Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 587 Zone-X
Krieger für Hidden-X von Hans Kneifel Der Hypervakuum-Verzerrer wird eing...
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 587 Zone-X
Krieger für Hidden-X von Hans Kneifel Der Hypervakuum-Verzerrer wird eingesetzt In den mehr als 200 Jahren ihres ziellosen Fluges durch die Tiefen des Alls haben die Besatzungsmitglieder des Generationenschiffs SOL schon viele gefährliche Abenteuer bestanden. Doch im Vergleich zu den schicksalhaften Auseinandersetzungen, die sich seit dem Tag ereignen, da Atlan, der Arkonide, auf geheimnisvolle Weise an Bord gelangte, verblassen die vorangegangenen Geschehnisse zur Bedeutungslosigkeit. Denn jetzt, im Jahre 3804 Solzeit, geht es bei den Solanern um Dinge von wahrhaft kosmischer Bedeutung. Da geht es um den Aufbau von Friedenszellen im All und um eine neue Bestimmung, die die Kosmokraten, die Herrscher jenseits der Materiequellen, für die Solaner parat haben. Und es geht um den Kampf gegen Hidden-X – einen mächtigen Widersacher, der es auf die SOL abgesehen hat. Züge und Gegenzüge wechseln bei der erbitterten Auseinandersetzung zwischen den Kontrahenten einander ab. Nach den jüngsten Erfolgen über Hidden-X, die in der Abwehr des »Anschlags auf die Zukunft« und in der »Rettungsaktion für Chybrain« gipfelten, sind die Solaner zuversichtlich. Allerdings hat Hidden-X noch einige äußerst unliebsame Überraschungen für Atlan und die Solaner parat. Dazu gehören auch die KRIEGER FÜR HIDDEN-X …
Die Hauptpersonen des Romans: Oggar - Das Multibewußtsein wird entführt. Breckcrown Hayes - Der High Sideryt ist um das Verschwinden von Solanern besorgt. Ursula Grown - Kommandantin des neuen Hypervakuum-Verzerrers. Myrrhn, Shorrn und Narrm - Drei führende Anterferranter.
1. Die Zeremonie war keineswegs prunkvoll oder beeindruckend. Trotzdem wurde sie über alle Visiphone an Bord der SOL übertragen. Am ersten Dezember 3804 taufte der High Sideryt Breckcrowh Hayes den Hypervakuum-Verzerrer. Vor der Kuppel des Bordobservatoriums stand im gekennzeichneten Bereich künstlicher Anziehungskraft eine kleine Gruppe von Personen in Raumanzügen. Die Kuppel war von innen hell erleuchtet, so daß die Gestalten scharfe Silhouetten bildeten. Dann flammten Scheinwerfer auf, die man mit Haftmagneten am Mantel der langgestreckten Plattform befestigt hatte. Farbige Kabel wanden sich wie Schlangen durch die schwerelosen Bezirke und verschwanden irgendwo im Innern des Verzerrers. Die Stimme von Breckcrown Hayes war zu hören. »Wir alle hoffen«, sagte er mit seiner rauhen, prägnanten Stimme, »daß dieses Gerät unsere Hoffnungen erfüllt. Die Besatzung der SOL hat mit der Hilfe von SENECA, ohne die der Bau nicht möglich gewesen wäre, den Hypervakuum-Verzerrer gebaut und zusammengesetzt. Es war ein gewaltiger Kraftakt für uns alle.« Hayes machte eine kurze Pause. Über die Bildschirme zogen die Ansichten der kantigen Plattform mit ihren eigentümlichen technischen Installationen. Die Aufnahmen waren im unmittelbaren Bereich der SOL gemacht
worden, im harten Licht der Außenbordscheinwerfer. Die Umhüllungen und Verkleidungen des Energietrichters, die der Funkantennen, des Energiewandlers und die Öffnungen der Triebwerke glitten vorbei. Dann richtete sich die Übertragungskamera wieder auf den High Sideryt. Breckcrown fuhr fort: »Niemand von uns, selbst SENECA, weiß genau; ob dieses riesige Gerät funktioniert – und wie es eigentlich funktioniert. Die Wahrscheinlichkeit, daß wir mit seiner Hilfe die Angriffe von Hidden-X zurückschlagen können, ist groß. Aber es wohnt dieser Maschinerie ein guter Teil an Wunderglaube inne. Wir hoffen, ohne zu wissen. Der nächste Angriff des gewaltigen Gegners, der den Flug der SOL so lange blockiert und aufgehalten hat, wird sicher in Kürze erfolgen. Freunde an Bord! Einige Tage, die wenig aufregend waren, liegen hinter uns. Die Drohung von Hidden-X, uns alle zu versklaven, wurde deutlich ausgesprochen, und dieses Wesen mit all seinen erstaunlichen Möglichkeiten hat bisher jede Drohung wahrgemacht. Um so seltsamer ist es, daß es den Bau des Verzerrers nicht verhindert hat. Atlan hat den großen Spiegel des Flekto-Yn zerstört; dieser vernichtende Einsatz hat uns allen gezeigt, daß Hidden-X keineswegs unverwundbar ist. Es sind innerhalb des Hypervakuum-Verzerrers noch einige wenige Arbeiten durchzuführen, dann sollte das Gerät einsatzbereit sein. Kommandantin der Plattform wird die Stabsspezialistin Ursula Grown sein. Sie trägt große Verantwortung, weil sie unabhängig von der SOL wird handeln müssen. Zum Angedenken an einen Mann, der keineswegs unumstritten war, einigten wir uns darauf, dem technischen Gerät einen vertrauten Namen zu geben. Stellvertretend für alle von der SOL taufe ich deshalb die Plattform auf den Namen Chart Deccon.« Er ging auf die Kuppel zu, holte aus und zerschmetterte außerhalb der gekennzeichneten Sicherheitsfläche einen Behälter aus dünnem
Glas. Eine Flüssigkeit breitete sich aus und zerstob in eine Wolke von Kristallen. Ehe sich die Wolke zerteilte und in langgezogenen Schleiern auflöste, glitzerten die winzigen Kristalle zauberhaft im Licht der Scheinwerfer und bildeten bizarre Muster. Die Kommandantin der Station fügte hinzu: »Wir werden, obwohl wir die zugrundeliegende Technik nicht oder noch nicht begreifen, nicht zögern, den Verzerrer als Waffe einzusetzen. Bisher haben die SOL und die Plattform ihren Standort mehrfach gewechselt, denn in diesem sonnenlosen Gebiet des Universums gibt es keine Verstecke. Wir bleiben wachsam und skeptisch, was den nächsten Schlag von Hidden-X betrifft – er wird, darauf können wir vertrauen, bald erfolgen. Ich wünsche uns allen viel Glück.« Nacheinander wurden die Scheinwerfer abgeschaltet. Die Techniker des HV bauten die Gestänge ab. Aus dem Dunkel schwebte eine Space-Jet heran und setzte in der Nähe der grün leuchtenden Observatoriumskuppel auf. Hayes, Atlan und einige andere Begleiter des High Sideryt stiegen in den Diskus, der sie zurück in die SOL brachte. »Nun haben wir eine gigantische Waffe zusammengebaut«, sagte der Arkonide zu Hayes, als sie vor sich die riesige Masse der SOL auftauchen sahen, gekennzeichnet nur durch ein paar geöffnete Schleusen, die wie Positionslichter wirkten, »von der wir nicht wissen, wie sie zu betätigen ist.« »Ich vertraue auf die kreative Intelligenz SENECAS«, erwiderte Hayes knapp. »Drücken wir die Knöpfe. Dann wird man sehen, was passiert.« »Irgend etwas wird sicher passieren«, meinte Atlan. »Wir warten weiter?« »Wir warten. Ich habe das sichere Gefühl, daß wir nicht lange werden warten müssen«, erklärte Hayes. »Außerdem, Breck, sollten wir zwar mit allen Mitteln der
Fernortung arbeiten, aber vorläufig keine weiteren Erkundungsvorstöße unternehmen.« »Ist ohnehin nicht beabsichtigt.« Die Barrieren, die noch vor kurzer Zeit die Zone-X geschützt und das Eindringen zu unerträglichen Schwierigkeiten gemacht hatten, waren – vorübergehend? – verschwunden. Der Hyperfunk zwischen der Plattform, der SOL oder ausgeschleusten Beibooten wurde nicht gestört. Rund zweihundert jener merkwürdigen Dunkelplaneten standen verstreut in der kugelförmigen Raumzone; noch einige der ausgesetzten und auf errechneten Bahnen kreisenden Leuchtbojen waren intakt und dienten der Ortung als Markierungspunkte. Für die Kommandos der SOL gab es im Augenblick keinen ernsthaften Grund, irgendwelche Vorstöße zu unternehmen. Die SOL und die Plattform CHART DECCON befanden sich gegenwärtig einige Lichtstunden vom imaginären Rand entfernt und würden in Kürze abermals ihre Position wechseln. »Was mich weiterhin beschäftigt, um nicht zu sagen, beunruhigt«, erklärte Atlan nachdenklich, mehr zu sich selbst, »ist, daß es weder von Chybrain noch von Wöbbeking ein Lebenszeichen oder eine Information gibt.« »Richtig. Mir scheint, der gegenwärtige Zustand ist vergleichbar mit der lähmenden Ruhe vor einem großen Sturm«, zitierte Breck. »Eine treffende Definition!« stimmte Atlan zu. Beide beschäftigte jedoch die Drohung von Hidden-X am allermeisten, jenes Versprechen, daß die Solaner den großen Spiegel im Flekto-Yn als Sklaven wieder aufbauen würden. Wie würde es Hidden-X anstellen, ausgerechnet Solaner dorthin zu schaffen? Eines aber wußten sie mit Sicherheit: Die Besatzung der SOL würde sich mit äußerster Entschlossenheit gegen jeden Angriff zu wehren wissen – wie schon so oft bisher. Denn auch dieser Gegner hatte einige schwache Seiten gezeigt. Die Jet wurde eingeschleust, und nach wenigen Minuten umfing die ruhige Arbeitsamkeit im Innern des riesigen Schiffes wieder die
Frauen und Männer, die der Taufzeremonie beigewohnt hatten. Erst Stunden später gab die Ortungszentrale eine Meldung durch, die ungewöhnlich genug war, um alle Verantwortlichen aufhorchen zu lassen. Zwei Dunkelplaneten nähern sich aus der Zone-X und driften mit erheblicher Geschwindigkeit auf die Randzone zu. Keinerlei Antriebsfelder oder anmeßbare Kräfte feststellbar. Die Möglichkeit weiterer Veränderungen ist sehr groß. Hidden-X scheint eine neue Entwicklung einzuleiten, meldete sich Atlans Extrasinn.
2. Myrrhn war der Zweiundzwanzigste im Ag-mehn-dju-Bündnis, und er hatte es eilig. Als er die lange, geschwungene Rampe zum Versammlungssaal hinaufrannte, machten seine dicken Stiefelsohlen knirschende Geräusche. Die Krallen der Finger klickten am Metall des Geländers. Die Strahlen der untergehenden Sonne ließen die Flanken des Raumhafenturms aufleuchten und machten aus einem der spitzkegeligen Raumschiffe, das eben zur Landung ansetzte, einen rotgelb glühenden Meteor. Die heutige Sitzung, der Bund dieses Abends, war für ihn und einundzwanzig andere von Anterf von entscheidender Bedeutung. Er nahm mit wenigen weit tragenden Sprüngen seines geschmeidigen, von dünnem Fell bedeckten Körpers die letzten Darns zwischen Rampe und dem kreisrunden Portal des Saales. Als er den Kontaktknauf berührte, schwoll das Summen der atmosphärischen Triebwerke des Kreuzers noch einmal an und riß, als das Schiff den Boden des Planeten berührte, unvermittelt ab. Myrrhn warf einen kurzen Blick hinüber zum Raumhafen und nickte zufrieden; wenn es ihnen gelang, den Geistigen Äther zu
verdichten und die Wissende zu stabilisieren, würden auch die Besatzungen der Raumschiffe es ihnen danken. Denn auch die Flotte mußte wissen, ob und welches ungewöhnliche Ereignis bevorstand. Das Schott öffnete sich. Der Saal war einer kubischen Höhle nachempfunden. Viele Wohnräume der Anterferranter besaßen diese Form, die, mit weichem Material in allen denkbaren Farben und Farbkompositionen ausgeschlagen, den Eindruck einer Wohnhöhle wiedergab. Als Myrrhn eintrat, standen alle einundzwanzig Mitglieder des Bündnisses auf und senkten kurz ihre Köpfe. Obwohl Myrrhn der Jüngste war, besaß er von ihnen allen die stärkste Form der Konzentrationsfähigkeit. »Ich begrüße euch, Mitglieder der Notgemeinschaft«, sagte er mit seiner schnurrenden Stimme. Seine grünen Augen leuchteten auf, als er näher ging und seinen Platz in der runden Sitzordnung aufsuchte. »Was hat dich aufgehalten?« fragte Tzarf ohne den Hauch eines Vorwurfs. »Ich sprach mit einem Astronomen. Er kam vor Stunden mit der KOLLISION zurück. Er war im Schnittachsenbereich«, erwiderte Myrrhn und setzte sich. Unter dem weichen Fell, über das sich die breiten Gürtel und Bänder aus Reptilienschuppenleder spannten, zeichneten sich plötzlich dicke Muskelbündel ab. Aufmerksam hörten ihm die anderen Anterferranter zu. Sie bekleideten ausnahmslos wichtige Stellungen in dieser Stadt und waren sich ihrer Verantwortung voll bewußt. »Tatsächlich? In der Mitte der beiden Galaxien?« fragte Shorrn beeindruckt. »Was sagte er?« Myrrhn streckte die langen Beine aus, bewegte seine Fußballen in den weiten Stiefeln und machte die ersten Lockerungsübungen. Halblaut berichtete er, was der Wissenschaftler über das Zentrum der beiden kollidierenden Spiralmilchstraßen gesagt hatte. Myrrhn gab eine Kurzversion davon.
»Er bestätigte, daß die ersten Sterngruppen der Ränder sich vor etwa achthundert Jahren berührt haben mußten. Er bestätigte sämtliche bisher gemachten Messungen und ließ eine Handvoll Theorien zusammenbrechen. Definitiv unzweifelhaft ist, daß sich unsere Spiralgalaxis mit einer anderen getroffen hat. Die andere durchdringt unsere genau im rechten Winkel. Aus der Entfernung müssen die Systeme jetzt eine Art Kreuz bilden, oder den Buchstaben Mon in der Versalienform. Und das Wichtigste: Der Vorgang kommt offensichtlich in absehbarer Zeit zum Stillstand.« »Wann?« wollte Ztyrrh wissen. »Deswegen«, unterbrach Shorrn, »finden wir uns heute zum Bündnis zusammen.« Die zweite Milchstraße hatte sich, völlig unbemerkt, aus den Tiefen des Universums genähert. Es gab Schüler der WeltenmeisterTheorie, die wissen wollten, daß ihr schwer begreiflicher Götze dieses gewaltige Sternensystem aus unergründlichen Bezirken herbeigeschafft und senkrecht auf die eigene Galaxis hatte prallen lassen. Der Vorgang der Durchdringung vollzog sich in rasender Geschwindigkeit, um den Faktor Hundert höher als bei vergleichbaren Systemen, die sich nur in den Fernrohren der Astronomen zeigten. In den letzten Jahren war unangreifbar gemessen worden, daß die schnelle Bewegung des eindringenden Milchstraßensystems, ebenfalls eine Galaxis mit Spiralarmen, sich verringerte. »Noch etwas, ehe wir mit dem Ag-mehn-dju anfangen?« wollte Ztyrrh wissen. »Nur noch eines«, berichtete Myrrhn. »Ihr werdet es natürlich in voller Ausführlichkeit lesen und in den Berichten hören können. Die Astronomen haben mit all ihren Instrumenten nicht einen einzigen Zusammenstoß von kosmischen Objekten beziehungsweise dessen Reste oder Folgeerscheinungen registrieren können.« »Trotzdem bin ich sicher«, sagte Myrrhn abschließend, »daß diese geschichtliche Entwicklung für uns ein Ereignis von ungeheurer
Tragweite verbirgt.« »Wie wir alle.« Sie nahmen die Haltung ein, die es ihnen ermöglichte, ihre Körper total zu entspannen. Ihre Gedanken konzentrierten sich, während die einundzwanzig anderen und Myrrhn versuchten, das Bündnis einzugehen. Mindestens zweiundzwanzig Anterferranter, ein Mehrfaches davon oder eine beliebig große, aber stets gerade Anzahl konnten sich zu solchen Bündnissen zusammenschließen. Die Benutzung der Fähigkeit indirekter Teleportation aber war verboten und tabu – nur Notfälle oder besonders wichtige Anlässe rechtfertigten Ag-mehn-dju. Für Myrrhn und seine Freunde war die heutige Beschwörung ein mehr als wichtiger Anlaß. Sie hatten lange und intensiv darüber nachgedacht und sich letztlich entschlossen, es zu tun. Gleichzeitig war Ag-mehn-dju der Begriff einer anonymen Gottheit, die von ihnen auch die Wissende genannt wurde. Ein Begriff, kein Name. Sie spürten, wie sich der Ring zu schließen begann. Ihre Gedanken, ihr gesamtes Wesen berührten sich und verflochten sich untereinander, ohne daß sich die Anterferranter berührten, und das Ziel blieb noch unbestimmt, gleichzeitig überall und dennoch nicht zu packen. Der Äther, nicht das bekannte Gas, sondern die Partikel der Wissenden, die überall innerhalb der Lufthülle ihres Planeten Anterf vorhanden waren als einzelne, monadische Wesenheiten, fing in der Vorstellung der Bündnispartner an, sich zu stabilisieren. Rund hunderttausend Megadarns weit reichte die Fähigkeit. Je größer der Verbund war, desto schwerere Dinge, Lebewesen oder Gegenstände konnten ohne zeitlichen Verzug im dreidimensionalen räumlichen Koordinatensystem an jeden beliebigen Punkt innerhalb dieses Durchmessers von hunderttausend Megadarns versetzt werden. Unhörbar flüsterte Myrrhn in dem zusammengeschlossenen
Bewußtsein: »Wir aber wollen die Wissende hier!« Die Anterferranter schwiegen. Ihre großen Katzenaugen waren fest geschlossen. Die Krallen hatten sich weit aus den Fingern hervorgeschoben und bohrten sich als Folge der harten Konzentration tief in die Handballen. Die Atemzüge gingen lang und schwer. Der Vorgang dieses Ag-mehn-dju-Einsatzes war nicht kontrollierbar; niemand würde sie zu Rechenschaft ziehen, nicht einmal die Mitglieder der regulären Truppe, die für solche Noteinsätze gedacht war. Zeit verging. Die Sonne verschwand hinter dem Horizont. Nachtwolken zogen auf, zwischen denen die unendlich vielen Sterne zu sehen waren, zusammen mit den Gasschleiern, den Filamenten und den farbigen Sonnen der anderen Galaxis. Die Psi-Fähigkeiten der Anterferranter reichten weit in das Vakuum des Weltraums hinaus und sammelten dort die unsichtbaren Pünktchen der verteilten Ätherpartikel auf, banden sie mit gedanklichen Kräften aneinander fest und verschmolzen sie. Mehr und mehr dieser Monaden glitten aufeinander zu und bildeten ein schleierartiges Gebilde. Der Schleier blieb vage und dünn, er kondensierte hier und dort zu kompakter scheinenden Formen, aber die Gestalt der Wissenden fügte sich nicht zusammen. Das erwartete Ereignis wird stattfinden, wisperte eine raumlose Stimme einmal durch den Gedankenverbund. Wieder vergrößerte sich der Nebel, schnürte sich ein und stob abermals auseinander. Die ferne Stimme, wie der Ruf aus der zweiten Milchstraße, erscholl abermals. Sie war nicht befehlend, nicht dröhnend, sondern einschmeichelnd und erklärend. Eure Sonne wird verschwinden! Nur langsam nahmen die Anterferranter wirklich wahr, daß ein wesenloses Etwas mit ihnen sprach. Noch waren sie tief in ihrem Bündnis versunken und begriffen den Wortlaut der Botschaft nicht.
