Peter Hürter Olga Kordonouri Karin Lange Thomas Danne Kompendium pädiatrische Diabetologie
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Peter Hürter Olga Kordonouri Karin Lange Thomas Danne Kompendium pädiatrische Diabetologie
Peter Hürter • Olga Kordonouri Karin Lange • Thomas Danne
Kompendium pädiatrische Diabetologie Mit 90 Abbildungen und 45 Tabellen
13
Professor Dr. Peter Hürter PD Dr. Olga Kordonouri Professor Dr. Thomas Danne Kinderkrankenhaus auf der Bult Janusz-Korczak-Allee 12 30173 Hannover
PD Dr. Karin Lange Medizinische Hochschule Hannover Medizinische Psychologie Zentrum für Öffentliche Gesundheitspflege OE 5430 30623 Hannover
ISBN-10 3-540-40059-1 Springer Medizin Verlag Heidelberg ISBN-13 978-3-540-40059-2 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag springer.com © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2007 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Renate Scheddin Projektmanagement: Meike Seeker SPIN 11495758 Layout und Umschlaggestaltung: deblik Berlin Satz: medionet AG, Berlin Druck: Stürtz GmbH, Würzburg Gedruckt auf säurefreiem Papier
2126 – 5 4 3 2 1 0
V
Vorwort
In Ergänzung des etablierten Lehrbuchs möchte das Diabetesteam des Kinderkrankenhauses auf der Bult in Zusammenarbeit mit der Abteilung für Medizinische Psychologie der Medizinischen Hochschule Hannover ein praktisch orientiertes Kliniktaschenbuch auf dem neuesten Stand der pädiatrischen Diabetologie vorlegen. Es richtet sich an medizinische und nicht-medizinische Diabetes-Profis und enthält alle wichtigen Informationen zur Beratung, Behandlung und Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit Diabetes und ihrer Familien. Auf grundlagenwissenschaftliche Details und detaillierte Literaturhinweise wurde verzichtet. Wir verweisen auf das Lehrbuch „Diabetes bei Kindern und Jugendlichen“, das in der 6. Auflage vorliegt und alle Referenzen enthält. Wir hoffen, dass dieses Kompendium angesichts der knappen Arbeitszeit und der gestiegenen Anforderungen im Medizinbetrieb eine rasche Orientierung für die Umsetzung moderner Therapiestrategien in der pädiatrischen Diabetologie erlaubt. Hannover, Juli 2006
Peter Hürter Olga Kordonouri Karin Lange Thomas Danne
VII
Inhaltsverzeichnis
1
Definition und Klassifikation des Diabetes bei Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1.1
Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3
Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . Stadieneinteilung . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologische Typen des Diabetes mellitus .
. . . .
1 2 2 4
2
Epidemiologie des Diabetes bei Kindern und Jugendlichen. . . .
13
2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3
Häufigkeit des Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen Prävalenz und Inzidenz weltweit . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävalenz und Inzidenz in Deutschland . . . . . . . . . . . . . Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
13 13 14 16
2.2 2.2.1 2.2.2
Häufigkeit des Typ-2-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen . . Prävalenz weltweit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävalenz in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18 18 19
2.3
Häufigkeit des Diabetes bei Erwachsenen . . . . . . . . . . . . . .
20
3
Ätiopathogenese des Typ-1-Diabetes . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3
Genetik . . . Erbmodus . . Erbrisiko. . . HLA-System
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. . . .
23 24 24 27
3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4
Umweltfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Virusinfektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stilldauer und Ernährungsfaktoren . . . . . . . . . . . Perinatale Faktoren, Alter und Sozialstatus der Eltern . Manifestationsfördernde Faktoren . . . . . . . . . . . .
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31 32 34 36 37
3.3
Hypothesen zur Entstehung des Typ-1-Diabetes . . . . . . . . . .
38
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VIII
Inhaltsverzeichnis
4
Prädiktion und Prävention des Typ-1-Diabetes . . . . . . . . . . . .
43
4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.1.5
Prädiktion des Typ-1-Diabetes . . . . . . . . . . . . . . . . . Humorale Autoimmunität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zelluläre Autoimmunität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kombination der Früherkennungsuntersuchungen . . . . . Zeitlicher Ablauf der Autoimmunität . . . . . . . . . . . . . Prädiktion eines Typ-1-Diabetes in der Gesamtbevölkerung
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
43 44 46 47 48 50
4.2 4.2.2 4.2.2 4.2.3 4.2.4
Prävention des Typ-1-Diabetes . Tertiäre Präventionsstudien . . . Sekundäre Präventionsstudien . Primäre Präventionsstudien . . Zukünftige Präventionsstudien .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
50 51 52 52 53
5
Normale und pathologische Physiologie des Inselzellsystems . .
57
5.1
Morphologie der Inselzellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.2.5 5.2.6
Insulin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Molekulare Struktur des Insulins . . . . . . . . . . . . . . . . . Biosynthese und Sekretion des Insulins . . . . . . . . . . . . . Clearance und Degradation des Insulins . . . . . . . . . . . . Wirkung des Insulins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Insulinrezeptor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Messung der Insulinkonzentration, Sekretion und Sensitivität
. . . . . . .
58 60 60 64 66 75 78
5.3
Glukagon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80
5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4 5.4.5 5.4.6
Hormonelle Steuerung der Glukosehomöostase . . . . Glukosehomöostase unter Ruhebedingungen . . . . . Glukosehomöostase bei körperlicher Tätigkeit . . . . . Glukosehomöostase nach Nahrungsaufnahme . . . . . Glukosehomöostase bei fehlender Nahrungsaufnahme Glukosehomöostase bei Stress . . . . . . . . . . . . . . Glukosehomöostase bei Hypoglykämie . . . . . . . . .
. . . . . . .
82 83 84 85 86 87 88
6
Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes . . . . . .
91
6.1
Grundsätzliches zur Prognose des Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
6.2
Vorstellungen zur Ätiopathogenese der diabetischen Folgeerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92
6.3 6.3.1
Diabetische Retinopathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathologische Anatomie und Physiologie . . . . . . . . . . . . . .
94 95
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. . . . . . . . . . . . . .
IX
Inhaltsverzeichnis
6.3.2 6.3.3
Stadieneinteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik und Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.4 6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.4.4 6.4.5
Diabetische Nephropathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathologische Anatomie und Physiologie . . . . . . . . . . . Stadieneinteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik der Nephropathie . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik der arteriellen Hypertonie . . . . . . . . . . . . . Therapie der Nephropathie und der arteriellen Hypertonie .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
99 100 100 102 104 108
6.5 6.5.1 6.5.2 6.5.3 6.5.4
Diabetische Neuropathie . . . . . . . . . . Pathologische Anatomie und Physiologie . Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . Sensomotorische diabetische Neuropathie Autonome diabetische Neuropathie . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
109 109 110 110 115
6.6 6.6.1 6.6.2
Möglichkeiten der Prävention von Folgeerkrankungen und der Verbesserung der Prognose des Typ-1-Diabetes . . . . . . . . Die DCCT-Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rolle der Pubertät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
120 120 124
7
Insulintherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
129
7.1
Herstellung von Humaninsulin . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
129
7.2
Standardisierung von Insulinpräparaten . . . . . . . . . . . . . .
129
7.3
Konzentration von Insulinpräparaten . . . . . . . . . . . . . . . .
130
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
96 97
7.4
Zusätze zu Insulinzubereitungen/pH-Wert . . . . . . . . . . . . .
131
7.5
Aufbewahrung von Insulinpräparaten . . . . . . . . . . . . . . . .
132
7.6 7.6.1 7.6.2 7.6.3
Absorption des injizierten Insulins . . . . . . . . . . . . . . Transportwege und Halbwertszeiten des Insulins . . . . . . Die Subkutis als Ort der Insulininjektion . . . . . . . . . . . Assoziationszustand der Insulinmoleküle (Mono-, Di- und Hexamere) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . .
132 133 133
. . .
134
Typisierung der Insulinpräparate Normalinsulin . . . . . . . . . . . Verzögerungsinsulin . . . . . . . . Kombinations- bzw. Mischinsulin Insulin-Analoga . . . . . . . . . .
. . . . .
136 137 138 139 140
7.7 7.7.1 7.7.2 7.7.3 7.7.4
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
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. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
7.8
Mischbarkeit von Insulinpräparaten . . . . . . . . . . . . . . . . .
144
7.9
Tabellarische Zusammenstellung der Insulinpräparate . . . . . .
144
X
Inhaltsverzeichnis
8
Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
149
8.1
Berechnung der Grundnährstoffe (Kohlenhydrate, Fett, Eiweiß)
149
8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3
Energie- und Nährstoffbedarf von Kindern und Jugendlichen . . Richtwerte für die Energiezufuhr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Richtwerte für die Zufuhr von Kohlenhydraten, Fett und Eiweiß Richtwerte für die Zufuhr von Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Richtwerte für die Zufuhr von Flüssigkeit . . . . . . . . . . . . .
151 152 153
8.3
Ratschläge für die Ernährung von Kindern und Jugendlichen . .
157
8.4
Wechselbeziehung zwischen Nahrungsaufnahme und Insulinwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Postprandiale Stoffwechselsituation beim Stoffwechselgesunden Postprandiale Stoffwechselsituation bei Typ-1-Diabetes . . . . .
160 160 161
8.2.4
8.4.1 8.4.2 8.5
156 157
8.5.2 8.5.3 8.5.4
Bedeutung des Kohlenhydratgehalts der Nahrungsmittel für die Insulintherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methoden zur Quantifizierung der Kohlenhydrate und ihres Austausches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kohlenhydrataustauschtabellen . . . . . . . . . . . . . . . Zuckerersatzstoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezielle »Diabetikerlebensmittel« . . . . . . . . . . . . . .
8.6
Glykämischer Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
171
8.7. 8.7.1
Bedeutung der Ernährung für die Insulintherapie . . . . . . . . . Verteilung der Nahrungsmittel bei konventioneller Insulintherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
175
8.8
Parameter zur Beurteilung der Qualität der Ernährung . . . . . .
176
9
Methoden der Stoffwechselkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . .
179
9.1 9.1.1 9.1.2 9.1.3 9.1.4 9.1.5 9.1.6 9.1.7
Stoffwechselselbstkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Blutglukose-Einzelwertmessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontinuierliche und nichtinvasive Blutglukosemessung . . . . Uringlukosemessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ketonkörpernachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Häufigkeit der Stoffwechselselbstkontrolle . . . . . . . . . . . . Protokollierung der Ergebnisse der Stoffwechselselbstkontrolle Beurteilung der Ergebnisse der Stoffwechselselbstkontrolle . .
. . . . . . . .
179 181 184 191 191 192 194 196
9.2 9.2.1 9.2.2
Methoden der Stoffwechselkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . Glykohämoglobin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fruktosamin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
197 197 200
8.5.1
. . . .
162
. . . .
163 164 169 170
. . . .
. . . .
. . . .
175
XI
Inhaltsverzeichnis
9.2.3
Beziehungen zwischen HbA1c, Fruktosamin und mittlerem Blutglukosewert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
202
10
Stationäre Behandlung nach Manifestation und während des weiteren Diabetesverlaufs . . . . . . . . . . . . . . . .
205
10.1 10.1.1 10.1.2 10.1.3 10.1.4
Symptome bei Manifestation des Typ-1-Diabetes Leichte Manifestationsform . . . . . . . . . . . . Mittelgradige Manifestationsform . . . . . . . . . Ausgeprägte Manifestationsform . . . . . . . . . Praktisches Vorgehen in Zweifelsfällen . . . . . .
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. . . . .
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205 205 207 207 207
10.2 10.2.1 10.2.2 10.2.3
Verlaufsphasen des Typ-1-Diabetes Initialphase . . . . . . . . . . . . . . Remissionsphase . . . . . . . . . . . Postremissionsphase . . . . . . . . .
. . . .
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. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
208 208 209 209
10.3 10.3.1 10.3.2 10.3.3 10.3.4
Stationäre Behandlung nach Manifestation des Typ-1-Diabetes Erste Maßnahmen nach Aufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . Gespräche mit dem Arzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Initialtherapie ohne Infusionsbehandlung . . . . . . . . . . . . Initialtherapie mit Infusionsbehandlung . . . . . . . . . . . . .
. . . . .
210 211 212 214 216
10.4 10.4.1 10.4.2 10.4.3 10.4.4
Stationäre Behandlung während des weiteren Verlaufs des Typ-1-Diabetes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akute nicht Diabetes-assoziierte Erkrankungen . . . . Chronische Diabetes-assoziierte Erkrankungen . . . . Chirurgische Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychiatrische Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . .
219 220 221 229 230
11
Ambulante Langzeitbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
233
11.1
Ziele der ambulanten Langzeitbehandlung . . . . . . . . . . . . .
233
11.2
Durchführung der Insulininjektion . . . . . . . . . . . . . . . . .
234
11.3
Berechnung der Insulindosis und Wahl des Insulinpräparates . .
237
11.4
Wahl der Insulinsubstitutionsmethode . . . . . . . . . . . . . . .
240
11.5
Durchführung der konventionellen Insulintherapie . . . . . . . .
248
11.6
Durchführung der intensivierten konventionellen Insulintherapie (ICT) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
249
11.7 Durchführung der Insulinpumpentherapie (CSII) . . . . . . . . . 11.7.1 Praxis der Insulinpumpentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . .
261 269
11.8
292
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
Didaktische Hilfen für die Umsetzung der ICT im Alltag . . . . .
XII
Inhaltsverzeichnis
11.9 11.9.1 11.9.2 11.9.3
Lokale Nebenwirkungen der Insulintherapie Insulinallergie und Insulinresistenz . . . . . Veränderungen der Haut und Subkutis . . . Veränderungen der Gelenke . . . . . . . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
314 314 317 319
12
Diabetische Ketoazidose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
323
12.1 Pathophysiologische Konsequenzen des Insulinmangels . . . . . 12.1.1 Hyperglykämie und Hyperketonämie . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1.2 Störungen des Wasser-, Elektrolyt- und Säure-Basen-Haushalts .
323 323 325
12.2 12.2.1 12.2.2 12.2.3
Klinik der diabetischen Ketoazidose . . Häufigkeit der Ketoazidose . . . . . . . . Klinische Befunde bei Ketoazidose. . . . Biochemische Befunde bei Ketoazidose .
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. . . .
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. . . .
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. . . .
328 328 330 330
12.3 12.3.1 12.3.2 12.3.3
Zerebrale Krise bei Ketoazidose . . . . . . Pathophysiologie der zerebralen Krise . . Risikofaktoren für eine zerebrale Krise . . Vorgehen bei Verdacht auf zerebrale Krise
. . . .
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331 331 332 333
12.4 12.4.1 12.4.2 12.4.3 12.4.4 12.4.5 12.4.6
Therapie der Ketoazidose . . . . . . . . . . . . . . . . . Rehydratation und Ausgleich der Elektrolytverluste . . Insulinsubstitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Azidosebehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kalorienzufuhr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel einer Ketoazidosebehandlung . . . . . . . . . Diagnostische Maßnahmen während der Behandlung
. . . . . . .
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. . . . . . .
. . . . . . .
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334 335 338 340 340 341 342
13
Hypoglykämie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
345
13.1
Definition einer Hypoglykämie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
345
13.2
Klassifikation von Hypoglykämien . . . . . . . . . . . . . . . . .
346
13.3
Symptomatologie von Hypoglykämien . . . . . . . . . . . . . . .
346
13.4 13.4.1 13.4.2 13.4.3 13.4.4 13.4.5
Physiologie der Glukoseregulation . . . . . . . Sistieren der Insulinsekretion . . . . . . . . . . Glukagonsekretion . . . . . . . . . . . . . . . . Adrenalinsekretion . . . . . . . . . . . . . . . . Sekretion von Kortisol und Wachstumshormon Glukoseregulation während der Nacht . . . . .
350 351 351 352 353 353
13.5
Hypoglykämiewahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
354
13.6 Ursachen von Hypoglykämien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.6.1 Verstärkte Insulinwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
356 356
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XIII
Inhaltsverzeichnis
13.6.2 Verminderte Nahrungszufuhr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.6.3 Intensive körperliche Aktivität (Sport) . . . . . . . . . . . . . . .
356 357
13.7 13.7.1 13.7.2 13.7.3
Behandlung von Hypoglykämien . . . . . . . . . . . . . Therapie bei Auftreten autonomer Symptome . . . . . . Therapie bei Auftreten neuroglykopenischer Symptome Empfehlungen für die Diagnose und Behandlung von Hypoglykämien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
358 358 359
13.8 13.8.1 13.8.2 13.8.3
Häufigkeit von Hypoglykämien . . . . . . . . . . . . . . . Inzidenz von asymptomatischen Hypoglykämien . . . . . Inzidenz von leichten bis mittelgradigen Hypoglykämien Inzidenz von schweren Hypoglykämien . . . . . . . . . . .
. . . .
361 362 362 363
13.9
Hypoglykämien und ihre Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
364
13.10
Hypoglykämieangst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
366
14
Andere Diabetesformen bei Kindern und Jugendlichen und deren Therapieansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
371
14.1 Typ-2-Diabetes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.1.1 Früherkennung und Diagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.1.2 Therapie bei Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . .
