Prioritäten seitens der Institution; und (d) in der Abgestimmtheit der Verwaltungsstruktur auf die Aufgabenerfordernisse.“ (76)
Bevor ich auf Kernbergs Bestimmung der Leitungsqualitäten im engeren Sinne eingehe, möchte ich noch einmal auf die Bedeutung der beiden letztgenannten Punkte für ihn hinweisen. Effiziente Leitung hängt immer von der (nur begrenzt beeinflussbaren) Persönlichkeit des Leiters sowie seinen (weitgehend ausbildungsabhängigen) technisch-konzeptuellen Kompetenzen zusammen, allerdings bilden diesen subjektiven Merkmale nur teilweise die Bedingung effizienter Leitung: grundlegend sind die allgemeinen und konkreten institutionellen Gegebenheiten. Kernberg definiert ausdrücklich „fünf bedeutende, wünschenswerte Persönlichkeitsmerkmale …, die für rationale Führung erforderlich sind: (1) Intelligenz; (2) persönliche Aufrichtigkeit und Unbestechlichkeit; (3) die Fähigkeit zur Herstellung und Aufrechterhaltung intensiver Objektbeziehungen; (4) ein gesunder Narzissmus; und (5) eine gesunde, berechtigte, antizipatorische paranoide Haltung, die das Gegenteil von Naivität bedeutet. Die beiden letztgenannten Eigenschaften sind vielleicht die verblüffendsten und dennoch die wichtigsten Aspekte der Aufgabenführung.“ (63, Herv. v. mir)
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Kernberg erläutert dies wie folgt: „Ein gesunder Narzissmus schützt den Führer vor übergroßer Abhängigkeit von der Zustimmung anderer und stärkt seine Fähigkeit zu selbständigem Handeln; eine gesunde paranoide Einstellung schärft seine Aufmerksamkeit für die Gefahren von Korruption und paranoiagener Regression (dem Agieren diffuser Aggression, die unbewusst in sämtlichen Organisationsprozessen aktiviert wird) und bewahrt ihn zudem vor einer Naivität, die es ihm unmöglich machen würde, die motivationalen Aspekte institutioneller Konflikte zu analysieren.“ (63f) Allerdings hat dies eine genaue Kehrseite: „Die Gefahr besteht darin, daß die Regression der Organisation die narzißtischen und paranoiden Züge der Führung verstärken und machtvolle regressive Kräfte aktivieren kann, die eine weitere Regression in narzisstisch-abhängiger oder paranoid-sadistischer Richtung mobilisieren wird.“ (64)
Kernbergs Analysen lassen sich bei aller gebotenen Vorsicht auch im Blick auf Schulen und die Lehrerprofession fruchtbar machen. Besonders interessant erscheint die Frage, was Kernbergs Erörterung für die von Kohut umrissene „Empathie“ als zentraler Professionskompetenz des Lehrers abwirft. Kernbergs Feststellung lässt sich (mit einem schematischen Beispiel) auf das Lehrerhandeln übertragen: Der Lehrer mag sich dem unterrichtsstörenden Verhalten eines Schülers gegenübersehen, der eine Gruppe anderer Schüler mit ablenkt, gleichzeitig aber die von ihm heimlich wertgeschätzte Aufmerksamkeit des Lehrers auf sich zu lenken versucht (ein „subsystemischer“ Vorgang), während der Lehrer die Klasse für ein Unterrichtsthema zu interessieren versucht und die hierzu nötige Arbeitsdisziplin aufrecht zu erhalten hat (der „hauptsystemische“ Prozess), wobei er mittelfristig die Vorgaben der Rahmenrichtlinien im Auge hat und auf die Benotbarkeit der gezeigten Lernleistungen achtet („suprasystemische“ Referenz). Die systemtheoretisch so genannte „Grenzfunktion“ des Lehrers, durch die er die Systemgrenze, das heißt in diesem Falle, das aktuelle thematische Selbstverständnis der Gruppe, bestimmt, setzt eine möglichst rasche Entscheidung voraus, welche Arbeitsaufgabe von wem mit welchen Mitteln in welcher Zeit zu bewältigen sei. Zwar sind in real beobachtbarem Unterricht die Abläufe häufig weit komplexer und zumeist nicht so eindeutig festzustellen – das obige Beispiel ist vielleicht doch geeignet, die von Kernberg her mögliche Erweiterung des von Kohut mit „Empathie“ Umschriebenen bezüglich der pädagogisch-professionellen Lehrerkompetenzen anzudeuten. Dabei geht es um Kernbergs Hinweis auf nicht-konzentrische Systemebenen, die der Leiter (=Lehrer) im Blick haben muss. Genuin psychoanalytisch an dem gewählten Beispiel ist nur (aber immerhin!) zweierlei: die Unterstellung eines unbewusst wirkenden Aufmerksam204
keitswunsches des besagten Schülers, der damit den Unterricht durchaus „stört“ (eine solche Möglichkeit lässt sich leicht von Kohut her illustrieren) sowie die (von Kernberg eingebrachte) Unterstellung, dass der unterrichtliche Gruppenprozess schnell regredieren kann, wenn sich der Lehrer mit der Leitungsfunktion (systemtheoretisch mit der „Grenzfunktion“) überfordert zeigt. Was durch Kernbergs Mehrebenen-Modell zusätzlich ins Spiel gebracht wird, ist der Verweisungszusammenhang von inhaltlich-thematischem Unterrichtsgegenstand, gruppenbezogen zu sicherndem individuellen Arbeitsverhalten der Schüler und einer durch die Grundhaltung des Leiters-Lehrers vorbildhaft zu repräsentierenden Arbeitsorientierung der Gesamtgruppe. Diese Arbeitsorientierung kann nach Kernberg nur aufrechterhalten werden, wenn der Lehrer die betreffenden Ebenen zumindest intuitiv differenziert, sie abwägt und immer wieder koordinativ integriert. Durch seine Beachtung unbewusster und irrationaler (in diesem Fall den Unterricht offen störender) Verhaltensmotive ist Kernberg von der Sache her der Kohutschen Empathie nahe, durch seine Aufmerksamkeit auf die unterschiedlichen Systemebenen des organisatorischen Prozesses kann er das mit Empathie im Sinne einer professionellen Kompetenz des Lehrers sinnvoll Gemeinte unterdifferenzieren. Kohuts Empathievorstellung wiederum ist einer Modifikation im Sinne Kernbergs gegenüber insofern offen, als auch der Analytiker im dyadischen Therapiesetting nicht auf schnelles intuitives Erfassen des im Patienten unbewusst Vorgehenden setzt – und schon gar nicht auf rasches reaktives Handeln des Therapeuten –, sondern von langfristig anzusetzenden und umsichtig zu gestaltenden Verständnisprozessen ausgeht. In diesem Zusammenhang möchte ich an die „optimale Frustration“ einerseits und das Mutter-Kleinkind-Beispiel andererseits erinnern. Bereits für das letztere lässt sich zeigen, dass zur Empathie der „good-enough-mother“ konstitutiv nicht nur das affektive Sich-anrühren-Lassen, sondern immer auch das ruhige Gefasst-Bleiben gehört. Nähe ohne Distanz wäre Enge, Distanz ohne Nähe Kälte. Erst die Dialektik beider macht die empathische Haltung aus, erst sie eröffnet dem Kind angemessene Möglichkeiten der „umwandelnden Verinnerlichung“ des Betreuungsverhaltens der Pflegeperson. Die „optimale Frustration“ führt das frühkindliche Geschehen weiter. Sie zu beachten leitet Kohuts entwicklungspsychologisches Denken in ein genuin pädagogisches über. Was den Lehrer betrifft, so wird man keine übertriebenen Erwartungen bezüglich der Intensität hegen dürfen, mit der er sich fallspezifisch von den Problemen einzelner Schüler anrühren lassen kann. Allerdings scheint alles darauf anzukommen, dass er – gerade in Konfliktsituation – ruhig und gefasst bleiben und eine optimistische Ausstrahlung beibehalten kann. Das Verständnis, das er gegenüber dem je einzelnen Schüler aufbringt, wird zumeist eher ein virtuelles 205
denn ein aktuelles sein können. Eine stärker therapeutisch akzentuierte Zuwendung zum einzelnen Schüler wird zusätzlicher situativer Bedingungen bedürfen, die im Normalunterricht nicht gegeben sind.
4.3 Pseudoentparadoxierungen als narzisstischer Selbstschutz Handlungsanforderungen und Vereinseitigungen Im Folgenden sollen die unangemessenen beruflichen Selbstverständnisse typologisch analysiert werden, wie sie von Lehrern im Zuge ihrer Berufspraxis entwickelt werden können. Dieser Analyse liegen vieljährige Erfahrungen mit Lehrern und Lehrerkollegien aller Schulformen zugrunde, insbesondere solche, die ich in Beratungskontexten von Lehrerkollegien sammeln konnte. In der Logik der Beziehungsparadoxie ist es allerdings nahe liegend, die typologische Unterscheidung auf alle formellen Lehrer-Tätigkeiten zu beziehen. Sie gilt also auch für Pädagogik-Dozenten und Ausbilder der Zweiten Phase. Gleich in der Einleitung bin ich auf die Beobachtbarkeit verbreiteter unangemessener beruflichzukünftiger Selbstverständnisse von Lehramtsstudenten eingegangen. Im unmittelbar Folgenden werde ich mich aber zunächst auf entsprechende Vorstellungen bei amtierenden Lehrern konzentrieren, da sie von den unterrichtlichen Praxisanforderungen her am leichtesten zu verdeutlichen sind. Um die unangemessenen Berufsselbstverständnisse zu typisieren, werde ich zunächst die oben vorgenommene Differenzierung der drei Ebenen des LehrerHandelns zurücknehmen. Tatsächlich lassen sich die PseudoEntparadoxierungen in einem ersten Zugang leichter am einfachen – „zweidimensionalen“ Modell des didaktischen Dreiecks illustrieren. Erst danach werde ich zeigen, dass sich die einseitigen Berufsverständnisse auch auf unterschiedlichen Ebenen des pädagogischen Handelns bewegen. Somit erscheinen auf Anhieb drei Haupttypen strukturell möglich, insofern der Lehrer den Schülern „etwas“ als Unterrichtsthema inhaltlich vermitteln will. Jeder der drei beteiligten Pole am unterrichtlichen Interaktionsgeschehen Lehrer/Schüler/Inhalte kann im Prinzip vom Lehrer einseitig betont oder sogar verabsolutiert werden. Er kann die Sorge um
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die Vertretung der Unterrichtsinhalte/Kompetenzen oder seine Verbindung zu den Schülern oder sein eigenes Wohlergehen
überbetonen.116 Die Überbetonungen sind dann nichts anderes als Vereinseitigungen einer Vermittlungsnotwendigkeit zwischen drei, bzw., wie ich gleich zeigen werde: vier, Handlungspolen. Tatsächlich muss es dem Lehrer professionsbedingt nicht nur um die wichtigen Inhalte und Fertigkeiten, sondern auch um deren schülerangemessene Vermittlung gehen – und das ist nicht denkbar, ohne dass es ihm auch um seine Beziehung zu den Schülern geht. Dabei muss er – selbstverständlich! – auch auf sich selbst, auf seine individuellen Möglichkeiten und seine persönlichen Grenzen achten. Fasst man diesen letzteren Gesichtspunkt etwas genauer ins Auge, so differenziert er sich in zwei Richtungen aus. Einerseits muss er sich mit seinem Engagement für die Vermittlung von Inhalten mit Schülern selbst situativ „einbringen“, andererseits muss er sich vor einem unkontrollierten emotionalen Engagement schützen.117 Man könnte hier von einer UnterDialektik sprechen: so dass sich das professionsangemessene Engagement des Lehrers strukturbedingt bewegt zwischen den Rücksichten auf
Unterrichtsinhalte Schüler Selbstdarstellung und Selbstschutz.
Die Problematik dieser – triadischen bzw. sogar tetradischen – Berufsstruktur wird nicht nur öffentlich unterschätzt. Dadurch, dass nicht wenige Ausbilder und beratungsliterarisch Tätige ihr eigenes Wirken unmittelbar pädagogischpraxisermutigend und entsprechend normativ-fordernd definieren, bleiben die beiden letztgenannten Vermittlungspole auch im Zuge der Lehrerausbildung in der Tendenz tabuiert.118 Es erscheint jedenfalls sinnvoll, unter praktisch tätigen Lehrern mit einer gewissen Anzahl zu rechnen, die ihre tetradische Aufgabenstruktur vereinfachen, 116
Letzteres wird auffallend selten gesehen. So geht etwa Christian Caselmann (1964) von einer „Doppelpoligkeit des Lehrertums“ aus und kommt auf die beiden Grundtypen des logotropen und des paidotropen Lehrers: „Tätigkeit und Wirkung ist bei den Logotropen und den Paidotropen ziemlich gleich, aber der Ausgangspunkt und das Ziel sind verschieden. Die Logotropen kommen von der Sache her und wollen die Sache durch die Jugend weiter überliefert und gefördert haben. Die Paidotropen gehen vom Interesse für den Jugendlichen aus und sehen als Ziel den gebildeten Menschen“ (54), vgl. Soretz 2003, 191-212. Caselmanns Unterscheidung belässt beide Grundtypen im Bereich angemessenen Lehrerhandelns. Das pädagogische Ethos, das er beiden nachsagt, macht es überflüssig, die Möglichkeit narzisstischer Störungen in Betracht zu ziehen. 117 Otto F. Kernberg akzentuiert das von mir Gemeinte wie dargestellt durch die Forderung eines gesunden Narzissmus und eines gesunden paranoiden Misstrauens. 118 In pädagogisch inoffizieller Rede wird der narzisstische Gesichtspunkt häufiger als angeborenes pädagogisches „Charisma“ mystifiziert und dabei vereinseitigt.
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wobei sie sich jeweils zu einem der vier Pole übermäßig hinbewegen. Demnach lassen sich schematisch vier Typen eines unangemessenen Praxisverständnisses unterscheiden. Ich schlage folgende Umschreibungen vor:
Inhaltevertreter Schülerfreund Sich-selbst-Darsteller Sich-selbst-Schützer.
Die vier Typen teilen zwei Gemeinsamkeiten. Erstens vereinfachen ihre Vertreter die professionsbedingte Handlungsstruktur bis zur Unprofessionalität. Sie weichen der zentralen Beziehungsparadoxie aus, indem sie die handlungsstrukturelle Abhängigkeit des Lehrers vom Entgegenkommen des Schülers ignorieren bzw. leugnen, was im speziellen Falle des Schülerfreunds zum Versuch führt, sie kommunikativ-performativ aufzuheben. Sie lassen also das Bildungsproblem prinzipiell als vom Lehrer auflösbar erscheinen und repräsentieren insofern Formen der Pseudo-Entparadoxierung. Die zweite Gemeinsamkeit liegt im unkontrollierten Durchschlagen eines narzisstischen Faktors. Die Vertreter aller vier Typen arbeiten mit narzisstischen Überbesetzungen und nehmen damit, wenn auch aus Selbstschutzgründen, direkt oder indirekt ihr subjektives Wohlergehen unprofessionell wichtig. Sie reagieren kompensativ auf die Anforderungsstruktur ihres Berufes. Zu vermuten ist, dass sie damit Angst vor Kränkungen und Scheiternserfahrungen abwehren. So gesehen, sind alle vier Typen Sich-selbst-Schützer und Sich-selbst-Darsteller, wenn auch auf sehr unterschiedlich offensive Weise. Meine Unterscheidung darf also nicht als trennscharfe und empirisch ohne weiteres abbildbare missverstanden werden.
Kurzskizze des Inhaltevertreters Inhaltevertreter stellen diejenige typologische Variante der PseudoEntparadoxierung dar, die gesellschaftsöffentlich mit der größten Akzeptanz rechnen darf – sofern sie nicht überhaupt für die einzig angemessen handelnden Lehrer gehalten werden. Inhaltevertreter weisen ihre erschütterungsresistente Grundhaltung häufig schon zu Studienbeginn auf. Ihre Haltung resultiert aus einer Absolutsetzung der Anforderungen ihres jeweiligen Fachs als Bestandteil der gesellschaftlichen Kultur, der sich die Subjekte unterzuordnen und anzupassen haben. Da nicht alle Unterrichtsinhalte von allen Schülern gelernt werden können, sind Inhaltevertreter immer auch bereitwillig zur Selektion entschlossen, 208
um damit Leistung zu definieren. Dass nicht alle Schüler ihrem – auf „Leistung“ reduzierten – Bildungs-Anspruch folgen, stört Inhaltevertreter nicht, ganz im Gegenteil, es bedeutet nur, dass solche Schüler ihnen durch Minderleistung beweisen, nicht in ihren Unterricht hineinzugehören. Der Wert des Kulturguts, das sie vertreten, würde beträchtlich gemindert, wenn es jedermann zugänglich wäre. Mit anderen Worten: Der reduzierte Bildungs-Anspruch erscheint nicht mehr paradoxal und dadurch auch nicht mehr entparadoxierungs-bedürftig. Ohne Zweifel ist die praktische Pseudo-Entparadoxierung des InhalteVertreters eine psychologisch maximal robuste Abwehr-Form der Beziehungsparadoxie. Nicht nur kann sie in einer leistungs- und konkurrenzorientierten gesellschaftlichen Öffentlichkeit mit Prestige rechnen, sie wirft auch im Unterrichtsvollzug narzisstische Prämien ab: und zwar sowohl durch die Schüler, die dem Unterricht folgen können – sie gehören zu einer gewissen Elite –, als auch durch die, die ihm nicht folgen können – sie beweisen, dass nicht alle zur Elite gehören, zu der sich der Lehrer selbst aber unzweifelhaft zählt. Naheliegend ist, dass es in den vergangenen Jahrzehnten zu Verschiebungen im Typus des Inhaltevertreters kommt, insofern das bei ihm selbst ja vorhandene hohe Interesse an bestimmten Inhalten, die sich ihrerseits kultureller Wertschätzung erfreuen, immer mehr in die Richtung des technologisch kompetenten Umgangs mit stärker beliebigen Inhalten als „Lernen des Lernens“ verlagert.
Skizze des Schülerfreunds Die Grundhaltung des Schülerfreundes wird von einer großen Zahl von Studierenden der im Kap. 2 genannten Lehrämter bevorzugt eingenommen. Tendiert der Inhaltevertreter traditionell zu einer konservativ-elitären Einschätzung der gesellschaftlichen Kultur, als deren besonders qualifizierter Repräsentant er sich selbst sieht, auch wenn er politisch für technischen Fortschritt und ungezügelten Wettbewerb steht, so ist der Schülerfreund von Hause aus eher sozialkritisch eingestellt – was nicht bedeutet, dass er sich deshalb inhaltlich stärker mit den Verkehrsformen moderner Gesellschaften auseinander gesetzt haben müsste, er folgt zumeist vornehmlich, wenn nicht ausschließlich, seinem Gefühl. Neben politisch-kritischen Schülerfreunden gibt es auch modernitäts-kritische, also kulturkonservative Schülerfreunde, die gerne zu kleinräumig-vormodernen Beziehungsformen zurückkehren möchten. Schülerfreunde weisen – im Unterschied zu Inhaltevertretern – häufig ein Gespür für die Lebensbedürfnisse der Heranwachsenden auf. Sie versuchen, die Bildungsparadoxie nicht dadurch außer Kraft zu setzen, dass sie diese missachten, sondern indem sie die Schüler mit besonderen Beziehungs-Angeboten dazu 209
zu bringen versuchen, den Bildungs-Anspruch von sich aus zu entparadoxieren. Insofern weisen sie die komplizierteste der hier diskutierten Formen von praktischen Pseudo-Entparadoxierungen auf. Schülerfreunde bedürfen berufsbiographisch gewisser Nachreifungserfahrungen, bei denen z. B. ein gutes und kollegiales Schulklima enorm hilfreich sein kann. Denn Schülerfreunde weisen „von Hause aus“ ein intuitives Gespür für die Bildungsparadoxie auf. Dieses ist allerdings, solange sie ihre Haltung noch nicht weiterentwickelt haben, durch ihre Überidentifikation mit den Schülern zugleich wieder außer Kraft gesetzt. Wo für den Inhaltevertreter die Behauptung der Existenz einer Bildungsparadoxie auf eine naiv-sozialromantische Voreingenommenheit hinauslaufen müsste, würde diese für den Schülerfreund nichts anderes bedeuten als eine Bankrotterklärung der Bildung bzw. des Bildungssystems. Für ihn gibt es selbstverständlich vielfältige Formen der Nicht-Entparadoxierung von Pädagogen-Ansprüchen durch Schüler. Sie besagen aber in seinen Augen nur, dass die Ansprüche falsch gestellt oder unzulässig vermittelt wurden. Für den Schülerfreund gilt apodiktisch: Der pädagogisch angemessene Anspruch wird immer und von jedem Heranwachsenden positiv beantwortet – sonst war er keiner. Das Erscheinungsbild, das Schülerfreunde in Lehrerkollegien bieten, ist weitaus größeren Varianzen ausgesetzt als das der Inhaltevertreter und zwar aus biographisch-diachronen und auch aus strukturell-synchronen Gründen. Schülerfreunden wird organisationsbedingt zumeist schon beim Wechsel vom weitgehend schulpraxisenthoben gestalteten Studium119 zum Lehrer/SchülerRollenzwitter im Referendariat ein Bruch in ihrem Selbstverständnis zugemutet. Schülerfreunde bewegen sich auch strukturbedingt, weil sie sich nicht als wirklich erwachsen definieren können, als Praktiker in der Nachbarschaft der Sichselbst-Schützer. Da sie sich von der positiven Resonanz ihrer Schüler auf ihr kommunikatives Unterrichtsangebot grundsätzlich stark abhängig machen, kann ihre vorgeschossene Sympathie in Einzelfällen bisweilen in scharfe Antipathie gegen bestimmte Schüler umschlagen. Während Inhaltevertreter nicht selten Lieblingsschüler aufgrund ihrer Leistungsstärke bevorzugen, lässt sich bei manchem Schülerfreund ein Hass auf konkrete Einzelschüler analog zu enttäuschter Liebe beobachten. Nicht ganz selten fungiert auch eine schülerfreundliche Haltung kompensativ als argumentative Abgrenzungsmöglichkeit gegen als missliebig oder bedrohlich empfundene Kollegen oder Vorgesetzte. In solchen Fällen verbirgt sich nicht selten hinter der Attitüde des Schülerfreunds ein durchgängig schlecht vorberei119
Ich halte – wie die vorliegende Studie deutlich machen soll – eine konzentrierte Theoriebeschäftigung als Professionalisierungsphase für unerlässlich. Die Frage ist, wie man einen differenzierten Praxisbezug zur zukünftigen Tätigkeit angemessen integrieren kann.
