Atlan ‐ Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 702 Das neue Konzil
Krieger für die Götter von Harvey Patton
Das Tre...
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Atlan ‐ Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 702 Das neue Konzil
Krieger für die Götter von Harvey Patton
Das Treffen der Nomaden
Die überhastete Flucht des »Erleuchteten«, des mysteriösen Herrschers der Galaxis Alkordoom, bringt Atlans Wirken in jenem Bereich des Universums zu einem abrupten Ende. Auf Terra schreibt man gerade die Jahreswende 3818/19, als der Arkonide, eben noch dem sicheren Tode nahe, sich nach einer plötzlichen Ortsversetzung in einer völlig unbekannten Umgebung wiederfindet, wo unseren Helden alsbald neue, ebenso gefährliche Abenteuer erwarten wie etwa in der Sonnensteppe von Alkordoom. Atlans neue Umgebung, das ist die Galaxis Manam‐Turu. Und das Fahrzeug, das dem Arkoniden die Möglichkeit bietet, die fremde Sterneninsel zu bereisen, um die Spur des Erleuchteten oder des Juwels, seines alten Gegners, wieder aufzunehmen, ist ein technisch hochwertiges Raumschiff, das Atlan auf den Namen STERNSCHNUPPE tauft. Das neue Raumschiff sorgt für manche Überraschung – ebenso wie Chipol, der junge Daila, der Atlan erst nach dem Leben trachtet und dann zum treuen Gefährten des Arkoniden wird. Die Daten des Psi‐Spürers der STERNSCHNUPPE bringen Atlan dazu, den Planeten Cairon anzufliegen. In der Maske eines Händlers begibt er sich unter die Eingeborenen dieser Welt – und er erlebt die Rekrutierung der KRIEGER FÜR DIE GÖTTER …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide trifft auf die Nomaden von Cairon. Chipol ‐ Atlans junger Begleiter. Keldarol ‐ Ein betrügerischer Händler von Xanthoron. Kamuk ‐ Häuptling der Deombarer. Demitor ‐ Häuptlingssohn der Yanthurer.
1. Irgendwo schrie laut und durchdringend ein Mandalon, und dieses Geräusch weckte Keldarol. Er gähnte, .drehte sich im Bett herum und wollte das Mädchen umfassen, das neben ihm lag, aber dann fuhr er plötzlich hoch. Durch das kleine Fenster drang bereits das erste Morgenlicht herein – er mußte schleunigst fort! Hastig schlug er die Decke zurück, griff nach seinen Kleidern und zog sich an. Nun erwachte auch Veldara und sah ihn vorwurfsvoll an. »Willst du wirklich schon jetzt gehen? Etwas kannst du doch wohl noch bleiben, und das wird dir bestimmt nicht leid tun …« »Ich will nicht, ich muß!« unterbrach sie der Mann. »Somara wird in spätestens zehn Merg in meinem Haus erscheinen. Und wenn sie mich dann nicht dort vorfindet, gibt es den größten Krach. Ich komme wieder, sobald es sich machen läßt.« Er griff in die Tasche, holte zwei Jaculrun‐Nüsse hervor und warf sie auf die Bettdecke. Dann eilte er hinaus zum Hintereingang des Hauses, steckte vorsichtig den Kopf aus der Tür und fand die schmale Gasse leer. Er rannte sie entlang, bog um mehrere Ecken und erreichte sein Haus ebenfalls von hinten her. Keldarol war ein stattlicher Mann im besten Alter, mit gewinnenden Gesichtszügen und dichtem braunem Haar. Unter seinem linken Ohrläppchen baumelte eine kostbare Perle und bezeigte, daß er ein wohlhabender Mann war. Woher sein Reichtum
stammte, stand freilich auf einem anderen Blatt. Er war Viehhändler in der Stadt Xanthoron auf Cairon, in seinen Ställen standen stets mehrere Dutzend Xarrhis und Mandali. Erstere waren die gebräuchlichen Zugtiere auf dieser Welt, zottige, ponygroße Geschöpfe mit scheckigem Fell und einer spannenlangen Rüsselnase. Sie waren gutmütig und genügsam, doch ihr Fleisch wurde nur in Notzeiten verzehrt. Um so begehrter war dafür das der Mandali, einer straußenähnlichen Art von Laufvögeln. Ihre bunten Federn dienten vielen Frauen als Schmuck für Kleidung und Haar, aus ihrer Haut wurde feines weiches Leder für Stiefel und Wämser hergestellt. Keldarol hatte sich ganz auf den Handel mit diesen beiden Arten eingestellt, doch die Nachfrage überstieg stets den Bedarf, die Zuchtställe in der Stadt konnten ihn nie decken. Doch das bereitete dem Viehhändler längst keine Sorgen mehr. In der Wildnis außerhalb der Stadt gab es genügend wilde Exemplare beider Gattungen. Die wilden Xarrhis waren jedoch bockig und aufsässig. Ähnliches galt auch für die Mandali. Keldarol hatte Kontakt zu einigen Nomadensippen, die sich darauf verstanden, diese Mängel für einige Zeit zu überspielen. Sie kannten bestimmte Kräuter, deren Genuß den wildesten Xarrhi fast lammfromm machte und Mandalonfleisch und ‐leder aufschwemmte, so daß es von dem zahmer Tiere kaum zu unterscheiden war. Letzteres spielte keine große Rolle, denn die Tiere wurden bald nach dem Verkauf geschlachtet und verzehrt, und das Leder blieb noch für längere Zeit geschmeidig. Anders war es dagegen mit den Zugtieren. Ein wildes Mandalon erschien nur so lange als zahm, wie der Stoff aus den Futterkräutern in ihnen wirkte. Das dauerte im allgemeinen zehn Tage, dann erwachten sie aus der künstlichen Lethargie und bereiteten ihren Besitzern nichts als Ärger. Doch darum scherte sich der gerissene Keldarol in keiner Weise. Er hatte einige Torwächter bestochen, sie öffneten nachts heimlich
die Pforten der Stadt. Die Nomaden brachten die Tiere, er entlohnte sie mit billigem Schund und trieb das Vieh auf Schleichwegen in seine Ställe. War es erst einmal dort, fragte niemand mehr, woher es gekommen war, der Gauner konnte den üblichen Preis verlangen. Natürlich sorgte er dafür, das Angebot relativ niedrig zu halten, um sich nicht selbst um den hohen Gewinn zu bringen. Die Nomaden lieferten ihm stets auch einen gewissen Vorrat anʹ »Zähmkraut« mit, das er in gewissen Abständen an die Xarrhis verfüttern mußte. Vor allem natürlich direkt vor den Markttagen. Was danach geschah, ging ihn nichts mehr an, wenigstens seiner Meinung nach. Ohne Beweis keine Anklage, und Keldarol fühlte sich vollkommen sicher. Eben war ein neuer Markttag angebrochen, jetzt galt es, die Tiere noch einmal mit dem bewußten Kraut zu füttern, ehe sie hinausgetrieben wurden. Das besorgte er stets zusammen mit seiner Geliebten Somara, die seine einzige Mitwisserin war, schon seit fast acht Jahren. Doch acht Jahre waren eine lange Zeit, Somara war etwas älter als er und wurde immer rundlicher. Zu rundlich für Keldarols Geschmack, er bevorzugte schlankere Frauen, und in Veldara hatte er den passenden Ersatz gefunden. Somara wohnte nicht bei ihm, sondern im Haus ihrer Familie, und er war potent genug, sie nebenbei immer noch zufriedenzustellen. Er mußte nur dafür sorgen, daß er morgens rechtzeitig wieder zu Hause war, wenn sie bei ihm erschien, und das hatte er bis jetzt immer noch geschafft. So auch an diesem Morgen – dachte er … Er hatte sich von seinem schnellen Lauf erholt, setzte sich wieder in Bewegung, um seinen Schlafraum aufzusuchen. Er grinste kurz und öffnete die Tür. Doch schon im nächsten Moment erstarrte sein Grinsen zu einer Grimasse – Somara stand vor ihm. »So ist das also!« stellte sie nüchtern fest. »Mein Herr und Gebieter braucht mich nur tagsüber für seine dunklen Geschäfte, die Nächte verbringt er in anderen Betten … Ich habe das schon lange geahnt,
Keldarol, aber jetzt habe ich dich endlich ertappt!« * Sie sah ihn triumphierend an, aber Keldarol faßte sich sehr schnell wieder. »Du tust mir unrecht, Weib. Ja, ich war unterwegs, allerdings nur rein geschäftlich. Spät am Abend rief mich ein Bote zum Osttor, ein Verbindungsmann der Nomaden wollte mich sprechen, um mir neue Tiere anzubieten. Er kam jedoch erst weit nach Mitternacht, also konnte ich gar nicht früher zurück sein.« In Somaras Augen blitzte es unheilverkündend auf. »So, du warst also am Osttor, fast die ganze Nacht? Nur seltsam, daß dich dort niemand gesehen hat – die Wächter wußten von nichts, und das Tor ist seit dem Abend geschlossen geblieben! Das weiß ich sehr genau, weil ich selbst dort gewesen bin.« Keldarol zuckte zusammen, gab sich aber noch nicht geschlagen. »Das war schließlich ein geheimes Treffen, und deshalb …«, begann er, doch weiter kam er nicht. »Stimmt, ein sehr geheimes Treffen«, fauchte Somara ihn an, »und zwar mit Veldara, dem liederlichen Flittchen! Ich hatte dich und sie schon lange im Verdacht, und so bin ich vom Tor aus direkt zu ihrem Haus gegangen. Ich habe unter ihrem Fenster gestanden und euch beiden zugehört – willst du ein paar Einzelheiten hören?« Das wollte Keldarol nicht, er wußte auch so, daß sein Spiel verloren war. Er senkte den Kopf und gab sich reumütig. »Gut, ich gebe es zu, aber was ist schon dabei? Ein Mann wie ich braucht eben zuweilen etwas Abwechslung, versteh das doch! Es wird aber bestimmt nicht wieder vorkommen. Ich verspreche dir hoch und heilig …« »Spar dir alle schönen Worte!« kam es eisig zurück. »Dir ist nichts heilig. Du bist ein Betrüger und wirst es immer bleiben, und solange
du nur andere übers Ohr gehauen hast, war es mir egal. Daß du nun auch mich hintergangen hast, die dir immer treu gewesen ist und schwer für dich gearbeitet hat, war zuviel, und es soll dir noch sehr leid tun! Ich gehe jetzt und komme nie mehr wieder.« Sie riß sich die Perlenkette vom Hals, das einzige Geschenk, das sie je von ihm bekommen hatte, und schleuderte sie vor seine Füße. Dann rauschte sie wortlos hinaus. Damit war das Thema Somara für Keldarol vorerst erledigt, jetzt gab es genug anderes zu tun. Der Markttag war angebrochen, in spätestens zwei Wilst mußte er seine Xarrhis und Mandali zum Handelsplatz getrieben haben. Dort begann dann das große Feilschen, und dies war in Xanthoron eine besonders komplizierte Angelegenheit. Natürlich gab es gewisse Wertmaßstäbe, und so funktionierte das System auch ganz gut, wenn auch manchmal um drei Ecken herum. Es konnte geschehen, daß ein Fruchthändler für sein Obst ein Dutzend Stiefel aus Mandalonleder bekam, für die er eigentlich gar keine Verwendung hatte. Nun war es an ihm, sie wiederum anzubieten und darauf zu warten, daß jemand kam, der eine Ware besaß, die er brauchen konnte. Erst wenn es gar nicht mehr anders ging, wurden Jaculrun‐Nüsse zur Abgeltung verwendet. Keldaron nahm stets nur die Nüsse als Entgelt für seine Tiere. Er konnte das tun, weil es auf dem Markt nie genug davon gab, und trotz seines schlechten Rufs wurde er stets alle Mandali und Xarrhis los. Er war schlau genug, jeweils zur Hälfte zahme und wilde anzubieten, und so kam er immer wieder gut davon. An diesem Morgen war es jedoch anders. In den Zuchtställen von Xanthoron war verdorbenes Futter verwendet worden – er selbst hatte es auf Umwegen dorthin lanciert. Nun waren fast alle Tiere dort krank und konnten nicht auf den Markt gebracht werden. Er würde also praktisch der einzige Anbieter sein, konnte mehr verlangen als sonst und mit einem Schlag alle Exemplare los werden, die ihm die Nomaden vor einigen
Tagen gebracht hatten! Bei diesem erfreulichen Gedanken besserte sich seine Laune sehr bald wieder. Natürlich fehlte ihm Somara, sie hatte sonst immer die Fütterung der Mandali und Xarrhis besorgt, aber es mußte eben auch einmal ohne sie gehen. Keldarol schlang eilig einige Bissen Brot und kalten Braten in sich hinein und begab sich dann in den nebenan gelegenen Stall. Natürlich waren die Tiere bereits hungrig, sie scharrten mit den Füßen, wieherten und schrien schrill, aber dem war bald abzuhelfen. Der betrügerische Händler ergriff eine Futtergabel, begab sich in den Nebenraum, in dem das gedörrte »Zähmkraut« lagerte, und blieb dann wie gelähmt stehen. Der Raum war vollkommen leer – nicht einmal ein winziges Bündel des Krautes befand sich noch darin … Das hat Somara getan! dachte Keldarol entsetzt. »Es soll dir noch sehr leid tun!« hatte sie gesagt, und jetzt wußte er auch, wie das gemeint gewesen war. Sein Seitensprung hatte sie weit schwerer getroffen, als er gedacht hatte, und nun hatte sie sich auf ganz besondere Weise dafür gerächt. Sie wußte sehr genau, daß die ungezähmten Tiere sehr bald wieder zur Wildheit erwachen mußten, wenn sie nicht das richtige Futter bekamen – und eben das hatte sie weggeschafft! Was sollte oder konnte er jetzt tun? Keldarol dachte angestrengt nach und faßte dann den einzigen Entschluß, der in dieser prekären Lage noch angebracht war. Noch wirkte das Kraut, das die Nomaden den Tieren draußen vor der Übergabe an ihn verabfolgt hatten. Vermutlich aber nur noch für sehr kurze Zeit, höchstens für einen oder zwei Tage. Danach würde alle Welt erkennen, daß er ein Betrüger war, seine alten Ausreden griffen dann nicht mehr. Damit waren seine Tage in Xanthoron gezählt, er mußte die Stadt so schnell wie möglich verlassen. Doch zuvor wollte er noch seine Tiere auf den Markt bringen und den höchsten Erlös an Jaculrun‐
Nüssen erzielen, der ihm je vergönnt gewesen war. Zusammen mit den früheren Gewinnen ergab das eine beträchtliche Menge, damit konnte er in einer anderen Stadt neu beginnen und eine gute Rolle spielen! Diese Gedanken beflügelten ihn, er wurde wieder aktiv und warf den Tieren das normale Futter vor. Sie nahmen es an, wurden wieder ruhig, und Keldarol grinste zufrieden vor sich hin. Eine Weile später erschienen die jungen Männer, die als Viehtreiber für ihn fungierten, legten den Tieren die Führzügel an und dirigierten sie hinaus. Keldarol folgte ihnen, so gemessen wie immer, bis zu dem Platz auf dem Markt, der für ihn reserviert war. Dort bereitete er sich darauf vor, potentielle Kunden zu schröpfen, aber dazu kam es nicht mehr. Plötzlich marschierte der Marktaufseher zielstrebig auf ihn zu, von einem halben Dutzend seiner Büttel begleitet. Ihnenʹfolgte, mit einem gehässigen Lächeln auf ihrem runden Gesicht, seine bisherige Geliebte Somara, und Keldarol begriff sofort. »Was wollt ihr von mir? Ich habe doch nichts verbrochen«, sagte er, aber der Aufseher grinste nur amüsiert. »Das sagen alle, mit denen ich es zu tun bekomme, Keldarol. Manche kommen auch damit durch, weil sie wirklich unschuldig sind, aber dazu gehörst du ganz bestimmt nicht. Bisher mußten viele Klagen gegen dich niedergeschlagen werden, weil es keine Beweise gab, aber diesmal sieht es ganz anders aus! Somara hat freiwillig vor dem Rat der Stadtoberen gegen dich ausgesagt und gestanden, daß du sie dazu verleitet hast, an deinen Betrügereien teilzunehmen. Sie hat uns auch das dabei verwendete Kraut gebracht.« Keldarol wollte protestieren und alles ableugnen, doch an diesem Morgen war das Schicksal eindeutig gegen ihm. Plötzlich begannen einige der Xarrhis aus seinem Stall unruhig zu werden, keilten wild aus und rissen sich los. Dann galoppierten sie davon, rissen dabei mehrere Marktstände um, und das Grinsen des Aufsehers wurde
noch um einiges breiter. »Mach deinen Mund wieder zu, jetzt rettet dich auch die beste Lüge nicht mehr, Freundchen. Du bist festgenommen und wirst vor die Stadtoberen gebracht.« * Das Verfahren war nur kurz. Somara war anwesend und packte nun alles aus, was sie über ihren untreuen Liebhaber wußte, und das war nicht wenig. Es stellte sich heraus, daß Keldarol auch früher schon betrogen und gestohlen hatte, als er noch Untergebener bei anderen Marktbeschickern gewesen war, und mit dem ergaunerten Gut hatte er den Grundstock für seinen Viehhandel gelegt. Die Oberen berieten sich nur kurz, und dann verkündete der Älteste das Urteil: »Keldarol, du hast gegen viele unserer Gesetze verstoßen und dich damit selbst außerhalb der Stadtgemeinschaft gestellt. Also verfügen wir die Beschlagnahme deines gesamten Besitztums! Es wird dazu verwendet werden, jene zu entschädigen, die du bestohlen oder betrogen hast. Du selbst bist es nicht mehr wert, ein Bürger von Xanthoron zu sein, deshalb wird deine sofortige Ausstoßung verfügt!« Die Büttel führten ihn hinaus, und ein gehässiger Blick Somaras gab ihm den Rest. Nun war mit einem Schlag alles verloren … nein, vielleicht doch nicht! Ich muß erreichen, daß man mich noch einmal mein Haus betreten läßt, dachte er. Dann kann ich meine kostbaren Nüsse noch retten. Mit diesem Kapital kann ich in einer anderen Stadt neu beginnen, wo mich niemand kennt. »Was soll nun mit mir geschehen?« wandte er sich betont kleinlaut an den Marktaufseher, und dieser hob die Schultern. »Wenn es nach mir ginge, würdest du ausgepeitscht und danach lebenslang als Unratsammler eingesetzt, aber die Oberen wollen es anders. Du wirst so behandelt wie andere Übeltäter auch, obwohl
du soviel Milde bestimmt nicht verdient hast.« »Ich sehe mein Unrecht ein und bin den Oberen dankbar«, erklärte Keldarol scheinheilig. »Doch ich bin nur leicht bekleidet, wie du siehst, so kann ich unmöglich ins Unland draußen reisen. Gestatte mir bitte noch einen kurzen Besuch in meinem Haus, damit ich besser geeignete Gewänder anlegen kann, ja?« Der Aufseher lachte schallend auf. »Ich weiß sehr genau, was du dort in Wirklichkeit tun willst, schon viele andere haben vor dir das gleiche versucht! Nein, wir bringen dich jetzt direkt zum öffentlichen Stall, und dort wirst du alles bekommen, was dir zusteht.« Keldarols Schultern fielen herab, und nun ergab er sich endgültig in sein Schicksal. Zwanzig Merg später waren sie am Ziel, und nun ging alles sehr schnell. Selbst ein Verstoßener sollte »draußen« nicht vollkommen mittellos dastehen. Das Gesetz gestand auch ihm noch ein gewisses Minimum an Ausrüstung zu, mit deren Hilfe er seinen Unterhalt bestreiten konnte. Keldarol war Händler gewesen, und das sollte er auch weiterhin sein, wenn auch in einer bedeutend niedrigeren Art. Ihm wurde ein plumper zweirädriger Karren zugewiesen, auf dessen Ladefläche Lebensmittel minderer Güte für etwa zehn Tage lagen. Daneben befanden sich einige Packen mit Handelsware von ähnlicher Art, so bemessen, daß mit ihnen kaum mehr als der nackte Unterhalt zu verdienen war. Außerdem erhielt er noch einen Umhang aus grobem Gewebe mit Kapuze zum Schutz gegen Kälte und Regen. »Wenn es nach mir ginge, müßtest du den Karren auch noch selbst ziehen«, eröffnete ihm der Aufseher mitleidslos. »Leider schreibt das Gesetz aber vor, daß du auch noch zwei Xarrhis als Zugtiere bekommen mußt. Ich würde dir dafür solche gönnen, wie du sie vorhin auf den Markt gebracht hast. Doch du wirst auch so nicht viel Freude an dem Gespann haben, das versichere ich dir.« Er behielt recht, das erkannte Keldarol als Fachmann auf den
ersten Blick. Man hatte ihm zwei alte Klepper gegeben, die eigentlich schon reif für den Abdecker waren. Mit einem unterdrückten Fluch bestieg er den Lenkersitz, der Marktaufseher grinste ihn noch einmal höhnisch an, und dann gaben ihm zwei Büttel das Geleit zum Nordtor. Die Straße dorthin war von Frauen und Halbwüchsigen gesäumt, die ihn verspotteten. Keldarol zog den Kopf in die Schultern und schwor innerlich allen Xanthoronern bittere Rache. Das Tor war passiert, es ging bergab und die Tiere trabten zügig dahin. Keldarol kannte das Gelände, er blieb noch einige Meilen auf der Straße nach Norden, bog dann aber nach links in einen schmalen, wenig benutzten und steinigen Pfad ab. Der Karren schlug und rumpelte, die altersschwachen Xarrhis keuchten bald und kamen nur noch im Schritt voran, doch das machte ihm nichts aus. Er war auf dem Weg zu dem Nomadenstamm, mit dem er seit Jahren seine betrügerischen Geschäfte betrieben hatte. Damit war es jetzt zwar vorbei, aber er konnte auf Hilfe von dieser Seite rechnen. Bis zum frühen Nachmittag hielten die Zugtiere durch, dann mußte er die erste Rast einlegen. Ein schmaler Bach schlängelte sich durch das Gelände, an seinen Ufern wuchs fettes Gras; Keldarol schirrte die Xarrhis ab, führte sie ans Wasser und ließ sie dann weiden. Er selbst mußte sich mit altem Brot, zähem Dörrfleisch und einer warmen Brühe aus dem Wasserschlauch begnügen und dachte mit Wehmut an sein bisheriges gutes Leben zurück. Seine Überlegungen brachten ihn nicht weiter, er nickte schließlich auf seinem Sitz ein und erwachte erst wieder, als dann lautes Hufgetrappel an seine Ohren drang. Fünf Nomaden kamen auf ihn zu, sie ritten auf Vleehs, schnellen kamelähnlichen Tieren mit zwei spitzen Hörnern auf dem schmalen Kopf und wolligem braunem Fell. Ihnen voran ritt Nandee, jener Mann, der Keldarol die meisten Tiere und das Zähmkraut geliefert hatte, und bei seinem Anblick hellte sich die Miene des Verstoßenen
auf. »Ich grüße dich, Nandee«, sagte er eifrig, als der Trupp neben seinem Karren hielt. »Mein Weg sollte mich zu dir führen, es freut mich, dich schon jetzt zu treffen, Freund und Geschäftspartner.« Nandee war ein großer dürrer Mann mit einem Raubtiergesicht, das normalerweise kaum eine Regung zeigte. Doch nun glitt sein Blick schnell über Keldarol, den Karren mit seinem spärlichen Inhalt und die Xarrhis am Bach, und dann grinste er verächtlich. »Was ich hier sehe, bringt mich zu der Überzeugung, daß es wohl in Zukunft keine Geschaffte zwischen uns mehr geben wird, Keldarol! Man hat dich durchschaut und aus der Stadt vertrieben, und Freunde dieser Art kann ich nicht mehr brauchen … Wirklich schade, jetzt entgeht mir der bisherige Gewinn, aber die Schuld daran liegt zweifellos bei dir. Folglich muß ich mich an dir schadlos halten.« »Was … was soll das heißen?« stotterte der Verstoßene voll böser Vorahnung, und im nächsten Moment erfüllte sie sich auch schon. Ein kurzer Wink des Anführers, dann sprangen zwei Nomaden zu ihm auf den Karren, packten zu und stießen ihn hinaus. Keldarol prallte hart auf den Boden, und Nandee lachte höhnisch auf. »So, jetzt weißt du es wohl! Viel hat man dir ja nicht mitgegeben, aber man soll auch für Kleinigkeiten dankbar sein. Und jetzt mach dich auf die Beine und verschwinde. Du behältst immerhin dein Leben.« 2. Atlan drückte dem neben ihm sitzenden Jungen die Zügel in die Hand, erhob sich und streckte sich ausgiebig. Sie waren nun schon vier Tage unterwegs, seit die Priester sie aus Umharaton ausgewiesen hatten, und das lange Sitzen auf dem Kutschbock machte die Glieder steif. Außerdem tat ihm der Rücken weh,
obwohl der Händlerkarren besser gefedert war als die üblichen Gefährte auf Cairon. Mit leiser Wehmut dachte der Arkonide an sein neues Schiff, in dem es alle Bequemlichkeiten moderner Technik gab, das nun aber getarnt auf dem »Plateau der Geister« stand. Kein unnützes Selbstmitleid, sagte sein Extrasinn nüchtern wie immer. Du hast den Auftrag, den Erleuchteten zu finden und daran zu hindern, daß er EVOLO fertigstellen und einsetzen kann, und dieses Ziel ist schon ein paar kleine Widrigkeiten wert. »Da hast du auch wieder recht«, murmelte Atlan und setzte sich wieder. Chipol gab ihm die Zügel zurück und fragte verwundert: »Womit soll ich recht haben? Ich habe doch gar nichts gesagt.« »Vergiß es, es war nur ein Selbstgespräch, Junge. Wenn nur dieser verdammte Weg etwas besser wäre! Wir könnten längst in Bakholom sein, wenn wir nicht dauernd nur im Schritt fahren müßten.« Mehr war jedoch beim besten Willen nicht möglich, denn das Gelände wurde von Tag zu Tag schlechter. Die Straße führte über einen Ausläufer des kontinentalen Randgebirges, immer öfter ging es bergauf, so daß selbst die ausdauernden Xarrhis rasch ermüdeten. Die vorgeblichen Händler stiegen dann zwar ab und halfen ihnen durch Schieben, doch das nützte nicht viel. Im Augenblick war es besser, der Karren holperte durch ein Tal, doch der nächste Anstieg war bereits in Sicht. Atlan sah nach dem Stand der Sonne und stellte dann fest, daß es nicht ratsam war, ihn noch an diesem Tag in Angriff zu nehmen. Die Dämmerung mußte in etwa zwei Stunden einsetzen, und die Zugtiere brauchten dringend Ruhe. Gleich darauf kam ein kleiner Teich in Sicht, der von einer Quelle gespeist wurde, und daneben gab es eine flache Mulde, wie geschaffen für einen Lagerplatz. Die Xarrhis rochen das Wasser und wurden schneller, Atlan ließ sie laufen und hielt dann neben dem Gewässer an. Er schirrte die Tiere ab, sie stillten zunächst ihren Durst und begannen dann zu
grasen. Chipol schickte sich an, ihnen zu folgen, doch der Arkonide winkte ab. »Laß nur, sie laufen ganz bestimmt nicht weg. Statt dessen kannst du dürres Holz sammeln, damit wir wieder einmal ein warmes Essen bekommen, dafür sorge ich.« Die Priester von Umharaton hatten ihn nach dem »Psi‐Test« zwar noch bewußtlos auf den Karren werfen lassen, doch dessen Ladung war nicht angerührt worden. Die darunter verborgenen Lebensmittel aus der STERNSCHNUPPE waren ihnen also geblieben, und Atlan hatte sie sorgsam eingeteilt. Unterwegs gab es nur gedörrtes Mandalonfleisch und Brot, das durch feuchte Tücher halbwegs frisch gehalten wurde. Dafür gab es dann am Abend eine wirklich gute nahrhafte Mahlzeit, die in etwa dem terranischen Standard entsprach. Natürlich hatten die Kosmokraten – oder die eventuell von ihnen beauftragten Helfer – nicht alles genau getroffen, doch das Ergebnis war im großen und ganzen durchaus zufriedenstellend. Atlan hatte im Lauf seiner rund zwölftausend Lebensjahre schon vieles gegessen, das weit schlechter gewesen war, und Chipol war alles andere als verwöhnt. Er kam bald schon mit einem großen Bündel Feuerholz zurück, der Arkonide schichtete es auf und setzte es mit dem elektronischen Feuerzeug in Brand. Er brachte darüber das übliche Gestell an, hing die caironischen Kupferkessel darüber und füllte sie. Kaum zwanzig Minuten später war alles gar, die beiden ungleichen Partner saßen im Gras, hatten die irdenen Schüsseln vor sich und löffelten den Inhalt voller Wohlbehagen in sich hinein. Ringsum war alles ruhig und friedlich, Nomaden oder irgendwelche andere Banditen schien es hier nicht zu geben. Die Xarrhis waren bereits satt, sie hatten sich niedergelassen und wiederkäuten still vor sich hin. Doch dieser Schein trog – hinter einem Felsen kauerte ein Mann und beobachtete die Szene mit gierigen Augen.