Aber je mehr sie sich um das Vergrößern und das Stabilisieren des Monadenschleiers bemühten, desto sicherer wurden sie, daß jemand zu ihnen sprach. Bald wird dies geschehen! Auf ein unhörbares Kommando hin versuchten die zweiundzwanzig Anterferranter, die Bestandteile des nur in ihren Vorstellungen bestehenden Schleiers in das Zentrum ihres Kreises herunterzuteleportieren. In dem Augenblick, als sie zupackten, zerstob der Schleier in Myriaden einzelner Bestandteile und verschwand. Die fremde Stimme flüsterte eindringlich: Nach dem Verschwinden der Sonne Barsanter wird man euch eine Aufgabe stellen, durch deren Erfüllung ihr das Wohl des Universums sichern werdet und euer eigenes dazu. Der Gedankenblock löste sich auf, die Bewußtseine entflochten sich. Mit schweißnassen Fellen und zitternden Muskeln lagen die Anterferranter in ihren weichen Sesseln und keuchten, während das Leben nur langsam wieder in ihre Körper zurückkam. Schließlich fand Shorfn seine Stimme wieder. In die lastende Stille des nur schwach beleuchteten Saales fragte er: »Ihr habt diese Stimme auch gehört?« Die Haarsträhne, die zwischen den Bögen der Brauen begann und über den Hinterkopf, den Nacken und den Rücken lief, stellte sich auf, ein Zeichen für große Erregung. »Ja. Unsere Sonne wird bald verschwinden. Die Wissende hat sich unserem Zugriff entzogen.« »Unsere Kräfte sind zu schwach, Myrrhn!« bestätigte Tzarf und stand auf. Er wankte in den Nebenraum, um sich zu erfrischen. Die anderen lagen mit schmerzenden Muskeln da. »Aber es gibt die Wissende!« »Sie sprach mit uns. Ein Erfolg im Mißerfolg, Freunde. Wir wissen jetzt, was uns droht.« »Barsanter verschwindet! Das bedeutet langsame Auslöschung des Lebens auf unserem Heimatplaneten.«
»Was können wir dagegen tun?« »Wir – nichts!« Sie kannten die Fernraumfahrt und hatten gesehen, wie Völker sich erhoben und andere versanken. Sie wußten, wenigstens in der Theorie, wie lange es dauerte und in welchen Etappen sich das Sterben abspielte, wenn man einer Welt Licht und Wärme ihres Zentralgestirns nahm. Noch hatten sie nicht völlig begriffen, was diese Nachrichten bedeuteten. Aber da diese Drohung ausgesprochen, verstanden und jetzt auch verinnerlicht wurde, hatte keiner von ihnen ernsthafte Zweifel daran, daß Barsanter wirklich verschwinden würde. »Besitzen wir technische Mittel genug, um die Gefahr abwenden zu können«, fragte einer aus ihrer Runde. »Nein«, entgegnete Ztyrrh. »Nicht genügend große. Unsere Raumflotten können einen großen Teil der Bevölkerung evakuieren, das ist im Augenblick alles. Man will uns vernichten, meine Freunde.« »Man wird uns vernichten. Wenigstens das Leben an der Oberfläche von Anterf«, rief Myrrhn, als er wieder in den Saal kam. Sorgfältig glättete er den Haarkamm im Nacken. »Wir haben nicht erfahren, wann alles geschehen soll!« beklagte sich Tzarf und lehnte sich, weil seine Knie zitterten, an die gepolsterte Wand. »Sicherlich dauert es nicht lange«, murmelte Narrm. »Ich werde so schnell wie möglich sämtliche Raumschiffe zurückrufen, die im systemnahen Bereich operieren.« »Es sind nicht sehr viele Schiffe auf Fernfahrt durch unsere Galaxis Bars. Überdies sind die wenigsten von ihnen für Evakuierungsaufgaben geeignet.« Erst die Erfindung des Stellarflugs hatte die Bewohner des Planeten Anterf zu stolzen, selbstbewußten Raumfahrern und Planetariern werden lassen. Ihr Volk war nicht sonderlich zahlreich. Nur etwa zwei Milliarden Individuen lebten auf Anterf. Die
Erfahrungen und Beobachtungen, die von den Raumfahrern – und das Ziel eines jeden jungen Anterferranters war es, in den Raum hinauszufliegen, fremde Kulturen zu sehen und mit den Sternenvölkern zu handeln – gemacht worden waren, hatten sich in zahlreichen Legenden und Glaubenslehren niedergeschlagen. Es gab nicht weniger als ein Dutzend unterschiedlicher Auffassungen darüber, welche Ordnung das Universum beherrschte. Und schließlich hatten sich die beiden Milchstraßensysteme getroffen und gegenseitig durchdrungen. Spätestens ab diesem Zeitpunkt erhoben die Anhänger jener Theorien ihre Überlegungen und niedergelegten Gedanken zum unverrückbaren Dogma. Narrm, Chef der bewaffneten und unbewaffneten Raumverbände, stärkte sich mit einem großen Becher voll milchig aussehender Aufbaunahrung. Seine Fangzähne blitzten auf, als er die breiten Lippen öffnete und mit Entschiedenheit sagte: »Ich gehe. Ich werde ihnen erklären, daß ich eine geheime Botschaft aufgefangen habe. Es befinden sich unter den Kapitänen sehr viele, die an die Existenz der Wissenden glauben. In wenigen Stunden, maximal in einem Tag, haben wir einige vollständige Flotten hier auf den Raumhäfen.« »Einverstanden«, bemerkte dazu Myrrhn. »Noch heute nacht geht an die Wissenschaftler ein Aufruf hinaus. Sie sollen Vorschläge machen, wie wir uns im Fall dieses schrecklichen Ereignisses wehren können.« »Akzeptiert«, stimmte Shorrn zu. »Es werden Unruhen ausbrechen. Ich bin verantwortlich für die Sicherheitskräfte, und ich werde einen Geheimalarm auslösen. Das Ereignis wird stattfinden, aber Anterfs Bevölkerung wird sich diszipliniert verhalten müssen. Sonst bricht das Chaos aus.« Die Mitglieder dieser seltsamen Versammlung nickten schweigende Zustimmung. Sie, die Anhänger der Wissenden, hatten die (nach ihrer Meinung) am wenigsten phantastische und zugleich
wissenschaftlich exakteste Möglichkeit als Glaubensdogma gefunden. Sie wußten, daß es Anhänger phantastischer Endzeitphilosophien gab, die ihrerseits Ereignisse erwarteten, deren Abläufe die Phantasie überanstrengten oder gar überforderten. Sie rechneten fest damit, daß chaotische Zustände ausbrechen würden. Je früher man gegensteuerte, desto optimaler würden die folgenschweren Ereignisse überstanden werden. Shorrn sagte schließlich, sein grünweiß geschecktes Fell streichend und mit tiefer Baßstimme des Alters und der Autorität: »Wir haben geschworen, niemals zu offenbaren, daß wir ein Agmehn-dju-Bündnis eingegangen sind. Dabei bleibt es auch jetzt. Wir ziehen, jeder für sich und alle dem erwarteten Ereignis untergeordnet, unsere Konsequenzen. Einverstanden?« Wieder nickten alle Mitglieder des Zirkels. »Gehen wir?« »Ja. Plötzlich habe ich das deutliche Gefühl«, sagte Myrrhn abschließend, »daß es etwas gibt, oder jemanden – nennen wir es ruhig die Wissende –, der uns seit sehr langer Zeit genau beobachtet. Hinter der Versicherung, Barsanter verschwinden zu lassen, steckt noch viel mehr. Nur ein Wesen von ungeheurer, von uns nicht faßbarer Macht kann eine solche Drohung ausstoßen und sie zur schrecklichen Wahrheit werden lassen.« »Und ganz unzweifelhaft haben wir die Stimme gehört und verstanden, was sie gesagt hat. Oder gibt es einen Grund, daran zu zweifeln? Sind wir Halluzinationen erlegen, Freunde?« fragte Shorrn und wußte bereits, wie die Antwort ausfallen würde. »Nein. Wir haben es genau verstanden.« Die zweiundzwanzig Würdenträger packten einander als Geste des Abschieds an beiden Ellbogen, starrten einander tief in die Katzenaugen und verließen den Saal. Shorrn verschloß das schwere Schott und steckte den Impulsgeber ein. Einen Augenblick lang blieben sie still stehen und schauten zu den Sternen hinauf, zu dem
gewaltigen Wirrwarr einander passierender Sternsysteme und Sonnen, dann glitten ihre Blicke über die langen Reihen der spitzkegeligen Raumschiffe sämtlicher Klassen, die im Scheinwerferlicht auf dem Raumhafen der Stadt Karn-Ant standen. Sie hatten Grund, stolz zu sein. Und sie wußten, daß sie alles, buchstäblich alles tun würden, um den Zusammenbruch ihrer Kultur zu verhindern. Dennoch, trotz dieser ruhigen Überlegungen, die sie leidlich kalten Blutes anstellten, sollten sie von der schrecklichen Großartigkeit der kommenden Ereignisse überrascht werden. Noch in dieser Nacht setzten zweiundzwanzig der mächtigsten Männer ihre Versprechen in die Tat um. Vorräte wurden eingelagert. Jedes erreichbare Schiff der Flotte wurde mit unterlichtschnellen oder Hyperfunkimpulsen benachrichtigt. Sämtliche Kräfte des Sicherheitsdiensts hatten eine Stunde später Alarmbereitschaft und kannten ihre Ziele. Anführer der halbmilitanten Sekten wurden verhaftet und an unbekannten Orten versteckt. Universitäten und Forschungsabteilungen der verschiedenen Firmen erhielten präzise gestellte Aufgaben und Geldmittel. Wissenschaftler wurden auf einer Hemisphäre Anterfs aus dem Schlaf gerissen und mit unlösbar scheinenden Aufträgen betraut. Da man wußte, daß jeglicher Ag-mehn-dju-Versuch, auch von einem Bündnis von Tausenden durchgeführt, an die Zehntausend-Megadarn-Grenze stieß und dort endete, versuchte man erst gar nicht, Sonnenmaterie zu teleportieren und verschwendete keinen weiteren Gedanken daran. Einige der Bündnispartner fingen in dieser Nacht ohne Schlaf an, sich vorzustellen, daß bereits der nächste Morgen kein Morgen sein würde, ein Tag ohne Dämmerung, ein Tag, an dem Barsanter verschwunden war. Die Stunden vergingen, während von den meisten Planetariern völlig unbemerkt die ersten gewaltigen Anstrengungen unternommen wurden, des Problems Herr zu werden.
Über den Vororten der Stadt Karn-Ant zeichnete sich am Horizont ein grauer Streifen ab. Einige Zeit später färbten sich die unteren Ränder der Wolkenballungen hellrot. Die Flut der Sterne verblaßte und verschwand. Unter den Wolken schossen die ersten waagrechten Sonnenstrahlen hervor. Myrrhn, der aufgerichtet, zwei volle Darn groß, schlank und mit blauweiß gestreiftem Fell vor dem Fenster seines Büros stand, stieß kehlig zischend den Atem aus. »Barsanter!« flüsterte er und ahnte, daß dies einer der letzten Sonnenaufgänge war, die er bewußt erleben würde. »Barsanter ist noch da.« Ununterbrochen landeten auf sämtlichen Raumhäfen, selbst auf den entlegenen Plätzen der Raumflotte, die Schiffe. Sie kamen mit Höchstfahrt aus allen Teilen der näheren Umgebung des Weltalls zurück und wurden, kaum daß die Triebwerke schwiegen, in rasender Eile aus den unterplanetarischen Magazinen versorgt. Dennoch: das Ziel, schnell zwei Milliarden Anterferranter zu evakuieren, würde keinesfalls erreicht werden können. Ein Gongschlag zeigte an, daß auf der Geheimleitung jemand Myrrhn zu sprechen verlangte. Mit weichen, federnden Schritten des felinoiden Körpers ging Myrrhn an den Schreibtisch zurück und berührte eine Taste. Ein Bildschirm, größer als einen Quadratdarn, erhellte sich und zeigte Shorrn. Ruhig nickten sich die Männer zu. »Barsanter ist noch nicht verschwunden«, bemerkte Shorrn düster. »Wie befindest du dich?« »Die Angst der Erwartung hat meinen Magen in einen kalten, eisernen Klumpen verwandelt«, gab Myrrhn wahrheitsgemäß zurück. »Mein Magen ist aus Stahl«, murmelte Shorrn sarkastisch. »Dein Bereich unserer Abmachungen ebenso erledigt wie meiner?« »Ja«, antwortete der andere einsilbig. »Ich habe nachgedacht. Jemand, der uns lange beobachtet hat,
wird zuschlagen.« »Bringe diese Überlegung zwei Milliarden Anterferranter bei, mein Freund! Unmöglich! Sie werden alles denken, nur das nicht.« »Zugegeben. Ich versuche, zu schlafen. Wenn etwas geschieht, wird man mich sicherlich finden und wecken.« »Dasselbe habe ich vor. Die Wissende möge uns helfen.« »Sie wird helfen. Sie hat uns immerhin gewarnt.« Es gab für den Augenblick nichts anderes mehr zu tun. Myrrhn warf sich auf die weich gepolsterte Liege in seinem Büro und war einige Zehntel Areas später eingeschlafen. Sein Körper krümmte sich zusammen. Nur der fingerlange Schwanzrest und die Haarbüschel an den Enden der spitzen Ohren bewegten sich unruhig zuckend und verrieten, daß Myrrhn furchtbare Alpträume hatte. Als habe die unsichtbare kosmische Macht sich die Stadt Karn-Ant als Drehpunkt herausgesucht, verschwand die Sonne genau an dem Zeitpunkt, als es Mittag war. Eben noch hatte Barsanter hier, nahe des Äquators, fast senkrecht heruntergebrannt. Eine Hundertstel Areas später war es schlagartig Nacht. Aus dem Firmament schienen aber Tausende Sterne sich auf den Planeten zu stürzen. Ein halber Planet, eine Hemisphäre voller Anterferranter, erschrak bis tief auf den Grund der Seelen. Zuerst gerieten sämtliche Tiere in Panik. Schoßtiere sprangen ihre Herren an, und die Geschöpfe auf den Farmen begannen zu rasen und töteten sich selbst. Die Blumen schlossen ihre Blüten. Ein eisiger Hauch, Vorbote wütender Stürme, schien gleichzeitig von allen Seiten zu kommen. Obwohl das Entsetzen sie schüttelte, lösten die verantwortlichen Frauen und Männer an den Schaltpulten ihre programmierten Alarme aus. Die meisten Befehle wurden schnell und sicher ausgeführt.
Die Beleuchtung wurde eingeschaltet und machte die Nacht eine Spur erträglicher. Projektile wurden gestartet und detonierten jenseits der Lufthülle Anterfs. Je zwei von ihnen waren synchron geschaltet und entwickelten eine langsame Fusionsdetonation, von der die schwache Illusion einer Sonne geschaffen wurde – für wenige Zehntel Areas. Hier zog ein Gewitter auf. Dort erhoben sich Stürme und rasten über das Land. Sämtliche Nachrichtenstationen sendeten ein vorbereitetes Programm, das der Bevölkerung folgende Informationen gab: Ein mächtiges Wesen, dessen Bedeutung vermutlich mit den Glaubensgrundsätzen und mit dem Gegenstand zahlreicher Aberglauben identisch war, hatte die Sonne geraubt. Nur weil eine Gruppe jener, die an die Wissende glaubte, gewarnt worden war, blieb die Lage im Moment noch kontrollierbar. Würde der Zustand anhalten, wollte man die Bewohner evakuieren. Deshalb die ständigen Landungen der Raumschiffe. Man müsse aber erwarten, daß der unheimliche kosmische Feind Forderungen stellen würde und Barsanter als Druckmittel benutzte. Das ließ die kriegerischsten unter den Anterferrantern hoffen und gab ihren verzweifelten Gedanken eine neue, nicht unerwartete Richtung. Kälte breitete sich aus – zuerst war es ein psychologischer Effekt, dann wurde sie tatsächlich spürbar. An den Rändern von Hochdruckgebieten und solchen niedrigen Drucks gab es furchtbare Gewitterstürme, die mit vernichtenden Hagelschauern über das Land rasten. Zwei Areas lang dauerte die Finsternis bereits an, und jetzt zogen Turbulenzen und Störungen auch über die Nachthalbkugel des Planeten hinweg. Die Fusionswolken verbreiteten zwar die geringe Helligkeit eines sehr wolkenreichen, trübfinsteren Tages, aber sie vermochten nicht zu wärmen. Dennoch startete eine Rakete nach der anderen in präzisen Abständen durch das Inferno der Stürme und detonierte
sechsunddreißigtausend Megadarns über dem Planetenboden der heimgesuchten Welt. Angehörige führerloser Sekten rannten zuerst kopflos hin und her, dann formierten sie sich zu langen Zügen und zogen singend, bittend und unverständliche Beschwörungen hervorstoßend durch die Straßen der Städte. Die großen Hagelschlossen prasselten auf sie herunter und zerfetzten die Felle, die sonst farbensprühend waren, voller Muster und Flecken. Jetzt wirkten sie stumpf und dunkel, und das Wasser troff aus ihnen. Zuerst glaubten die Sektierer, daß aus dem furchtbaren Dunkel, über dem die Feuer der Bomben zuckten und loderten, merkwürdige. Gesänge herunterkämen. Sie wandten ihre Augen aufwärts und duckten sich unter den peitschenden Regengüssen, die immer kälter wurden. Unendlich lange schleppte sich die nächste Areas hin. Im schmalen Trockengürtel der Wüsten regnete es seit geologischen Ewigkeiten wieder zum erstenmal. Schneestürme heulten um die Gipfel selbst kleinerer Berge und legten sich erstickend auf die Kulturen der Farmer. Die Gesänge waren alles anderes als das. Sie bestanden aus den vielfältigen Orgeltönen des Windes und der Stürme und aus dem Krachen des Donners, der einmal von fern kam, dann wieder unmittelbar nach den blendenden Blitzen. Fragen und Niedergeschlagenheit, Hoffnungen und Erwartungen, Mutlosigkeit und stählerner Trotz mischten sich. Was hatte das Verschwinden zu bedeuten? Die meisten Erwachsenen wußten, daß es kosmophysikalisch unmöglich war, daß eine Sonne verschwand. Von sterbenden Sonnen, die sich ein letztes Mal gigantisch aufblähten und schrumpften, nachdem sie ihre Planeten verbrannt hatten, wußten die Anterferranter. Und als auf dem gesamten Planeten die Niedergeschlagenheit den tiefsten Punkt erreicht hatte, geschahen erwartete Dinge. Mutlose nahmen sich das Leben.
Andere flüchteten sich in den Wahnsinn. Viele Planetarier kamen in den Stürmen, im Hagel und in der Wasserflut von Bächen und Flüssen um. Die Meere schienen sich auszuleeren. Gleichzeitig ertönte in allen Köpfen, in jedem Gehirn, jedem Verstand, eine sanfte und schmeichelnde Stimme. Selbst die Säuglinge hörten sie, aber natürlich begriffen sie nicht, was vor sich ging. Sie erwachten und schrien laut. Eure Sonne ist verschwunden. Ich habe sie verschwinden lassen. Ich kann sie wieder an ihren Platz setzen, ohne daß ihr je begreift, wie das vor sich geht. Ich habe die absolute Macht. Ihr fragt euch, wer ich bin. Unzählige Völker kennen mich, und jedes Sternenvolk gab mir einen anderen Namen. Ich bin die Wissende ebenso wie der Gott Ag-mehn-dju. Ich bin das erwartete Ereignis und das Ziel der Anrufungen einer jeden Sekte. Ich bin bereit, euch die Sonne Barsanter wiederzugeben. Die Stimme riß ab. Die Planetarier hatten aus den letzten Worten neue, wilde Hoffnungen herausgehört. Sie starrten sich an und sprachen darüber. Aber jeder versicherte seinem Nachbarn, daß er genau dasselbe gehört hatte, von derselben Stimme deutlich ausgesprochen und in der Sprache Anterfs. Wieder verstrich, während das Chaos der Elemente zunahm und sich die Kälte mehr und mehr ausbreitete, eine volle Areas. In den Hirnen der meisten erwachsenen Anterferranter formulierte sich eine einzige Frage. Auf einen Nenner gebracht, lautete sie etwa: Was können wir tun, um zu überleben, um unsere Sonne wiederzubekommen? Zwangsläufig drängte sich die Überlegung auf, daß der unbekannte Sprecher die Frage gehört hatte und darauf antwortete. Ihr müßt euch und mir beweisen, daß ihr in diesem Kosmos eine echte
Existenzberechtigung habt. Da ich das übergeordnete Prinzip mit unendlich vielen Namen bin, sage ich euch, daß ich euch die Sonne wiedergeben werde. Eure Aufgabe ist es, die positiven, aufbauenden Kräfte des Kosmos zu unterstützen, mit aller Kraft und auch der geballten Macht eurer Schiffe und Waffen und der Ideen der kühnsten Köpfe, die ihr habt. Ich fordere euch auf, diese Aufgabe anzunehmen und zu erfüllen. Ich werde für euch ebenso sorgen wie für viele andere Sternenvölker. Aber ich brauche die Gewißheit, daß ihr die Gesetze befolgt, die zur Erhaltung der konstruktiven Macht, des wohlausgewogenen Gleichgewichts auf der guten Seite der kosmischen Probleme bestehen. Ich habe diese Gesetze entwickelt und in unvorstellbar langen Zeiträumen ausgefeilt und immer wieder auf ihre Richtigkeit hin überprüft. Sie sind richtig und bindend. Nehmt die Aufgabe an und erhaltet eure Sonne zurück! Das »übergeordnete Prinzip« schien zu wissen, daß jeder Anterferranter bedenkenlos alles versprechen würde, um den Stern des Lebens zurückzuerhalten. Selbst die vor Angst halb verrückten Sektierer begriffen dies. Myrrhn spürte, wie ein Teil der Beklemmung von ihm wich. Die Aufforderung war ausgesprochen worden. Die Wissende benutzte das Pfand der Sonne dafür, um eine Gegenleistung zu erhalten. Myrrhn, in der scheinbaren Abgeschlossenheit seiner Arbeitsräume, straffte seine runden Schultern und sagte zu Shorrn auf dem Bildschirm: »Barsanter ist das Pfand.« »Was werden wir tun müssen, um die Sonne wiederzubekommen?« fragte Shorrn, während Linien und Muster schwerer Störungen über den Schirm flimmerten und sein Abbild verzerrten. »Einwilligen und gehorchen. Es ist so, wie wir es untereinander besprochen haben.«
»Man hört unsere Stimmen, Myrrhn!« »Und man sieht tief in unsere Herzen und lotet die Gedanken aus. Wir haben es hier mit der Macht des Universums zu tun!« »Das Pfand einer Sonne, das heißt, daß es ein schwerer Einsatz werden wird. Eine überaus schwierig zu lösende Aufgabe für den anterferrantischen Geist.« »Am schwersten ist der Kampf. Krieg, Schlachten, Kämpfe, Shorrn. Die Wissende braucht Söldner.« »Was bleibt uns anderes übrig?« »Nichts. Kämpfen. Abweichungen von dieser Überzeugung werden bemerkt und sicherlich bestraft.« »Also willigen wir ein?« »Das ist die Entscheidung eines jeden einzelnen«, gab Myrrhn zu bedenken. »Ich für mein Teil willige ein, ja.« »Es werden alle zustimmen. Alle, sage ich dir.« »Hattest du etwas anderes erwartet?« »Nein«, knurrte Myrrhn. Jetzt glich sein Schädel tatsächlich dem Kopf einer Raubkatze. Er massierte mit zwei Fingern seine scharf vorspringende Nase und fügte hinzu: »Es geht in jedem Fall um unsere Existenz. Ohne Sonne sterben wir. Wenn wir nicht annehmen, sterben wir auch. Nehmen wir an, werden wir für lange Zeit oder bis zum Ende unseres Lebens als Sternenvolk kontrolliert.« »Da die Wissende kluge Söldner braucht, wird sie uns viele Freiheiten zugestehen. Das meine ich.« Trotzig erklärte Myrrhn: »Ich möchte den Ausdruck ›Sklaverei‹ nicht verwenden. Also! Denken wir eine Antwort. Sie wird gehört werden.« Beide richteten ihre ungesprochenen Worte an ein Wesen, das in ihrer Vorstellung als Schleier aus Myriaden winziger Leuchtpünktchen bestand, und dachten: »Ich willige ein.« In diesem Moment rechneten sie mit dem Schlimmsten. Aber was
konnte schlimmer sein als der qualvolle Tod ihrer Welt unter einem sonnenlosen, lichtlosen und wärmelosen Himmel voller drohender Gestirne? Etwa eineinhalb Milliarden erwachsener Anterferranter dachten, flehten, versicherten, versprachen, bettelten … Jeder von ihnen, selbst die Angehörigen der Stellaren Opposition, wollten dasselbe: »Gib uns Barsanter! Wir nehmen die Aufgabe an. Wir versprechen …« Die Antwort kam sofort. Die Aufgabe ist von faszinierender Großartigkeit. Ich werde euren Planeten aus den Sternen der Galaxis Bars-2-Bars herauslösen. Nur wenige Anterferranter begriffen jetzt abermals, daß diese Macht sie seit langer Zeit tatsächlich scharf beobachtet hatte. Euer Planet Anterf wird, unbeschädigt, ohne das geringste Beben, im sonnenleeren Raum auftauchen. Statt der Sonne Barsanter werde ich euch eine Kunstsonne geben, die so lange leuchtet und wärmt, bis die Aufgabe erfüllt ist. Eure Aufgabe ist es, einen schlagkräftigen Bund aus zweihundertzweiundzwanzig Ag-mehn-dju- Bündnispartnern zu stabilisieren. Alle erreichbaren Lebewesen in eurer neuen Umgebung sollt ihr nach Anterf holen und von eurem Planeten aus an einen anderen Ort versetzen – ein leichtes für euch! Die Lebewesen sind Feinde der Ordnung. Sie sind in den Lebensbereich anderer Völker eingedrungen und lassen sich nicht vertreiben. Der Name des Zielorts jener Fremden, die ihr versetzt, ist das Flekto-Yn. Zu gegebenem Zeitpunkt werde ich euch weitere Erläuterungen geben. Ihr sollt mich mit dem Namen nennen, den die meisten Völker gebrauchen. Ich bin das Hidden-X. Die leise, aber drängende, fast schmeichelnde Stimme schwieg abermals. Wieder hatte jedes aufnahmefähige Hirn den Text empfangen und verstanden. Hidden-X! Einige Schöpfungstheorien
brachen zusammen, andere wechselten einfach die Namen aus. Die Anterferranter sagten sich, daß eine solche Stimme es gut mit ihnen meinte – beziehungsweise jenes Hidden-X, das mit einer so großen Bestimmtheit sprach und, obwohl akustisch nicht feststellbar, dennoch jeden Verstand leicht erreichte. Unablässig heulten eiskalte Stürme um den Planeten. Es war gleichgültig, wo es gerade Nacht und an welcher Stelle es heller war. Die Wolken, aus denen sich noch immer Wasser in allen denkbaren Aggregatzuständen ergoß, hinten so niedrig wie nie jemals zuvor. Es waren sechs Areas vergangen, auf die Sekunde genau, seit die Sonne verschwunden war. In einer Zeitspanne, die nur zehnmal so lange dauerte, würde der Planet hoffnungslos verwüstet sein. Binnen weniger Jahreszwölftel zu je dreiunddreißig Tagen würden sich die jämmerlichen Reste von Leben tief unter die Planetenoberfläche verkrochen haben und dort in winzigen Schritten sterben. Abgesehen von denjenigen, die man mit den Schiffen wegbrachte. Unvermittelt explodierte der Planet in der neuen Helligkeit. Genau an der Stelle, an der sonst Barsanter im täglichen Lauf des Gestirns stand, war eine Sonne erschienen. Die versprochene Kunstsonne oder Barsanter? Niemand konnte es sagen. Ein einziger langgezogener Schrei der Erleichterung war zu hören, hallte in den triefenden Straßen wider, wurde von den Wänden der hohen Gebäude zurückgeworfen, an denen Eiszapfen hingen. Schlammpfützen und riesige Seen von Überschwemmungen verwandelten sich binnen einigen wenigen Augenblicken in glitzernde, aufleuchtende Wasserflächen. Schneefelder wurden zu weißen Decken, die harte Konturen verwischten. Die Dünen aus zusammenfrierenden Hagelkörnern bedenklicher Größe schienen Haufen funkelnder, blitzender Edelsteine von makelloser Kristallstruktur zu sein. Die Wärme drang scheinbar sofort durch die Wolken und brannte
auf den Gesichtern der Anterferranter, die ausnahmslos blinzelnd in das neue Wunder starrten. Sie waren gerettet. Alle Gruppen, die einander bislang wütend bekämpft hatten, waren geeinigt. Sie anerkannten die Macht von Hidden-X und waren sich einig, nur andere Namen und irreführende Begriffe verwendet zu haben. Selbst die Anhänger der Wissenden und die StellarOpposition waren, ohne lange Sitzungen abgehalten zu haben, der festen Meinung, ein neues gedankliches Ziel gefunden zu haben. Das Eis und die dicken Hagelschichten begannen langsam und tropfend zu schmelzen. Erst die Nacht brachte die zweite Überraschung. Das Firmament war ohne Sterne. Es gab nicht einen einzigen Lichtpunkt in einer unendlichen, würgenden Schwärze. Anterf befand sich im Leerraum.