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teter und Konflikte mit Schülern gern vermeidender Lehrer, der seine Schülerzugewandtheit apologetisch zur Abwehr möglicher Kritik verwendet. Dem Außenstehenden eher als positiv und erwachsen imponierende Formen der Schülerfreundschaft finden sich hingegen gehäuft bei Lehrern, die konsequent fortschrittlich-reformpädagogische Unterrichtsmethoden umsetzen. Die entsprechenden Persönlichkeiten strahlen häufig eine überdurchschnittliche narzisstische Durchsetzungsfähigkeit aus und es gelingt ihnen dadurch, die notwendigen Disziplinierungen der Schüler unauffällig zu bewerkstelligen. Nicht selten kooperieren reformpädagogisch gesonnene Hochschullehrer bevorzugt mit solchen Lehrern, etwa bei der Organisation der Schulpraktika.
Skizze des Sich-selbst-Darstellers und des Sich-selbst-Schützers Beim Sich-selbst-Darsteller würde man umgangssprachlich vielleicht vom zu „eitlen“ oder zu „geltungsbedürftigen“ Lehrer sprechen. Psychoanalytisch könnte man vermuten, dass der eitle Lehrer unbewusst sich selbst in den Mittelpunkt stellt und sein eigenes pädagogisches Charisma zelebriert, weil er damit beträchtliche Kränkungsängste kompensiert, allerdings vielleicht auch, weil er biographisch durch den Einsatz von Charme oder sogar als Blender im Verlauf seiner Sozialisation unangemessen häufig soziale Anerkennung gewinnen konnte. Der Sich-selbst-Darsteller repräsentiert das, was alltagssprachlich mit „narzisstisch“ umschrieben wird. Festzuhalten bleibt, dass sich unbewusste Ängste bzw. Überkompensationen in allen Varianten der praktischen Pseudo-Entparadoxierungen vermuten lassen. Der Sich-selbst-Darsteller arrangiert den Unterricht jedenfalls so, dass er den Schülern damit imponieren kann, wobei ihm weder die Sache selbst noch eigentlich das Wohlergehen der Schüler ernsthaft wichtig sind. Zu den letzteren nimmt er keinen verlässlichen Kontakt auf.120 Längerfristig besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass auch „eitle“ Lehrer in späteren Jahren zu resignierenden Sich-selbst-Schützern werden, zur Variante des Inhaltevertreters fehlt ihnen zumeist der Sachbezug. Umgekehrt aber gilt das nicht: Viele spätere Sich-selbstSchützer sind mit besonderen Beziehungs-Idealen angetreten – wie angedeutet rekrutieren sie sich besonders häufig aus studentischen Schülerfreunden, denen ihr einstiges Ideal ausgetrieben wurde, ohne dass sie es hätten berufsbiographisch abtrauern können. Mit einer gewissen psychologischen Wahrscheinlichkeit werden Sich-selbst-Darsteller aber auch neben Inhaltevertretern in pädagogi120
Otto F. Kernberg meint mit seiner oben erwähnten „Fähigkeit zur Herstellung und Aufrechterhaltung intensiver Objektbeziehungen“, die er für den Leiter von Gruppen fordert, was dem eitlen Pädagogen fehlt.
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schen Beförderungsposten eher gehäuft anzutreffen sein, etwa unter Schulleitern, Ausbildern der Zweiten Phase, Dezernenten/Referatsangehörigen der Schulbehörden und Pädagogik-Dozenten. Eine zweite strukturell primitive Form der praktischen PseudoEntparadoxierung besteht darin, dass der Lehrer innerlich aus der Beziehung zu den Schülern „aussteigt“ und auch die Inhalte-Vermittlung als unwichtig zu betrachten beginnt. Das „Aussteigen“ geschieht – wo es nicht schon mit einer zweifelhaften Berufswahl besiegelt wurde – zumeist als schleichender und weitgehend unbewusster Prozess des inneren Resignierens und Emigrierens, der sich nicht selten „somatisiert“, also zu körperlichem Krank-Werden führt. Nicht zufällig weist der Lehrerberuf eine hohe „burn-out“-Quote auf, die sich u. a. in der Notwendigkeit vorzeitiger Pensionierung äußert. Die entsprechenden Haltungen sollte man als Selbstschutz betrachten, auch in den – wohl selteneren Fällen – in denen der Sich-selbst-Schützer mit einer offensiven Schamlosigkeit die Privilegien seines Berufes, die eigentlich der Unterstützung seines Bildungs-Auftrags gelten sollen, für sich selbst ausnützt. Der Sich-selbst-Schützer wäre demnach ein Lehrer, der seine Abhängigkeit von der Mitarbeit des Schülers durch die emotionale Emigration aus seinem Beruf aufzulösen versucht. Ich beobachte in den letzten zwei Jahrzehnten allerdings eine Zunahme von Sich-selbst-Schützern unter Lehramtsstudierenden. Sie hätten demnach schon vor Studieneintritt – prophylaktisch und nicht ohne Berechnung – ihr zukünftiges berufliches Engagement auf ein Minimalmaß heruntergeschraubt. Der Gedanke, diese Gruppe durch Verschulung des Pädagogik-Studiums ausfiltern zu können, verrät ein unzureichendes Verständnis für ein Problem, das sich zwar häufig in kognitiver Minderleistung ausdrücken mag, aber dies keineswegs immer tut. Die Kollateralschäden sind nach meiner Beobachtung ungleich größer als die erwünschte Zielgenauigkeit durch verschärfte Dauer-Selektion.
Schulformbezüge Selbstverständlich stellen meine Typen-Schilderungen einerseits nur idealtypische Formen möglicher Pseudo-Entparadoxierungen dar, andererseits möchte ich ihnen eine gewisse Realitätshaltigkeit nachsagen, die sich für mich wie angedeutet aus dem Kontakt mit vielen Lehrern, einer Reihe von Kollegien und der Beobachtung zahlreicher Diskussionen in den Lehrerkollegien begründet. Jeder Lehrer muss sich selbst in den strukturell unterschiedlichen Anforderungen zwischen den drei Lernpolen seiner Berufstätigkeit durch alltägliche Entscheidungen und Schwerpunktsetzungen immer wieder neu verorten. Lässt seine innere Integrati212
onskraft dieser Anforderungen nach oder war sie von Anfang an zu gering, wird er sich zwangsläufig in eine der genannten Richtungen entwickeln und dabei tendenziell unempfindlich für die von ihm dabei notwendig vernachlässigten anderen Strukturanforderungen werden. Eine Typen-Diskussion wie die hier vorgeschlagene ist allerdings aus mehreren Gründen nicht ohne Schwierigkeiten. Ich habe bereits erwähnt, dass das von Lehrern im Kollegium geäußerte Selbstverständnis bisweilen deutlich auseinander klafft gegenüber dem, was ein neutraler Außenstehender ihnen vom beobachtbaren Umgang mit den Schülern her jeweils zusprechen würde. Es gibt gewiss eine schwer abschätzbare Zahl von Lehrkräften, die sich in ihrem Selbstverständnis an vorherrschenden Einstellungen etwa im Kollegium oder in der Gruppe ausrichten, der sie zugehören möchten, während ihr reales Unterrichtshandeln relativ unabhängig von ihrer Selbstdefinition zu sein scheint. An Schulen mit politisch untermauerten Tendenzen zur Schülerfreundschaft ist mit einer gewissen Regelmäßigkeit mit verschärften Leitungs- und Leistungsproblemen zu rechnen, da Schülerfreunde sich an Kollegiumsbeschlüsse nur insoweit zu halten pflegen, wie sie ihr gefühltes persönliches Verhältnis zu Schülern in ihren Augen nicht negativ berühren; außerdem wenden sie ihre tendenziell autoritätsverwerfenden Einstellungen zu Schülern unmittelbar auf ihr Verhältnis zu den Kollegen in Leitungsfunktionen an. An solchen Schulen kann die Durchsetzung einfachster Verhaltensregeln zu unabschließbaren Diskussionen führen, zumal wenn basisdemokratische Einheitsbeschlüsse gegenüber demokratischen Mehrheitsentscheidungen grundsätzlich bevorzugt werden. Unter dezidierten Inhaltevertretern wiederum finden sich nicht selten Lehrer, die nicht nur Schülern, sondern auch Erwachsenen gegenüber auffallende kommunikative Einschränkungen aufweisen – sie wirken in Einzelfällen bürokratisch-unbeweglich, vielleicht aber auch rechthaberisch, konkurrenzorientiert oder elitär-theatralisch, vielleicht zynisch. Wo sich Schulen als leistungsorientiert präsentieren, werden sie im Regelfall von Inhaltevertretern dominiert. Zumeist ist dann der innerkollegiale Umgang stark formalisiert und hierarchisiert – der Leistungsdruck, mit dem man den Schülern gegenüber arbeitet, lässt sich für den Beobachter bereits ansatzweise an den Ritualen und Restriktionen des innerkollegialen Umgangs ablesen. Nahe liegend ist, dass sich der Inhaltevertreter eher seltener in einer Schulform findet, die leistungsschwächere Schüler aufnimmt, was nicht bedeutet, dass er sich hier gegebenenfalls nicht auch besonders gut als Leistungsforderer innerkollegial profilieren könnte. Im mehrgliedrigen deutschen Schulsystem findet man im Sekundarbereich Inhaltevertreter nicht nur gehäuft an sich elitär profilierenden Gymnasien (besonders wiederum bei solchen mit altsprachlichem oder naturwissenschaftlichem Schwerpunkt), sondern auch in nicht wenigen Real213
schul-Kollegien. Der Inhaltevertreter neigt dazu, nicht nur Schüler nach ihrer Leistungsfähigkeit deutlich zu diskriminieren, sondern auch, sich selbst nachdrücklich von anders eingestellten Lehrern und von Lehrern „niederer“ Schulformen zu unterscheiden. Eine interessante Zwischenstellung nehmen freie, alternative oder private Schulen ein. Insgesamt umfassen sie (in Deutschland) extrem auseinanderklaffende Selbstverständnisse. Abgesehen von den politisch ausgerichteten Alternativschulen der 70er Jahre bevorzugen sie den Typus des Inhaltevertreters, da sie – schon aus Konkurrenz zu den öffentlichen Schulen – sich bevorzugt als elitefördernde Leistungsschulen präsentieren. Das gilt vor allem für Schulen, die religiös oder weltanschaulich gebunden sind. Da es hier entscheidend auf eine Transzendenzorientierung ankommt, müssen die Schüler pädagogisch in die entsprechende Richtung geführt werden – was sich an manchen Schulen bis in die Schematisierung der Kreativgewohnheiten der Schüler hinein auswirken kann. Derlei Elitarisierungen müssen theatralische Bekundungen von Kindzugewandtheit o. Ä. keineswegs ausschließen, im Gegenteil. An religiös oder konfessionsähnlich ausgerichteten Schulen spielt eine ethische Disziplinierung der Schüler eine wichtige Rolle. Sie lässt sich – bisweilen mit dezidiert religiöser Begründung – mit einer Schulung des individuellen Arbeitsverhaltens verbinden, so dass Leistungsbereitschaft auf der Inhalte-Ebene relativ zwanglos mitgefördert wird. Umgekehrt hat an nicht wenigen Eliteschulen das gezielte Abverlangen inhaltlich überdurchschnittlicher Leistungen den Nebeneffekt, die erwünschten arbeitsethischen Charakterbildungen zu befördern. Schulen, die sich als Elite-Schulen definieren dürfen, können immer mit einem beträchtlichen narzisstischen Zusatzgewinn arbeiten, der bei den Einstellungen ihrer Lehrer beginnt und bei den öffentlichen Darstellungen ihrer erfolgreichen „old fellows“ enden mag. Eine staatlich getragene Schule kann hingegen seit der Frühaufklärung, der sie geistesgeschichtlich entscheidend ihre Existenz verdankt, aus keinerlei Transzendenzbezügen ihre normativ-ethischen Verhaltensansprüche geschweige denn narzisstische Sondergewinne ableiten. Auch entfällt hier die Möglichkeit, schon durch die Aufnahme der Schüler in die Schule und korrespondierende Schulverträge mit ihnen bereits disziplin-fordernd auf diese zuzugehen. Sie ist einzig auf die Glaubwürdigkeit der Gesellschaft angewiesen, deren staatliche Organe sie alimentieren und kontrollieren. Länder mit einem stark ausgebauten Privatschulwesen – in dem dann nicht selten kirchlich-konfessionelle Schulträger überwiegen – weisen hingegen einen naturwüchsigen Zugang zu Marktkonkurrenzen und Rankings auf, das in dem elitären Selbstverständnis der Privatschulen als solchem leicht begründet werden kann. 214
In der Pädagogik kommt es unter dem Banner des Modernisierungsimperativs zu bemerkenswerten Allianzen von Vormoderne und Postmoderne.
Pseudo-Entparadoxierungen auf fünf Handlungs-Ebenen Ich habe oben drei Ebenen des Lehrer-Handelns unterschieden. Es bietet sich an, im Kontext der typologisch rekonstruierten Pseudo-Entparadoxierungen von Lehrern auf dieses Schema zurück zu greifen: die bisher zweidimensional vorgestellte Graphik des didaktischen Dreiecks also zur Dreidimensionalität zu erweitern. Diese Erweiterung der Perspektive verdankt sich wie ausgeführt einer etwas genaueren Unterscheidung dessen, was der Lehrer den Schülern vermitteln will. Inhalte und Kompetenzen erfordern eine andere Vermittlungsleistung als es die Förderung individuellen Arbeitsverhaltens tut, und diese wiederum ist deutlich zu unterscheiden von einer Unterstützung der kulturellen Grundhaltung. Die vier Typen der Pseudo-Entparadoxierung unter Lehrern lassen sich dann „dreidimensional“ folgendermaßen veranschaulichen. Der Inhaltevertreter bewegt sich direkt und ausschließlich auf der ersten, der obersten Ebene der Inhalte und Kompetenzen. Die zweite Ebene der individuellen Arbeitshaltungen der Schüler nimmt er zwar beständig in Anspruch, indem er sie gegebenenfalls strapaziert, aber er fördert sie nicht unmittelbar. Die dritte Ebene der sozialen Grundhaltungen spielt für ihn keine verhaltensleitende Rolle – er reproduziert indirekt durch sein pädagogisches Handeln den Zustand einer in kulturell leistungsfähige und kulturell weniger leistungsfähige Personen segregierten Gesellschaft. Der Schülerfreund demgegenüber reduziert sein Handeln auf die unterste, die dritte Ebene der sozialen Haltungen, die er aber von vornherein als gesamtgesellschaftlich (und regelschulisch!) defizitär behandelte ansetzt. Soziale Haltungen wurzeln für ihn in erlebter Sozialität, aber sie sind höchstens reduziert an gesellschaftliche Normvorstellungen anschließbar. Der Schülerfreund neigt deshalb dazu, seine personale Beziehung zum Schüler zu verabsolutieren, Unterrichtsinhalte wo möglich vom Schüler bestimmen zu lassen und ansonsten vornehmlich an Beispielen gesellschaftlicher sozialer Unterdrückung oder Naturzerstörung „kritisch“ auszurichten. Während der Inhaltevertreter sich selbst dem Schüler gegenüber als unerbittlicher Vertreter von sachbezogenen Leistungsansprüchen ins Spiel bringt, indem er seine autoritäre Rolle eben dadurch als sachnotwendig drapiert, bleibt beim Schülerfreund die Beziehung zum Schüler exklusiv wichtig, und er nimmt eine bewusst anti-autoritative Rolle ein. So gesehen findet bei der Inhaltevertretung eine pädagogische Bewegung vom Lehrer über die Inhalte zu denjenigen 215
Schülern statt, die sich als aufnahmefähig erweisen. Beim Schülerfreund hingegen spielt sich das Selbstverständnis nicht nur auf einer ganz anderen pädagogischen Etage ab, es erschöpft sich auch eher in der Schüler-Lehrer-Beziehung, während die Inhalte auf das vorausgesetzte Innen-Außen-Schema funktional bezogen sind. Der Schülerfreund setzt eine „heile Welt“ der glückenden pädagogischen Nahbeziehung gegen die inhumane Außenwelt. Der Inhaltevertreter hingegen bewegt sich in der exklusiven Innenwelt des elitehaft kulturbewahrenden oder vorantreibenden Teils der Gesellschaft. Die Repräsentanten der beiden Typen arbeiten also mit einem Innen-Außen-Schema, und beide diskriminieren die möglichen Inhalte unter für sie kulturbegründeten Gesichtspunkten. Um den Sich-selbst-Darsteller und den Sich-selbst-Schützer in der dreidimensionalen Graphik zu verorten, bedarf es einer doppelten Ebenenergänzung. Insofern der Sich-selbst-Darsteller auf die Bewunderung der Schüler erpicht ist, ähnelt er strukturell dem Schülerfreund. Man könnte sagen, dass er die untere Ebene des Lehrer-Handelns, auf der es zu sozialer Begegnung kommen muss, überzieht und dadurch den Raum des pädagogisch zu nennenden Handelns „nach unten“ verlässt. Da der Sich-selbst-Schützer hingegen dem Inhaltevertreter in Bezug auf seine personale Gleichgültigkeit ähnlich ist, verlässt er umgekehrt alle pädagogisch relevanten Ebenen durch den Ausstieg „nach oben“. Die Erörterung der vier Typen praktischer Pseudo-Entparadoxierung könnte, vermittelt in einer dreidimensionalen Graphik auf fünf Ebenen pädagogischen Selbstverständnisses, deren Auseinanderklaffen illustrieren helfen, das in manch einem Kollegium zu erbitterten Entzweiungen führt. Zugleich mag einmal mehr die Komplexität der Profession deutlich werden. Der professionelle Lehrer bewegt sich flexibel und fallsensibel auf allen drei Ebenen zwischen allen drei bzw. vier Polen.
Anmerkungen Von den aufgezeigten unangemessenen Selbstverständnissen lassen sich vielfältige Verbindungen zu dem bisher Dargestellten ziehen. Ich möchte mich auf einige Anmerkungen beschränken. Zunächst möchte ich noch einmal betonen,121 dass ich nicht den Defätismus vertrete, alle oder auch nur die meisten Lehrer seien einem der genannten Typen der Pseudo-Entparadoxierung zuzuordnen. Wie hoch man deren Zahlen einschätzt, hängt selbstverständlich auch von den Bildungs-Vorstellungen ab, die 121
Im Blick auf Resonanzen auf den Text der Erstauflage
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man selbst präferiert. Ich möchte mich nur insoweit festlegen, als mir die Zahl der Lehrer mit pseudo-entparadoxierendem Berufsselbstverständnis unübersehbar groß und jedenfalls zu hoch erscheint. Die vier Typen gruppieren sich, wollte man sie graphisch darstellen, um jene professionsangemessen sich verstehenden Lehrer herum, die die vier Pole auf den drei Ebenen lebendig vermitteln können, ohne sich zwanghaft auf einen bzw. eine festlegen zu müssen. Präferenzen für die vier Typen unterliegen, wie dargelegt, fächerspezifischen Habitualisierungen und individuellen berufsbiographischen Entwicklungen. Gesamtgesellschaftlich lässt sich ohne weiteres beobachten, wie beispielsweise der Typus des Schülerfreunds sich in den vergangenen dreieinhalb Jahrzehnten mehrfach politisch umakzentuierte, sich dabei zunehmend entpolitisierte und an Repräsentanz in der Lehrerschaft insgesamt verlor. Während die öffentliche Forderung eines beschleunigten Aufholens von Modernisierungsrückständen unter Globalisierungsbedingungen sich in den vergangenen Jahren immer mehr im Kontext verstärkten Leistungsdrucks formiert, wird die typologische PseudoEntparadoxierung des Inhaltevertreters zwangsläufig gefördert. Auf der Kehrseite steigen die Quoten der vorzeitig verbrauchten Sich-selbst-Schützer an, und es hat wie erwähnt für mich den Anschein, dass bereits Lehramtsstudenten zunehmend eine Job-Mentalität einnehmen. Zwar werden im Kontext spektakulärproblematischer schulischer Unglücksfälle Forderungen laut, „die“ Schule möge wachsenden Resozialisierungs-Ansprüchen genügen – eine solche Forderung desavouiert sich „eigentlich“ selbst, wenn sie dann von denselben Kräften wenig später durch die öffentliche Propagation von einseitig verstandenen LeistungsGesichtspunkten abgelöst wird. Dass dies nur wenigen Zeitgenossen aufzufallen scheint, verweist auf (zunehmende?) Spaltungsprozesse im öffentlichen Bewusstsein.