Keldarol …! Es war nun drei Tage her, seit ihm Nandee so übel mitgespielt hatte, und dies waren schlimme Tage für ihn gewesen. Er hatte bis dahin sein ganzes Leben in der Stadt verbracht, wo alles aufs beste, geregelt gewesen war. Selbst die Ärmsten mußten dort nicht hungern. Der ausgestoßene Betrüger hätte viel darum gegeben, jetzt zu ihnen zu gehören, aber die Rückkehr nach Xanthoron war ihm für alle Zeit versperrt. Er saß jetzt allein, ohne alle Hilfsmittel und mangelhaft bekleidet, in der Wildnis fest! Zurück konnte er nicht, also mußte er versuchen, in eine andere Stadt zu gelangen. Dafür kam nur Bakholom in Frage, aber zu Fuß hätte er bis dorthin mindestens zwanzig Tage gebraucht – und die konnte er ohne Nahrung und Erfahrung in dieser Wüstenei unmöglich überleben. Doch es gab eine Straße nach Bakholom, er suchte und fand sie, und arbeitete sich parallel zu ihr vorwärts. Er hoffte darauf, irgend jemand zu treffen, der in derselben Richtung unterwegs war und ihn mitnehmen konnte, eine passende Lügengeschichte hatte er sich bereits ausgedacht. Doch diese Hoffnung hatte sich als Illusion erwiesen, und nun war er praktisch am Ende. Er hatte zwar unterwegs Wasser gefunden, um seinen Durst zu stillen, aber fast nichts für seinen Hunger. Notgedrungen hatte er Beeren gegessen, die an einigen Sträuchern hingen, doch das war ihm mehr als schlecht bekommen. Er hatte alles wieder erbrochen und war noch schwächer gewesen als zuvor. Trotzdem hatte er sich weitergeschleppt, denn er wollte überleben. Dann hatte er den Teich entdeckt, daraus getrunken und sich daran erinnert, daß das Mark von Schilfstengeln eßbar war. Vorsichtig hatte er davon gegessen, und diesmal war es gut gegangen. Darauf hatte er beschlossen, bis zum nächsten Morgen an dieser Stelle zu bleiben und sich zu erholen. Außerdem war es in der Mulde relativ warm, und er hatte in seiner leichten Kleidung in den vergangenen
Nächten jämmerlich gefroren. Dann waren unverhofft die beiden Reisenden aufgetaucht; offenbar gehörten sie zur Kaste der Händler, darauf wies ihre Ausrüstung hin. Ein alter Mann, wie es schien, denn sein Haar war weiß, und ein Junge, wohl sein Sohn oder Enkel. Keldarol hatte sich hastig versteckt und sie beobachtet, und dann war in seinem Hirn ein Plan herangereift. .Gewiß, die beiden waren gut bewaffnet, doch sie schienen sich hier vollkommen sicher zu fühlen. Das war gut für ihn, denn er selbst war waffenlos und noch nicht wieder voll bei Kräften. Vermutlich würden sie abwechselnd Wache halten, der Junge wohl zuerst, und dann war seine Zeit gekommen. Wenn er den Alten im Schlaf niederschlug und an seine Waffen kam, hatte er schon so gut wie gewonnen! Dann konnte er sich in den Besitz des Wagens bringen und war mit buchstäblich einem Schlag all seine Sorgen los. Daran, sich offen zu zeigen und um Hilfe zu bitten, dachte ein Mann wie er erst gar nicht. Nun sah er zu, wie die beiden aßen, der Essensduft wehte zu ihm herüber und stachelte seine Gier nur noch weiter an. * »Das war wirklich gut, Atlan«, sagte Chipol und erhob sich. »Gib mir deine Schüssel, ich gehe zum Teich und spüle auch die Kessel gleich mit aus.« Der Arkonide nickte. »Gut, tu das, und pflocke dann auch gleich die Xarrhis an, damit sie sich im Dunkeln nicht verlaufen. In der Zwischenzeit richte ich bereits das Nachtlager her, ich übernehme dann die erste Wache. Nein, keinen Widerspruch, ich sehe dir an, daß du müde bist, und ich brauche nur wenig Schlaf.« Der Junge protestierte zwar, aber es blieb dabei. Tatsächlich schlief er auch sofort ein, als er in das Lager unter dem Karren gekrochen
war. Atlan setzte sich auf einen Stein neben dem verglimmenden Feuer. Er hatte seinen Umhang angelegt, denn die Nächte im Vorgebirge waren kühl, das Schwert ruhte auf seinen Knien. Es war nun schon vollkommen dunkel, die Sterne der unbekannten Galaxis standen am Himmel, und er sah sinnend zu ihnen auf. Seine Gedanken kehrten noch einmal nach Umharaton zurück, er rekapitulierte das dortige Geschehen und überlegte dann weiter. Die Tatsache, daß so wie der junge Chumboro auch andere Priester plötzlich und grundlos ihr Wahakü verloren hatten, Wies eindeutig auf ein Einwirken seines Gegners hin. Hier ging der »Erleuchtete« jedoch nicht so rigoros vor wie früher in Alkordoom oder bei den Angehörigen Chipols, sondern er wirkte heimlich und im Verborgenen. Er war zwar immer noch darauf aus, den Planetariern ihre Psi‐Kräfte zu rauben, doch er hatte offenbar inzwischen seine Fehler erkannt und daraus gelernt. Falsch! korrigierte der Logiksektor sofort. Ein Wesen wie er wird sich selbst nie eingestehen, fehlerhaft zu sein, er wird sich immer für unfehlbar halten. Er geht nur deshalb so vorsichtig vor, weil ihm diese Galaxis fremd und seine Macht noch nicht gefestigt ist. Das wird sich über kurz oder lang ändern. Wie schön, daß du ihn so genau kennst! gab Atlan sarkastisch zurück. Dann wird es dir wohl auch nicht schwerfallen, bald auch herauszufinden, wo er sich versteckt hält, nicht wahr? Er erwartete eine Antwort, doch sie blieb aus. Statt dessen erreichte ihn Sekunden später ein scharfer Impuls: Vorsicht, Gefahr – hinter dir! Das kam äußerst überraschend, aber der Arkonide besaß in dieser Hinsicht einen reichen Erfahrungsschatz. Er blieb unbeweglich sitzen und lauschte angespannt. Ja, da war das leise, kaum vernehmbare Rascheln niedergetretener Gräser zu hören. Jemand schlich sich von hinten an ihn heran, offenbar nur eine Person. Doch andere konnten noch irgendwo ringsum in der Dunkelheit lauern, also bewegte er seine Rechte langsam bis zum Schwertgriff und
machte sich kampfbereit. Dann konnte er bereits leise Atemzüge hören – nun war es soweit! Sein Körper ruckte hoch, er schleuderte den Umhang hinter sich, dem Angreifer entgegen. Gleichzeitig wandte er sich um und hob das Schwert, zu entschlossener Gegenwehr bereit. Er wartete darauf, daß sich nun weitere Gegner auf ihn stürzen würden, aber nichts dergleichen geschah. Er hörte nur, wie hinter ihm ein Körper schwer zu Boden fiel, dann lautes Keuchen und andere dumpfe Geräusche. Niemand versuchte, ihn aus anderen Richtungen zu bedrängen, der Angreifer war demnach also allein, und der Trick mit dem Umhang hatte gewirkt! Atlan sah auf die Stelle kaum einen Meter hinter ihm und erkannte im schwachen Licht der Sterne eine Gestalt, die auf dem Rücken lag und heftig strampelnd versuchte, sich von dem Umhang zu befreien. Vorerst jedoch ohne Erfolg, Atlan ließ das Schwert wieder sinken und griff statt dessen nach einer Fackel, die neben ihm lag. Sie loderte schon Sekunden später hell auf, und in ihrem zuckenden Schein erkannte er nun seinen Gegner. Dieser kam gleichzeitig frei, richtete sich auf und wollte fliehen, ein großer scharfkantiger Stein fiel aus seiner Hand. Er kam jedoch nur einige Schritte weit, dann stoppte ein scharfer Ausruf des Arkoniden seine Flucht. »Bleib stehen, wenn dir dein Leben lieb ist! Dreh dich um, heb die Hände und komm auf mich zu, aber ganz langsam, klar?« Keldarol war nur dann mutig, wenn es gegen Schwächere ging, im Grunde seines Herzens war er feige. Die Not hatte ihn zu diesem Überfall getrieben, wie er meinte, doch dabei war er eindeutig an den Falschen geraten. Der scheinbar alte Mann war gewandter und gewitzter als er, seine rötlichen Augen funkelten entschlossen, und das raubte dem Verstoßenen auch den letzten Mut. »Vergib mir, Herr!« jammerte er, ließ sich auf die Knie fallen und erhob bittend beide Hände. »Ich bin ein armer, vom Schicksal schwer geschlagener Mann, man hat mich vor drei Tagen überfallen
und mir all meine Habe geraubt. Das geschah, als ich gerade einmal in die Büsche mußte … ich sah nur noch, wie zwei Fremde mit meinem Händlerkarren davonfuhren. Ich blieb allein und hilflos zurück, habe mich mühsam zu Fuß durchgeschlagen und glaubte dann, in euch die Räuber gefunden zu haben. Ich wollte weiter nichts, als mein Eigentum zurückgewinnen, doch nun erkenne ich, daß ich mich geirrt habe, daß ihr andere seid. Schone mein Leben und laß mich laufen, ich werde euch nie wieder behelligen, das verspreche ich.« Der Bursche lügt! erklärte der Extrasinn lakonisch, aber Atlan wurde zunächst abgelenkt. Chipol war erwacht und erschien auf der Szene, einen der scharfen Pfeile stoßbereit in der Hand. Doch er beruhigte sich schnell wieder. als er sah, daß sein Pflegevater Herr der Lage war, und Keldarol spielte seine Rolle nun weiter. »Ich bin halb verhungert«, klagte er, »all meine Vorräte wurden zusammen mit meinem Karren gestohlen. Zuerst habe ich mich mit Beeren fast vergiftet, heute habe ich Schilf gegessen … Gib mir etwas, um meinen ärgsten Hunger zu stillen, und laß mich dann des Weges ziehen, Herr!« Atlan lächelte belustigt, er kannte sich mit Typen dieser Art aus. Chipol dagegen deutete anklagend auf Keldarol und erklärte: »Dieser Mann kann unmöglich ein richtiger Händler sein, Atlan! Wäre er das, hätte ihn niemand ausgeraubt, die Händlerkaste ist selbst für die wildesten Nomaden tabu. Wahrscheinlich hat man ihn aus einer Stadt verstoßen, weil er sich gegen die Gesetze vergangen hat.« . Der Junge hat recht! meldete sich nun wieder der Extrasinn. Ich rate dir aber trotzdem, diesen Mann nicht laufen zu lassen, sondern mit auf die Reise nach Bakholom zu nehmen. Im Gegensatz zu euch ist er ein echter Bathrer und kennt sich mit den hiesigen Bräuchen aus, kann euch also noch von Nutzen sein. Das war ein neuer Gesichtspunkt, es fiel dem Arkoniden schwer, sich damit anzufreunden. Andererseits wußte er aber, daß sein
»zweites Ich« in solchen Fällen fast immer recht behielt, also dachte er eingehend darüber nach und faßte dann seinen Entschluß. »Sag mir zunächst deinen Namen«, forderte er. »Keldarol also – nun, ich sehe ein, daß dir geholfen werden muß. Chipol, hole etwas Brot und mageres Fleisch für ihn – mehr verträgt sein Magen jetzt noch nicht. Dann sehen wir weiter.« Der Junge gehorchte, und als Keldarol dann gierig aß, flüsterte er Atlan zu: »Du solltest diesem Kerl keinesfalls glauben, er hat keine guten Augen. Ich traue ihm zu, daß er noch einmal versucht, uns zu überfallen, wenn er erst wieder bei Kräften ist. Zu Fuß kommt er in diesem Gelände genauso schnell voran, wie wir mit dem Wagen.« Atlan nickte bedächtig. »Eben – und deshalb werden wir ihn bei uns behalten! Er macht die Reise mit, dann haben wir ihn immer im Auge. Außerdem ist er ein Bathrer, von ihm können wir so manches erfahren, was wir jetzt noch nicht wissen. Heute nacht wird er jedenfalls erst mal gefesselt, und morgen früh rede ich ein ernstes Wort mit ihm.« »Wie du willst«, murmelte der junge Daila widerstrebend. »Doch er wird uns noch mehr Ärger bereiten, davon bin ich überzeugt.« 3. Die Nacht verging ruhig, Atlan hielt die erste Wache und weckte bei Sonnenaufgang die anderen. Der Verstoßene hatte sich willig in sein Schicksal gefügt, und als ihm der Arkonide nach dem Frühstück seinen Entschluß kundtat, leuchteten seine Augen auf. »Du bist ein wirklich gütiger Mann, Atlan, wenn du mein Vergehen auf solche Weise vergiltst. Verlange von mir, was immer du willst, ich werde alles für dich tun, was in meinen Kräften steht.« Seine Stimme klang unterwürfig und einschmeichelnd. Doch damit konnte er einen Mann, dessen Erfahrungen aus langen Jahrtausenden stammten, nicht täuschen. Keldarol trug etwas zu
dick auf im Bestreben, sich anzubiedern. Atlan nickte jedoch nur gleichmütig und wies hinüber zu den Zugtieren. »Sehr gut, du kannst auch gleich damit beginnen. Hole die Xarrhis und schirre sie an, je schneller wir hier wegkommen, um so eher werden wir in Bakholom sein.« Das Lächeln verschwand abrupt, Keldarol krümmte sich und preßte die Hände auf seinen Magen. »Das kann ich nicht, Herr«, jammerte er, »ich habe plötzlich solche Schmerzen! Ich habe wohl zuviel und zu schnell gegessen, und das scheint mir nicht bekommen zu sein.« Das war ihm nicht zu widerlegen, er hatte tatsächlich fast soviel verschlungen wie die beiden anderen zusammen. Atlan zuckte mit den Schultern, griff selbst zu, und zwanzig Minuten später waren sie wieder unterwegs. Keldarol lag hinten auf der Ladung, hatte sich in eine Decke gehüllt und schnarchte bald laut vor sich hin, und der Junge verzog das Gesicht. »Nun, was habe ich gesagt? Er war solange putzmunter, bis du ihn zum Mithelfen aufgefordert hast, erst dann fiel ihm plötzlich sein Magen ein. Er ist und bleibt ein Gauner und wird sich nie ändern.« »Vermutlich nicht«, gab sein »Ersatzvater« zu, »doch du solltest das nicht so ernst nehmen. Für uns ist die Hauptsache, daß wir ihn unter Kontrolle haben, und ein paar Tage werden wir ihn wohl ertragen können. Sind wir erst einmal in Bakholom, soll er selbst zusehen, wie er weiterkommt. Wir haben dann ganz andere Sorgen, wir müssen versuchen, irgendwie Hinweise darauf zu finden, wo der Erleuchtete steckt und sein Unwesen treibt.« Am nächsten Tag hatten sie endlich die Vorberge hinter sich. Das Gelände war nun fast eben und die Straße besser, die Xarrhis wurden weniger strapaziert und brachten den Karren großzügig voran. Trotzdem fühlte Atlan sich nicht wohl, die Fahrt dauerte für seinen Geschmack zu lange. Er bedauerte es jetzt, den Kontinent nicht genauer erkundet zu haben, ehe er mit der STERNSCHNUPPE gelandet war.
Atlan überlegte und seufzte dann. Nein, er hatte schon richtig gehandelt, jede zeitliche Verzögerung hätte die Gefahr seiner Entdeckung durch den Erleuchteten erheblich vergrößert. So aber war dies vermieden worden, und das wog die Nachteile bei weitem auf. Dafür erwies sich jedoch Keldarols Anwesenheit immer mehr als Ärgernis. Er konnte reden wie ein gewiefter Politiker, tischte den Gefährten Halbwahrheiten auf und verdrehte alle Tatsachen so, daß sie nur zu seinen Gunsten sprachen. Er gab zwar zu, aus seiner Stadt verstoßen zu sein, stellte sich jedoch als unschuldiges Opfer von Intrigen dar, die andere Händler gegen ihn gesponnen hatten. Das wäre noch zu ertragen gewesen, Atlan wußte gut zwischen Lüge und Wahrheit zu unterscheiden. Um so mehr verdroß es ihn, was der Mann aus Xanthoron tat, oder vielmehr nicht tat. Er aß nach wie vor für zwei, so daß die Vorräte auf dem Karren bedenklich schwanden, sein während des Herumirrens schmal gewordenes Gesicht rundete sich schnell wieder. Wenn es aber darum ging, körperliche Arbeit zu tun,, drückte er sich meisterhaft. Er hatte keine Kraft in seinen Armen, selbst die einfachsten Dinge mißlangen ihm scheinbar, und bald muckte Chipol dagegen auf. »So kann es nicht mehr weitergehen, Atlan!« erklärte er empört. »Er frißt uns nicht nur arm, er hat dir auch neue Kleider abgeschwatzt, und was tut er dafür? Ich bin nur ein Junge, er ist mindestens drei Mal älter als ich, aber er tut so, als wäre es gerade umgekehrt. Wie lange willst du das noch dulden?« Der Arkonide hatte ihm den Begriff unvermeidliches Übel erläutert, und von da an protestierte der junge Daila nicht mehr. Dafür ließ er den Bathrer auf andere Weise spüren, was er von ihm hielt, und darin war er recht erfindungsreich. Keldarol passierten ständig irgendwelche kleinen Mißgeschicke, deren Ursache nie ersichtlich war, nicht einmal für einen durchtriebenen Mann wie ihn. Zuviel Salz in Keldarols Essen, Dutzende von winzigen Dornen in
seiner Schlafdecke. Dann wieder eine Art Juckpulver aus einer Samenkapsel, in sein Hemd praktiziert, während er sich wusch … in den nächsten Tagen wurde der Verstoßene nie so recht seines Lebens froh. Schließlich fiel er beim Absteigen vom Karren scheinbar grundlos auf die Nase, und der Junge kommentierte scheinheilig: »Keldarol ist wirklich noch sehr schwach, er scheint noch Reste des Beerengifts in sich zu haben. Du solltest ihn zur Ader lassen oder ihm ein Abführpulver geben, damit es endlich entfernt wird.« Natürlich hatte er selbst blitzschnell den Fuß hingehalten, um den Fall herbeizuführen, doch der Mann aus Xanthoron hatte auch das nicht bemerkt. Atlan grinste still in sich hinein und erklärte sich bereit, eine der vorgeschlagenen Roßkuren durchzuführen. Die Drohung wirkte – plötzlich hatte Keldarol keine zwei linken Hände mehr, sondern packte richtig mit an. Der Weg führte nochmals über steinige Anhöhen, und dann kam die Buschsteppe in Sicht, hinter der Bakholom liegen mußte. Auf der letzten Erhebung hielt Atlan an, um Ausschau nach der Stadt zu halten, doch dann zuckte er zusammen. Die Steppe da unten wimmelte förmlich von Nomaden! Etwa ein halbes Tausend war bereits in einer flachen Mulde versammelt, neue Trupps erschienen von allen Seiten her und gesellten sich zu ihnen. Sie alle waren voll bewaffnet und ritten auf schnellen Vleehs, und das ließ nur einen einzigen Schluß zu. Sie rüsteten sich zum Kampf – aber gegen wen? * Da gibt es nur eine logische Erklärung, behauptete der Extrasinn sofort. Denke nur einmal an das Geschehen bei Umharaton und an den Überfall auf diese Stadt. Sicher, er war unmotiviert und nicht viel mehr als ein Scheingefecht, aber vielleicht haben die Nomaden dort nur für den Ernstfall
geprobt. Hier könnten sie es jedoch wirklich ernst meinen, und ihr Ziel kann nur Bakholom sein! Und es sollte mich kaum wundern, wenn dies alles zusammen das Werk des Erleuchteten ist! gab der Arkonide zurück, während er seine Augen zusammenkniff und auf diese Szene starrte. Wir haben wertvolle Tage verloren, als wir uns durch das wilde Gelände quälten, und er konnte in dieser Zeit ungestört planen. Richtig! bestätigte der Logiksektor knapp, und gleichzeitig kam es entmutigt von Chipol: »Das sieht nach Ärger aus, Atlan. Wir sollten diesen Kriegern möglichst weit aus dem Weg gehen. Was hältst du davon, wenn wir umkehren, ehe sie uns bemerkt haben?« »Umkehren ist sinnlos, Junge. Sicher, wir. könnten uns so lange verstecken, bis sie fort sind, aber vielleicht müssen dann viele hundert Unschuldige sterben! Doch noch ist der Aufmarsch nicht vollzogen, also können wir etwas tun, um dies zu verhindern. Wir machen einen Bogen um das Lager, erreichen Bakholom noch, ehe der Angriff beginnt, und warnen die Stadt.« Chipol nickte, aber nun protestierte Keldarol entschieden. »Das darfst du nicht tun, Atlan! Du weißt doch genau, daß es der oberste Grundsatz aller Händler ist, sich niemals in fremde Belange einzumischen. Du mußt neutral bleiben, was auch immer geschehen mag, sonst schadest du deiner eigenen Kaste, die sowohl den Städten wie auch den Nomaden ihre Waren liefert! Sie wird dich andernfalls ausstoßen, dann bist du für beide Seiten vogelfrei.« Atlan seufzte leise, denn nun saß er in einer echten Zwickmühle. Einerseits durchschaute er Keldarol, denn aus dessen Zügen sprachen Feigheit und die Angst, als Verstoßener entlarvt zu werden, wenn es hart auf hart ging. Andererseits hatte er aber auch wieder recht, denn die ungeschriebene Charta der Händler von Cairon verlangte von all ihren Mitgliedern strikte Neutralität. Gelang es ihm jetzt wirklich noch, die Stadt vor dem Angriff zu warnen, würde er dort gefeiert und geehrt werden. Doch dann war auch seine Rolle als angeblicher Händler ausgespielt, er mußte wohl
oder übel in Bakholom bleiben. Tauchte er noch einmal draußen auf, dann war ihm die Rache der Nomaden gewiß. Und dann weiß auch der Erleuchtete sehr genau, wer seine Pläne durchkreuzt hat und wo er zu finden ist! ergänzte der Extrasinn. Bleibst du in der Stadt, kannst du nichts mehr gegen ihn unternehmen. Verläßt du sie, wirst du innerhalb kurzer Zeit von seinen Vasallen umgebracht, und das kommt im Endeffekt auf dasselbe heraus … Mit anderen Worten: die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst, gab Atlan gedanklich zurück. Verdammt, das alles ist mir selbst klar, ich brauche einen Ausweg, irgendwo zwischen den üblichen zwei Möglichkeiten. Nenne ihn mir! Er erhielt jedoch keine Antwort, offenbar war sein »zweites Ich« ebenso ratlos wie er. Es lag nun also allein an ihm, eine effektive Entscheidung zu treffen, und er entschloß sich spontan dafür, den schwierigeren Weg zu gehen. Doch dieser heroische Entschluß wurde wirkungslos, schon wenige Sekunden, nachdem Atlan ihn gefaßt hatte. Er hörte plötzlich Hufschläge, wandte sich um und spähte über die Ladung nach hinten. Etwa fünfzehn Nomaden kamen dort angetrabt, er lenkte den Wagen zur Seite, um sie vorbeizulassen, aber das Schicksal wollte es anders. Laute Rufe gingen zwischen den Reitern hin und her, sie kamen heran und umringten das Gefährt, und dann grinste ihr Anführer triumphierend. »Na, wenn das keine Überraschung ist! Solche wie euch haben wir gesucht, ihr kommt uns wie gerufen. Los, sputet euch und gebt den Xarrhis die Peitsche – ihr kommt jetzt mit uns!« * Keldarol machte sich so klein wie möglich und begann zu zittern, aber Atlan behielt die Nerven. »Was soll das?« fragte er mit gut gespielter Empörung. »Ihr wißt doch wohl, daß ihr friedliche
Händler nicht behelligen dürft! Laßt uns also unseres Weges ziehen …« »Nichts da!« unterbrach ihn der Nomade, und sein Gesicht verfinsterte sich. »Wenn ich sage, daß ihr mitkommen sollt, habt ihr zu gehorchen, klar? Oder müssen wir da erst ein wenig nachhelfen?« Seine Hand ging zum Schwert, diese Geste war sehr eindeutig und die Übermacht viel zu groß. Atlan zuckte mit den Schultern und gab so fest wie möglich zurück: »Wir weichen der Gewalt, doch das soll dir noch leid tun, Nomade. Der Clan der Händler …« »… interessiert mich einen Vleehdreck, verstanden! Los jetzt, einige Leute werden sich sehr freuen, wenn sie sehen, welch guten Fang wir hier gemacht haben«, knurrte der Anführer und schlug mit seinem Zügel über die Kruppen der Xarrhis. Die Tiere wieherten erschreckt und rannten los. Atlan hatte zu tun, um sie wieder zu bändigen, und die Nomaden begleiteten seine Bemühungen mit spöttischen Zurufen. Sie blieben neben und hinter dem Karren, nahmen dann den bebenden Keldarol aufs Korn und bedachten ihn mit ihrem Spott. Chipol dagegen hielt sich erstaunlich gut, er rief mit seiner hellen Stimme seinerseits Schmähungen, die nicht nur die Nomaden, sondern auch ihre Ahnen aufs gröbste beleidigten. Darüber amüsierten sich die Steppenkrieger jedoch nur, an ihrem Vorhaben änderte sich nichts. Zunächst ging es noch eine Strecke auf der Straße nach Bakholom weiter, doch dann bogen sie nach links ins Gelände ab, und nun wurde es problematisch. Ihren hochbeinigen Reitvleehs machte der unebene Boden nichts aus, der Wagen dagegen holperte und schwankte von einer Seite zur anderen. Die Xarrhis hatten Mühe, ihn noch zu ziehen, sie keuchten und schwitzten, und Atlan brauchte all sein Geschick, damit es überhaupt weiterging. Die Nomaden geleiteten ihn am Gros der hier versammelten Krieger vorbei zu einem separaten Lager, etwa einen Kilometer