371 371 374
14.2
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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360
14.2.1 14.2.2 14.2.3 14.2.4 14.2.5 14.2.6 14.2.7 14.2.8
Diabetes bei genetischen Defekten und anderen Grundkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maturity-Onset Diabetes of the Young (MODY) . DIDMOAD-Syndrom (Wolfram-Syndrom) . . . Mitochondrialer Diabetes . . . . . . . . . . . . . . Neonataler Diabetes . . . . . . . . . . . . . . . . . Diabetes bei zystischer Fibrose (CF) . . . . . . . . Diabetes bei Hämosiderose . . . . . . . . . . . . . Medikamentös induzierter Diabetes . . . . . . . . Stresshyperglykämie . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . .
377 377 381 382 383 385 388 388 390
15
Medizinische Behandlung und soziale Beratung . . . . . . . . . . .
393
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. . . . . . . . .
15.1 Medizinische Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . 15.1.1 Qualitätsstandards der stationären Behandlung in Kinderkliniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.1.2 Disease-Management-Programm Typ-1-Diabetes . . 15.1.3 Wirtschaftliche Grundlagen der ambulanten Langzeitbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.1.4 Qualitätsrichtlinien für die stationäre und ambulante Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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393
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394 394
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395
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396
XIV
Inhaltsverzeichnis
15.1.5 Vorstellungen in der Diabetesambulanz . . . . . . . . . . . . . .
400
15.2 15.2.1 15.2.2 15.2.3 15.2.4 15.2.5 15.2.6 15.2.7
Sozialmedizinische Beratung . . . . . Kindergarten . . . . . . . . . . . . . . Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berufsausbildung . . . . . . . . . . . Fahrtauglichkeit und Führerscheine . Ferien und Urlaub . . . . . . . . . . . Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Hilfen . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . .
405 405 406 408 410 412 416 418
16
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Grundlagen und Durchführung der Diabetesschulung . . . . . . .
425
16.1 Relevanz und Ziele der Diabetesschulung . . . . . . . . . . . . . 16.1.1 Gliederung der Diabetesschulung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.1.2 Strukturelle Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
425 426 427
16.2 16.2.1 16.2.2 16.2.3 16.2.4
Entwicklungspsychologische und didaktische Grundlagen Säuglinge und Kleinkinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kindergarten- und Vorschulkinder . . . . . . . . . . . . . Grundschulkinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jugendliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . .
427 427 428 431 433
16.3
Grundlagen des Selbstmanagement in der Diabetestherapie . . .
435
16.4 16.4.1 16.4.2 16.4.3 16.4.4 16.4.5
Initiale Diabetesschulung nach der Manifestation Diagnoseeröffnung und Initialgespräch . . . . . . Initialschulung für Eltern . . . . . . . . . . . . . . Initialschulung für Klein- und Vorschulkinder . . Initialschulung für Schulkinder . . . . . . . . . . Initialschulung für Jugendliche . . . . . . . . . . .
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437 437 439 445 445 446
16.5 16.5.1 16.5.2 16.5.3
Schulungen während der Langzeitbetreuung Folgeschulung für Eltern . . . . . . . . . . . Folgeschulung für Schulkinder . . . . . . . . Folgeschulung für Jugendliche . . . . . . . .
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448 449 450 450
17
Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung von Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern . . . . . . . . . . . . .
453
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. . . . .
17.1 Psychosoziale Faktoren in der Ätiologie des Diabetes . . . . . . . 17.1.1 Psychosoziale Faktoren und Manifestation eines Typ-1-Diabetes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.1.2 Psychosoziale Faktoren und Manifestation eines Typ-2-Diabetes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
453 453 455
Inhaltsverzeichnis
XV
17.2
Psychosoziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit Diabetes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.2.1 Belastungen durch den Diabetes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.2.2 Kognitive Entwicklung und Schulerfolg . . . . . . . . . . . . . . Psychosoziale Einflüsse auf die Qualität der Stoffwechseleinstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.3.1 Psychischer Stress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.3.2 Individuelle Risikokonstellationen bei Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . 17.3.3 Familiäre und gesellschaftliche Risikokonstellationen
456 458 462
17.3
. . . . . . . . . . . . . .
464 464
. . . . . . . . . . . . . .
466 467
Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen mit Diabetes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.4.1 Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.4.2 Selbstschädigendes Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
469 470 472
17.4
17.5
Psychosoziale Unterstützung für Kinder, Jugendliche und ihre Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.5.1 Psychotherapeutische Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
473 475
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
481
1
1
Definition und Klassifikation des Diabetes bei Kindern und Jugendlichen )) Bei Kindern und Jugendlichen tritt als Krankheitsentität des Syndroms Diabetes mellitus fast immer ein Typ-1-Diabetes auf. Da Kinder und Jugendliche immer häufiger Übergewicht oder Adipositas aufweisen, nimmt bei ihnen, besonders in bestimmten ethnischen Gruppen, der Typ-2-Diabetes deutlich zu. Zahlreiche andere Diabetestypen wurden in den letzten Jahren identifiziert.
1.1
Definition
Der Begriff »Diabetes mellitus« beschreibt eine Stoffwechselstörung unterschiedlicher Ätiologie, die durch das Leitsymptom Hyperglykämie charakterisiert ist. Defekte der Insulinsekretion, der Insulinwirkung oder beides verursachen v. a. Störungen des Kohlenhydrat-, Fett- und Eiweißstoffwechsels. Langfristig können Schädigungen, Dysfunktion und Versagen verschiedener Organe auftreten. Betroffen sind einerseits kleine Blutgefäße (Mikroangiopathie) mit Erkrankungen der Augen (Retinopathie), der Nieren (Nephropathie) und der Nerven (Neuropathie). Andererseits können Prozesse an den großen Gefäßen im Sinne einer Arteriosklerose durch Diabetes beschleunigt werden (Makroangiopathie). 1.2
Klassifikation
The Expert Committee on the Diagnosis and Classification of Diabetes Mellitus publizierte 1997 neue Empfehlungen zur Klassifikation des Diabetes. Ihnen folgte 1998 ein vorläufiger und 1999 der endgültige Bericht der Expertengruppe der WHO. Diese bisher aktuellste Klassifikation berücksichtigt sowohl klinische Stadien wie ätiologische Typen des Diabetes mellitus und anderer Kategorien von Hyperglykämie.
2
1
Kapitel 1 · Definition und Klassifikation des Diabetes bei Kindern
1.2.1
Terminologie
13
Die WHO (1999) empfiehlt, die Begriffe IDDM und NIDDM nicht mehr zu benutzen. Diese beiden Begriffe hatten dazu geführt, die Patienten nach der Behandlungsart und nicht nach der Pathogenese des Diabetes zu klassifizieren. Dagegen wurden die Termini »Typ-1-Diabetes« und »Typ-2-Diabetes« wieder in die Klassifikation aufgenommen. Ein Typ-1-Diabetes liegt vor, wenn der Diabetes durch Zerstörung der E-Zellen mit Ketoazidoseneigung charakterisiert ist. Die E-Zellzerstörung ist meist Folge eines Autoimmunprozesses, der durch das Vorhandensein von diabetesspezifischen Autoantikörpern im Serum der Patienten begleitet wird. In einigen Patienten (<10%) werden solche Antikörper jedoch nicht nachgewiesen (idiopatisch). Wichtiges Kriterium für den Typ-1-Diabetes ist also die Ketoseneigung. Ein Typ-2-Diabetes liegt vor, wenn der Diabetes Folge einer unzureichenden Insulinwirkung und/oder Insulinsekretion ist und, wie in den meisten Fällen, eine Insulinresistenz besteht. Der Begriff »gestörte Glukosetoleranz« (IGT) wird dem klinischen Stadium der gestörten Glukoseregulation zugeordnet, die allen hyperglykämischen Störungen gemein und nicht unbedingt mit Diabetes gleichzusetzen ist. Der neueingeführte Begriff »gestörte Nüchternglukose« (»Impaired Fasting Glucose«, IFG) wird als weiteres diagnostisches Kriterium einer gestörten Glukoseregulation definiert. Es gilt für Nüchternwerte oberhalb des Normalbereichs aber unterhalb des für Diabetes gültigen Bereichs. Im Terminus Gestationsdiabetes (»Gestational Diabetes«) werden nach dieser heute gültigen Klassifikation alle Schweregrade von der gestörten Glukosetoleranz (»Gestational Impaired Glucose Tolerance«, GIGT) bis zum Gestationsdiabetes (»Gestational Diabetes Mellitus«, GDM) zusammengefasst.
14
1.2.2
2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Stadieneinteilung
15 16 17
Nach den Empfehlungen der WHO von 1999 werden drei klinische Stadien unterschieden: 5 Stadium der normalen Glukoseregulation mit Normoglykämie 5 Stadium der gestörten Glukoseregulation mit Hyperglykämie 5 Stadium des Diabetes
Der pathologische Prozess, der zum Diabetes führt, kann mit einer noch normalen Glukosetoleranz beginnen. Das Erkennen des pathologischen Prozesses ist wichtig, da die Entwicklung eines fortgeschritteneren Stadiums verhindert wer-
1
3
1.2 · Klassifikation
den kann. Allerdings kann die erfolgreiche Behandlung oder der natürliche Verlauf einiger Diabetesformen dazu führen, dass die Hyperglykämie wieder in eine Normoglykämie übergeht. Die Klassifikation in die drei Stadien berücksichtigt daher sowohl die Entwicklung einer Normoglykämie zur Hyperglykämie bis hin zum Diabetes als auch deren Umkehrung. Normoglykämie Als »normal« werden venös und kapillär im Vollblut gemessene Glukosewerte unter 6,1 mmol/l bzw. 110 mg/dl definiert (. Tabelle 1.1). Das entspricht Plasmaglukosewerten unter 7,0 mmol/l bzw. 126 mg/dl. Diese Grenzwerte wurden gewählt, da in verschiedenen Studien gezeigt werden konnte, dass die Prävalenz der Retinopathie bereits bei Nüchternwerten über 126 mg/dl deutlich zunimmt. Gestörte Glukoseregulation Das Stadium der gestörten Glukoseregulation mit IGT und/oder IFG nimmt eine Mittelstellung zwischen einer normalen Glukosehomöostase und einem Diabetes ein. Das Risiko, einen Diabetes zu entwickeln, liegt sowohl bei einer
. Tabelle 1.1 Blutglukosegrenzwerte für die Diagnose eines Diabetes mellitus oder einer anderen Kategorie einer gestörten Glukoseregulation. (Nach WHO 1999) Glukosekonzentration [mmol/l (mg/dl)] Vollblut
Plasma
Venös
Kapillar
Venös
≥6,1 (≥ 110) ≥ 10,0 (≥ 180)
≥ 6,1 (≥ 110) ≥ 11,1 (≥ 200)
≥ 7,0 (≥ 126) ≥ 11,1 (≥ 200)
< 6,1 (< 110) ≥7,8 (≥140)
< 7,0 (< 126) ≥7,8 (≥140)
≥5,6 (≥100) < 6,1 (< 110) < 7,8 (< 140)
≥ 6,1 (≥110) < 7,0 (< 126) < 7,8 (< 140)
Diabetes mellitus Nüchtern OGTT 2-h-Werte
Gestörte Glukosetoleranz (IGT) Nüchtern OGTT 2-h-Werte
< 6,1 (< 110) ≥6,7 (≥120)
Gestörte Nüchternglukose (IFG) Nüchtern OGTT 2-h-Werte
≥5,6 (≥100) < 6,1 (< 110) < 6,7 (< 120)
OGTT oraler Glukosetoleranztest.
4
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
Kapitel 1 · Definition und Klassifikation des Diabetes bei Kindern
IFG wie bei einer IGT vor, ist allerdings bei einer IGT deutlich größer als bei einer IFG. Das Risiko besteht, auch wenn im täglichen Leben normale Blutglukosewerte gemessen werden und normale HbA1c-Werte vorliegen. IFG und IGT gelten allerdings nicht als Krankheitsentitäten, sondern als Risikokategorien. Diabetes mellitus Das klinische Stadium Diabetes mellitus wird unabhängig von seiner Ursache in drei Kategorien unterteilt: 1. Nicht insulinbedürftig – d. h. es wird mit nichtpharmakologischen Methoden oder Medikamenten auEer Insulin behandelt (entspricht der alten Definition: NIDDM). 2. Insulinbedürftig für eine gute Stoffwechseleinstellung – d. h. die noch vorhandene endogene Insulinsekretion muss mit exogen zugeführtem Insulin unterstützt werden, um eine Normoglykämie zu erreichen. 3. Insulinbedürftig zum Überleben – d. h. als Ausdruck eines vollständigen Insulinmangels ist C-Peptid nicht nachweisbar (entspricht der alten Definition IDDM). 1.2.3
Ätiologische Typen des Diabetes mellitus
In . Tabelle 1.2 ist die ätiologische Klassifikation des Diabetes mellitus dargestellt. Sie wurde erstmalig 1987 von der Expertenkommission der American Diabetes Association vorgeschlagen und stimmt im Wesentlichen mit den Empfehlungen der WHO (1999), der ISPAD (2000) und der Deutschen Diabetes Gesellschaft ( 2001) überein. Typ-1-Diabetes Bei Kindern und Jugendlichen tritt am häufigsten die Form des Typ-1-Diabetes auf, bei der es durch die autoimmunologische Zerstörung der E-Zellen des Pankreas zunächst zu einem relativen, später totalen Insulinmangel kommt. Bei 85–90% der Patienten mit Typ-1-Diabetes können bei Manifestation Autoimmunmarker nachgewiesen werden: 5 Inselzellantikörper (ICA), 5 Insulinautoantikörper (IAA), 5 Autoantikörper gegen Glutaminsäure-Decarboxylase (GADA) Autoantikörper gegen Tyrosinphosphatase IA-2 (IA2A) Der Typ-1-Diabetes tritt am häufigsten während der Kindheit und Jugend auf. Eine Manifestation kann jedoch grundsätzlich in jedem Lebensalter erfolgen.
1.2 · Klassifikation
5
. Tabelle 1.2 Klassifikation des Diabetes mellitus 5 Typ-1-Diabetes (Zerstörung der E-Zellen, führt normalerweise zu einem völligen Insulinmangel) – Immunologisch bedingt – Idiopathisch 5 Typ-2-Diabetes (kann von einer überwiegenden Insulinresistenz mit relativem Insulinmangel bis zu einem überwiegend sekretorischen Defekt mit Insulinresistenz reichen) Weitere spezifische Typen 5 Genetische Defekte der E-Zellfunktion – Chromosom 12, HNF-1a (MODY-3) – Chromosom 7, Glukokinase (MODY-2) – Chromosom 20, HNF-4a (MODY-1) Chromosom13q, PDX-1 (MODY-4) Chromosom 17q, HNF-1b (MODY 5) Chromosom 2q32, NeuroD1 (MODY 6) – Mitochondrale DNS Chromosom 11p15.1, KCNJ11, Kir 6.2 Untereinheit (Neonataler Diabetes) – Andere 5 Andere genetische Defekte der Insulinwirkung – Typ-A-Insulinresistenz – Leprechaunismus-Syndrom – Rabson-Mendenhall-Syndrom – Lipoatrophischer Diabetes – Andere 5 Krankheiten des exokrinen Pankreas – Pankreatitis – Trauma, Pankreatektomie – Zystische Fibrose – Thalassämie – Hämochromatose – Fibrokalzifizierende Pankreatitis – Neoplasie – Andere 5 Endokrinopathien – Akromegalie – Cushing-Syndrom – Glukagonom – Phäochromozytom – Hyperthyreose – Somatostatinom – Aldosteronom – Andere
1
6
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
Kapitel 1 · Definition und Klassifikation des Diabetes bei Kindern
. Tabelle 1.2 (Fortsetzung) 5 Medikamenten- oder chemikalieninduzierter Diabetes – Vacor – Pentamidin – Nikotinsäure – Glukokortikoide – Schilddrüsenhormone – Diazoxid – b-adrenerge Agonisten – Thiazide – Dilantin – a-Interferon – Andere 5 Infektionen – Kongenitale Röteln – Zytomegalievirus – Andere 5 Seltene Formen eines immunologisch bedingten Diabetes – Stiff-man-Syndrom – Anti-Insulin-Rezeptor-Antikörper – Andere 5 Andere genetische Syndrome, die gelegentlich mit Diabetes einhergehen – Down-Syndrom – Klinefelter-Syndrom – Turner-Syndrom – Wolfram-Syndrom (DIDMOAD) – Friedreich-Ataxie – Huntington-Chorea – Lawrence-Moon-Biedl-Syndrom – Dystrophia myotonica – Porphyrie – Prader-Willi-Syndrom – Andere 5 Gestationsdiabetes (Krankheitsbeginn oder Nachweis einer Glukoseintoleranz während der Schwangerschaft)
17
Voraussetzung für die autoimmunologische Zerstörung der E-Zellen sind eine genetische Disposition und exogene Trigger, die nur teilweise identifiziert sind (z.B. Virusinfektionen). Die Patienten sind meist nicht übergewichtig. Eine Adipositas ist jedoch mit der Diagnose Typ-1-Diabetes nicht unvereinbar. Häufig liegt bei Patienten mit Typ-1-Diabetes eine weitere Autoimmunerkrankung vor (z. B. Autoimmunthyreopathie, Zöliakie etc.).