3. Atlan kannte die Ortungszentrale der SOL sehr genau. Aber immer wieder faszinierte ihn die Einrichtung. Auf riesigen Schirmen wechselten ununterbrochen Symbole ab. Im Halbdunkel des großen Raumes, dessen Boden in mehreren Plattformen angeordnet war, bildeten die Auswertungspulte kleine Lichtinseln. Eines der Echos auf einer konkav gekrümmten Wiedergabefläche war besonders scharf und groß. Atlan las die ständig wechselnden Bewegungsdaten. Der Hypervakuum-Verzerrer, zu dessen Ausrüstung Chybrain die Pläne geliefert hatte; unverständliche, aber herstellbare und schaltbare Einzelteile waren in der SOL entstanden. Ein Techniker in seiner Nähe, der Atlans Blicke richtig deutete, sagte halblaut: »Ursula Grown testet den Antrieb des HV, Atlan.«
Unterlichtschneller Antrieb, fast keinerlei aktive Bewaffnung, dafür aber ein System hintereinander gestaffelter Schutzschirme waren weitere Kennzeichen der Plattform. Auf einem kleinen Monitor erschien das optische Zeichen, ein anderer Bildschirm zeigte, wie sich die Rückstoßflammen der Triebwerke ausbreiteten. Der Ortungspunkt, jenes langgezogene Echo mit der deutlichen Freund-Feind-Kennung, begann sich zu bewegen. Zuerst langsam, dann schneller, und schließlich entfernte sich der HypervakuumVerzerrer durch das Dunkel des Weltraums. »Der erste planmäßige Flug. Bisher haben wir sie stets geschleppt, oder nur einzelne Triebwerke wurden aktiviert«, lautete die Erklärung. »Wenn der Verzerrer ebensogut arbeitet wie die Triebwerke«, sagte die Molaatin aus der Tiefe eines Kontursessels hervor, »dann brauchen wir uns keine Sorgen zu machen.« Atlan wandte sich ihr zu. »Du hast nichts para-errechnen können? Noch immer nicht?« »Nein. Ich kann es mir nicht vorstellen, wie die Schaltungen das Hypervakuum verzerren sollen. Ich kann mir nicht einmal das Hypervakuum selbst erklären.« Sanny, eines der Mitglieder des Atlan-Teams, hatte sich endgültig entschlossen, mit den Solanern zu reisen. Die leidvolle Geschichte ihres Volkes, das von Hidden-X geknechtet und endlich frei geworden war, lag offenbar zu weit von ihr entfernt. Sie war nicht mit den anderen zurückgeflogen, hatte sich nach langem innerem Ringen von ihnen nicht beeinflussen lassen. Sie wußte, daß auf der Reise der SOL ununterbrochen Abenteuer und Kämpfe auf sie warteten – wie schon bisher. Es schien ihr, als habe sie eine zu große Reife oder Unabhängigkeit erworben. Zu groß, als daß sie ein mehr oder besinnliches Leben unter dem Zeichen des Wiederaufbaus führen könnte. Sie würde die Abenteuer der SOL miterleben. »Ausgezeichnet!« riefen einige Ortungsfachleute. Aus
Lautsprechern kam die Stimme Ursula Growns, die leise erklärte, welche Schaltungen vorgenommen und welcher Kurs programmiert wurde. Der Hypervakuum-Verzerrer flog die Kurven und Strecken eines sorgfältig ausgeklügelten Testprogramms und absolvierte jedes Manöver mit erstaunlicher Präzision. Atlan hob die Schultern und setzte sich neben den Diensthabenden der Zentrale. »Ich bin hier«, sagte er, »weil ich sehen will, was mit den Dunkelplaneten geschieht.« »Ich kann kein sinnvolles Muster in ihren Bewegungen erkennen«, sagte der Verantwortliche. »Hier. Eine geraffte Zusammenstellung.« Wieder erhellte sich ein Monitor, die Sichtfläche wurde sofort wieder schwarz, und die einzelnen Dunkelplaneten erschienen als schwach rötlich leuchtende Kugeln. Die am weitesten entfernten wurden als Pünktchen dargestellt. Von der lockeren Zusammenballung in der Zone-X aus, dorther, wo Oggar Leuchtbojen ausgebracht hatte, wo Krymoran wieder ins Vergessen zurückgefallen war, drifteten einige Dunkelplaneten heran. »Die ersten Planeten bewegten sich auf den Punkt zu, den wir eigentlich als nächstes Versteck programmiert hatten«, erklärte der schmalschultrige, scharfgesichtige Leiter. Seine Finger huschten über die Tastatur und nahmen lautlose Schaltungen vor. Diagramme und ausgeschriebene, Anweisungen SENECAS leuchteten auf. »Dann kamen andere herangezogen. Noch immer haben wir keinerlei Antriebskräfte anmessen können.« Die Aufnahmen, entstanden in den letzten Tagen, zeigten es in der beschleunigten Wiedergabe bestechend deutlich. Mehr und mehr Planeten schoben sich in die Randzone des Gebiets heraus und schlugen dort einen offenbar willkürlichen Kurs ein. Mehrmals hatten die Geräte Planeten auf Kollisionskurs ausgemacht, aber selbst die langsame HV-Plattform hatte leicht ausweichen können. »Wir haben bisher durch Fernortung rund zweihundert Dunkelplaneten festgestellt. Da sie sich optisch teilweise
hintereinander verbergen, oder bisher jedenfalls verborgen haben«, dozierte die Diensthabende, »wissen wir die genaue Zahl nicht. Es können ebenso hundertfünfundneunzig wie zweihundertfünf sein.« »Wieviel stehen jetzt in der Randzone?« »Etwa fünfundsiebzig bis jetzt.« Wieder widmete sich Atlan dem Monitor. Als die SOL und der HV zum letztenmal ihre Position aus Sicherheitsgründen verändert hatten, folgten ihnen nur wenige Planeten. Bis zum gegenwärtigen Augenblick aber versammelten sich jene dunklen Welten in einem kleineren Sektor des lichtlosen Alls. Sie bildeten eine sehr unregelmäßige Konstellation aus kleineren und größeren Gruppen und einzeln stehenden Objekten. Auf dem Generalschirm sah die Ansammlung wie ein vereinfachter Ausschnitt einer Sternkarte aus, was sie nun wirklich nicht war. »Es gab keinerlei bemerkenswerte Aktivitäten?« »Nein. Absolut nichts. Auf mich wirkt das, als ob Hidden-X mit Murmeln spielt.« »Ein treffender Vergleich. Immerhin rollt er sie in unsere Richtung«, sagte Atlan und grinste kurz. »Was kann das bedeuten?« »Nicht einmal SENECA hat eine Theorie.« »Und ich auch nicht«, rief die Molaatin. Jetzt, in den letzten Stunden des zweiten Dezember, schienen die rätselhaften Manöver der Dunkelplaneten einen vorübergehenden Abschluß gefunden zu haben. Eine noch überschaubare Anzahl von Dunkelplaneten nahm eine Position relativ nahe der SOL ein. Das Raumschiff konnte ihnen allerdings jederzeit entkommen, und auch die HV-Plattform schien nicht gefährdet. Die geraffte Darstellung zeigte mit ihren letzten Bildern die gegenwärtige Situation. Der Schirm wurde abgeschaltet. Atlan lehnte sich zurück und schaukelte mit der Lehne. Er konnte sich auf die Vorgänge keinen Reim machen und mußte natürlich befürchten, daß kein einziger Schachzug von Hidden-X ohne gefährliche Bedeutung war.
Nach einigen Minuten drückte er einen Schalter und aktivierte eine Leitung in die Zentrale. »Ich möchte mit Hayes sprechen, wenn möglich«, sagte er. Das Bild wechselte. Breckcrowns Kopf ruckte hoch, seine Augen suchten Atlan auf der Monitorgalerie der Zentrale. »Ich bin in der Ortungszentrale, Breck«, sagte der Arkonide. »Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, daß Hidden-X uns seine Dunkelwelten schickt.« Breckcrown stieß ein heiseres Lachen aus. »Mir gefällt die Konstellation auch nicht. Ich habe vor einigen Minuten vier Korvetten startklar machen lassen. Dauer des Einsatzes: zwei Stunden. Jederzeit rückrufbereit. Ziel: Erkundungen möglichst vieler Planeten im Zentrum und an den Rändern dieser Ansammlung.« »Ausgezeichnet«, sagte Altan. »Dasselbe wollte ich eben vorschlagen.« »Die Starts stehen unmittelbar bevor.« »Ich hätte gern«, meinte Atlan, »eine Leitung aus der Zentrale in meine Räume in SOL-City. Vielleicht fällt mir etwas auf. Ich bin ganz sicher, daß die Aktion etwas zu bedeuten hat.« »Einverstanden. Wir machen uns auch Sorgen.« Atlan stand auf und hob grüßend die Hand. »Ich bin ab jetzt in SOL-City zu finden. Vielleicht kann Oggar dazu beitragen, diese neue Störung der Ruhe aufzuklären.« Die Verbindung wurde getrennt. Atlan bedankte sich und bat auch den Diensthabenden in der Ortung, ihm besonders wichtige Aufnahmen über eine Spezialleitung einzuspielen. Er war einigermaßen sicher, daß die Erkundungsvorstöße der Korvetten interessante Einzelheiten liefern würden. Vielleicht rüsteten unter dem Schutz einiger Energieschirme Planetenvölker oder andere Sklaven von Hidden-X zu einem Angriff auf die SOL. Die Mehrzahl der Dunkelplaneten aber besaß keinerlei Ortungsschutzschirme. Das war von der SOL-Ortung schon während der ersten Annäherungen
festgestellt worden. Das bedeutete, daß mehrere Welten auch nicht mehr im Licht künstlicher Sonnen lagen, die über die Planetenoberfläche dahinrasten. Eine Massierung weiterer seltsamer Umstände. Dein Erzfeind, Atlan, holt zu einem neuen Schlag aus! sagte der Logiksektor und formulierte die Unruhe, die den Arkoniden befallen hatte, weitaus präziser.
* Die Aufnahmeoptiken der Korvetten arbeiteten. Während die Raumschiffe die geringe Entfernung zwischen der SOL und wenigen ausgesuchten Dunkelplaneten überwanden, richteten sich Infrarotlinsen auf die Planeten. Restlichtaufheller wurden eingeschaltet. Unterschiedliche Ortungssysteme ergänzten einander und wurden justiert. Sie vermochten, was kein organischer Sehapparat schaffte: in einer Zone ewigen Dunkels erkannten die Instrumente und die nachgeschalteten Computer die Landschaften von Welten, die ebenfalls ohne einen Funken Licht waren – abgesehen von einigen wenigen Gebieten vulkanischer Tätigkeit. Die Computer wählten willkürliche Farben aus und lieferten auf dem Umweg über spezielle Programme Bilder der Planetenoberflächen, die echten Bildern im normaloptischen Bereich glichen. Immer wieder schalteten sich Oggar und Atlan in die vier Informationskanäle ein und versuchten, die Bilder richtig zu deuten. Die Korvetten flogen in wenigen hundert Kilometern Höhe unterschiedliche Orbits um die Dunkelplaneten. »Leer, unbewohnt, verlassen …«, murmelte Atlan nach einiger Zeit. Die Instrumente hatten bisher weder die Spuren von Wasser noch Reste von Gewächsen entdecken können. Die Oberflächen waren eisig kalt, aber ohne Schichten von Schnee oder Eis. Vier der rund
fünfundsiebzig Welten waren nichts anderes als tote Himmelskörper. Noch ehe ein weiterer Dunkelplanet angeflogen werden konnte, meldete sich wieder die Ortungszentrale der SOL. »An alle! Alle Dunkelplaneten des Zentrums haben sich in Bewegung gesetzt. Ihre errechenbaren Bahnen führen auf die bereits vorhandene Konstellation zu. Die Geschwindigkeit der Objekte ist größer als während der ersten Versetzung.« Atlan blickte Oggar betreten an und sagte: »Hidden-X versammelt also rund zweihundert seiner Welten in unserer Nähe. Das muß etwas bedeuten.« »Warte ab und sieh zu«, meinte der Androide mit dem Multibewußtsein. »Keine voreiligen Schlüsse.« Bis auch diese etwa hundertfünfundzwanzig Dunkelplaneten ihre Plätze in der Ansammlung eingenommen hatten, würden einige Stunden vergehen. Die Positionen der Objekte in der bereits vorhandenen Konstellation hatten sich bisher nicht verändert. Wieder schalteten sich Oggar und Atlan in die Rückmeldungen der Korvettenkommandanten ein. »Wir haben voraus drei Welten ohne Schutzschirme, also definitiv ohne Kunstsonnen.« »Ich fliege einen sozusagen intakten Planeten an. Achtung!« Eine Korvette durchstieß einen Ortungsschutzschirm und befand sich übergangslos in einer Zone greller Beleuchtung. Vom höchsten Punkt der Vierhundert-Kilometer-Grenze aus wurden weitere Aufnahmen gemacht, diesmal mit gänzlich anderen Optiksystemen. Die Welt, die Atlan jetzt rasend schnell auf dem Schirm vorüberziehen sah, erinnerte ihn ein wenig an Krymoran. Aber es konnte ebensogut ein ganz anderer, namenloser Planet sein. »Keine Metallansammlungen. Keine Raumhäfen. Nicht einmal ein Straßennetz«, meldete die SOL-Ortung, von der die Bilder ausgewertet wurden. »Auch von Bord der MARDER ZWEI nichts zu sehen«, bestätigte der Kommandant.
Kaum hatten die Augen Gelegenheit gehabt, sich an die weniger exotischen Bilder zu gewöhnen, erschienen wieder die Computerabbildungen leerer und toter Planetenoberflächen. Dazwischen schaltete die Zentrale immer wieder Ortungsaufnahmen der herandriftenden Planeten. Sie wirkten, als habe eine gigantische Faust eine große Menge Kiesel in die Richtung der SOL geschleudert. Diese langsamen Geschosse trieben durch die Schwärze, und während die ersten bereits auf den Planetencluster zusteuerten, sah man weit in der Ferne noch die winzigen Objekte. »Was soll das werden?« stöhnte Atlan. »Wirft Hidden-X seine Planeten weg?« »Vielleicht«, gab der weißhäutige Androide zu bedenken, »ist er ihrer überdrüssig geworden. Er stößt sie einfach ab. Eine weitere Möglichkeit.« »Auch das kann zutreffen.« Die Korvetten hielten sich in den Orbits der Planeten nicht lange auf. Sie hatten inzwischen zwölf Planeten untersucht; zehn tote Welten und zwei, auf denen es Licht und Pflanzen und Wasser gab. Das Arbeitszimmer des Arkoniden hatte sich halbwegs in ein Beobachtungszentrum verwandelt, in dem sämtliche Bildschirme, Monitoren und Lautsprecher eingeschaltet waren und ununterbrochen Bilder und Laute produzierten. Erst den dritten Laut des Türsummers nahm Oggar wahr und rief Atlan zu: »Besuch!« Er deutete auf das Schott. Atlan betätigte die Fernsteuerung. Die Platte schwang auf und zeigte den kleinen grünen Insider, der mit seinen vier Armen flatternd winkte, die Tür hinter sich schloß und zwischen den beiden stehenblieb. »Zwko! Wir haben ein langweiliges Programm in unserem Mäusekino«, sagte Atlan und lächelte ihn an. Insider setzte sich und sagte:
»Hidden-X spielt mit seinen Welten ein unschönes Menuett. Patschuuh!« »Richtig, Zwzwko«, meinte Atlan und hatte, wie immer, Schwierigkeiten mit der Aussprache. »Was meinst du dazu?« Insider schüttelte seinen grünen Kopf. »Ich weiß nur, daß nichts, was von unserem mächtigen Gegner kommt, gut sein kann. Was er allerdings mit diesen umhergewirbelten zweihundert Welten vorhat – meine Phantasie versagt.« Noch war keine unmittelbare Bedrohung erkennbar. Niemand an Bord hatte also die geringste Vorstellung davon, was Hidden-X planen konnte. Das seltsame Ballett von rund zweihundert planetengroßen Körpern nahm seinen Fortgang. Die Welten, die in rasend schnellen Einsätzen der vier Korvetten flüchtig untersucht wurden, stellten anscheinend keine Gefahr dar, noch verbargen sie – vielleicht – irgendwelche Überraschungen unter ihrer Oberfläche. Verwirrt und unsicher betrachteten Insider, Oggar und Atlan die wechselnden Bilder auf den Monitoren. »Rätselhaft!« knurrte Atlan und zapfte sich aus dem Automaten einen Becher Bordkaffee. Sie sahen zu, wie die HV-Plattform abermals ihren Standort verließ und sich, von der sichelartig gekrümmten Konstellation der Dunkelplaneten entfernend, in den Schutz der SOL zurückzog, aber mehr als eine halbe Million Kilometer weit hinter dem mächtigen Raumschiff im fragwürdigen Sichtschatten blieb. Etwa hundertzwanzig Minuten später bahnte sich ein neuer Höhepunkt des seltsamen Geschehens an. Die SOL-Ortung gab Alarm und schaltete die aufregenden Bildfolgen sowohl in die Zentrale als auch zu Atlan. Der Aufmarsch der zweihundert Dunkelplaneten war zum Stillstand gekommen. Die Konstellation im lichtlosen Raum, am Rand der Zone-X, bildete einen Halbkreis. Die beiden äußersten Punkte waren von
einzeln stehenden Planeten markiert. Die Zone daneben bis zum Mittelpunkt des sphärischen Gebildes wies eine ständig ansteigende Dichte auf; hier drängten sich die schemenhaft glühenden Echos dichter zusammen und waren versetzt hintereinander gestaffelt. Plötzlich sagte der Extra fast stammelnd: »Das kann nicht wahr sein! Das bedeutet eine neue Teufelei!« Sämtliche etwa zweihundert Dunkelplaneten bewegten sich – von einer Sekunde zur anderen! Auf den ersten Blick schien es, als habe jeder von ihnen eine Kreisbahn eingeschlagen. Die Bahnen störten einander nicht, da die Abstände zwischen den einzelnen Körpern groß genug waren; kleiner allerdings als die Abstände mancher Monde zu ihren Planeten in einem anderen Universum, in dem es mit physikalisch rechnen Dingen zuging. Die Achsen der Bahnen standen in jedem denkbaren Winkel zueinander und daher ebenso die Bahnebenen. Zweihundert Körper wirbelten lautlos und gespenstisch umeinander, aneinander vorbei, untereinander und durcheinander. Es war ein Bild des absoluten Chaos. Die gesamte halbmondförmige oder spindelförmige Zone war in schnelle Bewegung geraten. Fassungslos starrten die Besatzungsmitglieder der SOL und die vierundachtzig Mannschaften der CHART DECCON auf die Interkome. Dazu hörten sie die gepreßte Stimme des Diensthabenden aus der Ortungszentrale. »Völlig unerklärliche Vorgänge … noch immer nicht festzustellen, welche Kräfte sich auswirken … verlieren die Kontrolle über die Anzahl der Planeten … am besten, die Korvetten zurückzurufen.« Dann die Stimme des High Sideryt: »Achtung! Sofort umkehren. Alle Erkundigungsschiffe sofort zurück in die SOL. Verstanden?« Viermal kam klar und deutlich, die Rückmeldung. Schweigend sah der Arkonide zu, wie die Planeten, ohne auch nur ein einzigesmal einen Kollisionskurs einzuschlagen,
umherwirbelten. Ohne erkennbaren Grund und in der totalen kosmischen Finsternis. Nach rund einer halben Stunde verringerte sich, auch mit dem bloßen Auge erkennbar, die Bewegung der Himmelskörper umeinander, beziehungsweise deren Geschwindigkeit. Die Bahnen blieben, wie eine Rückfrage in der Ortung klar bewies, konstant. Es schien, als wären es einmal weniger, dann wieder mehr Objekte. Am Ende einer Periode, die von Aufregung und totaler Unsicherheit über die Absichten des Gegners gekennzeichnet war, hörte auch diese Bewegung auf. Regungslos standen die etwa zweihundert Punkte der Planetenkonstellation wieder auf den Spezialschirmen. Über Visiphon sagte der High Sideryt: »Hayes spricht. An alle an Bord: Die Lage hat sich scheinbar beruhigt. Wir wissen absolut nicht, was unser Gegner vorhat. Jedermann, der mit Ortung zu tun hat und alle Insassen der Zentrale werden wachsam bleiben bis zum Äußersten. Hidden-X verfolgt einen Plan, dessen Einzelheiten wir nicht ahnen. Noch nicht. In den nächsten Stunden wird es sich zeigen. Kein Grund zur Panik, aber bereitet euch auf überraschende Aktionen vor.« Atlan desaktivierte einige Monitoren, lehnte sich aufatmend zurück und sah fragend seine beiden Gäste an. »Vermutlich hat Hidden-X genau diesen Zustand beabsichtigt«, meinte er unschlüssig. »Es herrscht so etwas wie entspannte Ruhe an Bord. Wir werden unaufmerksam. Die beste Ausgangssituation für einen neuen, gemeinen Angriff.« Aus dem Lautsprecher des Interkoms, der auf die leiseste Stufe heruntergeregelt worden war, erscholl eine Suchmeldung. Ein Schiffskommandant wurde in den Schleusenhangar seiner Korvette gerufen. »Du hast recht, Atlan«, antwortete der Extra. »Eben das befürchte ich«, meinte Atlan. Er zuckte resignierend die Schultern und sagte: »Bei der Aufregung habe ich vergessen, daß ich
heute noch fast nichts gegessen habe. Geht ihr mit?« Er deutete in die Richtung der nächstgelegenen Cafeteria, etwa dreihundert Meter vom Komplex der SOL-City entfernt. Oggar erwiderte, er wolle ihnen Gesellschaft leisten, und Insider spürte plötzlich auch nagende Hungergefühle. Interkome gab es in jedem Raum; sie waren in den nächsten Minuten also nicht von den Informationen abgeschnitten. Als Atlan als letzter den Raum verlassen wollte, stutzte er. Schon wieder eine Suchmeldung. Der Chef einer Reparaturabteilung wurde gebeten, seine Mannschaft anzurufen und ihnen ein Problem zu erklären. Suchmeldungen, sagte sich Atlan schweigend und schloß das Schott, waren in der SOL nicht gerade etwas Außergewöhnliches, und auch die Massierung von zwei dicht aufeinanderfolgenden Rufen stellte nichts Besonderes dar. Wieder zuckte er mit den Schultern und folgte Insider und Oggar.