entfernt. Dort standen mehrere Dutzend geräumige Lederzelte in zwei großen Kreisen, der betreffende Stamm war also ziemlich stark. Auf dem Innenplatz wimmelten nicht nur Männer, sondern auch relativ viele Frauen hin und her, und in einem großen Korral waren mindestens zweihundert Vleehs angepflockt. »Kennst du diese Leute?« raunte der Arkonide Keldarol zu, doch dieser schüttelte nur den Kopf. Es hieß also, weiter abzuwarten, und die Reiter dirigierten sie zu einer Lücke zwischen den Zelten am jenseitigen Ende des Lagers. Dort standen bereits einige andere Karren, doch sie gehörten nicht weiteren Händlern, sondern waren offenbar zum Transport von Lebensmitteln und sonstigen Gütern von den Nomaden selbst benutzt worden. Der Anführer des Reitertrupps wies den angeblichen Händlern eine freie Stelle direkt am Rand des Innenplatzes an und erklärte dann barsch: »Schirrt eure Zugtiere aus und versorgt sie, rührt euch aber sonst nicht von der Stelle! Ich suche jetzt den Häuptling unserer Sippe auf und berichte ihm; von seiner Entscheidung wird es abhängen, wie weiter mit euch verfahren wird.« Er bleckte noch einmal drohend die spitzen, rotgefärbten Zähne, dann ritt er mit seinen Männern in Richtung des Korrals davon. Seine Gefangenen blieben ratlos, aber auch erleichtert zurück, sie hatten mit viel Schlimmerem gerechnet. Sie gingen daran, die völlig erschöpften Xarrhis auszuspannen, und Atlan erkundigte sich: »Hast du eine Ahnung, wer diese Leute sind, Keldarol?« Der Verstoßene verneinte, nachdem er einen Blick zu dem großen roten Häuptlingszelt hinübergeworfen hatte. »Nein, ich habe dieses Stammeszeichen noch nie gesehen, Händler. Das ist aber bei der großen Anzahl der in dieser Ebene Versammelten kein Wunder, viele mögen von weither gekommen sein. Ich hatte es nur immer mit Sippen zu tun, die in der Nähe von Xanthoron … doch das gehört wohl nicht hierher.« »Hast du in dieser Beziehung ein schlechtes Gewissen?« erkundigte sich Chipol feixend, doch sein Gefährte winkte ab. »Laß
ihn in Ruhe, was früher war, ist jetzt uninteressant. Statt dessen kannst du dich unter die Nomaden mischen und versuchen, einiges zu erfahren; wer sie sind, was sie hier wollen oder sollen, und so weiter.« Er sagte sich, daß man einem Jungen gegenüber wohl kaum mißtrauisch sein würde, zumal Chipol es verstand, sich harmlos und unwissend zu geben, wenn es darauf ankam. Der junge Daila nickte eifrig, er warf seinen Umhang ab und machte sich auf den Weg zum Innenplatz. Atlan und Keldarol brachten die Zugtiere zunächst zu einer Tränke, die von einem großen Wasserfaß gespeist wurde, und ließen sie ihren Durst stillen. Dann pflockten sie sie am Rand des Lagers an lange Leinen, so daß sie ausgiebig grasen konnten, und kehrten dann langsam zum Karren zurück. Hier ist alles anders als drüben beim großen Lager, stellte dann Atlans Extrasinn fest. Dort scheint man sich auf den Überfall auf Bakholom vorzubereiten, hier dagegen herrscht eine ganz andere Atmosphäre. Die Leute geben sich ungezwungen, fast fröhlich, von einer Kampfesstimmung ist nichts zu merken. Das stimmte, der Arkonide empfand es ebenso. Doch er dachte auch an die Reiter und wie wenig freundlich sie mit ihnen umgegangen waren, und das dämpfte seine Stimmung wieder. Untereinander mochten diese Steppenbewohner noch so lockere Umgangsformen pflegen – wie sie es in dieser Beziehung mit Fremden hielten, stand auf einem anderen Blatt! 4. Es war früher Nachmittag, die beiden Männer hatten seit dem Morgen nichts mehr gegessen und ihre Mägen knurrten. Atlan holte Brot, Dörrfleisch und Obst hervor, sie ließen sich im Schatten des Wagens nieder und stärkten sich. Auf die restlichen Vorräte aus dem Schiff verzichtete er bewußt, um nicht unnötig die
Aufmerksamkeit der Nomaden darauf zu lenken. Immer wieder kamen Männer und Frauen nur wenige Meter entfernt vorbei, sie betrachteten die vorgeblichen Händler neugierig, also war Vorsicht dringend angebracht. Wenig später erschien auch Chipol wieder, bekam seine Ration und aß mit dem gesunden Appetit der Jugend. Noch ein Becher Wasser, dann wischte sich der Junge die Lippen und erklärte: »Ich habe mich vorsichtig umgehört, daneben auch einige Gespräche belauscht und so eine Menge erfahren. Dieser Stamm wurde zwar durch Boten hierher gerufen, wohl ohne die Alten und Kinder, aber keineswegs, um einen Kampf zu führen. Ganz im Gegenteil – der älteste Sohn des Häuptlings der Vleehorn‐Sippe, die hier lagert, soll sich vermählen!« Das war eine recht unerwartete und überraschende Neuigkeit, sie wirkte, im großen Zusammenhang gesehen, reichlich deplaziert. Der Mann aus Xanthoron zog verblüfft die Brauen hoch, Atlan überlegte kurz und fragte dann: »Und was haben wir damit zu tun – weshalb hat man uns eingefangen und hierher gebracht?« Chipol lächelte breit. »Weil man uns braucht, Atlan! Besser gesagt, unsere Waren, doch das kommt auf dasselbe heraus. Seit dem Nomadenangriff auf Umharaton herrscht Unruhe in weitem Umkreis, die Händler haben natürlich auch davon erfahren und meiden nun dieses ganze Gebiet. Das kam Kamuk, dem Häuptling der Vleehhorns oder Deombarer, aber sehr ungelegen. Bei jeder Hochzeit werden zwischen den beteiligten Stämmen viele wertvolle Geschenke ausgetauscht, und eben daran mangelt es ihm jetzt noch.« Der Arkonide nickte, ihm waren die Zusammenhänge nun klar. »Dafür kamen wir ihm sehr gelegen, vermutlich hat er seine Leute angewiesen, jeden erreichbaren Händler abzufangen. Das ist ihnen auch geglückt, jetzt hat er sowohl die Brautgeschenke wie auch uns.« »Ich bin vom Unglück geschlagen!« jammerte Keldaron und
schlug beide Hände vors Gesicht. »Man hat mich schon einmal ausgeraubt, und nun geschieht das gleiche schon wieder … ich bin zum armen Mann geworden und werde es auch bleiben.« Chipol lachte spöttisch auf. »Jeder bekommt immer das, was er verdient, wie ein altes Wort so schön sagt. Im übrigen betrifft dies alles wohl nur Atlan und mich, es sind schließlich unsere Waren. Oder hast du immer noch geglaubt, sie irgendwie an dich bringen zu können, heh?« »Laß das jetzt, es geht um wichtigere Dinge«, verwies Atlan ihn entschieden. »Ganz so schlimm, wie es bisher schien, steht es aber wohl doch nicht für uns, das sehe ich deinem Gesicht an. Was hast du sonst noch erfahren?« »Kamuks Reiter haben uns zwar nicht gut behandelt, doch sie wußten es wohl nicht besser. Der Häuptling denkt jedenfalls nicht daran, uns einfach alles abzunehmen, denn sonst würde ihn der Clan der Händler ächten und ihm nie mehr irgendwelche Waren liefern. Nein, er will uns ehrlich für alles entlohnen, notfalls sogar mit Vleehs, und das will schon etwas heißen.« »Das allerdings«, murmelte sein Pflegevater sinnend. Die hochbeinigen schnellen Reittiere waren der kostbarste Besitz der Nomaden, das wußte er. Wenn Kamuk sogar bereit war, sie für das Brautgeschenk mit in Zahlung zu geben, mußte ihn das einige Überwindung kosten. Doch er konnte es sich andererseits einfach nicht leisten, den Händlerclan gegen sich aufzubringen, das war ebenso klar. Hufklang drang an seine Ohren, Atlan sah auf und erkannte den Anführer der Reiter, die sein Trio abgefangen hatte. Der Nomade hielt sein Vleeh so abrupt an, daß die »Händler« mit einer Wolke von hochgewirbeltem Gras und Sand überschüttet wurden, und dann erklärte er mürrisch: »Ihr habt es zwar nicht verdient, doch Kamuk von Deombar hat in seiner Großmut entschieden, daß ihr Handel mit den Insassen dieses Lagers treiben dürft. Allerdings nur mit geringwertigen Waren, die
wirklich wertvollen sollen ihm vorbehalten bleiben! Verstanden?« Atlan erhob sich betont langsam, entfernte demonstrativ Dreck und Pfianzenreste von seinem Hemd und nickte dann mit unbewegtem Gesicht. »Deine Rede war so verständlich, daß sie nur ein Idiot hätte mißdeuten können, Reitersmann«, gab er ruhig zurück. »Teile dem großen Häuptling bitte mit, daß wir seine Gnade dankbar anerkennen und zu schätzen wissen; wir werden unseren Clan davon unterrichten, so daß er nicht in Verruf geraten kann. Und auch sonst werden wir seinem Gebot folgen und nichts tun, das ihm mißfallen könnte, sage ihm das ebenfalls.« Er kam sich fast lächerlich dabei vor, Redewendungen anzuwenden, wie sie auf der Erde vor gut zweieinhalb Jahrtausenden gebraucht worden waren, doch damit traf er hier den richtigen Ton. Über die Züge des Deombarers flog zwar ein verächtliches Lächeln, aber er akzeptierte diese Worte, wandte sein Tier und trabte davon. Keldarol kroch unter dem Karren hervor, unter den er entsprechend seinem Charakter gekrochen war, begann zu grinsen und rieb sich erwartungsvoll die Hände. »Dann haben wir es also geschafft, das war die Bestätigung! Gut, dann sollten wir sofort beginnen, die Waren hervorzuholen und zum Anbieten bereitzulegen. Wir werden ein Geschäft machen wie noch nie zuvor, das garantiere ich euch.« »Das hat man gern«, empörte sich Chipol. »Zuerst verkriechst du dich feige, und jetzt führst du hier das große Wort, als ob nichts gewesen wäre. Dazu tust du auch noch, als wenn es deine Waren wären, dabei gehören dir nicht mal die Sachen, die du jetzt trägst!« Trotzdem solltest du Keldarol gewähren lassen, meldete sich nun wieder Atlans Logiksektor. Ihr beide wißt nicht einmal ungefähr, welchen Wert die einzelnen Dinge haben, und diese Unkenntnis könnte euch sehr schnell verraten. Dann dürfte man euch peinlich befragen, und die Nomaden werden in dieser Hinsicht wohl alles andere als zartfühlend
sein! Das war nur zu wahr, und wenn es soweit kam, war die Händlerrolle für sie ausgespielt. Vielleicht würde es sie nicht gleich das Leben kosten, doch man würde ihnen alles wegnehmen und sie hinaus in die Steppe jagen, und das war fast genauso schlimm. Deshalb legte der Arkonide dem Jungen beschwichtigend die Hand auf die Schulter und setzte ein listiges Lächeln auf. »Gut, daß du mich daran erinnerst – unser Freund hat schließlich nicht unbeträchtliche Schulden bei uns! Da ist nicht nur die neue Kleidung allein, wir haben ihn jetzt auch schon bald eine Dekade lang durchgefüttert, und er hat immer kräftig zugelangt. Umsonst ist aber bekanntlich nur der Tod, also soll er nun auch etwas für uns tun, um dies alles wenigstens teilweise abzugelten.« Das war genau die Sprache, die ein Erzgauner wie Keldarol verstand, und er spürte die Härte hinter diesen Worten heraus. Sein Grinsen wurde zu einer unterwürfigen Grimasse, er duckte sich und erklärte kriecherisch: »Genau das war es doch, was ich eben gemeint habe, Händler Atlan. Nur deshalb mein Eifer, sofort zu beginnen, ich habe nur an den Gewinn gedacht, der dabei für dich herausspringen wird. Laß mich nur machen«, setzte er mit gedämpfter Stimme hinzu, »ich weiß schon, wie man mit dem Nomadenpack umspringen muß! Ich werde sie gehörig übers Öhr hauen, und sie werden es gar nicht bemerken, mein Wort darauf.« Atlan verkniff sich eine Bemerkung darüber, was er von dem Wort gerade dieses Mannes hielt, er nickte nur. Glatt wie eine Katze, die immer auf die Füße fällt, dachte er verächtlich, aber dieses Talent kommt uns hier sehr gelegen. Wir müssen nur darauf achten, daß er nicht zu sehr übertreibt, sonst fallen wir doch noch auf. Gleich darauf waren alle drei an der Arbeit. Sie drehten den Karren so, daß seine rechte Längsseite nun dem Innenplatz zugewandt war, und klappten die Seitenwand herunter. Die beiden Klapptische wurden herabgewuchtet, Chipol und Keldarol stellten sie auf, und der Arkonide kramte die richtigen
Warenbündel heraus. Eine Viertelstunde später war ihr Inhalt auf den Tischen ausgebreitet, der Handel konnte beginnen. * »Hierher, ihr Deombarer, Männer und Frauen vom Vleehhornstamm! Hier warten wahre Schätze auf euch, Dinge, die ihr vielleicht noch nie zuvor gesehen habt. Kommt her und seht sie euch an, tapfere Krieger, die stärkenden Pulver und Zauberknochen, die eure Kraft vervielfältigen werden! Oder wollt ihr vielleicht lieber Ringe aus edlem Metall, Armreifen und Geschmeide, um damit die Frauen eures Herzens zu zieren? Es ist alles da, auch Duftwässer, mit denen sie sich benetzen können, um ihren Reizen noch Wohlgerüche hinzuzufügen, und Räucherstäbchen, um die Sinne zu betören! Oder ist unter euch jemand, der ein gewisses Pulver braucht, weil er vielleicht nicht mehr so ganz … nun, ihr wißt schon. Dies alles haben wir und noch vieles andere mehr, naht euch und seht es euch an. Und macht euch keine Sorgen wegen des Entgelts dafür, wir lassen mit uns reden, so daß jeder zufriedengestellt wird. Hierher, ihr Deombarer, Männer und Frauen …« Keldarol war voll in seinem Element, fast wie in einem Rausch. Einiges schrie er laut heraus, manches sang er förmlich, und an bestimmten Stellen wurde seine Stimme leise und vertraulich, dann wieder eindringlich, fast beschwörend. Er beherrschte alle Register der Überredung und Betörung geradezu meisterhaft, in seinen Worten lag eine fast suggestive Kraft, und selbst der in praktisch jeder Hinsicht erfahrene Atlan schüttelte unwillkürlich den Kopf. Er hatte schon viele Marktschreier erlebt, auf den primitiven Welten des arkonidischen Imperiums ebenso, wie später aufzahlreichen anderen Planeten. Auch hatte er selbst schon den Händler markiert, wenn es nötig gewesen war, und das seiner Ansicht nach gar nicht schlecht. Doch weder er noch irgendwelche
andere waren je auch nur annähernd so gut gewesen wie der Verstoßene aus Xanthoron. Er degradierte den uralten Arkoniden zur Nebenperson, und dieser war zunächst regelrecht fasziniert. Doch nicht für lange, dann fand er wieder zum nüchternen Pragmatismus zurück und sah Keldarol so, wie er wirklich war: ein Blender und Roßtäuscher, mehr nicht! Zuvor hatten die Deombarer den Händlerkarren zwar zur Kenntnis genommen, aber nur mit flüchtiger Neugier. Nun aber schallte die Stimme Keldarols weithin durch das Lager, und seine Anpreisungen verfehlten ihre Wirkung nicht. Bald schon ballten sich die Nomaden geradezu um die Tische mit den darauf ausgelegten Waren, und sie sahen mit glänzenden Augen auf die vermeintlichen Schätze. Atlan war der Anweisung des Häuptlings gefolgt und hatte alles, das als Brautgeschenk in Frage kam, auf dem Karren belassen. Trotzdem reichte das übrige immer noch aus, um die Begierde der Deombarer zu wecken, sie trafen offenbar nicht oft mit Händlern zusammen. Vor allem die Augen der Frauen und Mädchen funkelten begehrlich, doch sie hielten sich im Hintergrund und flüsterten nur den Männern ihre Wünsche ins Ohr. Diese traten dann zögernd vor, deuteten auf die fraglichen Dinge und ließen sich von Atlan und Chipol die nötigen Erklärungen geben. Das letzte Wort hatte jedoch immer Keldarol, er nannte den Wert und die Gegenforderung dafür. Dabei waren die Nomaden von vornherein im Nachteil, sie besaßen außer ihren persönlichen Gütern kaum Dinge, die als Tauschobjekte geeignet waren. Zumindest ihrer Meinung nach, doch Keldarol ließ das nicht gelten und wußte auch, warum. Nicht nur die Frauen, auch die Krieger trugen meist Halsketten und Armreifen aus Pflanzenfasern, in denen bunte Edelsteine saßen. Roh und unregelmäßig geformt, besaßen diese tatsächlich kaum
einen Wert, sie erhielten ihn erst in den Schleifereien in den Städten. Doch davon wußten die Steppenbewohner nichts, ihnen erschienen die prächtig funkelnden, aber wertlosen Imitationen aus Glas, die es in Atlans Vorrat gab, als viel schöner und wertvoller. Sie gaben deshalb die wirklichen Schätze bedenkenlos in Tausch und ahnten nicht einmal, wie sehr sie dabei betrogen wurden. Keldarol dagegen wußte es sehr genau. Mit sanfter Stimme brachte er die Deombarer dazu, ihre Edelsteine und Nüsse gegen zwar schöne, aber wertlose Dinge einzutauschen, und Atlan verzog jedesmal das Gesicht. Er mußte dabei immer an die »Kolonisatoren« auf der Erde denken, die ahnungslosen Wilden mit Glasperlen nicht nur ihre Reichtümer, sondern auch riesige Landgebiete »abgekauft« hatten, um sie später gewissenlos ausbeuten und ihre Bewohner unterjochen zu können … Vergiß es! mahnte ihn der Extrasinn energisch. Diesen Nomaden entsteht kein wirklicher Schaden, ob sie nun Glas oder Juwelen am Hals tragen, ist für ihr Dasein bedeutungslos. Wichtig ist allein, daß du den Auftrag der Hohen Mächte erfüllst, sonst nichts! »Das schon«, murmelte der Arkonide, »nur die Umstände, unter denen das zur Zeit geschieht, gefallen mir nicht. Zwar habe ich ein gutes Schiff, doch ich kann es nicht benutzen; statt dessen reise ich auf einem Holzkarren, bin vom Wohlwollen Halbwilder abhängig und verliere eine Menge Zeit. Ist das ein Zustand?« Das war eine rein rhetorische Frage, also antwortete sein »zweites Ich« nicht darauf. Der Handel ging weiter, Keldarol nahm alles in Zahlung, was einigen Wert besaß, und als der Abend kam, waren beide Tische fast leer. Um so voller war dafür der Beutel, in dem er den Erlös verwahrte, und den er nur mit sichtlichem Widerstreben aus der Hand gab, als Atlan dies forderte. »War ich nicht gut?« fragte er, vom vielen Ausrufen und Feilschen heiser. »Morgen werde ich aber noch besser sein, dann komme ich erst richtig in Schwung, du mußt für Nachschub sorgen. Ich denke
da vor allem an die bunten Tücher …« »Was morgen ist, dürfte vor aljem vom Häuptling abhängen«, stoppte Atlan seinen Redefluß. »Für heute hast du jedenfalls genug getan – nimm die übriggebliebenen Federn und Knochen und sieh zu, daß du dafür irgendwo einen Krug Wein auftreibst, und auch etwas frisches Fleisch. Wir beide räumen hier inzwischen auf und kümmern uns um die Zugtiere.« * Die Nacht verging ruhig, nur die Laute der Tiere und zuweilen die Schritte von Wachtposten unterbrachen die Stille. Die drei »Händler« nächtigten wieder bei ihrem Wagen, wurden aber für ihren Geschmack viel zu früh geweckt. Nomaden waren Frühaufsteher, sie kamen schon kurz nach Sonnenaufgang aus ihren Zelten und gingen daran, ihre Reittiere zu füttern und zu striegeln. Die Frauen bereiteten indes die Morgenmahlzeit, Keldarol zog erneut los und kam mit einem Krug voll heißem Kräutertee wieder. Der Arkonide süßte ihn sparsam mit Zucker aus dem Schiffsvorrat, spendierte dazu einige Stücke Zwieback und erkundigte sich: »Hast du schon am frühen Morgen wieder jemand übers Ohr gehauen, Shylock von Xanthoron? Du siehst für diese Stunde geradezu unziemlich vergnügt und zufrieden aus.« Der Verstoßene grinste breit. »Nein, vor dem Frühstück pflegte ich noch nie Geschäfte zu machen. Mir ist nur ein ausnehmend gut aussehendes Mädchen begegnet, ich habe eine Weile mit ihm geplaudert, und so etwas hebt meine Laune immer. Ich scheine ebenfalls Eindruck auf sie gemacht zu haben – nun ja, ich bin ja auch ein stattlicher Mann.« »Zumindest so lange, wie du nicht vor Angst unter den Karren kriechst«, stichelte Chipol prompt, aber diesmal kam er damit nicht an. Keldarols gute Laune blieb und Atlan schloß daraus, daß er
nicht nur ein gewiefter Betrüger, sondern auch ein Schürzenjäger war. Doch das ist allein seine Sache, urteilte er, ich bin weder ein Wächter über seinen Umgang mit Frauen, noch über die Tugend eines Nomadenmädchens. Ein folgenschwerer Irrtum, aber das konnte er jetzt noch nicht ahnen, und auch sein Extrasinn warnte ihn diesmal nicht. Er war nur für Dinge zuständig, die in die Rubrik Logik und Vernunft fielen, und die waren in der Liebe nur äußerst selten im Spiel … Sie aßen, dann säuberte Chipol das Geschirr, und die beiden Männer sahen nach den Xarrhis. Als diese versorgt waren, gab es für sie vorerst nichts zu tun, die Deombarer erledigten ihre eigenen Dinge und hatten keine Zeit für Geschäfte. Der Arkonide sichtete nochmals die Vorräte auf dem Wagen, doch es war nicht mehr viel dabei, das für den freien Handel in Frage kam. Ein paar Dutzend Tücher zum Schutz für Hals und Kopf gegen Staub und Insekten, geschnitzte Knochen und Erzbrocken mit Quarzeinschlüssen, die im Sonnenlicht schillerten und funkelten. Fast die Hälfte der Bündel schied aus, weil sich darin die wirklich wertvollen Sachen befanden, und diese mußten für den Häuptling reserviert bleiben, als Mitgift für die Braut. So verging der halbe Vormittag, und dann kam plötzlich Unruhe in das Zeltlager. Ein Krieger kam angesprengt, rief etwas, das keiner der »Händler« verstehen konnte, und verschwand dann in Kamuks Zelt. Verwirrung breitete sich aus, die Frauen ließen alles stehen und liegen und liefen in Richtung des Korrals davon. Die Krieger eilten zu ihren Zelten, offenbar, um ihre Waffen zu holen, doch dann erschien wieder der Reiter auf der Bildfläche. Erneut rief er etwas, das weder Atlan noch seine Begleiter verstanden, doch dafür sahen sie um so besser, was nun geschah. Von allen Seiten her ritten fremde Krieger in das Lager ein, und als erster ein wahrer Hüne von einem Mann. Sein langes Haar flammte rot in der Sonne, in der Rechten hielt er ein riesiges Schwert, am
linken Arm hing ein runder Holzschild, mit grünen und roten Zeichen verziert. Er sprengte dicht an dem Karren vorbei, und als Keldarol das Emblem auf seinem Schild sah, fuhr er erschreckt zusammen. »Dieses Zeichen kenne ich … das sind Yanthurer«, stieß er heiser hervor. »Sie sind Todfeinde der Deombarer, die beiden Sippen liegen schon seit langem im Streit. Gleich wird der Kampf zwischen ihnen entbrennen – nichts wie fort von hier!« Er duckte sich panikerfüllt und wollte ziellos wegrennen, doch im nächsten Moment schlug er lang hin. Chipol hatte ihm kurzerhand ein Bein gestellt, und nun kroch er jammernd wieder einmal auf allen Vieren auf den schützenden Wagen zu, und Atlan lachte verächtlich auf. »Wo willst du hin, du Feigling? Nomaden greifen niemals jemanden an, der unbewaffnet ist, das wäre gegen ihre Ehre. Außerdem sind wir Händler und damit erst recht tabu für sie, das solltest du doch eigentlich wissen.« Ganz wohl war ihm nicht bei diesen Worten, aber die Ereignisse entwickelten sich weit besser, als zu vermuten gewesen war. Zwar ritten mindestens hundert schwerbewaffnete Krieger der Yanthurer auf den Innenplatz, doch der erwartete erbitterte Kampf blieb seltsamerweise aus. Die bereits bewaffneten Deombarer ließen ihre Schwerter wieder sinken, sie blieben regungslos stehen, und die beiden Parteien musterten sich nur mit den Augen. Das dauerte aber nur wenige Sekunden, dann steckte der rothaarige Hüne sein Schwert weg und hob befehlend die Hand. Das genügte, seine Männer rissen ihre VIeehs herum und brachten sie wieder in Bewegung. Schweigend, wie sie gekommen waren, ritten sie wieder aus dem Lager, obwohl es ihnen leichtgefallen wäre, die kaum bewaffneten Deombarer niederzumachen, und der Junge schüttelte verständnislos den Kopf. »Begreifst du das, Atlan?« fragte er stockend. »Keldarol sagte sehr eindeutig, daß die beiden Stämme verfeindet sind, er weiß also
offenbar mehr über die Nomaden, als er bisher zugegeben hat. Und doch haben die weit überlegenen Yanthurer die Deombarer verschont – warum wohl?« Der Arkonide lauschte auf einen Kommentar seines Logiksektors, doch dieser blieb aus. Demnach war sein sonstiger Berater auch nicht klüger als er selbst, weil sich die Fakten widersprachen, und so hob er nur unschlüssig die Hände. »Ich weiß auch nicht mehr als du, aber vielleicht kann Keldarol uns etwas dazu sagen. Heh, du Schlitzohr, komm unter dem Karren hervor, dein kostbares Leben ist außer Gefahr. Woher kennst du die Yanthurer, hattest du schon mit ihnen zu tun?« Nach dem Abzug der Fremden war es im Lager ruhig geworden, die Bewohner kehrten an ihre Arbeiten zurück. Der Verstoßene dagegen brauchte länger, um sich von seinem Schock zu erholen, er steckte zunächst nur den Kopf ins Freie und sah sich um. Erst dann kam er ganz hervor, schüttelte Staub ab und zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid, ich kann dir nichts Genaues sagen, Händler Atlan. Meine Kontakte zu Nomaden beschränkten sich auf Stämme in der Nähe der Stadt, und von ihnen erfuhr ich von der Feindschaft zwischen den beiden Sippen. Sie wußten es zwar auch nur vom Hörensagen, im allgemeinen ist aber auf solche Nachrichten Verlaß.« »Um so merkwürdiger ist dann aber das Verhalten beider Parteien«, sinnierte Atlan. »Ich hasse aber Unklarheiten, man gerät zu leicht in Schwierigkeiten, wenn man nichts weiß. Wie ist es, Chipol, willst du dich nochmal vorsichtig unter den Leuten umhören?« »Mit Vergnügen, Partner«, kam es von dem Jungen, er schnitt dem Xanthorer eine Grimasse und machte sich davon. 5.