Sozialwissenschaftliche und beratungsliterarische Pseudo-Entparadoxierungen Ich habe oben schon nachzuweisen versucht, dass die neuzeitliche Pädagogik insgesamt einem geschichtsphilosophischen und/oder anthropologischen Optimismus entstammt, auf den sie zugleich strukturell angewiesen bleibt.122 Kant stellt das Musterbeispiel bereit, wie der strukturerzwungene Optimismus der Pädagogik philosophisch befriedigend begründet werden konnte. Damit stehen allerdings auch theoretische Pseudo-Entparadoxierungen schon am Beginn der 122
Selbst da, wo sie sich vor allem kulturkonservativ-humanitätsbewahrend versteht, muss sie sich bei Strafe der Selbstaufgabe zutrauen, das als bewahrenswert Erkannte auch mit eigenen Kräften tatsächlich bewahren zu können. Nicht umsonst haben sich die Kirchen im Zuge gesellschaftlicher Säkularisierungsprozesse in vielen Ländern als Schulträger profiliert.
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Geschichte der neuzeitlichen Pädagogik – wahrscheinlich haben sie eine konstitutive Rolle für die Etablierung des Schulsystems gehabt. Allerdings darf man die Bedeutung bildungsphilosophischer Erwägungen für die reale Einrichtung des Schulsystems angesichts der wirtschaftlichen Umwälzungen und der sich dadurch verschiebenden und erhöhenden Qualifikationserfordernisse größer gewordener Bevölkerungsteile nicht überschätzen. (Oelkers 1989). Oevermanns Professionstheorie wiederum kann als ein illustratives Beispiel für eine Pseudo-Entparadoxierung der Pädagogik von sozialwissenschaftlicher Seite dienen. (Sie wirft allerdings trotzdem ein erhellendes Schlaglicht auf Sachverhalte, die in pädagogisch-theoretischen Erörterungen bisweilen wenig Beachtung finden – vielleicht, weil man sie dort für trivial, vielleicht auch, weil man sie für zu kompliziert hält.) Theoretisch arbeitende Pädagogen scheinen eine gewisse Bereitschaft aufzuweisen, sich von Zeit zu Zeit die überkommenen Einsichten aus früheren Epochen durch sozialwissenschaftlich oder sogar naturwissenschaftlich-medizinisch arbeitende Fachfremde neu entdecken zu lassen (vgl. mein Vorwort). Die Reformulierungen altbekannter Sachverhalte wecken dann regelmäßig neue Lösungshoffnungen, auch (oder besonders?) dann, wenn die angestammten pädagogischen Problemsichten selbst für sozialwissenschaftlich (etwa: systemtheoretisch, konstruktivistisch oder neurophysiologisch) obsolet erklärt werden.123 Was die pädagogische Beraterliteratur betrifft, die den Bereich der Pädagogik dominiert, der sich zwischen Theorie und Praxis bewegt ohne ernsthaft theoretisch zu sein und je wirklich praktisch werden zu können, so könnte man sie unschwer in meinem Mehrebenen-Schema pädagogischen Handelns unterbringen. Während Schülerfreunde sich im Beziehungsbereich der unteren Ebene tendenziell exklusiv bewegen wollen und Inhaltevertreter die selektive Wissensvermittlung auf der oberen Ebene einseitig besetzen, wird speziell die zweite, die Ebene des Arbeitsverhaltens, von der Beraterliteratur fokussiert. Dabei werden in ihr die drei wichtigen Ebenen des pädagogischen Handelns in aller Regel beachtet, nicht selten wird gerade dem Bereich der kulturellen Grundhaltung und der Lehrer-Schüler-Begegnung nachdrückliche Aufmerksamkeit gezollt. Ein Teil der Beraterliteratur arbeitet ausdrücklich mit einer solchen Verklammerung der Inhaltsebene mit der Ebene der gesellschaftlich erwünschten Grundhaltung. Eine aufschlussreiche Rolle hat hier seit Mitte der 80er Jahre der schon eingangs erwähnte Vorschlag Wolfgang Klafkis gespielt, die didaktische Frage von 123
Ein älteres Beispiel hierfür ist die Wirkung von Oskar Negts pseudo-entparadoxierendem Selbstregulierungs-Konzept auf die öffentliche Diskussion unter politisch gesonnenen Reformpädagogen, die deren von den Lehrern betriebene Umsetzungsversuche an der Glocksee-Schule selbst um Jahre überdauerte (Ilien 1990).
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den „epochaltypischen Schlüsselproblemen“ her anzugehen (1996, 15-81). Da diese alle Gesellschaftsmitglieder existentiell betreffen – insbesondere Heranwachsende – kann Klafki sich von der Berücksichtigung solcher Interessen, die durch Gesellschaftsprobleme selbst erzeugt sind, eine Überwindung der Lebensfremdheit der Schule und damit der Motivationsprobleme von Schülern versprechen. Somit wird ein nachhaltiges Argument für die Einrichtung von Gesamtschulen gewonnen. Denn die Schlüsselprobleme sperren sich von ihrer Natur aus gegen jedwede Facheingrenzung, vor allem aber gegen ihre Verwendung zu elitebildenden Selektionen. Sein Ansatz wirkt gerade in bildungstheoretischer Hinsicht dadurch auf Anhieb bestechend, dass er in der Universalität der gesellschaftlichen Schlüsselprobleme selbst ihre Bearbeitbarkeit durch ein Bildungskonzept entdeckt, das sich konsequenterweise universalistisch versteht. Was Klafki allerdings unausdrücklich vorauszusetzen scheint, ist, dass die Universalität objektiver Problemlagen mit einem gewissen Automatismus subjektive, universalistisch orientierte Lernbedürfnisse von Heranwachsenden hervor triebe oder zumindest nahe lege. Ein solcher Rückschluss ist allerdings mehr als gewagt. Klafkis Entwurf könnte damit aspektweise als ein – durchaus anspruchsvolles – Beispiel für eine theoretisch-pädagogische Pseudo-Entparadoxierung der Beziehungsparadoxie verstanden werden. Auch scheint er in seinen schulisch-didaktischen Reformvorschlägen die Virulenz der Organisationsparadoxie nicht hoch genug zu veranschlagen, so dass man schließlich auch auf eine idealistische Unterschätzung der Gesellschaftsparadoxie schließen könnte. Klafkis Neuansatz stellt dennoch einen wichtigen Versuch dar, auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse durch eine bildungstheoretische Selbstvergewisserung der Pädagogik zu reagieren.124 Die Vorschläge zur methodischen Neuorganisation von Schule und Unterricht, wie sie die Beraterliteratur üblicherweise kennzeichnen, begnügen sich demgegenüber zumeist mit höchst bescheidenen Perspektiven.125 Sie fußen auf der Unterstellung, die bislang beobachtbaren schulpädagogischen Probleme, allen voran: Disziplin- und Motivationsprobleme von Schülern, seien innerschulisch behebbar, weil auch verursacht. 124
Ungefähr zeitgleich erscheinen die gesellschaftsstheoretisch wichtigen Arbeiten von, Luhmann (1984), Habermas (1985) und Beck (1986), die auf je ihre Weise auf die Unsteuerbarkeit gesellschaftlicher Evolution, neuere Utopieverluste oder den Risikocharakter der Zweiten Moderne aufmerksam machen. 125 Mit methodologisch präjudizierten Pseudo-Entparadoxierungen arbeitet keineswegs nur die pädagogische Beraterliteratur (prototypisch Heinz Klippert), sondern auch das Gros der Pädagogischen Psychologie, insbesondere wo sie sich mit praktischen Entwicklungsvorhaben der Schule befasst (vgl. etwa die Arbeiten von Wolfgang Mischke). Schließlich kann dasselbe auch für eine konsequent fachfremd ansetzende systemtheoretische Pädagogik-Applikation gelten: hierfür stehen Arbeiten z. B. von Lilian Fried.
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Die Verengung der Perspektive auf das pädagogisch Machbare verdankt sich regelmäßig der Missachtung der anthropologisch-philosophischen Problematik der Beziehungs- und der durch Globalisierungsprozesse verschärften Problematik der Gesellschaftsparadoxie. Bezogen auf das vorgeschlagene Mehr-EbenenSchema suggeriert die Beraterliteratur, dass durch methodische Umorganisation der den Schülern abverlangten sozialen Arbeitshaltungen die Lösung der Lernprobleme sowohl auf der Wissens- wie auf der Haltungsebene möglich seien. Bildungsparadoxien, die nicht methodisch-ingenieurial auflösbar wären, kommen in der Beraterliteratur nicht vor. In selbstpsychologischer Perspektive agiert die Beraterliteratur mit einer bemerkenswerten Dosierung überzogener narzisstischer Einstellungen. Zunächst überspringt sie die tiefe Kluft zwischen vorschreibender Präskription und beschreibender Deskription in der naiv-engen Verklammerung theoretischer und praktischer Arbeit. Sodann legt sie für den – absolut unerlässlichen – pädagogischen Handlungsoptimismus ein trügerisch-stabiles Fundament, indem sie den Praktikern die tendenziell unbegrenzte Machbarkeit des pädagogisch Wünschenswerten bei richtiger Unterrichtstechnologie bzw. -rezeptur suggeriert. Ersteres mag noch als Uninformiertheit durchgehen, letzteres repräsentiert Einstellung, die auf übermäßige narzisstische Bedürftigkeiten, also auf Störungen, verweist: zumindest bei den Rezipienten. Wenn Lehrer sich notorisch als verführbar durch solche Suggestionen zeigen, hat dies, wie ich noch einmal an dieser Stelle wiederholen und betonen möchte, strukturelle, also definitiv objektive Gründe. Dies schließt nun aber keineswegs die Reflexion auf subjektive Folgekosten solcher Berufsstrukturen aus, es erfordert diese im Gegenteil erst. Ich meine plausibel gemacht zu haben, dass der Lehrerberuf in seiner Mehrdimensionalität und seiner Paradoxität unaufhebbar strukturbedingt ein erhebliches Potential an Krankmachendem aufweist.126 Damit soll keineswegs bestritten werden, dass jahrelange Unterrichtstätigkeit auch viele glückende, bereichernde und jung erhaltende Momente aufweisen kann – jedenfalls für den „hinreichend guten“ Lehrer in günstigen schulischen Bedingungen. Gerade diese letzte Feststellung – die mir auch aus eigener Erfahrung sehr wichtig ist – weist indes eine jähe Kehrseite auf. Wo der Unterricht überwiegend oder ausschließlich nur in glückloser Routine überlebt, stirbt die innere Lebendigkeit aller Beteiligten – womöglich unmerklich – langsam ab. Das mag für manchen Schüler frustrierend sein, für den Lehrer ist es Zeichen eines beruflichen Siechtums, das er dann zunehmend mühsam mit seinem Selbstwertgefühl überhaupt verbinden muss. 126
Selbstverständlich behaupte ich nicht, er sei der einzige Beruf mit Gefährdungspotential!
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Die letzten Hinweise spitzen das Problem noch einmal zu. Pädagogisches Handeln ist von sich her nicht nur auf einen gewissen Zukunftsoptimismus angewiesen, es bedarf auch aus strukturellen Gründen eines zumindest minimalen Begegnungs-Gelingens möglichst aller Beteiligten. Infolge seiner objektiv gegebenen Komplexität treibt es mit einer hohen Wahrscheinlichkeit viele, vielleicht die meisten Störungen heraus, die der Lehrer individuell-biographisch in den Beruf mitgebracht hat und nun in seinem Handeln irgendwie artikulieren bzw. kaschieren muss. Will man die kulturpessimistische Warnung Freuds nicht einfach in den Wind schlagen, wonach wir alle mit möglichen Störungen, auch gravierenderer Art, bei uns rechnen sollten, dann kommt man mit struktureller Selbstverständlichkeit auf die berufsbiographische Angewiesenheit von Lehrern auf berufsbiographische Kooperation mit Kollegen mit fallweise eingesetzter Supervision: damit sie lebendig bleiben können und nicht mehr zu den Tranquilizern der methodenfixierten Beraterliteratur greifen müssen. Damit bin ich noch einmal bei dem „bescheidenen Größenwahn“ der allseitigen pädagogischen Machbarkeit. In Anlehnung an Kohutsche Erwägungen könnte man sagen, die pädagogische Beraterliteratur arbeite – wie gesagt kommerziell durchaus erfolgreich – mit beidem: einer horizontalen Spaltung, durch die der Größenwahn quasi-offen ausgelebt wird, was aber nur berufsethisch erlaubt ist, weil er simultan als Methodenbescheidenheit in vertikaler Spaltung unkenntlich gemacht werden kann.
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5 Profession ohne Vergangenheit – und Zukunft?
Das folgende Schlusskapitel stellt den Versuch dar, die vielfältigen Verweisungszusammenhänge zwischen den diskutierten drei Schwerpunkten der Arbeit – Struktur/gesellschaftliches Mandat/psychische Kosten professionellen LehrerHandelns – unter der Perspektive der beiden anthropologischen bzw. sozialphilosophischen Grundparadoxien der Pädagogik noch einmal vertiefend zu erörtern, um kritische Tendenzen ebenso wie verbleibende Handlungsspielräume sichtbar zu machen. Die Darlegung soll und muss aus politischen Gründen dazu beitragen, eine bildungstheoretisch informierte und engagierte kritische Ernüchterung in die Diskussion der aktuellen, als schulische (und hochschulische) Bildungsreform öffentlich euphemisierten Maßnahmen hineinzutragen. Was hier in der Richtung eines Total Quality Management vom Zaun gebrochen wird, will ich als das deutlich erscheinen lassen, was es mir deutlich zu sein scheint: Ausdruck eines tiefgreifenden Bildungs-Unverständnisses. Wenn es eines Beispiels für die von Habermas vor einem Vierteljahrhundert auch bezüglich der Pädagogik befürchteten Tendenzen zur „Kolonialisierung von Lebenswelten“ bedurft hätte – so wird dies aktuell mit offenkundig unkundiger Zustimmung von Bevölkerungsmehrheiten am Beispiel der deutschen Bildungssysteme öffentlich statuiert. Es verdankt sich neuerem, scheinhaft demokratisiertem, betriebswirtschaftlichem Denken, das schon durch seine grundgelegten Basisbegriffe alle pädagogischen Errungenschaften seit Rousseau zu unterlaufen und semantisch auszuhöhlen bestens geeignet ist. Zu zeigen habe ich, dass auch die beiden Grundparadoxien, die Gesellschafts- und die Beziehungsparadoxie, eng zusammenhängen. Nimmt der Grad der demokratischen Glaubwürdigkeit der Gesellschaft in den Augen Heranwachsender ab, verschärft sich ohne Zeitverzug die unterrichtliche Beziehungsparadoxie. Genauer gesagt, entlässt sie erst dann, aber dann mit gravierenden Konsequenzen, ihr kommunikativ und psychisch hochbelastendes Potential aus sich. Lehrer aller Schulformen sind davon unmittelbar alltäglich in ihrem unterrichtlichen Handeln betroffen: die Zahl derer, die sich aus Gründen des Selbstschutzes in ein unprofessionelles Handeln flüchten, wird größer werden: mit Auswirkungen wiederum auf die gesellschaftliche Zukunft.
Wenigstens zu skizzieren habe ich aber auch, dass es im Handlungsfeld der Organisationsparadoxie traditionell ungenutzte Möglichkeiten kooperativer und kollegialer Gestaltung ihres Schulalltags durch Lehrer gab und gibt. Sie bildungstheoretisch-erziehungswissenschaftlich zu erfassen und sie schulpraktischunterrichtsalltäglich umzusetzen, könnte in Erinnerung halten, was am alten Bildungs-Denken immer noch jung ist.
5.1 Virulenz der Gesellschaftsparadoxie Delegierte Humanisierung: Danaergeschenk an die Schulpädagogik Einen der großen aufgeklärten theologischen Texte schließt Gotthold Ephraim Lessing mit den folgenden Sätzen ab: „Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater gib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!“ (Lessing 1841, 86)
Obwohl der Text von einer bewegenden Religiosität zeugt – und in seiner anthropomorphen Darstellung an den Vater der drei Söhne aus der Ringparabel im „Nathan“ erinnert – enthält er vom letzten Satz her einen auffälligen Widerspruch (so wie der besagte Vater ja auch nicht ohne Selbstwiderspruch auftritt). Die Idee einer solchen Wahl verfehlt für Lessing schon die Einsicht in die menschlichen Möglichkeiten als solche, sie bezeugt nur eine verstiegene Selbsttäuschung und erfüllt den Tatbestand des Größenwahns. Dadurch hebt sich dann allerdings auch die „Demut“ auf, jedenfalls als mögliche Tugend. Sie stellt nur noch eine Einsicht dar. Auch der Abschnitt unmittelbar zuvor verdient einen kurzen Blick: „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch ist, oder zu sein vermeint, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit besteht. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz –“ (a.a.O.)
Auch in dieser kurzen Passage dementiert sich die Textaussage in gewisser Weise selbst. Wie „wahr“ wäre eine „Wahrheit“ und zu was könnte sie nützen, die 223
sich selbst als „besitzbar“ missverstünde und die sittliche Fehlhaltung der „stolzen“ Hybris bewirkte? Zugleich beschreibt Lessing hier so etwas wie die Tragik des neuzeitlich-aufgeklärten Menschen. Gerade indem dieser sich, undenkbar für den mittelalterlich Gläubigen, von Gott löst, um die Wahrheit über sich selbst zu finden, entzieht sie sich ihm endgültig. Dennoch oder deshalb wird die Wahrheit als Suche nun sein Schicksal. Auf sie muss er sich in „faustischem Drang“ begeben und dabei dem Teufel selbst seine Seele verwetten: nur so kann er sie gewinnen. Johann Wolfgang Goethe konnte sich die riskante Metapher erlauben, er war – wie Lessing (oder auch Herder) – stark vom spinozistischen Pantheismus und seinem fundamentalgelassenen Optimismus beeinflusst (Korff, a. a. O.). Spinozas Ethik wirkt sich damit in der klassischen Phase der sich selbst aufklärenden Aufklärung in das wissenschaftliche Selbstverständnis hinein aus. Denken und Forschen sind um die eigenen Grenzen „mit Demut“ selbstreflexiv wissendes Wahrheitssuchen – oder sie verfehlen sich. Dabei dienen sie stets einem Großen und Ganzen, dem Fortschritt des Menschengeschlechts, der, ich wiederhole mich, nur als sittlichmoralischer seinen Titel verdient. Letzteres ist, wie ich oben zeigen wollte, bei dem Zeitgenossen Kant nicht anders. Erst durch die Aufklärung wird so etwas wie die moderne Demokratie historisch möglich – trotz unzweifelhafter Vorboten in christlichen Brüdergemeinden, wie sie durch die Reformation mitgefördert wurden. Was ich eben (man höre kein falsches Pathos hinein:) als „Tragik des neuzeitlich-aufgeklärten Menschen“ bezeichnet habe, ereilte auch die Demokratie, wann immer, wie und wo sie dann in der Folgezeit eingerichtet wurde. Den führenden Denkern der klassischen Epoche stand deutlich vor Augen, was auch den sich unter nationalen Vorzeichen sammelnden Bevölkerungen „eigentlich“ hätte massenhaft klar sein oder gemacht werden müssen: Dass eine Demokratie, die ihren Namen verdient, eine demokratische Grundhaltung (ich haben sie oben „kulturell“ genannt) bei tendenziell allen Gesellschaftsmitgliedern voraussetzen muss – die sie doch anlässlich ihrer Einrichtung bei vielen erst eröffnen kann. Gewiss werden durch die Verfassung im Besonderen und das Recht im Allgemeinen die angestrebten Werte, soweit das geht, zur Normalität verankert und abgesichert. Die unerlässliche Normalisierung kann hier aber den unerwünschten Nebeneffekt haben, dass die juristische Absicherung, formal in einer Demokratie zu leben, öffentlich zu dogmatischen Selbstsicherheiten verführt, unter deren Deckmantel dann inhumane Verhältnisse einziehen bzw. weiterleben. Mit dem Demokratiegedanken geschieht dann Missbräuchliches wie es Lessing oben analog in vielen verbreiteten Gottesvorstellungen polemisch aufdeckt. Demokratisches Bewusstsein, das sich nicht erst auf dem Weg sieht, ist keines.