* Die Stimmung in dem gemütlichen Raum, dessen Einrichtung aus warmen Holzverkleidungen, gedämpftem Licht und bequemen Sitzen- und Tischen dazu geschaffen war, in Ruhe zu essen und sich zu unterhalten, entsprach der aktuellen Lage. Atlan und seine Begleiter setzten sich auf die hohen Sessel der Eßtheke. Atlan orderte auf der Tastatur einen leichten Imbiß und als Abschluß ein kräftiges Bier; seit einiger Zeit arbeitete auch die SENECA-gesteuerte Bordbrauerei so zufriedenstellend, daß seine Erinnerungen an dieses Getränk aus irdischen Zutaten nicht mehr strapaziert wurden. Insider bestellte eine ausgiebige Mahlzeit. Flüchtig erinnerte sich Atlan an eine ganz andere Zeit an Bord. Nach all den dramatischen Versuchen, die gewohnte Ordnung innerhalb des Schiffes wiederherzustellen, erfolgte auch die
Einrichtung beziehungsweise Wiederinstandsetzung der Restaurants, Bars, Cafeterias und aller anderen Stationen der Versorgung. Er selbst war es gewesen, der darauf gedrängt hatte, daß in den Dienstleistungsbetrieben nicht nur Automaten zuverlässig funktionierten, sondern auch Solaner sich um das Wohl anderer Solaner kümmerten; so wie überall. Die Folge in diesem Eßund Trinkbereich war, daß hinter der Eßbar und zwischen den Tischen meist junge Solaner zusammen mit Spezialrobots bedienten. Das Essen kam aus dem Versorgungsschacht. Insider steckte zwei Hände in die Taschen und aß mit den anderen beiden. Atlans Appetit kam nach den ersten Bissen. Das Bier, in einem ansprechenden Glas serviert, besaß genau die richtige Schaumkrone und die exakte Temperatur. Am Rand der Theke schob sich eine Klappe zur Seite. Ein Mann mit weißer Mütze und hochrotem Gesicht rief einer Serviererin zu: »Wo steckt Cors? Ich bin ganz allein. Schicke ihn wenn du ihn siehst!« Das Mädchen runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf und gab zurück: »Er war doch vor Minuten noch bei dir! Hier ist er nicht. Ich habe ihn auch nicht vorbeikommen sehen!« »Unsinn! Einen zwei Meter großen Küchenchef kannst nicht einmal du übersehen.« »Hier ist er jedenfalls nicht«, gab das Mädchen zurück und verabschiedete die Mannschaft einer technischen Abteilung, die ihre Mützen aufsetzte und den Raum verließ, nicht ohne Atlan und Insider zuzuwinken. »Verdammt. Ich werde allein nicht fertig!« kam es aus der halbrobotischen Küche. Dann wurde wütend die Klappe zugeschlagen. Atlans Extrahirn wisperte: Die dritte Suchmeldung. Der Arkonide ließ sich nicht stören. Er leerte seine Teller und Schüsseln und spürte zufrieden den malzigen Geschmack des
dunklen Bieres auf der Zunge. Trotzdem warf er ab und zu einen Blick auf den eingeschalteten Interkom an der Stirnseite des Raumes. Die Aufnahmeoptik war ausgeschaltet, der Lautsprecher grummelte unverständlich leise vor sich hin. Eine leichte Unruhe ergriff Atlan. Er hatte gelernt, derartigen Hinweisen seines Unterbewußtseins eine bestimmte Bedeutung zuzumessen. Aber der Umstand, daß drei Personen an Bord gesucht wurden, hatte nichts zu bedeuten. Der Bildschirm des Interkoms flammte plötzlich mehrmals hintereinander rot und blendend weiß auf. Ein Hinweis der Zentrale, daß die nächste Meldung wichtig war und beachtet werden mußte. Oggar stand auf, ging zum Schirm und bewegte die Lautsprecherregelung. Alle Blicke richteten sich auf den Interkom. Das Gesicht des High Sideryt erschien. Hayes sagte sichtlich beunruhigt: »Seit einiger Zeit nehmen die Suchrufe und Meldungen zu, daß bestimmte Personen unauffindbar sind. Die Zentrale hat rund zwei Dutzend bisher registriert. Dies kann nichts zu bedeuten haben, aber ebenso gut ein Warnzeichen sein. Es ergeht folgender Aufruf: sämtliche Besatzungsmitglieder, die angeblich unauffindbar sind, sollen sofort der Zentrale gemeldet werden. Ich habe soeben einige Gruppen Buhrlos zurückgerufen, die außerhalb des Schiffes waren.« »Also doch«, sagte Atlan laut und bestellte ein zweites Bier. »Suchmeldungen. Vermißte Solaner. Wie bringen wir das mit dem Reigen der Dunkelplaneten in Verbindung?« Insider löffelte sein Dessert und tupfte sich die Lippen ab. »Abwarten«, sagte er nur scheinbar ruhig. Das Bier, dessen Alkoholgehalt relativ niedrig war, beruhigte Atlan keineswegs. Er mußte warten, bis stichhaltige Informationen vorlagen. Hayes hatte richtig reagiert. Inzwischen würden die Leitungen zur Schiffszentrale wohl überlastet sein – oder auch nicht. Die Solaner hier in der Cafeteria diskutierten die neuesten
Meldungen lautstark. Die Zeit schien plötzlich dahinzukriechen. Schließlich meldete sich wieder der High Sideryt. Sein narbiges Gesicht ließ erkennen, daß er beunruhigende Meldungen zu machen hatte. »Freunde!« sagte er stockend. »Was wir befürchtet haben, ist leider eingetreten. Trotz sofortiger Suche und der Hilfe des Bordrechners haben wir bis jetzt siebenundfünfzig Solaner nicht finden können. Das ist die traurige Wahrheit. Sie sind spurlos verschwunden. Einige lösten sich – das waren die letzten, besorgniserregenden Informationen – vor den Augen ihrer Nachbarn scheinbar in Luft auf. Der Effekt ist unbekannt. In der Zentrale denkt man an Phänomene der Teleportation. In welchem Zusammenhang zu den verschwundenen Bordangehörigen die Bewegungen der Dunkelplaneten stehen, ist völlig offen. Als erste Maßnahme wurde angeordnet, die Schutzschirme einzuschalten. Dies geschieht im gegenwärtigen Zeitpunkt. Noch können wir nicht zurückschlagen, weil wir den Ansatzpunkt nicht kennen. Inzwischen sind weitere Meldungen eingetroffen. Die Anzahl der Verschwundenen hat sich auf fünfundsiebzig erhöht.« Atlan wandte sich vom Interkom ab und blickte von Insider zu Oggar und zurück. Leise sagte er: »Was können wir tun?« Der Androide erwiderte resignierend: »Mehr, als Breck anordnet, ist nicht …« Er verschwand. Das Polster des leeren Sitzes zwischen Insider und Atlan wölbte sich wieder nach oben. Mit einem dumpf fauchenden Geräusch füllte die Luft das kurzfristig entstandene Vakuum aus. Atlan und Insider zuckten erschrocken zurück. Eiskalte Furcht packte den Arkoniden. Er konnte nicht glauben, was er erlebt hatte. »Er ist verschwunden. Oggar verschwand vor meinen Augen«, sagte er langsam. Insider sprang vom Sessel und erklärte überzeugt: »Er ist entführt worden, Atlan.« »Ausgerechnet Oggar mit seinen Fähigkeiten! Ich kann es wirklich
nicht glauben«, meinte der Arkonide zweifelnd. Nur ganz langsam siegte die kühle Überlegung wieder über den Schock des Verschwindens. »Wie kannst du dessen so sicher sein, Insider?« »Patsch-uuh!« machte der Extra. »Ich kenne ihn genau. Er würde niemals verschwinden, mitten im Satz, ohne wenigstens uns beiden gegenüber anzudeuten, was er plant. Erinnere dich! Ich sage dir, daß er ebenso entführt oder teleportiert wurde wie die anderen. Dahinter steckt ein System!« »Mir bleibt nichts anderes übrig«, antwortete Atlan müde und glitt vom Sessel, »als dir zu glauben.« Die Gäste der Cafeteria umringten den leeren Platz. Auch sie waren erschrocken und ahnten, daß eine neue Gefahr nach der SOL gegriffen hatte. Insider schob sie mit vier Händen auseinander, drehte sich um und rief Atlan zu: »Ich suche ihn!« »Wo, verdammt, willst du ihn suchen?« rief Atlan verzweifelt. »Das ist ein sinnloser Rettungsversuch!« »Ich starte den HORT!« Insiders Entschlossenheit konnte nicht durchbrochen werden. Nicht von Atlan und den Umstehenden, die ihm ebenfalls wild durcheinander das Vorhaben ausreden wollten. Auch für sie gab es kein Ziel. Die Suche erschien ihnen allen absolut vergeblich und sinnlos. Aber der Extra blieb hart. »Ich hole Ausrüstung aus SOL-City«, sagte er hart. »Ich benachrichtige die Zentrale, und dann fliege ich mit Oggars HORT los. Mein Instinkt in solchen Fällen ist ausgeprägt. Ich finde Oggar, darauf könnt ihr euch verlassen. Mit ein bißchen Glück haben wir die Fragen bald beantwortet.« Wo Oggar vermutlich ist, sind auch die anderen, flüsterte der Logiksektor. Mit seinen kennzeichnend schnellen Bewegungen verließ der Extra den Raum. Die Schwingtüren schlugen hinter ihm gegeneinander. Ratlos blieben die Solaner zurück.
Atlan lehnte an der Theke, hatte die Ellbogen auf die Platte gestützt und dachte nach. Die Lust auf ein weiteres Bier war ihm restlos vergangen. Kurze Zeit später erreichte ihn in seinem Arbeitszimmer die Meldung, daß der HORT gestartet war und auf den Kern der Dunkelplanetenansammlung zusteuerte.
4. Oggar war nur kurze Zeit orientierungslos. Er fühlte in seinem Körper noch den scharfen Ruck, mit dem seine Füße, den Sturz abfedernd, auf einer teppichartigen Fläche aufgesetzt hatten. Vor seinen technischen Sehzellen, deren Leistungsfähigkeit menschliche Augen weit überstieg, befand sich eine transparente Scheibe. Dahinter erkannte er Landschaft. Einige Bauwerke, mehrere schlanke Türme, deren Fenster oder Öffnungen meist gerundet waren. Sämtliche Grünzonen, im hellen Licht einer gelben Sonne liegend, waren triefend naß. Zwischen großen Bäumen breiteten sich eine Vielzahl von Tümpeln, Pfützen und Seen aus. Es mußte geschneit oder gehagelt haben oder beides zusammen, denn im Schatten sah er dünenartige Aufwerfungen einer kalten, weißen Materie. Fahrzeuge bewegten sich auf schmalen Straßen und durch gläserne Röhren. Hinter ihm: Stimmengewirr. Das Mischwesen drehte sich um. Vorübergehend spürte Oggar, der in einer Verlegenheitsgeste über seinen haarlosen weißen Schädel strich, wie sich das Bewußtsein von Sternfeuer regte. Jemand vor ihm sagte mit deutlicher Erleichterung: »Oggar! Du bist auch entführt worden!« »So ist es. Aber … von wem? Und warum?« »Wir haben noch niemanden gesehen. Aber die Umgebung entspricht den Verhältnissen in der SOL«, klang es durcheinander.
Mit einem einzigen langen Blick umfaßte der Androide den Kreis der Frauen und Männer, die sich wie hilfesuchend um ihn gruppiert hatten. Es waren mehr als fünfundsiebzig Solaner. Sie alle befanden sich in einem großen Raum, mindestens dreihundert Quadratmeter groß. Mehrere Schottportale waren in den Wänden sichtbar. Sie besaßen keinerlei Öffnungsmechanismen. Es gab in dem Raum keine scharfen Ecken; die Übergänge von Wänden, Boden und Decke waren abgerundet, und sämtliche Flächen waren von einem Material bedeckt, das hochflorigen Teppichen glich. Die Schicht, auf der die entführten Solaner standen, hatte ein gelbbraun getigertes Muster. Ebenso wie bei den wenigen sichtbaren Bauwerken waren die Fenster rechteckig, aber mit stark gerundeten Ecken. »Hat jemand eine Ahnung, worauf wir warten?« fragte Oggar und gab Sekunden später selbst die Antwort. Sternfeuers Bewußtsein sprach aus seinen akustischen Anlagen. »Wir alle sollen telekinetisch abgestrahlt werden. Der Planet heißt Anterf. Unser Ziel ist das Flekto-Yn.« Oggar selbst fügte hinzu: »Sternfeuers Bewußtsein bemüht sich, auf telepathischem Weg Informationen zu sammeln. Ein Lichtblick. Erinnert ihr euch an die Drohung von Hidden-X? Alle Solaner sollen versklavt und zu Baumeistern des großen Spiegels gemacht werden.« »Wir sind die ersten!« stieß ein Solaner hervor. Oggar registrierte, daß die Teleportierer von Anterf offensichtlich wahllos vorgegangen waren. Sie hatten sich auf das Innere der SOL konzentriert und jeden, der ihnen brauchbar erschien, entführt. Oggar sah junge und alte, weibliche und männliche Solaner aus allen Gruppierungen an Bord. Er zählte fünf Buhrlos. Langsam ging er durch den Raum und spähte auf der anderen Seite aus den Fenstern. Das Gebäude, in dem die ersten Gefangenen untergebracht waren, befand sich am Rand einer größeren Ansiedlung. Oggars Blick ging über langgestreckte, zweckmäßige Bauwerke hinweg. Er sah einen
Turm und dahinter, in langen, militärisch exakten Reihen aufgestellt, spitzkegelige Raumschiffe unterschiedlicher Größe, keines jedoch unter hundert Meter von der scharfen Spitze bis zur Basis. Ein Raumhafen, schätzungsweise vier Kilometer entfernt, hinter ausgedehnten Parks, auf deren Blättern Nässe schimmerte. Zwischen den Stämmen schmolz der Schnee und bildete Dunstschleier. Eine Welt mit viel zuviel Wasser, sagte sich der Androide. Er ging noch näher an die Scheibe heran und entdeckte, daß ein Teil der Fenster auf ein flaches Dach mit nur geringer Neigung führte, das nach einigen Dutzend Metern mit einem aufgeschütteten, dicht bewachsenen Hügel verschmolz. »Eine Möglichkeit«, bemerkte er und lief zum nächstgelegenen Schott. Er hatte nichts anderes erwartet. Es gab keinen Ansatzpunkt für einen Hebel, keine verborgenen Schaltungen auf dieser Seite, also keine Möglichkeit, die unverkleideten Stahlplatten zu öffnen. Als er sich umdrehte, um mit den Solanern zu sprechen, wurde er Zeuge, wie abermals vier Personen dicht über dem Boden in der Luft erschienen, strauchelten und fielen. Sie stießen Schreckensschreie aus, aber die Nähe der anderen beruhigte sie. Oggar rannte auf die Solaner zu, die sich wie schutzsuchend in der Mitte des Raumes zu einer großen Gruppe zusammengedrängt hatten. »Mein Plan sieht folgendermaßen aus«, sagte er. »Ich zerbreche ein Fenster. Von dem Dach aus kommen wir in den Park oder Wald, und von dort aus erreichen wir den Raumhafen zu Fuß. Wir bemächtigen uns eines Raumschiffs, starten und sehen weiter.« Wieder wurde sein Bewußtsein vorübergehend verdrängt, und Sternfeuer erklärte: »Der Planet der Anterferranter steht nahe der SOL. Nicht weiter entfernt als hunderttausend Megadarns. Ein Megadarn entspricht einem Kilometer. Es sind nicht alle Teleporter.« »Ihr habt es gehört«, führte Oggar, wieder sich selbst überlassen,
aus. »Sternfeuer hat bestätigt, daß wir in der Nähe der SOL sind.« »Wir haben keine Waffen!« Der Androide folgerte, daß die Anterferranter möglicherweise nur unbewaffnete Opfer gesucht und hierher versetzt hatten. Die einzige Waffe, über die sie verfügten, war sein eigener Körper, wobei er die Struktur der äußeren Schutzhülle verändern konnte. Auf diese Weise sollte es möglich sein, eine Fluchtöffnung zu schaffen. Wieder rannte er zum Fenster und rechnete aus, um wieviel die Lichtstreifen auf dem Boden gewandert waren, während er sich in diesem Gefängnis befand. Dreißig Sekunden später hatte er es ausgerechnet. * »In knapp zwei Stunden ist es dunkel. Dann können wir die Flucht gefahrloser riskieren. Wir müssen hier hinaus.« »Aber es kommen ständig neue hierher!« rief jemand. Sie gingen hin und her und versuchten, die Erfolgsaussichten abzuschätzen. Leise sprachen die Solaner miteinander. Keiner von ihnen wollte ins Flekto-Yn, denn sie kannten die Berichte der Molaaten und der wenigen Roxharen, überdies hatte Atlan seine Erlebnisse geschildert. Alles andere war besser, als Sklave von Hidden-X zu sein. »Wir ziehen die Aktion so lange wie möglich hin«, entschloß sich Oggar. »Wenn jemand hier abgesetzt wird und das zerstörte Fenster sieht, weiß er Bescheid. Ich rechne damit, daß es Schwierigkeiten geben wird.« Sie hatten bisher noch keinen einzigen Anterferranter aus der Nähe gesehen. Ob es in dieser Halle Beobachtungseinrichtungen gab, war noch nicht festgestellt worden. Oggar aktivierte seine Taster und Sensoren und schritt langsam den Raum ab. Er spürte Versorgungsleitungen und ähnliche Einrichtungen auf und kam zu dem Schluß, daß er sich nicht in einem Spezialgefängnis für Solaner befand, sondern in einem Saal, der anderen Zwecken gedient hatte und zweckentfremdet worden war. Die Proportionen entsprachen jedoch denen der vergleichbaren Einrichtungen in der SOL.