1.2 · Klassifikation
7
1
Typ-2-Diabetes In der Allgemeinbevölkerung ist der Typ-2-Diabetes die weitaus häufigste Diabetesform, die vorwiegend bei Erwachsenen auftritt. Er ist durch Störungen der Insulinwirkung und Insulinsekretion charakterisiert, deren Ursache bisher nicht bekannt ist. Immer liegt eine relative oder absolute Insulinresistenz vor. Genetische Faktoren spielen für die Entstehung eines Typ-2-Diabetes eine entscheidende Rolle. Bei identischen Zwillingen wurde eine 100%ige Konkordanz nachgewiesen. Bei Kindern und Jugendlichen ist der Typ-2-Diabetes sehr selten, obwohl in den letzten Jahren eine deutliche Zunahme beobachtet wurde. Sie wurde mit der steigenden Häufigkeit von Adipositas in Zusammenhang gebracht. Neben genetischen Faktoren spielen auch bei Kindern der Lebensstil mit gesteigerter Nahrungszufuhr und wenig Bewegung eine entscheidende Rolle für die Entstehung eines Typ-2-Diabetes. Besonders groß ist das Erkrankungsrisiko für Kinder und Jugendliche bestimmter ethnischer Gruppen (Amerikaner mexikanisch-hispanischer und afrikanischer Herkunft, amerikanische und kanadische Indianer, südasiatische Inder in Indien und Europa, pazifische Inselbewohner, australische Aborigines). Bei Kindern und Jugendlichen ist die differentialdiagnostische Entscheidung zwischen Typ-1- und Typ-2-Diabetes von zunehmender praktischer Bedeutung. In . Tabelle 1.3 sind daher die Charakteristika der beiden Haupttypen einander gegenübergestellt (ISPAD 2000). Andere spezifische Diabetestypen Sehr viel seltener als ein Typ-1- oder Typ-2-Diabetes wird ein Diabetes diagnostiziert, der Teil oder Folge einer anderen Krankheit oder eines anderen Syndroms ist. Genetische Defekte der E-Zellfunktion Einige seltene Diabetesformen sind mit monogenetischen Defekten assoziiert, die Störungen der E-Zellfunktion zur Folge haben. Eine unterschiedlich ausgeprägte Hyperglykämie tritt meist vor dem 25. Lebensjahr auf. Die Erkrankungen sind durch eine verminderte Insulinsynthese und Sekretion charakterisiert, während die Insulinwirkung wenig oder überhaupt nicht gestört ist. Die genetischen Defekte werden autosomal-dominant vererbt und wurden erstmalig unter dem Terminus MODY (»Maturity-onset Diabetes of the Young«) beschrieben. Die häufigste Form mit Manifestation der Hyperglykämie im Erwachsenenalter (MODY-3) ist durch Mutationen am Chromosom 12q gekennzeichnet. Der betroffene Transkriptionsfaktor wird als »Hepatocyte Nuclear Factor« (HNF1- D) bezeichnet. Die häufigste bei Kindern auftretende Form (MODY-2) ist mit Mutationen am Glukokinase-Gen des Chromosoms 7p assoziiert. Eine wei-
8
Kapitel 1 · Definition und Klassifikation des Diabetes bei Kindern
1
. Tabelle 1.3 Charakteristika des Typ-1-Diabetes und des Typ-2-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen. (Nach ISPAD 2000)
2
Charakteristik
Typ 1
3
Alter
Während der gesamten Kindheit, in der Pubertät (oder später)
4
Krankheitsbeginn
Meistens akut, rasch
Variabel: von langsam, leicht (häufig schleichend) bis schwer
Insulinabhängigkeit
Permanent, vollständig, uneingeschränkt
Selten, doch ist Insulin erforderlich, wenn orale blutzuckersenkende Mittel versagen
Insulinsekretion
Fehlt oder sehr niedrig
Variabel
Insulinsensitivität
Normal
Vermindert
Genetik
Polygenetisch
Polygenetisch
Ethnische Herkunft
Alle Bevölkerungsgruppen, aber breite Inzidenzvariabilität
Bestimmte ethnische Gruppen sind besonders gefährdet
Häufigkeit (% des gesamten Diabetes bei jungen Menschen)
Gewöhnlich bei >90%
In den meisten Ländern <10% (Japan ~80%)
Ja Häufig Nein Nein
Nein Selten Stark Ja
5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Verknüpfung Autoimmunität Ketose Adipositas Akanthosis nigricans
Typ 2
16 17
tere Form (MODY-1) ist mit einer Mutation des HNF-4-D-Gens am Chromosom 20q assoziiert. HNF-4-D ist ein Transkriptionsfaktor, der an der Regulation der Expression des HNF-1-D beteiligt ist. 1997 beschrieben Stoffers et al. eine vierte Variante (MODY-4) mit Mutationen an einem anderen Gen des Chromosomen 13q, das für die Expression des Transkriptionsfaktors »Pancreatic Duodenal Homeobox-1« (PDX-1) zuständig ist. Dieser für die Pankreasentwicklung und die Insulinsynthese und Sekretion
1.2 · Klassifikation
9
1
wichtige Homeodomain-Transkriptionsfaktor wird auch als »Insulin Promoter Factor 1« (IPF 1) bezeichnet. Die Mutationen führen in ihrer homozygoten Form zu totaler Pankreasagenesie (neonataler Diabetes), in ihrer heterozygoten Form zum MODY-4. Eine fünfte Form (MODY-5) mit Defekt eines Gens am Chromosomen 17q, das für die Expression des Transkriptionsfaktors HNF-1-E zuständig ist, wurde 1997 identifiziert. Da HNF-1-E funktionell mit HNF-1-D korreliert, verläuft der MODY-5 ähnlich wie der MODY-3. Patienten mit MODY-5 weisen häufig Abnormalitäten im Bereich der Nieren-Harnwege sowie der inneren Genitale auf. Auch ein MODY-6 wurde beschrieben, bei dem ein Gendefekt am Chromosomen 2q32 vorliegt. Betroffen ist die Expression des Transkriptionsfaktors »Neurogenic Differentiation 1« (NeuroD 1), der als Regulator der Transkription des Insulingens wirkt. Es ist damit zu rechnen, dass, nachdem bereits ein MODY-7 beschrieben wurde, weitere MODY-Typen identifiziert werden. In . Tabelle 1.4 werden die genetischen und klinischen Charakteristika der MODY-Typen-1 bis 5 dargestellt. Ein Diabetestyp mit Punktmutationen an mitochondraler Desoxyribonukleinsäure (DNS), der mit Diabetes und Taubheit assoziiert ist, wurde 1997 beschrieben. Auch genetische Defekte, bei denen die Unfähigkeit vorliegt, Proinsulin in Insulin umzuwandeln, sowie autosomal vererbbare Störungen der Insulinsynthese mit verminderter Rezeptorbindung konnten bislang identifiziert werden. Genetische Defekte der Insulinwirkung Genetisch bedingte Defekte der Insulinwirkung wurden ebenso beschrieben. Die Veränderungen am Insulinrezeptor bewirken metabolische Störungen, die von milder Hyperglykämie bis zum symptomatischen Diabetes reichen. Als Typ-AInsulinresistenz wird eine Form bezeichnet, die mit einer Acanthosis nigricans, bei Frauen mit Virilisierung und Ovarialzysten (PCOS) assoziiert ist. Weitere seltene Syndrome mit Mutationen am Insulinrezeptor-Gen sind der Leprechaunis-mus und das Rabson-Mendenhall-Syndrom. Beide Entitäten weisen eine extreme Insulinresistenz auf. Krankheiten des exokrinen Pankreas Jeder Krankheitsprozess, der zu ausgedehnten Gewebszerstörungen der Bauchspeicheldrüse führt, kann einen Diabetes hervorrufen. Ursachen können entzündliche, metabolische, traumatische oder tumoröse Pankreaserkrankungen sein (. Tabelle 1.2). Von besonderer Bedeutung ist bei Kindern und Jugendlichen der Diabetes bei zystischer Fibrose. Etwa 15–30% der 15–25 Jahre alten Patienten mit Mukoviszidose entwickeln einen Diabetes.
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Kapitel 1 · Definition und Klassifikation des Diabetes bei Kindern
Endokrinopathien Bei Krankheiten, die mit einer Überproduktion der kontrainsulinären Hormone Kortisol, Glukagon, Noradrenalin und Wachstumshormon einhergehen, kann ebenfalls ein Diabetes auftreten. Das ist z. B. der Fall bei Akromegalie, Cushing-Syndrom, Glukagonom und Phäochromozytom aber auch Hyperthyreose (. Tabelle 1.2). Medikamenten- oder chemikalieninduzierter Diabetes Viele Medikamente, Hormone und Gifte können die Insulinsekretion vermindern und/oder die Insulinwirkung beeinträchtigen. Wegen der ausgeprägten Diabetogenität vieler Immunsuppressiva gewinnt der medikamenteninduzierte Diabetes in Zusammenhang mit den Fortschritten in der pädiatrischen Transplantationsmedizin zunehmend an Bedeutung (Übersicht . Tabelle 1.2). Infektionen Bei Infektionen mit bestimmten Viren kann eine E-Zellzerstörung auftreten. Diabetes kommt gehäuft bei Patienten mit Röteln-Embryopathie vor. Andere Viren, von denen man annimmt, dass sie einen Diabetes induzieren können, sind das Coxsackie-B-Virus, Cytomegalievirus, Adenovirus und Mumpsvirus. Im Gegensatz zu den Virusinfektionen haben weder die Impfungen selbst noch der Impfzeitpunkt einen Einfluss auf die Entstehung eines Diabetes. Seltene immunvermittelte Diabetesformen Das Stiff-man-Syndrom ist eine Autoimmunerkrankung des Zentralnervensystems, bei der hohe Titer von GAD-Antikörpern auftreten. Etwa die Hälfte der Patienten entwickelt einen Diabetes. Bei Patienten, die eine Interferon-D-Therapie erhalten, wurden erhöhte Inselzellantikörper nachgewiesen, die zu erheblichen Insulinmangel führen können. Anti-Insulin-Rezeptor-Antikörper können Diabetes hervorrufen und sind bei Patienten mit systematischem Lupus erythematodes und anderen Autoimmunerkrankungen nachgewiesen worden. Wie in anderen Fällen von ausgeprägter Insulinresistenz weisen Patienten mit Anti-Insulin-Rezeptor-Antikörpern oft eine Acanthosis nigricans auf. Dieses Syndrom wurde auch als Typ-B-Insulinresistenz bezeichnet. Andere genetische Syndrome, die gelegentlich mit Diabetes assoziiert sind Bei vielen genetischen Syndromen kann ein Diabetes auftreten. Dazu gehören z. B. die Trisomie 21, das Klinefelter-Syndrom und das Ullrich-Turner-Syndrom. Auch einige hereditäre neuromuskuläre Krankheiten wie die FriedreichAtaxie, die Huntington-Chorea und die myotone Dystrophie sind gelegentlich mit Diabetes assoziiert.
1
11
1.2 · Klassifikation
Das Wolfram-Syndrom ist eine autosomal-rezessiv vererbbare Krankheit, bei der ein insulinpflichtiger Diabetes bereits in der ersten Lebensdekade auftritt. Weitere Störungen der auch als DIDMOAD-Syndrom (»Diabetes-insipidusDiabetes-mellitus-Optic-Atrophy-Deafness-Syndrome«) bezeichneten Krankheit sind Hypogonadismus, Diabetes insipidus, Opticusatrophie und Taubheit sowie zunehmende neurologische und mentale Defizite während der dritten und vierten Lebensdekade. 1994 konnte das Gen auf dem kurzen Arm des Chromosoms 4 lokalisiert werden. Es wurde inzwischen isoliert und als WolframinGen bezeichnet. Das Prader-Labhart-Willi-Syndrom ist durch extreme Adipositas und einen während der zweiten Dekade auftretenden Typ-2-Diabetes charakterisiert, der meist insulinpflichtig ist. Etwa 50% der Patienten zeigen eine interstitielle Deletion am langen Arm des Chromosoms 15. Das deletierte Chromosom stammt immer vom Vater. Bei Patienten ohne Deletion wurde eine uniparenterale Disomie des Chromosomens 15 nachgewiesen. Gestationsdiabetes Als GDM wird jeder Grad einer gestörten Glukosetoleranz während der Schwangerschaft bezeichnet.
. Tabelle 1.4 Klassifikation der 5 häufigsten MODY-Typen. (Nach Laron 2002) MODY-TYP
MODY-1
MODY-2
MODY-3
MODY-4
MODY-5
Genetischer Defekt
HNF-4-D
Glukokinase
HNF-1-D
IPF-1
HNF-1-E
Chromosomenort
20q
7p
12q
13q
17q
Beginn Hyperglykämie
Pubertät, junge Erwachsene
In utero, seit Geburt
Pubertät, junge
Junge Erwachsene
Wie MODY 3
AusmaE Hyperglykämie
Progressiv, kann schwer werden
Leicht, anhaltend
Progressiv, kann schwer werden
Wie MODY-1
Wie MODY-3
Mikrovaskuläre Komplikationen
Häufig
Selten
Häufig
Wenige Daten
Häufig
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Kapitel 1 · Definition und Klassifikation des Diabetes bei Kindern
! Während die Definition und die Diagnose des Diabetes mellitus nur geringfügige Modifikationen erfahren haben, musste die Klassifikation aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse während der letzten zwei Jahrzehnte mehrfach revidiert werden. Augenblicklich hat die 1997 von der American Diabetes Association vorgeschlagene und 1999 von der WHO weitgehend übernommene Klassifikation Gültigkeit. Der Pädiater muss sich nach wie vor in erster Linie mit dem Typ-1-Diabetes auseinandersetzen. Allerdings gewinnt der Typ-2-Diabetes auch für ihn zunehmend an Bedeutung. Differenzialdiagnostisch müssen zahlreiche Krankheiten in Betracht gezogen werden, die mit einer gestörten Glukosetoleranz oder Diabetes assoziiert sind.
6
Literatur
7
International Society for Pediatric and Adolescent Diabetes (ISPAD), International Diabetes Federation World Health Organisation (2000) Consensus guidelines for the management of insulin-dependent (type I) diabetes mellitus (IDDM) in childhood and adolescence. Swift PGF (ed). Medforum, Zeist/NL, www.ispad.org, deutsche Fassung: www.disetronic.de/download/0701_B_ISPAD.pdf Kerner W, Fuchs C, Redaelli M et al. (2001) Definition, Klassifikation und Diagnostik des Diabetes mellitus. In: Scherbaum WA, Lauterbach KW, Joost HG (Hrsg) Evidenzbasierte Diabetes-Leitlinien der DDG, 1. Aufl. Deutsche Diabetesgesellschaft Laron Z (2002) Type 2 diabetes mellitus in childhood – A global perspective. J Pediatr Endocrinol Metab 15: 459–469 Tattersall RB, Fajans SS (1975) A difference between the inherritance of classical juvenile-onset an maturuty-onset type diabetes in young people. Diabetes 24: 44–53 The Expert Committee on the Diagnosis and Classification of Diabetes Mellitus (1997) Report of the Expert Committee on the Diagnosis and Classification of Diabetes Mellitus. Diabetes Care 20: 1183–1197 World Health Organization (WHO) (1985) Diabetes mellitus: Report of a WHO Study Group. WHO, Technical Report Series 727, Geneva World Health Organization (WHO) (1999) Definition, diagnosis and classification of diabetes mellitus and its complications. Report of a WHO Consultation, Part 1: Diagnosis and classification of diabetes mellitus, www.staff.newcastle.ac.uk/philip.home/ who_dmc.htm
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2
Epidemiologie des Diabetes bei Kindern und Jugendlichen )) Der Diabetes mellitus ist eine der häufigsten und am weitesten verbreiteten Krankheiten. Er kommt in jeder Altersstufe und bei allen Völkern vor. Dabei entfallen etwa 90% auf den Typ-2-Diabetes, nur 10% auf den Typ-1-Diabetes. Bei Kindern und Jugendlichen tritt vorwiegend der Typ-1-Diabetes auf. Trotz großer geographischer Inzidenzunterschiede wird weltweit eine deutliche Zunahme des Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen beobachtet. Der Typ-2-Diabetes kommt während der Kindheit und Jugend selten vor. In den letzten Jahren wurde eine Inzidenzzunahme beschrieben, die allerdings v. a. bestimmte ethnische Gruppen betrifft. Bei Erwachsenen wird dagegen eine dramatische Prävalenzzunahme des Typ-2-Diabetes beobachtet, insbesondere in den bevölkerungsreichen Gebieten Asiens. In den nächsten 10 Jahren wird mit einer Inzidenzzunahme von fast 50% gerechnet.
2.1
Häufigkeit des Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen
)) Epidemiologische Daten über die Prävalenz des Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen in verschiedenen Ländern zeigen ausgeprägte regionale Unterschiede. Während des ersten Lebensjahres tritt dieser Diabetestyp extrem selten auf. Die Inzidenz nimmt mit dem Alter zu und erreicht einen kleineren Häufigkeitsgipfel um das 4. Lebensjahr, einen sehr viel ausgeprägteren zwischen dem 10. und 12. Lebensjahr. Jungen und Mädchen sind gleich häufig betroffen.