An weiteren Handel war vorerst nicht zu denken, kein Deombarer ließ sich in der Nähe des Wagens sehen. Das kam dem Arkoniden aber sehr gelegen, denn außerhalb geschah etwas, das seine Aufmerksamkeit voll beanspruchte. Die Yanthurer waren zunächst weggeritten, doch nun kamen sie wieder, noch zahlreicher als zuvor. Sie führten Packtiere mit sich, stiegen ab und befreiten sie von ihren Lasten. Dann brachte eine Gruppe die Vleehs ein Stück weg, zäumte sie ab und ging daran, einen Korral zu errichten. Die übrigen schnürten die Bündel auf, und es kamen Zelte zum Vorschein, die nun in unmittelbarer Nähe des Lagers der Deombarer aufgeschlagen wurden. Das schien diesen nicht sonderlich zu gefallen, man sah es an den Blicken, mit denen sie den Vorgang verfolgten. Atlan vermutete stark, daß hier der Erleuchtete seine Finger mit im Spiel hatte, so wie bei den anderen Stämmen, doch Beweise dafür hatte er nicht. Eben darum beobachtete er die fremden Krieger um so aufmerksamer, und seinen geschulten Blicken fielen mehrere Dinge auf. Das erste war die Tatsache, daß es unter den Yanthurern nur sehr wenig Frauen gab. Er konnte die Szene nur sehr unvollkommen übersehen, denn es herrschte ein ständiges Gewimmel, und jedes neu aufgebaute Zelt versperrte ihm den Blick noch mehr. Trotzdem blieb ihm nicht verborgen, daß das weibliche Element bestenfalls im Verhältnis eins zu zehn vertreten war. Bei den Deombarern dagegen war es in etwa ausgewogen – weshalb dieser Unterschied? Im Augenblick unwichtig! erklärte sein Extrasinn knapp. Damit hatte er recht, denn es gab einen Umstand, der erheblich gewichtiger erschien: die Yanthurer besaßen außergewöhnlich gute Waffen! Das war Atlan bei ihrem spektakulären ersten Auftritt noch nicht aufgefallen, doch nun bemerkte er es deutlich. Die Nomaden von Cairon bevorzugten es, ihre Bewaffnung nicht in kompakten Scheiden, sondern weitgehend offen zu tragen. Die Dolche steckten in einem Kreuzgurt quer vor der Brust, die
Schwerter so in einer Schlaufe am Gürtel, daß sie fast waagrecht nach hinten ragten. Natürlich pflegten alle Krieger ihr Gerät, so gut sie konnten, von seinem Zustand hing schließlich im Ernstfall ihr Leben ab. Bei den Deombarern hatte der Arkonide bisher jedoch nur Waffen gesehen, die zwar gut geschmiedet und geschliffen waren, aber nur aus normalem Eisen bestanden. Dieses verlor auch bei bester Pflege im Lauf der Zeit seine Glätte, die Oberfläche wirkte dann rauh und stumpf. Entsprechend sahen auch die Schwerter und Dolche der Deombarer aus – die der yanthurischen Krieger dagegen strahlten und blitzten förmlich im Sonnenschein! Die Schlußfolgerung daraus fiel einem so erfahrenen Mann wie Atlan nicht schwer: diese Waffen mußten aus einem erstklassigen Stahl gefertigt sein, aus einem Material also, das es auf Cairon normalerweise noch gar nicht gab … Gratuliere, Schnellmerker! kommentierte der Logiksektor mit der Überheblichkeit, die er zuweilen zeigte. Damit hast du den Beweis, daß dein bester Freund sich hier sehr effektiv betätigt, wenn er selbst sich auch verborgen hält. Nun richte dich auch danach! Wie, das sagte er nicht, und Atlan kam auch vorerst nicht mehr dazu, weiter darüber nachzudenken. Chipol tauchte wieder auf, er nickte seinem Pflegevater zu und lächelte zufrieden. »Die deombarischen Männer sind zwar im Augenblick ausgesprochen schweigsam, doch von den Frauen kann man immer etwas erfahren, wenn man es nur geschickt genug anfängt. Ich habe hier und dort um einen Schluck Wasser gebeten, dann vorsichtig Fragen gestellt, ohne aber etwas von Bedeutung zu erfahren. Dann hatte ich Glück, zwischen zwei Zelten stand eine Gruppe von Weibern, ich kam ungesehen ganz in ihre Nähe und hörte, daß sie gerade über jene Dinge sprachen, die jetzt hier im Gange sind. Die Deombarer fürchten die Yanthurer noch immer, weil sie ihnen überlegen sind, aber die alte Feindschaft soll nun beendet werden! Vor einigen Tagen hat ein Vermittler aus einer anderen Sippe mit
Häuptling Kamuk gesprochen und ihm erklärt, wie das geschehen kann: seine Tochter Dunai soll mit Ositor vermählt werden, dem ältesten Sohn des Häuptlings Quodonor von Yanthur! Dann sind durch diese Verbindung die beiden Stämme verwandt, und nach den Gesetzen der Nomaden dürfen sie nicht mehr gegeneinander kämpfen. Mehr konnte ich leider nicht hörenʹ.« »Danke, Chipol, du hast deine Sache gut gemacht«, lobte Atlan ihn. »Jetzt wissen wir doch eine ganze Menge. Es dürfte sicher sein, daß die Hochzeit hier stattfinden wird, deshalb sind die Yanthurer hier erschienen, und mit ihnen wohl auch der künftige Mann dieser Dunai. Ob das noch heute geschehen wird?« Keldarol schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich erst morgen, der Zeremonie gehen immer erst die üblichen Kampfspiele voraus. Die wird man wohl heute abend abwickeln, so ist es bei allen Nomaden Brauch.« Er grinste und rieb sich die Hände. »Vermutlich wird aber bald jemand kommen, um sich besagte Brautgeschenke anzusehen, und dann winkt uns erst der ganz große Gewinn! So gesehen, war es doch gut, daß man gerade uns aufgegriffen hat, wenn es zuerst auch anders schien.« »Noch besser aber für die Deombarer, denn sie hätten anstelle unserer Waren wohl ihre besten Vleehs abgeben müssen«, urteilte der Arkonide. »Gut, dann sollten wir die Sachen schon einmal auspacken und zur Besichtigung zurechtlegen, fangen wir gleich damit an.« Er flankte auf den Karren und löste die ersten Schnüre, und nun kamen die Dinge zum Vorschein, die ein einfacher Nomade auch beim besten Willen nicht erstehen konnte. Je zwei Packen farbenprächtiger Hosen und Jacken, die eigentlich für Stadtleute bestimmt waren, doch bei den Mitgliedern der yanthurischen Häuptlingsfamilie bestimmt auch Anklang finden würden. Die dazu passenden Hemden und Stiefel aus bestem Mandalonleder folgten, dann ponchoartige Umhänge und Kopftücher, sowohl zum Schutz vor Regen wie auch vor den sengenden Strahlen der Sonne.
Keldarol bekam glänzende Augen, er malte sich wohl aus, wie er all dies mit tönendem Wortgeklingel anpreisen konnte. Dann kamen Krüge mit feinstem Öl zur Hautpflege, gläserne Amphoren, gefüllt mit besonders wohlriechenden verschiedenfarbigen Duftwässern, und noch einiges andere mehr. Der Verstoßene atmete schwer, denn nun begriff er erst richtig, wie wertvoll die Ladung – nach den Maßstäben von Cairon – eigentlich war. Wenn es ihm an jenem Abend am Teich gelungen wäre … Atlan konnte unschwer vermuten, was ihn nun bewegte, er klopfte ihm auf die Schulter und bemerkte lächelnd: »Nur keine Sorge, was den Gewinn angeht, ich werde schon mit mir reden lassen. Verdient hast du es ja eigentlich nicht, aber du sollst auch nicht mit leeren Händen dastehen, wenn sich unsere Wege …« »Achtung, Atlan!« rief Chipol dazwischen. »Eben tut sich etwas – das Lager bekommt Besuch von den Yanthurern.« * Drei Männer erschienen, diesmal zwar zu Fuß, doch die Zugehörigkeit zur Häuptlingsfamilie war ihnen auf den ersten Blick anzusehen. Die übliche Bekleidung der Nomaden, bei Kriegern sowohl wie bei den Frauen, bestand aus Halbstiefeln oder Sandalen, Pluderhosen mit Ledergürtel und losen langärmeligen Hemden. Dazu kamen dann, dem Wetter entsprechend, entweder Kopftücher oder burnusähnliche Umhänge, alles in tristen grauen oder braunen Farbtönen. Diese Yanthurer dagegen waren prächtig herausgeputzt, mit bunten Hemden und ebensolchen Tüchern, die um Hüften und Hals geschlungen waren. Sie schritten würdevoll und gemessen an dem Händlerwagen vorbei, so daß dessen Trio jede Einzelheit erkannte; an der Spitze ging der rothaarige Hüne, der am Morgen so spektakulär mit seinen Kriegern hier eingeritten war.
Das kann nur Ositor sein, der künftige Eidam Häuptling Kamuks! folgerte Atlans Logiksektor sofort. Wollen wir wetten? Warum und wozu? Erstens hast du keinerlei greifbaren Einsatz zu bieten, und zweitens behältst du ja doch recht, gab der Arkonide nüchtern zurück. Keldarol hatte natürlich schon wieder volle Deckung gesucht, doch die Fremden sahen weder nach rechts noch nach links, sondern bewegten sich zielstrebig auf das Zelt des Häuptlings zu. Neben diesem saßen zwei Frauen und putzten Stiefel, nun sprangen sie eilig auf und schlugen den Vorhang vor dem Zelteingang zurück. Die Yanthurer schritten hindurch, Keldarol wagte sich wieder neben Atlan und bemerkte: »Die Dinge geraten in Fluß, wie es scheint. Bedauerlich, daß wir nicht hören können, was da drinnen jetzt besprochen wird, vielleicht könnten wir unseren Vorteil daraus ziehen.« Kurze Zeit später kamen die Yanthurer auf seinen Wagen zu. In ihrer Gesellschaft befand sich Häuptling Kamuk, ein schon betagter Mann mit faltigem Gesicht, eisgrauem Haar und ebensolchen Augenbrauen. Er hielt sich noch straff und gerade, in seinen Zügen lag der Ausdruck natürlicher Würde, doch er war längst nicht so prunkvoll gekleidet wie seine Begleiter. Hinter den vieren ging ein Mädchen von etwa 25 Jahren mit einem hübschen frischen Gesicht, dunklen Mandelaugen und langem, sorgfältig gekämmtem schwarzem Haar. Selbst unter der einfachen lose fallenden Bluse zeichneten sich ihre üppigen Formen sehr deutlich ab, und bei ihrem Anblick ging mit dem Verstoßenen aus Xanthoron eine erstaunliche Verwandlung vor. Er hatte wie üblich sofort versucht, sich unsichtbar zu machen, aber Chipol hatte ihn daran gehindert. Nun richtete er sich hoch auf und warf sich in die Brust, ein strahlendes Lächeln erschien auf seinen Zügen, und Atlan begriff sofort: dies war also jenes Mädchen, mit dem Keldarol am Morgen geflirtet hatte, und Eros verstand es, selbst über seine Feigheit zu siegen … Viel konnte dabei aber wohl kaum herauskommen, Mandelauge gehörte offenbar zur Familie des
Häuptlings, war demnach also eine Nummer zu groß für ihn. Die drei »Händler« verneigten sich tief, blieben dann abwartend stehen, und Kamuk sagte mit sonorer Stimme: »Auf diesem Karren also befinden sich unsere Brautgaben, Demitor! Wir haben weder Mühe noch Kosten gescheut, sie rechtzeitig heranzuschaffen, es sind wahre Kostbarkeiten dabei. Überzeuge dich selbst von ihrem Wert, und berichte dann deinem Bruder davon. Auf, ihr Händler, zeigt dem hohen Gast alles genau, was ihr zu bieten habt.« Also hatte das Extrahirn diesmal haarscharf danebengeschlossen, und das erheiterte Atlan für einen Augenblick. Länger nicht, denn nun gab es anderes zu tun – er wollte das Wort ergreifen, doch er kam nicht mehr dazu. Keldarol begann bereits zu reden, er pries zunächst die Güte und Weitsicht Kamuks und fast im selben Atemzug schon die Güte »seiner« Waren. Atlan und Chipol fiel praktisch nur die Statistenrolle zu, wie gehabt. Sie zeigten die einzelnen Dinge vor, und der Xanthoroner nannte ihren Wert. Natürlich übertrieb er auch jetzt wieder schamlos, er konnte gar nicht anders, doch dem Häuptling war das augenscheinlich recht. »Nun geh hin und berichte deinem Bruder«, sagte er würdevoll, als die Vorzeigeschau beendet war. »Sage ihm, daß wir eine große Menge wahrer Schätze aufbieten, damit seine Vermählung mit Dunai und die Versöhnung unserer Stämme erfolgen kann. Ist es nicht so, meine Tochter?« »Gewiß, mein Vater«, bestätigte diese, obwohl ihre Augen fast die ganze Zeit über nur an Keldarol gehangen hatten. Demitor sah seine stummen Begleiter an, sie machten ihm fast unmerkliche Zeichen mit den Händen, und dann brummte er zurückhaltend: »Jeder Händler lobt seine Ware, und dieser Mann ist direkt ein Meister in dieser Kunst. Wir sind es aber gewohnt, uns unsere Meinung selbst zu bilden, können ihm also nur bedingt zustimmen. Ich werde Ositor in diesem Sinn unterrichten, er soll entscheiden und wird dir seine Nachricht zukommen lassen, ehe sich der Abend neigt.«
Er hob die Hand zu einem knappen Gruß, wandte sich dann um und ging mit seinen Gefährten davon. Kamuk sah ihm nach, sein Gesicht hatte einiges von seiner früheren Würde und Zuversicht verloren, es wirkte nun eher sorgenvoll. Seiner Tochter machte dies aber offenbar nicht viel aus, sie schob sich an Keldarol heran und raunte ihm etwas ins Ohr. Der Häuptling bemerkte nichts davon, er drehte sich nach einer Weile langsam um und erklärte: »Was nun auch immer kommen mag, ihr habt eure Sache gut gemacht und sollt nicht darunter leiden. Die Vermählung wird morgen früh bestimmt stattfinden, die Geschenke werden übergeben, und so lange sollt ihr meine Gäste sein. Wenn alles vorüber ist, werdet ihr euer Entgelt erhalten und könnt dann wieder eurer Wege ziehen.« Er ging davon, seine Tochter winkte dem Xanthoroner noch einmal zu und folgte ihm. Dann verschwanden beide wieder in dem Zelt, und plötzlich regte sich auch das übliche Leben im Lager wieder, das solange stagniert hatte. Zugleich auch Atlans Extrasinn, und von ihm kam es lakonisch: Abgesehen davon, daß du diesmal die Wette gewonnen hättest – ich sehe voraus, daß es noch Schwierigkeiten geben wird! Offenbar sind die Yanthurer nicht ganz mit dem zufrieden, was auf deinem Karren ist. Sie sind ohnehin stärker als die Deombarer, und entsprechend hoch schätzen sie auch den Preis für die Versöhnung ein. Die Braut dagegen wohl nicht sehr, also wird sie wohl kaum eine besondere Schönheit sein, folgerte der Arkonide. Scheinbar nur eine Art von Vernunftehe, der älteste Sohn mit der ältesten Tochter, das habe ich ja früher schon oft genug erlebt. Kamuk wird demnach noch einige Vleehs zugeben müssen, doch das soll uns wenig tangieren. Morgen sind wir wieder frei, können weiterfahren und herauszufinden versuchen, was der Erleuchtete hier eigentlich bezwecken will.
* Die nächsten Stunden vergingen ereignislos. Die Deombarer gingen ihren normalen Tätigkeiten nach, zeigten aber keinerlei Interesse an weiterem Handel, obwohl an den Tischen vor dem Wagen inzwischen die restlichen »freien« Waren wieder ausgelegt waren. Chipol ging nach dem Mittagessen erneut auf Erkundungen aus, hörte sich überall im Lager um, erfuhr aber nichts Neues. Die Deombarer schienen nur abzuwarten, die Initiative schien allein bei den Yanthurern zu liegen. Die Bestätigung dafür erfolgte am halben Nachmittag. Atlan und seine Gefährten hatten sich im Schatten des Karrens zur Ruhe gelegt, doch dann schreckte sie plötzlich lautes Hufgetrappel auf. Drei yanthurische Reiter sprengten an ihnen vorbei auf den Innenplatz, zügelten ihre Vleehs in seiner Mitte und setzten metallene Hörner an ihre Lippen. Was sie darauf bliesen, klang hart und mißtönend, doch es rief die meisten Deombarer zusammen, und danach verkündete einer von ihnen ebenso laut: »Ihr Männer und Frauen von Deombar, wir bringen euch gute Kunde! Die Vermählung von Ositor und Dunai ist beschlossen und wird morgen früh vollzogen, und dann soll nichts mehr unsere Stämme trennen. Und schon heute abend, zwei Wilst vor Sonnenuntergang, sollen die traditionellen Spiele beginnen. Männer unserer Sippe werden hierher in euer Lager kommen, um ihre Kräfte mit denen eurer Krieger zu messen. Trefft die nötigen Vorbereitungen, auf daß die Spiele gut gelingen mögen!« Erneutes Horngeschmetter, dann ritten die drei wieder zu ihrem Lager zurück. »Demnach scheint der Bräutigam mit unseren Waren zufrieden zu sein«, mutmaßte Atlan, und Keldarol nickte. »Es sieht so aus, und uns kann das nur recht sein. Auch deshalb, weil nun auch Yanthurer in unser Lager kommen, die bestimmt ein paar Jaculrun‐Nüsse oder sonstige Dinge bei sich haben. Vielleicht glückt es uns, auch noch den restlichen Plunder … verzeih, natürlich
meine ich das nur in übertragenem Sinn, an sie abzusetzen.« Er konnte wirklich nicht aus seiner Haut, der Arkonide schmunzelte jedoch nur verhalten. Er dachte an den nächsten Tag und daran, daß sich sein Weg und der des Verstoßenen dann ohnehin trennen würden. Keldarol würde die versprochenen Prozente erhalten, und dann sollte er selbst zusehen, wo er weiter blieb. Atlan dachte nicht daran, ihn noch länger bei sich zu behalten, denn das hätte mit Sicherheit doch nur wieder neuen Arger gebracht. Ihm lag daran, nach Bakholom zu fahren und die Stadtbewohner vor dem Angriff zu warnen, der in der Luft lag. Vorausgesetzt, daß man dich läßt! sagte der Extrasinn skeptisch. Denke an die vielen Nomaden da draußen. Wenn sie darauf kommen, was du vorhast, ist dein Kopf nicht mehr viel wert. Ruhe, du alter Schwarzmaler! gab Atlan zurück, setzte sich wieder in den Schatten und beobachtete, was nun im Lager weiter geschah. Die Leute hatten sich zunächst wieder verlaufen, nur eine Gruppe von fünf älteren Männern suchte das Häuptlingszelt auf. Sie kamen nach wenigen Minuten wieder heraus, gingen in verschiedenen Richtungen davon und sprachen mit anderen Kriegern. Offenbar hatten sie sich bei Kamuk Anweisungen in bezug auf die Gestaltung der Spiele geholt. Tatsächlich begannen die Vorbereitungen auch schon wenig später. Etwa zwei Dutzend Frauen verließen das Lager, um im benachbarten Wäldchen Holz zu holen, ebensoviele Personen schleppten niedrige Tische ins Freie und stellten sie in zwei langen Reihen auf. Aus einem Gerätezelt wurden Holzgestelle gebracht, ihnen folgten vier aus Stroh geflochtene und bunt bemalte Zielscheiben. Diese hatten jeweils die Form eines Kriegers. Aus Richtung des Korrals erscholl der Todesschrei eines jungen Vleehs, dem gleich darauf zwei weitere folgten. Chipol fuhr zusammen, seine bläulichen Augen sahen den Arkoniden erschrocken an; dieser strich ihm leicht über das dunkle Haar und hob die Schultern.