»Das Fenster ist unschwer zu zerstören«, versuchte Oggar die aufgeregten Solaner zu beruhigen. Wieder setzten die Planetarier von Anterf zwei neue Opfer ab. Diesmal hatten sie eine schlechte Wahl getroffen. Es war ein Angehöriger der Landetruppen dabei, und er trug einen schweren Paralysator am Oberschenkel. Oggar blieb zwischen den Entführten stehen und deutete auf den Bewaffneten. »Ich renne zuerst los. Ihr müßt so schnell sein wie möglich, denn es wird im entscheidenden Moment um Sekunden gehen. Du deckst mit deiner Waffe das Ende unserer Reihe, einverstanden?« »Völlig klar«, keuchte der Solaner, von dem Schock noch benommen. »Kannst du … ich meine, haben sie Raumschiffe oder so etwas?« »Dort drüben stehen allein vierzig Schiffe. Ich werde versuchen, einen unbeachteten Moment auszunutzen.« »Sie werden Wachen aufgestellt haben.« »Nicht unsretwegen«, entschied Oggar. »Sie denken nicht im Traum daran, daß wir zu flüchten versuchen. Sie rechnen nicht damit.« »Hoffentlich hast du recht.« Der Androide ging wieder an das Fenster und prägte sich jeden Meter, den er von dem beabsichtigten Fluchtweg bis zum Rand des Raumhafens erkennen konnte, genau ein. Er würde seinen Weg in völliger Dunkelheit wiederfinden. Der Hafen selbst war von einem dichten Grünstreifen umgeben, zwischen dessen Tümpeln Oggar einen dünnen Zaun bemerkte. Für seine unzerstörbare Haut, die sich fahlrosa und hellgrün färben würde, stellten die Maschen kein Hindernis dar. Trotzdem würde der Fluchtversuch alles andere als problemlos sein. Er kam zurück und sagte: »In einer Stunde ist es soweit. Ich merke gerade, daß Sternfeuer etwas zu sagen hat. Also … im dritten Schiff, das von hier aus zu sehen ist, befinden sich nur drei Wachen. Sie halten sich im
Pilotenraum auf. Die Ladung ist im Regensturm verdorben und wird gerade ersetzt. Nur die Kampfschiffe befinden sich in Alarmbereitschaft.« Oggar setzte ein menschlich wirkendes Lächeln voller Zuversicht auf und sagte laut: »Ihr habt es gehört. Wir flüchten mit einem Handelsschiff oder einem Transporter. Die Wachen werde ich ausschalten können.« »Das klingt schon besser«, meinte der Bewaffnete. Vorübergehend kehrte eine gespannte Ruhe in dem großen Raum ein. Einige Dutzend der Entführten versuchten sich zu entspannen und streckten sich im Licht der untergehenden Sonne auf dem weichen Boden aus. Der Bewaffnete teilte aus den Taschen seiner Spezialausrüstung würfelförmige Trockennahrung aus. Die Anterferranter schienen rätselhafterweise eine Pause in ihren Aktionen eingelegt zu haben, denn es erschienen keine weiteren Entführten. Oggar wartete auf eine weitere Äußerung Sternfeuers. Aber sie und auch Cpt'Carch schwiegen und schienen ihre Bewußtseinsinhalte anderweitig zu beschäftigen. Als die letzten Sonnenstrahlen das Auxon-Symbol auf Oggars hellblauer Kunststoffkombination trafen, ging er quer durch den Raum und stellte sich gegenüber dem Fenster auf. Von dort aus sagte er: »Ihr müßt sofort losrennen, wenn die Scheibe geborsten ist. Einige von euch bleiben auf dem Dach stehen und helfen den Schwächeren oder Langsamen. Der Mann mit der Waffe ist bereit, einzugreifen.« »Alles klar. Ich bin der Nächste. Nach dir«, sagte der Bewaffnete und ging aus Oggars Bahn. Die Nebelschwaden des verdunstenden Wassers wurden stärker oder jedenfalls besser sichtbar, als die Sonne unter dem Horizont und hinter den Bauwerken der Stadt verschwand. Oggar hob den Arm, rief: »Achtung« und schnellte sich los. Auf einer Strecke von mehr als dreißig Metern gewann er ein überraschend hohes Tempo. Während er sich nach dem letzten
Sprung in der Luft streckte, dann seinen Körper wie eine Kugel zusammenrollte und seine Hautfarbe veränderte, machte er die Schutzhülle über dem Androidenkörper zu einer undurchbrechbaren Schicht. Wie ein abgefeuertes Geschoß landete er im transparenten Material des Fensters. Es gab ein lautes, krachendes Klirren. Die Fläche löste sich in unzählige kantige Trümmer aus, die zur Hälfte nach draußen, zur anderen Hälfte wie Hagelkörner nach innen prasselten. Oggars Körper überschlug sich, kam auf dem Dach auf und streckte sich. Nach zwei Überschlägen stand er sicher auf den Füßen und winkte. Hinter ihm flankte der bewaffnete Solaner über den niedrigen Rahmen, blieb stehen und zog mit einer einzigen, gleitenden Bewegung die Waffe aus der Schutzhülle. Er duckte sich, hob den Paralysator mit beiden Händen und suchte ein Ziel. Hinter ihm folgten die ersten Solaner und rannten sofort hinter Oggar her. Der Androide spurtete über den Rest des Daches, rannte auf das Gras des Hügels hinaus und versank nach den ersten Schritten bis zu den Knöcheln in der durchfeuchteten Erde. Er hatte damit gerechnet und stellte seine Kraftanstrengungen darauf ein. Zusätzlich bemühte er sich, auf feste Stellen zu treten und den Solanern die Flucht zu erleichtern. Sein Körper verschwand unter den ersten Bäumen. Die Abenddämmerung, die sich in unzähligen tiefhängenden Wolken rot und gelb zeigte, machte der Dunkelheit Platz. Oggar bahnte sich und den Nachfolgenden einen Weg, der deutlich erkennbar im Zickzack zwischen den Stämmen und über Wurzeln hinwegführte. Daß die Anterferranter eine Pause machten, registrierte er als weitere positive Einzelheit. Es konnte bedeuten, daß sie, wenn sie die Flucht ihrer Opfer bemerkten, wenigstens vorübergehend mit den Teleportationen aufhören würden. Wieviel waren hunderttausend Megadarns wirklich? Mehr als
hunderttausend Kilometer Entfernung? Oggar bemerkte vor sich den Zaun und walzte ihn mit einigen wütenden Schritten nieder. Hinter sich hörte er zwar das Keuchen der Solaner, aber noch war kein einziger Schuß gefallen. Die ersten Lichter, Scheinwerfer und Tiefstrahler des Raumhafens flammten auf und schufen vor ihm größere Zonen der Helligkeit. Dort drüben stand der Raumfrachter. Das dritte Schiff einer Reihe. An seiner Außenhülle klebte eine Art Turm aus hydraulischen Elementen. Kleine Maschinen entluden an einer Stelle einen Frachtraum und schafften eine Öffnung höher irgendwelche Ballen und Pakete ins Schiff. Die einzelnen Ladedecks waren mit Schutznetzen und wasserundurchlässigen Folien überspannt. In der Luft war viel Feuchtigkeit. Mehr als achtzig Prozent, registrierte Oggar, und dazu ein fauliger Geruch nach modernden Pflanzen und toten Tieren. Er wartete im Schutz von schweren, unbemannten Fahrzeugen, bis die größte Menge der Solaner sich hinter ihm auf dem betonähnlichen Material des Raumhafens zusammendrängte. Sein Arm deutete nach links. Fast alle standen im Schutz eines Baumes mit weit ausgreifenden Ästen, aus deren Blätter es unablässig tropfte. »Hintereinander dort entlang«, sagte er und wies auf die Grenze zwischen Hell und Dunkel, die hinter den ersten drei Schiffen verlief. »Und dann entert ihr die Plattformen. Ihr werdet sofort versuchen, zu mir zu stoßen. Ich werde in der Pilotenkanzel sein.« »Aber sie werden den Start bemerken.« »Damit rechne ich.« »Aber …« »Kein Schiff wird vor uns starten. Jedes braucht etwa dieselbe Zeit, um abheben zu können. Wir sind die ersten. Aber ich rechne mit einer harten Verfolgung.« »Los!«
Oggar rannte nach links, glitt am schwankenden Zaun entlang, watete durch eine tiefe Pfütze und pflückte Rankengewächse von seinen Füßen. Dann kam er wieder auf festen Untergrund und stob lautlos im Schatten bis zu dem wuchtigen Landestützen des dritten Schiffes. Die Strecke betrug etwa vierhundert Meter und noch immer gab es kein Zeichen dafür, daß die Flucht bemerkt worden war. »Sie hätten wirklich für ein ausbruchsicheres Gefängnis sorgen sollen«, murmelte er und schränkte still ein, daß die Entführten hier nur vorübergehend Zwischenstation hätten machen sollen. Er sah sich um. In unmittelbarer Nähe seines Standorts gab es innerhalb des glatten Teils des Schiffsrumpfes keine offenstehende Luke. Vorsichtig bewegte er sich weiter, dann entschloß er sich, zu bluffen. Er trat völlig offen in die helle Zone und ging auf das Ladegerät zu, wobei er mehr als ein Drittel der Basis des Schiffes zu umrunden hatte. Direkt zwischen den dicken Räderpaaren des Gestells führte eine aus dem Schiff hervorgeklappte Rampe mit schwarzem Belag bis zum Boden. Als sei es seine alltägliche Aufgabe, ging er auf die Rampe zu, warf einen prüfenden Blick in die Runde und verschwand nach zwanzig entschlossenen Schritten in einer schwach beleuchteten Schleuse. Sein Problem war es jetzt, sich richtig zurechtzufinden und möglichst schnell unbemerkt in die Pilotenkanzel zu kommen. Vor sich entdeckte er die geräumige Kabine eines Lifts, der in einem runden Schacht aus Gitterwerk nach oben führte. Der Boden federte leicht, als Oggar hineinsprang und den obersten Schalter drückte. Die Beschriftung war unverständlich, und auch die Symbole sagten ihm nicht viel. Er hoffte, daß Federspiel ihm helfen würde. Aber das Bewußtsein der jungen Frau schwieg oder befand sich auf telepathischer Suche nach weiteren Informationen über
Anterf und die Absichten der Anterferranter. Weit unter sich, aus dem anderen Ende des Liftschachts, hörte Oggar undeutlich die Stimmen der ersten Solaner. Und dann hörte er den Alarm. Er kam nur dreißig Sekunden später.
5. Myrrhn, über dessen Dienststelle sämtliche wissenschaftlichen Tätigkeiten von Anterf liefen und kontrolliert wurden, befand sich aus guten Gründen in seinem Zweitbüro. Zunächst, nachdem sich die Bewohner wieder einigermaßen gefangen hatten und daran gehen konnten, die beträchtlichen Schäden aufzuräumen, mußte er Hunderte Anfragen beantworten. Sie betrafen ausnahmslos die Mannschaften der Fernraumschiffe. Anterfs Bewohner nahmen an, daß man für jene Schiffe spurlos verschwunden war – Sonne und Planet existierten nicht mehr in der Galaxis Bars. Darüber hinaus war das Büro im Turm des Raumhafens von KarnAnt kleiner und überschaubarer. Hierher flüchtete er sich, wenn die Probleme für ihn zu groß und zahlreich wurden. Dies war jetzt der Fall. Der dritte Grund, und bei weitem der interessanteste, war Cynnth, seine Geliebte. Sie lag ausgestreckt auf der geschwungenen Liege, blätterte halb interessiert, halb gelangweilt in seinen Notizen und hatte einen vollen Becher Rhaythe vor sich. Ihre goldenen Augen leuchteten im Licht der tiefhängenden Lampen, als sie ihn anblickte und fragte: »Vermutlich habe ich recht, wenn ich annehme, daß dir fast kein einziger Aspekt dieser Entwicklung paßt?« Ihre schlanken Krallen ließen die Manuskripte achtlos zu Boden gleiten. Über den Rand des Bechers funkelten ihn ihre schneeweißen Zähne an. Schneeweiß; wieder zuckte er innerlich zusammen.
Fauchend stieß er hervor: »Ich hasse es, hilflos zu sein. Andererseits gab ich Hidden-X ein Versprechen, das ich nicht brechen kann. Ich will es auch nicht brechen, denn ich bin kein Selbstmörder. Ich halte auch nichts davon, Fremde nur deswegen anzugreifen, weil sie Fremde sind und Hidden-X sagt, daß sie keine positiven Kräfte im Kosmos darstellen. Ich bin ebenso für das Leben auf unserem Planeten wie rund zwei Milliarden andere Anterferranter. Ein Widerspruch baut auf dem anderen auf, Lösungen gibt es keine, und wir sind, auch wenn es nicht so scheint, einer fremden Macht ausgeliefert. Sieh nach draußen, was sie uns angetan hat.« Er nahm einen tiefen Schluck desselben Getränks, das in seiner Kehle zu zischen schien, dann schloß er seine wuterfüllten Ausführungen. »Dazu kommt noch die Sorge um Tausende Wissenschaftler und Schiffsbesatzungen, die ihre Heimat nicht mehr finden können.« Cynnth war unbestreitbar eine der schönsten Anterferranterinnen, die Myrrhn jemals gesehen hatte. Ihre Familie würde es lieber sehen, wenn sie die Freundin eines älteren und einflußreicheren Mannes geworden wäre. Aber sie verbrachte ihre Abende und Nächte mit Myrrhn, dessen kühlen Verstand sie ebenso schätzte wie seinen jungen Körper. Sie war berechnend, aber faszinierend. Den Zustand, der die Welt Anterf betraf, sah sie mit ebensolcher klaren Schärfe wie ihr Geliebter. »Wieviel Fremde sollen aus dem Raumschiff herausgebracht werden?« fragte sie nach einer Weile. »Vielleicht hält dann Hidden-X unsere Aufgabe für beendet?« »Es sind keine Zahlen genannt worden. Aber ich habe einmal, als der 222er-Verbund noch kräftig genug war, eine erstaunliche Menge Besatzungsmitglieder nennen gehört.« »Viele?« »Viele Tausende. Zuerst wollten sie hundert Fremde hierher schaffen. Morgen soll der Bund wieder zusammentreten und die
Entführten ins Flekto-Yn teleportieren.« »Du rechnest nicht damit, daß wir bald wieder frei sind?« Wieder fauchte er zornig. Die wenigen Eindrücke, die er von den weniger schweigsamen Mitgliedern der Ag-mehn-dju-Truppe erfahren hatte, sagten aus, daß sich der Planet mit Schutzschirm und Kunstsonne tatsächlich in einem völlig sternenlosen Gebiet befand, dessen Koordinaten niemand auch nur erahnen konnte. Mehr wußte er auch nicht. Seine Vorstellungen hingegen bewegten sich in ganz anderen Bahnen, ungeachtet der Gefahr, daß Hidden-X ihn belauschte. Selbst Sklaven hatten Gedankenfreiheit. »Nein. Damit rechne ich nicht. Nur ein gigantisches Wunder könnte das bewirken. Oder der Umstand, daß wir nutzlos geworden sind. Vermagst du dir vorzustellen, Cynnth, daß das stolze Volk von Anterf jemals nutzlos werden kann? Und wie es dann auf unserem Planeten aussähe.« »Du würdest also deinen Schwur brechen?« fragte sie und stand auf. »Auf keinen Fall. Mein Wort gilt, selbst wenn ich einsehe, daß wir zum Gehorsam gezwungen worden sind.« Cynnth setzte sich an die Kante des Schreibtisches und hob den Becher. Schweigend blickten sie sich an. Sie legte ihren schmalen Kopf mit dem weichen Kamm langer, gewellter Haare an seine Schulter und stieß einen schnurrenden Laut aus. Beide wußten, daß die unmittelbaren Gefahren nicht mehr Anterf und somit ihr eigenes Leben bedrohten, aber ihre innerliche Unruhe sagte ihnen, daß der Planet erst am Beginn von Aktionen, Abenteuern und Erlebnissen stand, die jedes vorstellbare Maß übersteigen würden. Einen Teil des Unbegreiflichen hatten sie bereits mit der verschwundenen und neu entstehenden Sonne und dem Versetzen in ein unbekanntes Gebiet des Universums hinter sich – schlimmere Wunder würden folgen. Und: sie waren ausgeliefert. Machtlos. Zum Gehorsam
gezwungen. »So ist es«, sagte er. »Und nicht anders. Shorrn, Narrm und Ztyrrh sind meiner Meinung. Unsere Ansichten sind deckungsgleich.« »Was nichts ändert.« Er streichelte das Fell ihres biegsamen Rückens. Die Unruhe trieb ihn dazu, aufzustehen und zum Fenster zu laufen. Er kam wieder zurück, stieß einen erschreckten Laut aus und sprang mit zwei Sätzen zu der riesigen Panoramascheibe. Er blieb wie gebannt stehen und preßte die Ballen seiner Hände gegen das Glas. Direkt unter ihm lag der Schnelle Frachter VERWEGENHEIT. Er sah im Licht derjenigen Tiefstrahler, von denen die Ladeeinrichtungen ausgeleuchtet wurden, etwa achtzig Gestalten rennen und hasten. Es waren keine Anterferranter. Also handelte es sich um die Entführten. Sie waren entkommen! Myrrhn stieß einen schauerlichen Fluch aus. Er blickte nur noch zwei Sekunden lang hinunter auf das etwa hundert Darns entfernte Raumhafenfeld, dann war er bei seinem Schreibtisch, drückte den Alarmknopf und aktivierte mit demselben Schalterdruck sein Kommandomikrophon. Aus zahllosen Lautsprechern in ebenso vielen Räumen hallte seine zornige, schnarrende Stimme. »Myrrhn spricht. Die Gefangenen sind entkommen. Sie bemächtigen sich der VERWEGENHEIT und wollen starten. Sämtliche Maßnahmen für Plan Feuerstreifen einleiten. Verfolgung durch Bodenabwehr und durch Schiffe. Laßt sie nicht entkommen – Hidden-X wird uns grausam dafür strafen. Äußerste Eile.« Während er zum Tisch gesprungen war, hatte Cynnth den Weg zum Fenster eingeschlagen. Sie sah, während überall mächtige Scheinwerferbatterien eingeschaltet wurden, wie einige Nachzügler die Rampe hinaufhasteten. Ein zwei Darn großer Mann stand breitbeinig da und feuerte mit einer Waffe, die er in beiden Pranken hielt, nach rechts und links. Aus dem Projektor der Waffe züngelten lange, fahle Lichterscheinungen.
Dann hetzte auch er in langen Sprüngen die Rampe hoch und wirbelte im Rahmen des Schotts wieder herum. Die heranrennenden Wachen rissen die Arme hoch, stolperten und schlugen hart zu Boden. Myrrhn wandte sich ab. »Meine persönliche Anwesenheit als Wissenschaftssenator ist wohl bei diesem Fall nicht mehr notwendig«, sagte er bitter. Cynnth legte tröstend ihre Arme um ihn. »Du hast getan, was du konntest. Jedenfalls scheinen die Fremden zu wissen, wie man flüchtet und kämpft.« Sie sahen, wie sich die Schleuse schloß. Dann wirbelte ein Körper durch die Luft und landete mehrmals federnd mitten auf einem Schutznetz. Myrrhn machte die Geste der Resignation. »Sie schaffen es noch, die Fremden. Wart's nur ab. Sie starten ein Schiff, dessen Technik ihnen ebenso fremd sein muß wie ihre für uns. Und entkommen. Und dann bricht das Strafgericht von HiddenX über Anterf herein.« Der Alarm hatte alle Sicherheitskräfte des Raumhafens erreicht. Plan Feuerstreifen sah alle Abwehrmaßnahmen für den Diebstahl eines Schiffes vor. Er war sicher unzählige Male geübt, aber niemals ernsthaft in Tätigkeit getreten. Von allen Seiten hasteten rennende Wachen auf die VERWEGENHEIT zu. Kleine, halbrobotische Wagen heulten mit aufgeblendeten Scheinwerfern und heulenden Glockensignalen heran. Unter der VERWEGENHEIT breitete sich eine Dampfwolke aus, durch die spitze Flammen zuckten. Das Ladegestell begann zu wanken, als einige andere Schleusen geschlossen wurden. Ein zweiter und ein dritter Körper wurden aus dem Schiff geschleudert, dann fuhr auch diese Schleuse zu. Vom anderen Ende des Raumhafens feuerte ein bodengestütztes Geschütz. Der erste Glutstrahl ging haarscharf am Rumpf der daneben abgestellten DRAUFGÄNGERTUM vorbei und erzeugte
im nahen Karn-Ant-Migym-See eine gewaltige Dampfwolke. Der zweite Schuß schlug voll in die unteren Zonen der DRAUFGÄNGERTUM ein und verwandelte einen Teil des Schiffes in einen glühenden Schrotthaufen. Der Explosionsdruck ließ das Ladegestell des startenden Frachters schwanken und zusammenbrechen. Dann startete der Schnelle Frachter, als säße ein ausgebildeter Anterf-Pilot an der Steuerung. Die Triebwerke heulten auf und sandten ungeheure Wolken aus Flammen, Dampf und Rauch aus. Die Antischwerkraftgeneratoren glühten hellrot, als das Schiff sich senkrecht hochstemmte, einige Minidarns lang auf dem Heckantrieb balancierte und dann davonschoß. Aber zwei andere Schiffe – es waren bewaffnete Leichte Kreuzer – nahmen schon jetzt die Verfolgung auf. Die Triebwerke wurden bereits gezündet, als noch die letzten Mannschaften die breiten Rampen hochstürmten. Kurze Zeit darauf hatte die VERWEGENHEIT die Zone durchstoßen, die durch den dunklen Schutzschirm gekennzeichnet war. Schweigend sahen ihr Myrrhn und Cynnth nach. Sie standen inzwischen auf dem nassen Balkon des Büros, in dessen Ecken die letzten Hagelreste schmolzen. Sie erlebten mit, wie zuerst die KALTBLÜTIG startete, kurz darauf die ENTSCHLOSSENHEIT, schließlich, mit einigem Abstand, die VERNICHTUNG. »Sehr viel Chancen haben die Fremden nicht«, stellte Myrrhn fest. »Trotzdem kann ich ihnen ein echtes Stück Bewunderung nicht aberkennen. Ich hätte nicht anders gehandelt.« Er wartete, bis die drei Schiffe ebenfalls in die Höhe verschwunden waren und senkte dann den Kopf. »Du bist zur richtigen Zeit gekommen, Geliebte«, murmelte er niedergeschlagen. »Ich brauche heute Zuspruch, Aufmunterung und jemanden, der mein halbzerstörtes Selbstbewußtsein wieder kuriert.«
»Ich glaube, darauf verstehe ich mich«, schnurrte sie und schmiegte sich an ihn, als sie das dunkle Büro erreichten und auf die Liege zugingen.