2.1.1
Prävalenz und Inzidenz weltweit
Schon während der 60er und 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts wurden große Unterschiede der Prävalenzdaten über den Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen in verschiedenen Ländern gefunden.
14
2 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
Kapitel 2 · Epidemiologie des Diabetes bei Kindern und Jugendlichen
Am häufigsten schien der Diabetes in Finnland und Schweden zu sein. Seltener trat die Krankheit in Frankreich auf. Zunächst schien sich daher, zumindest für Europa, ein nicht erklärbares Nord-Süd-Gefälle abzuzeichnen. Nachdem die Zahl der verfügbaren Prävalenz- und Inzidenzdaten jedoch deutlich zugenommen hatte, konnte die These vom Nord-Süd-Gefälle nicht mehr aufrecht erhalten werden (z. B. hohe Inzidenz auf Sardinien, niedrige in Irland). Bestätigt wurden dagegen immer wieder die ausgeprägten regionalen Unterschiede. Während der 80er und 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts wurden mehrere internationale Arbeitsgruppen gegründet, um Standardkriterien für die Inzidenzregister des Typ-1-Diabetes zu definieren. So erfolgt z. B. die Datenerhebung zur Überprüfung der Erfassungsgenauigkeit durch mindestens zwei voneinander unabhängige Datenquellen. Ein weiteres Standardkriterium ist eine mehr als 90%ige Erfassungsvollständigkeit. Die im Jahre 2000 veröffentlichten Inzidenzdaten für Kinder bis 14 Jahre reichen von 3,2 Manifestationen/100.000/Jahr im ehemaligen Jugoslawien bis zu 40,2 Manifestationen/100.000/Jahr in Finnland. Die mittlere Inzidenzrate beträgt für Europa als Gesamtheit 12,9/100.000/Jahr. In . Abb. 2.1 sind die in den ISPAD Consensus Guidelines 2000 publizierten Inzidenzraten für Kinder bis 14 Jahre dargestellt. Die Inzidenzhäufigkeit variiert nicht nur zwischen verschiedenen Ländern (z. B. Korea vs. Finnland), sondern auch innerhalb einzelner Länder (z. B. Italien: Lombardei vs. Sardinien). Die Inzidenzunterschiede zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen weisen auf die Bedeutung der genetischen Disposition bei der Entstehung des Typ-1-Diabetes hin. 2.1.2
Prävalenz und Inzidenz in Deutschland
Über die Diabeteshäufigkeit bei Kindern und Jugendlichen liegen für die Bundesrepublik Deutschland als Gesamtheit nach wie vor keine Daten vor. Bis 1989 wurden in der ehemaligen DDR sehr genaue Prävalenz- und Inzidenzdaten erhoben. Wegen fehlender Sekundärdatenquelle wurden sie jedoch nicht in die EURODIAB-Dokumentation aufgenommen. Seit 1992 werden Manifestationen des Typ-1-Diabetes bei Kindern unter 5 Jahren durch eine »Erhebungseinheit für seltene Erkrankungen im Kindesalter« registriert (ESPED). Die Erfassungsgenauigkeit der postalischen Umfrage wird auf 76% geschätzt. Für das Jahr 1999 wurde die Inzidenzrate der 0- bis 4-Jährigen mit 9.7/100.000 angegeben. Zwei deutsche Erfassungseinheiten sind dem EURODIAB-Verbund angegliedert: das Register zur Erfassung des Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen in der Region Düsseldorf (Diabetes-Forschungsinstitut Düsseldorf, DFI) und das Register für das Bundesland Baden-Württemberg (Universitätskinderklinik Tübingen) (EURODIAB ACE Study Group 2000).
2.1 · Häufigkeit des Typ-1-Diabetes
15
. Abb. 2.1 Jährliche Inzidenzraten für Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen (0– 14 Jahre) in verschiedenen Regionen der Welt. (Nach ISPAD 2000)
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Kapitel 2 · Epidemiologie des Diabetes bei Kindern und Jugendlichen
Das DFI erfasst seit 1993 Manifestationen des Typ-1-Diabetes bei Kindern unter 15 Jahren in der Region Düsseldorf. Im Zeitraum 1993–1994 betrug die Inzidenzrate 14,0/100.000/Jahr. Im Jahre 1999 wurden in dieser Region 443 Manifestationen erfasst. Daraus errechnet sich für 1999 die noch höhere Inzidenz von 15,1/100.000. In den Jahren 1987–1998 wurden in Baden-Württemberg 2.525 Kinder unter 15 Jahren mit Manifestation eines Typ-1-Diabetes erfasst. Die Inzidenzrate für Typ-1-Diabetes betrug für diesen Zeitraum damit 12,9/100.000/Jahr. Die höchste Inzidenzrate wurde 1998 mit 15,6/100.000, die niedrigste 1989 mit 9,2/100.000 ermittelt. Jungen und Mädchen zeigten hinsichtlich der Inzidenzrate keine signifikanten Unterschiede. Die Inzidenz nahm mit zunehmenden Alter deutlich zu. Bei den 0- bis 4-Jährigen betrug die Inzidenzrate 8,17, bei den 5- bis 9-Jährigen 13,54 und bei den 10- bis 14-Jährigen 16,89/100.000/Jahr. In Baden-Württemberg wurde zum 31.12.1998 eine Prävalenz von 82/100.000 Kinder unter 15 Jahre ermittelt. Sie liegt deutlich höher als die in der ehemaligen DDR ermittelte von 69/100.000 Kinder und Jugendliche unter 19 Jahren. Noch höher liegen die Prävalenzdaten für den Raum Düsseldorf. Sie werden mit 130–150/100.000 Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren angegeben. Zusammenfassung
10 11 12 13 14 15
Es ist sehr problematisch, mit Hilfe der Prävalenzdaten aus der ehemaligen DDR, dem Raum Düsseldorf und dem Bundesland Baden-Württemberg die Gesamtzahl der augenblicklich in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes zu ermitteln. Die Anzahl der in der bundesweiten DPV-Wiss-Datenbank dokumentierten Patienten mit Typ-1-Diabetes unter 20 Jahren betrug etwa 15.000. Da nicht alle Patienten erfasst sind, muss die Gesamtzahl der Kinder und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes in Deutschland deutlich mehr als 15.000, aber eher weniger als 20.000 betragen. Wie groß die Zahl der Kinder und Jugendlichen in Deutschland ist, die jährlich an einem Typ1-Diabetes erkranken, kann ebenfalls nur geschätzt werden. Man geht von etwa 2.000 Manifestationen pro Jahr aus.
16 17
2.1.3
Prognose
Seit Jahren wird weltweit ein deutlicher Anstieg der Manifestationshäufigkeit des Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen beobachtet. So konnte eine Zunahme der jährlichen Inzidenzraten im Zeitintervall 1966 bis 1986 bei 0bis 14-jährigen Kindern in Finnland (+ 3,4%), Schweden (+ 3,7%), Norwegen (+ 2,8%), Polen (+ 5,6%), Österreich (+ 5,1%), England (+ 2,6 bis 12,2%) und
2.1 · Häufigkeit des Typ-1-Diabetes
17
2
. Abb. 2.2 Anstieg der Inzidenzraten für Typ-1-Diabetes bei finnischen Kindern und Jugendlichen im Zeitraum 1965–1996. (Nach Tuomulehto et al. 1999)
Neuseeland (+10,1%) nachgewiesen werden. Die dramatische Zunahme der Inzidenz des Typ-1-Diabetes bei finnischen Kindern über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren (1965–1996) zeigt . Abb. 2.2. Wie die Erhebungen aus Finnland zeigen, ist für eine verlässliche Trendanalyse wegen der jährlichen Inzidenzschwankungen ein mindestens zehnjähriger Bebachtungszeitraum notwendig. Bei der Erhebung in Baden-Württemberg wurde zwischen 1987 und 1998 ein Gesamtanstieg der Inzidenz um 47% beobachtet. Daraus ergibt sich eine jährliche Zunahme von 3,6%. Dieser Trend ist bei Jungen und Mädchen gleich ausgeprägt. Wenn die beobachtete Entwicklung in den nächsten Jahren anhält, wird unter Annahme einer linearen Regression die Inzidenzrate im Jahr 2010 bei 20,3/100.000, im Jahr 2020 bei 24,7/100.000 Kindern und Jugendlichen liegen. Das entspricht einer Verdoppelung der Inzidenzrate für Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen innerhalb von 20 Jahren. Zusammenfassung In den nächsten Jahren muss mit einem Inzidenzanstieg für Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen gerechnet werden. Ob er wirklich so ausgeprägt sein wird wie prognostiziert, muss abgewartet werden.
18
2 2 3 4
2.2
Kapitel 2 · Epidemiologie des Diabetes bei Kindern und Jugendlichen
Häufigkeit des Typ-2-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen
Seit einigen Jahren scheint die Prävalenz des Typ-2-Diabetes v.a. während der zweiten Lebensdekade zuzunehmen. Betroffen sind vorwiegend Jugendliche bestimmter ethnischer Gruppen. Neben der genetischen Disposition werden Änderungen des Lebensstils (unbegrenzte Verfügbarkeit kalorienreicher Kost, Bewegungsmangel, Übergewicht oder Adipositas) im Rahmen der Globalisierung und Industrialisierung als Ursache angesehen. In Deutschland ist ein Typ2-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen nach wie vor eine Seltenheit.
5
2.2.1
Prävalenz weltweit
6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
Bis in die 1990er Jahre hinein ging man davon aus, dass bei Kindern und Jugendlichen fast ausschließlich der Typ-1-Diabetes auftritt. Inzwischen liegen jedoch, insbesondere aus den USA, Daten vor, die belegen, dass sehr viel mehr Kinder und v. a. Jugendliche mit neuentdecktem Diabetes einen Diabetestyp aufweisen, der weder autoimmunologisch verursacht ist wie der Typ-1-Diabetes noch einen Gendefekt aufweist wie z.B. der MODY. Er muss daher dem Typ-2-Diabetes zugeordnet werden. Die bis 2000 vorliegenden Ergebnisse aus den USA zeigen, dass die erheblichen Prävalenz- und Inzidenzunterschiede in erster Linie rassisch-ethnisch bedingt sind. Am stärksten betroffen waren Kinder und Jugendliche aus Minderheitenpopulationen (Angehörige indianischer, afrikanischer, asiatischer und hispanischer Herkunft). Bei 56-92% der Kinder und Jugendlichen mit Typ-2-Diabetes lag eine Acanthosis nigricans vor. Sie ist durch eine Verdickung und Überpigmentierung der Haut im Nacken, in der Axilla und an den intertriginösen Hautfalten charakterisiert und weist auf eine Insulinresistenz hin (7 Kap. 14). Die Inzidenzrate des Typ-2-Diabetes ist bei kaukasischen Kindern und Jugendlichen in den USA nach wie vor niedrig. In Japan wurde ebenfalls eine deutliche Zunahme des Typ-2-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen beobachtet. Die jährliche Inzidenz des Typ-2-Diabetes stieg unter japanischen Schulkindern von 7,3/100.000/Jahr in den Jahren 1976–1980 auf 12,1/100.000/Jahr im Zeitraum 1981–1985 und 13,9/100.000/Jahr in den Jahren 1991–1995. In Japan erkranken inzwischen etwa 80% aller Kinder und Jugendlichen mit Diabetes an einem Typ-2-Diabetes, während die Inzidenz des Typ-1-Diabetes nach wie vor sehr niedrig ist.
2.2 · Häufigkeit des Typ-2-Diabetes
2.2.2
2
19
Prävalenz in Deutschland
Es wurde angenommen, dass auch in Deutschland in den nächsten Jahren ein Anstieg des Typ-2-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen nachweisbar wird. Zum augenblicklichen Zeitpunkt ist das Ausmaß jedoch nicht einzuschätzen. Obwohl in Deutschland genauso wie in den USA, England und anderen Wohlstandsländern in den letzten Jahren eine deutliche Zunahme des Körpergewichts bei Kindern und Jugendlichen nachgewiesen wurde, liegen die Prävalenzdaten für Typ-2-Diabetes offenbar deutlich unter denen der beschriebenen Minderheitenpopulationen in den USA. Die Daten aus 120 pädiatrischen Einrichtungen, die in der bundesweiten DPVWiss-Datenbank (Stand Mai 2001) gesammelt wurden (. Tabelle 2.1), zeigen, dass von insgesamt 14.919 Patienten unter 20 Jahren nur 72 (0,48%) einen Typ2-Diabetes aufweisen. Dem stehen immerhin 40 Patienten (0,27%) mit einem MODY gegenüber, der bisher nur bei Patienten kaukasischer Herkunft beschrieben worden ist. Bei 98% der Kinder und Jugendlichen wurde dagegen ein Typ1-Diabetes diagnostiziert. Das stimmt mit der immer wieder zitierten Annahme überein, dass nur bei 1–2% aller diabetischen Kinder und Jugendlichen ein nichtautoimmunologisch bedingter Diabetes nachzuweisen ist. Die Daten sollten dazu beitragen, häufiger als bisher zu untersuchen, welcher Diabetestyp bei einem neu an Diabetes erkrankten Kind oder Jugendlichen vorliegt.
. Tabelle 2.1 Anzahl der in der DPV-Wiss-Datenbank dokumentierten Kinder und Jugendlichen mit Diabetes (Alter <20 Jahre). Aufschlüsselung nach Diabetestyp (Stand 2001). (Nach Holl et al. 2001) Diabetestyp
Patienten
Typ-1-Diabetes
14.919
Diabetes mellitus bei Pankreaserkrankungen (Mukoviszidose, Pankreatitis etc.)
86
Typ-2-Diabetes
72
MODY-Diabetes
40
Hormonell/medikamentös bedingter Diabetes
26
Mit Diabetes assoziierte Syndrome
29
Sonstige Diabetesformen (konnataler Diabetes, Hämosiderose, mitochondrialer Diabetes, Insulinrezeptormutation)
16
20
2 2 3 4
Kapitel 2 · Epidemiologie des Diabetes bei Kindern und Jugendlichen
Zusammenfassung Aufgrund der vorliegenden Datenlage ist es fraglich, ob in Deutschland mit einer starken Zunahme der Inzidenz und Prävalenz des Typ-2-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen zu rechnen ist. Nachgewiesen ist bisher nur, dass Jugendliche bestimmter ethnischer Minderheiten mit dem Risiko belastet sind, unter bestimmten Voraussetzungen (Adipositas, Acanthosis nigricans) an einem Typ-2-Diabetes zu erkranken. Allerdings sollte häufiger als bisher bei Kindern und Jugendlichen mit neuentdecktem Diabetes untersucht werden, welcher Diabetestyp vorliegt, ein Typ-1- oder Typ-2-Diabetes oder ein MODY.
5 6
2.3
7
Man kann davon ausgehen, dass die Diabetesprävalenz von weltweit 151 Mio im Jahre 2000 um 46% auf 221 Mio im Jahre 2010 zunehmen wird. In . Abb. 2.3 sind die Prävalenzdaten für Nord- und Südamerika, Europa, Afrika, Asien und Australien dargestellt. Etwa 90% der Patienten weisen einen Typ-2-Diabetes auf, 10% einen Typ-1-Diabetes.
8 9
Häufigkeit des Diabetes bei Erwachsenen
10 11 12 13 14 15 16 17
. Abb. 2.3 Geschätzte Zahl der Menschen mit Diabetes (in Mio) in den Erdteilen in den Jahren 2000 und 2010 sowie der prozentuale Prävalenzanstieg für Diabetes. Gesamte Erde: 2000: 151 Mio; 2010: 221 Mio; prozentualer Anstieg um 46%. (Nach Zimmet et al. 2001)
2.3 · Häufigkeit des Diabetes bei Erwachsenen
21
2
Die größte Zunahme der Diabeteshäufigkeit betrifft nichteuropäische Populationen. Das größte Potenzial für eine Zunahme des Typ-2-Diabetes liegt in Asien. Welche Ursachen werden für diese Typ-2-Diabetes-Epidemie ins Feld geführt? Unstrittig ist die ätiologische Bedeutung der genetischen Belastung in bestimmten ethnischen Gruppen sowie die mit Überernährung und Bewegungsmangel einhergehenden Veränderungen des Lebensstils mit Übergewicht bzw. Adipositas als Konsequenz Zusammenfassung Bei Kindern und Jugendlichen tritt vorwiegend der autoimmunologisch bedingte Typ-1-Diabetes auf. Prävalenz und Inzidenz sind regional sehr unterschiedlich. Für Deutschland als Gesamtheit liegen nach wie vor keine Prävalenzdaten vor. Man geht davon aus, dass in Deutschland zum augenblicklichen Zeitpunkt etwa 20.000 Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes leben und jährlich etwa 2.000 Manifestationen auftreten. Die Inzidenzdaten der letzten Jahre machen es sehr wahrscheinlich, dass die Häufigkeit des Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen deutlich zunimmt. Ein Typ-2-Diabetes ist bei Kindern und Jugendlichen kaukasischer Herkunft selten. Nur 1–2% dieser Patienten mit neudiagnostiziertem Diabetes weisen einen Typ-2-Diabetes auf. Allerdings tritt ein Typ-2-Diabetes bei Mitgliedern bestimmter ethnischer Gruppen sehr viel häufiger auf. Hohe Prävalenzdaten liegen v. a. von Jugendlichen indianischer, afrikanischer, asiatischer und hispanischer Herkunft in den USA (8–45% aller Patienten mit Diabetes), aber auch aus Japan (80% aller Patienten) vor. Neben der genetischen Disposition sind Übergewicht bzw. Adipositas und Bewegungsmangel auch bei Jugendlichen die wichtigsten Risikofaktoren für die Entstehung eines Typ-2-Diabetes. Weltweit wird bei Menschen aller Altersgruppen eine dramatische Zunahme der Prävalenz des Diabetes mellitus beobachtet. Sie betrifft v. a. den Typ-2-Diabetes. Man geht heute von einer Zunahme von 151 Mio Patienten mit Diabetes im Jahre 2000 auf 221 Mio im Jahre 2010 aus. Als Ursache dieser Epidemie werden Veränderungen des Verhaltens und Lebensstils angesehen, die sowohl Überernährung wie Bewegungsmangel und in weiterer Konsequenz Adipositas, Insulinresistenz und Typ-2-Diabetes zur Folge haben.