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Unter den gesellschaftlichen Bereichen, die Möglichkeiten einer besseren Zukunft in besonderer Weise im öffentlichen Gedächtnis zu halten versuchen, mag die moderne Kunst in ihren fortgeschritteneren Selbstverständnissen schon seit dem 19. Jahrhundert eine besondere Rolle eingenommen haben. Dass ihr Avantgardismus von größeren Bevölkerungsteilen tatsächlich als solcher verstanden und verständnisvoll begleitetet worden wäre, kennzeichnet die modernen Entwicklungen allerdings wohl kaum. Ein anderer öffentlicher Bereich, der sich zudem im Ganzen nicht durch besondere Zugangsschwellen vom öffentlichen Verständnis abkoppeln darf, ist die Pädagogik. Das gilt, wie ich nebenbei noch einmal notiere, prinzipiell auch für ihre wissenschaftliche Fachsprache, die sich nur dort eine esoterische Terminologie leisten darf, wo es zum Sachverständnis unerlässlich und zur Praxisbewältigung (zumindest letzten Endes) hilfreich ist. Es ist nur konsequent, wenn sie in vielen Schulverfassungen auf gesellschaftsöffentlich erwünschte sittliche Zustände abzielt, auf die sie in schulorganisationaler Verbindlichkeit hinzuführen beauftragt wird. Die öffentliche Schule war auch und gerade in den etwa anderthalb Jahrhunderten des ungebrochenen Wachstumsmythos von 1830 bis 1970 von der gesellschaftlichen Öffentlichkeit als deren eigene organisationale TeilAvantgarde eingerichtet worden. Man könnte sagen: Die Idee der Selbsthumanisierung war sogar an sie delegiert worden mit der mehr als doppeldeutigen Konsequenz, dass ihr Mandat dadurch gut abgesichert, dass es aber auch indirekt gerade dadurch folgenschwer eingeschränkt wurde. Das lässt sich ganz allgemein zeigen und im genaueren Detail zusätzlich illustrieren. Ganz allgemein ergibt es sich aus der schlichten Anwendung der Gesellschaftsparadoxie, wonach diejenige Gesellschaft, die Bildung am nötigsten hätte, diese nicht als solche wollen kann. Je nachdrücklicher die Erwachsenenöffentlichkeit wichtige Zukunftsbelange an das Schulsystem delegiert, umso weniger übernimmt sie die Verantwortung für diese selbst. Sie beschwichtigt sich dann eben durch die Delegation als solche. Die Pädagogik scheint sich darauf als Prinzip eingerichtet zu haben, hat sie doch hier – und zwar im Makro- wie im Mikromaßstab eine Art Mentalität entwickelt, die oft reflexartig zu den diesbezüglichen Aktivitäten führt. Mitte der 80er Jahre war das ökologische Problem spätestens durch Tschernobyl in der öffentlichen Diskussion breit repräsentiert, Ende der 80er Jahre war es das Thema unter allen Lehrerfortbildungen in ganz Deutschland, um dann bis Mitte der 90er Jahre aus beidem mit einer Spurlosigkeit zu verschwinden, die mehr als denkwürdig war.127 127
Es verdankt, wie nebenbei festzuhalten ist, seine junge Wiederentdeckung ganz wesentlich den Studien, die seine verheerenden wirtschaftlichen Auswirkungen prognostizieren. Seitdem ist es wieder aus dem Schlaf der hinzunehmenden Naturwüchsigkeit erweckt worden. Deutschland bewegt
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Was die Mikroebene betrifft, so ist es an vielen Schulen Konferenzbrauch, kontroverse Themen zunächst einmal an eine damit speziell betraute Arbeitsgruppe zu delegieren. Diese wird nach meinen Beobachtungen dann nahezu regelmäßig mit einem so dubiosen Mandat versehen, dass es der womöglich zerstrittenen Gesamtkonferenz alle Optionen freihält, sollte die Gruppe wider nüchternes Erwarten etwas Brauchbares vorlegen. Diese Methode scheint mir auch im Zuge der neueren Schulentwicklungs-Initiativen von nicht wenigen Schulen „locker“ übernommen worden zu sein, wo man „innovative Steuer(ungs)-gruppen“ eingerichtet hat, um damit behördlichen und/oder schulberaterischen Auflagen zu entsprechen. Man könnte schließlich sogar mit Fug und Recht eine Mesoebene im Schulsystem selbst entdecken. Gewiss hat die Hilfs-, Sonder- oder Förderschule viele pädagogische Dienste übernommen, mit denen das normale Schulsystem überfordert war. Tendenzen zu einem stark unterkomplexen Selbstverständnis in der Schulpädagogik insgesamt, wie ich sie schon eingangs kritisch skizziert habe, sind aber durch die Delegationsmöglichkeit „schwierigerer“ Schüler aller Facon an die o. g. Schulform zumindest erleichtert worden, so dass jede unterrichtstechnologie-gläubige Beraterliteratur umso ungestörter mit der Fiktion des einfachen und jederzeit lernbegierigen Schülers arbeiten kann. Überhaupt legt die Mehrgliedrigkeit als solche – so könnte man abschließend sagen – pädagogische Delegationsmentalitäten nahe: am meisten bekanntlich denjenigen Lehrern mit den leistungsstärksten Schülern, dem höchsten Gehalt, der niedrigsten Arbeitsstundenzahl und dem größten Sozialprestige.
Mobilisierung der Frage nach dem eigenen Erzogen-Sein Was immer bei der Einrichtung konkreter Schulsysteme daraus entstand, ob sie eher staatlich-zentralistisch organisiert wurden oder stärker und bürgernäher der Verantwortung kommunaler-regionaler Körperschaften anvertraut waren – die neuzeitliche Pädagogik wirft grundsätzlich beschreibbare organisationssystemische und je individuelle Probleme auf, die jeden konkret und professionell arbeitenden Pädagogen betreffen. Gemeinsam ist ihnen wie schon mehrfach angedeutet die Herkunft aus der Gesellschaftsparadoxie. Durch sie wird die Pädagogik wie der Pädagoge auf die Antizipation einer optimalen Zukunft verpflichtet – der Gesamtgesellschaft wie des einzelnen Schülers. Selbst wenn das Schulsystem durch den Wachstumsmythos erst mit einem pseudo-entparadoxierten Mandat sich an der Weltspitze des wiedererwachten Weltgewissens: Die deutsche Umwelttechnik zählt zu den weltweit führenden, ein viel versprechender neuer Wachstumsmarkt soll das universelle Überleben sichern und nebenbei zumindest den nationalen Wohlstand erhöhen.
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auf den Weg gebracht wird und dabei zahlreiche voraufklärerische Momente der Anpassung an vorgefundene autoritäre Sinngebungen einverleibt, bleibt die Zukunftsverpflichtung doch bestehen, sie kann sogar gerade durch die Amputation ihrer Geltung und ihres Sinns beträchtlich als solche forciert werden.128 Die Zukunftsverpflichtung der Pädagogik bewirkt eine quasitranszendentale Selbstreferentialität ihres Anspruches an sich selbst. Unerlässlich sind etwa für jede theoretische Pädagogik gewisse Vorstellungen über Mündigkeit, zu der praktisch tätige Pädagogen, die sie bei Heranwachsenden zu fördern gedenken, dann in logischer Konsequenz persönlich fähig sein müssen. Dass solche Vorstellungen unter posttraditionalen Bedingungen nur einem moralphilosophischen Minimum folgen dürfen, ändert nichts daran, dass sie pädagogisch unerlässlich sind. Der tätig werdende Pädagoge muss sich selbst als pädagogisch hinreichend gut geworden voraussetzen und in potentiell vorbildlicher Weise mündigen Selbstbewusstseins für fähig erachten. Denn er muss sich zwingend zutrauen, Mündigkeit zumindest ungefähr von unzulässiger Unmündigkeit abzugrenzen, er muss auch beanspruchen, das Gemeinte in seiner Person glaubhaft zu repräsentieren. Da er berufsbedingt versucht, die zukünftige Entwicklung des Heranwachsenden gegenwärtig zu fördern, scheint er das umso besser zu können, je mehr er sich dabei Rückfragen bezüglich der eigenen biographischen Herkunft glaubt ersparen zu dürfen. Damit wird die Unterstellung unproblematischer eigener biographischer Voraussetzungen zu einem psychologischen Strukturproblem jeder praktischen Pädagogik. Diese psychologische Unterstellung wird aber unvermeidlich problematisch, sofern der praktische Pädagoge sein Engagement gesellschaftskritisch bestimmt, das heißt, je bewusster er sich der Gesellschaftsparadoxie stellt. Schon bei Rousseau ist gänzlich unklar, woher Émiles Erzieher seine unverderbt naturverbundene Humanität inmitten einer entfremdet lebenden Erwachsenenwelt bezogen haben will. Leichter lösbar erscheint das Problem hingegen noch bis heute jeder transzendenzverbundenen Religiosität und auch noch der Frühaufklärung. Bei der ersteren bedarf es „nur“ des Glaubens bzw. einer göttlichen Erwählung, bei der letzteren muss der Mensch sein Verstandespotential entwickelt haben. Bei Rousseau ist es hingegen weder ein unvollzogener Glaube noch ein unentwickelter Verstand, der den Menschen an seiner wahren 128
Dies gilt keineswegs nur für die Implementationsphase im deutschen Schulsystem des 19. Jahrhunderts, es scheint mir das Strickmuster der derzeitigen Umwälzungen an deutschen Schulen und Hochschulen insgesamt zu skizzieren. Frühzeitiger denn je kontrollierte „Leistung“ an den Schulen bis hin zur Verleihung von „Exzellenz“-Oscars an universitäre Einrichtungen (mit Preisgeldern) dienen der Ertüchtigung unseres Nachwuchses für den „internationalen Wettbewerb“, den unsere Politiker inzwischen ähnlich naturalistisch-kritikfrei beim Namen nennen wie die drohende ökologische Katastrophe.
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Identität hindert, sondern die Entfremdung betrifft, modern gesprochen, sein „Selbst“ selbst, mit dem englischen Kinderanalytiker Donald W. Winnicott etwas riskant gesagt: Er hat ein „falsches Selbst“ entwickelt. Durch die – so Rousseau – Einschränkungen des gespürten Gefühls für seine eigene wahre Natur büßt er auch weitgehend die sozialen Zugangsmöglichkeiten zu anderen Menschen ein. Letztere erscheinen aber seit Rousseau als Basisbedingung für jede anspruchsvolle Einwirkung auf Heranwachsende, die nicht in dieser oder jener Form gewaltförmig und autoritär sein will. Das Projekt der Selbsthumanisierung der menschlichen Gesellschaft, das sich im 17. Jahrhundert in den Visionen der Frühaufklärer machtvoll entwickelt, wirft unweigerlich die Erkenntnis und zumindest implizite Anerkenntnis der Gesellschaftsparadoxie auf. Diese muss dann aber irgendwie abgefangen, „entparadoxiert“ werden, frühaufklärerisch geschieht dies wie dargestellt durch Erkenntnis- und Wissensfortschritt. Rousseau schiebt hier einen Riegel vor, der die Romantik einleitet. Danach entfremdet sich der Mensch, so er sich der äußeren Natur nur desengagiert bzw. diese ausbeutend entgegenstellt, damit zugleich seiner inneren Natur, die zu spüren erst Mitmenschlichkeit eröffnet. Die mit dieser Wendung entdeckte Beziehungsparadoxie verlängert, metaphorisch gesprochen, die Wirkung der Gesellschaftsparadoxie in die persönlich gedachte Erzieher-Zögling-Beziehung hinein. Hier wirft sie dann unweigerlich die angesprochene Selbstwertproblematik des einzelnen Pädagogen auf, für deren Virulenz ich oben anhand der selbstpsychologischen Narzissmustheorie das Verständnis zu vertiefen versucht habe. Den in Kapitel 4 vorgestellten selbstpsychologischen Prämissen zufolge reaktivieren aktuell verstärkte narzisstische Probleme immer auch psychische Vorbelastungen, die dann selbstreflexiv-kollegial bearbeitet werden müssen, sollen sie nicht charakterschädigend „abgewehrt“ bzw. „verdrängt“ werden müssen. Insofern die Pädagogik strukturbedingt narzisstische Probleme der Pädagogen aufwirft, macht sie gewisse Formen von Überkompensation der berufsbedingt mobilisierten Unsicherheit bei vielen Berufsvertretern wahrscheinlich. Pädagogik bedarf als Konsequenz der Gesellschaftsparadoxie und der Beziehungsparadoxie dringend der kollektiven und der individualisierten Zukunftshoffnung und provoziert dabei logischer Weise prospektiv Zukunftsangst – falls die eigenen pädagogischen Aspirationen der Gesellschaftshumanisierung und der Humanisierung des Schülers sich nicht umsetzen lassen; sie ruft retrospektiv in der Konsequenz der Beziehungsparadoxie die angesprochenen Identitätsprobleme ihrer Vertreter hervor und tendiert deshalb zu einem Zirkel der Abwehr vielfältiger Unsicherheit, der sich als fach- bzw. berufstypische Tendenz zu vereinfachenden Lösungen auf der Basis unterkomplexer Annahmen auswirkt: gesamtgesellschaftlicher sowie psychologischer Art. 228
Verführbarkeit durch Gesellschaftsmythen Das je individuelle Problem des Selbstbewusstseins des Pädagogen als mögliches Vorbild für Heranwachsende erscheint dann am besten als selbstverständlich auflösbar, wenn der Pädagoge glaubt, es gar nicht erst als subjektives an sich heranlassen zu müssen. Eine transzendenzgebundene Religiosität kann ihm wie mehrfach angedeutet hierbei helfen.129 Ohne vergleichbare Transzendenzbezüge wird das berufsstrukturell gegebene Problem einer selbstkritischen Selbstreflexion demjenigen pädagogischen Praktiker am ehesten abgenommen bzw. erleichtert, der sich für ihn selbst glaubwürdig als normales Mitglied in einer gesellschaftsöffentlich formierten Gemeinschaft von hinreichend und zufriedenstellend mündigen, „gut erzogenen“ erwachsenen Menschen verortet sehen darf, zumal wenn er sich selbst als Exponenten der hier geübten Kultur betrachtet. Selbstverständlich gilt Analoges für das Denken des pädagogischen Theoretikers. Eine entsprechende, gesellschaftsbezogen affirmative Einstellung verleiht dem Pädagogen wünschenswerte Orientierungs- und Handlungssicherheiten und hält schon im Vorfeld die individuelle Selbstwertproblematik von ihm fern. Durch eine solche politisch-gesellschaftsaffirmative Haltung von Pädagogen ergibt sich historisch eine Umkehrung gegenüber der Ausgangslage der neuzeitlichen Pädagogik wie ich sie exemplarisch im 3. Kapitel dargestellt habe. Mit der Etablierung eines öffentlichen Schulsystems im Rahmen der Nationalstaatsentwicklungen unter dem Wachstumsmythos mussten und durften (!) sich die meisten darin tätigen Pädagogen dem gesellschaftlichen Ist-Zustand anpassen, erst recht, wenn sie sich auf eine demokratische Verfassung berufen konnten, in der die Würde des Menschen als unantastbar deklariert wurde und alle Erwachsenen normalerweise als erziehungsberechtigt, also auch erziehungskompetent zu behandeln waren. Schließlich wurden die Lehrer als erstes, etwa als Staatsbeamte, auf gesellschaftspolitische Loyalitäten verpflichtet. Seit der Einrichtung des Bildungssystems vollzieht sich demnach eine im Vergleich zu den 129
Bei den niedersächsischen politischen Bemühungen um eine Gesamtentwicklung des hiesigen Staatlichen Schulsystems versprach man sich längst vor den bekannten PISA-Ergebnissen wertvolle Orientierungshilfen vom holländischen Schulsystem mit seinen flächendeckenden externen Evaluationen und seinem Ranking-System. Knapp zwei Drittel der niederländischen Schulen sind jedoch konfessionell geführte Privatschulen. Die Notwendigkeit externer Evaluation ergab sich dort frühzeitig als Folge der Zulassung und staatlichen Finanzierung dieser Schulen, hat also eine weit (nämlich auf die napoleonische Ära) zurückgehende Tradition. Bezüglich des um Eile besorgten, schulsystem-selbstkritischen Lerneifers niedersächsischer Bildungsbehörden könnte der beeindruckte Beobachter auf Indizien einer (steigenden?) Attraktivität der vormodernen Pädagogik für eine bewusst postmoderne sprechen.
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Klassikern gewissermaßen rückwärtige Auflösung der besagten zwei Bildungsparadoxien130. Man könnte in Paraphrasierung der Gesellschaftsparadoxie schlussfolgern: Nichts bedroht die Pädagogik mehr als ihr rascher öffentlicher Erfolg. Denn: indem sich die gesellschaftliche Öffentlichkeit in ihren Verfassungen als hinreichend oder doch prinzipiell humanisiert präsentiert, kann sie unter der Hand beanspruchen, den „Bildungsauftrag“ durch ihre außerschulischen Institutionen, Organisationen und Verkehrsformen hinreichend erfüllt zu haben. Was sie sich am besten dadurch selbst „beweist“, dass sie ihn der Schule erteilt – und damit – wie nebenbei delegiert. Werden dann Krisenphänomene unübersehbar, die sie durch eigene Widersprüche selbst erzeugt, kann sie diese nach Belieben „der“ Schule aufhalsen, wenn nicht offen anlasten. Das Beispiel der „Umweltbildung“, deren Stern noch mancher Leser wird sowohl auf- als auch niedergehen gesehen haben, wurde bereits erwähnt. Inzwischen ist die Indienstnahme der Schule zur Lösung gesellschaftlicher Krisen zu ihrer Verpflichtung fortgeschritten, sich an demjenigen Sektor des öffentlichen gesellschaftlichen Lebens zu orientieren, dem die Gesellschaft (samt Schule selbstverständlich) die am tiefsten greifenden Krisen ursächlich mitverdankt: an der Wirtschaft. Mit diesem Phänomen werde ich mich im Folgenden noch einmal befassen.
Aktuelle Tendenzen der Deprofessionalisierung des Lehrerberufs In den letzten Jahren scheinen sich zunehmend Einschätzungen der schulpädagogischen Situation zu profilieren, die beides, und zwar im Extrem, zu versöhnen scheinen: sowohl radikalkritische als auch betont konservativ-affirmative. Sie sind allerdings der Pädagogik, selbst der schulbehördlichen, gewiss eher durch außerpädagogische Initiativen angedient und wie nebenbei mitgesteuert worden – in Deutschland etwa unter erheblichem Engagement eines Medienkonzerns, von dessen „bildungs“-vorgesehenen Etat wohl jeder Kultusminister gern träumen würde. Ich will das entsprechende Szenario im Folgenden kurz durchspielen – wie ich schon mehrfach andeutete, weist es nach mehreren Seiten hin paranoide Züge auf. Einerseits werden Schulentwicklungen als naturwüchsiges Gebot der Stunde gedeutet, dabei geht es zwar um den „Wirtschaftsstandort Deutschland“ als oberstes Leitziel, allerdings auch durchaus um gewisse Demokratiedefizite, an denen die öffentliche Schule PISA-beweisbar kranke. Um also Leistungsbereitschaft und Demokratiefähigkeit der Schüler nicht mehr länger dem Trott eines 130
Sofern die Beziehungs- und die Gesellschaftsparadoxie als auflösbar erscheinen, erübrigen sich die Probleme der Organisationsparadoxie automatisch.
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schwerfälligen Bildungssystems anzuvertrauen, wird ein System des „Total Quality Management“ etabliert, das nach betriebswirtschaftlichem Vorbild auf strenge und folgenreiche externe Evaluationen aller Einzelschulen setzt. Der mögliche Eindruck einer offenkundigen „Top-down“-Strategie bzw. deutlichen Rehierarchisierung der Schule wird einerseits dadurch abgefangen, dass bei den Evaluationen die „Schülerorientierung“ der Lehrer und der Schulleitungen131 das zentrale Prüfungskriterium zu sein scheint einerseits und dass die Inspektoren ihrerseits selbst Evaluationen kontinuierlich ausgesetzt sind andererseits. 132 Indem die Demokratie am Exempel der Schule als evaluierbar dargestellt wird, erscheinen die Evaluationen in ihrer Wirkung auf die Schulen als demokratisierend. Sowohl am Beispiel einer neuen politisch-pädagogischen Wertschätzung der „Leistung“ als auch an dem des propagierten „Lernens des Lernen“ lassen sich zwei subkutane Besonderheiten der gewünschten pädagogischen Phänomene ablesen: die man – nebenbei – mustergültig auch an der inflationären Rede von „Qualität“ beobachten kann. Das jeweils pädagogisch Gemeinte ist so konstelliert, dass man es jederzeit auch aktuell messen kann. Selbstverständlich eröffnet Messbarkeit Vergleichbarkeit, schließlich beruht Messen auf Vergleichen an konventionalisierten Maßstäben, die dadurch „objektiv“ erscheinen. Messbarkeit ist die Vorbedingung dessen, was ihr naturwüchsig folgt: Konkurrenz. Die allseitig sich evaluierende demokratische Schule nach betriebswirtschaftlichem Nutzenkalkül bereitet auf eine Gesellschaft der allseits konkurrierenden Mitglieder vor. (Man denke an Rousseaus Begründung für die Zivilisationsflucht des Émile-Erziehers!) Wird damit die Gesellschaftsparadoxie in einer historisch neuartigen Weise preudo-entparadoxiert, die allenfalls an frühaufklärererische Visionen eines Francis Bacon gemahnt – sofern man freilich auf deren Humanisierungsintentionen verzichtet –, wird auch unauffällig und wie nebenbei die Beziehungsparadoxie als liquidierbar hingestellt. Je früher das Kind sein Lernen selbst organisieren soll, umso frühzeitiger wird diese Selbstständigkeit logischer Weise vorausgesetzt. Ihre Förderung wird damit indirekt zur selben Zeit den Elternhäusern zugedacht, in der die Schätzung eines bekannten Sozialisationsforschers durch die 131
Sie ist zur Leistungsförderung unerlässlich. Dass solche Inspektionen bizarre Nebenwirkungen an einer Reihe von Schulen zur Folge haben können, weiß ich aus vertraulichen Informationen aus dem Kreis der Schulleiter, die unsere Projektgruppe seit Erscheinen der Erstauflage dieser Studie weitergebildet hat, sowie von Eltern betroffener Kinder. Sie haben das Zeug, längerfristig Formen des „heimlichen Lehrplans“ in den Lehrerkollegien selbst zu verankern, die man bisher eher Schülern bei der Strategie der Umgehung unliebsamer Lernleistungsforderungen zuschrieb. Weit wichtiger sind mir im vorliegenden Zusammenhang aber noch die unspektakulären Folgekosten, die aus der offensiven Leugnung der Bildungsparadoxien erwachsen.