* Er wußte, daß es auf Sekundenbruchteile ankam. Als er den Liftkorb verließ, nahmen seine hochempfindlichen Riechsensoren die typischen Komponenten eines Steuerzentrums auf. In diesem Punkt glichen die Zentrale des HORTS die der SOL und jene dieses Schiffes einander bis zum Verwechseln. Also stand er in unmittelbarer Nähe der Pilotenkanzel. Unhörbar leise schlich er vorwärts, spähte durch einen Spalt und sah nicht nur ein offenes Schott, sondern auch drei Anterferranter, in silbern schimmernde Bänder und Gurte gekleidet. Sie lagen entspannt, halblaut miteinander redend, in den riesigen Kontursesseln und warfen hin und wieder Blicke nach den Instrumenten. Oggar zog die metallene Platte geräuschlos auf und stürzte sich auf die Planetarier. Er schlug sie binnen weniger Sekunden bewußtlos. Den ersten erschlaffenden Körper warf er gezielt aus der Schleuse und sah zu, wie er im Schutznetz landete. Dann betätigte er einige Schalter. Die Reaktionen auf dem Armaturenbrett, das in seiner Anordnung demjenigen des HORTS nicht unähnlich war, bewiesen ihm, daß er die richtigen Schaltungen ausgeführt hatte. Während er die beiden anderen Körper an den Rand der Luke schleppte, analysierte er die Anordnung der Hebel, Regler und Schalter. Er würde das Schiff starten und in die Nähe der SOL fliegen können. Oggar hoffte, daß inzwischen alle Solaner die Rampe erreicht hatten. Als er die Schüsse der Betäubungswaffe hörte, nickte er
grimmig und betätigte einige Schaltungen. Dann kippte er vorsichtig die bewegungslosen Körper der beiden Anterferranter aus der Luke und hieb kurz gegen die glühenden Schalter des Schließmechanismus. Das Schott glitt zu. Er schwang sich in den Sessel des Piloten, zog Hebel und beobachtete ausschlagende Instrumente. Unter dem Schiff ertönte ein schweres, niedrigfrequentes Grollen. Der Schiffsrumpf begann zu beben. Draußen ertönten, nur noch schwach hörbar, polternde Laute. Dann tippte er auf einige Kontaktfelder und wußte instinktiv, daß sich von oben nach unten Schleusen und Schotte schlossen. Vor ihm erwachten Bildschirme und verschiedenfarbige Monitoren zum Leben. Er wartete nicht mehr länger und leitete den Start ein. Das Dröhnen und Vibrieren nahm zu. Dann schrie jemand hinter ihm: »Wir sind alle an Bord. Los!« Oggar dachte nicht darüber nach, daß er die Anterferranter genau gesehen hatte und in der SOL berichten konnte, wie sie aussahen. Er sah zu, daß er alle seine Fähigkeiten richtig einsetzte und das Schiff so schnell wie möglich durch die Wolken ins freie All brachte. Alle Schleusen schlossen sich während der ersten Phase des Starts. Dann sprang das Schiff förmlich aufwärts. Oggar drehte sich halb herum und sagte zu dem Bewaffneten: »Sorge dafür, daß jeder von euch einen Raumanzug anzieht und schließt. Was den zwei Meter großen Anterferrantern paßt, paßt auch euch. Sie werden uns ernsthafte Schwierigkeiten machen.« Das Raumschiff entfernte sich mit zunehmender Geschwindigkeit vom Boden des fremden Planeten. Kurze Zeit trieben auf den Bildschirmen dichte Wolken vorbei. Dann durchstieß das Schiff den Ortungsschutzschirm und war im freien Raum. Hunderttausend Kilometer nur! dachte Oggar und suchte die SOL. Er fand sie nicht.
Oggar hoffte, daß die Solaner in der Lage waren, seinem höchst sinnvollen Befehl nachzukommen. Schließlich waren sie alle Raumfahrer. Er musterte die runden Ortungsschirme und sah nur die Bilder, die er noch aus der SOL kannte: rund zweihundert Planeten, die einen großen Teil dieser Zone ausfüllten. Schließlich, im Ortungsschatten zweier bläulich schimmernder Riesenechos, fand er einen scharfen, blinkenden Punkt. Das mußte die SOL sein. Er nahm darauf Kurs und suchte nach einem Funkgerät auf dem Pult vor sich. Die fremde Technik war von ihm längst noch nicht durchschaut worden. Ununterbrochen schaltete er Tasten und Kontaktfelder, aber nichts ergab für ihn einen klaren Sinn. Hinter sich spürte er Bewegungen, drehte, sich herum und sah eine Gruppe Entführter, die in Raumanzügen steckten, die Helme aber nicht geschlossen hatten. »Sie verfolgen uns …«, sagte einer, und im gleichen Moment zuckte ein Feuerstrahl blendend auf den Schirmen vorbei. Ein zweiter folgte. Das Raumschiff schlingerte leicht, aber Oggar hielt weiterhin auf das starke Echo zu. Wieder aktivierte er eine Serie verschiedenfarbiger Schalter. Plötzlich dröhnte eine bekannte Stimme aus allen Richtungen auf die zusammenzuckenden Solaner herein. Insider! »Oggar! Ich bin mit dem HORT draußen. Sieben Schiffe verfolgen dich. Schneller!« Der Androide schrie zurück: »Alarmiere die SOL! Es wird brenzlig!« »Ich gebe Lichtsignale als Orientierungshilfe.« In diesem sonnenlosen Universum waren bereits eingeschaltete Landescheinwerfer eine große Hilfe. Oggar steuerte auf den HORT zu, der für ihn nichts weiter war als ein weiteres Ortungsecho in einem fremdartigen Kennungssystem auf dem Schirm, und jetzt blinkten die Landescheinwerfer auf. Zwei weitere Punkte tauchten vor ihm auf, in einigem Abstand voneinander und in unmittelbarer
Nähe des Planeten, von dem sie eben geflüchtet waren. SOL und CHART DECCON. Der HORT steuerte auf das heranrasende Schiff zu. Nochmals zuckten aus der Richtung der Verfolger hell lodernde Strahlen unbekannter Waffensysteme nach dem Raumschiff. Wieder meldete sich Insider. »Ich komme euch zur Hilfe. Hayes schickt Rettungsschiffe. Ich habe mitgehört. Sie kommen … nur noch ein paar Minuten, Oggar!« »Schließt eure Raumanzüge und versucht, die Funkgeräte in Betrieb zu nehmen«, donnerte die Stimme des Androiden durch das Schiff. Der Antrieb, mit dem er flog, war die erste Stufe und taugte bestenfalls für den Flug innerhalb eines Sonnensystems. Sein Schiff war zu klein und zu langsam. Eine schwere Erschütterung traf den Frachter und wirbelte ihn herum. Dröhnende Geräusche kamen aus dem unteren Teil der Konstruktion. Mit aller Kraftgriff Oggar in die Hebel der Steuerung und richtete den Bug wieder auf die drei Echos aus, die nicht näherkommen wollten. Die Verfolger hatten ihn klar erkannt, hetzten ihn und würden das Schiff in kurzer Zeit vernichtet haben. Oggar versuchte, die Entfernung zu schätzen. Vermutlich hatten sie von den hunderttausend Kilometern etwa ein Drittel zurückgelegt. Jetzt sah er auf dem Vorausschirm die SOL. Im HÜSchirm öffneten sich Strukturschleusen, und nacheinander lösten sich Beiboote aus den eckigen Öffnungen der hell erleuchteten Schleusenhangars. Es war vermutlich zu spät. Oggar steuerte jetzt, während der Antrieb aussetzte und wieder ruckend anlief, einen spiralförmigen Ausweichkurs. Er schien durch ein Gewitter zu fliegen, denn unablässig zuckten am Schiff die gleißenden Geschützstrahlen vorbei. Bisher schienen sie noch keinen schweren Treffer erhalten zu haben, aber immer wieder streifte ein Wirkungsschuß die Hülle des Schiffes und riß glühende Fetzen heraus. Eine Reihe schwerer Erschütterungen ging durch den Rumpf und schleuderte die Solaner hin und her.
Die Kreuzer der SOL eröffneten bereits das Feuer. Oggar sah den HORT, der immer näher kam. Immer wieder fielen die Schirme aus und zeigten nichts anderes als grelle, blendende Leuchterscheinungen. In einer Pause erkannte der Androide, daß die Verfolger bereits auf den HORT feuerten. Die ersten Glutstrahlen gingen gefährlich nahe an seinem Raumschiff vorbei. In dieser Sekunde bohrten sich gleichzeitig drei Projektorstrahlen in das Schiff. Sämtliche Systeme fielen aus oder spielten verrückt. Die Solaner schlossen auf einen Schrei des Androiden hin die Helme der fremden Anzüge und hörten das furchtbare Krachen, als das Schiff in riesige Trümmer zerbrach. Er selbst gab seiner Außenhülle den Befehl, ihre Struktur zu verändern. Oggar wußte, daß er mühelos im Vakuum des Raumes existieren konnte. Der nächste Treffer ließ auch den letzten Rest von Notbeleuchtung erlöschen und riß entlang der Längsachse des Schiffes eine mehrere Meter breite Bresche. Trümmer, Einrichtungsgegenstände und Körper wurden hinausgewirbelt. Oggar stieß sich ab, überschlug sich in der plötzlichen Schwerelosigkeit und schoß auf eine gezackte Öffnung zu, deren Ränder kirschrot nachglühten. Außerhalb des Schiffes sah er die Feuerstrahlen und ein Trümmerfeld, das sich langsam auseinanderzog, während sich die Bruchstücke in alle Richtungen drehten. Er stieß sich von einem aufgebogenen Metallträger ab und versuchte, seinem Körper einen Impuls zu geben, der ihn in die Richtung auf den HORT zu trieb. Seine Sehwerkzeuge nahmen wahr, wie der HORT voll getroffen wurde und sich, nachdem die Explosionswolke vergangen war, in Trümmern auflöste. Oggar fühlte starkes Bedauern; das Schiff war für ihn ein Stück Heimat gewesen und ein unersetzliches Fortbewegungsmittel.
Er konzentrierte seine Sensoren und erkannte, daß eines der Trümmerstücke die kleine SCHNECKE war, das Beiboot des HORTS. Dann waren die ersten Kreuzer heran. Sie umgingen die Trümmer und das nur noch halb vorhandene Wrack des Fluchtschiffs. Ununterbrochen feuerten ihre Geschütze und legten zwischen die Verfolger und die SOL einen gewaltigen Sperriegel aus Glut, Detonationen und zuckenden Projektorstrahlen. Die SCHNECKE trieb näher heran. Oggar rollte seinen Körper zusammen und drehte sich im schwerelosen Raum ganz langsam. Immer wieder stieß er sich von Trümmern ab und sah in der schauerlichen, zuckenden Beleuchtung der Geschützstrahlen, daß einige Solaner in seiner Nähe einander an den Händen hielten oder sich an den Gurten und Schlaufen der fremden Raumanzüge festklammerten. Ein Schiff der Anterferranter wurde getroffen und löste sich in einer blendenden Explosion auf. Dann, als Oggar ein dreieckiges, an den Rändern sägeartig zerfetztes Stück Metall packen konnte, reflektierte dieses konkav gekrümmte Metallstück das zitternde Licht der Gefechte. Einige Schützen in den Schiffen der Anterferranter, die nahe genug heran waren, erkannten auf dem Metall die Gestalt eines ihrer Feinde. Drei gezielte Schüsse verwandelten Oggar und das Metall in eine explodierende, aufspringende Glutwolke. Insider blickte zufällig gerade in diese Richtung. Er sah, wie Oggar starb. Ob sich Oggar in diesen entscheidenden Sekundenbruchteilen noch in Jenseitsmaterie hatte umwandeln können, vermochte er nicht mehr festzustellen. Er wurde abgelenkt, als zwei Kreuzer der SOL an ihm vorbeijagten und das konzentrierte Feuer eröffneten. Dann erst schaltete er die Blinklichter ein. Das Bewußtsein Oggars, das sie pers-oggarisch nannten, war verschwunden. Vielleicht war es für immer ausgelöscht. Insider
senkte den Kopf und war voller schweigender Trauer. Er nahm nur am Rande wahr, wie die Rettungsschiffe heranschwebten und die Trümmer absuchten. Irgendwann während des Rückflugs zur SOL hörte er, daß im Verlauf der Rettungsarbeiten neunzig Solaner in Raumanzügen geborgen worden waren – in Raumanzügen der Fremden. Die gegnerischen Schiffe drehten ab. Viele von ihnen waren schwer beschädigt, aber sie wehrten sich mit einer grenzenlosen Verbissenheit. Insider vergewisserte sich, daß die SCHNECKE, die letzte Erinnerung an Oggar und den HORT, richtig versorgt wurde. Dann suchte er in der SOL Atlan. Nur der Arkonide würde ihn in all seiner Trauer verstehen können. Völlig unbeachtet, weil die Kämpfe das Interesse sämtlicher Solaner voll beanspruchten, geschahen rätselhafte Dinge. Die Körper Sternfeuers und Cpt'Carchs bewegten sich. Leben kehrte in die Körper zurück, die bisher scheintot und starr wie Statuen dagelegen waren. In jener Sekunde, als Oggar im konzentrierten Feuer der Anterferranter starb, kehrten die Bewußtseinsinhalte des Mischwesens in ihre angestammten Körper zurück. Die Qualen und Mühen des »Wiedererwachens« wurden nur von den Überwachungsinstrumenten wahrgenommen. Medorobots leiteten die notwendigen Antischock-Maßnahmen ein. Es dauerte lange, bis Sternfeuer wieder reden konnte. Cpt'Carch fiel sofort, nachdem er versorgt wurde, in einen tiefen Genesungsschlaf. Niemand wollte ihn aufwecken. Aber Sternfeuer ließ sich zu Atlan in die SOL-City bringen. Sie wußte, daß es von ungeheurer Wichtigkeit war, Informationen weiterzugeben. Schließlich hatte sie während der Zeit, in der sie als Teil des OggarBewußtseins auf Anterf gewesen war, auf telepathischem Weg sämtliche Fakten herausgefunden und, wie sie hoffte, richtig verarbeitet. Atlan betrachtete schweigend und erschüttert das schmale
Gesicht, in das die Erschöpfung tiefe Linien gegraben hatte. Sternfeuer lag ausgestreckt in einem weichen Sessel, in weiche dicke Tücher gehüllt. Die Qualen und Anstrengungen des Erwachens waren deutlich zu bemerken. »Oggar ist tot«, sagte Atlan langsam. »Der HORT zerstört. Neunzig Entführte gerettet, wobei wir die genauen Zahlen noch nicht haben. Insider hatte recht. Er befand sich kurz vor dem Planeten, als das Fluchtschiff auftauchte.« Insider saß, klein, grün und zusammengesunken, am anderen Ende des Raumes. Er nickte nur. Dann meinte er: »Oggar hat die Entführten gerettet. Niemand sonst hätte es gekonnt.« »Es ist alles ein neuer, hinterhältiger Plan von Hidden-X«, sagte Sternfeuer. »Zweihundertzweiundzwanzig Anterferranter haben auf telekinetischem Weg rund hundert Solaner entführt. Ihre Gabe reicht allerdings nicht weiter als hunderttausend Megadarns, was hunderttausend Kilometern entspricht.« »Moment!« Atlan hob die Hand, fragte in der Zentrale nach und ließ sich beruhigt wieder zurücksinken. Sein Extrasinn flüsterte: Es waren die richtigen Maßnahmen. Der Raum füllte sich mit den anderen, gerade hier anwesenden Mitgliedern des Teams. Sie erfuhren, daß sich sowohl die SOL als auch die HV-Plattform in sämtliche Schutzschirme gehüllt und deren Kapazität heraufgesetzt hatten. Gleichzeitig zogen sich beide Körper von dem Planeten der Anterferranter zurück, der inzwischen klar ausgemacht worden war. Sternfeuer berichtete stockend, woher der Planet Anterf kam, und was Hidden-X getan hatte, um die Planetarier zu erbitterten Kämpfern gegen die SOL zu machen. Schweigend hörten sie alle zu – eine Leitung übertrug die Informationen in die Zentrale zu Hayes. »Also hilft eine größere Entfernung gegen die Entführungen. Nicht so sehr der Schutz durch unsere Schirme«, stellte Insider lest.
»So einfach ist es manchmal«, meinte Sternfeuer Sie schilderte, soweit sie sie »erfahren«, hatte, wie Hidden-X die Anterferranter zu willigen Werkzeugen umgeformt hatte. Sie sollten mit ihrer Agmehn-dju-Fähigkeit seine Drohung in die Realität umsetzen, nämlich die Solaner zu Sklaven und Handwerkern im Flekto-Yn machen. Nach und nach hätte sich die SOL entvölkert, und den Solanern wäre ein Schicksal wie das der Roxharen und Molaaten gewiß gewesen. »Anterf also. Deswegen die seltsamen Bewegungen der Dunkelplaneten«, meinte Sanny. »Hidden-X schmuggelte während dieser Verwirrung eine entführte Welt hierher, in unmittelbare Nähe der SOL. Es wird uns, hoffentlich, eine Lehre sein.« Hunderttausend Kilometer waren keine kosmische Entfernung. Schon ein kleiner Mond war weiter von seinem Planeten entfernt. Die Solaner hatten sich von den ausgestorbenen und toten Planeten in eine trügerische Sicherheit hineinsteuern lassen. »Die Gefahr ist erkannt«, versicherte Atlan. »Trotzdem …« Er wählte eine Verbindung zur Ortungszentrale. Die Frauen und Männer an den Pulten und den Spezialschirmen der Auswertung hörten gerade der Durchsage aus der Zentrale zu. Lyta Kunduran hatte sämtliche Erkenntnisse der geborgenen Solaner, den Bericht Sternfeuers, eine kurze Stellungnahme Insiders und die generelle Entwicklung der letzten Stunden zusammengefaßt und informierte die Besatzungsmitglieder. Für die Mehrzahl der bewaffneten Beiboote bestand weiterhin höchste Alarmstufe, obwohl sich sämtliche Schiffe bereits wieder in den Hangars befanden. »Eine vermutlich überflüssige Frage«, sagte Atlan. »Ihr habt nach wie vor den Planeten Anterf klar im Visier?« Der Diensthabende schüttelte den Kopf und zeigte auf den großen Schirm der Ortung. »Ich glaube, er ist uns entwischt!« sagte er. »Hier siehst du den Grund, Atlan.«
Abermals waren die Dunkelplaneten in Bewegung geraten. Aber diesmal beschrieben sie keine Kreisbahnen umeinander, sondern drifteten ohne jedes System in wirren Schlangenlinien umeinander. Ununterbrochen schoben sich einzelne Echos hinter andere, größere, die im Vordergrund standen. »Wir schafften es bis vor wenigen Minuten, Anterf klar zu definieren. Es gibt nicht so viele Planeten mit Ortungsschutzschirmen. Aber jetzt haben wir ihn trotz SENECA verloren.« »Das heißt, er kann praktisch an jeder Stelle der Konstellation stehen?« fragte Atlan. Er ahnte schon wieder einen Schlag seines Erzfeindes. »So ist es. Das Verhältnis von toten Welten zu solchen mit Schirmen und vermutlich Kunstsonnen liegt bei fünfzehn zu fünfundachtzig.« »Also müßten wir rund dreißig Planeten absuchen und würden dann Anterf finden!« bestimmte Atlan. »Das könnte funktionieren.« »Danke.« Atlan unterbrach die Verbindung und sprach mit Hayes, der sich nur noch in der Zentrale aufzuhalten schien. »Was hast du vor?« erkundigte sich Atlan. Hayes schien in den letzten Minuten einen klaren Plan entwickelt zu haben. Er zögerte nicht mit der Antwort. »Wir sind sicher, daß sich Anterf noch innerhalb der Konstellation der Dunkelplaneten befindet. Die Ortung hat die Frequenzen des Funkverkehrs zwischen den Verfolgerschiffen festgestellt. Wir wissen, daß der Gegner gefährlich ist – schon allein die große Anzahl der Schiffe, die Sternfeuer herausbekommen hat, kann uns ernsthaft gefährden.« »Das ist auch meine Meinung«, antwortete Atlan. »Von neuen Entführungen ist nichts bekannt?« »Nein. Im Gegenteil. Alle Solaner, die Oggar in dem Saal auf
Anterf traf, sind geborgen worden. Im Moment untersuchen wir gerade die Raumanzüge der Anterferranter. Es sind vom Aussehen bisher nur unvollständige Beschreibungen geliefert worden.« »Ich hole das noch nach«, versicherte Sternfeuer und gähnte. »Nicht so wichtig«, winkte Hayes ab und erklärte weiter: »Wir suchen den Planeten und markieren ihn, meinetwegen wieder mit einer Sonnenboje. Möglicherweise hilft das für ein paar Stunden.« »Das könnte sich als durchführbar erweisen«, stimmte Atlan zu. »Du denkst an irgendeine Art der Verständigung?« »Auch daran ist gedacht worden. Natürlich haben wir in diesem Fall Schwierigkeiten mit einer unbekannten Sprache. Ich schicke jedenfalls jetzt gleich einige Beiboote aus. Sie werden sich natürlich nicht überraschen lassen. Sie suchen gezielt nach Planeten mit Ortungsschutzschirm und sind bereit, den zweiten Schuß abzugeben.« »Gut. Es wird wichtig sein, keine Sekunde lang unaufmerksam zu werden. Die Lage ist mehr als gespannt.« Aus Hayes Kehle kam ein wütendes Knurren. »Wir rechnen mit den übelsten Überraschungen. Hidden-X wird den Fehlschlag seiner Planung auf keinen Fall hinnehmen. Und wenn er das gesamte Volk von Anterf dabei opfern muß.« Hayes und Atlan nickten sich zu. Jeder verstand, was der andere meinte. In kurzer Zeit würde die Pause vorbei sein, und Hidden-X operierte inzwischen in einer gewaltigen Größenordnung. Sie würden seinen Zorn darüber, daß der erste Plan fehlgeschlagen war, unmittelbar zu spüren bekommen.