»Die Yanthurer kommen nicht nur, um Kampfspiele durchzuführen, sondern auch als Gäste. Gastfreundschaft ist aber gerade bei Nomaden eine ernste Sache, da darf sich kein Stamm lumpen lassen, und wenn es um eine Hochzeit geht, schon gar nicht. Diese Leute essen fast nur Vleehfleisch.« Die Frauen kehrten mit großen Holzbündeln zurück, schichteten sie geschickt zu Feuerstellen auf und verschwanden wieder. Dann erschienen junge Männer, brachten große Strohmatten und breiteten sie in der Mitte des Platzes aus. Dort sollten also die Ringkämpfe stattfinden, und die Matten dienten zum Schutz der Kontrahenten. Die Oberkörper dieser Krieger waren nackt, und bald zeigte sich auch, warum. Sie begannen damit, Scheinkämpfe durchzuführen, also waren sie diejenigen, die später gegen die Yanthurer antreten sollten. Sie bewegten sich schnell und geschickt, aber Atlan schüttelte trotzdem bald den Kopf. Ihre Technik war mehr als mangelhaft, er selbst hätte jeden von ihnen auch ohne die ihm geläufigen Tricks schon in der ersten Minute besiegt. Nach zehn Minuten zogen sich die Ringer zurück und wurden durch ältere Männer mit Pfeil und Bogen abgelöst. Diese Waffen waren auf Cairon noch relativ selten und wurden fast nur von Nomaden in der Umgebung von Städten benutzt, in denen sie hergestellt wurden. Die Krieger der wirklich wilden und räuberischen Stämme im Hinterland benutzten meist nur Steinäxte, Holzkeulen und Wurfspeere, glichen dieses Manko aber durch Kampfgeist und Todesverachtung aus. »Die Bogenschützen sind gar nicht schlecht«, bemerkte Keldarol nach einer Weile, aber Atlan lächelte nur und winkte ab. »Sicher, sie treffen die Scheiben fast immer, doch nur selten an den richtigen Stellen. Wenn man einem Gegner in einem Kampf auf Leben oder Tod gegenübersteht, muß aber schon der erste Schuß so sitzen, daß er zumindest kampfunfähig ist! Leichte Verwundungen bringen da nichts – und wenn du einen zweiten Pfeil auflegen müßt, bist du tot, ehe du erneut zielen kannst.«
»Was du nicht alles weißt«, knurrte der Verstoßene mit einem schrägen Blick. »Große Reden führen kann jeder – warum meldest du dich nicht selbst zu den Spielen?« Beherrsche dich besser, du Narr! mahnte der Extrasinn scharf, doch der Arkonide hatte seinen Fehler schon selbst erkannt. »Wie käme ich dazu?« gab er scheinbar erschrocken zurück. »Sicher, ich habe schon vieles gesehen und danach urteile ich, aber trotzdem bin ich nichts weiter als ein simpler Händler, der sich nie in einen Kampf einlassen wird.« Vielleicht dachte Keldarol daran, wie schnell er reagiert hatte, als dieser ihn damals am Teich überfiel, und machte sich so seine eigenen Gedanken? Doch er selbst hatte dabei keine gute Rolle gespielt, also war damit zu rechnen, daß er dies möglichst schnell wieder aus seinen Gedanken verdrängte, wie es seinem Charakter entsprach. So war es dann auch wirklich, er murmelte eine Entschuldigung und der Arkonide entspannte sich wieder. 6. Die Yanthurer verstanden es vorzüglich, ihren Auftritt effektvoll zu gestalten. Diesmal kamen sie zwar zu Fuß, aber wieder schritten die Hornbläser voran und marterten ihre Instrumente. Der schrille Klang allein mußte schon einschüchternd auf die Deombarer wirken, und entsprechend ging es dann auch weiter. Den Hornisten folgte Demitor, der Bruder des Hochzeiters, noch um einiges farbenfroher gekleidet als beim ersten Mal. Einige Meter hinter ihm kamen die zwölf Ringer seiner Sippe in Reihe zu vieren; ihre nackten Oberkörper glänzten ölig, sie schwangen die Arme und ließen ihre gewaltigen Muskeln spielen. Genauso stramm marschierten die Bogenschützen hinter ihnen her, die Bogen einheitlich mit der Rechten vor der Brust gehalten, die Köcher mit
den Pfeilen über der linken Schulter. Ihnen folgten etwa hundert »einfache« Krieger, zwar ohne Waffen, aber gleichfalls in militärisch wirkender Formation – und fast augenblicklich meldete sich Atlans Logiksektor mit einem scharfen Impuls: Beachte den Unterschied zwischen den beiden Stämmen: Kamuks Leute benehmen sich so wie die Nomaden auf allen Welten; sie gehorchen zwar dem Häuptling und seinen Unterführern, aber nicht sklavisch, sondern mehr freiwillig. Die Yanthurer dagegen wirken wie eine gedrillte Truppe! Schon bemerkt, dachte sein Träger zurück, der sich im Lauf der Jahrtausende oft genug unter mehr oder weniger Wilden aufgehalten hatte. Bei solchen gab es zwar immer gewisse Stammesregeln, doch das individualistische Element blieb bei den Kriegern weitgehend gewahrt. Hier war es ganz anders – und wer dahinterstecken mußte, war nicht schwer zu erraten. Chipol beugte sich zur Seite und bemerkte leise: »Keiner dieser Männer trägt eine Waffe, auch Demitor nicht, nur die Bogenschützen. Weshalb wohl, Keldarol?« »Weil dies nur Spiele sein sollen, Junge«, erklärte dieser. »Die Nomaden vergessen bei Wettkämpfen nur zu leicht, daß es gar nicht ernst ist, die Kampfeslust geht mit ihnen durch. Dann gibt es sehr schnell Verwundete oder Tote, und darauf kann man es bei einer Vermählungsfeier nicht ankommen lassen.« »Schon gar nicht, wenn die Sippen bisher verfeindet waren«, fügte Atlan hinzu und beobachtete dann weiter. Der Zug der Yanthurer hatte indessen die Platzmitte erreicht, nun hob der rothaarige Hüne den Arm und rief ein Kommando. Sofort blieben seine Männer stehen, schweigend und regungslos, und damit verstärkte sich der soldatische Eindruck noch mehr. Die Deombarer standen in einem weiten Kreis am Rande des Platzes, sie starrten verwundert und offenbar verunsichert auf die ungewohnte Szene. Die Hornbläser schmetterten noch ein grelles Signal, dann setzten sie die Instrumente ab, und nun öffnete sich der Vorhang drüben beim Häuptlingszelt.
Der Stammesführer kam ins Freie, von zwei älteren Männern begleitet, und diesmal hatte er sich ebenfalls herausgeputzt. Er trug eine bis auf die Stiefel fallende Hose aus blau gefärbtem Mandalonleder, darüber eine rote Jacke aus demselben Material, rechts wie links mit einem großen goldfarbenen Stammessymbol verziert. Auf seinem Kopf saß eine spitze Mütze aus feinem Vleehvlies, seine Rechte hielt den Häuptlingsstab, dessen oberes Drittel aus einem langen, mit kunstvollen Schnitzereien bedeckten Vleehhorn bestand. Betont langsam und würdevoll ging er durch eine Lücke zwischen den Tischen auf die Formation der Yanthurer zu, blieb dann jedoch demonstrativ stehen. Seine Augen richteten sich auffordernd auf Demitor, beide schienen ein stummes Duell mit Blicken auszutragen, und dann gab der Bruder des Bräutigams nach. Er ging Kamuk entgegen, hielt drei Schritte vor ihm an und kreuzte beide Arme vor der Brust. Beide Männer wechselten einige kurze Sätze, und damit war offenbar den Formalitäten Genüge getan. Demitor bewegte sich zu seinen Leuten zurück, der Häuptling stieß mehrmals mit seinem Stab auf den Boden und verkündete danach mit weithin hallender Stimme: »Friede sei fortan zwischen unseren beiden Sippen, den Deombarern und den Yanthurern! Seine endgültige Besieglung wird morgen früh erfolgen, wenn Ositor meine Tochter Dunai zur Frau nimmt. Die Vorfeier beginnt, aber schon jetzt, wenn es auch Braten und Wein erst später geben wird – die Spiele können beginnen.« Eine Art Olympiade im Kleinformat! dachte Atlan belustigt, nur mit dem Unterschied, daß hier die Akteure wirklich echte Amateure sind. Doch wer gewinnen wird, steht für mich schon fest – die Deombarer tun mir ehrlich leid! Demitor gab seinen Männern einen Wink, und ihr Gros ließ sich zu beiden Seiten an den Tischen nieder. Nur die Bogenschützen blieben abwartend stehen, bis ihre Gegner auf der Bildfläche erschienen, es waren jeweils zwanzig Mann. Zu ihnen gesellten sich
dann zwei ältere Krieger beider Parteien, besprachen sich kurz und riefen dann die Spielregeln aus. Es traten jeweils zwei Paare gegeneinander an, jeder Schütze hatte drei Schuß. Die Treffer wurden zwischen eins und drei benotet, je nachdem, wie gut sie saßen, und das Ergebnis dann addiert. Kam dabei ein Patt heraus, gab es eine neue Runde, und gegebenenfalls weitere, bis zur endgültigen Entscheidung. Die drei »Händler« hatten natürlich längst ihren Karren verlassen und sich so weit vorgeschoben, wie es ihnen möglich war. Doch auch in die Masse der Zuschauer kam nun Bewegung, sie gruppierten sich so, daß sie die Zielscheiben einsehen konnten, und damit war dem Trio das Blickfeld versperrt. Atlan beorderte seine Gefährten kurz entschlossen zurück, sie kletterten auf ihren Wagen und konnten von dort aus sogar mehr sehen als die meisten anderen. Die Gäste hatten jeweils den ersten Schuß, und sie trafen durchweg ausgezeichnet. Die Deombarer gaben zweifellos ihr bestes, aber das reichte einfach nicht. Nach dem ersten Durchgang stand es sechs zu drei für die Yanthurer. Keldarol grinste breit und fragte: »Wie wäre es mit einer kleinen Wette, Atlan? Wenn Demitors Leute am Ende mit zehn oder mehr Treffern vorn liegen, bekomme ich fünf Nüsse von dir. Sind es weniger, darfst du mir zehn Nüsse von meinem Anteil abziehen – was hältst du davon?« Der Arkonide verzog das Gesicht. Ehe er jedoch ablehnen konnte, meldete sich plötzlich sein Extrahirn und bemerkte kurz: Nimm die Wette an – du wirst gewinnen, verlaß dich darauf! Das klang nach Lage der Dinge so unwahrscheinlich, daß Atlan den Rat ausschlug und die Wette nicht einging. Zwanzig Minuten später mußte er jedoch zu seiner Verblüffung feststellen, daß auch diesmal sein Logiksektor recht behielt. Bis zur dritten Runde hatten die Yanthurer einen deutlichen Vorsprung, aber ihre letzten vier Leute versagten restlos. Die Deombarer dagegen trafen überraschend gut, und als der Wettbewerb beendet war, hatten sie
ihn mit immerhin zwei Punkten Vorsprung gewonnen … Ein Jubelruf ging durch das Lager, Keldarol schüttelte verwundert den Kopf, und Atlan durchschaute nun, was da vor sich ging: dieses Resultat war eindeutig manipuliert, einen solchen Leistungsabfall der Yanthurer konnte es gar nicht geben! Sie hatten die Deombarer absichtlich gewinnen lassen, das stand für ihn fest. Hast du es endlich kapiert? erkundigte sich sein »zweites Ich« mit deutlichem Spott. Hier ist eine handfeste Schiebung im Gang, wenn auch nur von einer Seite; Kamuks Sippe ist nicht daran beteiligt, sie ahnt nicht mal, daß die Yanthurer sie absichtlich gewinnen lassen. Ich verstehe – Demitors Leute betreiben Imagepflege, damit die Deombarer sie für schwächer halten, als sie wirklich sind! Dann wird es wohl gleich bei den Ringern wieder dasselbe sein, gab der Arkonide zurück. Diesmal irrte er sich jedoch. Die Ringkämpfer vom Vleehhornstamm waren doch um einiges besser, als er sie zuvor eingeschätzt hatte. Vor allem waren sie jünger und wendiger als ihre Gegner, bei denen die Kraft dominierte, und so konnten sie die Kämpfe meist offen gestalten. Allerdings glaubte Atlan zu erkennen, daß die Yanthurer weniger hart Zugriffen, als sie gekonnt hätten, doch darin konnte er sich auch täuschen. Jedenfalls stand es zum Schluß unentschieden, die Matten wurden geräumt und die Kämpfer gingen, um sich zu säubern. Nun trat Demitor vor und erklärte mit unbewegtem Gesicht: »Es beginnt bereits zu dunkeln, für heute sind die Spiele beendet. Die Reiterkämpfe werden morgen nach der Vermählung stattfinden, in Gegenwart Häuptling Quodonors, der am frühen Morgen hier eintreffen wird. Nun entfacht die Feuer, bereitet das Versöhnungsmahl und bringt Wein für alle herbei, ihr Deombarer.« *
»Brauchst du mich im Moment, Händler Atlan?« erkundigte sich der Verstoßene aus Xanthoron scheinbar absichtslos. »Nicht unbedingt, Keldarol, vor dem großen Schmaus wird wohl niemand hier etwas erstehen wollen. Doch weshalb fragst du, hast du irgend etwas vor?« »Nichts Bestimmtes«, wich der andere so glatt wie üblich aus, und der Arkonide lächelte verhalten. »Das ist gut«, bemerkte er, »denn eben fällt mir ein, daß unsere Xarrhis ja noch versorgt werden müssen. Besorge du das, anschließend kannst du dann tun, was du magst.« Keldarol verzog fast unmerklich das Gesicht, doch er beherrschte sich und nickte. Dann machte er sich auf den Weg zum Korral, der Junge sah im feixend nach und warf ein: »Das hat dem Burschen aber gar nicht geschmeckt, nicht wahr? Ich wette, daß er nur weg wollte, um sich irgendwo mit diesem Mädchen zu treffen, das bei der Warenschau mit Kamuk zusammen war.« »Sehr wahrscheinlich«, stimmte Atlan zu, der daran dachte, wie die Schwarzhaarige dem Gauner etwas zugeflüstert hatte. »Hoffentlich übertreibt er es nicht, sie ist schließlich keine beliebige junge Frau, sondern immerhin eine Häuptlingstochter. Zwar sind Weiber bei den Nomaden sozusagen nur Menschen zweiter Klasse, aber in diesem Fall dürften wohl andere Gesetze gelten.« »Glaube ich nicht«, meinte Chipol altklug, »ich habe gehört, daß der alte Kamuk nur zwei Söhne hat, dafür jedoch sieben Töchter. Vier von ihnen sollen hier bei ihm in seinem Zelt sein, nur hat sich bis auf die eine noch keine draußen gezeigt.« Atlan nickte nur, denn er kannte sich gut mit den Bräuchen aus, die bei Nomaden aller Planeten herrschten. Die Stämme brauchten junge Männer, die zu Kriegern herangezogen wurden. Neben den Söhnen galt meist nur die älteste Häuptlingstochter etwas, die als erste verheiratet wurde, ob es ihr nun gefiel oder nicht.
Das galt wohl auch für Dunai, zumal dies eine »diplomatische« Ehe werden sollte, ein reines Zweckbündnis also. Wahrscheinlich hatte sie Ositor noch nie zuvor gesehen, und dieser kannte sie ebenfalls nicht; beide waren gewissermaßen nur Objekte und mußten später eben zusehen, wie sie miteinander auskamen. Die jüngeren Töchter waren allerdings kaum besser dran, sie mußten ihren Vater bedienen und geduldig so lauge warten, bis auch ein Freier für sie erschien. Doch auch dieser wurde fast immer über ihren Kopf hinweg nach den Gesetzen reiner Zweckmäßigkeit bestimmt, so etwas wie freie Liebe gab es so gut wie nie. Zumindest nicht im Stammesquartier, dort hielten die Mütter Wache über die Unschuld der Jungfrauen. Kamuks Frau befand sich jedoch nicht in diesem Feldlager, und er selbst hatte im Augenblick ganz andere Sorgen. Dies ließ nun dem bewußten Mädchen einigen Spielraum, und den wollte es so gut wie möglich ausnutzen, wie es schien … Das alles ging nun dem Abgesandten der Kosmokraten durch den Kopf, während er seine Blicke durch das Lager schweifen ließ. Es war nun schon fast dunkel, aber etwa zehn Feuer flackerten und verbreiteten auf dem Innenplatz eine diffuse Helligkeit. Sie dienten aber vor allem dazu, das Fleisch der geschlachteten Vleehs zu garen, das in eisernen Gestellen darüber hing. Frauen hatten Salz und Gewürze darüber gestreut, sie drehten nun auch die Spieße. Andere hatten große Holzteller mit Brot, Salz und gekochtem Wurzelgemüse auf die Tische verteilt. An diesen hatten inzwischen die Männer beider Stämme Platz genommen, doch sie blieben trotzdem weiter auf Distanz. Die Yanthurer saßen auf den Bänken und Hockern im Innenraum, die Deombarer ihnen gegenüber, mit den Rücken zum Platzrand hin. An sich wirkte die Szenerie fast romantisch, die Feuer knisterten und loderten zuweilen höher auf, wenn Tropfen aus den Bratenstücken hineinfielen, Insekten schwirrten um sie herum. Dieser Eindruck wurde jedoch durch das fast völlige Schweigen
der mehr als zweihundert Krieger gestört. Es gab nur wenige Unterhaltungen, und sie wurden immer nur zwischen Angehörigen derselben Sippe geführt. Die beiden Parteien waren sich noch längst nicht grün, daran hatten auch die Spiele nichts geändert. Von echter Versöhnung oder gar Verbrüderung konnte keinesfalls die Rede sein. Was hast du erwartet? sagte Atlans Logiksektor nüchtern. So eine alte Feindschaft läßt sich nicht innerhalb weniger Stunden vergessen und überwinden, auch nicht auf Befehle von oben hin. Hinzu kommt noch, daß diese von außen her diktiert werden. Stimmt! gab der Arkonide nachdenklich zu. Davon wissen aber bis jetzt wohl nur die Anführer der Yanthurer – ihnen sitzt der Teufel in Gestalt des Erleuchteten im Nacken, und sein Einfluß macht sie stark und selbstsicher. Die Deombarer ahnen nichts davon, was da auf sie zukommt, wenn die Hochzeit erst vollzogen ist … und ich auch nicht, wenn ich ehrlich sein soll. Wie man diese dem Sinn des Wortes nach müden Krieger zum Angriff auf die Stadt motivieren will, ist mir noch immer schleierhaft. Er erhielt keine Antwort, und gleich darauf wurde er durch das abgelenkt, was nun auf dem Platz geschah. Das Fleisch war inzwischen gar geworden, es wurde von den Feuern genommen und in Portionen zerteilt. Einige Männer übernahmen es nun, die schweren Holzplatten zu den Tischen zu bringen, einige andere schleppten große Krüge und Lederschläuche mit Wein herbei. Eilig griffen die Krieger beider Sippen zu, jeder versuchte, ein möglichst gutes Bratenstück zu erlangen, denn ein solch gutes Essen gab es nicht alle Tage. Es war jedoch genug für alle da. Die Frauen huschten zwischen den Tischen hin und her und füllten die Weinbecher, die Männer kauten eifrig und schmatzten dabei so laut, daß es bis zum Händlerkarren hin zu hören war. Zwischendurch schoben sie Brot und Wurzeln nach, Fett tropfte zwischen ihren Fingern hindurch, und Chipol verzog bei diesem Anblick das Gesicht.
»Alle fressen sich voll, aber wo bleiben wir?« maulte er. »Ich finde das ungerecht, denn ohne uns und unsere Waren würde es wohl überhaupt keine Hochzeit geben! Soll ich nicht versuchen, auch etwas für uns zu bekommen?« Atlan nickte lächelnd, der Junge holte Schüsseln hervor und eilte damit davon. Er begab sich zu den Frauen, die nun ebenfalls mit dem Essen begonnen hatten, allerdings nicht an den Tischen. Diese waren nur für die Krieger da, die Weiber mochten zusehen, wo sie blieben. Sie kamen auch nie zur Ruhe, denn immer öfter erscholl nun der Ruf nach neuem Wein, von beiden Seiten der Tische. Für den »Einsamen der Zeit« war dies alles nicht neu, ähnliche Szenen hatte er oft genug erlebt. Alles wiederholte sich nur in gewissen Abständen, und dazu gehörte auch der Umstand, daß er nun wieder einmal einsam war! Hunderte von Menschen – er rechnete auch die Bewohner von Cairon dazu, weil sie diesen weitgehend glichen – umgaben ihn, aber der wirklich ausschlaggebende Faktor fehlte. Es war niemand darunter, mit dem er sich geistig verbunden fühlen konnte, auch der junge Daila gehörte nicht dazu. Irgendwie war und blieb seine Mentalität dem uralten Arkoniden jedoch immer fremd. Jeder Mensch der Erde stand diesem psychisch näher, und sogar der Mausbiber Gucky gehörte in diese Kategorie, obwohl er kein Terraner war. In seiner Gesellschaft hatte sich Atlan trotz all seiner Macken und Skurrilitäten nie einsam gefühlt. Wenn er dagegen an den verschlagenen Keldarol dachte … Wie schön, daß du allmählich wieder zu den Realitäten ßndest! sagte ʹ sein Extrasinn sarkastisch. Eben hast du an Keldarol gedacht – wo mag dieser Erzgauner wohl geblieben sein? Atlan schüttelte kurz den Kopf, dann war er wieder voll da, und gleichzeitig erschien auch Chipol wieder. Er lächelte verschmitzt, hielt seinem Pflegevater eine Schüssel voll Fleisch entgegen und erklärte zufrieden: »Mit den Frauen hier läßt es sich gut auskommen. Ich habe ihnen
die besten Stücke abgeschwatzt, die noch da waren, und hier ist auch frisches Brot. Wenn es nicht reicht, darf ich nochmal wiederkommen – los jetzt, iß, ehe der Braten kalt wird.« Der Arkonide grinste belustigt und folgte dann seinem Rat. Das Vleehfieisch mundete ihm ausgezeichnet, der Geschmack lag irgendwo zwischen Rind und Wild. »Hast du Keldarol irgendwo gesehen?« erkundigte er sich zwischendurch, aber der Junge verneinte. »Keine Spur von ihm, wahrscheinlich steckt er noch immer mit dem Mädchen zusammen. Dann soll sie ihm auch etwas zu essen besorgen, ich habe jedenfalls nichts für ihn mitgebracht.« »Er wird vermutlich schon auf seine Kosten kommen …«, gab sein Pflegevater doppeldeutig zurück. 7. Es war erstaunlich, zu sehen, welche Unmengen von Fleisch diese Krieger in sich hineinschlangen. Jeder Knochen wurde säuberlich abgeknabbert und dann ins nächste Feuer geworfen. Atlan stellte die leere Schüssel weg, stand auf und streckte sich. »Bist du satt geworden?« erkundigte sich Chipol. Atlan nickte, ging bis auf den Platz vor und betrachtete aufmerksam die Szene dort. Die Stimmung war inzwischen merklich lockerer geworden, vermutlich nicht zuletzt durch den Einfluß des Weines. Frauen huschten immer noch mit Krügen umher und schenkten nach. Atlan ging ein Stück zur Seite, und nun sah er auch Demitor und den Häuptling der Deombarer. Sie saßen sich am selben Tisch gegenüber, von ihren Unterführern umgeben, und der Yanthurer schien immer noch nicht gesättigt zu sein. Er hielt einen großen Röhrenknochen in der Hand, griff nun auch mit der Linken zu und schlug ihn so wuchtig auf die Tischkante, daß er zerbrach.
Dann setzte er die eine Hälfte an den Mund, sog das Mark daraus hervor und spülte mit einem großen Schluck Wein nach. Danach war die andere Hälfte dran, die Prozedur wiederholte sich, und Demitor fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. Er rülpste nun genußvoll, grinste breit und sagte etwas zu Kamuk, das über diese Distanz hin nicht zu verstehen war. Nun erhob er sich halb, wandte sich um und schleuderte die leergesaugten Knochenreste ins nächste Feuer. Dieses war gut zehn Meter entfernt, sie landeten aber genau darin, und die Flammen begannen hell zu leuchten und zu prasseln. Das war eine fast beiläufige Demonstration von Überlegenheit, und der Häuptling hatte ihr nichts entgegenzusetzen. Er machte zwar gute Miene dazu, doch sein faltiges Gesicht wirkte grau, während das Haar des Bräutigam‐Bruders in sattem Rot erstrahlte. Du Angeber! dachte Atlan verächtlich. Du weißt genau, daß deine Krieger denen der Deombarer überlegen sind, und daß dieser alte Mann nichts tun darf, das die »Versöhnung« zwischen deinem und seinem Stamm gefährden könnte. Und so ähnlich dürfte es auch nach der Hochzeit weitergehen – die Deombarer tun mir jetzt schon leid. Diese Szene war jedoch fast unbeachtet geblieben, die .übrigen Männer beider Stämme waren mit sich selbst beschäftigt. Ihre Mägen waren voll, der reichlich genossene Wein zeigte seine Wirkung. Er lockerte vor allem die Zungen auf beiden Seiten, und so flogen bald Rede und Gegenrede über die Tische hinweg. Innerhalb kurzer Zeit wurde ein lautes Stimmengewirr daraus, und je mehr die Männer tranken, um so mehr nahm es an Stärke zu. Yanthurer wie auch Deombarer versuchten sich gegenseitig zu übertönen, und wenn Atlan auch nichts verstand, konnte er sich doch lebhaft ausmalen, worum es dabei ging. Das Thema war in solchen Fällen immer dasselbe: Kriegern ging ihr rauhes Handwerk über alles, folglich prahlten sie mit ihren wirklichen oder angeblichen Heldentaten. Natürlich wollte dabei
jeder den anderen ausstechen, und jeder zusätzliche Becher Wein beflügelte die Phantasie. Die Abenteuer wurden immer wilder, die Gegner immer zahlreicher, und proportional dazu wuchsen auch die errungenen Siege. Doch auch aus solchen Übertreibungen ließ sich meist der Kern von Wahrheit herauspicken, wenn man sich darauf verstand. Der Arkonide besaß in dieser Hinsicht genügend Erfahrung, und jede zusätzliche Information konnte wertvoll für ihn sein. Zu tun hatte er im Moment ohnehin nichts, also gab er Chipol ein Zeichen und bewegte sich dann weiter auf den Platz hinaus. Er schlug einen Bogen, ließ die Tischreihen links liegen und ging auf die Holzgestelle mit den Weinschläuchen zu. Natürlich waren die meisten bereits leer, doch eine der bedienenden Frauen erkannte ihn, sie trug eines seiner Armbänder am Handgelenk. Lächelnd drückte sie ihm einen vollen Becher in die Hand, er dankte ihr und nahm einen ersten Schluck. Der Wein war dunkelrot und überraschend gut. Er ging langsam weiter und kam bis auf wenige Meter an die Stelle heran, an der sich die Bogenschützen beider Sippen gegenübersaßen. Dort führte gerade ein Deombarer das große Wort und schilderte, wie er beim Kampf gegen einen Stamm der Barbaren mit Seiner Schießkunst ganz allein den Sieg herbeigeführt hätte. »Ich hatte zwanzig Pfeile im Köcher und habe sie alle innerhalb von zwei Merg verschossen«, prahlte er. »Und jeder Schuß saß gut, die Hälfte der Feinde fiel tot aus dem Sattel, die übrigen schwer verwundet und kampfunfähig! Damit war der Sieg bereits unser, der Rest wandte sich zur Flucht und wurde von den Schwertkämpfern ohne große Mühe erschlagen. Zwanzig Schuß und jeder ein Volltreffer – das soll mir einer von euch Yanthurern erst einmal nachmachen! Ihr habt ja vorhin so schlecht geschossen, daß es direkt eine Schande war.« Er grinste überheblich, deutete mit dem Finger auf die beiden jungen Leute Demitors vor sich und trank dann schmatzend seinen
Becher leer. Von seinem Standpunkt aus hatte er recht, denn eben diese Schützen hatten scheinbar jämmerlich versagt, aber das Grinsen verging ihm innerhalb weniger Sekunden. Ebenso wie er waren auch seine Kontrahenten schon angetrunken, doch sie verstanden noch sehr gut, was er vorgebracht hatte. Sie hatten nur auf Demitors Befehl hin absichtlich schlecht gezielt, und schon das war ihnen schwer genug gefallen. Daß sie nun aber dafür auch noch öffentlich verspottet wurden, war zuviel für sie. Ihre Mienen vereisten förmlich, der eine hob bereits den Becher, um seinen Inhalt dem Beleidiger ins Gesicht zu schütten. Er besann sich aber noch im letzten Augenblick und führte ihn nur zum Mund, doch sein Gefährte sah rot und war nicht mehr zu halten. »Du verdammter stinkender Deombarer!« brüllte er und sprang auf. »Die du angeblich schon erschossen hast, leben alle noch, davon bin ich überzeugt. Wenn ich nur will, schlage ich dich jederzeit, du … du lahmes Xarrhikalb!« Er langte über den Tisch, zog den Verblüfften zu sich hinüber und legte beide Hände im Würgegriff um seinen Hals. Ringsum war es nun totenstill geworden, keiner der Umsitzenden hatte dieses verbale Gefecht so recht ernstgenommen, und diese Eskalation jagte ihnen einen gehörigen Schreck ein. Dieser und der genossene Wein lähmten sie, niemand griff ein, und das Gesicht des Angebers lief unter dem harten Griff des Yanthurers bereits blau an. Atlan ließ seinen erst halb geleerten Becher fallen und machte sich sprungbereit, um einzugreifen. Doch ein scharfer Impuls in seinem Hirn bremste ihn im letzten Augenblick, und der Extrasinn forderte fast überlaut: Halte dich da heraus, du Narr! Händler haben neutral zu sein, und Dank darfst du dabei kaum erwarten, eher das Gegenteil … Im übrigen erledigt sich der Fall auch ohne dich, wie du siehst. Sein »zweites Ich« behielt wieder einmal recht, die Hilfe kam von einer ganz anderen Seite.