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Presse geht, etwa 15% der Elternhäuser in Deutschland seien durch die Erziehungsaufgabe überfordert. Das macht in selbstpsychologischer Perspektive durchaus schon relativ kurzfristig zwei Formen psychischer Kosten bei einer Reihe von Kindern erwartbar. Kinder, die, womöglich die Prämien einer zukünftigen privilegierten Existenz als Modernisierungsgewinner vor Augen, zu frühzeitiger Selbstfunktionalisierung bei fremdbestimmten Lernanforderungen imstande sind, werden entsprechende Einstellungen habitualisieren. Dabei verkümmern, mit Herder gesprochen, Selbstgefühl und Mitgefühl. Was gedeiht, ist ein rastloser Erfolgszwang, der sich inhaltlich längst ausgeleert hat und dem Pseudo-Sinn einer letzten Endes selbstverzehrenden Sucht folgt. Private Nachhilfeinstitute sowie die Pharma-Industrie, der sich der Schüler-Markt weiter erschließen wird, werden davon ebenso profitieren wie leistungsförderungs-versprechende Nachhilfeinstitute oder, gründlicher noch, Privatschulen. Einschlägige Beobachtungen ließen sich am südkoreanischen Bildungssystem machen. Dieses hat eine gut tausendjährige shintoistisch dominierte Bildungsaufstiegsmentalität der Gesamtbevölkerung mit der modernen Wirtschaftsstandortsideologie zu einer nach PISA-Maßstäben weltweit glänzenden Synthese schulpädagogisch verbunden. Allerdings zeigt man sich politischerseits noch unzufrieden, weil die großartig scheinenden Leistungsergebnisse sich „nur“ einer Breite von Schülerleistungen verdanken (in krassem Gegensatz zu Deutschland). Man leitet aktuell Schritte ein, um die 5%-Leistungspitze stärker als bisher zu fördern. Koreanische Schüler und Studenten sind zu hoher Lernleistung bei völliger Absehung von Fragen ihrer subjektiven Motiviertheit bereit. Das Land weist weltweit eine der höchsten Selbstmordraten unter Kindern auf.133 Man erinnere sich, dass Kohut mit Blick auf westliche naturwissenschaftliche Selbst(miss)verständnisse unter Sozialwissenschaftlern von Einstellungen gegenüber einer als handhabbar gedachten Objektwelt sprach, die nur um den Preis einer vorzeitigen narzisstischen Überbesetzung der eigenen Intelligenz als Kontrollorgan über die umgebende Realität zu haben seien (außer bei den wenigen Hochbegabungen – deren Zahl sich nach meinen Beobachtungen in den letzten Jahren auffällig zu häufen scheint). Der entsprechend habitualisierte „tool-and-method-pride“ würde dann verdinglichend auf die Wahrnehmung von Sozialbeziehungen übertragen.134 Die andere große und höchst heterogene Gruppe wird von denjenigen Schülern gebildet werden, denen die Voraussetzungen für die geforderten Leistungen nicht gegeben sind: dies kann organisch bedingte Gründe haben ebenso 133
Die Informationen entnehme ich der Vordiplom-Arbeit von Sae Yeon Lee. Kohut benutzt den „Verdinglichungs“-Begriff nicht; zu seiner aktuellen Problematik aus anerkennungstheoretischer Sicht: vgl. Honneth 2005
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wie soziale durch überforderte oder versagende Eltern ebenso wie kulturelle aus einer bewussten Distanz zur gesellschaftlich-demokratischen Kultur; dass eine solche Distanz durch ein unzugängliches Erwerbssystem ebenso gefördert werden kann wie durch eine fremdenfeindliche Sozialwelt habe ich oben zu zeigen versucht. Das Rousseau-Herdersche Anliegen einer humanen Bildung des Nachwuchses würde der neuen Selbstmodernisierungs-Ideologie zufolge bereits von den Elternhäusern einerseits, andererseits von den realen, nicht zuletzt ökonomisch bestimmten Verkehrsformen des gesellschaftsöffentlichen Erwachsenenlebens hinreichend besorgt. Sollte es dennoch zu Sozialproblemen kommen (wie sie seit der Etablierung der Massenarbeitslosigkeit unübersehbar geworden sind), so gibt es zwei Begründungsmöglichkeiten, die sich keineswegs ausschließen, zumal sie auf zwei ganz unterschiedlichen Ebenen virulent sind. Die eine liegt wie schon gesagt darin, dass die Schule verantwortlich gemacht wird: weil sie sich allen Anreizen und Anweisungen zum Trotz immer noch nicht energisch genug auf den Selbstmodernisierungsweg gemacht hat – womöglich, indem sie an den längst obsolet gewordenen Bildungsvorstellungen des 18. Jahrhunderts noch festhält. Über deren Revisionsbedürftigkeit wäre sie dann noch nicht effizient aufgeklärt worden. Die andere ist in den letzten Jahren auf einer weltanschaulichen, pseudo-anthropologischen Ebene etabliert worden und wirkt von daher mit historisch neuartiger Selbstverständlichkeit: Es handelt sich um die Individualisierungs-Ideologie, die marktliberalistischem Denken schon im 19. Jahrhundert zugrunde lag. Kein Verlierer sollte sich beschweren, will er nicht seine Lebensniederlage auch noch öffentlich machen; bescheinigt sie doch lediglich sein individuell zu verantwortendes Leistungsdefizit. Das entsprechend verbreitete Individualisierungs-Menschenbild, das dem Lehrer erlaubt, sich auf Wissens- und Kompetenzvermittlung sowie das diese erfordernde Lernverhalten zu konzentrierten, vereinfacht sein Bildungsmandat ungemein. Die Bedingung hierfür wird durch die semantische Verkürzung des traditioneller „Bildungs“- Gedankens zum öffentlich gehandelten „Leistungs“und „Qualitäts“-Funktionalismus erbracht, je subkutan-alltäglicher umso wirkungsvoller. Der neuartig mandatierte Lehrer-Job weist den Vorteil auf, dass er ohne weiteres von Leuten wahrgenommen werden kann, die in anspruchsvolleren Berufen, in denen weitreichende oder einschneidende Entscheidungen zu treffen sind, eher nicht benötigt werden. Anspruchsvoller wären ohne Zweifel die Berufe mit Leitungsfunktionen gegenüber Erwachsenen, etwa im Rahmen von Wirtschaftsunternehmen oder größeren Organisationen sowie auch die unumstrittenen Professionen wie Jurist, Mediziner, Therapeut oder Priester. Nebenbei ließe sich auch die theoretische Pädagogik im Sinne eines universitären Faches „Erziehungswissenschaft“ kostensparend abwickeln. Die prakti233
schen Pädagogen könnten sich in Zukunft gegenseitig selbst ausbilden. Sie wären, mit Oevermann gesprochen, eindeutig „Experten“, aber gewiss keine „Professionellen“. Die bisher im Rahmen der „Erziehungswissenschaft“ tätigen Psychologen, Soziologen, Ökonomen und Historiker, vielleicht auch Philosophen (sofern dieses Fach angesichts des unterstellten gesellschaftlich erreichten Humanitätsstandards noch nennenswert gefragt ist) könnten sich in ihre wissenschaftlichen Heimatdisziplinen zurückziehen, um sich an den dortigen Fragestellungen und Leistungsansprüchen zu bewähren - durch ForschungsmittelEinwerbung und internationale Publikationen für die stets bevorstehende nächste Forschungsevaluation. Dass Schul- und Hochschulreformen in den vergangenen Jahren durchgezogen werden, die in die angedeutete Richtung einer zur Effizienzsteigerung vereinfachten Pädagogik weisen, setzt kollektive Bewusstseinsabspaltungen voraus, an die sie ihrerseits dann wieder (als „realistisches“ Sich-Abfinden mit den gegebenen Sachzwängen) die Öffentlichkeit gewöhnen. Dem Plädoyer zur Vereinfachung der pädagogischen Zukunftsaufgaben liegt eine ebenso unrealistische Diagnose gesellschaftlicher Entwicklungen wie der aktuellen Handlungsprobleme an den Schulen zugrunde. Sodann wird der Pädagogik das entsprechend simplifizierte Selbstverständnis, zunächst von außen, etwa von bildungspolitischer Seite und immer unverhüllter von Unternehmensverbänden angedient. Zunehmend wird es auch von theoretisch und praktisch arbeitenden Pädagogen selbst unter dem Mantel der überfälligen Verwissenschaftlichung der pädagogischen Leitvorstellungen bzw. der Reform der Schulen übernommen. Die Verschärfung der Bildungskrise durch falsche Mittel wird demnach zu einer Bildungsreform an Haupt und Gliedern umdefiniert. Wie erwähnt kann eine solche Reduktion nicht konsistent betrieben werden, ohne dass die zunehmenden pädagogischen Praxisprobleme bei der Förderung sozialer Grundhaltungen der Schüler abgedunkelt würden. Sie werden sogar zeitgleich durchaus immer deutlicher und dominieren phasenweise – wie sich am Beispiel der Erfurter Vorkommnisse dramatisch zeigte – sogar immer wieder das Medieninteresse. Auf der Rückseite der öffentlich inszenierten „Bildung“ bleibt die – voraussichtlich schulformbezogen abzuschiebende – Resozialisierung oder Nach-Erziehung der unter besonders schwierigen sozialen Bedingungen aufwachsenden Heranwachsenden übrig. Der Bildungsbegriff wird also wieder um seine eigentliche Problematik „bereinigt“, die sich einzig in den von ihm festzuhaltenden Paradoxien angemessen reflektieren ließe. Nur wird er diesmal, anders als zum Ende des 19. Jahrhun-
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derts, nicht mehr elitarisiert, sondern bis zur funktionalistischen Belanglosigkeit „demokratisiert“.135 Wie PISA glaubwürdig zeigt, sind Schwierigkeiten sozial schwacher Schüler gewiss und überdeutlich besonders in Deutschland schulisch mitbedingt. Deshalb aber zu unterstellen, sie seien primär oder gar ausschließlich schulisch erzeugt, überschätzt die Schule und unterschätzt die Sozialisationswirkung einer unwirtlich organisierten Erwachsenenwelt mit ihrer für viele Heranwachsende aussichtsarmen oder verschreckenden Konkurrenz um knappe Arbeitsplätze. Durch Dauerarbeitslosigkeit wird ein Teil der Bevölkerung von der wirtschaftlichen Prosperität ausgeschlossen, die Bedrohung durch ein ähnliches Schicksal trifft einen noch viel größeren. Das wissen wir spätestens seit Mitte der 80er Jahre (Beck 1986). Beides ist hoch sozialisationsrelevant und wird in dem von mir verwendeten Sinne zu einem Bildungsproblem für die Kinder der betroffenen Familien, weil die Kinder in einem Klima habitualisierter Zukunftsangst aufwachsen. Ähnliches gilt für Bevölkerungsgruppen, die aus anderen Gründen in eine Sondersituation gedrängt sind, etwa weil sie von relevanten Teilen der Bevölkerung als „fremd“ empfunden werden und denen – mit Honneth gesprochen – vielleicht eine formal-rechtliche Anerkennung konzediert, eine sozialsolidarische jedoch verweigert wird. Soziale Anerkennung ist bildungsrelevant, entsprechend ist es die verweigerte, weil sich der demokratische Kulturanspruch darin selbst dementiert. Erst recht trifft dies zu, wo sich mehrere veralltäglichte Erlebnisformen der Ausgrenzung überlappen. Wie solche Problemlagen durch mehr Leistungsorientierung an den Schulen oder durch vorgezogene Segregation – wie noch vor vier Jahren in Niedersachsen geschehen136 – ausgeglichen werden können sollen, ist für mich unerfindlich. 135
Dies erscheint mir der Ort, an die düsteren Visionen des christlich-marxistischen Bildungstheoretikers Heinz-J. Heydorn (1980a, Gleick 1996) angesichts der Bildungsreformen der frühen 70er Jahre zu erinnern. Sie schienen ihm – und damit meinte er die Gesamtschulbewegung – auf ein Bildungsangebot zu Schleuderpreisen im amerikanischen Supermarkt-Stil zu verweisen. Sein sarkastischdecouvrierender Kommentar lautete „Ungleichheit für Alle“. 136 Die Begründung des Kultusministers hierfür erfolgte, international einmalig, mit Verweis auf die PISA-Ergebnisse. Bei dieser Gelegenheit verkündete er das Ideal der „ideologiefreien Schule“, die sich einzig noch an „Leistung“ orientiere. Anzunehmen ist, dass er in demselben Argumentationszusammenhang die Neugründung von Gesamtschulen landesweit verbot und die Arbeitsvoraussetzungen in den bestehenden Gesamtschulen mit Hinweisen auf Gleichbehandlungsimperative empfindlich erschwerte. Der Kultusminister ist Jurist. Den „Bildungsauftrag“ in §2 des Niedersächsischen Schulgesetzes hatte er seinerzeit bei Amtsantritt, wie ich vermuten muss, noch nicht lesen können. Seine Regierungspartei erreichte kurz nach den ersten Maßnahmen zu solcherart flächendeckender Schulreform Zustimmungswerte von über 50% in der niedersächsischen Bevölkerung. (Ich habe zunächst gezögert, diese Hinweise drucken zu lassen, weil ich mich auf keinen Fall an einer Änderung des Paragraphen schuldig machen wollte.)
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Mein Plädoyer, den Lehrerberuf als Profession aufzufassen, soll also – negativ – einer realitätsverharmlosenden Sicht der gesellschaftlichen und demzufolge pädagogischen Entwicklungen vorbeugen. Dadurch, dass man dem Lehrerberuf Professionsstatus zubilligt, lassen sich, so nehme ich an, positiv die Komplexität, die öffentliche Bedeutung und die durch gesellschaftliche Prozesse selbst verursachten Handlungsprobleme des Lehrerberufs besser unterstreichen. Zugleich bleibt dann ungezwungen in Erinnerung, dass die professionellen Aufgaben sich aus einem Bildungsdenken ableiten, das für die Lehrer aller Schulformen und für alle Heranwachsenden immer noch entweder eines ist oder aber keines.
Wachstumsmythos und pädagogische Machbarkeitsillusionen Die Tendenz der Pädagogik und der Pädagogen, sich in optimistisch-naiven Selbsteinschätzungen der jeweiligen Gesellschaft unkritisch zu beheimaten, hatte ich oben in Zusammenhang mit ihrer Verwiesenheit auf einen hinreichenden Zukunftsoptimismus bezüglich der gesellschaftlichen Entwicklung sowie mit der psychologischen Schwierigkeit für den je einzelnen Pädagogen gebracht, sich eine Vorbildfunktion für die Heranwachsenden strukturbedingt zutrauen zu müssen. Das Schulsystem konnte sich im Rahmen des Wachstumsmythos auf einen historischen Kompromiss einlassen, der es mit vormodernen Elementen ausstatHinweisen möchte ich noch als Kollateralwirkung der durch Aufhebung der Orientierungsstufe vorverlegten Segregation bei freigegebenem Elternwillen für die Wahl der Sekundarschule auf ein starkes Anschwellen der Gymnasial- (und der Gesamtschul-)Anmeldungen, während die Hauptschulen, so in den Großstädten, zum Teil auf Einzügigkeit heruntergefahren werden müssen. Letzteres ändert sich dann bereits für die 6. und 7. Klassenstufe durch das Eintreffen der „nach unten durchgereichten“ leistungsschwächeren Schüler. Während die Gymnasien in den ersten Schuljahren viele überfordete Schüler an die Realschulen verweisen, geschieht dort Ähnliches in Bezug auf die Hauptschulen. In vielen Realschulen kommt es dadurch jahrelang zu erheblichen Schülerfluktuationen und die Zahl der Schüler, denen man zum Eintritt ihrer Pubertät die Nichttauglichkeit der von ihren Eltern erhofften Schulleistungsfähigkeit bescheinigt, steigt landesweit dramatisch an. Dass sich dies auf ihre Einstellung gegenüber der jeweiligen neuen Schule bedenklich auswirken wird, liegt auf der Hand. Für jeden Lehrer, der mit Schülern mit schwierigem Sozialhintergrund zu arbeiten gewohnt ist, gehört es zu den obersten Geboten, eine verlässliche gute Klassenatmosphäre zu fördern. Durch die niedersächsischen „Reformen“ ist dies in Bezug auf Schülerklientelen nachhaltig erschwert worden, die schulische Förderung und Erfolgserlebnisse besonders nötig hätten. Während ich diesen Textteil abfasse, hat der amtierende niedersächsische Ministerpräsident die künftige Schulpolitik wie folgt zum Politikschwerpunkt der kommenden Legislaturperiode erklärt: „Wir müssen unsere Kinder fit machen für einen harten internationalen Wettbewerb.“ (Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 18.09.2007, Titels.) Das fünf Jahre lang programmatisch verfochtene Verbot der Neugründung von Gesamtschulen hat er bei dieser Gelegenheit für diejenigen Orte aufgehoben, in denen es noch keine gibt und ein deutlicher Elternwille erkennbar ist.
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tete, seine Pädagogik folgenreich zu entparadoxieren schien und die Lehrer subjektiv stark entlastete. Analoges galt auch für das pädagogische Menschenbild. Es tendiert seit der gesellschaftlichen Einrichtung der allgemeinen Schulpflicht nicht nur zu freundlicher Harmonie und ethosbegünstigender Triebkontrolle für alle Beteiligten (Triebdurchbrüche waren pädagogisch einzig sadistischem Lehrerhandeln erlaubt), es bezog auch entscheidende Charakteristika aus genau dem, was die Pädagogik seit ihren Gründervätern eigentlich hatte überwinden sollen: ein mechanisches Verständnis des Menschen oder doch zumindest seiner Beeinflussbarkeit. In einer systemtheoretischen oder konstruktivistischen Argumentation ließe sich davon sprechen, dass Pädagogen dazu neigen, die Schüler wie „Trivialmaschinen“ zu behandeln, bei denen ein kontrollierter Input zu einem berechenbar voraussagbaren Output führt.137 Pädagogen tendieren im Zuge der Einrichtung des Bildungssystems unter Bedingungen des Wachstumsmythos zu einem trivialisierten Menschenbild und zu einem schematisch-mechanischen Handlungsverständnis. Das festzustellen schließt selbstverständlich nicht aus, dass es zu allen Zeiten beeindruckende Lehrerpersönlichkeiten gegeben haben wird, die dann den Schülern ein berufsbiographisches Vorbild boten, das immer wieder Nachahmungswünsche konstruktiv zu wecken geeignet war. Nicht wenige Lehramtskandidaten, häufig die aufgeschlossensten – allerdings deutlich mehr im Gymnasialen Lehramt als in den Lehrämtern an Grund-, Haupt- und Realschulen –, verdanken nach meinen persönlichen Erfahrungen bis in die Gegenwart ihren Berufswunsch solchen Vorbildern, zumeist sogar unmittelbar in zumindest einem ihrer Unterrichtsfächer. Schematisch grob lassen sich für die Zeit des Wachstumsglaubens drei pädagogische Grundgestalten unterscheiden. Die erste ist die normale Schulpädagogik, die sich zwar in Elementarbildung und „höhere“ Bildung, dazwischen die berufsvorbereitende Realschulbildung aufgliedert, dabei aber als ganze dem gesellschaftlichen Wachstumsmythos einfügt. Die wichtigste Sekundärtugend ist hier bei allen schulformbezogenen Differenzierungen und unterschiedlichen Formen der Hochkultur-Teilhabe eine Selbstdisziplinierung der Schüler, die dem gesellschaftlichen Fortschritt dient. In Wellen kommt es dann zweitens zu reformpädagogischen Bewegungen, die nicht selten auch politisch weiter gehende 137
Die mir bekannten Anwendungen der Systemtheorie auf pädagogische Fragestellungen bescheinigen sich selbst ihre besondere Sensibilität für mögliche Trivialisierungen von Schülern durch gängige pädagogische Praxis und das sie begleitende Theorieverständnis. Insofern läuft regelmäßig ein unverkennbar ethischer Impetus bei der systemtheoretischen Aufklärung mit. In meinen Augen stellt die erkenntnistheoretisch begründete Auflösung der „Subjekt“-Vorstellung durch die Systemtheorie ihrerseits eine Art Selbst-Trivialisierung des sich als psychisches System denkenden Subjekts dar: wobei diese sich dadurch unkenntlich macht, dass es sich dabei für opak erklärt.