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Kapitel 2 · Epidemiologie des Diabetes bei Kindern und Jugendlichen
Literatur American Diabetes Association (2000) Type 2 diabetes in children and adolescents. Diabetes Care 23: 381–389 EURODIAB ACE Study Group (2000) Variation and trends in incidence of childhood diabetes in Europa. Lancet 355: 873–876 Fagot-Campagna A, Flegal KM, Saaddine JB, Beckles GLA (2001) Diabetes, impaired fasting glucose, and elevated HbA1c in US adolescents: the third national health and nutrition examination survey. Diabetes Care 24: 834–37 Holl RW, Wabitsch M, Heinze E (2001) Typ-2-Diabetes mellitus bei Kindern und Jugendlichen. Monatsschr Kinderheilkd 149: 660–669 ISPAD (International Society for Pediatry and Adolescent Diabetes Federation World Health Organisation) (2000) Consensus guidelines for the management of insulindependent (type 1) diabetes mellitus (IDDM) in childhood and adolescence. Swift PGF (ed). Medforum, Zeist/NL, www.sipad.org, deutsche Fassung www.disetronic. de/download/0701_B_ISPAD.pdf Neu A, Willasch A, Ehehalt S, Kehrer M, Hub R, Ranke MB (2001) Häufigkeit des Diabetes mellitus im Kindesalter in Deutschland. Monatsschr Kinderheilkd 149: 636–640 Tuomilehto J, Karvonen M, Pitkaniemi J et al. (1999) Record-high incidence of type I (insulin-dependent) diabetes mellitus in Finnish children. The Finish Childhood Type I Diabetes Registry Group. Diabetologia 42: 655–660 Zimmet P, Alberti KGMM, Shaw J (2001) Global and societal implications of the diabetes epidemic. Nature 414: 782–787
23
3
Ätiopathogenese des Typ-1-Diabetes )) Genetische Faktoren, Virusinfektionen und andere exogene Faktoren sowie autoimmunologische Prozesse wirken bei der Entstehung des Typ-1-Diabetes in bisher nicht vollständig geklärter Weise zusammen.
3.1
Genetik
Man weiß heute, dass der Typ-1-Diabetes eine komplexe genetische Krankheit ist, bei der multiple Gene mit nicht genetischen Faktoren interagieren. Das Risiko, an Diabetes zu erkranken, ist für Verwandte von Patienten mit einem bereits bestehendem Diabetes größer als für einen Menschen, in dessen Familie kein Diabetes nachweisbar ist. Da nahe Verwandte ähnlichen Umweltfaktoren ausgesetzt sind, könnten diese auch als Erklärung des gehäuften familiären Auftretens herangezogen werden. Vergleichende Untersuchungen von monozygoten (100% gemeinsame Gene) und dizygoten Zwillingen (im Schnitt 50% gemeinsame Gene) konnten diese Annahme jedoch widerlegen, da Zwillinge vergleichbaren prä- und postnatalen Umwelteinflüssen ausgesetzt sind. Die Konkordanzrate für Typ-1-Diabetes bei eineiigen Zwillingen erlaubt auch eine Abschätzung der nichtgenetischen Einflussfaktoren. Sie beträgt etwa 34% bis zum Alter von 30 Jahren, 43% innerhalb von 12 Jahren nach Erkrankung des Indexpatienten und nur 50% 40 Jahre nach Manifestation des ersten Zwillings. Diese hohe Diskordanzrate belegt, dass etwa die Hälfte der Variabilität durch andere ätiologische Faktoren erklärt wird. Genetische Faktoren spielen offenbar auch eine Rolle für das Manifestationsalter. Während eineiige Zwillingspaare eine hohe Korrelation im Manifestationsalter zeigten, lag diese bei Nicht-Zwillingsgeschwistern deutlich niedriger. Die Bedeutung hereditärer Faktoren ist für die Entstehung der verschiedenen Diabetestypen (Typ 1, Typ 2, Gestationsdiabetes) unterschiedlich zu bewerten. Eindeutig ist die Situation bei den Diabetesformen zu bewerten, für die lokalisierte genetische Defekte in der Regulation der Insulinsekretion, der E-Zellmasse oder der Insulinsensitivität identifiziert wurden. Die klinische Symptomatik
24
2
Kapitel 3 · Ätiopathogenese des Typ-1-Diabetes
dieser Krankheit reicht von Glukosetoleranzstörungen bis zum manifesten Diabetes mellitus.
2
3.1.1
3
! Da nach allen bis heute vorliegenden genetischen Studien die Diabeteshäufigkeit
4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
Erbmodus
geringer ist als nach einem monogenetischen Erbgang zu erwarten wäre, geht man heute von einem multifaktoriellen Erbmodus aus. Darunter versteht man die Vererbung einer Erkrankung durch mehr als ein Gen. Die Zahl der krankhaft veränderten Gene ist unterschiedlich groß, und die Gene sitzen an unterschiedlichen Orten (Loci) verschiedener Chromosomen. Ganz bestimmte Genkonstellationen können dann zu der Stoffwechselstörung führen, die sich als Diabetes manifestiert.
Man geht davon aus, dass selbst der Typ-1-Diabetes eine genetisch heterogene Krankheit ist und somit unterschiedliche genetische Faktoren bei einzelnen Patienten zum Tragen kommen. Die Analyse des Erbmodus wird dadurch zusätzlich erschwert, dass der Typ1-Diabetes eine genetisch komplexe Krankheit ist, bei der zahlreiche Gene mit nichtgenetischen Faktoren (z. B. Umweltfaktoren) interagieren. Ein Beweis für die Notwendigkeit präzipitierender nichtgenetischer Faktoren ist die deutlich unter 100% liegende Konkordanzrate monozygoter Zwillinge. Während der letzten 10 Jahre sind über 20 Typ-1-Diabetes-prädisponierende Gene durch Kopplungs- und Assoziationsstudien identifiziert worden, die sich über das gesamte Genom verteilen (. Tabelle 3.1). Während die HLA-Region ungefähr die Hälfte des genetischen Risikos erklärt, sind die Effekte der übrigen bislang identifizierten Gen-Loci schwach. Dieses kann darin begründet sein, dass der Effekt nur in einer kleinen Untergruppe von Patienten mit Typ-1-Diabetes vorhanden ist oder ein Empfänglichkeitsgen nur zu einem geringen Anstieg des Risikos führt, obwohl es häufig vorkommt. Daher ist die Indentifikation der einzelnen genetischen Faktoren sehr schwierig und oft widersprüchlich. Auch für den Typ-2-Diabetes wird ein multifaktorieller Erbgang angenommen. Der Typ-2-Diabetes wird fast ausschließlich durch hereditäre Faktoren determiniert, während für die Entstehung des Typ-1-Diabetes nichtgenetische Faktoren eine mindestens ebenso wichtige Rolle spielen. 3.1.2
Erbrisiko
Wegen der genetischen Heterogenität des Diabetessyndroms kann das Risiko, an Diabetes zu erkranken, nur geschätzt werden. Eine Reihe neuerer Studien gibt Auskunft darüber, wie heute das Risiko, an Typ-1-Diabetes zu erkranken,
25
3.1 · Genetik
3
. Tabelle 3.1 Gegenwärtiger Kenntnisstand vermuteter genetischer Loci, die mit einer erhöhten Empfänglichkeit für Typ-1-Diabetes assoziiert sind. (Nach Field 2002) Locus
Lokalisation
Marker
IDDM 1
6p21.3
HLA-DRB1, DQB1, DQA1
IDDM 2
11p15
INS VNTR
IDDM 3
15q26
D15S107
IDDM 4
11q13
FGF3, D11S1337
IDDM 5
6q25
ESR
IDDM 6
18q21
JK, D18S487
IDDM 7
2q31
HOXD8, D2S152
IDDM 8
6q27
D6S264, D6S446
IDDM 9
3q21-q25
D3S1576
IDDM 10
10p11-q11
D10S193
IDDM 11
14q24.3-q31
D14S67
IDDM 12
2q33
CTLA4
IDDM 13
2q35
D2S164
IDDM 14
–
–
IDDM 15
6q21
D6S283
IDDM 16
14q32.3
D14S542, IGH
IDDM 17
10q25
D10S554
IDDM 18
5q33-q34
IL12B
Unbenannt
1q42
D1S1617
Unbenannt
16q22-q24
D16S3098
Unbenannt
19p13
D19S247
Unbenannt
19q13
D19S225
Unbenannt
Xp13-p11
DXS1068
Unbenannt
7p13
GCK
Unbenannt
12q14-q15
IFNG
zu beurteilen ist (. Tabelle 3.2). Während man früher davon ausging, dass die Manifestation eines Typ-1-Diabetes üblicherweise bis zum 30. Lebensjahr auftrat (juveniler Diabetes), belegen immunologische Studien heute, dass viele ursprünglich als Typ-2-Diabetes klassifizierte Patienten einen spät manifestierenden Typ-1-Diabetes aufweisen. Wenn bei allen Diabetespatienten eine immunologische oder genetische Diagnostik durchgeführt würde, müssten die Inzidenz- und Prävalenzdaten für Typ-1-Diabetes sicher nach oben korri-
26
Kapitel 3 · Ätiopathogenese des Typ-1-Diabetes
2
. Tabelle 3.2 Geschätztes Risiko für die Entwicklung von Diabetes (American Diabetes Association 2001)
2
Diabetesvorkommen in der Familie
Geschätztes Risiko
Kein Diabetes in der Familie
11%iges Risiko für einen Typ-2-Diabetes im Alter von 70 Jahren
3 4 5 6 7
Ein Elternteil mit Typ-1-Diabetes (rund 2 mal höheres Risiko, wenn die Diagnose vor dem 11. Lebensjahr gestellt wurde) 5 Vater 5 Mutter, wenn sie bei Geburt < 25 Jahre alt war ≥ 25 Jahre alt war
10 11 12 13 14
10%iges Risiko für einen Typ-1-Diabetes im Alter von 50 Jahren
Eineiige Zwillinge mit Typ-1-Diabetes
25–50%iges Risiko für einen Typ-1-Diabetes
Ein Elternteil mit Typ-2-Diabetes 5 vor dem 50. Lebensjahr diagnostiziert 5 nach dem 50. Lebensjahr diagnostiziert Beide Elternteile mit Typ-2-Diabetes 5 bei beiden vor dem 50. Lebensjahr diagnostiziert 5 bei beiden nach dem 50. Lebensjahr diagnostiziert 5 Gesamtrisiko
15 16 17
4%iges Risiko für einen Typ-1-Diabetes 1%iges Risiko für einen Typ-1-Diabetes
Geschwister mit Typ-1-Diabetes
8 9
6%iges Risiko für einen Typ-1-Diabetes
Geschwister mit Typ-2-Diabetes 5 vor dem 50. Lebensjahr diagnostiziert 5 nach dem 50. Lebensjahr diagnostiziert 5 eineiige Zwillinge mit Typ-2-Diabetes
15%iges Risiko für einen Typ-2-Diabetes 7–8%iges Risiko für einen Typ-2-Diabetes
5 25%iges Risiko für einen Typ-2-Diabetes vor dem 50. Lebensjahr 5 15%iges Risiko für einen Typ-2-Diabetes nach dem 50. Lebensjahr 5 45%iges Risiko für einen Typ-2-Diabetes im Alter von über 65 Jahren 5 14%iges Risiko für einen Typ-2Diabetes 5 7–8%iges Risiko für einen Typ-2Diabetes 5 58–75%iges Risiko für einen Typ-2Diabetes
3.1 · Genetik
27
3
giert werden. Bisher werden jedoch üblicherweise die Berechnungen bis zum 30. Lebensjahr angegeben. Die Prävalenz des Typ-1-Diabetes liegt für Kaukasier bis zum 30. Lebensjahr bei 0,4%. Die Prävalenz beträgt in Deutschland bis zum 15. Lebensjahr nur 0,082%. Bei Angehörigen 1. Grades eines Menschen mit Typ-1-Diabetes liegt die Prävalenz bei etwa 5%, d. h. 15-mal höher. Das Erbrisiko für Kinder beträgt ebenfalls etwa 5%, wenn nur ein Elternteil erkrankt ist. Sind Vater und Mutter erkrankt, so steigt es auf mehr als 20%. Bei Kindern erkrankter Väter entwickelt sich häufiger (5–6%) ein Typ-1-Diabetes als bei Kindern diabetischer Mütter (2–3%). Das relative Risiko für Kinder, an einem Typ-1-Diabetes zu erkranken, beträgt bei Vätern mit Diabetes etwa 6%, bei Müttern nur 1%. Das Risiko der Kinder, an Typ-1-Diabetes zu erkranken, ist v. a. dann niedrig, wenn die Mutter bei der Geburt des Kindes älter als 25 Jahre ist (über 25 Jahre: 1,1%; unter 25 Jahre: 3,6%) und während der Schwangerschaft schon an Diabetes erkrankt war (Geburt nach Diabetesmanifestation: 0%, Geburt vor Diabetesmanifestation: 7,2%). Ebenso treten diabetesassoziierte Antikörper ohne manifesten Diabetes häufiger bei Kindern von Vätern mit Diabetes auf. Die Ursachen für diese Beobachtung sind unbekannt. Diskutiert werden folgende Möglichkeiten: 1. Bei Feten mit erhöhtem Diabetesrisiko tritt häufiger ein Abort auf. 2. Der Diabetes der Mutter sowie das Alter der Mutter stellen einen gewissen Schutzfaktor für die Diabetesentwicklung beim Kind dar. Kindern von Müttern mit einem Typ-1-Diabetes, bei denen bei Geburt GAD- oder IA2-Antikörper nachweisbar sind (diaplazentar von der Mutter auf den Feten übertragen), haben ein niedrigeres Risiko, selbst Autoantikörper bzw. einen manifesten Diabetes zu entwickeln. Offenbar stellt die fetale Antikörperexposition einen Schutzfaktor für die zukünftige Entwicklung einer Inselzellautoimmunität dar. 3. Diabetes-prädisponierende Faktoren wirken weniger diabetogen, wenn sie von der Mutter vererbt werden (»Genetic imprinting«). Noch größer ist das Risiko an Diabetes zu erkranken, wenn mehrere Verwandte 1. Grades Typ-1-Diabetiker sind. Das Risiko für Geschwister eines vor dem 16. Lebensjahr erkrankten Diabetikers beträgt 5 13% an, wenn beide Eltern gesund sind, 5 25%, wenn ein Elternteil ebenfalls einen Typ-1-Diabetes hat, und 5 50%, wenn beide Eltern Diabetiker sind. 3.1.3
HLA-System
Genomweite Kopplungsanalysen haben gezeigt, dass die stärksten Diabetes-prädisponierenden Gene im gesamten Genom in der HLA-Region auf dem Chromosom 6p21.3 lokalisiert sind (einschließlich der HLA-Klasse-II-Loci HLA-DRB1,
28
2 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
Kapitel 3 · Ätiopathogenese des Typ-1-Diabetes
-DQB1, -DQA1). Sie werden daher gemeinsam als IDDM 1 bezeichnet. Allerdings ist es wegen des ausgeprägten Kopplungsungleichgewichtes (»linkage dysequilibrium«) zwischen den verschiedenen HLA-Loci schwierig, die die Empfänglichkeit vermittelnde präzise Stelle zu identifizieren. So haben DR4-Haplotypen bei Menschen mit Diabetes eine höhere Frequenz von DQB1*302 im nahe gelegenen HLA-DQB1-Locus als DR4-Haplotypen bei Kontrollen. Daher könnte DQB1 und nicht DRB1 der primäre Locus zur Vermittlung eines erhöhten Diabetesrisikos sein. Darüber hinaus kodierten verschiedene positiv mit einer Diabetesentstehung assoziierte Haplotypen (einschließlich DR4-DQB1*302) für andere Aminosäuren als Aspartat in Position 57 der DQB1-Kette, was wiederum für DQB1 als primären Empfänglichkeitslocus sprechen würde . Schließlich zeigte sich aber, dass DR4-Haplotypen, die sowohl für DRB*0401 (einem Subtyp von DR4) und DQB*0302 kodieren, diabetogener wirken als Haplotypen, die nur für einen dieser Loci kodieren. Die Empfänglichkeit wird offenbar von DRB1 und DQB1 gemeinsam vermittelt. Auch der HLA-DQA1Locus ist mit einer erhöhten Empfänglichkeit assoziiert.