* Demitor, der rothaarige Hüne! Wie ein Phantom tauchte er plötzlich hinter seinem Stammesbruder auf, seine mächtigen Pranken griffen zu und brachen den Würgegriff auf. Der junge Deombarer sackte röchelnd in sich zusammen, und nun erwachten auch seine Gefährten aus ihrer Erstarrung. Sie richteten ihn auf, rissen seine Arme hoch, bis er wieder Luft bekam, und flößten ihm dann Wein ein. Niemand von ihnen achtete auf den Angreifer, der sich wütend gegen seinen Bändiger stemmte, dann aber plötzlich wie ein leerer Sack in sich zusammensank. Er hatte Demitor erkannt, das machte ihn schlagartig wieder nüchtern, und der Hüne erklärte leise und messerscharf zugleich: »Du hast gegen das Gebot verstoßen, dem wir alle gehorchen müssen, Alkorom! Männer deines Schlages kann ich hier nicht dulden – du mußt uns sofort verlassen, ungeachtet der Nachtzeit. Sattle dein Vleeh und reite davon, ins Tal der Götter, sofort! Wirf dich dort nieder, verharre stumm und demütig und warte darauf, daß dich der Strahl der Erleuchtung trifft. Dann wirst du voll begreifen, wie wichtig es ist, daß sich alle unsere Stämme versöhnen, und danach darfst du wieder zu uns zurückkehren.« »Ich gehorche, Demitor.« Der junge Mann huschte wie ein Schatten in Richtung des Lagers der Yanthurer davon, selbst von seinen Bogenbrüdern unbemerkt. Sie alle starrten nur zu dem Deombarer hinüber, der sich langsam wieder erholte, und dann lachte der Hüne scheinbar leichthin auf. »Verzeiht, daß einer unserer Jungkrieger sich hier so schlecht benommen hat, ihr Krieger von Deombar! Der Geist des Weines hatte seine Sinne verwirrt, so daß er nicht mehr wußte, was er tat. Er wird jetzt seinen Rausch ausschlafen, morgen wird er gar nicht mehr wissen, wie schändlich er sich eben benommen hat. Feiert nun
weiter, als wäre nichts geschehen, Mitglieder beider Stämme – morgen früh wird die Vermählung vollzogen und mit ihr auch unsere Versöhnung!« Das war so dick aufgetragen, daß selbst ein Blinder mit seinem Stock hätte darüber stolpern müssen, es kam aber trotzdem an. Der von Demitor zitierte Weingeist hielt die Angehörigen beider Stämme in seinem Griff, sie waren froh, daß es nun für sie kein Problem mehr gab. Der Bruder des Bräutigams wartete so lange ab, bis er von der Wirkung seiner Worte überzeugt war, dann kehrte er an seinen Tisch und zu Häuptling Kamuk zurück. Daß Atlan in der Nähe gewesen war, hatte er nicht bemerkt, und der Arkonide war nun froh darüber, nicht voreilig eingegriffen zu haben. Zum einen deshalb, weil sein Logiksektor recht behalten hatte, zum anderen, weil er von Demitor einiges gehört hatte, das ihm eine Menge zu denken gab. Daß die Yanthurer sehr großen Wert auf die Versöhnung mit den Deombarern legten, war ihm schon vorher klar gewesen. Daß sie dabei einem »Gebot« folgten, ebenfalls, und von wem dieses kam, glaubte er gleichfalls bereits zu wissen. Wenn nun der Hüne in diesem Zusammenhang von Erleuchtung gesprochen hatte, war dies nur noch eine Bestätigung, die Ableitung vom Namen seines Gegners lag auf der Hand. Doch was mochte es mit dem »Tal der Götter« auf sich haben …? Befand sich dort lediglich eine Kultstätte der Nomaden, die es schon früher gegeben hatte? Oder hielt sich der Erleuchtete an diesem Ort verborgen und übte von da aus seinen Einfluß auf sie aus? Möglich war sowohl das eine wie das andere. Vielleicht trifft aber auch beides zu! meldete sich nun wieder der Extrasinn. Dieses Tal kann den Steppenleuten schon seit langem heilig sein, im Gegensatz zu den Stadtbewohnern verehren sie ja eine ganze Anzahl verschiedener Götter. Diesen Umstand kann sich nun der Erleuchtete zunutze gemacht haben, so daß sein Wirken als göttlich erscheinen muß.
Auch das konnte sein, und damit gab es nun noch eine weitere Hypothese. Atlan seufzte leise, ihm reichten all die bisherigen Unklarheiten schon vollauf, und er sah im Moment keinen Weg, sie zu bereinigen. Er war immer ein Mann der Tat gewesen, aber der Überfall durch die Nomaden hatte alle seine Pläne vereitelt. Nun mußte er warten, bis die Vermählung vollzogen war, und man ihn gehen ließ, erst dann konnte er wieder handeln. Auf dem Platz war es merklich ruhiger geworden, der Zwischenfall wirkte sich dämpfend auf den Überschwang der Krieger aus. Außerdem schien es nun keinen Wein mehr zu geben, die Frauen hatten ihre Gänge zu den Tischen inzwischen eingestellt. Auch die Feuer waren schon fast ausgebrannt, alles deutete auf ein baldiges Ende dieser Vorfeier hin, und so begab sich der Arkonide zum Karren zurück. Von Keldarol war noch immer nichts zu sehen, und Chipol schlief, den Rücken gegen ein Wagenrad gelehnt, Arme und Kopf ruhten auf den angezogenen Knien. Atlan setzte sich neben ihn und begann, sich das zuvor Gehörte nochmals zu überlegen, doch er kam damit nicht weit. Auf dem Innenplatz wurde es wieder lauter, der allgemeine Aufbruch begann. Die Männer beider Sippen erhoben sich, die meisten auf sehr wackeligen Beinen, und machten sich auf den Weg, um ihre mehr oder weniger großen Räusche auszuschlafen. Die Deombarer kamen dabei weit besser weg, der Weg zu ihren Zelten war nicht weit, und ihre Frauen griffen ihnen unter die Arme, wenn es nötig war. Die Yanthurer halfen sich auf andere Weise, sie bildeten Gruppen und hakten sich beieinander ein. Dann schwankten sie los, einige stimmten rauhe Gesänge an und kamen auf den Durchgang neben dem Händlerkarren zu. Der Lärm weckte den jungen Daila, er stand auf, rieb sich die Augen und bemerkte abfällig: »Und das sollen tapfere Krieger sein? Nur ein paar Becher Wein, und schön können sie nicht mehr geradeaus sehen und laufen – pah!
Wenn ich erst einmal richtig erwachsen bin, werde ich nie so dumm sein wie die, verlaß dich darauf.« Atlan wußte es besser, doch er lächelte nur und schwieg. Die ersten Trupps von Yanthurern stolperten grölend an dem Wagen vorbei und verschwanden in der Dunkelheit. Mehr als die Hälfte hatte ihn bereits passiert, doch dann lachte einer der Krieger plötzlich laut auf, scherte aus dem Weg und riß seine Gefährten mit. Dicht vor dem Karren hielt er schwankend an, hob die Hand und fragte mit weinseliger Stimme: »Ihr seid doch … seid doch Händler, nicht wahr? Nun, dann laßt … läßt mal sehen, was ihr zu bieten habt. Wenn alles vorüber ist und wir … wir wieder bei unseren Weibern sind … Sie sollen auch etwas … etwas bekommen, nicht wahr, Freunde?« »Sollen sie!« bestätigte ein anderer und wies auf die Tische, auf denen noch die restlichen Waren lagen. »Mach … mach mal Licht, Händler, wir wollen genau sehen, was … was du da hast.« Das gefiel Atlan nicht sehr, doch dann kam ihm ein Gedanke, er griff nach einer Fackel und entzündete sie. »Natürlich, tapfere Krieger, tretet näher und trefft eure Wahl«, sagte er mit einer umfassenden Handbewegung. »Herrlich bunte Federn und geschnitzte Knochen sind eine Zierde für jede Frau. Dann diese Steinbrocken, reich mit echtem Gold durchzogen, hier die prächtigen Tücher zum Schutz gegen Sonne und Wind! Oder soll es etwas ganz Besonderes sein – ein Pulver zur Hebung der Manneskraft vielleicht?« Ein weiterer Trupp schloß sich dem ersten an, und die bezechten Yanthurer waren nicht mehr zu bremsen. Sie griffen zu, betasteten die Waren reihum, und im stillen verfluchte der Arkonide Keldarol, denn dieser geriebene Bursche fehlte ihm jetzt. Er warf einen Blick auf den fast leeren Platz, konnte ihn jedoch nirgends entdecken. Dafür sah er aber etwas anderes, das ihm nach Lage der Dinge als noch wichtiger erschien. Demitor und Häuptling Kamuk waren bis dahin noch an ihrem
Tisch geblieben, vermutlich, um weitere Zwischenfälle sofort unterbinden zu können. Doch diese Gefahr bestand nun nicht mehr, sie erhoben sich gleichzeitig und redeten aufeinander ein. Offenbar konnten sie sich aber nicht einig werden, schließlich hob der Häuptling den Arm und deutete auf sein Zelt. Der Yanthurer nickte, sie setzten sich in Richtung auf dieses in Bewegung, alles deutete auf eine wichtige Verhandlung unter vier Augen hin. Die weinseligen Krieger stritten nun untereinander darum, welche Ware wohl kostbarer wäre, keiner achtete mehr auf Atlan. Dieser handelte sofort, packte Chipol an der Schulter und raunte ihm zu: »Lauf los und schleiche dich ans Häuptlingszelt heran – schnell! Ich muß unbedingt wissen, was jetzt noch darin besprochen wird.« Der junge Daila verstand sofort, er nickte und eilte davon. Der Arkonide atmete auf und widmete sich nun wieder den Yanthurern. Die kühle Nachtluft schien die Alkoholnebel relativ schnell aus ihren Köpfen zu vertreiben. Sie begriffen, daß es ohne Gegenwert auch keine Waren gab, und die meisten hatten nichts in den Taschen, also zogen sie davon. Nur zwei blieben zurück, einer besaß drei etwa bohnengroße Rubine, der andere zwei Jaculrun‐Nüsse, und beide waren noch ziemlich jung. »Keine Tücher oder Federn … gib uns Liebespulver!« »Gern«, sagte Atlan listig, während er die Steine betrachtete, »aber was kann es euch schon nützen? Die wenigen Frauen, die ihr bei euch habt, sind doch wohl in festen Händen, und die der Deombarer ebenso. Wollt ihr nicht doch lieber etwas anderes …« »Nein, das Pulver«, sagte der größere der beiden mit der vielen Betrunkenen eigenen Beharrlichkeit. »Wir werden … werden es brauchen, wenn Bakholom erst unser ist! Dort gibt es viele … sehr viele schöne Mädchen, und sie alle … alle werden uns gehören.« »Immer vorausgesetzt, daß ihr die Stadt auch wirklich erobern könnt«, gab der »Händler« zu bedenken. »Die dortigen Männer dürften einiges dagegen haben, denke ich, und es werden viele tausend sein, die sich wohl zu wehren wissen.«
Der kleinere Yanthurer lachte spöttisch auf. »Was verstehst du schon davon? Unsere Zahl wächst mit jedem Tag, die Vermittler sind überall unterwegs, um die Feindschaften zwischen den Stämmen zu beenden! Ist die Versöhnung erfolgt, dann ziehen die Krieger zum Tal der Götter. Diese erleuchten sie nicht nur, sondern geben ihnen zum Lohn auch gute Waffen. Wir haben sie schon, wir waren dort!« Er sprach zwar auch mit schwerer Zunge, aber durchaus flüssig, mit einem deutlichen Hang zur Prahlsucht. Doch das war Atlan nur recht, er wußte genau, wie mit solchen Männern umzugehen war. »Dann seid ihr ja wirklich zu beneiden«, gab er mit anerkennendem Lächeln zurück, »jetzt bin ich fast sicher, daß ihr siegen werdet. Fast sage ich, aber keineswegs deshalb, weil ich euren Mut bezweifle. Doch ich kenne die Städte und weiß, wie schwer sie befestigt sind, euch steht also keine leichte Aufgabe bevor.« Der Krieger grinste überheblich. »Wir haben nicht *nur unseren Mut, sondern auch die Geschenke der Götter, und dies zusammen macht uns unbesiegbar, du Krämerseele. Was weißt du schon von den Donnereiern, die selbst einen großen Berg zerreißen können? Mit diesen werden wir die stärksten Mauern aufbrechen, und ihr Getöse wird die Bakholomer so schrecken, daß ihnen das Herz in die Beinkleider fällt! Sie werden davonlaufen, noch schneller als ein wildes Vleeh – dann dringen wir in die Stadt ein, machen reiche Beute und nehmen uns alle Weiber, die wir wollen.« »Und wo ist dieses Tal der Götter?« hakte der Arkonide scheinbar höchst beeindruckt nach. »Wenn es so ist, wie du sagst, hätte ich nicht übel Lust …« Er glaubte sich fast schon am Ziel, doch dann machte ihm der andere Yanthurer einen Strich durch die Rechnung. Von allem war offenbar nur ein Wort bis zu seinem benebelten Hirn durchgedrungen, doch das genügte schon. » Weiber … oh ja!« brabbelte er und stützte sich schwer auf den
Tisch vor ihm. »Ganz viele Weiber und alle … alle für uns … gib das Pulver her, Händler.« Dann kam für ihn der Blackout, sein Gefährte konnte ihn nur mit Mühe davor bewahren, daß er zu Boden fiel. Diese Aufgabe nahm ihn voll in Anspruch, an eine Fortsetzung des Gesprächs war nun nicht mehr zu denken, das sah Atlan ein. Zudem kamen auch noch Nachzügler singend vom Platz auf den Durchgang zu, er zuckte resigniert mit den Schultern und drückte dem zweiten Krieger einen Beutel mit dem angeblichen Potenzmittel in die Hand. Die anderen halfen diesem, den Bezechten abzuschleppen, so gut sie es selbst noch konnten, und dann war der Arkonide allein. Allein, mit drei Edelsteinen und zwei Nüssen in der Hand, und mit einem Kopf voll schwerer Gedanken … 8. Chipol war zwar erst vierzehn Jahre alt, doch in dieser Zeit hatte er weit mehr erlebt als Millionen von Jungen seines Alters. Seine Erinnerung reichte etwa zehn Jahre zurück, und fast nichts davon war angenehmer Natur gewesen. Grund dafür war die Tatsache gewesen, daß das Volk der Daila keine Leute mochte, die irgendwelche Psi‐Fähigkeiten besaßen. Es war hoch zivilisiert, doch irgendwann hatten Mutanten ihm Ungelegenheiten bereitet. Man konnte es Schicksal oder Verhängnis nennen, es kam unter beiden Aspekten auf dasselbe heraus: seit vier Generationen hatte seine Familie, die den Namen Sayum führte, fast nur psi‐begabte Kinder hervorgebracht! Seine Familie hatte es. stets vermieden, offen darüber zu reden, er hatte immer nur durch Zufall das eine oder andere aufgeschnappt. Vieles davon hatte er nie richtig begriffen, aus dem einfachen Grund, weil er ein »Außenseiter« in seiner eigenen Familie war,
denn er besaß keine Gabe, die irgendwie als übersinnlich anzusehen war. Dann kamen die Oberen der Daila eines Tages zu dem Schluß, daß diese Familie für ihre Welt nicht länger tragbar war. Sie wurde aber nicht eingesperrt oder irgendwie körperlichen Eingriffen unterzogen, denn die Daila waren im Grunde ein recht tolerantes Volk. Statt dessen wurden die Sayums einfach von Aklard verbannt – man steckte sie in ein Raumschiff und befahl ihnen, sich einen anderen Planeten als Asyl zu suchen, möglichst weit von ihrer Heimat entfernt. Daraus hatte sich eine lange Irrfahrt ergeben, an deren Ende die Entdeckung der Welt Cairon stand. Deren Bewohner glichen den Daila nicht nur rein körperlich in etwa. Bei behutsamen Erkundungen war festgestellt worden, daß die Priester in ihren großen Städten ebenfalls Psi‐Fähigkeiten besaßen, und das ließ die Sayums hoffen. Andererseits waren aber die Bathrer zivilisatorisch noch sehr rückständig, eine offene Annäherung also kaum angebracht gewesen. Deshalb hatten die Verbannten von Aklard es vorgezogen, sich für einige Zeit auf der Nachbarwelt niederzulassen, obwohl die Lebensbedingungen dort sehr schlecht waren. Anfangs ging auch alles gut, doch dann war der Erleuchtete dort aufgetaucht, und seitdem waren Chipols Verwandte spurlos verschwunden. Ihm selbst war nichts geschehen, vermutlich deshalb, weil er eben keine. Paragaben besaß, doch nun war er in der Oase ganz allein gewesen. So hatte Atlan ihn gefunden, hilflos und verstört – aber auch von Grimm gegen die für ihn unbegreifliche Erscheinung erfüllt. Es war dem Arkoniden gelungen, sein Vertrauen zu gewinnen, und Chipol hatte sich ihm angeschlossen. Zum einen, weil er auf der Wüstenwelt allein nicht überleben konnte, zum anderen, weil er hoffte, bei der Verfolgung des gemeinsamen Gegners seine Angehörigen wiederzufinden. Der Junge hatte schnell gelernt, sich nach der Landung mit der
STERNSCHNUPPE in der archaischen Umgebung von Cairon zurechtzufinden, er besaß die Anpassungsfähigkeit der Jugend. Er war zuweilen etwas vorlaut, aber klug und gewitzt, auf ihn konnte Atlan sich verlassen. So auch jetzt wieder. Chipol hatte einen Bogen geschlagen, schnellfüßig und leise lief er außen um die Nomadenzelte herum. Aus einigen drangen noch laute Stimmen undeutlich an sein Ohr, in anderen erklang das Schnarchen bezechter Krieger, aber niemand begegnete ihm. So gelangte er nach kaum einer halben Minute unbemerkt zum Häuptlingszelt, und sofort vernahm er auch unverkennbar Demitors Stimme. »Gut, dann beginnen wir also noch einmal von vorn«, sagte dieser gerade. »Die Hochzeit ist beschlossene Sache und wird auf jeden Fall vollzogen, weil es ohne sie keine Versöhnung zwischen uns und euch geben kann. Ositor ist auch bereit, deine Brautgaben anzunehmen, obwohl sie nicht den gebührenden Wert besitzen, und dafür solltest du ihm dankbar sein.« Chipol wollte auch etwas sehen – mit jugendlicher Unbekümmertheit zog er sein Messer und trennte in halber Manneshöhe die Naht zwischen zwei Zeltbahnen auf. Nur ein paar Zentimeter weit, dann schob er einen Finger in den entstandenen Schlitz und konnte hindurchspähen. Demitor befand sich nicht im Blickfeld, er sah nur den Häuptling von der Seite; er saß auf einem niedrigen Polster, hob nun beide Hände und entgegnete: »Keiner kann mehr geben, als er hat, sieh das doch ein! Die Zeit war einfach zu knapp, und diese Händler waren die einzigen weit und breit. Wärt ihr zu uns ins Hauptlager gekommen, sähe alles besser aus, doch ihr wolltet ja unbedingt …« »Nicht wir, der Vermittler hat diesen neutralen Ort bestimmt«, unterbrach ihn der Yanthurer. »Du wußtest aber genau, worum es hier ging, weshalb hast du nicht entsprechend vorgesorgt? Bisher habe ich dir deswegen noch keinen Vorwurf gemacht, doch nun
muß ich es sagen, auch wenn es dir nicht gefällt.« »Die Zeiten sind unsicher, die gesamte Steppe befindet sich im Aufruhr«, hielt ihm Kamuk entgegen. »Wer unter solchen Umständen Dinge von großem Wert mitführt, läuft nur zu leicht Gefahr, sie bei einem Überfall einzubüßen! Und dann hätten wir erst recht mit leeren Händen dagestanden – wäre das vielleicht besser gewesen?« Demitor lachte leise auf. »Du bist gerissen und so wendig wie ein wildes Vleeh, Häuptling! Sicher, das paßt zu deinem Stammeszeichen, nur Ositor und mir will es gar nicht gefallen … Seit ich Dunai gesehen und meinem Bruder geschildert habe, wie wenig ansehnlich seine zukünftige Frau ist, ist sie in seinen Augen beträchtlich im Wert gesunken. Sicher, er wird zu seinem Wort stehen und sie trotzdem nehmen …« »Weshalb ist er nicht selbst gekommen, um sie zu sehen?« fiel ihm nun der Häuptling ins Wort. »Vielleicht wäre sie seinem Auge weit genehmer gewesen, und dann brauchten wir jetzt nicht zu streiten.« »Das ist sehr unwahrscheinlich, Kamuk. Ositor gleicht mir nicht nur äußerlich sehr, wir haben auch in bezug auf Frauen denselben Geschmack. Außerdem erlaubt es unsere Stammessitte nicht, daß der Hochzeiter seine Braut vor der Vermählung sieht, deshalb bin ich an seiner Stelle erschienen. Doch warum sprichst du hier von einem Streit, es liegt mir fern, einen solchen beginnen zu wollen. Ich will dich nur davon überzeugen, daß du bei den Brautgaben noch etwas zulegen mußt, das ist alles.« Der Deombarer sah anklagend zur Zeltdecke empor. »Willst du meinen Stamm unbedingt an den Bettelstab bringen, Demitor? Wir sind in vielen Dingen auf die reisenden Handelsleute angewiesen, und diese Gauner plündern uns schon zur Genüge aus! Wovon sollen wir später leben, wenn du es ihnen jetzt gleichtust?« Chipol auf seinem Lauschposten feixte erheitert, denn dies alles erinnerte ihn an Keldarol und seine Redegewandtheit. Im nächsten Moment wandelte sich jedoch die Szene ganz überraschend.