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Veränderungen anstreben. In den westlichen fortgeschrittenen Industrieländern erreichten diese Bewegungen nach den reformpädagogischen Wellen vor und nach dem 1. Weltkrieg ihren historischen Höhepunkt am Ende ihrer vom Wachstumsmythos geprägten Ära um die 70er Jahre herum. Der gesellschaftliche Status quo wird in ihnen als unbefriedigend eingeschätzt. Das Wachstum setze größere Möglichkeiten frei als diese bislang realisiert würden. Es geht um „Ganzheitlichkeit“ und kreative Kritikfähigkeit oder Selbstverwirklichung als wichtige Bildungsziele. Spätestens, wenn die politisch-reformerische Tendenz flächendeckend durchgesetzt werden soll oder sich anti-autoritär verschärft, ruft sie kulturkonservative Reaktionen auf den Plan. In ihnen geht es verstärkt darum, bereits erreichte Humanität bewahrend weiterzugeben, wobei man gern an vormoderne Werte appelliert und auf etablierte Bildungseliten setzt. So sehr sich schließlich eine humanistisch-altsprachliche, eine konfessionell gebundene, eine gesamtschulisch orientierte, eine antiautoritär entfesselte oder auch nur eine ganz normale regelschulische Pädagogik unterschieden und wechselseitig bekämpft haben mögen – im umfassenden Kontext des Wachstumsmythos wiesen sie aber doch allesamt die Gemeinsamkeit auf, der Humanisierung der zukünftigen Gesellschaft dienen zu wollen, so oder so. Die erwähnte Tendenz zu einem trivialisierenden Verständnis pädagogischer Vermittlungsprozesse hängt also mit dem pädagogischen Engagement als solchem zusammen, das sich angesichts der von ihm zumeist missachteten gesellschaftsparadoxalen Lage in illusionäre Bewirkungsmöglichkeiten – sei es eher kulturbewahrend, sei es eher emanzipationsbefördernd – hineinsteigert und dabei in seiner öffentlichen politischen Wirkmacht regelmäßig beträchtlich überschätzt: es behauptet dann zugleich folgerichtig die innerpädagogische Bewirkungsmöglichkeit der eigenen Handlungsziele mit. Die Pädagogik konnte sich vom Wachstumsmythos ohne weiteres den Mythos der Bewirkbarkeit humaner Verhältnisse entleihen. Überzogene, latent technokratische Machbarkeitsvorstellungen lassen sich deshalb in der politisch bestandsverpflichteten, der humanistisch-elitären wie der konfessionell ausgerichteten Pädagogik ebenso nachweisen wie in der sich fortschrittlich und gesellschaftskritisch verstehenden. Hingegen strebt die aktuelle Pädagogik im Zuge ihrer von außen nachdrücklich nahegelegten Selbstmodernisierung neuartigen Aufmerksamkeiten, Wertschätzungen und Prämierungen in der politisch-öffentlichen Diskussion entgegen. An weltanschauliche Pseudo-Entparadoxierungen scheint sie als ganze seit ihrer Etablierung gewöhnt. Wo ihre Fachwissenschaft praktisch zu werden vorgibt, leistet sie in der Mehrzahl den entsprechenden Tendenzen unerkannt Vorschub, so sie diese nicht selbst gezielt vorantreibt – dies gilt in der Beraterliteratur notorisch, in der empiristischen Strömung zumeist und in der beobachtungs238
theoretischen Richtung immer häufiger. Nur so kann die irenische Gelassenheit erklärt werden, mit der die Pädagogik insgesamt praktisch und theoretisch die Liquidierung ihres Bildungsanspruchs zunehmend als sinnvolle Reform zu begreifen und mitzubetreiben begonnen hat.
5.2 Zur Virulenz der Beziehungsparadoxie Vermeintliche Selbstverständlichkeit kindgerechten Umgangs Zum Ende meiner Erörterungen möchte ich noch einmal die Perspektive wechseln. Dass die Lehrer als Gesamtheit gerade als Folge der gesellschaftsweiten Einführung der Staatlichen Schule mehr als Ansätze zu einer ernsthaften und einheitlichen Berufskultur nicht haben entwickeln können und wollen (außer etwa in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft – immerhin), dass sie sich davon durch die jüngsten Entwicklungen jedoch wieder ähnlich weit entfernen wie dies im 19. Jahrhundert der Fall war, sollte durch das Dargelegte gezeigt werden. Aufweisen wollte ich zudem, dass eine Diskussion professionstheoretischer Gesichtspunkte des Lehrerberufs ohne die Einbeziehung der beobachtbaren gesellschaftlichen Veränderungsprozesse einerseits und des berufsstrukturell gegebenen Problems der narzisstischen Integrität andererseits unvollständig bleiben muss. Im Folgenden will ich mich auf weitere Aspekte der Lehrerprofession konzentrieren, die aus der Beziehungsparadoxie unmittelbar hervorgehen und die der Betrachtung so lange unzugänglich bleiben werden, wie diese nicht ernsthaft mit ihr rechnet. Die neuzeitliche Pädagogik soll und will also die aufklärerische Idee umsetzen, der Mensch müsse energischer als in den historischen Phasen zuvor für menschenwürdige gesellschaftliche Verhältnisse im Rahmen menschheitlicher Formen der Zusammenarbeit selbst sorgen. Da er nicht länger auf transzendent vorgegebene Ordnungen vertrauen will, ist das geistige Organ, das für die rechten Einsichten in das wünschenswert Menschenmögliche zu sorgen hat, nicht länger der Glaube mit dem Korrelat einer übernatürlichen göttlichen Offenbarung, sondern die Vernunft mit dem doppelten Korrelat einer äußeren und einer inneren Natur. Gott, dessen Existenz noch viele Jahrzehnte hindurch von den meisten aufklärerischen Denkern keineswegs in Frage gestellt wurde, hat seinen Willen in aufklärerischer Sicht nicht theistisch in Heiligen Schriften und durch Propheten und erst recht nicht durch amtskirchliche Würdenträger offenbart, sondern deistisch offenbart er sich in jedem Menschen durch die angeborene Vernunft, die diesem also durchaus von Gott natürlich mitgegeben wurde.
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Insofern letztere durch die geschichtlichen Entwicklungen verdunkelt und unterdrückt worden sei, ergibt sich aus der aufklärerischen Idee einer, wie angedeutet: durchaus gottgewollten, Selbstbefreiung des Menschen zur Menschheit nicht nur die hoffnungsvolle Hinwendung der philosophischen PolitikVorstellungen auf die Pädagogik, es resultiert auch zwanglos eine Aufwertung des Kindes gegenüber den (gesellschaftlich normalen) Erwachsenen. Zwar kennt auch schon das Christentum das vorbildliche Kind, insofern es vorbehaltlos elterlich-göttliche Autorität anerkennen und von sexuellen Impulsen noch weitgehend frei sein soll. Die moderne Hinwendung zum Kind bezieht sich aber demgegenüber auf sein Vernunftpotential, das zugleich seine individuellunverwechselbare Eigenständigkeit begründet. Nicht, dass unterstellt würde, diese Vernunft stünde dem Kind schon umstandslos zur Verfügung: Insofern es aber angemessen angesprochen werde, könne es sich zu einer weitaus vernünftigeren Erwachsenheit entwickeln als sie die zeitgenössisch lebenden Erwachsenen aufzuweisen hätten, so die Annahme. Der Durchbruch, den Rousseau hier markiert, bedeutet, dass Kindsein nicht länger als unvernünftige Vorstufe zum vernünftigen Erwachsensein gesehen werden darf, sondern dass dem Kindsein ein anthropologischer Eigen-Sinn zuerkannt wird (Herrmann 1997), der – wenn man ihn gebührend anerkennt und fördert – aus sich heraus vernünftigere Formen des späteren Erwachsenseins entlassen wird. Man muss Kants berühmter Formel der „Kultivierung der Freiheit bei dem Zwange“ die Schärfe nehmen, um sie im Blick auf einigermaßen konsensfähige aktuelle sozialisations- und damit auch bildungstheoretische Einschätzungen reformulieren zu können. Kinder haben dann gute Chancen, zu sozialen, einfühlsamen und bindungsfähigen Erwachsenen heranzuwachsen, wenn mit ihnen seit frühester Kindheit entsprechend umgegangen wurde. Dass sie dabei emotionalen Halt, verlässliche und einsehbare Regeln und Grenzsetzungen benötigen, ist unstrittig.138 Soviel und nicht mehr darf von Kants „Zwang“ übrig bleiben. Hinter die von Rousseau ausgegangene und von Herder alltagspraktisch ausbuchstabierte philosophisch-pädagogisch Sichtweise, wonach der heranwachsende Mensch vor allem durch den wertschätzenden Umgang seiner erwachsenen Bezugspersonen schon vom ersten Lebenstag an zum Menschen werde, sollte unsere Zivilisation bei Strafe des „Hinabsinkens zur Tierheit“ nicht mehr zurückfallen – aus welchen selbstgeschaffenen oder autopoietisch evoluierenden „Sachzwängen“ auch immer. Die entsprechenden Einsichten haben mit Ende der 60er Jahre im vergangenen Jahrhundert eine zunehmende Akzeptanz in breiteren Bevölkerungskreisen, nicht nur in den arrivierteren Gesellschaftsschichten gefunden, Sozialwissen138
Es müsste am nachdrücklichsten in den Kreisen eingesehen worden sein, die sich phasenweise anti-autoritärer Umgangsformen befleißigt haben.
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schaftler natürlich eingeschlossen. Ihre Rezeption folgt allerdings derselben zwieschlächtigen Dialektik, die sich schon in den Erfolgen der neuzeitlichen Pädagogik zeigte. Einerseits haben sie sich, was die grundsätzlichen Annahmen betrifft, in sozialisationstheoretischer – und damit auch in bildungstheoretisch relevanter – Hinsicht durchgesetzt. Soweit ich sehe, arbeiten die meisten einschlägigen sozialwissenschaftlichempirischen Untersuchungen mit den entsprechenden anthropologischselbstverständlichen Unterstellungen. Dabei wird aber nicht selten, und zwar durch die Selbstverständlichkeit der Prämissen, das seinerzeit konstituierte Bildungsproblem als aktuell selbstverständlich lösbares oder gar – empirisch – gelöstes methodologisch vorausgesetzt.139 Man fragt sich dann höchstens noch, unter welchen Sonderbedingungen es zu nur suboptimalen Entwicklungen bei den Heranwachsenden kommen kann.140 Durch Trivialisierung der entwicklungsbezogenen Einsichten kann es demnach zu naiv-gesellschaftsaffirmativen Einschätzungen kommen, von denen her das Bildungsproblem als solches pseudo-entparadoxiert wird. Entsprechende Naivitäten kann man den philosophischgesellschaftskritischen Theorieentwürfen des vergangenen 20. Jahrhunderts gewiss nicht nachsagen. Von Theodor W. Adorno, Michel Foucault oder Niklas Luhmann beispielsweise her ergibt sich eine radikale Selbst-Infragestellung der modernen Subjektivität und ihrer Konstitutionsbedingungen (Lichtblau 1999). Eine in meinen Augen pädagogisch sinnvolle Rede etwa von „sozialen, einfühlsamen und bindungsfähigen“ Erwachsenen verböte sich im Kontext ihrer Entwürfe als obsolet bzw. naiv. Für die theoretische Pädagogik ist es schon im 19. Jahrhundert schwierig geworden, sich empirisch abzusichern, ohne sich gesellschaftstheoretische Naivitäten einzuhandeln, oder gesellschaftstheoretisch zu fundieren, ohne den Bezug zu ihrem strukturell fortschrittsoptimistischen Auftrag zu verlieren. Es mag aber aus den genannten Beweggründen für manchen Pädagogen geradezu verführerisch scheinen, sich sein Zentralproblem, die Beziehungsparadoxie, entweder mit unterkomplexer, psychologisch unbedarfter pädagogischer Sozialisationstheorie 139
Einen Musterfall als Sozialwissenschaftler – wenn auch nicht als empiristischer repräsentiert wie dargestellt Oevermann. 140 Das gilt auch für die ansonsten sehr aufschlussreichen Studien von Tomasello (2002). Er zeigt in mannigfacher Kinderbeobachtung, dass das menschliche Tier sich genetisch von allen anderen Lebewesen, auch den Primaten, auffällig dadurch unterscheidet, dass Kinder mit etwa neun Monaten die Fähigkeit erwerben, sich grundsätzlich mit den Realitätssichten ihrer Eltern als von ihnen getrennter Wahrnehmungszentren zu identifizieren. Dieser Gesichtspunkt lässt sich zwar hervorragend aufgreifen, um die Vorbildwirkung auch des Sachinteresses von Lehrern gegen jede SchülerfreundVersuchung zu illustrieren, undiskutiert bleiben aber die Folgeschäden kulturell fragwürdiger oder manifest gestörter Realitätssichten von Eltern auf die entsprechenden Kinder.
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beschwichtigen oder mit gesellschaftstheoretisch anspruchsvoller Philosophie (zu der ich auch die Luhmannsche Systemtheorie rechnen möchte) aushebeln zu lassen. Ersteres scheint dann praxisrelevant, letzteres soll wohl auch der akademischen Erziehungswissenschaft einen Platz im universitären Wissenschaftskonzert sichern. Ich fürchte, dass dem Preis des Selbstverlustes keine anderweitige Prämierung folgen wird – abgesehen davon, dass letztere den ersteren nie kompensieren könnte.
Psychoanalytisch bestätigte Bildung Die Pädagogik wird auf der Suche nach einer genaueren Bestimmung der Lehrerprofession nicht nur auf philosophische Ansätze verwiesen bleiben, die für die Bildungsidee und das damit konstituierte Bildungsproblem ausdrücklich offen sind, sie wird auch sozialwissenschaftliche Ansätze bezüglich ihrer fraglichen Relevanz auf dieses Kriterium hin zu prüfen haben. Ich habe im 1. Kapitel exemplarisch zu zeigen versucht, dass unter diesem Gesichtspunkt ein Ansatz wie der Oevermannsche unbefriedigend bleibt, obwohl er immerhin den Professionsstatus des Lehrerberufs im Blick auf Freudsche psychoanalytische Sichtweisen zu erläutern versucht. Neuere Ansätze selbstpsychologischer und objektbeziehungstheoretischer Art können hier aber weiter führen. Insbesondere im Kohutschen Empathie-Verständnis sehe ich Bildungsidee und Bildungsproblem bereits methodologisch ernst genommen. Im Folgenden werde ich den Ertrag des obigen Kohut- und KernbergReferats zusammenfassen, um seine professionstheoretische Bedeutung herauszuarbeiten. Ohne Bildungstheorie lässt sich der Professionscharakter des Lehrerberufs nicht begründen, eine Bildungstheorie bleibt aber auf eine – unter posttraditionalen Verhältnissen notwendig minimalistische – moralphilosophische Fundierung verwiesen (vgl. Oelkers 1991a). Sie muss in einem anthropologischen Ansatz gesucht werden, der – in welcher Form auch immer – von der Anerkennung ausgeht, die jedes pädagogisch gemeinte Handeln quasitranszendental zu begleiten hat. In der Honnethschen Anerkennungstheorie wird mit Blick auf den Pragmatismus George Herbert Meads (Mead 1969, Joas 1980) die Individualitätsentwicklung intersubjektivitätstheoretisch gefasst. Honneth zieht im Kontext der grundlegenden Anerkennungsform der Liebe bzw. Fürsorge psychoanalytische objektbeziehungstheoretische Ansätze heran, mit deren Hilfe er sein Konzept zu explizieren und sozialwissenschaftlich zu stützen versucht. Er unterstellt dabei, dass die neuere Psychoanalyse umgekehrt zur Seite der Philosophie hin auf Konzeptionen verweist, in denen die Individualität des Menschen intersubjektiv auf242
gefasst wird (Altmeyer 2002). In der Konsequenz dieser Unterstellung fände auch die theoretische Pädagogik ihrerseits in der Psychoanalyse Grundannahmen vor, die eine gemeinsame bildungsphilosophische Ausgangslage repräsentieren. Ich nehme diese Argumentation auf, weil mir der pädagogische Bildungsanspruch – Fremdförderung zur Selbstwerdung der Schüler auf den drei besagten Ebenen des Unterrichtshandelns – mit dem der Psychoanalyse der Anerkennung der Einzigartigkeit und Unabhängigkeit des Klienten durch Unterstützung seines gesunden Narzissmus – die ihm vorher unzugänglich gewordene Formen der Kulturteilhabe neu erschließt – eng verwandt zu sein scheint.141 Als Sozialwissenschaft ist die neuere Narzissmustheorie deshalb für die Pädagogik unmittelbar einschlägig, weil sie in ihrem methodologischen Ansatz bei der Empathie, wie sie Kohut umreißt, das pädagogische Bildungsproblem ernst nimmt und erfahrungszugänglich kulturwissenschaftlich bearbeitet. Pädagogik kommt unter posttraditionalen Bedingung nicht ohne professionelle Selbstreflexion aus. Das tiefenhermeneutische Vorbild, das sie in der selbstpsychologischen Empathie findet, muss freilich erst noch pädagogisch-handlungsstrukturell ausbuchstabiert werden. Kernberg bietet hier Möglichkeiten zu gruppen-, organisations- und beratungspsychoanalytisch fundierten theoretischen Zwischenschritten an, die an pädagogische Problemkonstellationen anschließbar sind.
Entwicklungspsychologische Gesichtspunkte In der noch sehr grundsätzlichen Beachtung dieser gemeinsamen philosophischen und methodologischen Wurzel stecken allerdings bereits einige entwicklungspsychologische Gesichtspunkte, die für die pädagogische Theorie folgen141
Eine interessante Formulierung zu den Gesichtspunkten, die ich mit der Beziehungsparadoxie sowie dem Problem des Narzissmus zu fassen vorschlage, findet sich in Niklas Luhmanns postum erschienenen Werk zum „Erziehungssystem in der Gesellschaft“: „Die Erziehung, die eine freie Aufnahme ihrer Anregungen erreichen möchte, aber zugleich auch Wirkungen anstrebt, operiert unter dem Gebot der Schonung der Selbstachtung des Zöglings.“ (2002, 74). Diese Formulierung ist zwar defensiv, weil der Schüler bereits seine Selbstachtung mit in die Schule bringt und sie dort nur noch geschont werden soll. Immerhin ist aber die Paradoxie einer „freien Aufnahme erzieherischer Anregungen“ klar benannt, die umso deutlicher wird, je mehr sie „Wirkungen“ erzielen will, weil sie dann mit der „Selbstachtung“ zu kollidieren droht: und dann nicht mehr mit „freier Aufnahme“ rechnen kann. Ob und, falls ja, wie die Äußerung auch im Rahmen einer systemtheoretisch aufgeklärten und entsprechend selbstdistanzierten Sichtweise noch Geltung beanspruchen darf, ist mir unklar. Ähnliches gilt für Luhmanns vorsichtige Rehabilitierung des Bildungs-Begriffs im selben Text. Danach wird durch „Erziehung die Möglichkeit vergrößert, sich vorzustellen, was in den Köpfen anderer vor sich geht“, wobei es sich hier selbstverständlich nie um „wahre Einsichten“ handeln kann (81). Luhmann erklärt sich bereit, eine entsprechende Vorstellung von Erziehung dezidiert „Bildung“ zu nennen.
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reich sind und vielleicht insbesondere aus Gründen der Trivialität von Pädagogen mit einer gewissen Regelmäßigkeit unterschätzt zu werden pflegen. Der wichtigste ist formal, dass schulische Pädagogik niemals ein primäres Bildungsgeschehen organisieren kann. Jedes Schulkind bringt seine individuellen „Umwandlungen“ der häuslichen „Liebe und Fürsorge in eine wertschätzende Selbstbeziehung“ in die Schule mit.142 Die Beziehungsparadoxie ist demnach schulisch immer schon eine bereits bearbeitete: weil sie strukturanalog häuslich bewältigt worden sein und auch weiterhin bewältigt werden muss. In der Schule müssen diese häuslichen Bewältigungsformen aufgegriffen werden – im günstigen Fall kann sie leicht daran anschließen. Im ungünstigen Fall bedeutet dies, bezogen auf das Lehrer-Schüler-Verhältnis, dass die wichtigsten und schwierigsten Handlungsprobleme von Lehrern im Bereich narzisstischer Störungen von Kindern und Jugendlichen liegen.143 Jeder Schüler nimmt den handelnden Lehrer aus seinen individuellen psychischen Strukturen heraus wahr, die sich zunächst und vor allem im Umgang mit seinen häuslichen erwachsenen Bezugspersonen entwickelt haben. Die Psychoanalyse arbeitet in einem analogen Zusammenhang seit Sigmund Freud mit dem Begriff der „Übertragung“. Der damit gemeinte Sachverhalt wird also umso wichtiger, je mehr der Schüler narzisstische Störungen aufweist. In der Konsequenz der Übertragungsproblematik ist es beispielsweise denkbar, dass ein Schüler einfühlsames Lehrerverhalten als schwaches oder unerwachsenes miss-
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Man könnte vermuten, dass die Faszination, die ein Pestalozzi, ein Makarenko, ein Bettelheim oder ein Neill auf viele reformpädagogisch gesonnene Pädagogen ausübten, mit der von ihnen mehr oder wenig begründet genährten Hoffnung zusammenhing, diese einschneidende Reduktion pädagogischer Handlungsmöglichkeiten dann doch nachträglich aufheben zu können. Organisatorisch hat es den Anschein, dass sich die gängige Schulpädagogik durch Ausdifferenzierung und Abspaltung einer „Sonderpädagagogik“ (die wichtige Verdienste, etwa die Heranführung besonders schwer beschulbarer Kinder an das Schulsystem aufweisen kann) von der Beachtung gestörter Kinder losgesagt hat: was nicht selten dadurch noch rhetorisch abgesichert wird, dass es nicht der correctness entspricht, von „schwierigen“ Schülern zu sprechen. Die Vermeidung von vorschnellen oder vorurteilshaften negativen Eigenschaftszuschreibungen kann dann unversehens in die Bestreitung problematischer Phänomene übergehen, die ihrerseits wieder der verbreiteten magischen Methodenüberschätzung Vorschub leistet. 143 Altmeyer formuliert: „Die narzißtische Störung lässt sich als Bewältigungsversuch verstehen, bei dem das Gefühl fehlender intersubjektiver Anerkennung im Zentrum unbewusster Phantasien steht und zu kompensatorischen Erlebnis- und Verhaltensweisen führt. Die Symptome dieser Störung haben eine reparative Funktion und dienen in vielfältigen Erscheinungsformen einem stummen oder lärmenden Kampf darum, vom Anderen wahrgenommen und anerkannt zu werden. Der gekränkte Rückzug von der Welt trägt, ebenso wie die eitle Selbstdarstellung, der symbiotische Verschmelzungswunsch, die solipsistische Selbstbehauptung oder die narzißtische Wut, die Spuren des Objekts, dessen spiegelnde Anerkennung eingefordert wird.“ (167)
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deutet.144 Narzisstische Störungen werfen immer Probleme der Beziehungsaufnahme auf, die sich als „Übertragungsphänomene“ äußern und die der Lehrer als solche verstehen können muss. Der Lehrer muss damit rechnen, dass auch optimal professionelles Verhalten seinerseits beim narzisstisch gestörten Schüler nicht als solches aufgeschlüsselt werden kann.145 Darin ist eine potentiell tragische Problematik angelegt. Nicht nur schlüsselt der narzisstisch gestörte Schüler das als positive Anerkennung gemeinte Lehrerhandeln in solchen Fällen falsch auf, er kann die Anerkennung dann auch nicht annehmen.146 Und nicht nur das. Er wird sie auch, offen oder verdeckt, abwehren, vielleicht sogar in ihrer Form aktiv bekämpfen. Den hiermit eröffneten Problemkomplex habe ich oben bereits zur Erläuterung der Probleme thematisiert, die durch die Beziehungsparadoxie bzw. die Ebene der kulturellen Haltung handlungspraktisch aufgeworfen werden. Der den Schüler empathisch anerkennende Lehrer muss diesen zugleich in dessen narzisstisch gestörtem Selbstbild kritisieren. Professionelle Pädagogik hat deshalb da, wo sie besonders gefordert und notwendig ist, häufig Züge eines kränkungsnahen Kampfes um die narzisstische Integrität aller Beteiligten. Festhalten möchte ich an dieser Stelle, dass sich narzisstische Störungen von Schülern, insbesondere da, wo narzisstische Wut ausagiert wird, nicht nur auf den Lehrer richten können, sondern – selbstverständlich – auch auf die Mitschüler. Es scheint, dass Lehrer in den letzten Jahren zunehmend ihre Schüler vor Aggressionen von Mitschülern schützen müssen. Je schlimmer die Konflikte unter den Schülern umso schwieriger wird ein systemtisch-empathisches Verhalten von Seiten der Lehrer – und umso not-wendiger.