! Neben den Empfänglichkeitsallelen gibt es auch protektive Allele. HLA-DR2Haplotypen, die DRB1*1505 und DQB1*0602 aufweisen, vermitteln einen starken (offenbar dominanten) Schutz vor Diabetes.
Obwohl genetische Faktoren für den Typ-2-Diabetes noch wichtiger sind als für den Typ-1-Diabetes, besteht keinerlei Beziehung zwischen dem HLA-System und dem Typ-2-Diabetes. In welcher Weise die HLA-Gene bei der Entstehung des Typ-1-Diabetes mitwirken, bleibt spekulativ. Man weiß jedoch, dass die Moleküle der MHCKlassen I und II die Immunantwort regulieren. So kontrollieren die Klasse-IMoleküle die Funktion zytotoxischer Lymphozyten bei deren Erkennung von Zielzellen, während die Klasse-II-Moleküle die Antigenpräsentation gegenüber T-Helferzellen regulieren. Solange das oder die Antigen(e), die gemeinsam mit dem HLA dem Immunsystem präsentiert werden, nicht bekannt sind, kann auch der Mechanismus, wie HLA-Gene eine erhöhte Empfänglichkeit bzw. einen Schutz vor Diabetes vermitteln, nicht aufgeklärt werden. Eine Hypothese ist, dass empfänglichkeitsvermittelnde HLA-DR- und HLADQ-Moleküle diabetogene Antigene mit niedriger Affinität binden und somit erlauben, unter Umgehung des Thymus in die Peripherie zu autoreaktiven TZellen zu gelangen. Protektive HLA-Moleküle binden dagegen diese Antigene mit hoher Affinität, sodass es im Thymus zu einer negativen Selektion autoreaktiver T-Zellen kommt. Mit diesem Modell könnte auch der dominante Effekt der protektiven Allele erklärt werden.
3.1 · Genetik
29
3
! Der Anteil der HLA-Gene an der gesamten genetischen Komponente der Autoimmunkrankheit Typ-1-Diabetes wird heute auf etwa 60% geschätzt . Zusammen mit den immunologischen Partnern der HLA-Gene (Gene für HLA-Promotoren, T-Zellrezeptoren, intrazellulären Antigenverdau und Antigentransport, Adhäsionsmoleküle, Interleukine und Immunglobuline) liegt der ätiologische Anteil über 90%.
Hervorzuheben ist, dass DR4 ein Risikogen für das frühe Auftreten des Diabetes vor dem 10. Lebensjahr zu sein scheint. DR3 zeigt eine erhöhte Assoziation mit anderen Autoimmunendokrinopathien, zirkulierenden Immunkomplexen und persistierenden Inselzellantikörpern, während DR4 durch ausgeprägte Manifestationssymptome und eine kurze Remissionsphase mit niedriger Insulinrestsekretion charakterisiert zu sein scheint. Eine weitere Sondergruppe mit unterschiedlichen Autoimmun- und HLA-Charakteristika scheint die Gruppe der Kinder mit Diabetesmanifestation vor dem 5. Lebensjahr zu sein. Die HLA-Studien haben die empirischen Daten für die Ermittlung des Erbrisikos für Typ-1-Diabetes wesentlich ergänzt. Danach liegt das Erbrisiko für HLA-identische Geschwister zwischen 10,3 und 19,2%, für Geschwister mit einem identischen Haplotyp zwischen 2,2 und 9% und für nicht-HLA-identische Geschwister zwischen 0 und 2,8%. In . Abb. 3.1 und 3.2 sind zwei Risikoanalysen von Mitgliedern einer Familie mit unterschiedlichen HLA-Allel-Kombinationen dargestellt. In . Tabelle 3.3 sind die heute verfügbaren Daten über das Erbrisiko für Typ-1-Diabetes unter Berücksichtigung der HLA-Konstellationen in nichtdiabetischen und diabetischen Familien zusammengestellt. Abschließend muss betont werden, dass die HLA-Bestimmung nur eine Aussage zum Erkrankungsrisiko erlaubt. Erst ein Nachweis von krankheitsspezifischen immunologischen Markern (z. B. Autoantikörper) und Stoffwechselmarkern (Verlust der frühen Insulinsekretion nach i.v.-Glukosebelastung etc.) erlaubt eine präzisere prognostische Aussage bzgl. einer Krankheitsmanifestation. Zusammenfassung Eine HLA-Typisierung ist nur in Studien oder zur genetischen Beratung bei familiär stark mit Typ-1-Diabetes belasteten Personen sinnvoll. Die Unsicherheit, ob ein Typ-1-Diabetes auftreten wird oder nicht, bleibt jedoch auch nach HLATypisierung bestehen. Immerhin kann gesagt werden, dass die Wahrscheinlichkeit, an Diabetes zu erkranken, für nicht-HLA-identische Geschwister sehr gering ist, dass sie für HLA-haploidentische etwas unterhalb des empirisch ermittelten Durchschnittsrisikos von 7,5% liegt und bei HLA-identischen dagegen auf etwas mehr als das Doppelte ansteigt.
30
Kapitel 3 · Ätiopathogenese des Typ-1-Diabetes
2 2 3 4 5 6 7 8 9 10
. Abb. 3.1 Risikoanalyse innerhalb einer Familie, in der ein Kind an Typ-1-Diabetes erkrankt ist. Die vier HLA-Haplotypen sind schematisch mit a und b vom Vater stammend und b und c von der Mutter stammend bezeichnet. Der Proband hat die Kombination a/c, damit lässt sich für die Geschwister das Risiko anhand gemeinsamer HLA-Haplotypen berechnen: identische Geschwister haben ein Risiko von 18–20%, halbidentische Geschwister haben ein Risiko von 3–7% und nichtidentische Geschwister ein Risiko von 1%. (Nach Badenhoop 1995)
11 12 13 14 15 16 17
. Abb. 3.2 Anwendung des Risikoschemas aus Abbildung 3.1. in einer Familie, in der die erkrankte Tochter die HLA-Allelekombination DQA1*201/*301 und DQB1*201/*302 aufweist. Der DQA1/DQB1-identische (mit dem höchsten statistischen Risiko behaftete) jüngere Bruder zeigte bei der Antikörpermessung Inselzellantikörper in einer niedrigen Titerstufe (<20 JDF Einheiten). (Nach Badenhoop 1995)
3.2 · Umweltfaktoren
3
31
. Tabelle 3.3 Risiko für Typ-1-Diabetes in Familien mit und ohne Diabetes. (Nach Bertrams 1996) Risiko für Typ-1-Diabetes in der nichtdiabetischen Bevölkerung
(%)
Durchschnittlich HLA-DR3, DR4 (DQ2, DQ8) HLA-DR4, DR4 (DQ2, DQ8) HLA-DR4, DR2 (DQ8, DQ6) HLA-DR4, DRx (DQ8, DQx) HLA-DR3, DR3 (DQ2, DQ2) HLA-DR3, x (DQ2, DQx) HLA, DRx, DRx (DQx, DQx)
0,3 2,5–4 1,7 0,07 1,7 0,3 0,15 0,02
In Familien mit Diabetes Für Geschwister Eines Kindes mit Typ-1-Diabetes 5 HLA-identisch 5 DR3, DR4 positiv 5 DR3 oder DR4 positiv 5 DR3 u. DR4 negativ 5 HLA-halbidentisch 5 HLA-different Zweier diabetischer Kinder Eines Kindes mit Diabetes und Vaters/Mutter mit Typ-1-Diabetes Eines eineiigen Zwillings 5 HLA-DR3, DR4-positiv 5 HLA-DR3, DR4-negativ
5–6 15–30 Ca. 30 Ca. 20 Ca. 15 8–12 Ca. 1 Ca. 10–15 Ca. 5–12 Ca. 50 Ca. 60 Ca. 40
3.2
Umweltfaktoren
Dass Umweltfaktoren bei der Entstehung des Typ-1-Diabetes eine wichtige Rolle spielen, zeigen vier Beobachtungen: 1. Die Konkordanz für eineiige Zwillinge beträgt nur 35–50% (HLA-DR3-, - DR4-heterozygot 70%; HLA-DR3-, -DR4-negativ 30%). 2. Migrationsstudien zeigen, dass in Populationen, die aus Ländern mit niedriger Diabetesinzidenz in Regionen mit hoher Diabetesinzidenz umsiedelten, eine steigende Inzidenz auftrat, die bald die Inzidenzrate der neuen Umgebung erreichte. 3. Die Inzidenz des Typ-1-Diabetes nimmt weltweit rasch zu. 4. Das Risiko, an Typ-1-Diabetes zu erkranken, ist geographisch unterschiedlich.
32
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Kapitel 3 · Ätiopathogenese des Typ-1-Diabetes
Umweltfaktoren können jedoch nicht nur destruktiv als Risikofaktoren, sondern auch protektiv als Schutzfaktoren den Autoimmunprozess beeinflussen. Umweltfaktoren, die als Risiko- bzw. Schutzfaktoren diskutiert werden: 5 Virusinfektionen – Coxsackie B – Zytomegalie – Mumps – Röteln – Varizellen – Poliomyelitis – Hepatitis A – Influenza – Enteroviren 5 Ernährungsfaktoren – Stilldauer kürzer als 3 Monate – Kuhmilchexposition erste 3 Monate
3.2.1
– Nitrat-, Nitrit-, Nitrosaminverbindungen – Kaffee (?) – Saccharose (?) 5 Perinatale Determinanten – Höheres Alter der Mutter – Sectio caesarea – AB0-Imkompatibilität 5 Sozialstatus der Eltern
Virusinfektionen
)) Es gilt heute als sicher, dass neben Virusinfektionen weitere Umweltfaktoren als »exogene Trigger« für die immunmediierte Zerstörung der E-Zellen verantwortlich zu machen sind.
Ein erster Hinweis für die Möglichkeit eines kausalen Zusammenhanges zwischen Virusinfektionen und Diabetesmanifestationen war die Beobachtung, dass der Typ-1-Diabetes gehäuft im Herbst und Winter auftritt und immer wieder örtliche und zeitliche Häufungen von Diabetesmanifestationen vorkommen. In diesem Zusammenhang muss die mögliche Gefahr einer Diabetesentstehung durch eine Impfung (z. B. Mumps) diskutiert werden. ! Inzwischen liegen gute epidemiologische Daten vor, die keinen Hinweis für einen Zusammenhang zwischen Impfungen und Typ-1-Diabetes ergeben haben.
3.2 · Umweltfaktoren
33
3
In der prospektiven »Diabetes Autoimmunity Study in the Young« (DAISY) aus Denver, USA, zeigt sich auch kein Zusammenhang zwischen Impfungen und dem Auftreten diabetesassoziierter Antikörper bei erstgradig verwandten Kindern von Patienten mit Typ-1-Diabetes. Zum gleichen Ergebnis kommt die deutsche BABYDIAB-Studie. Eine Untersuchung von 11- bis 13-jährigen schwedischen Schulkindern vor und nach der Masern-Mumps-Röteln-Impfung ergab ebenfalls keinen Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen dieser Impfung und E-Zell- oder Schilddrüsen-Autoimmunität. Auch für die neueren Impfungen wie Haemophilus influenzae Typ B oder Hepatitis B bzw. Abweichungen vom empfohlenen Zeitpunkt im Impfkalender fanden sich keine Hinweise für einen Zusammenhang mit einem erhöhten Risiko für Typ-1-Diabetes. Ein Beweis für die E-Zellzytotrope Wirkung des Rötelnvirus ist die Beobachtung, dass ca. 50% aller Kinder mit einer Rötelnembryopathie einen Typ1-Diabetes entwickeln. Ein wichtiger Hinweis für die Wahrscheinlichkeit der Virusgenese sind die Befunde von Yoon et al., die 1979 aus den E-Zellen eines 10-jährigen Jungen unmittelbar nach Diabetesmanifestation ein Coxsackie-B4ähnliches Virus isolieren konnten, das bei genetisch für Diabetes determinierten Mäusen ebenfalls einen Diabetes auslöste. ! In welcher Weise die Viren die E-Zellen schädigen, ist bisher nicht sicher bekannt. Wichtig ist der Befund, dass spezifische Virusinfektionen bei bestimmten Mäusestämmen Diabetes hervorrufen, bei anderen nicht. Das weist auf die Notwendigkeit einer genetischen Disposition im Zusammenhang mit Virusinfektionen hin und könnte erklären, warum die meisten Menschen, in manchen Populationen sogar alle, eine Coxsackie-B4-Infektion überstehen, ohne an Diabetes zu erkranken.
Eine Infektion der E-Zelle ist aber nicht unbedingte Vorraussetzung für eine Beteiligung von Viren an der Entstehung von Diabetes-Autoimmunität. Vorstellungen, die über die ätiopathogenetische Wirkung von Virusinfektionen entwickelt wurden: 5 Viren infizieren die E-Zellen direkt und zerstören sie 5 Viren induzieren in E-Zellen die Expression von Antigenen, die das Immunsystem als fremd erkennt. Die autoimmunologische Zerstörung der E-Zellen wird gestartet 6
34
2 2 3 4 5 6 7
Kapitel 3 · Ätiopathogenese des Typ-1-Diabetes
5 Im Sinne einer »molecular mimicry« exprimieren E-Zellen und Viren ähnliche Antigene. Das Immunsystem zerstört neben Viren auch E-Zellen (Beispiel: die Sequenzhomologie zwischen Glutamatdekarboxylase-(GAD-)Proteinen der E-Zellen und Proteinen des Coxsackie-B4-Virus) 5 Viren aktivieren MHC-Gene, sodass Klasse-II-MHC-Proteine exprimiert werden, die die autoimmunologische Zerstörung der E-Zellen induzieren 5 Viren beeinflussen direkt durch Immunmodulation die fehlgesteuerte E-zellzerstörende Immunantwort des Organismus
Zusammenfassung Virusinfektionen können, allerdings selten, E-Zellen direkt zerstören und somit kurzfristig einen Diabetes auslösen. Sehr viel häufiger scheinen Virusinfektionen einen langfristigen autoimmunologischen Zerstörungsprozess der b-Zellen zu induzieren, der einen Typ-1-Diabetes zur Folge hat
8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
3.2.2
Stilldauer und Ernährungsfaktoren
Ernährungsfaktoren werden immer wieder als Auslöser eines zum Typ-1-Diabetes führenden Autoimmunprozesses diskutiert. Unter anderem werden Nahrungsmittel mit einem hohen Gehalt an Nitrat-, Nitrit- und Nitrosaminverbindungen sowie Wasser mit hohem Nitratanteil diskutiert, aber auch ein gesteigerter Verbrauch von Kaffee oder Rohrzucker. Dabei kommt es auch auf den Zeitpunkt der Exposition von Nahrungsmitteln an. Übereinstimmend berichten die Forscher der amerikanischen DAISY- und der deutschen BABYDIAB-Studie, dass Inselzellautoimmunität häufiger bei Säuglingen auftritt, die abweichend von üblichen Ernährungsempfehlungen bereits in den ersten drei Lebensmonaten glutenhaltige Zerealien gefüttert bekommen. In der Zusammenschau epidemiologischer, klinischer und tierexperimenteller Studien erscheint der mögliche Einfluss von Kuhmilchproteinen in der Ernährung als möglicher (Mit-)Auslöser eines Typ-1-Diabetes am besten wissenschaftlich begründet zu sein. Die Kuhmilchhypothese in beiden relevanten Diabetes-Tiermodellen (BB-Ratten und NOD-Maus) untermauert. Die epidemiologischen Daten sind uneinheitlich. In einer Metaanalyse aus 13 Fall-Kontrollstudien (Finnland, Schweden, England, Australien, USA) ergab sich ein um das 1,37fach erhöhtes Risiko für eine Stilldauer von weniger als 3 Monaten gegenüber einer Stilldauer von mehr als 3 Monaten. Der Zeitpunkt der Einführung von Kuhmilchprodukten wurde als weitere Einflussgröße evalu-
3.2 · Umweltfaktoren
35
3
iert. Danach hatten Kinder ein 1,57fach erhöhtes Erkrankungsrisiko, wenn während der ersten drei Lebensmonate Kuhmilchprodukte zugefüttert wurden. Als besonders relevant erwies sich die frühe Kuhmilchexposition bei Kindern, die vor dem 4. Lebensjahr an Diabetes erkranken. Nach diesen Berechnungen könnten ca. 30% der Typ-1-Diabetesfälle verhindert werden, wenn 90% der Gesamtbevölkerung in den ersten drei Lebensmonaten kuhmilchfrei ernährt würden. Da in fast allen vorliegenden Untersuchungen die Stilldauer und das Zufüttern von Kuhmilchprodukten evaluiert wurden, ist nicht entschieden, ob die längere Stilldauer per se als Schutzfaktor bzw. die frühe Kuhmilchzufütterung per se als Risikofaktor wirken. Epidemiologische Studien aus Norwegen und Schweden zeigen, dass die von 1940–1980 beobachtete steigende Inzidenz für Typ-1-Diabetes mit der im selben Zeitraum abnehmenden Stillhäufigkeit invers korreliert. Die Analyse der Stillgewohnheiten in 18 Ländern ergab, dass Länder mit der geringsten Stillhäufigkeit die höchsten Inzidenzraten für Typ-1-Diabetes aufweisen. Als Konsequenz dieser Befunde wurde 1993 in Finnland mit einer prospektiven, doppelblinden Präventionsstudie begonnen. Kinder von Müttern mit Typ1-Diabetes werden nach Beendigung der dreimonatigen ausschließlichen Stillzeit für weitere 6–8 Monate mit einer kuhmilchfreien Spezialnahrung ernährt und mit einer Kontrollgruppe verglichen (»Trial to Reduce IDDDM in the genetically at Risk«, TRIGR). Eine erste Zwischenauswertung von 207 Neugeborenen mit erhöhtem genetischem Risiko für Typ-1-Diabetes (Vorliegen eines Risiko-HLA-Typs und Abwesenheit protektiver Allele) zeigte eine signifikante Halbierung des relativen Risikos, im Beobachtungszeitraum diabetesassoziierte Antikörper zu entwickeln. Im Mai 2002 begann die weltweite Phase dieser Studie, die Rekrutierung von 2.032 Neugeborenen wird bis Ende 2006 abgeschlossen sein; die Ergebnisse dieser Intervention werden nicht vor 2016 erwartet. Unklar bleiben die Mechanismen, die zur Auslösung einer E-Zellautoimmunität durch Kuhmilchproteine führen. So ist umstritten, ob Antikörper gegen bovines Serum-Albumin (BSA) bei der Ätiopathogenese des Typ-1-Diabetes eine Rolle spielen. Andere Hypothesen betreffen eine mögliche gestörte Barrierefunktion der Darmmukosa bei Menschen mit erhöhtem Diabetesrisiko, eine Stimulierung von T-Zellen durch intakte Kuhmilchproteine oder eine Erhöhung von löslichen Adhäsionsproteinen durch Kuhmilchbestandteile.