* Nun konnte er auch den Yanthurer sehen, denn dieser beugte sich über den kleinen Tisch dem Häuptling entgegen. »Reden wir von jetzt an leise, damit uns deine Töchter nebenan nicht zuhören können«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Ich habe dir schon einmal erklärt, daß die Götter euch reich entschädigen werden, wenn die Versöhnung vollzogen ist, aber du hast mir wohl nicht richtig zugehört. Schon morgen könnt ihr dann zu ihrem Tal aufbrechen, wo ihr die Erleuchtung erfahren sollt, die euch Mut und Kraft für die kommenden Kämpfe geben wird. Und nicht allein dies wird dort geschehen – ihr werdet auch so kostbare Schwerter und sonstige Waffen erhalten, wie wir sie bereits besitzen! Die kann euch kein Händler liefern – siehst du nun ein, daß dein Stamm noch immer gut abschneiden wird, auch wenn du jetzt noch etwas bei den Brautgeschenken zulegen mußt?« In Kamuks Augen erschien ein begehrliches Leuchten. »Ich habe eure Warfen schon bei eurer Ankunft bewundert, etwas von dieser Güte habe ich nie zuvor gesehen. Die Götter werden uns also gleichwertige zukommen lassen, sagst du … ist das auch wirklich sicher, Demitor?« »Ganz sicher, Häuptling«, bekräftigte dieser. »Weshalb sollte ich dich wohl belügen, wo unsere Sippen doch schon morgen verwandt sein werden und die alte Feindschaft beendet ist?« Für eine Weile herrschte nun Schweigen, der alte Deombarer wiegte den Kopf und überlegte. Schließlich nickte er und erklärte: »Nun gut, du hast mich überzeugt. Du sprichst zweifellos im Auftrag der Götter, und wem sollte ich wohl glauben, wenn nicht ihnen? Die Belohnung, die sie versprechen, wird meinem Stamm sehr nützlich sein, mit den neuen Waffen können wir dann die Barbaren endlich und endgültig schlagen, die uns vor allem in den
Notzeiten immer wieder bedrängen. Doch du willst auch eine Gegenleistung, und es fällt uns schwer, eine solche zu erbringen, zumindest hier und jetzt. Das einzige, was ich dir anbieten kann, sind Vleehs – aber nur Jungtiere, die höchstens zum Schlachten geeignet sind. Die Reittiere und Zug‐Xarrhis brauchen wir selbst, sonst kommen wir nicht ins Tal der Götter.« Der Yanthurer grinste breit. »Vleehs besitzen wir selbst genug, in dieser Hinsicht kannst du also beruhigt sein. Nein, ich denke dabei an etwas ganz anderes – Dunai hat doch noch einige jüngere Schwestern, die sich jetzt auch hier befinden, nicht wahr?« »Was willst du damit sagen?« fragte Kamuk, und das Leuchten in seinen Augen verschwand abrupt. »Genau das, was du jetzt vermutest«, gab Demitor mit offener Belustigung zurück. »Mein Bruder wird deine Dunai ehelichen. Wie er danach mit ihr auskommt, ist allein seine Sache. Mir fehlt aber auch noch eine Frau, und bei den uns benachbarten Stämmen gibt es keine, die mir gefallen könnte. Vielleicht aber eine von deinen anderen Töchtern, die du bisher hier im Zelt versteckt gehalten hast … Laß mich die einmal genauer ansehen, und wenn mir eine von ihnen zusagt, sind all unsere Probleme auf einen Schlag gelöst!« Der Häuptling schnaufte schwer, es arbeitete in seinem Gesicht. Was der Yanthurer hier von ihm verlangte, diente keinesfalls dem Verlangen der Götter, sondern nur seinem eigenen, das war Kamuk klar. Das sagte er aber natürlich nicht laut, er wiegte ein paarmal den Kopf und erklärte dann: »Gut, es sei so, wie du es vorgeschlagen hast. Dieses Mädchen geht mir ja nicht wirklich verloren, denn wir werden uns in Zukunft wohl öfters treffen, und die Versöhnung wird um so nachhaltiger sein. Eine Bedingung muß ich allerdings auch stellen, Demitor. Da diese Tochter gewissermaßen selbst eine Brautgabe ist, kannst du für sie natürlich keine eigene fordern, das siehst du doch wohl ein!«
Es verschlug dem Yanthurer sekundenlang die Sprache, doch dann lachte er glucksend auf. »Ich will ja nicht behaupten, daß du ein gerissener Halunke bist, aber … Nun gut, lassen wir das, ich stelle dafür meinerseits eine Gegenbedingung: ich will mir meine künftige Frau selbst aussuchen – das siehst du doch wohl ein!« Damit hatte Kamuk nun wirklich nicht gerechnet, aber nun konnte er nicht mehr zurück. Er tröstete sich mit dem Gedanken, daß sein Stamm bald die guten neuen Waffen erhalten würde, und nickte so würdevoll wie möglich. »In Ordnung, die Vereinbarung gilt. Du erscheinst dann am besten morgen in aller Frühe wieder hier, triffst deine Wahl …« »Nicht morgen«, wehrte Demitor entschieden ab. »Da habe ich alle Hände voll zu tun, mein Vater mit seinem Gefolge wird schon bald nach Sonnenaufgang eintreffen. Jetzt bin ich einmal hier, bringen wir es also gleich hinter uns.« Der Häuptling seufzte zwar, mußte jedoch auch diesmal nachgeben. »Gut, ich wecke die Mädchen, du mußt ihnen nur etwas Zeit lassen, damit sie sich herrichten können. Nimm dir solange noch etwas aus dem Krug, einen so guten Wein wirst du nicht bald wieder kosten.« Der hünenhafte Krieger befolgte diesen Rat, Kamuk erhob sich, schlug einen Vorhang beiseite und verschwand dann hinter ihm. Das Häuptlingszelt war nicht nur größer und komfortabler als die der einfachen Nomaden, es war innen auch mehrfach unterteilt. Dem Sippenführer stand natürlich ein eigener Raum zu, aber auch seine Töchter waren gesondert untergebracht. Chipol hatte diese Verhandlungen nicht nur aufmerksam, sondern auch amüsiert verfolgt. Nun drohten ihm aber in der Hockstellung die Beine einzuschlafen, er verlagerte sein Körpergewicht, um sich auf die Knie niederzulassen. Das gelang ihm auch geräuschlos, doch dabei bewegte sich auch sein Arm, und sein Finger rutschte aus dem Sichtspalt …
Obendrein geriet dabei auch die Zeltwand in leichte Bewegung, er fuhr zusammen und machte sich unwillkürlich fluchtbereit. Demitor reagierte jedoch nicht, entweder hatte er nichts bemerkt oder er schrieb es dem leichten Nachtwind zu. Trotzdem wagte der Junge nun nicht mehr, den Schlitz nochmals zu öffnen, sondern wartete nur mit gespitzten Ohren ab. Zunächst erklangen gedämpfte Stimmen von der anderen Zeltseite her, andere unbestimmbare Geräusche folgten. Darüber vergingen etwa zwei Minuten, dann rauschte wieder der Vorhang, und Kamuk sagte nicht ohne Stolz: »Dies sind die drei Schwestern der Braut, alle gut gewachsen und weniger als dreißig Sommer alt! Mein Vaterherz blutet zwar bei dem Gedanken, nun auch noch eine von ihnen hergeben zu müssen, doch das Wohl des Stammes geht allem anderen vor. Diese hier ist Bajanda, besonders erfahren in den Kochkünsten, sie wird dir viele Gaumenfreuden bereiten können, Demitor. Perdonia wiederum ist in den Handarbeiten sehr geschickt, sie kann deine Kleidung mit den schönsten Stickereien verzieren. Abania dagegen besitzt noch keine besonderen Fertigkeiten, wenn sie auch im allgemeinen keineswegs ungeschickt ist. Sie ist die jüngste und muß noch einiges lernen, ehe sie eine gute Gattin sein kann.« Das klang so, als würde ein Viehhändler seine Vleehs anpreisen, zumindest für Chipol. Dieser Vergleich war jedoch gar nicht so abwegig, wenn er an Atlans Worte dachte, nach denen Frauen oder Mädchen bei den Nomaden nicht besonders viel galten. Auch jetzt hatte diese drei niemand nach ihrer Meinung gefragt, so wie schon zuvor Dunai, die ihren künftigen Mann noch gar nicht kannte. In dieser Beziehung war Demitor im Vorteil, denn für seinen Bruder galt schließlich dasselbe. Er ließ sich jedoch viel Zeit, offenbar wog er die Vorzüge der Mädchen sehr sorgfältig gegeneinander ab. »Ich nehme Abania!« erklärte er schließlich, und ein erstickter Aufschrei folgte seinen Worten. Demnach schien die Auserwählte
mit ihrem Los nicht gerade zufrieden zu sein, und auch der Häuptling fragte verwundert: »Weshalb ausgerechnet sie, Demitor? Die beiden anderen würden dir zweifellos bessere Frauen sein, sie wissen und können doch viel mehr als sie.‐« Der Yanthurer lachte selbstgefällig auf. »Du hast zugesagt, mir die Wahl zu überlassen, und ich habe sie getroffen, Häuptling vom Vleehhornstamm! Bei mir geht es nicht nach dem Gewicht wie bei einem Händler, und davon haben Perdonia und Bajanda für meinen Geschmack etwas zuviel. Abania dagegen nicht – und Jugend ist bekanntlich der einzige Fehler, der sich im Lauf der Zeit ganz von selbst gibt! Und was sie noch zu lernen hat, werde ich ihr schon selbst beibringen …« »Du hast es gehört, meine Tochter«, sagte nun Kamuk, »und auch die Götter wollen es so. Füge dich also so wie schon Dunai, sie wird schließlich immer in deiner Nähe sein. Und nun begebt euch alle wieder auf euer Lager, damit ihr ausgeruht seid, wenn unsere hohen Gäste eintreffen, und die Hochzeitsfeier beginnt.« Chipol bedauerte es, nicht alles gesehen zu haben, gehört hatte er aber jedenfalls genug. Die Geräusche aus dem Zelt sagten ihm, daß sich die Mädchen wieder zurückzogen und Demitor Anstalten traf, ihrem Beispiel zu folgen, und so machte er sich wieder davon. * Die Feuer im Lager waren längst erloschen, überall war es still und dunkel. Der Junge fröstelte, denn die Luft hier in der Steppe war trocken und kühlte in der Nacht sehr schnell ab. Deshalb war er froh, zum Karren zurückkehren und seinen warmen Umhang wieder anlegen zu können, aber vorerst kam er noch nicht dazu. Eine fast ausgebrannte Fackel spendete noch etwas Licht, und in seinem Schein erkannte er nicht nur seinen Pflegevater, sondern auch Keldarol. »Bist du wirklich schon wieder da?« erkundigte er sich spitz bei dem Verstoßenen, aber Atlan winkte energisch ab. »Laß das jetzt, Chipol, für mich sind andere Dinge bedeutend wichtiger als dieser Unsinn. Was wollte Demitor zu dieser späten Stunde noch einmal bei Häuptling Kamuk – ist es dir gelungen, die
beiden zu belauschen?« »Sehr gut sogar, Atlan!« sagte der junge Daila stolz. »Ich saß direkt hinter dem Häuptlingszelt und habe sogar einiges gesehen, wenn auch leider nicht alles. Zuerst ging es um die Brautgaben, und darüber wäre es fast zum Streit zwischen den beiden gekommen. Dann wies Demitor jedoch darauf hin, daß den Deombarern erhebliche Vorteile zukommen würden, sofern die Versöhnung zwischen den beiden Stämmen erfolgt, vor allem Waffen.« »War dabei auch vom Tal der Götter die Rede?« fragte Atlan, und der Junge nickte. »Dorthin soll Kamuk. mit seinen Kriegern nach der Hochzeit gehen, aber wo es liegt, hat Demitor nicht verraten. Jedenfalls sollen dort alle .erleuchtetʹ werden und dann die Waffen erhalten, und diese sollen so gut sein wie die der Yanthurer. Daraufhin gab der Alte natürlich nach«, schloß er und gähnte. »Sonst wäre er auch mehr als nur dumm gewesen«, warf Keldarol in seiner üblichen Art ein, doch der Arkonide ignorierte ihn. »Haben sie auch über einen Angriff auf Bakholom gesprochen?« forschte er weiter. Chipol rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf. »Nein, davon habe ich nichts gehört, sie kamen dann wieder auf die Brautgeschenke zurück. Daß Ositor diese Dunai zur Frau nehmen wird, obwohl sie nicht gerade ein Schmuckstück ist, hat sein Bruder bestätigt, doch er wollte bei Kamuk noch etwas herausschlagen – für sich selbst allerdings. Der Häuptling war im Feilschen fast so gut wie unser Schaumschläger hier, hat aber trotzdem den kürzeren gezogen …« Seine Augen fielen zu, der Tag hatte viel Aufregung gebracht, und er war ein so langes Aufbleiben nicht gewohnt. Atlan rüttelte ihn an der Schulter und bemerkte: »Nur noch eine letzte Frage, dann kannst du dich hinlegen. Was war es, das Demitor noch gefordert hat, könnte es für uns irgendwie von Bedeutung sein?«
»Nein, das glaube ich nicht«, meinte der Junge mit müdem Lächeln. »Kamuk hat ihrn Vleehs angeboten, doch die mochte er nicht, Statt dessen hat er sich eine von seinen Töchtern ausgesucht! Sie heißt Abaria oder so ähnlich und soll nun seine Frau werden.« »Dann wird es morgen wohl eine Doppelhochzeit geben«, vermutete sein Pflegevater leicht amüsiert. »Gut, dann roll dich jetzt in deine Decke, leg dich zwischen die Bündel auf dem Karren, dort ist es nicht so kalt.« Er half Chipol hinauf und achtete nicht auf den Verstoßenen – und so entging ihm auch die Veränderung, die nach den letzten Worten des Jungen mit diesem vorgegangen war … Mochte Keldarol auch von Natur aus ein Schürzenjäger sein, es hatte ihn diesmal ernsthaft gepackt. Die jüngste Häuptlingstochter war nicht nur eine ausgesprochene Schönheit, sondern auch eine überaus feurige Geliebte, davon hatte er sich bereits eingehend überzeugt. Weder Somara, noch Veldara oder eine andere seiner früheren Bettgenossinnen kamen da auch nur entfernt an sie heran. Doch ein Mann aus der Stadt und die Tochter eines Nomadenoberen – das paßte schon unter normalen Umständen nicht zusammen. Erst recht nicht eine Verbindung mit einem davongejagten Betrüger, und so hatte Keldarol von vornherein nichts weiter als ein flüchtiges Abenteuer gesucht. Morgen ziehen diese Wilden ihre Wege und wir die unseren, hatte er gedacht – doch nun war mit einem Schlag alles ganz anders. Seine Abania in den Armen dieses rothaarigen Barbaren, noch dazu gegen ihren Willen verschachert wie ein Stück Vieh! Dies hatte ihn weit schwerer getroffen, als er selbst je vermutet hätte. Sein Blut war in Wallung gekommen, er hatte wie versteinert dagestanden und zum erstenmal ein vollkommen neues Gefühl verspürt. Er liebte Abania wirklich! Und sie ihn, das hatte sie ihm in jeder Hinsicht bewiesen; die Mädchen der Nomaden waren nicht käuflich wie die meisten in einer Stadt, sie gaben sich nicht einfach jedem hin. Ein förmlicher
Haß gegen den großspurigen Demitor wallte in Keldarol auf, und er war froh, daß Atlan sich nur um den Jungen kümmerte und deshalb nichts von dem merkte, was nun unschwer aus seinen Zügen zu lesen war. Das gab ihm Zeit, sich wieder halbwegs zu fangen, sein Gesicht glättete sich wieder. Doch seine Gedanken rasten weiter, und er suchte fieberhaft nach einer gangbaren Lösung seines Problems. Es mußte so schnell wie nur möglich gehen – aber wie …? Seine natürliche Verschlagenheit kam ihm zu Hilfe, er glaubte schon bald, den richtigen Ausweg gefunden zu haben. Das ging aber nur, wenn Abania damit einverstanden war, er mußte dies alles zuvor mit ihr bereden. Doch seine Aussichten waren gar nicht schlecht, wenn das Mädchen nur halbwegs ähnlich dachte wie er selbst! Das galt es zunächst herauszufinden, also mußte er mit ihr reden. Willigte sie ein, statt ihrem Vater zu gehorchen und das Lager des groben Hünen zu teilen, war alles weitere nur noch ein Kinderspiel. Von all dem ahnte Atlan natürlich nichts, er hatte den Namen der Häuptlingstochter zuvor noch nie gehört. Chipol wiederum war zu müde gewesen, um ihm noch einen Hinweis darauf zu geben, daß Abania diejenige war, mit der Keldarol so heftig geflirtet hatte und bei der er in den letzten Stunden gewesen war. Zudem hatte der Arkonide ganz andere Sorgen. Der Junge war sofort eingeschlafen, Atlan sprang vom Karren und streckte sich. Er sah auf das dunkle Lager, nirgends regte sich mehr etwas, und auch nebenan bei den Yanthurern war alles ruhig. »Wir sind offenbar die letzten«, stellte er fest, »legen wir uns also auch zur Ruhe. Schon früh am Morgen wird der Rummel beginnen, die Nomaden stehen immer schon mit den Hühnern auf.« Keldarol wußte zwar nicht, was Hühner waren, doch er nickte mit scheinbar gleichmütigem Gesicht. »Vollkommen richtig, Händler, aber zuvor will ich noch einmal nach unseren Xarrhis sehen. Sie waren vorher schon so unruhig,
neben all den Vleehs fühlen sie sich offenbar nicht wohl.« Soviel Pflichtbewußtsein sah dem Xanthoroner eigentlich gar nicht ähnlich, aber Atlan war selbst ehrlich müde. Trotzdem wollte er noch einmal kurz die Lage analysieren, das ominöse Tal der Götter ging ihm nicht aus dem Sinn. Die Deombarer sollten bald nach den Hochzeitszeremonien dorthin aufbrechen, und er wollte versuchen, ihnen heimlich zu folgen. Vielleicht konnte er so herausfinden, was es mit diesem Tal auf sich hatte, und ob dort die Spur seines Gegners zu entdecken war. Mit bockigen Zugtieren mußte es aber schwer sein, den schnellen Vleehs der Nomaden zu folgen, und so nickte er nur. Im nächsten Moment war Keldarol im Dunkel zwischen den Zelten verschwunden, der Arkonide löschte die verglimmende Fackel, rollte sich unter dem Karren in seine Decke und zog die Kapuze über den Kopf. Er begann zwar noch mit dem Nachdenken, doch er kam damit nicht weit. Die Natur forderte ihr Recht, bald schon verwirrten sich seine Gedanken, und dann schlief er sehr schnell und fest ein. Daß der Verstoßene inzwischen sehr aktiv war, ahnte er nicht einmal entfernt. Irgendwann in der Nacht spürte er eine Bewegung neben sich, er öffnete die Augen und blinzelte, ohne richtig wach zu werden. Im schwachen Licht der Sterne sah er undeutlich die Silhouette von Keldarols Körper neben sich, dieser wälzte sich gerade zur anderen Seite und schnarchte dann laut auf. Alles schien also in Ordnung zu sein, Atlan lauschte kurz in sich hinein, aber sein Extrasinn meldete sich nicht. Dann fielen seine Augen wieder zu, er dämmerte erneut ein und schlief durch, bis kurz nach Sonnenaufgang das Lager wieder zum Leben erwachte. 9.
Diesmal war es Chipol, der ihn weckte. Er sah frisch und fast unanständig ausgeschlafen aus. Die Sonne war erst vor kurzem aufgegangen, aber trotzdem herrschte im Lager schon allerhand Leben. Einige Dutzend Männer und Frauen räumten die Überreste vom Abend weg, andere waren dabei, die Tische und Bänke in einem großen Karree aufzustellen. In dessen Mitte wurde aus Steinen und Brettern eine Art von Empore errichtet und mit bunten Decken verziert, auf der wiederum etwa ein Dutzend ledergepolsterter Stühle Platz fand. Ihre niedrigen Lehnen waren mit dem Vleehhornsymbol verziert, sie waren also für das Brautpaar und die Stammesführer bestimmt. Der Junge hatte bereits eine Schale mit Wasser geholt. Atlan zog sich das Hemd über den Kopf und wusch sich, so gut das eben mit den zwei Litern ging. In der Trockensteppe war Wasser kostbar, die Flüsse und Bäche vom Gebirge her waren im Sommer nur Rinnsale. Chipol betrachtete neugierig den Zellaktivator, der vor der Brust des Arkoniden baumelte; er wußte nichts über dessen wahre Funktion, sondern hielt ihn nur für ein Amulett. Dann kleidete Atlan sich wieder an, sah sich um und fragte: »Wo steckt eigentlich unser Schaumschläger, wie du ihn gestern so treffend genannt hast?« Der junge Daila zuckte mit den Schultern und wies in Richtung des Korrals, von dem das Brüllen und Wiehern der hungrigen Tiere herüberklang. »Als ich wach wurde, war er schon weg, nur seine Decke liegt noch da. Vermutlich ist er gleich losgegangen, um die Xarrhis zu versorgen.« Atlan grinste flüchtig. »Er hatte gestern abend schon so einen Anfall von Pflichtbewußtsein, hoffentlich artet das nicht zu einer ernsten Erkrankung aus … Nun gut, da brauchen wir uns wenigstens nicht um die Viecher zu kümmern; essen wir schnell etwas, und dann gibt es genug für uns zu tun.« Er packte die Lebensmittel aus, Chipol rannte los und kam mit einem Krug voll heißem Kräutertee zurück. Sein Pflegevater nickte
ihm anerkennend zu, dann aßen sie hastig und gingen an die Arbeit. Nach der Besichtigung hatte Atlan die Brautgaben wieder in die Bündel gepackt und auf dem Karren verstaut. Nun galt es, sie erneut herunterzuholen und so auf den Tischen anzuordnen, daß ein Maximum an optischer Wirkung erzielt wurde. Mochte Demitor auch nicht sonderlich damit zufrieden gewesen sein, vielleicht dachten Ositor und der Häuptling der Yanthurer bei ihrem Anblick nun doch etwas anders darüber. Wahrscheinlich hat der Rotschopf sie nur mies gemacht, um sein eigenes Süppchen kochen zu können, dachte der Arkonide, während er Chipol ein Bündel vom Wagen herabreichte. Er hat nur geblufft, aber Kamuk ist darauf hereingefallen, und jetzt wird er außer dem Entgelt, das er uns zahlen muß, auch noch eine Tochter los … Sein Gedankengang wurde unterbrochen, denn ein Deombarer näherte sich und blieb vor dem Karren stehen, Es war der Anführer jener Reiter, die die vorgeblichen Händler aufgebracht hatten, und er trug bereits seine beste Kleidung, der bevorstehenden Feier angemessen. Nun lächelte er breit und bemerkte: »Alles im Leben hat bekanntlich zwei Seiten, und was euch zuerst als Ungemach erschien, hat sich inzwischen ins Gegenteil verkehrt, nicht wahr? Ihr werdet eure Waren auf einen Schlag los, ohne noch lange herumziehen zu müssen, und das ist doch auch etwas wert. Doch nun zur Sache: der Häuptling hat bestimmt, daß ihr sämtliche Brautgeschenke auf dem Innenplatz ausstellen sollt, direkt neben dem Podium, an seiner rechten Seite. Schafft also alles dorthin, euch werden zwei weitere Tische zur Verfügung gestellt.« Er wandte sich um und wollte wieder gehen, aber Atlan hielt ihn durch einen schärfen Zuruf auf. »Sollen wir zwei allein dies alles dort hinbringen?« fragte er mißmutig. »Unser Gefährte kümmert sich um die Zugtiere, wir sind also allein, und die Bündel sind schwer. Wenn wir es nicht schaffen, ehe die Yanthurer eintreffen, wird man es nicht uns ankreiden – es
fällt dann voll auf euch zurück!« Der Unterführer kratzte sich überlegend im Genick. »Stimmt auch wieder«, gab er sodann zu. »Gut, ich schicke euch gleich noch zwei Männer, die euch helfen werden. Die Späher haben gemeldet, daß Häuptling Quodonor von Yanthur bereits im Anzug ist, er wird mit seinem Gefolge spätestens in einem Wüst hier eintreffen.« Ein Wüst entsprach etwa vierzig Minuten auf der Erde, also wurde die Zeit wirklich knapp. Atlan fluchte leise, und das galt vor allem Keldarol, der sich noch immer nicht blicken ließ. So lange konnte es unmöglich dauern, die Xarrhis zu füttern und zu tränken, der Xanthoroner roch offenbar die Arbeit und drückte sich wieder einmal davor. Oder sollte er bereits wieder so früh am Morgen mit dieser liebesbedürftigen jungen Tochter des alten Kamuk turteln? Das war ihm ohne weiteres zuzutrauen, der Arkonide stemmte ein weiteres Bündel hoch und merkte zugleich, daß in seinem Hirnʹ ein Gedanke versuchte, Gestalt zu gewinnen. Ein sehr vager Gedanke noch, er drang nicht zu seinem Bewußtsein durch. Vielleicht hätte der Extrasinn etwas damit anfangen können, aber soweit kam es nicht mehr. Zwei junge Deombarer erschienen in diesem Moment, es waren die versprochenen Helfer, und dies lenkte Atlan gründlich ab. Eine gute halbe Stunde angestrengter Arbeit folgte. Zunächst mußten seine eigenen Tische gut hundert Meter weit auf den Platz transportiert werden, und danach die Warenballen. Das waren insgesamt zwanzig. Dann ging es ans Auspacken und an die Drapierung der einzelnen Waren, und davon verstanden die Krieger absolut nichts. Atlan dankte ihnen, schickte sie weg und besorgte alles übrige mit Chipol allein. Der Junge begriff schnell, worauf es hier ankam, er stellte sich sehr geschickt an. Vielleicht nicht ganz so geschickt wie deraalglatte Keldarol, den der Arkonide im stillen verfluchte, weil er sich noch immer nicht sehen ließ.