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Anna Freud hat entsprechende Zusammenhänge im Kontext aggressiver Verwahrlosungserfahrungen unter dem Titel „Identifikation mit dem Aggressor“ aufgezeigt. Das von seinen häuslichen Erziehungsberechtigten willkürlich misshandelte Kind neigt dazu, sich selbst „die Schuld“ zu geben, um damit die Vorstellung liebevoller Pflegepersonen vor sich selbst zu retten und sich mit deren Aggression im Sinne eines Verständnisses von positiver Machtausübung zu identifizieren (Freud, A. 1936). 145 Die Übertragungsproblematik kann selbstverständlich von kulturellen Hintergründen her verschärft sein. Stammt der Schüler beispielsweise aus einer traditionalistisch-autoritären Kultur, in der etwa die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht grundsätzlich narzisstisch abgewertet wird, steuert dies seine Übertragungen mit. Die dort üblichen Vorstellungen von (männlicher) „Ehre“ haben mit den neuzeitlich verfassungsgemäßen der „Würde“, die noch jedem Erwachsenen, auch jedem Kind zukommt, im Prinzip nichts gemein. 146 Hierzu sind prinzipiell auch überschwängliche Formen der Idealisierung zu rechnen – die schnell und heftig in Ablehnung umschlagen können.
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Professionskompetenzen In diesen letztgenannten Gesichtspunkten lag der Fokus auf der Lehrer-SchülerInteraktion, in den folgenden Punkten bezieht er sich direkt auf den berufstätigen Lehrer selbst. Die Gesichtspunkte sind damit professionsstruktureller Art. Deren erster ist, dass der Lehrer nicht nur kognitiv informiert sein sollte über die narzisstische Problematik,147 sondern auch handelnd mit ihr umgehen können muss. Er benötigt die Herdersche „Einfühlung“, die ich oben als „Empathie“ mit Kohut näher zu bestimmen versucht habe. Sie muss allerdings aus einem bloß dyadischen und interaktiven Verständnis herausgelöst und in ein mehrdimensional interaktives und sachbezogenes, mit Kernberg gesagt, systemisches Verständnis aufgehoben werden. Empathie wurzelt in einem Vorschussvertrauen, das der Pädagoge dem Schüler auch dann verlässlich entgegen bringen kann, wenn dieser – etwa entwicklungsbedingt – Mängel in seinem Arbeitsverhalten und in seiner kulturellen Haltung aufweist. Da Empathie den gesunden Narzissmus stärken soll, hat sie eine grundsätzlich zukunftsoptimistische Dimension. Der zweite professionsstrukturelle Gesichtspunkt besteht in der Erkenntnis, dass der Lehrerberuf, je mehr professionelles Handeln darin gefordert ist umso mehr selbst narzisstisch kränkungsgefährdet ist. Die Brisanz dieses Gesichtspunktes wird schon im Blick auf die geforderte zukunftsoptimistisch angelegte Empathie greifbar. Entzieht, mechanisch gesagt, der Beruf dem Lehrer im Lauf der biographischen Entwicklung zu viel narzisstische Energie, kann er diese nicht mehr den Schülern zur Verfügung stellen, bevor sie ihm dann schleichend für sich selbst entschwindet. Dann wird er in dieser oder jener Form krank. Eine denkbare Konsequenz wäre es, bevorzugt narzisstisch gut gefestigte Persönlichkeiten zum Beruf zuzulassen, die andere und weitaus praktikablere, den Beruf so zu organisieren, dass Möglichkeiten der längerfristigen berufsbegleitenden Regulation des narzisstischen Gleichgewichts der Lehrer bereitgestellt würden.148 Klar ist, dass sich Fragen der narzisstischen Belastbarkeit erst im Zuge von realitätsnahen, längerfristig zu bewältigenden Praxisbedingungen beantworten lassen, zu denen fortgesetzte Prüfungssituationen mit ihren Theatereffekten gewiss nicht gezählt werden dürfen149 – Prognosemöglichkeiten unter Studien- und auch unter Referendariatsbedingungen sind also mehr als begrenzt.
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Sie müsste dann im hochschulischen Lehrangebot bearbeitet werden können. „Professionalität ist“ wie Ewald Terhart feststellt, „ein berufsbiographisches Entwicklungsproblem“ (Terhart 2003, 373, s. auch Dlugosch 2003). Daraus folgt für ihn zunächst, dass sich das Schwergewicht der Konzentration von der Lehrerausbildung auf die berufsbegleitende Lehrerweiterbildung verschiebt, aber auch, dass kollegiale Kooperation zunehmend wichtig wird (Terhart 1997). 149 Sie belasten kommunikativ einfühlsame Berufskandidaten ungleich schwerer als uneinfühlsame. 148
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Leicht einsehbar ist, dass die Berufseingangsphase unter narzissmustheoretischen Vorzeichen besonderer Unterstützung für die Berufsanfänger bedarf. Der dritte professionsstrukturelle Gesichtspunkt ist, dass die narzisstische Gefährdung des Lehrerhandelns Kränkungsangst bei den Betroffenen auslöst. Je größer die Angst umso eher wird sie zur Stabilisierung des Selbstwertgefühls abgewehrt. Der Lehrerberuf legt damit wie bereits dargelegt aufgrund seiner inneren Struktur Pseudo-Entparadoxierungen nahe, so wie Lehrer insgesamt der Verführung ausgesetzt sind, gesellschaftlich gängige vereinfachte Vorstellungen vom Lehrerberuf zu übernehmen.
Selbstreflexive pädagogische Theorie Bei den Möglichkeiten pädagogischer Praxisbewältigung spielt – vermittelt über das je individuelle Berufsselbstverständnis – pädagogische Theorie eine wichtige Rolle. Ihre Wichtigkeit wird dadurch, dass sie von einem erheblich hohen Teil der Praktiker notorisch bestritten zu werden pflegt, keineswegs geschmälert, im Gegenteil. Theorieferne Praxis kann kaum professionell sein. Aus dem bislang Entwickelten resultiert jedenfalls eine inhaltliche und eine formale Forderung an jede theoretische Pädagogik. Inhaltlich muss sie sich – in welcher konkreten Gestalt auch immer – mit den bildungsideell gegebenen Paradoxien auseinandersetzen. Nur so kann sie sich methodologisch mit der praktischen Pädagogik verbunden wissen. Formal muss sie interne Tendenzen kritisch kontrollieren, auf die narzisstische Problematik des praktischen Lehrerhandelns mit ihrerseits narzisstisch gefärbten unangemessenen Lösungsvorschlägen theoretisch-kompensativ überzureagieren. Ich habe im Verlauf meiner Darlegungen verschiedentlich angedeutet, anhand welcher Merkmale man entsprechend verständliche, aber auch untaugliche Vorschläge der pädagogischen Beraterliteratur identifizieren kann. Sie beginnen in aller Regel mit einem dezidierten oder impliziten Bekenntnis, der pädagogischen Praxis dienen zu wollen, wobei die beschworene „Praxis“ aber so entproblematisiert wird, dass deren paradoxienbedingte Hauptprobleme übergangen und zu relativ leicht handhabbaren Handlungsproblemen des Lehrers heruntergespielt werden. Während in der schulischen Wirklichkeit zunächst die möglichen biographisch mitgebrachten narzisstischen Störungen von Schülern, in zweiter Linie die möglichen biographisch mitgebrachten narzisstischen Störungen von Lehrern selbst, in dritter Linie die berufsbiographisch kontinuierlich erzeugten, narzisstischen Gefährdungen der Lehrer problematisch sind, pflegen in der entsprechenden Literatur ausschließlich Störungen im Verhalten von
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Schülern Beachtung zu finden: aber nur diejenigen, die durch deren Schulbiographie selbst hervorgerufen zu sein scheinen. Psychoanalytisch betrachtet, arbeitet die entsprechende Pädagogik mit einem (mehr oder weniger unauffällig) mobilisierten narzisstischen Größenwahn, mit dessen Hilfe sie alle pädagogisch relevanten Probleme erstens als schulisch erzeugt und zweitens als lösbare suggeriert. Der fachtypische Größenwahn wird unkenntlich gemacht, indem er als pädagogisch-selbstkritische Dienstbarkeit erscheint. Auch die Vorstellung, das „richtige“ Verhalten des Lehrers lasse sich als methodenkonformes entindividualisieren, enthält den Größenwahn in abgewehrter Form. Nicht die Personen der Pädagogen sind es dann, die alle Probleme lösen, sondern die mystifizierten Methoden selbst. Pädagogische Theorie ist demnach in nicht wenigen Gestalten in einem Abwehrzirkel befangen, in dem die Verleugnung narzisstischer Gefährdungen narzisstisch-größenwahnhaft überkompensiert, diese Bewegung aber in selbstkritischer Besserungsbereitschaft über die beabsichtigte oder nahe gelegte Anwendung angemessenerer Methoden unkenntlich gemacht wird. Dass sie damit der von ihr beschworenen Praxis auch dann, wenn Praktiker sie entsprechend fordern, etwa so nützt wie dies eine Betäubung bei einer chronischen Erkrankung tut, lässt sich von Kernberg her leicht deutlich machen. Für ihn wäre, wie ich oben referiert habe, die Stimmigkeit zwischen der tatsächlichen Aufgabe, dem aufgabenbezogenen Selbstverständnis der Zuständigen, dem diesbezüglichen Mandat des Supra-Systems und der praktischen Organisation der Aufgabe entscheidend für die Möglichkeiten, sie zu bewältigen. Die beiden letzteren Punkte zielen im Bereich der Pädagogik unmittelbar auf die Gesellschafts- und die Organisationsparadoxie: die nicht „lösbar“ sind und gerade darin bewältigt werden müssen. Wenn Lehrer im Verlauf ihres Studiums mit unangemessenen Vorstellungen ihrer zukünftigen Berufstätigkeit ausgestattet werden, ergeben sich daraus nicht nur mannigfache individuelle, sondern auch schulorganisationsbezogene Probleme. Wendet man Kernbergs Einsichten auf unser Schulsystem an, drohen Letzterem Entwicklungen, die er „paranoiagen“ nennt. Die organisationsinduzierte Veralltäglichung einer unrealistischen Einschätzung der eigenen beruflichpädagogischen Aufgabe hat dann ernstzunehmende Auswirkungen nicht nur für die kollektive Selbstdarstellung der Organisation, sie wirkt sich auch direkt psychisch labilisierend auf ihre Mitglieder bzw. Mitarbeiter aus. Kernberg hat seine Beratungserfahrungen in der Arbeit mit amerikanischen psychiatrischen Kliniken gesammelt. Sie sind deshalb nur mit Vorsicht auf hiesige schulische Verhältnisse übertragbar. Dennoch geben sie zu denken; immerhin hat er „paranoiagene“ Organisationen offenbar nicht als zu vernachlässigende Ausnahmen angetroffen. Neben dem Fehlen der erwähnten Stimmigkeit des 248
organisatorischen Selbst- und Fremdverständnisses mit einer angemessenen internen Leitungs- und Umsetzungsstruktur kann die Paranoiagenese auch durch eine inkompetente Leitung verursacht sein.150
Leitungsfunktion des Lehrers Dass Lehrer berufsbegleitend ihre narzisstische Alltagsproblematik müssen bearbeiten können, um Neigungen zur Pseudo-Entparadoxierung zu vermeiden, hat nach dem zuletzt Gesagten auch eine das organisatorische Selbstverständnis von Lehrerkollegien unmittelbar betreffende Relevanz. Kernbergs Kompetenzforderungen an Leiter sind für eine professionstheoretische Bestimmung des Schulleiterberufs von hohem Interesse, sie werfen aber auch, vermittelt über seine Beobachtungen zu Gruppenregressionen wichtige Hinweise auf ein professionelles Verständnis der Lehrertätigkeit ab. Je nachdem wie stark die Schüler eines Klassenverbandes narzisstische Störungen aufweisen, können Gruppenregressionen im Unterricht zum Normalfall werden. Dem Lehrer kommt dann eine entscheidende Funktion zur Aufrechterhaltung einer verlässlichen Ordnung mit vernünftigen Regeln zu. Das Kernbergsche Mehrebenen-Schema lässt sich leicht mit meinem Vorschlag der Unterscheidung von drei Ebenen des pädagogischen Handelns abgleichen. Es zeigt, dass differenziertes Mehr-Ebenen-Handeln auch in nichtpädagogischen Kontexten gefordert ist, es macht aber auch umgekehrt das alltägliche Lehrerhandeln als komplexe Leitungsanforderung verständlich. Eine andere Perspektive ergibt sich, wenn man Kohuts EmpathieVorstellungen auf Axel Honneths intersubjektivitätstheoretisches Anerkennungskonzept bezieht. Hier zeichnet sich für Lehrer zusätzlich die Notwendigkeit eines professionellen Mehr-Dimensionen-Handelns ab. Die Unterscheidung der drei Anerkennungsformen Fürsorge, Recht und leistungsbezogene Solidarität ist etwa folgendermaßen auf das Lehrerhandeln anzuwenden. Der Lehrer müsste, abstrakt und schematisch gesagt, jedem Schüler das Gefühl geben können, dass er ihm individuell und unabhängig von gezeigter Leistung als Mensch wichtig und wertvoll ist;151 der Lehrer müsste jedem Schüler erfahrbar machen, dass er allen Menschen, vielleicht zunächst: allen Heran150
Im Beratungskontext geht Kernberg methodisch immer davon aus, dass persönliche Defizite in der Leitung nicht ausschlaggebend für die Paranoiagenese sind, sondern die Unabgestimmtheiten von Aufgabe, Selbstverständnis und konkreter Arbeitsstruktur. Gravierende Fehler hier ließen auch psychisch gesunde und fähige Leiter regredieren. Erst wenn die entsprechenden Verhältnisse verbessert sind, wendet er sich gegebenenfalls den von der Leitung persönlich erzeugten Problemen zu. 151 Je jünger Schüler sind umso wichtiger ist es, dass der Lehrer ihnen eine für sie spürbare Sympathie entgegenbringt.
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wachsenden, das Recht zubilligt, in ihrer Menschenwürde respektiert zu werden – und dass er umgekehrt Entsprechendes auch altersangemessen von ihm erwartet; der Lehrer müsste die individuelle Leistung des Schülers wahrnehmen, sie auf dessen Leistungsmöglichkeiten beziehen können und als Bestandteil von Lernfortschritten der Lerngruppe erfahrbar machen. Optimal wäre, wenn er die je individuelle Leistung als integralen Bestandteil der Leistungsforschritte in der Gruppe und im Wert für deren Entwicklung erfahrbar machen könnte. Im Rückgriff auf zu unterstellende schulbiographische Erfahrungen von Inhaltevertretern, Schülerfreunden und Sich-selbst-Schützern lässt sich mit einem solchermaßen anerkennungstheoretisch differenzierten Empathie-Konzept genauer bestimmen, inwiefern Lehrer die drei Anerkennungsformen kurzschlüssig entdifferenzieren. Insbesondere gilt: Indem Inhaltevertreter dem Schüler, auch wenn er noch jung ist, lediglich dann eine individuelle Wertschätzung angedeihen lassen, wenn sie umstandslos auf seine gezeigte Leistung rekurrieren kann, wird nicht nur Leistungskonkurrenz frühzeitig eingeübt, es besteht auch die Gefahr, dass alle Schüler narzisstisch geschädigt werden, nicht nur die Leistungsschwachen: weil die Überidentifikation mit vorzeigbarer und evaluierbarer Leistung auch bei den Leistungsstärkeren eine narzisstische Verarmung bedeutet. Ein Selbstwertgefühl, das sich zu sehr an der eigenen Leistungsfähigkeit bemisst, bleibt fragil, weil es das Subjekt tendenziell in suchtartige Formen der Selbstbestätigung durch Leistung und deren Äquivalente treibt, die sich wiederum als Tendenz zur Kontrolle seiner Umwelt, vielleicht sogar der sozialen Mitwelt äußern wird. Leistung wird dann zur Sucht, in der das in ihr Gesuchte – ein ruhiges Selbstwertgefühl – niemals gefunden werden kann. Leistungsfixierung scheint eine sich unter den Bedingungen des aktuellen Selbstmodernisierungsmythos verbreitende Form der Individualisierung zu sein. Sie stellt prinzipiell eine narzisstische Störung dar, die sich in sozialer Perspektive als Empathiestörung artikuliert. Sie hat zudem eine Rückseite, insofern der Leistungsfixierung der Einen immer Formen frühzeitiger Entmutigung der Anderen korrespondieren. Wo die solidarisch-soziale Anerkennung durch Leistung im Honnethschen Sinne mit der Anerkennung durch Fürsorge frühzeitig kurzgeschlossen wird, kann sich keine individuelle Identität mit einem stabilen Selbstwertgefühl ausbilden. Das gilt für die Anti-Pädagogik der Schülerfreunde ebenso wie umgekehrt für die Leistungs-Pädagogik der Inhaltevertreter. Bei der letzteren verliert die leistungsbezogene Anerkennung ihren sozialen Sinn. Das hat Folgen auch für die universalistisch-rechtliche Anerkennung. Wo sich vereinzelte Einzelne ihr Selbstwertgefühl aus ihrem leistungsbeglaubigten Bessersein als andere holen, da müssen sie auch glauben, es zu verdienen. Die Anerkennung der „Würde“ 250
Anderer binden sie dann an seine vorzeigbaren Leistungen. Der Mangel an Gefühl für sich selbst wird psychisch abgesichert als Mitleidlosigkeit gegenüber solchen, die wenig auf den gesellschaftlich anerkannten Gebieten leisten – ganz gleich, wie viel Chancen sie biographisch-real dazu gehabt hätten.