36
2 2 3 4
Kapitel 3 · Ätiopathogenese des Typ-1-Diabetes
Zusammenfassung Aufgrund der bisher vorliegenden Erkenntnisse sollten Neugeborene und Säuglinge von Müttern und Vätern mit Typ-1-Diabetes mindestens drei Monate lang gestillt werden und während dieser Zeit keine kuhmilchproteinhaltige Nahrung erhalten. Die Ergebnisse der TRIGR-Studie sollten abgewartet werden, bevor bei unüberwindlichem Stillhindernis generell die Fütterung der wesentlich teureren vollhydrolysierten Säuglingsnahrung (z. B. Pregomin, Alfaré) empfohlen werden sollte. Ein präventiver Effekt von teilhydrolysierter Milch (z. B. Humana HA) ist wissenschaftlich nicht belegt.
5 6 7 8 9
3.2.3
Perinatale Faktoren, Alter und Sozialstatus der Eltern
Eine ganze Reihe weiterer Umweltfaktoren, die bei der Ätiopathogenese des Typ-1-Diabetes eine Rolle spielen sollen, sind beschrieben worden, teilweise jedoch mit widersprüchlichen Ergebnissen. Perinatale Faktoren. Durch Sectio geborene Kinder sollen ein höheres Krank-
11
heitsrisiko aufweisen als spontan geborene. Eine andere Studie belegt, dass ein hohes Geburtsgewicht mit dem Erkrankungsrisiko positiv assoziiert ist; andere Studien widerlegen diese Beobachtung. Auch eine AB0- oder Rh-Inkompatibilität soll mit einem höheren Risiko, an Typ-1-Diabetes zu erkranken, einhergehen.
12
Alter der Eltern. Kinder von älteren Müttern (>35 Jahre) gegenüber jüngeren
10
13 14
Müttern (<25 Jahre) wiesen in einer Studie ein erhöhtes Risiko, an Diabetes zu erkranken, auf (Odds Ratio 2,43). Kinder mit älteren Vätern zeigten in derselben Studie ein um etwa 50% höheres Erkrankungsrisiko. Auch andere Autoren konnten über ein erhöhtes Krankheitsrisiko bei höherem Alter der Mütter berichten.
15 16 17
Sozialstatus der Eltern. Es gibt mehrere Studien, die belegen, dass Kinder aus Familien mit hohem durchschnittlichen Einkommen gegenüber Familien mit niedrigem ein größeres Erkrankungsrisiko aufweisen. Es wird diskutiert, dass unter besseren hygienischen Verhältnissen eine pathogenärmere Umgebung die Diabetesinzidenz ansteigen lässt, während eine pathogenreichere Umgebung eher einen Schutz vermitteln soll.
3.2 · Umweltfaktoren
37
3
Zusammenfassung Diese Beobachtungen konnten teilweise nicht reproduziert werden, andere wurden widerlegt. Es ist daher durchaus möglich, dass die identifizierten Risikofaktoren in verschiedenen Regionen unterschiedlich wirksam werden können oder aber an andere bisher nicht entdeckte Umweltfaktoren gebunden sind.
3.2.4
Manifestationsfördernde Faktoren
Die beiden wichtigsten manifestationsfördernden Faktoren des Typ-2-Diabetes sind Fettsucht und Schwangerschaft. Beide Faktoren spielen bei der Entstehung des Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen keine Rolle. Kinder sind im Gegensatz zu Erwachsenen zum Zeitpunkt der Diabetesmanifestation meist untergewichtig. Während des Verlaufs der Krankheit weisen sie bei guter Stoffwechseleinstellung, wenn sie nicht überkalorisch ernährt werden, fast immer Normalgewicht auf. Dagegen wäre es denkbar, dass bestimmte Essgewohnheiten manifestationsfördernd oder -hemmend wirken können. Die unterschiedliche Häufigkeit von Typ-1-Diabetes in verschiedenen Ländern (z. B. Italien vs. Schweden) und verschiedenen Regionen (Land vs. Stadt) könnte damit erklärt werden. Beweise liegen für diese Annahme bisher nicht vor. Sehr häufig tritt der Diabetes bei Kindern und Jugendlichen während oder im Anschluss an einen Infekt auf. Aber auch andere Belastungen wie Verletzungen, Verbrennungen, Operationen, Unfälle oder seelische Traumen können manifestationsfördernd sein. Man vermutet, dass die Mehrsekretion von kontrainsulinären Hormonen (Adrenalin, Noradrenalin, Glukagon, Glukokortikoide, Wachstumshormon), die durch »Stress« ausgelöst wird, eine bereits bestehende Glukosetoleranzstörung verstärkt und bei bereits bestehender E-Zellinsuffizienz die Grenze zur klinischen Manifestation eines Diabetes überschritten wird. Eine frühe und ausgeprägte Gewichtszunahme gilt bei genetischer Disposition als Risikofaktor für die vorzeitige Manifestation eines Diabetes mellitus (Akzelerator-Hypothese). Übergewicht mit Insulinresistenz führt initial zu einer gesteigerten Insulinsekretion, bei genetischem Risiko zudem zu einer Beschleunigung apoptotischer und autoimmuner Prozesse an der E-Zelle, die dann zur Diabetesmanifestation führen können. So steht der Zunahme des Typ-1-Diabetes im Kindesalter eine Abnahme der Zahl der Erwachsenen, die an einem Typ-1-Diabetes erkranken, gegenüber. Führt man die Daten zusammen, zeigt sich ein interessantes Phänomen: Es erkranken keineswegs mehr Menschen an einem Typ-1-Diabetes, die Erkrankung tritt lediglich in früheren Jahren auf. Die Ursachen des Phänomens könnten ähnlich gelagert sein wie beim Typ-2-Diabetes. Es besteht auch beim Typ-1-Diabetes eine genetische Prädisposition. Ist die betreffende Person schlank, scheint sich der Diabetes erst in späteren Jahren zu
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Kapitel 3 · Ätiopathogenese des Typ-1-Diabetes
manifestieren. Anders ist die Situation bei Kindern, die rasch gewachsen sind und ein vergleichsweise hohes Gewicht haben. Sie brauchen mehr Insulin und entsprechend der Akzelerator-Hypothese gehen die Betazellen des Pankreas rascher zugrunde, der Diabetes manifestiert sich deutlich früher. Zusammenfassung Interkurrente Infektionen oder andere Belastungen scheinen das Auftreten eines Typ-1-Diabetes beschleunigen zu können, wenn durch das Zusammenspiel genetischer Faktoren, spezifischer Virusinfektionen und autoimmunologischer Vorgänge ein Zerstörungsprozess der E-Zellen bereits abläuft, nur noch wenig mehr als 20% der E-Zellen erhalten sind und die Manifestation eines Typ-1-Diabetes sowieso unmittelbar bevorsteht.
6 7
3.3
Hypothesen zur Entstehung des Typ-1-Diabetes
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! Durch die Möglichkeiten der Molekulargenetik konnte während der letzten Jahre viele neue Befunde erhoben werden, die die Vorstellungen zur Entstehung des Typ-1-Diabetes erheblich erweitert haben. Grundsätzlich müssen nach wie vor zwei Phasen unterschieden werden: 1. Prädiabetes: eine gemischte Leukozytenpopulation infiltriert die Inselzellen im Sinne einer Insulitis, 2. manifester Diabetes: der überwiegende Teil der E-Zellen ist zerstört. Es kann nicht mehr genügend Insulin produziert werden, um die Blutglukosekonzentration zu regulieren. Eine Hyperglykämie ist die Folge. Die Insulitis kann während einer längeren Zeit klinisch unauffällig bestehen (bei Menschen jahrelang, bei Nagetieren monatelang), bevor sie sich schließlich, manchmal auch nie, zum manifesten Diabetes fortentwickelt.
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Da diese Vorgänge nicht beim Menschen untersucht werden können, sind verschiedene Tiermodelle zur Untersuchung herangezogen worden, z. B. die nonobese diabetische Maus (NOD-Maus) und ihre transgen veränderten Varianten. Die NOD-Maus wurde Anfang der 70er Jahre entdeckt und weist viele Parallelen mit dem humanen Diabetes auf. Der Krankheitsprozess entsteht spontan, wird über T-Lymphozyten vermittelt und wird polygenetisch unter Beteiligung der MHC-Gene kontrolliert.
Um den komplexen Vorgang der Diabetesentstehung zu entschlüsseln, wurden in den vergangenen Jahren transgene Varianten produziert, bei
3.3 · Hypothesen zur Entstehung des Typ-1-Diabetes
39
3
denen einzelne Aspekte gezielt untersucht werden konnten: Mäuse mit verändertem T-Zellrezeptor oder T-Zellsubpopulationen bzw. Tiere, bei denen einzelne Antigene, Zytokine oder MHC-Moleküle überexprimiert werden. Die Existenz dieser unterschiedlichen Tiermodelle mit all ihren Vor- und Nachteilen erlaubt zwar eine Analyse möglicher ätiopathogenetischer Vorgänge, inwieweit sie aber für die Situation beim Menschen repräsentativ sind, muss abgewartet werden. Es ist allerdings anzunehmen, dass angesichts der vielen verschiedenen klinischen Verläufe des Typ-1-Diabetes beim Menschen auch dieser Diabetestyp keine einheitliche Krankheitsentität darstellt. Für den Krankheitsverlauf ist der Mechanismus der Apoptose (programmierter Zelltod) ausschlaggebend. Sie läuft wie folgt ab: ausgehend von Signalen über Liganden an der Zelloberfläche (virale Infektion, Zytokine, Fehlen von Wachstumsfaktoren etc.) wird ein regulierter Prozess in Gang gesetzt, bei dem es durch Schrumpfungsvorgänge, Chromatinverdichtung, Proteinspaltung, und DNA-Degradation schließlich zur Phagozytose der apoptotischen Zelle durch Nachbarzellen kommt. Im Gegensatz zur Nekrose, der zumeist ein akuter Verlust der Zellhomöostase zugrunde liegt, und die mit Zellschwellung, früher Ruptur der Plasmamembran und Austritt von Stoffen aus dem Intrazellulärraum zur Inflammation führt, kommt es bei der Apoptose zu keiner entzündlichen Reaktion der Umgebung. Die Entstehung des Typ-1-Diabetes wird primär über T-Lymphozyten vermittelt. NOD-Mäuse, die T-lymphopenisch oder athymisch sind, entwickeln keinen Diabetes. Umgekehrt kann ein Diabetes ausgelöst werden, wenn T-Lymphozyten von erkrankten Tieren in bislang gesunde Empfänger injiziert werden. Da die T-Zellinfiltration histologisch auch beim Menschen das erste Zeichen der Insulitis ist und sich der Verlauf der Krankheit durch Behandlung mit TZellinhibitoren beeinflussen lässt, ist davon auszugehen, dass die im Tiermodell erhobenen Befunde auf den Menschen übertragen werden können. T-Zellen mit diabetogenen Eigenschaften gehören sowohl der CD4+-Helferzellklasse wie auch der CD8+-Killerzellklasse an. Die CD4+-Zellen reagieren mit Antigenen, die von den MHC-Klasse-II-Molekülen auf antigenpräsentierenden Zellen präsentiert werden. Die CD8+-Zellen werden von Antigenen der MHC-Klasse-I-Moleküle präsentiert, die sich auf den meisten Zelltypen befinden. Der erste Kontakt zwischen T-Zellen und E-zellassoziierten Antigenen findet wahrscheinlich direkt in den Langerhans-Inseln statt. Unter Umständen findet aber zuvor eine Autoimmundestruktion von Nervensystemzellen (SchwannZellen) statt, die die Insel umgeben. Der Prozess beginnt, wenn antigenpräsentierende Zellen, wahrscheinlich dendritische Zellen, durch Aufnahme von E-Zellantigenen reifen und in die pankreatischen Lymphknoten wandern. Dort präsentieren sie das E-Zellantigen T-Zellen im zirkulierenden Blut, die dadurch aktiviert werden. Während T-Zellen üblicherweise nicht in das Gewebe einwan-
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Kapitel 3 · Ätiopathogenese des Typ-1-Diabetes
dern, ermöglicht ihnen die Aktivierung die Migration in das Inselzellgewebe. Durch wiederholten Kontakt mit dem Antigen werden sie im Inselzellgewebe festgehalten und initiieren dadurch die Insulitis. Verschiedene zelluläre und molekuläre Mechanismen werden für den weiteren Ablauf des E-Zelltodes postuliert. Es werden Modelle mit direktem ZellZell-Kontakt zwischen CD8+-T-Zellen und E-Zellen und Modelle mit einer Vermittlung über lösliche Effektorsubstanzen unterschieden. Während Makrophagen und CD4+-Zellen die wesentlichen zellulären Effekte auslösen, sind die CD8+-Zellen für die Initiation des zum E-Zelltod führenden Immunprozesses bedeutsam. Die weitere Klärung der Prozesse, die zur E-Zellapoptose führen, könnte nicht nur Hinweise auf mögliche Ursachen liefern, sondern auch therapeutische Interventionsmöglichkeiten eröffnen, wenn der Prozess der Apoptose unter Erhalt der Zellfunktion aufgehalten werden könnte. Neuere Erkenntnisse weisen darauf hin, dass es nach Initiierung des Entzündungsprozesses nicht immer zu einer Zerstörung der insulinproduzierenden Zellen kommt. Es scheint eine benigne Insulitis, bei der Th2-Zellen und ihr Sekretionsprodukt Interleukin-4 überwiegen und die E-Zellen intakt bleiben, und eine destruktive Insulitis, bei der Th1-Zellen dominieren und spezifische und unspezifische inflammatorische Komponenten des Immunsystems aktiviert werden, zu geben. Die beiden Formen können nicht nur durch bestimmte lokal produzierte Zytokine unterschieden werden, sondern sie weisen auch unterschiedliche histologische Bilder auf. Daher könnten evtl. Behandlungsstrategien, die grundsätzlich die Aktivität von Th2-Zellen unterstützen, zu einem Schutz vor Diabetes führen. Durch den Prozess der Apoptose könnte eine ätiopathogenetische Verbindung zwichen Typ-1- und Typ-2-Diabetes hergestellt werden. Eine Untergruppe von erwachsenen Patienten, deren Diabetes ursprünglich als Typ 2 klassifiziert wurde, weisen zu einem späteren Zeitpunkt autoimmunologische Parameter auf. Diese langsam fortschreitende und weniger schwere Form des Typ-1-Diabetes wird deshalb auch als »Latent Autoimmune Diabetes of Adults« (LADA) bezeichnet. Gegenwärtig wird allerdings noch darüber spekuliert, ob eine E-Zellapoptose die auslösende Ursache der Autoimmunphänome sein könnte, die bei den Patienten nachgewiesen wurden, die ursprünglich an einem Typ-2-Diabetes erkrankt sind. Obwohl die Frage einer reduzierten E-Zellmasse bei Patienten mit Typ-2-Diabetes noch immer kontrovers diskutiert wird, kann in vitro durch Hyperglykämie eine Apoptose von E-Zellen ausgelöst werden.