Doch es reichte immerhin, den beiden blieben sogar noch einige Minuten, um sich zu verschnaufen und letzte Korrekturen vorzunehmen. Dann erklang aber auch schon lauter Hörnerschall, begleitet von dumpfem Trommelwirbel, vom Lager der Yanthurer her. Er rief alle Deombarer ins Freie, sie hatten sich prächtig herausgeputzt und stellten sich gruppenweise vor ihren Zelten auf. Auch Häuptling Kamuk erschien, in vollem Prunk und den Stab mit dem Vleehhorn in der Hand. Ein halbes Dutzend seiner Unterführer und Ältesten begleitete ihn, und gleichzeitig ritten auch mehr als hundert Yanthurer in das Lager ein. An ihrer Spitze ein wahrer Riese von einem Mann, mit eisgrauem Haar und einem Vollbart derselben Farbe, und einem kantigen, wie aus Stein gemeißelten Gesicht. * Häuptling Quodonor von Xanthur bot eine imposante Erscheinung, ihm gegenüber wirkte Kamuk von Deombar schmächtig und farblos. Mit wenigen Metern Abstand folgten ihm Demitor und ein weiterer Mann, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten war. Dieselbe Figur, das gleiche flammend rote Haar, nur bei genauem Hinsehen war zu erkennen, daß seine Züge schärfere Konturen und einige Falten mehr aufwiesen. Dies konnte also nur Ositor sein, der Bräutigam der ältesten Tochter des Oberhaupts der Deombarer. Direkt dahinter ritten zwei bärtige alte Männer ein, in schmucklosen braunen Umhängen, aber mit spitzen roten Fellmützen auf den Köpfen. Seine Erfahrung sagte Atlan, daß dies Schamanen oder Priester waren, diese Typen glichen sich seltsamerweise auf allen Planeten des Universums. Sie sollten also wohl die Vermählung vollziehen, aber noch war es nicht soweit. Es fehlte die Braut, aber sie war wohl ohnehin nur eine
Nebenfigur. Die Yanthurer schwangen sich von ihren Vleehs, ein Teil von ihnen führte die Tiere zum eigenen Lager zurück. Atlan sah, daß keiner der Krieger Waffen trug, auch Quodonor und seine Söhne nicht. Für eine Weile herrschte Schweigen auf dem Platz, alle blieben reglos stehen, und Chipol fragte leise: »Worauf warten die wohl alle?« Atlan hob die Schultern, denn er wußte es selbst nicht. Er erfuhr es jedoch gleich darauf, denn nun traten die Schamanen vor und bewegten sich auf das Podium zu. Beide trugen armlange, glänzend polierte Vleehknochen, von deren oberen Enden ein Sammelsurium aus Fellstreifen, bunten Schwanzfedern von Mandali und Vleehschweifen herabhing. Sie stimmten einen monotonen Singsang an, schritten um die Empore herum und schwangen die Zeichen ihrer Würde nach allen Richtungen hin. So etwas wie eine Geisterbeschwörung also, der Arkonide kannte sich mit solchen Zeremonien aus. Das ganze dauerte etwa eine Minute, dann waren die beiden zum Ausgangspunkt zurückgekehrt, und einer von ihnen erklärte mit knarrender Stimme: »Wir haben sie verbannt, die Dämonen des Unfriedens und der Zwietracht! Von nun an möge nur noch Einigkeit herrschen zwischen den Stämmen derer von Yanthur und Deombar, sie sollen sich versöhnen für alle Zeiten.« Häuptling Quodonor dankte ihnen mit gemessenem Nicken und setzte sich dann selbst in Bewegung. Er trug keinen Stab, sondern nur den mit roten und grünen Emblemen versehenen Schild am linken Arm, in seinem Gesicht regte sich kein Muskel. Kamuk kam ihm entgegen, er bemühte sich ebenfalls um eine würdevolle Miene, und beide blieben in etwa zwei Meter Distanz stehen. »Ich heiße dich in unserem Lager willkommen, Quodonor«, sagte der Brautvater dann feierlich, »dich, deinen Sohn Ositor und euer gesamtes Gefolge. Es soll so sein, wie diese weisen Männer gesagt haben, daß unsere Sippen nie wieder die Schwerter gegeneinander erheben! Alles ist bereit zur Vermählung Ositors mit Dunai, durch
die dies feierlich besiegelt werden wird. Darf ich dich nun bitten, zuvor noch die prächtigen Gaben anzusehen, die wir euch aus Anlaß dieses großen Ereignisses zugedacht haben?« Atlan verzog unwillkürlich das Gesicht, denn diese schwülstigen Worte waren nicht echter als die des Gauners Keldarol, wenn er billigen Schund als Kostbarkeiten anpries. Hier wurde nur Theater gespielt, und beide Seiten wußten es. Der Platz hatte sich inzwischen gefüllt, ein gutes Hundert yanthurischer Krieger war hinzugekommen; nun wandte sich Quodonor betont würdevoll um und kam zusammen mit Ositor auf die Tische mit den Geschenken zu. Sie hoben diese prüfend vor ihre Augen und betasteten jenes, den angeblichen Händlern schenkten sie keinen Blick. Der Arkonide hielt scheinbar demütig den Kopf gesenkt, doch seine Augen wanderten zu Kamuk und Demitor, die weiter im Hintergrund standen. Dort ging etwas vor, das nicht ganz ins Schema paßte, das erkannte er auch, ohne die Worte zu hören, die zwischen beiden gewechselt wurden. Rede und Gegenrede gingen hin und her, der Häuptling sprach mit beschwörenden Gesten auf den Bruder des Hochzeiters ein. Dessen Gesicht war zunächst verblüfft, dann erstarrt, und schließlich von offener Wut überzogen. Irgend etwas lief also schief. Atlan kam nicht von selbst darauf, was das sein mochte, doch dann meldete sich plötzlich sein Extrasinn so lautstark wie nur selten: Bereite dich darauf vor, so schnell wie möglich zu fliehen – gleich kommt der große Knall! Keldarol ist verschwunden und mit ihm zusammen bestimmt auch Abania, beide haben in der Nacht das Weite gesucht, dessen bin ich sicher. Soviel Mut habe ich dem Feigling nicht zugetraut, sonst hätte ich früher daraufkommen müssen. Mehr sagte er nicht, aber das genügte vollauf – die Konsequenzen konnte sich der Arkonide selbst ausmalen. Auf ihn achtete noch immer niemand, und so raunte er dem Jungen hastig ins Ohr: »Verschwinde von hier, schleiche dich aus
dem Lager und laufe zum Korral, schnell! Sattle dort zwei gute Vleehs und warte, bis ich nachkomme – hier wird gleich der Teufel los sein!« Man sah Chipol an, daß er noch nicht begriff, doch er sah den ungewöhnlichen Ernst im Gesicht seines Pflegevaters und gehorchte wortlos. Er schob sich nach hinten, fand eine Lücke zwischen den Deombarern, schlüpfte hindurch und schlug zunächst den Weg zum Händlerkarren ein. Dann überzeugte er sich davon, daß niemand in seine Richtung sah, wischte rasch zur Seite und verschwand hinter dem nächsten Zelt. Draußen war die Luft rein, die gesamte Sippe hatte sich auf dem Innenplatz versammelt, um der Feier beizuwohnen. Er rannte also los und hatte den Korral noch nicht erreicht, als hinter ihm auch schon ein wüster Tumult losbrach. Häuptling Kamuk befand sich in einer schlimmen Lage. Natürlich hatten Bajanda und Perdonia bemerkt, wie ihre Schwester in der Nacht unter der Zeltwand hinweg ins Freie gekrochen war. Doch sie wußten um ihren Flirt mit Keldarol und nahmen an, daß sie nur noch einmal die Früchte der Liebe genießen wollte, ehe man sie ins Bett des rothaarigen Yanthurers zwang. Als sie bei Sonnenaufgang noch immer nicht zurück gewesen war, hatten sie dem Vater ihr »rätselhaftes« Verschwinden melden müssen, und Kamuk war durchaus nicht dumm. Abania hatte sich keine Mühe gegeben, ihr Anbändeln mit dem Händler zu verbergen und, als Demitors Wahl auf sie gefallen war, ebenso ihr Widerstreben gezeigt. Nun brauchte der Häuptling kaum einige Sekunden, um zum richtigen Schluß zu gelangen, und damit begann für ihn das Dilemma. Er konnte sich drehen wie er wollte, das Resultat mußte immer unerfreulich bleiben! Demitor war kein Mann, der mit sich spaßen ließ – erfuhr er sofort davon, daß seine Braut durchgebrannt war, fiel vermutlich die ganze Versöhnung ins Wasser. Deshalb hatte es Kamuk vorgezogen, den Dingen erst einmal ihren Lauf zu lassen
und ihn erst im letzten Moment zu unterrichten. Anstelle von Abania hatte er ihm ihre beiden Schwestern offeriert und immerhin hoffen können, daß der Hüne auf diesen Handel einging. Er hatte schließlich offen, gezeigt, wie sehr den Yanthurern an der Verbrüderung gelegen war, und welcher Nomade ließ es schon nur einer Frau wegen zu einem großen Eklat kommen? Doch Kamuk hatte seine eigenen Maßstäbe angelegt, und mit diesen war ein Demitor nicht zu messen! Zunächst hatte er nur einen bloßen Schachzug des Häuptlings vermutet, dann die Wahrheit begriffen, und nun geriet er in helle Wut. »Verrat!« brüllte er laut, stemmte den Häuptling mühelos mit einer Hand hoch und hielt ihn vor sich hin. »Dieser schmierige Kerl hat uns hintergangen –, die stolzen Krieger von Yanthur, er hat das Wort gebrochen, das er mir gegeben hat! Das Mädchen, das wir als Ausgleich für die Wertlosigkeit der Brautgaben erhalten sollten, hat er so schlecht gehütet, daß es während der Nacht entfliehen konnte! Noch dazu mit einem dieser sippenlosen und betrügerischen Händler, und das macht die Schmach erst vollkommen.« Lähmende Stille breitete sich auf dem Platz aus, der Hüne lachte grimmig auf und ließ Kamuk dann fallen wie einen leeren Sack. »Mein Vater, mein Bruder – dürfen wir so etwas hinnehmen? Nein und nochmals nein, eine solche Befleckung seiner Ehre kann kein echter Yanthurer ertragen! Ich rufe euch alle zur Rache auf!« Und dann kam das, was nun unweigerlich kommen mußte … * Die alte Feindschaft zwischen den beiden Stämmen war nur durch den fremden Einfluß unterdrückt worden, aus reinen Vernunftgründen. Doch nun hatte Demitol mit seinem Geschrei von Verrat und Rache seine Stammesgefährten aufgeputscht, und dabei, blieb die Vernunft hoffnungslos auf der Strecke.
Zugleich hatte er aber auch den Häuptling der Deombarer offen angegriffen und mehr als nur schmählich behandelt. Kamuk krümmte sich noch immer auf dem Boden, ihm war der Sturz nicht gut bekommen, und diese Mißhandlung weckte nun wiederum den Zorn seiner Krieger … Die Schamanen wedelten verzweifelt mit ihren Totems und riefen beschwörende Worte. Sie allein ließen sich von der Hysterie nicht anstecken und dachten an die höheren Ziele, aber sie standen auf verlorenem Posten. Ein einziger lauter Aufschrei brandete durch das Lager, und dann stürzten beide Parteien wutentbrannt aufeinander los! Und dies alles nur eines einzigen Weibes wegen! bemerkte Atlans Extrasinn abfällig. Weshalb sind nur die Männer überall so dumm? Der Arkonide verzichtete auf eine Entgegnung, sein logisches »Anhängsel« war in dieser Hinsicht nicht kompetent. Er hatte auch genug damit zu tun, halbwegs ungeschoren davonzukommen, denn das Chaos war vollkommen. Demitor wütete wie ein Berserker, Ositor und der Vater standen ihm dabei kaum nach, aber auch die Deombarer wußten sich zu schlagen. Die Tische mit den Brautgaben waren längst umgestürzt, der ganze Segen hatte sich über die Schamanen ergossen, die vergebens versuchten, sich daraus zu befreien. Atlan duckte sich, ließ einige Yanthurer über sich hinwegspringen und stellte einem Nachzügler ein Bein, der auf ihn eindrang. Dann hatte er plötzlich den Rücken frei, aber vermutlich nicht für lange. Die Yanthurer im Nachbarlager mußten längst aufmerksam geworden sein und bald auch auf der Bildfläche erscheinen, und dann nahm die allgemeine Schlägerei noch größere Dimensionen an. Zum Glück haben sie keine Waffen bei sich, sonst gäbe es jetzt ein großes Gemetzel, dachte der Arkonide, während er zum Karren eilte. So prügeln sie sich wenigstens nur bis zur Erschöpfung – und wenn sie sich abreagiert haben, werden sie wieder zu denken beginnen. Dann wird ihnen aufgehen, daß ein Händler im Grund an
allem schuld ist, und beide Stämme werden sich darin einig sein, mich als Sündenbock zu schlachten … Du begreifst gut, nur manchmal etwas spät, spottete sein »zweites Ich«. Jedenfalls habe ich dich rechtzeitig gewarnt, sieh nun zu, daß du möglichst schnell hier wegkommst. Atlan erreichte den Wagen, riß seine und Chipols Waffen an sich und griff dann in das Fach, in dem er den Erlös des ersten Tages verstaut hatte. Doch seine Hand kam leer zurück, und es war nicht schwer zu erraten, wo der Beutel geblieben war … »Immer wieder dieser verdammte Keldarol!« knurrte er grimmig, doch ihm blieb keine Zeit, sich noch richtig zu ärgern. Er sah, daß die Verstärkung der Yanthurer bereits angelaufen kam, setzte sich eilig in Bewegung und lief in Richtung des Korrals los. Dort kam er unbehelligt an, alle yanthurischen Krieger stürmten ins Lager der Deombarer. Chipol erwartete ihn, er hielt zwei schnaubende Vleehs am Zügel und wies mit pfiffigem Lächeln auf die leere Umzäunung hinter sich. »Wenn wir schon fliehen müssen, dann soll man uns nicht so leicht verfolgen können!« erklärte er. »Deshalb habe ich zuerst hier alle Reittiere laufen lassen, bin dann zum Korral der Yanthurer gelaufen und habe dort dasselbe getan! Jetzt wimmeln Hunderte von Vleehs draußen in der Steppe herum, während sich die Nomaden noch immer eifrig die Zähne einschlagen … Bis man danach so viele eingefangen hat, um uns verfolgen zu können, sind wir über alle Berge – habe ich das nicht gut gemacht?« Atlan schlug ihm anerkennend auf die Schulter. »Ganz ausgezeichnet sogar«, bestätigte er und schwang sich eilig in den Sattel, »und was besagte Berge angeht, werden wir wirklich dorthin reiten. In der Steppe wimmelt es von kampfeslüsternen Nomaden, und dort würden uns Kamuks oder Demitors Reiter sehr bald aufspüren. Unsere Händlerrolle ist ohnehin ausgespielt, wir sind nicht nur die Waren, Xarrhis und den Karren los, sondern auch den gesamten Erlös.«
Sie ritten zügig nach Osten in Richtung der bewaldeten Berge, die am Horizont zu sehen waren. »Demnach hat also Keldarol nicht nur die Braut geraubt, sondern auch deinen Beutel«, folgerte der junge Daila, und sein Pflegevater nickte grimmig. »Mir sind nur die paar Steine und Nüsse geblieben, die ich am Abend von den bezechten Yanthurern bekommen habe«, knurrte er und untersuchte rasch den Inhalt der Satteltaschen. Die Vleehhengste waren ausgeruht und fielen von selbst in Galopp; hinten im Lager war immer noch das Gebrüll zu hören, wurde nun aber rasch leiser. »Dörrfleisch und Brotfladen – nicht übermäßig viel, aber für ein paar Tage wird es reichen. Wasser findet sich in den Bergen eher als in der dürren Steppe, dort entspringen viele Quellen. Es wird uns also nicht so schlecht ergehen, vorausgesetzt, daß es den Nomaden nicht doch noch gelingt, uns einzuholen.« Rechts und links streunten mehrere Dutzend der freigelassenen Vleehs ziellos durchs Gelände. Atlan grinste kurz und fuhr fort: »Vielleicht schaffen wir es trotz des Umwegs doch noch, Bakholom zu erreichen, ehe die Stadt angegriffen wird. Offenbar sind die Vorbereitungen noch nicht abgeschlossen, weil auch an anderen Orten noch Versöhnungen stattfinden; und auch die eben gestörte dürfte noch vollzogen werden, wenn sich beide Parteien abreagiert haben. Danach müssen die Krieger aber noch das ominöse ›Tal der Götter‹ aufsuchen, um ihre Belohnung zu kassieren – ich gäbe vieles darum zu wissen, wo es liegen mag, verdammt!« Chipol schwieg, er hatte noch nie ein Vleeh geritten und deshalb alle Hände voll zu tun. Er hielt sich jedoch ausgezeichnet, der Arkonide wandte sich von Zeit zu Zeit um und spähte nach hinten. Von Verfolgern war aber auch nach einer Stunde noch nichts zu sehen, und das beruhigte ihn, denn dieser Vorsprung war kaum aufzuholen. Trotzdem behielt er das Tempo bei, bis das Gelände anstieg und die Tiere von selbst langsamer wurden. Zur Mittagsstunde hatten sie die erste Anhöhe erreicht, Atlan ließ den
Jungen zurück und ritt allein zu ihrer Kuppe hinauf. Die beiden Nomadenlager waren in der flachen Ebene gerade noch auszumachen, aber nirgends waren die Staubwolken zu sehen, die ein Reitertrupp unweigerlich aufwirbeln mußte. Chipols kluges Handeln mochte einiges dazu beigetragen haben, es zeigte sich immer wieder, welch guter Gefährte er dem Kosmokraten war. Die große Prügelei zwischen den Stämmen mußte längst beendet sein – vielleicht nahm Demitor nun doch Kamuks »vollschlanke« Töchter, weil Abania keinesfalls mehr zu haben war … Das würde Atlan wohl nie erfahren, und er legte auch keinen Wert mehr darauf. Er war deprimiert, denn er hatte auch hier auf Cairon noch nicht mehr erreicht, als zuvor in der Galaxis Alkordoom. Dort hatte er viel mitgemacht, war aber immer wieder ins Leere gestoßen, wenn er glaubte, den »Erleuchteten« endlich stellen zu können. Und hier setzte sich dieses Spiel weiter fort, er hatte seine Spur noch immer nicht gefunden, obwohl alle Zeichen darauf hinwiesen, daß er sich irgendwo auf dem Planeten befand – im Tal der Götter …? Große Geduld war noch nie deine Stärke, meldete sich nun wieder einmal sein Extrahirn. Sieh doch endlich ein, daß alles seine Zeit braucht, daß die Dinge erst reifen müssen, ehe du die Früchte ernten kannst. Vielen Dank für diesen so überaus weisen Rat! gab der Arkonide sarkastisch zurück. Dann besorge ich mir wohl am besten eine große Schürze, halte sie mir vor den Bauch und warte darauf, daß die Früchte von selbst hineinfallen, wie? Er schlug seinem Hengst die Stiefel in die Flanken, kehrte zu Chipol zurück und ritt mit ihm zusammen weiter. 10. Aus den Hügeln wurden allmählich Berge, in denen niemand wohnte, es gab weder Weg noch Steg. Bakholom lag nun im Nordwesten, und so bog Atlan in das nächste Tal ein, das nach
Norden hin führte. Darin gab es zwar nur wenige Bäume, aber viele Büsche und Gestrüpp, und so kamen die Vleehs nur noch im Schritt voran. Plötzlich wurden sie von selbst wieder schneller, demnach witterten sie Wasser, und Atlan ließ sie laufen. Bald stießen sie auf einen schmalen Bach, der von der rechten Bergflanke herabkam und sich in ein kleines Felsbecken ergoß. Sie waren nun schon seit acht Stunden unterwegs, die Reiter waren matt und hungrig, und die Tiere ebenso. Dies war eine ideale Stelle für eine Rast, rings um das Becken wuchs fettes Gras, und es war hier angenehm kühl. Chipol stieg unbeholfen von seinem Vleeh, seufzte und rieb sich die Kehrseite. Die Nomadensättel waren zwar weich, doch er war nicht an solche Strapazen gewöhnt, im Gegensatz zu Atlan, der schon als Kristallprinz von Arkon Erfahrungen mit Reittieren der unterschiedlichsten Art gemacht hatte. »Das ist nur im Anfang so«, tröstete er seinen Pflegesohn. »Der Mensch gewöhnt sich an alles. Leg dich lang und ruh dich aus, für alles andere sorge ich schon.« Er schirrte die Reittiere ab, sie stillten zuerst ihren Durst und begannen dann ruhig zu weiden. Atlan schöpfte Wasser mit dem kleinen Kupferbecken aus seiner Satteltasche, holte Fleisch und Brot hervor und streckte sich dann neben dem Jungen aus. Sie aßen und tranken, dann schlief Chipol fast übergangslos ein, und der Arkonide begann intensiv zu überlegen. Sicher, die Flucht war geglückt, aber mit den Vleehs kamen sie hier in den Bergen viel zu langsam voran. Die Täler erstreckten sich durchaus nicht immer in der gewünschten Richtung, es mußte viele Umwege geben, ehe der richtige Weg nach Bakholom gefunden war. Dies alles kostete jedoch Zeit, mehrere Tage vielleicht – und inzwischen konnte der Gegner nach Belieben handeln! War es da nicht viel besser, das ganze Verfahren abzukürzen und ihm damit zuvorzukommen? Genau das werde ich tun! beschloß Atlan spontan. Wir reiten in
zwei Stunden weiter, bis dahin hat sich Chipol halbwegs erholt, bis zum Sonnenuntergang haben wir dann immer noch etliche Stunden. Vielleicht stoßen wir dabei auf eine Stelle, wo ein Raumschiff landen kann, und dann rufe ich die STERNSCHNUPPE herbei! In ihr gibt es genügend Dinge, mit denen wir uns neu ausrüsten können, und dann sieht alles schon wieder viel besser aus. Er lauschte in sich hinein, aber sein Logiksektor schwieg, er hatte also nichts dagegen einzuwenden. Der Arkonide streifte den linken Hemdärmel hoch, unter dem sein Armbandfunkgerät saß, als simpler kupferner Armreif getarnt. Er tippte auf die mit bunten Quarzsteinen markierten Sensorpunkte und überzeugte sich davon, daß die Verbindung zu seinem Schiff nach wie vor bestand. Dann drehte er sich beruhigt zur Seite, schloß die Augen und schlief schon wenige Sekunden später tief und fest. Die »innere Uhr« des alten Raumfahrers weckte ihn pünktlich; er ließ Chipol noch weiterschlafen, fing erst die Vleehs ein und sattelte sie. Dann rüttelte er den Jungen wach, sie tranken noch einmal und füllten ihre Wasserflaschen auf. Gleich darauf waren sie wieder unterwegs, doch Atlans Hoffnung erfüllte sich nicht. Das Gelände war zu uneben, als daß irgendwo ein Schiff hätte landen können, und so bog er schließlich in ein Quertal ab, das sich nach Westen hinzog. Mit Rücksicht auf Chipols lädiertes Sitzfleisch ritten sie nur im Schritt, und so schienen die Berge kein Ende nehmen zu wollen. Doch dieser Schein trog. Noch vor Sonnenuntergang passierten sie eine geröllgefüllte Enge, direkt dahinter traten die Felswände zurück und gaben den Blick auf eine weite Talsenke frei. »Endlich!« seufzte der Arkonide. »Da unten ist genügend freier Platz für die STERNSCHNUPPE, deine Leidenszeit wird also bald zu Ende sein, Chipol.« Auch hier schlängelte sich ein Bach durchs Gelände, und dieses war mit üppigem Buschwerk bestanden, das den freien Blick in die Senke versperrte. Atlan ritt voran und suchte den besten Weg, doch
dann stutzte er – hier mußte vor ihm schon jemand geritten sein! Das Gras hatte sich zwar schon wieder aufgerichtet, aber trotzdem waren die Eindrücke von Vleehhufen noch zu erkennen, und geknickte Zweige gab es außerdem. Als »Einsamer der Zeit« war der Unsterbliche oft genug mit Wilden auf der Erde geritten und hatte viel von ihnen gelernt. Das war wohl schon viele Jahrtausende her, doch er besaß nicht umsonst ein »fotografisches« Gedächtnis, und das kam ihm nun zustatten. Hier waren mehrere Personen geritten, vermutlich schon vor mehreren Stunden, aber trotzdem hieß es vorsichtig zu sein! Er hielt an und unterrichtete den jungen Daila. Dann stiegen sie beide ab, ließen die Tiere zurück und arbeiteten sich so leise wie möglich weiter vor. Eine halbe Minute später hatten sie den Gebüschrand erreicht, direkt dahinter fiel der Boden steil hinunter zur Senke ab. Hier waren die Spuren nun viel deutlicher, aber Atlan achtete nicht mehr auf sie. Er steckte den Kopf vorsichtig aus dem Laubwerk hervor – doch schon im nächsten Moment zog er ihn wieder zurück, und ein erstickter Laut kam über seine Lippen. »Das hat uns gerade noch gefehlt …!« ächzte er. * Die Sonne stand zwar schon sehr tief, doch es dämmerte noch nicht, und aus der erhöhten Position war die Talsenke gut zu überblicken. Sie durchmaß mehrere Kilometer, besaß nur wenig Vegetation und wurde nur lose von niedrigen Hügeln umgrenzt. Ein wirklich idealer Landeplatz für die STERNSCHNUPPE also – wenn da nicht die vielen Nomadenzelte gewesen wären! Sie standen schnurgerade ausgerichtet in langen Reihen, und es mußten mindestens tausend sein … Demnach waren hier Dutzende von Stämmen zusammengezogen, und in den , ringsum
angeordneten Pferchen drängten sich entsprechend viele Vleehs. Dein bester Feind erweist sich als sehr rührig! kommentierte der Logiksektor lakonisch. Es muß schon eine Menge von Versöhnungen gegeben haben, anders wären so viele Stämme von Individualisten gar nicht unter einen Hut zu bringen gewesen. Vermutlich werden in den nächsten Tagen noch mehr hinzukommen, auch die Deombarer und Yanthurer – und was dann? Chipol hatte nun auch alles gesehen und sagte etwas, aber Atlan achtete nicht darauf. Die abschließende Frage seines Extrahirns war rein rhetorisch und eigentlich überflüssig, er wußte auch so, was der Endzweck dieses gigantischen Heerlagers war. Und wenn er daran dachte, was er von dem betrunkenen jungen Yanthurer erfahren hatte, lief es ihm kalt den Rücken hinunter. Diese Armee bekam nicht nur vergleichsweise simple Waffen wie stählerne Schwerter, sondern auch »Donnereier«! Sprengmittel auf chemischer Basis also, daran war nicht zu zweifeln, und das machte sie jedem Gegner auf dieser primitiven Welt überlegen. Schon der Knall allein genügte, um ihn zu demoralisieren, und wenn dabei zugleich die Mauern barsten und die Nomaden sich mit wildem Gebrüll durch die Lücken ergossen, mußte das Chaos vollkommen sein. Dies war eine wahrhaft erschreckende Vision. »Armes Bakholom!« murmelte der Arkonide, dann fand er langsam in die Wirklichkeit zurück, und der Junge fragte: »Du rechnest damit, daß diese Wilden die Stadt erstürmen werden, nicht wahr?« »Was sonst?« knurrte Atlan, aber dann schüttelte er energisch den Kopf. »Noch ist es nicht soweit, es dürfte noch einige Tage dauern, bis die Vorbereitungen abgeschlossen sind. Und das ist gut so, denn wir müssen jetzt wieder zurück in die Steppe und einen weiten Bogen schlagen, um den Heerhaufen zu umgehen. Vielleicht schaffen wir es noch, in der Stadt zu sein, ehe der Sturm beginnt, und ihre Bewohner zu warnen.« »Du willst das Schiff also nicht mehr heranholen?«
»Natürlich möchte ich das, es fragt sich nur, ob die Umstände es erlauben. Zwischen den Bergen scheint es keinen geeigneten Platz zu geben, und je näher wir an Bakholom herankommen, um so weniger ratsam wird es. In der Ebene geht es erst recht nicht. Die Nomaden haben scharfe Augen und Ohren, und wenn nur einer etwas bemerkt, spricht sich das in Windeseile in der gesamten Steppe herum. Dann erfährt der Erleuchtete unweigerlich auch davon und weiß, daß wir ihm auf der Spur sind.« »Also noch ein paar Tage reiten«, murrte Chipol und rieb sich vorsichtig den verlängerten Rücken. Dann sah er wieder hinunter in die Senke, und plötzlich stieß er Atlan an. »Sieh mal, dort links in der Lücke zwischen den vordersten Zelten … ich glaube, das ist Keldarol!« Der Arkonide starrte hinüber, doch aus mehr als dreihundert Meter Entfernung war nichts Genaueres zu erkennen. Er sah nur, daß dort eine Gruppe von Kriegern dabei war, einen einzelnen Mann einer wenig erfreulichen Behandlung zu unterziehen. Sie hatten einen Kreis gebildet, in dessen Mitte er sich befand, und öffneten an der einen oder anderen Stelle eine Lücke für ihn. Sobald er jedoch versuchte auszubrechen, pfiffen von den Seiten her Seilenden durch die Luft, veranlaßten ihn zu geradezu artistischen Sprüngen und trieben ihn wieder zurück. »Er ist es, ganz bestimmt!« behauptete der Junge. Nun, vielleicht hatte er die schärferen Augen, und ganz unwahrscheinlich war es schließlich nicht. Der Gauner war mit seinem Liebchen ebenfalls in die Berge geflohen, und die vorher entdeckten Spuren bewiesen, daß jemand an dieser Stelle in die Senke geritten war … Atlan grinste verhalten und bemerkte: »Wenn der Bursche dumm genug war, ausgerechnet dieses Heerlager aufzusuchen, dann geschieht ihm nur recht. Vielleicht hat ihn auch Abania dazu überredet, und er glaubte, mit seiner glatten Zunge die Krieger hier ebenfalls beeindrucken zu können. Nun, immerhin wird er am Leben bleiben, die Nomaden treiben nur ihre
rohen Spaße mit ihm. Die uns gestohlenen Schätze ist er aber jedenfalls nun los, und das Mädchen wohl auch; das nennt man ausgleichende Gerechtigkeit.« ENDE Nachdem sich auf Cairon die seltsamen Vorfalle häufen und es zu überraschenden Veränderungen altehrwürdiger Traditionen kommt, ist Atlan sicher, daß der Erleuchtete, sein alter Gegenspieler, dafür verantwortlich ist. In dem Versuch, weiteres Unheil von den Bewohnern des Planeten abzuwenden, macht der Arkonide sich auf den Weg nach der Prächtigen Stadt. Dort existiert noch die Harmonie von Bakholom … DIE HARMONIE VON BAKHOLOM – unter diesem Titel erscheint auch der nächste Atlan‐Band. Der Roman wurde von Arndt Ellmer geschrieben.