Professionelle Selbstreflexion und Gesellschaftskritik Mit meinen Bemerkungen zu kollektiv-fachspezifischen, dabei strukturbedingten Tendenzen der Pädagogik und der praktisch wie theoretisch tätigen Pädagogen, die gegebene narzisstische Berufsproblematik – mit ihrerseits narzisstischen Mitteln – abzuwehren und dabei in verdeckte Selbstüberschätzungen zu verfallen, habe ich den Bereich der Individualpsychologie überschritten und eine sozialpsychologische Ausweitung vorgenommen. Lehrer müssen, wie gesagt, professionell empathisch sein. Kinder und Heranwachsende können in ihren berechtigten Eigenarten ohne empathiegeleitete Berücksichtigung ihrer narzisstischen Bedürfnisse nicht wirklich verstanden werden. Kinder optimal verstehen können, setzt beim Erwachsenen ein hinreichend hohes Maß an Erinnerung an das Kind voraus, das er selbst war. Wenn allerdings, wie ich oben dargelegt und im Anschluss an Kernberg einerseits, an Honneth andererseits noch unterdifferenziert habe, das Lehrerhandeln als professionelles Mehr-Ebenen- und Mehr-Dimensionen-Handeln verstanden werden muss, verschieben sich auch innerhalb der beiden Kohutschen Empathie-Schwerpunkte die Gewichte. Ich darf noch einmal an die MutterKleinkind-Situation erinnern, die ich oben im Anschluss an Kohut so aufgeschlüsselt habe, dass Empathie sowohl das einfühlungsintensive Verbundensein mit dem aktualen Affekt des Kindes als auch dessen antizipative Transformation in der Haltung ruhigen Gefasst-Bleibens einschließt. Was das professionelle Lehrer-Handeln betrifft, so kann es nur sehr bedingt den ersten Aspekt betreffen, der zweite ist der entscheidende. Er schließt allerdings die Fähigkeit ein, sich fallspezifisch-ausnahmshaft auch dem einzelnen Schüler zuzuwenden – in Abwägung der organisatorisch mitgesetzten Möglichkeiten des eigenen Lehrerhandelns. Vor allem aber muss der Lehrer den Mitgliedern einer ganzen Lerngruppe emotionale Sicherheit geben. Er muss sie spüren lassen, dass das, was er ihnen anbietet, für sie tatsächlich relevant ist, wenn auch vielleicht nicht aktuell interessant sein mag; und dass er sie kompetent unterstützen wird, bis sie es vielleicht selbst einsehen werden. Individuelle Empathiefähigkeit ist allerdings ohne kritisches Bewusstsein gegebenenfalls vorhandener Empathiemängel anderer Erwachsener oder Erwachsenengruppen, auch und gerade wenn diese die gesellschaftsöffentliche 251
Meinung bestimmen, nicht zu haben. Setzte man humane Verkehrsverhältnisse in einer gerechten demokratischen Gesellschaft voraus, dürfte man damit rechnen, dass empathische Fähigkeiten einen selbstverständlich-alltäglichen Nährboden in großen Bevölkerungsteilen finden. In einer stark konkurrenzorientierten, das heißt offen oder latent angstbestimmten Gesellschaft, werden narzisstische Störungen nicht nur gefördert, sie werden auch – wie Kohut am Beispiel des wissenschaftstypischen „Werkzeug-und-Methoden-Stolzes“ gezeigt hat – teilweise prämiert, wobei das Beispiel einseitiger Wissenschaftler noch ein vergleichsweise politisch harmloses sein könnte. Für ein Professionsverständnis des Lehrerberufs wirft eine Anwendung narzissmustheoretischer Gesichtspunkte auf mögliche gesellschaftliche Entwicklungen beträchtliche Folgeprobleme auf. Unter solchen Bedingungen sind sozialwissenschaftliche Befunde, wonach etwa 15% der Eltern mit der Erziehungsaufgabe überfordert seien, nicht nur erwartbar, sie täuschen auch durchaus über verdeckt pathogene, wenn auch anpassungserfolgreiche Erziehungspraktiken in größeren Bevölkerungsteilen eher hinweg. Eine Folgewirkung der aktuellen Entwicklungen habe ich bereits angedeutet. Unter offenen Konkurrenz- und latenten Angstbedingungen können narzisstische Störungen massenhaft werden, was ihre medial mitvermittelte „Normalisierung“ nicht hindert, eher schon fördert. Dass Menschen ihr Dasein unter Bedingungen eines harten Überlebenskampfes fristen, war in 200.000 Jahren Menschheitsgeschichte gewiss der Normalfall. Gegenwärtige Konstellationen unterscheiden sich aber von früheren in mindestens vier Hinsichten. Erstens sind harte Berufskonkurrenz und Existenzangst nicht mehr eigentlich historisch überlebensnotwendig, sondern verdanken sich ungelösten gesellschaftsinternen Entwicklungen, in denen wirtschaftliche Imperative die demokratischen Selbstregulierungsmöglichkeiten übersteigen und zu desavouieren beginnen. Zweitens ist die Situation welthistorisch neu, dass Mitglieder bestimmter zugangsprivilegierter Gesellschaftsschichten ohne nennenswerte Arbeit (etwa durch blanke Börsenspekulation) unerhörte Gewinne einstreichen können, während um sie herum Menschen massenhaft in „Neuer Armut“ versinken. Drittens haben Vertreter der älteren Generationen noch vor 30 Jahren eine weitaus gerechtere Gesellschaftsordnung erlebt, wodurch der Wachstumsmythos sich definitiv als Mythos desavouiert hat. Viertens können erfahrbare soziale Disparitäten zumindest im westlichen Raum durch fortschreitende Säkularisierungsprozesse zunehmend weniger durch religiöse Jenseitshoffnungen kompensierbar gedacht werden. Lehrer müssen häufiger mit Kindern rechnen, deren psychische Grundausstattung von den Elternhäusern her narzisstische Defizite aufweist. Auch nimmt die Zahl von Jugendlichen zu, die der Erwachsenengesellschaft, in die sie die Schule begleiten will, mit Misstrauen, teilweise mit Verachtung begegnen. Eine Differenzierung zwischen narzisstischen Defiziten und gesunden kritisch252
pubertären Abwehrhaltungen wird dann erschwert, und es werden sich vielfältige Mischformen entwickeln. Umgekehrt muss der praktisch arbeitende Lehrer schon wegen der Probleme drohender Arbeitslosigkeit damit rechnen, dass gesellschaftsöffentlich der Druck auf die Schule im Sinne von erhöhter Leistungsanforderung und Qualitätskontrolle zunimmt, während im alltäglichen Unterricht eher die Probleme der Förderung sozialer Grundhaltungen bei narzisstisch gestörten oder gesellschaftspolitisch opponierenden Schülern seine Arbeitskraft beanspruchen.152 Dies bedeutet, dass Lehrer, je schwieriger ihre alltägliche Arbeit wird, umso weniger mit öffentlicher Anerkennung rechnen dürfen. Während ihre realen Berufsprobleme auf der Ebene der sozialen Haltungen zunehmen, konzentriert sich die gesellschaftliche Öffentlichkeit auf vorzeigbare Leistungen. Es kommt dann zu kollektiven Verdrängungen, während die gesellschaftsöffentliche Kompensationsideologie sich der Schule zum Zweck projektiver Schuldzuweisung bedient. Entsprechende Tendenzen enthalten, mit Kernberg gesprochen, ein „paranoiagenes“ Potenzial, das Lehrer nicht unterschätzen sollten.153 Sie sollten allerdings die Problematik ihrer Profession auch nicht überschätzen. Denn mit ihren spezifischen Problemen nimmt sie auf ihre Weise teil an den Nöten, unter denen außerschulisch im Prinzip alle Mitglieder der aktuellen Gesellschaft leiden. Auch die Modernisierungsgewinner. Sie haben allerdings privilegierte Chancen, sich innere Verarmungen nicht eingestehen zu müssen.
Vorsichtige Vorschläge zum Umgang mit den Paradoxien Ich habe im Zuge meiner Darlegungen vorgeschlagen, das zentrale Professionskriterium des Lehrerberufs in der Bearbeitung dreier Bildungsparadoxien zu sehen. Meine folgenden Vorschläge beziehen sich auf sorgfältigere und umsichtigere Umgangsformen mit diesen drei Paradoxien. Jedwede Reformpädagogik 152 In Einstellungen wie der des studentischen Sich-selbst-Schützers könnte man bereits antizipativfrühzeitige Formen einer resignativen Opposition sehen. 153 Dietrich Benner diskutiert den Problemkontext anders als ich dies hier tue, wenn er von einer unvermeidlichen Negativität pädagogischer Erfahrung ausgeht. Dabei gelangt er zu der Forderung einer öffentlichen Lernkultur zur Unterstützung der innerpädagogischen: „Negative Erfahrungen gibt es nicht nur in pädagogischen Kontexten, sondern auch in allen Bereichen menschlichen Denkens und Handelns. Erst hieraus gewinnen sie ihre über pädagogische Lehr-Lern-Prozesse hinausweisende, allgemeine bildende Bedeutung. Es kommt daher darauf an, in modernen Gesellschaften eine öffentliche Lernkultur zu entwickeln, die dem Arrangement, der Thematisierung und der Auseinandersetzung mit negativen Erfahrungen im Erziehungssystem und in den Institutionen der Ausbildung von Pädagogen jene Bedeutung zuerkennt, die ihnen im Rahmen von Lern- und Bildungsprozessen zukommt.“ (Benner 2005, 15, Herv. v. mir) Ich kann ihm im Letzteren nur Recht geben.
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oder Pädagogikreform, in der die Bildungsparadoxien ignoriert werden, ist bildungsunangemessen und damit theoretisch unterkomplex. Mehr noch: Sie wird die praktischen Probleme unter der Hand zwangsläufig verstärken, deren Lösung sie pathetisch-aktivistisch in Angriff zu nehmen vermeint. Mit der Beziehungsparadoxie muss der Lehrer im Prinzip allein vor der Klasse umgehen können. Er benötigt dazu systemisch-empathische Fähigkeiten in dem Sinn, den ich oben erläutert habe. Es ist insbesondere diese professionelle Kompetenz, die der normale Lehrer auf Dauer nur dann individuell bewahren, vielleicht sogar erst entwickeln kann, wenn er sie durch Formen einer pädagogischen Kooperation berufsbegleitend unterstützen lässt. Von daher gewinnt der aufgeklärte Umgang mit der Organisationsparadoxie eine neuartige Bedeutung. Bevor ich darauf zurückkomme, will ich aber einen Gesichtspunkt festhalten, der exemplarisch im 1. Kapitel deutlicher werden sollte. Ich habe dort zu zeigen versucht, dass der Umgang mit der Beziehungsparadoxie im Pädagogikstudium zu einer organisationsmitbedingten Spaltung führen kann: wenn den Lehramtsstudenten zwar ein pädagogisch anspruchsvoller Umgang mit ihren zukünftigen Schülern nahe gelegt, die Studienphase selbst aber als nicht mehr bildungsrelevant betrachtet wird. Ich habe dies als „performatives“ Problem beschrieben: Der Hochschullehrer setzt, wenn er es missachtet, eine Kompetenz in Bildungsfragen beim Studenten voraus, die dieser mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit nicht nur aus mangelnder Berufserfahrung, sondern auch in der Folge möglicher problematischer biographischer Erfahrungen mit realer schulischer Bildung in einer Vielzahl von Einzelfällen noch kaum hat entwickeln können. Die Spaltung wirkt sich dann nicht nur auf Komplexitätsverluste der jeweils verfochtenen pädagogischen Theorie aus; sie besteht auch darin, dass Hochschullehrer das Feingefühl, das sie ihren Studenten für deren zukünftige Schüler ans Herz legen wollen, im Umgang mit diesen selbst vermissen lassen. Dass nicht wenige der Studenten sich dagegen verwahren, ihre Berufsvorverständnisse kritisch in Frage gestellt zu bekommen, ändert nichts daran, dass die Vermeidung solcher Reflexion einen Empathiefehler von hoher negativer Bildungsrelevanz darstellt. Zwar verwahren sich nach meiner Einschätzung diejenigen Studenten am ehesten gegen eine solche selbstkritische Rückfrage, die sie am nötigsten hätten. Als Lehrer werden sie jedoch mit Schüler konfrontiert werden, deren soziale Haltungen sie ihrerseits in Frage stellen müssen. Der ruhige und nicht automatisch auf Abwehr schaltende Umgang mit einem solchen Problem muss aber gelernt worden sein. Wie sollen Studenten die Relevanz der Beziehungsparadoxie verstehen, wenn sie diese nicht erfahren haben? Was dem Lehrer alltäglich praktisch zugemutet wird, sollte also vom Studenten soweit
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möglich theoretisch antizipiert worden sein.154 Das damit für die Studienphase aufgeworfene narzisstische Problem ist – sofern es bearbeitet werden kann – die berufsbiographisch entscheidende Brücke zwischen Lehrerausbildung und professionellem Lehrerhandeln, zwischen pädagogischer Praxis und pädagogischer Theorie. In diesem Zusammenhang ist für mich in den vergangenen Jahren der Strukturvergleich von Problemen des Pädagogik-Dozenten mit den Schwierigkeiten, denen Lehrer ausgesetzt sind, zunehmend aufschlussreicher erschienen, so dass ich ihn im 1. Kapitel zur Problemeinführung genutzt habe. Interessant waren für mich auch analoge Schwierigkeiten, von denen Schulleiter berichtet haben. Ein Vergleich verweist nicht nur auf beachtliche Parallelen, er kann auch ein allgemeineres Problem andeuten. Schulleiter berichten, pauschal gesagt, von einzelnen (und bisweilen nicht ganz wenigen) Kollegen, die sich im Kollegium wie unwillige Schüler verhalten, die sich aber verbitten, ihre Einstellungsdefizite in Frage gestellt zu sehen. Dass Schulleiter, gerade dann, wenn sie Schulentwicklung voranbringen wollen, mit der Virulenz der Beziehungsparadoxie gegenüber eigenen Kollegiumsmitgliedern konfrontiert sind, scheint mir ein ähnliches Pädagogen-Tabu zu sein wie die im Kapitel 1 beschriebenen Erfahrungen mit Lehramtskandidaten.155 Mein Vorschlag ist, dass in der Pädagogik insgesamt die Beziehungsparadoxie ernster genommen wird als bisher. Dies gilt insbesondere für die Ausbildungsphasen, im Hochschulstudium wie im Referendariat. Die kommunikativen Probleme, die durch die Paradoxie zwangsläufig aufgeworfen werden und direkt mit den narzisstischen Selbstwertfragen zusammenhängen, lassen sich nur um den Preis vermeiden, dass sie als unbegriffene an spätere Praxisfelder weitergereicht werden. Das gilt selbstverständlich insbesondere für das Referendariat, wo der zukünftige Lehrer organisationsbedingt zu seinen Ausbildern in eine zwischenzeitige schüleranaloge Abhängigkeit gerät, die in ihrer existenziellen Bedeutung nicht selten seine Erfahrungen mit einer dreizehnjährigen Schul- und einer mehrjährigen Studienzeit noch weit in den Schatten stellt.
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Benner (2005, 15) rechnet „unverzichtbar“ zur Ausbildung von Pädagogen, „dass sich angehende Erzieher und Lehrer mit den in ihren eigenen Lernprozessen vergessenen Irritationen auseinandersetzen und diese sowohl biographisch als auch theoriegeleitet aufarbeiten.“ Dies gilt sinngemäß auch für die berufsbegleitende Weiterbildung. 155 Ein ehrenamtlicher Projektmitarbeiter, Norbert Rode, der selbst in der Schulleitung seines Gymnasiums verantwortlich tätig ist, berichtete in diesem Zusammenhang von einer durchaus pädagogisch zu nennenden Wirkung der Schulinspektion auf beachtlich große Teile des Kollegiums, die sich über die behördlichen Auflagen zur Unterrichtsverbesserung, die den Schülern zugute kommen, weit weniger leicht hinweggesetzt hätten als über jahrlange Initiativen von Seiten der Schulleitung. Allerdings gibt diese Erfahrung in mehrfacher Hinsicht zu denken.
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Wo die Pädagogik sich ihren eigenen Sinn nicht selbstbewusster geben kann, wird dann im Gegenzug die gesellschaftliche Öffentlichkeit eine sich so nennende Bildungspolitik bevorzugen, in der auf brachiale Weise in die pädagogischen Sprach- und Wahrnehmungstabus eingegriffen und für pädagogische Reformen von außen gesorgt wird. Machbarkeitsorientierte, utilitaristische und bildungsäußerliche Evaluationen und ihre Ergebnisse werden dann ersetzen sollen, was in der Pädagogik selbst versäumt wurde. Mit der Gesellschaftsparadoxie muss der Lehrer im Prinzip so umgehen wie alle mündigen Erwachsenen in einer demokratischen Gesellschaft mit politischen oder sozialen Problemen umgehen müssen. Seinen Mitwirkungsmöglichkeiten sind hier die allgemein gültigen Grenzen gesetzt. Dies ist allerdings kein Grund, sich mit den gesellschaftlichen Veränderungsprozessen und ihren direkten sowie zumeist indirekten Folgen für das Bildungssystem nicht zu beschäftigen.156 Die Emphase, mit der zahlreiche Lehrer und die meisten administrativ tätigen Bildungsreformer nach den „richtigen Methoden“ für Unterricht und Schulentwicklung fahnden, ohne noch nach einem tieferen gesellschaftlichen Sinn außerhalb des „harten internationalen Wertbewerbs“ zu fragen, erscheint mir als Abwehr einer Angst, die tiefgründig sein muss. Welchen Raum ich den entsprechenden Fragen im Rahmen eines pädagogischen Basiscurriculums einräumen würde, habe ich durch die vorliegende Studie deutlich zu machen gesucht. Die Organisationsparadoxie bewegt sich „zwischen“ der Beziehungs- und der Gesellschaftsparadoxie. Ihren bildungsphilosophischen Sinn bezieht sie zunächst von der ersteren, weil Bildung zwar für alle Heranwachsenden obligatorisch organisiert werden muss, als interpersonales Begegnungsgeschehen aber nicht organisiert werden kann. Die konkrete Einrichtung und Ausgestaltung des Schulsystems einschließlich der Lehrerausbildung hängt hingegen davon ab, in welcher Gestalt sich die Gesellschaftsparadoxie öffentlich darstellt und wie das Bildungsmandat an der Schule definiert und über die entsprechenden bildungspolitischen Maßnahmen bis in die Gestalt des Schulsystems und seine Alimentierung hinein praktisch umgesetzt wird. Dadurch, dass die jeweilige Formation des Schulsystems entsprechend vielfältige und unterschiedliche organisatorische Ebenen und Einflussgrößen umfasst, weist die Gestalt der Paradoxie zumindest in einigen Hinsichten ernsthafte – und, wie ich gleich zu zeigen versuche, professionell entscheidende – Mitwirkungsmöglichkeiten der Lehrer selbst auf. Meine vorangegangenen Bemerkungen, wonach Hochschullehrer und Referendarsausbilder die Beziehungsparadoxie kommunikativ und für die Lehramtskandidaten erfahrbar bearbeiten müssen, beziehen sich auf einen entsprechend reflektierten Umgang mit der Organisationsparadoxie im jeweiligen organisati156
Die Monatszeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik“ (Berlin, Bonn) sollte noch in jedem Lehrerkollegium zur allgemeinen Einsichtnahme ausliegen.
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onsspezifischen Rahmen. Das setzt wiederum Formen der kollegialen Kooperation unter den Ausbildern voraus. Analoges gilt für Lehrer im Kontext ihres jeweiligen Kollegiums. Das entscheidende Kriterium für eine Mitgestaltung bei der Bewältigung der Organisationsparadoxie ist, ob der Organisationscharakter des betreffenden Gremiums durch Kooperationen ausgestaltet und dadurch gewissermaßen transzendiert werden kann. Damit sind dann nicht mehr bloß organisationsbedingte oder bezogene Absprachen gemeint, sondern es geht um eine Zusammenarbeit, die Perspektiven einer ernsthaften selbstreflexiven Professionalitätsentwicklung der beteiligten Lehrer, Referendarsausbilder oder Hochschullehrer eröffnet. Nimmt man die vielfältige Bedeutung des narzisstischen Faktors im Lehrerhandeln ernst, dann müssen Weiterbildungsangebote organisiert werden, die auf die konkreten Berufsprobleme eng bezogen sind, eine persönliche Mitwirkung der Adressaten eröffnen und von diesen kooperativ mitgestaltet werden können müssen. Abschließen möchte ich meine Vorschläge durch zwei Anmerkungen. Jedwede organisatorische Verbesserung des Schulsystems, der Pädagogenausbildung oder der Lehrerweiterbildung mitsamt Schulentwicklung wäre zunächst eine organisatorische: Sie entkäme nicht der Organisationsparadoxie. Der Umgang mit ihr müsste stets kooperativ mitgelernt werden, unter performativer Beachtung der Beziehungsparadoxie und mit Blick auf die Gesellschaftsparadoxie. Die zweite Anmerkung ist, dass isolierte Reformvorschläge, die der Vernetzung des Schulsystems in gesamtgesellschaftliche Kontexte nicht gerecht werden, immer auch das Bildungsproblem verfehlen. Sie sind deshalb strukturbedingt regelmäßig technizistisch verkürzt und als solche in narzissmustheoretischer Hinsicht mehr oder weniger verdeckt beides gleichzeitig: größenwahnhaft und naiv. Sollten sie zu gelingen scheinen, dann nur um den Preis einer weiteren Aufzehrung ihrer bildungsideellen Grundlagen: die der Glaubwürdigkeit der Demokratie unabsehbaren weiteren Schaden zufügen müsste. Ohne die Entwicklung einer außerpädagogischen „öffentlichen Lernkultur“, wie Dietrich Benner sie in pädagogischer Anwendung von Vorstellungen Hannah Arendts fordert, kann es unter posttraditional-demokratischen Gesellschaftsbedingungen auf Dauer keine anspruchsvolle innerpädagogische geben. Allerdings gilt die Zielsetzung auch umgekehrt. Ich habe in der hiermit zu Ende gehenden Studie die Gründe verstehbar zu machen versucht, warum Lehrer sich traditionell so schwer tun, ein angemessenes berufliches Selbstverständnis zu entwickeln. Ich bin weit von marxistischen Illusionen entfernt, dass gesellschaftliche Widersprüche quasi-natürlich zur Bewusstheit bei den Bevölkerungsgruppen drängten, die am meisten darunter zu leiden haben. Leider dürfen wir uns nicht auf Hölderlins Hoffnung verlassen, wo Gefahr sei, wachse das Rettende auch. 257
Dennoch: Wer sollte die Entwicklung einer gesellschaftsöffentlichen Lernkultur anstoßen, wenn nicht Lehrer? Wer sollte dies im Blick auf sich längst abzeichnende Fehlentwicklungen bei vielen der ihnen anvertrauten Schüler besser begründen können als sie? Wer könnte neuerdings die Öffentlichkeit authentischer als sie informieren über den Widersinn einer Anpassung der Schule an Marktimperative, wenn nicht sie? Das eröffnet ein gegenwärtig noch weitgehend unbeschrittenes neues Arbeitsfeld. Reformpädagogik ist heute noch dringender theoretisch nötig als wir es vor dreißig Jahren ahnen konnten. Sie allein kann Chancen einer professionellen praktischen Lehrerarbeit eröffnen und, wo sie genutzt werden, angemessen kritisch begleiten.
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