6. Durch das riesige Fenster kam das erste Licht des neuen Tages. Für Myrrhn hatten Sonnenaufgänge inzwischen eine lebenswichtige Bedeutung erlangt: solange die Sonne noch existierte, würde der
Planet weiterleben. Er blinzelte und kniff die großen Katzenaugen zu. Neben ihm räkelte sich der schlanke Körper Cynnths. Sie drehte sich halb herum und verbarg ihr Gesicht im Fell der Arme. Myrrhn riß seinen Rachen auf, rekapitulierte die Ereignisse der vergangenen Nacht und schüttelte sich unbehaglich, als er aufstand und in der Mitte des Raumes stehenblieb. Ein Blick nach draußen zeigte ihm, daß weite Gebiete getrocknet waren, die noch vor Anbruch der Nacht überflutet gewesen waren. Der Versuch, mit Ag-mehn-dju-Bündnissen die Fremden aus dem großen Schiff zu holen und nach dem Flekto-Yn zu versetzen, war also fehlgeschlagen. Bisher hatte Hidden-X noch nicht gestraft. Noch nicht – er wartete und stellte sich darauf ein. Als habe sich der neue Herrscher nur auf ihn allein konzentriert, hörte er die drängende, schmeichelnde Stimme in seinen Gedanken. Ihr wartet auf neue Anregungen von mir. Ihr habt bemerkenswert große Fähigkeit und Tüchtigkeit an den Tag gelegt. Euer Kampf gegen die Fremden hat mich tief beeindruckt. Ihr wart so erfolgreich, daß ich daran dachte, euch zur Anerkennung wieder nach Bars-Zwei-Bars zu versetzen. Aber es stehen noch wichtige Aufgaben bevor. Die Fremden haben eine empfindliche Niederlage hinnehmen müssen, trotz der Flucht der Entführten. Mein kosmischer Auftrag an die tapferen Raumfahrer und Krieger von Anterf ist noch nicht ganz ausgeführt. Kämpft! Werft eure schnellen, bewaffneten Schiffe gegen den Feind. Ich werde euch unterstützen, indem ich Anterf in die unmittelbare Nähe des kleineren Raumschiffs bringe, das ihr vernichten müßt. Auch eure Bodenabwehr kann in den Kampf eingreifen. Wenn gekämpft werden muß, soll es schnell und entschlossen sein. In zwei Areas habe ich Anterf dort, wo ich den Planeten brauche. Dann sollen alle eure Schiffe im Raum sein und den Gegner in die Flucht schlagen. Vernichtet ihn erbarmungslos, so wie er eure Schiffe zerstört hat!
Wenn wir die Fremden vernichtet haben, brechen die sorgenfreien Zeiten im Licht Barsanters wieder an. Denkt daran! Startet eure Schiffe! Kämpft ohne Erbarmen – es geht um eure Existenz! Das befiehlt euch Hidden-X! Myrrhn fuhr seine Fingerkrallen aus. Er hatte gesehen, wie sich Cynnth ruckartig aufgesetzt hatte, als sie die Stimme hörte. Was Hidden-X befahl, war auf eigentümlich logische Weise richtig und sinnvoll. Das Endziel war wichtig, das Überleben Anterfs am richtigen Platz des Universums. »Narrm wird einen unruhigen Tag haben«, sagte Myrrhn grimmig. »Und auch Ztyrrh muß seine planetare Verteidigung aktivieren. Niemals hätte einer von uns gedacht, daß wir damit nicht verteidigen, sondern angreifen müssen!« In einer ratlosen Geste breitete die Anterferranterin die Arme aus. »Und wir? Wie können wir Anterf helfen?« »Indem wir niemandem im Weg stehen«, sagte ihr Geliebter. »Hoffentlich ist, wenn diese Schlacht geschlagen ist, alles endgültig vorbei.« »Ich ahne, daß es nicht so ist.« »Die Fremden verstehen zu kämpfen, zu flüchten, sich ebenso mutig zu verhalten wie wir«, überlegte Myrrhn laut. »Ich weiß nicht, wie lange es dauert, aber es wird ein erbarmungsloser Kampf werden.« Schweigend und innerlich bebend sahen sie zu, wie ein Schiff nach dem anderen vom Raumhafen der Stadt startete. Nur die Rümpfe derjenigen Kampfschiffe, die zu schwer beschädigt waren, blieben zurück.
*
Je ein Verband von vier Kreuzern näherte sich einem der Dunkelplaneten, unter dessen Ortungsschutzschirm man nicht nur eine Kunstsonne, sondern auch die Schiffe von Anterf vermutete. Die Beiboote näherten sich im Schutz ihrer Schirme und waren feuerbereit. Gleichzeitig strahlten ihre Sender ein schnell zusammengestelltes Programm ab, das auf der Flottenfrequenz der Anterferranter empfangen werden konnte. Jeder intelligente Raumfahrer würde erkennen müssen, daß es sich um einen Text handelte, der Verständigungsbereitschaft signalisierte. Fast gleichzeitig näherten sich die kleinen Schiffsverbände sechs verschiedenen Dunkelplaneten. Die Ortungszentralen der SOL und der CHART DECCON arbeiteten konzentriert und registrierten jede Einzelheit. Drei Schiffe drangen durch die Ortungsschutzschirme und gaben beruhigende Kommentare. Der letzte Verband, der einen Planeten rechts vom Standort der SOL anflog, hatte die dunkle Trennschicht noch nicht erreicht, als mehrere Dutzend Schiffe hervorbrachen und übergangslos das Feuer eröffneten. Sie schienen die drängenden Bildfunkanrufe nicht zu hören. Jedenfalls beachteten sie die Versuche der Solaner nicht. Auf einen Befehl des High Sideryt zogen sich die Schiffe zurück. Anterf war wieder entdeckt worden. Noch während die anderen Beiboote dem angegriffenen Verband zur Hilfe eilten, fielen Hyperfunk und Hyperortung aus. Sofort schalteten die Spezialisten auf die normalen Ortungssysteme um. »Das habe ich erwartet!« brummte der Arkonide, der wieder in der Ortungszentrale saß und versuchte, möglichst viel gleichzeitig wahrzunehmen. »Allerdings leidet darunter die Verständigung mit den Schiffen und der CHART DECCON!« gab der Diensthabende zu bedenken. Die Sender im Normalbereich waren groß und besaßen genügend Kapazität, um im Bereich von Entfernungen dieser Art
hervorragend zu funktionieren. Aber die riesigen Energieausbrüche der Geschütze, sowohl der eigenen als auch der fremden, riefen ununterbrochen Störungen hervor. Binnen weniger Minuten befand sich ein großer Verband von SOL-Beibooten zwischen der SOL und dem Planeten. Die Anterferranter griffen wie die Rasenden an. Gleichzeitig durchdrangen immer mehr ihrer Schiffe den Schutzschirm und versuchten, die Beiboote zu umzingeln. Ein gigantisches Feuerwerk prallte von den belasteten Schutzschirmen ab. Immer wieder zeigten riesige Explosionswolken an, daß ein Schiff der Angreifer sich in einer furchtbaren, lautlosen Detonation auflöste. »Offensichtlich haben die Anterferranter den Befehl von Hidden-X erhalten«, staunte Atlan über einen derartig großen und offensichtlichen Vernichtungswillen, »um jeden Preis die Fremden zu zerstören.« »Nicht um jeden Preis«, erwiderte sein Nachbar. »Um den Preis ihrer Sonne, wie Sternfeuer sagte.« Befehlsgemäß zogen sich die Beiboote der SOL in die Richtung auf ihr Mutterschiff zurück. Die SOL griff mit ihren riesigen Projektoren in den Kampf ein, als die Raumschiffe von Anterf genügend nahe heran waren. Die eigenen Beiboote flogen Ausweichkurse, so daß sie nicht die Feuerleitstellen der Sol behinderten. Tatsächlich war die Befehlsübermittlung schwer durchzuführen. Die meisten Anordnungen mußten mehrmals wiederholt werden. Es gab endlose Rückfragen. Ab und zu drohte die Ordnung zusammenzubrechen. In solchen Fällen entschieden die Kommandanten der Kreuzer, was sie zu tun hatten. Und noch immer schickte Anterf neue Flottenteile durch den Ortungsschirm. Sie schienen genau zu wissen, an welcher Stelle sie zu kämpfen hatten. Die Breitseiten der SOL legten breite Barrieren aus Sperrfeuer vor die Bugspitzen der Anterferranter. Einige Schiffe rasten in die
Feuerwalze hinein und lösten sich auf. Auf den Bildschirmen der Ortung erschienen wilde, tanzende Muster aus sich kreuzenden Störungsfeldern. Denke daran, daß der Hypervakuum-Verzerrer relativ schutzlos ist, drängte der Logiksektor. Atlan blickte hilflos von einem Monitor zum anderen und versuchte aufgeregt, etwas zu erkennen. Energieausbrüche überlagerten sich. Die Bordgeschütze der SOL erzeugten schwere Wellenfronten, von denen sowohl die Ortung im unterlichtschnellen Bereich als auch der Bildfunkverkehr stark beeinträchtigt wurden. Bisher waren weder SOL-Beiboote noch die SOL selbst ernsthaft gefährdet worden, obwohl unermeßlich große Energien auf die Schirme einhämmerten und die Schiffe in glühende Kugeln aller denkbaren Farbmuster verwandelten. Für wenige Sekunden riß das Bild auf dem großen Hauptschirm auf. Direkt vor der SOL hing, riesig und nur durch die immer wieder aufleuchtenden Glutausbrüche kenntlich, der Dunkelplanet. Wieder huschten farbige Schleier über den Bildschirm. Als sich die Aufnahmen wieder stabilisierten, ging ein leiser Schrei des Erstaunens durch die Ortungszentrale. Der Schutzschirm war verschwunden. Im Licht eines gelben, stechend grellen Gestirns lag die plastische Kugel des Planeten vor ihnen. »Wieder Hidden-X!« stöhnte der Arkonide auf. »Es hat den Ortungsschutzschirm entfernt. Wozu?« Der Planet, dessen Oberfläche die vertrauten Spiralschleier der Wolken zeigte, viele kleine Wasserflächen und große, stark zerklüftete und buchtenreiche Kontinente, schien anzuwachsen. »Er kommt näher!« »Anterf treibt auf uns zu!« Im Lärmen halb untergegangen, hörten sie die Stimme des High Sideryt, der in der Zentrale seine Befehle schrie. Die Triebwerke der
SOL dröhnten auf und versetzten sekundenlang den riesigen Schiffskörper in Vibrationen. Noch bevor die SOL Fahrt aufnahm, verwandelte sich die ruhige, idyllische Oberfläche des Planeten in einen wahren Hexenkessel. Die weißen Bahnen von abgefeuerten Projektilen waren zu erkennen. Ihre Spitzen deuteten auf die SOL. Riesige Bündel von weißglühenden Strahlen, deren Helligkeit mühelos mit den Schiffsgeschützbahnen und der Kunstsonne konkurrieren konnten, zuckten vom Boden Anterfs auf und schlugen in die gestaffelten Schutzschirme der SOL ein. Das Schiff zog sich in immer schneller werdender Fahrt zurück und schlug einen gemäßigten Zickzackkurs ein. Ein paar Kreuzer flüchteten aus dem Zentrum des Bildes; die Kommandanten wußten, daß diese Energiemengen ihre Schirme durchschlagen würden. Denke an die CHART DECCON! warnte der Logiksektor ein zweitesmal. Vergeblich versuchte Atlan, den Ortungsimpuls der Plattform irgendwo zu finden. Auf den Schirmen wimmelte es von winzigen Funken. Jedes Echo stellte ein Schiff dar. Die grünen Markierungen sagten aus, daß es sich um eigene Schiffe handelte. Alle anderen Farben entsprachen der Feind-Kennung. Was für die SOL galt, galt auch für Ursula Grown: es war so gut wie unmöglich, sich zu verständigen und um Hilfe zu rufen. Der Planet, der seine Bodenstationen einsetzte, und die Mehrzahl seiner Schiffe banden die Feuerkraft der SOL an eine bestimmte Stelle. Als Atlan wieder etwas klar erkennen konnte, sah er, wie sich einzelne Schiffe und kleine Verbände der Angreifer »seitlich« an der Kampflinie zwischen Anterf und der SOL vorbeimanövrierten. Ihr Ziel war mit Sicherheit der Hypervakuum-Verzerrer!
*
»Es hilft nichts. Wir müssen flüchten. Und das so schnell wie möglich!« Ursula Grown sah ein, daß die Lage des Hypervakuum-Verzerrers von Minute zu Minute schlechter wurde. Die Triebwerke arbeiteten bereits; sie programmierte einen Kurs, der sie weit von der SOL in den leeren Raum hinaus und von dort in einer riesigen Kurve wieder zurück in die Richtung der Kämpfe bringen sollte. Sie warf einen langen Blick auf die Projektionen, die aus der Kuppel des Bordobservatoriums in den Kontrollraum gesendet wurden. »Wir können die SOL nicht erreichen.« »Sie werden sich denken, daß wir Hilfe brauchen«, sagte die Stabsspezialistin vage. »Macht zwei Lightnings klar, ja?« »Du schickst Kuriere?« »Uns bleibt nichts anderes übrig.« Die neunzigjährige Frau hatte sich seit dem Tag, an dem sich die Verhältnisse in der SOL auf derart dramatische Weise geändert hatten, ebenfalls verändert. Auch aus diesem Grund war die ehemalige Magnidin von Hayes zum Chef dieser wichtigen Plattform berufen worden. Das Haar Ursulas war zwar noch immer blau gefärbt, aber die Frisur wirkte natürlicher und war weit weniger grell und auffallend geworden. Dies stellte nur eines der äußeren Zeichen dar. Ursula drückte einen Schalter und sagte: »Mylin Kooc und Altong Skep bitte in die Zentrale. Es eilt.« Die Triebwerke schleuderten die Plattform vorwärts. Sie waren für einen blitzschnellen Fluchtkurs nicht leistungsfähig genug, aber dennoch wuchs die Geschwindigkeit an. Die Plattform, vierhundert auf zweihundertfünfzig Meter, hatte sich in den Schutz der Paratron- und Hochüberlastungsschirme gehüllt. Ursula hatte zwar auch einen Transmitter aktivieren lassen, die absolut letzte Chance, mit der vierundachtzig Mann zählenden Besatzung im Notfall in die SOL zurückzuspringen. Aber niemand wollte die Plattform aufgeben.
»Selbst wenn uns die SOL hören würde, könnte sie im Augenblick nicht helfen«, erklärte die Cheftechnikerin. »Und ich will es nicht riskieren, den Verzerrer ohne Tests einzusetzen. Wir sind wieder einmal von Hidden-X überrascht worden.« Sie hatte zwar noch immer keine Scheu, ihre Meinung laut und wortreich zu sagen. Aber trotz der künstlichen Biogeweben und der gestrafften Hautpartien wirkte sie überlegter und ruhiger. Ihre Intelligenz war niemals während der letzten fünfundsiebzig Bordjahre in Frage gestellt worden. Immer wieder versuchten sie und ihr Stab in der Kommandozentrale oberhalb der Reihe großer Unterlicht-Triebwerke, die Situation abzuschätzen und richtig zu deuten. Aber auch diese Bildschirme und Monitoren wurden von Störungen sekundenlang in kurzen Intervallen außer Kraft gesetzt. »Die Jet-Piloten, Ursula!« Sie drehte ihren Sessel. Im Schott standen zwei mittelgroße, schlanke Männer. Kooc war etwa fünfzig, Skep ein halbes Jahrzehnt jünger. Sie trugen bereits die Raumanzüge, also wußten sie ziemlich genau, was zu tun war. »Ihr beide müßt uns helfen«, sagte Ursula. »Nehmt die besten Lightning-Jets und versucht, euch zur SOL durchzuschlagen. Hier ist unsere Kursprogrammierung, diese Riesenschleife werden wir fliegen. Hayes soll uns helfen. Da.« Sie zeigte mit einer ausführlichen Geste auf einen Bildschirm, der gerade von Störungen frei war. Versehen mit Kursangaben und Entfernungsmessungen waren dort die Ortungsechos von mehr als fünfzig feindlichen Raumschiffen zu sehen. »Verstanden. In kurzer Zeit werden sie auf den HV feuern«, sagte Kooc. »Wir werden uns schon durchschlängeln.« »Sagt Hayes folgendes: Wir versuchen zu fliehen, um diese Anlage zu retten. Wenn wir den Verzerrer aufgeben müssen, gehen wir durch die oder den Transmitter. Und ich werde als vorletztes Mittel höchstwahrscheinlich den Verzerrer einschalten. Sie sollen sich
darauf einstellen.« »Tatsächlich«, fragte Skep ungerührt. »Den Verzerrer Chybrains? Ohne Testreihen?« »Entweder funktioniert das Gerät oder nicht. Wie gesagt, als allerletzte Möglichkeit. Ihr solltet euch beeilen. Welche Hangars?« »Luken vier und fünf.« »Dann nichts wie los. Ihr sollt keine Heldentaten vollbringen. Benachrichtigt Atlan und den High Sideryt -das ist euer Auftrag.« »Verstanden, Ursula.« Die Jet-Piloten rannten davon. Hinter ihnen schloß sich dumpf das Schott. Ein Techniker bereitete zwei Strukturschleusen in den Schutzschirmen vor. Abermals fielen sämtliche Funk- und Ortungsgeräte für eine halbe Minute völlig aus. Der besorgte und nachdenkliche Ausdruck in dem Gesicht der Cheftechnikerin ließ erkennen, daß sie auch ihre künstliche, unecht wirkende Starrheit weitestgehend abgelegt hatte. Sie wirkte überraschend normal und menschlich; wie eine Frau, die fast ein Jahrhundert gesehen hatte. »Um den Verzerrer einzusetzen, müssen wir natürlich nahe an den Planeten herangehen. Das würde uns bis aufs Äußerste gefährden.« »Bis jetzt sind wir noch immer schneller als die Schiffe der Anterferranter.« Ursula hatte sich entschlossen, die Beiboote erst gar nicht zu Verteidigungszwecken auszuschleusen. Mit Lightning-Jets und Space-Jets war der Übermacht dieses Gegners nicht beizukommen. Die Geschützbatterien der SOL würden sie zuverlässig verteidigen. Die Muster der Störungen verschwanden; aus den überlasteten Lautsprechern kamen Krachen, Zischen und ein meist unverständlicher Stimmenwirrwarr. Die Frauen und Männer mit den Kopfhörern versuchten, aus dem Gewirr wichtige Meldungen herauszufinden. Ursula Grown vergewisserte sich. »Unser Fluchtweg zu dem Transmitterzentrum ist gesichert? Jeder
kennt seine Aufgabe und sein Stichwort?« »Wir haben zwei Übungen abgehalten. Sie funktionierten ausgezeichnet.« »Gut. Die Jets sind draußen.« Eine Serie von Signalen und bordinterne Monitoren zeigten, daß die Lightnings aus den Hangars heraus mit der Startanlage herauskatapultiert wurden. Der Antrieb flammte auf, kaum daß sich die Strukturlücke in den Schutzschirmen wieder geschlossen hatte. Dann jagten die schlanken, aerodynamisch geformten Einmannjäger davon, in einer weit auseinandergezogenen Spirale in die allgemeine Richtung des Kampfes und des großen, sandbraunblau und weiß leuchtenden Planeten. »Viel Glück«, murmelte Ursula Grown und sah ihnen so lange nach, bis wieder Störungen das Bild auslöschten. Nach kurzer Zeit sagte ein Ortungstechniker: »Sie kommen. Noch feuern sie nicht. Also haben sie die feste Absicht, uns zu vernichten. Offensichtlich warten sie darauf, daß wir den ersten Schuß abgeben, um unsere Feuerkraft zu testen.« »Genau das, was ich von ihnen erwarte«, erwiderte die Cheftechnikerin leise und voller schlimmer Ahnungen. Mit schnellen Fingern veränderte sie den Fluchtkurs der CHART DECCON um einige wesentliche Elemente. Die Triebwerke wurden zu maximaler Leistung hochgefahren. Ein knirschender Ruck ging durch die Plattform. Dann begann sich der Hypervakuum-Verzerrer zu drehen und schlug, wie schon die zwei Lightnings vorher, einen unregelmäßig und spiralig gewundenen Kurs ein. »Die SOL ortet uns noch immer nicht!« stöhnte einer der Techniker auf. Der erste Schuß aus der Flanke eines feindlichen Schiffes zuckte durch die Schwärze und streifte als Parabel den äußersten Schirm. Feuerzungen und kriechende Energiebahnen breiteten sich sekundenlang auf dem kugeligen Schirm aus. Die CHART DECCON setzte ihre Flucht ungehindert fort.
Der große Verband der Anterf-Schiffe, der sich bisher in der Form eines angedeuteten Keils der Plattform genähert hatte, zog sich auseinander. Die Schiffe bildeten binnen weniger Minuten eine mehrfache Reihe, die schließlich in einen Drittelkreis überging. Dann eröffnete rund die Hälfte der schimmernden Spitzkegel das Feuer auf die Plattform. Augenblicklich war die Zentrale völlig blind – nichts mehr von dem, was außerhalb der Schirme vor sich ging, war zu erkennen. Aus den Lautsprechern kamen unbeschreibliche Geräusche. Ursula heftete einen verzweifelten Blick auf die Ziffern des Bordchronometers und die Analoganzeige der letzten Kursprogrammierung. In wenigen Minuten zeitlichen Abstands befanden sich am Ende des eingeschlagenen Kurses die SOL, die Beiboote des großen Schiffes, eine riesige Flotte der Gegner und deren Planet. Systematisch vernichtete die SOL die Bodenstationen der Anterferranter. Trotz der Störungen konnten die anfliegenden Projektile anvisiert und zerstört werden, noch ehe sie den offenen Weltraum erreicht hatten. Die Beiboote lieferten den Schiffen Anterfs einen erbitterten, mörderischen Kampf. Der Weltraum war voller Trümmerstücke, Explosionswolken und Glutbahnen. Und schließlich bewegte sich die SOL! Die Warnsignale waren unübersehbar. Die Überlastungsanzeigen der Schutzschirme flackerten ununterbrochen. Ein Hagel von Treffern schlug von drei Seiten in die Schirme der Plattform ein. An einigen Stellen durchschlug die Energieflut den äußersten Schirm und traf auf den nächsten innerhalb der Verteidigungsschalen. Das quäkende Alarmsignal ertönte gleichzeitig mit dem Erlöschen der Funktionsanzeige. Aus dem Innern der Plattform kamen die heulenden Geräusche überlasteter Aggregate. Dann baute sich der äußerste Schirm in quälender Langsamkeit wieder auf. »Es wird höllisch ernst«, kommentierte Ursula und starrte, als sei
es die Rettung, auf die wechselnden Zahlen des Chronometers. Dann gab sie sich einen Ruck und kippte einen schweren Schalter, nachdem sie die mehrfachen Sicherungen desaktiviert hatte. Ein Pult, das bisher nicht benutzt worden war erwachte zu farbiger, blinkender Aktivität. Es waren sämtliche Schaltungen des Hypervakuum-Verzerrers, jene Technologie, die einem gänzlich fremden – Raum-ZeitKontinuum entstammte. »Du riskierst es tatsächlich?« brüllte ihr Assistent durch den Lärm der Maschinen. »Ich will nur nicht unvorbereitet sein«, schrie sie ebenso laut zurück. Die Plattform raste weiter in ihrem spiraligen Kurs, und wieder hämmerten die Wirkungstreffer der Anterferranter in die inneren Bereiche der Schirmfelder. Die Lautstärke und die Farbsignale der Warnanlagen veranstalteten riesigen Lärm und gefährliche Lichteffekte. »Es sind nur noch vier Minuten bis zur SOL!« »Das können zweihundertvierzig Sekunden zuviel sein!« Ursulas Gesicht war unter der Bräune der Bordsolarien und dem gekonnten Makeup aschfahl geworden. Auf der Stirn und der Oberlippe standen Schweißtropfen. Noch zeigte Ursula ihre Verzweiflung nicht deutlich; sie vermochte noch, sich zu beherrschen. Aber von Sekunde zu Sekunde stieg innerhalb der geräumigen Steuerzentrale die Spannung auf einen Wert an, der sich in lähmender Furcht zeigte. Die Situation änderte sich jetzt binnen Sekunden. Zusammenbrechende Schirme, aufheulende Generatoren, Anstieg der Projektorleistung, Störungen auf den Schirmen, sekundenlang freie Sicht auf den förmlich heranrasenden Planeten und die kämpfende Flotte, dann wieder totaler Blackout: alles vermischte sich zu einem Reigen, der die Nerven der Besatzungsmitglieder folterte. Jeder von ihnen war während der letzten Zeit nur allzu gern
aufgesprungen und wäre in den Raum hinuntergerannt, in dem die Torbogensäulen des Transmitters flammten. Das Gerät wurde selbstverständlich von einer eigenständigen Energiestation versorgt und war als echtes Rettungsmittel gedacht. »Immerhin steuern wir genau auf die SOL zu!« brüllte jemand. Ursula mußte kreischen, um sich verständlich zu machen. »Und auf diesen verdammten Planeten!« »Und was tut die SOL?« Ohne daß sie es sahen, hatte die Schiffsführung der SOL schnell reagiert. Die Projektoren feuerten mit aller Kraft und fügten dem Gegner schwerste Verluste zu. Eine Hemissphäre der SZ-2 gab ununterbrochen Fernwirkungsfeuer auf die Verfolger der CHART DECCON ab und verhinderte, daß sie tödlich getroffen wurde. Aber das vermochte niemand an Bord der Plattform zu erkennen. Der nächste Angriff der Verfolgerschiffe war, aus welchen Ursachen auch immer, hervorragend koordiniert. Fast alle Schiffsgeschütze feuerten auf einmal. Und die gezielten Energielanzen, die aus dem Leerraum heranzuckten, konzentrierten sich mehr oder weniger auf eine Stelle der hintereinander gestaffelten Schirme. Gleichzeitig heulte und röhrte mehr als ein halbes Dutzend Warnsignale in äußerster Lautstärke auf. Die Funktionsanzeigen erloschen. Der letzte Schirm, der unmittelbar an den Kanten der Plattform anlag, verwandelte sich in eine Kugel aus sonnenhellen Energieeffekten. Ursula Grown schloß verzweifelt die Augen. Sie erinnerte sich an das letzte Bild, das auf dem Ortungsschirm zu sehen gewesen war. Die SOL und deren Beiboote drifteten – jedenfalls aus dieser Lage innerhalb der Bahnebenen – nach rechts weg, verfolgt von den Schiffen des leuchtenden Planeten. Die Sonne des Planeten verschwand gerade am linken Rand der Kugel; der Beweis, daß es sich um eine Kunstsonne handelte, die
den Planeten umrundete, nicht umgekehrt. Und: der Planet lag klar voraus. Ein zweiter Blick zeigte Ursula Grown, daß sich die Bahn der CHART DECCON nicht entscheidend verändert hatte. Sie seufzte innerlich auf, überschritt die Schwelle ihrer letzten Zurückhaltung und preßte ihre Hand auf die große, hellgrün leuchtende Kontaktplatte. Schlagartig überkam sie eine durch nichts gerechtfertigte Ruhe. Aus dem nächstgelegenen offenen Schott quoll eine dünne Rauchwolke herein. Der Hypervakuum-Verzerrer war ausgelöst worden. Obwohl sämtliche Optiken, Sensoren und Aufnahmegeräte liefen, sah niemand an Bord der CHART DECCON, was dort draußen passierte. Die Werte, von den Instrumenten des Schaltpults angezeigt, bewiesen, daß die Anlage arbeitete. Ein Energiefeld wurde abgestrahlt, das war alles – was geschah wirklich? * In der Ortungszentrale der SOL und an Bord vieler Schiffe wurde der Vorgang sichtbar. Zuerst legte sich, wie ein dunkler Schleier, wieder der Ortungsschutzschirm um Anterf. Die Sonne war hinter dem Planeten verschwunden, von der SOL aus gesehen. Dann tat sich im leeren Raum vor der Kulisse der zweihundert Dunkelwelten ein riesiges Loch auf. Es war zunächst klein, etwa vom gleichen Durchmesser wie ein winziger Mond, dehnte sich rasend schnell und nach allen Seiten gleichmäßig aus, entwickelte ausgefaserte Ränder, an denen fahle Blitze und Lichtreflexe zu sehen waren. Es war optisch größer als Anterf, als der Prozeß der Ausdehnung aufhörte. Dann verschwand übergangslos der Planet. Gleichzeitig kehrte das Dunkel zurück; sämtliche Geschoßbahnen, Glutstrahlen und Projektorblitze erloschen. Jedes Stück Materie, das von Anterf stammte, also nicht nur jedes einzelne Raumschiff, sondern die Wracks und Metallfetzen ebenso
wie die Wolken lodernder Gase: – alles verschwand in diesem riesigen Schlund. Alles verschwand spurlos, in einem nicht mehr meßbaren kurzen Zeitabschnitt. Nach einer Sekunde etwa schloß sich auch das gigantische Loch in angsterregender Endgültigkeit. Es war, als ob die Dunkelheit wie ein Ballon platzte – eben noch gab es die sichtbaren Ränder vor einem lichtlosen, wesenlos schwarzen Hintergrund – dann war nichts mehr. Ursula Grown sah erstarrt zu, wie sich die Schaltanlage automatisch wieder auf die Nullwerte herunterregelte. Dann legte die Cheftechnikerin die Hände mit zitternden Fingern vor ihr Gesicht und sank schwer nach vorn auf das Schaltpult. Hinter ihr sagte jemand mit einer rauhen Stimme, in der die ausgestandenen Ängste mitschwangen: »Diese Schlacht wurde gewonnen. Es herrscht wieder Ruhe.« Die Ortung erfaßte die heranrasende SOL und schaltete auf Gegenschub der Triebwerke. »Knapper geht es wirklich nicht mehr.« Die Generatoren hatten augenblicklich wieder die Schutzschirme aufgebaut. Die Klimaanlage saugte den dünnen Rauch aus der Zentrale. Dann hörten sie aus den leicht summenden Lautsprechern die Stimme Breckcrown Hayes. »Ich beglückwünsche uns alle zu diesem unerwarteten Erfolg. Am meisten freut uns alle, daß der Verzerrer tatsächlich funktioniert hat.« Die harte Kommandostimme eines Mannes aus einem Beiboot unterbrach Hayes. »Wartet nur, was wir euch zeigen können, wenn unsere zufällige Ortung ausgewertet wird.« »Später«, sagte der High Sideryt. »Sämtliche Beiboote kehren sofort wieder, in ihre Hangars zurück. Wir haben uns die Pause mehr als verdient.« Der Rest war Routine. Innerhalb einer Stunde befanden sich die
ausgeschleusten Kreuzer in ihren Hangars, und die Reparaturkommandos begannen mit ihrer Arbeit. Neben der SOL schwebte die Plattform. Jetzt schalteten sich nacheinander die Schutzschirme aus. Von den Dunkelplaneten, die nach wie vor in der elliptischen Konstellation schwebten, mehr als eine Million Kilometer von den zwei Objekten entfernt, drohte keine Gefahr mehr.
7. Sie fanden sich alle in der Zentrale der SOL zusammen. Es war keine Siegesfeier. Es gab keinen Grund zum Feiern. Es waren Männer und Frauen gestorben, es hatte Leichtverletzte und Schwerverwundete gegeben, und viele Schiffe mußten repariert und generalüberholt werden. Ein Raumfahrer mit dem Erkennungszeichen des Ortungsfachpersonals kam herein und hob eine Kassette hoch. »Ich bin Donhyll von der HASDRUBAL. Mein Commander schickt mich mit diesen Aufzeichnungen. Ich meine, wir sollten es uns wirklich ansehen.« Wie immer waren sämtliche Interkome eingeschaltet. Ein Kanal verband die Zentrale der CHART DECCON mit der SOL. Auf einen Wink von Hayes hin wurde das Band eingelegt und über die riesigen Vielzweckmonitoren abgespielt. »Wir setzten gerade zu einem Rettungseinsatz an«, erklärte Donhyll. »Wir wollten der Plattform helfen. Wir waren, glaube ich, die einzigen, die sich in diesem Winkel des Leerraums befanden.« Atlan lehnte in der Nähe des Eingangsschotts an einer massiven Schrankwand und steckte, nachdem er einen letzten Blick darauf geworfen hatte, das Bild eines Anterferranters ein. Es war von den Spezialisten der SOL-Ortung aus vielen einzelnen Teilaufnahmen zusammengesetzt worden, die während des Kampfes über die
Kommunikationskanäle des Gegners gekommen waren – man hatte, auch der Sprachanalyse wegen, den Funkverkehr angezapft. »Ihr habt das Hypervakuum-Loch also aus einem anderen Blickwinkel gesehen als wir alle – falls wir nicht mit wichtigeren Dingen beschäftigt waren«, fragte Ursula Grown aus der Plattform. »So ist es, Cheftechnikerin«, rief fast fröhlich der Raumfahrer. »Und es ist uns auch geglückt, die gröbsten Störungen wegzufiltern.« »Keine langen Reden. Fahrt den Mitschnitt ab!« Die Beobachtungen umfaßten nur einen Zeitraum von wenigen Sekunden. Die HASDRUBAL war tatsächlich fast genau vor dem Zentrum des Loches gewesen, aber noch viel weiter entfernt als die gegnerischen Schiffe und die CHART DECCON. Der Mittschnitt war zu einer Schleife zusammengefügt worden. So sahen sie alle in einer ununterbrochenen Wiederholung den gewaltigen Vorgang. Vor der Kulisse der Dunkelplaneten riß ein Loch auf, kenntlich nur durch die helleren Ränder. In seinem Innern oder dahinter herrschte absolute Schwärze. Das Loch vergrößerte sich, seine Ränder fransten aus, dann kam es zum Stillstand. Kaum hatte die Ausdehnung ihr Ende gefunden, hüllte sich der Planet in sein Ortungsschutzfeld und verschwand zugleich mit allen seinen Schiffen. In der Ferne, ein wenig abseits vom Mittelpunkt des Hypervakuum-Loches, hing deutlich sichtbar und in seinem strahlenden Glanz ein Gebilde, das vage Ähnlichkeit mit einer exotischen Blüte hatte. Atlan erkannte es sofort wieder. Nicht nur er. »Das Flekto-Yn! Die vermutete Heimstatt von Hidden-X!« sagte er mit deutlicher Verblüffung. Die Darstellung wiederholte sich mehr als ein dutzendmal. Dann ertönte die Stimme des High Sideryt. »Wir sind tatsächlich in unmittelbare Nähe unseres erbitterten Feindes gekommen.«
»Wir sollten ihm keine Erholungspause gönnen«, meldete sich Ursula Grown. Sie hatte sich wieder gefaßt, aber jeder, der sie näher kannte, sah die Spuren ihrer Erlebnisse in ihren Gesichtszügen. »Nicht so hastig. Wohin kann der Planet Anterf mitsamt seiner Flotte verschwunden sein?« fragte Atlan in das Stimmengewirr hinein. Schweigen. »Keine Ahnung«, sagte Lyta Kunduran. Insider meldete sich zu Wort. »Vielleicht wieder an seinem Platz in der Galaxis Bars?« fragte Sternfeuer über Interkom. Die Molaatin rief beschwichtigend: »Ich bin so gut wie sicher, daß wir die Anterferranter nicht getötet haben. Ich meine, daß wir die Versetzung durch Hidden-X rückgängig gemacht haben. Mit größter Wahrscheinlichkeit befindet sich der Planet wieder dort, woher ihn Atlans spezieller Freund hergeholt hat.« SENECA blinkte ein Signal, dann sagte der Bordrechner zum allgemeinen Staunen: »Ich habe in den letzten Stunden vergleichende Zählungen unternommen. Insgesamt drei Besatzungsmitglieder der SOL fehlen. Sie stammen aus der ersten Gruppe derjenigen, die aus der SOL entführt worden sind. Alle anderen sind mit Oggar zurückgekommen. Zwei männliche und ein weibliches Besatzungsmitglied sind unauffindbar. Ihre Namen sind … Sämtliche Informationen, die mir vorliegen, lassen erkennen, daß sie von den Teleportateuren Anterfs vor Oggars Eingreifen zum Flekto-Yn versetzt worden sind.« »Verdammt!« war Breckcrowns erste Reaktion. Er fragte nicht mehr, ob SENECAS Aussage auch wirklich zutreffend war; er vertraute diesem Kontrollergebnis. »Gleich nachsetzen, Breck!« empfahl Atlan. Hayes nickte. Sie waren sich über die Methode noch nicht im klaren. Eine weitere
positive Meldung erreichte die Zentrale. Sie kam von der Ortung und sagte aus, daß Hyperfunk und Hyperortung wieder störungsfrei funktionierten. »Ausgezeichnet«, erklärte Ursula drängend. »Ich brauche für die Schirmprojektoren und die Energiestabilisierung ein gutes, schnell arbeitendes Team. Sie sollen über die Transmitterstrecke an Bord kommen.« »Wird sofort veranlaßt«, sagte der High Sideryt und gab seine Anordnungen. »Was meinst du, Atlan? Wir richten das Feld des Hypervakuum-Verzerrers gegen die Zone-X und auf deren Mittelpunkt. Das dürfte für lange Zeit jedes Handlungskonzept von Hidden-X hoffnungslos zerstören.« Atlan sah Sanny fragend an. Sie nickte langsam, während sie sich die Idee durch den Kopf gehen ließ und auf die Wahrscheinlichkeit eines Erfolges prüfte. »Es erscheint auch mir als vielversprechende Idee«, sagte der Arkonide. »Aber es gibt meiner Meinung nach noch zu viele ungeklärte Faktoren. Wir kennen die Kapazität des Verzerrers nicht. Zwar haben wir erlebt, daß er einen Planeten verschwinden lassen kann; möglicherweise versetzt er ihn über unbekannt weite Entfernungen hinweg. Was geschieht, wenn wir aus der anderen Dimension Kräfte hervorzerren, die uns schaden können? Ich bin einigermaßen skeptisch. Es steht aber unzweifelhaft fest, daß wir eine geradezu gigantische Waffe entwickelt haben, ohne recht zu wissen, was wir eigentlich taten. Warten wir erst einmal, bis die Schäden an der Plattform beseitigt sind.« Seine Ausführungen dämpften den aufkommenden Optimismus ein wenig. Bjo Breiskoll kam auf ihn zu, erklärte nachdenklich: »Nichts übereilen. Mir fällt ein, daß wir, wenn wir tatsächlich das Flekto-Yn treffen sollten, das Todesurteil für drei Solaner
aussprechen. Eine ganz andere Sache, Insider?« »Ja?« »Was kannst du uns über die Aussichten sagen, weiterhin nach Oggar zu suchen?« Insider machte ein ernstes, trauriges Gesicht und konnte erst nach einiger Zeit antworten. Er schlenkerte verlegen mit seinen vier Armen. »Ich halte, so leid es mir tut, eine weitere Suche nach Oggar für sinnlos. Ich bin sicher, daß Oggar entweder tot ist oder sich in eine unbegreifliche Nische der Daseinsformen zurückgezogen hat, die wir niemals betreten können. Eine Suche mit unseren Mitteln ist nicht erfolgversprechend.« »Ein neues Mitglied des Atlan-Teams?« fragte Joscan Hellmut. »Der Unterschied zu vorher ist denkbar gering«, entgegnete Insider. »Ich bin eben ein Allroundgenie.« Inzwischen hatte das Reparaturkommando sich aus der CHART DECCON die Schäden melden lassen. Aus der Phase der Herstellung und der Montage waren noch die wichtigsten Teile vorhanden. Man hatte Verschleißteile und die wichtigsten Ersatzteile mehrfach hergestellt. In vielen Fällen handelte es sich ohnehin um häufig gebrauchte Elemente, die auch in der SOL Verwendung fanden. Die Transmitter arbeiteten und brachten Männer, Frauen, Roboter und Material hinüber zur Plattform. In wenigen Stunden würden die wichtigsten Reparaturen abgeschlossen sein. »Angriff aufs Flekto-Yn … das kommt deinen Erwartungen entgegen, wie?« fragte Hayes den Arkoniden. »In gewissem Sinn, ja. Trotzdem rechne ich uns keinen allzu gewaltigen Erfolg aus. Man, wird sehen, Breck.« Im Schiff kehrte nur langsam Ruhe ein. Die Raumfahrer aus den Beibooten erholten sich in ihren Quartieren, die sich meist unweit der Hangars und Schleusen befanden. Zahllose Reparaturkommandos waren ausgeschwärmt und entschieden,
welches Schiff bald wieder einsatzfähig und welches sofort startfertig gemacht werden konnte. Die Ortungszentrale durchsuchte den Leerraum und besonders die Zone-X nach verdächtigen Entwicklungen. Unverändert standen die Dunkelplaneten zwischen dem Zentrum der Zone-X und nahe dem hypothetischen Rand. Atlan sah noch einmal auf dem Monitor, daß der große Spiegel des Flekto-Yn unverändert zerstört war. Mehr als zweiundsiebzig aufgeregte und aufregende Stunden lagen hinter den Solanern. Niemand weiß, was geschieht, wenn das Verzerrerfeld auf die Zone-X gerichtet wird, gab der Extrasinn zu bedenken. Atlan sagte sich, daß es oft keine andere Möglichkeit gab, als zu entscheiden und dann zu hoffen, daß diese Entscheidung auch richtig gewesen war. Exakt so verhielt es sich mit dem zweiten, bewußt angeordneten Einsatz der CHART DECCON. Als die Reparaturen beendet und die Anlagen, soweit möglich, getestet waren, kamen die Reparaturteams in die SOL zurück und meldeten, was sie instand gesetzt hatten. Der High Sideryt wandte sich an Ursula Grown. »Einsatz in zehn Minuten möglich, Ursula?« »Selbstverständlich. Wir manövrieren gerade um den Schiffskörper herum, um freie Sicht zu haben.« »Alles klar. Ich ordne den Einsatz des Verzerrers gegen Hidden-X an. Wir werden sehen, was geschieht.« »Verstanden.« Diesmal würden alle Besatzungsmitglieder sehen und miterleben, wie sich das riesige Loch öffnete. Alle verfügbaren Beobachtungsanlagen richteten sich auf den Zielpunkt aus. Tickend vergingen die Sekunden. Sieben Minuten noch! Spannung und Erwartung breiteten sich aus. Überall im Schiff wurde die Arbeit niedergelegt. Die Solaner versammelten sich um jeden verfügbaren Bildschirm. Die größte
Unruhe entstand in der Zentrale und in den Räumen der Fernortung. »Fünf Minuten!« sagte jemand in die Stille, die wie Gas oder Nebel durch das Schiff zu schleichen schien. »Vier Minuten!« Das Schiff wurde schlagartig lebendig. An zahllosen Punkten, überall dort, wo sich Solaner befanden, hörte man Schreie, Wimmern und jede andere Art von Schmerzenslauten. Die Solaner begannen zu taumeln, preßten die Hände gegen die Schläfen, knickten in den Knien ein und wälzten sich schmerzerfüllt auf dem Boden. Atlans Extrasinn schrie gequält auf: Der Mentaldruck! Er bringt uns alle um! Diese tückische Waffe von Hidden-X traf die Solaner unvorbereitet und mit einer Wucht, wie sie bisher noch nie registriert worden war. Während sich alle Solaner, die nicht mentalstabilisiert waren, in Krämpfen und Schmerzen wanden und glaubten, wahnsinnig werden zu müssen oder zu sterben, packte der mentale Ansturm die wenigen Frauen und Männer, die mentalstabilisiert waren weniger stark. In den Zentralen und Quartieren taumelten die Menschen. Sie waren zu keinerlei planvollem Handeln mehr fähig. Atlan keuchte, während ihm salziges Sekret aus den Augen lief: »Ich gebe auf! Es bringt uns um …« Eine mechanische Stimme zählte laut: »Zwei Minuten!« Aus den Tiefen des Schiffskörpers, aus zahllosen Lautsprechern und über die Interkome erscholl das Wimmern und Schreien. Menschen brachen zusammen und versuchten, dem allgegenwärtigen Schmerz zu entgehen. Mit einer ungeheuren Willensanstrengung riß Ursula Grown den Impulsgeber der Verzerrer-Schaltung heraus und blockierte damit die Sicherungen vor der Auslöseplätte. Klirrend fiel das Instrument zu Boden. »Aufhören«, donnerte krächzend der High Sideryt. »Wir setzen
den … Verzerrer nicht ein …« Es erschien allen als sicher, daß Hidden-X jede ihrer Reaktionen scharf beobachtete. Während der High Sideryt seinen Befehl ein zweitesmal widerrief, ließ der Druck nach, wurde schwächer und hörte schließlich ganz auf. Es war eine Erlösung für die Tausende. Atlan kam wieder auf Hände und Knie, schüttelte benommen den Kopf und röchelte: »Der Gegner ist zu stark. Es war sinnvoll, aufzugeben.« »Das war das … Risiko, das wir eingegangen sind …«, keuchte Breck. »Eins zu Eins in diesem Kampf.« Hinter Atlan sagte eine Stimme, an deren Träger er sich nicht sofort erinnerte: »Atlan, Sendbote der Kosmokraten!« Sein vollkommenes Gedächtnis funktionierte wieder. Er wußte, wer zu ihm sprach. Der Unsichtbare fuhr fort: »Du hast eine Kleinigkeit übersehen und warst zu stürmisch. Gegen den mentalen Druck des geistigen Faktors kannst du nicht bestehen. Aber, keine Sorge. Du bist nicht allein …«
ENDE
Nach der Abwehr der »Krieger für Hidden-X« soll der HypervakuumVerzerrer gegen das Flekto-Yn selbst eingesetzt werden. Der Gegner der SOL fühlt sich dadurch veranlaßt, seine letzte Aktivwaffe ins Feld zu führen. Diese Waffe ist DAS SCHLAFENDE HEER … DAS SCHLAFENDE HEER – unter diesem Titel erscheint auch der nächste Atlan-Band. Als Autor des Romans zeichnet Falk-Ingo Klee.