3.3 · Hypothesen zur Entstehung des Typ-1-Diabetes
Natürliche Resistenz des Immunsystems
Gene
Apoptose der β-Zellen Th2-Insulitis
Th1-Insulitis
Umwelteinflüsse
Auslösung eines Autoimmunprozesses
41
3
. Abb. 3.3 Interaktion von Umweltfaktoren, genetischer Emfänglichkeit und der Regulation des Immunsystems in der Pathogenese des Typ-1Diabetes. (Nach Seissler 2001)
Herunterregulation oder Beschleunigung der Autoimmunantwort Periinsulitis
Progressive Zerstörung der β-Zellen Typ-1-Diabetes
Zusammenfassung Eine spezifische Destruktion der pankreatischen E-Zellen durch programmierten Zelltod (Apoptose) führt zur Initiierung einer Leukozyteninvasion in die Langerhans-Inseln. Bei der langsamen E-Zelldestruktion während der prädiabetischen und diabetischen Phase sindmehrere Faktoren für die initiale E-Zellzerstörung verantwortlich. Der nachfolgende unterschiedlich langdauernde endgültige Destruktionsprozess hängt ebenfalls von vielen sich gegenseitig beeinflussenden Prozessen ab (. Abb. 3.3). Hypothetisch könnte eine E-Zellapoptose in Einzelfällen auch die Entwicklung eines Typ-1-Diabetes bei primärem Typ-2-Diabetes auslösen.
Literatur American Diabetes Association (2001) Diabetes 2001 vital statistics. Risk factors for diabetes, pp 29–42 Badenhoop K (1995) Immungenetische Faktoren für den Prädiabetes Typ I. In: Federlin K (Hrsg) Prädiabetes Typ I – Prädiabetes Typ II. Hoechst, Fraunkfurt/M Bell GI, Polonsky KS (2001) Diabetes mellitus and genetically programmed defects in beta-cell function. Nature 414: 788–791 Bertrams J (1996) Hat der Nachweis der Assoziation von Diabetes und DR-Merkmalen des HLA-Systems Wert für prognostische Aussagen? Diab Stoffw 5: 26
42
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Kapitel 3 · Ätiopathogenese des Typ-1-Diabetes
DeStefano F, Mullooly JP, Okoro CA et al. (2001) Childhood vaccinations, vaccination timing, and risk of type 1 diabetes mellitus. Pediatrics 108: E112 Field LL (2002) Genetic linkage and association studies of type I diabetes: challenges and rewards. Diabetologia 45: 21–35 Jun HS, Yoon JW (2001) The role of viruses in type I diabetes: two distinct cellular and molecular pathogenic mechanisms of virus-induced diabetes in animals. Diabetologia 44: 271–285 Mathis D, Vence L, Benoist C (2001) Beta-cell death during progression to diabetes. Nature 414: 792–798 Norris JM, Barriga K, Klingensmith G et al. (2003) Timing of initial cereal exposure in infancy and risk of islet autoimmunity. JAMA 290 : 1713–1720 Schmid S, Ziegler AG (2001) Prädiktion und Prävention des Typ-1-Diabetes. Dtsch Med Wochenschr 126: 593–596 Seissler J, Hatziagelaki E, Scherbaum WA (2001) Modern concepts for the prediction of type 1 diabetes. Exp Clin Endocrinol Diabetes 109: S304–S316
43
4
Prädiktion und Prävention des Typ-1-Diabetes )) Beim Typ-1-Diabetes kommt es ähnlich wie bei anderen Autoimmunkrankheiten (z. B. multipler Sklerose) nach Initiierung eines Autoimmunprozesses zu einer chronischen, schubweisen immunvermittelten Krankheit, die zur progressiven Zerstörung der insulinproduzierenden E-Zellen in den Langerhans-Inseln der Bauchspeicheldrüse führt. Wenn mehr als 80–90% der insulinproduzierenden Zellen zerstört sind, treten die charakteristischen klinischen Zeichen eines Diabetes mellitus auf (Polyurie, Polydipsie und Gewichtsabnahme, . Abb. 4.1). Den Zeitraum zwischen dem Beginn des Autoimmunprozesses und der Manifestation des Typ-1-Diabetes bezeichnet man als prädiabetisches Stadium.
4.1
Prädiktion des Typ-1-Diabetes
Die Entwicklung von Methoden zur Prädiktion eines Typ-1-Diabetes hat dazu geführt, dass heute ein Prä-Typ-1-Diabetes mit ziemlicher Sicherheit diagnostiziert werden kann. Aus praktischen Gründen stehen dabei Methoden zur Untersuchung der humoralen Autoimmunität im Vordergrund.
. Abb. 4.1 Möglichkeiten der Diabetesdiagnostik im Verlauf des Prä-Typ-1-Diabetes. HLA »human leucocyte antigen (locus A) system«, i.v.-GTT intravenöser Glukosetoleranztest, oGTT oraler Glukosetoleranztest
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Kapitel 4 · Prädiktion und Prävention des Typ-1-Diabetes
4.1.1
Humorale Autoimmunität
! Für die Diagnose eines Prä-Typ-1-Diabetes eignen sich Autoantikörper, die mit spezifischen Inselzellproteinen reagieren. Inselzellantikörper (ICA), Insulinautoantikörper (IAA) und Antikörper gegen Glutamatdexarboxylase (GAD) sowie gegen Thyrosinphosphatase IA-2 und IA-2E werden unterschieden. Man nimmt an, dass diese Antikörper eine relativ präzise Messgröße für das Vorliegen einer Inselzellautoimmunität bei Menschen darstellen. Für die eigentliche EZellzerstörung sind sie jedoch nicht verantwortlich.
Die gegen Inselzellantigene gerichteten T-Zellen sind im peripheren Blut mit den derzeitig verfügbaren Nachweismethoden kaum zu identifizieren. Als metabolischer Marker wird die Messung der frühen Insulinausschüttung im intravenösen Glukosetoleranztest (i.v.-GTT) als zusätzlicher Prädiktionsparameter verwendet. Seit der Identifizierung unterschiedlicher Antikörpermarker ist der i.v.-GTT auch wegen seiner schwierigen Durchführbarkeit in der Routine in den Hintergrund getreten. Inselzellantikörper Inselzellantikörper (ICA) sind zwar inselzellspezifisch, aber gegen alle 4 Zelltypen (D, E, G- und H-Zellen) der Langerhans-Inseln gerichtet. Sie weisen Kreuzreaktionen mit anderen Tierspezies auf und gehören der IgG-Klasse an. Sie sind besonders häufig bei Diabetes-Patienten mit anderen Immunkrankheiten nachzuweisen. Dabei handelt es sich um polyklonale Antikörper die gegen verschiedene Determinanten der Inselzellen gerichtet sind. Die Bestimmung der ICA erfolgt mittels indirekter Immunfluoreszenz auf humanem Pankreas der Blutgruppe 0. Durch internationale Workshops ist es gelungen, die Messung von zytoplasmatischen Inselzellantikörpern zu standardisieren. Damit wurden die Sensitivität und Spezifität von ICA-Assays verschiedener Laboratorien vergleichbar (Maßeinheit: Juvenile-Diabetes-Federation-[JDF-]Einheit). 50–70% aller neuentdeckten Patienten mit Typ-1-Diabetes weisen ICA auf. Allerdings ist der Nachweis von ICA bei Manifestation eines Typ-1-Diabetes altersabhängig. So werden bei 15-Jährigen zum Zeitpunkt der Manifestation bei über 70% ICA nachgewiesen, bei über 30-Jährigen dagegen nur bei etwa 20%. Die Prävalenz in der Normalbevölkerung wird mit 0,1–0,3% angegeben. Bei den meisten Patienten verschwinden die ICA wieder und persisitieren 3 bis 5 Jahre nach Diabetesmanifestation nur noch bei 15–20% der Patienten. Das Risiko, an einem Typ-1-Diabetes zu erkranken, steigt bei erstgradig Verwandten mit der Höhe der nachgewiesenen ICA-Spiegel an (. Abb. 4.2). Bei einem positiven ICA-Befund (>20 JDF-Einheiten) ist eine kumulative 3- bzw. 5-Jahresdiabetesinzidenz von 31 bzw. 51% beschrieben. Demgegenüber weisen
4.1 · Prädiktion des Typ-1-Diabetes
45
4
. Abb. 4.2 Kumulative Diabetesinzidenz innerhalb von 10 Jahren in Abhängigkeit der initialen ICA-Titer. JDF juvenile Diabetes-Foundation. (Nach Bingley et al. 1994)
ICA-negative erstgradige Angehörigen eine kumulative Diabetesinzidenz von 0,27–0,30% auf. Damit liegt der negative prädiktive Wert im Bereich der Normalbevölkerung. ICA scheinen einen besonders hohen prädiktiven Wert bei Kindern zu haben. Während 82% ICA-positiver Verwandter, die jünger als 10 Jahre waren, innerhalb von 5 Jahren einen manifesten Diabetes entwickeln, waren es nur 17%. bei den über 10 Jahre alten ICA-positiven Verwandten. Der prädiktive Wert von ICA wird dadurch eingeschränkt, dass nur 50–70% der neumanifestierten Typ1-Diabetiker ICA-positiv sind. Durch den ICA-Test kann daher nur ein Teil der Typ-1-Diabetiker erfasst werden. Insulinautoantikörper Insulinautoantikörper (IAA) sind bereits vor der ersten Insulingabe nachweisbar und gegen körpereigenes Insulin gerichtet. Sie werden üblicherweise mittels eines Radioimmunoassays (RIA) bestimmt. IAA zeigen eine strenge Altersabhängigkeit: Während nahezu 100% der Kinder mit Diabetes unter 5 Jahren IAA aufweisen, sind es bei Erwachsenen über 30 Jahre nur noch 20%. Damit spielen die IAA für die Diagnostik im Kindesalter eine besondere Rolle. Der prädiktive Wert der IAA wird ähnlich dem der ICA angegeben. Der positive prädiktive Wert für die kumulative 3- bzw. 5-Jahresinzidenz liegt bei 33 bzw. 59%. GAD-Antikörper Ein großer Teil der ICA sind GAD-Antikörper (GADA), die gegen ein E-Zellautoantigen gerichtet sind, welches mit dem GABA-synthetisierenden Enzym Glutamatdekarboxylase identisch ist. Für die Bestimmung von GADA sind kommerzielle RIA und ELISA (»Enzyme-Linked Immunosorbent Assay«) Kits erhältlich. Sie wurden in Standardisierungsworkshops abgeglichen. Zum Zeit-
46
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Kapitel 4 · Prädiktion und Prävention des Typ-1-Diabetes
punkt der Diabetesmanifestation können bei ca. 70–90% der Patienten GADA nachgewiesen werden. Der positive prädiktive Wert von GADA wird mit 28% bzw. 52% (kumulative 3- bzw. 5-Jahresinzidenz) angegeben. Für die Bewertung der GADA-Spiegel sind entsprechende Referenzwerte zu erstellen, da es Hinweise gibt, dass bei gesunden Kindern die Werte höher sind als bei Erwachsenen. Bei Frauen mit Gestationsdiabetes geht das Vorhandensein von GADA unabhängig von anderen Antikörpermarkern mit einem sehr hohen Risiko (über 50%) eines postpartalen Typ-1-Diabetes einher. Auch für die Diagnostik des LADA-Diabetes (»Late Autoimmune Diabetes in Adults«) scheint das Vorhandensein von GADA ein Risikomarker für eine baldige Insulinabhängigkeit zu sein. Tyrosinphosphatase-IA-2-Antikörper Als weiteres Diabetes-spezifisches Autoantigen wurden die Tyrosinphosphatase-IA-2-Antikörper (IA-2A) identifiziert. Es wird vermutet, dass der Nachweis von IA-2 eine schnellere Progression der Krankheit vorhersagt. Eine Analyse der amerikanischen Familienstudie ergab 40% bzw. 81% (kumulative 3- bzw. 5Jahresinzidenz) als positiven prädiktiven Wert. Zusammenfassung
9 10 11 12 13 14 15 16 17
Die Antikörperdiagnostik beim Typ-1-Diabetes wurde in den letzten Jahren laufend verbessert. Die Ergebnisse einer Antikörpertestung sollten immer mit Blick auf die erreichte Sensitivität und Spezifizität eines Tests beurteilt werden. Dabei sollten nur Analyseverfahren zur Anwendung kommen, deren Sensitivität und Spezifizität in regelmäßig stattfindenden internationalen Vergleichen geprüft wurden.
4.1.2
Zelluläre Autoimmunität
Neben humoralen Antikörpern konnten auch zelluläre, gegen Inselzellen gerichtete Immunprozesse nachgewiesen werden. Im Gegensatz zu den humoralen Autoantikörpern sind T-Lymphozyten also direkt in die Zerstörung der E-Zellen involviert. Es wäre daher naheliegend, direkt die Anzahl und die Aktivität der E-zellspezifischen T-Zellen bei Individuen mit erhöhtem Typ-1-Diabetes-Risiko zu messen. Die unverändert bestehenden großen Probleme in der Standardisierung der T-Zellassays und die Schwierigkeit, zwischen dem pathogenetisch bedeutsamen und dem normalen T-Zellrepertoire zu unterscheiden, haben dazu geführt, dass Bestimmungen der zellulären Autoimmunität zzt. keine Bedeutung für die Diabetesprädiktion haben Bei der Zerstörung der E-Zellen sind jedoch auch eine Vielzahl toxischer Zellprodukte beteiligt (Zytokine, Monokine, Lymphokine).
47
4.1 · Prädiktion des Typ-1-Diabetes
4.1.3
4
Kombination der Früherkennungsuntersuchungen
)) In den vergangenen Jahren wurden die verschiedenen Früherkennungsuntersuchungen kombiniert. Dabei zeigte sich, dass der positive prädiktive Wert durch die Kombination von verschiedenen Autoantikörpern gesteigert werden kann (. Tabelle 4.1).
Gegebenenfalls können diese Antikörperbefunde mit der HLA-Typisierung oder mit metabolischen Markern (i.v.-GTT) zur Prädiktion kombiniert werden. Nach den Empfehlungen der »Immunology and Diabetes Society, IDS« sollten diese Parameter nur in wissenschaftlichen Studien verwendet werden, so lange es keine gesicherte Interventionsmaßnahme zur sekundären Diabetesprävention gibt. Da über 85% der Menschen, die in der Zukunft einen Diabetes entwickeln, durch eine Kombination von GADA und IA-2A bzw. GADA und IAA mit entsprechend sensitiven Assays erkannt werden können, soll die Bestimmung von GAD mit IA-2 oder IAA in der Primärdiagnostik kombiniert werden (. Tabelle 4.2). Besonders bei Kindern unter 10 Jahren sollte IAA zur Erhöhung der Sensitvität verwendet werden. Da das Risiko mit der Anzahl der nachgewiesenen Antikörper ansteigt, sollten bei Nachweis eines Antikörpers weitere Antikörper bestimmt werden, damit das Risiko exakter definiert werden kann (mindestens drei, besser alle vier: ICA, IAA, GADA, IA-2A). Dabei sollten nur Ergebnisse von Laboratorien verwendet werden, die sich an sog. »Proficiency Workshops« beteiligt haben.
. Tabelle 4.1 Prävalenz der Autoantikörper bei erstgradig Verwandten von Patienten mit Typ-1-Diabetes mellitus und bei Kindern ohne familiäre Belastung mit Typ-1-Diabetes. (Nach Seissler et al. 2001) Antikörper
Prävalenz Erstgradig Verwandte (%)
Hintergrundsbevölkerung (%)
ICA
2,3–7,9
0,3–4,1
IAA
2,5–3,7
1,5–3,9
GADA
4,6–7,0
0,3–2,2
IA-2A
2,1–5,3
0,1–2,1
≥1 Antikörper
10,7–12,5
1,0–9,4
≥2 Antikörper
2,0–6,2
0,1–0,7
48
2 2 3 4 5 6 7
Kapitel 4 · Prädiktion und Prävention des Typ-1-Diabetes
. Tabelle 4.2 Diagnostische Sensitivität für die Entwicklung eines Typ-1-Diabetes in antikörperpositiven erstgradig Verwandten während einer 5- bis 10-jährigen Nachbeobachtung. (Nach Seissler et al. 2001) Antikörper
Sensitivität %
Positiver prädiktiver Wert %
ICA
50–84
43–53
GADA
64–90
42–52
IA-2A
31–64
55–81
IAA
24–76
29–59
GADA and IAA
68–81
67–68
GADA and IA-2A
62–81
70–95
IAA and IA-2A
54
62–100
3 Antikörper
52–61
64–100
Keine Antikörper
–
0–1
8 9 10 11 12 13 14 15 16
i.v.-GTT. Bei ICA- und/oder IAA-positiven Personen kann das Ausmaß der EZellzerstörung durch die Messung der frühen Insulinsekretion im i.v.-GTT ermittelt werden. Die Durchführung des Tests erfolgt nach einem international standardisierten Protokoll (Position Statement 1990). Unmittelbar vor sowie 1 und 3 min nach i.v.-Glukoseinjektion (0,5 g/kg Körpergewicht als 20%ige Glukoselösung) erfolgt die Blutentnahme zur Bestimmung der Insulinkonzentration im Serum. In . Tabelle 4.3 sind die Normalwerte bei stoffwechselgesunden Kindern dargestellt. Wenn die Insulinkonzentration 1 und 3 min nach i.v.-Gabe von Glukose unterhalb der 1. Perzentile von gesunden Kontrollpersonen liegt, muss davon ausgegangen werden, dass sich in 50 bis 80% der Fälle innerhalb eines Jahres ein manifester Typ-1-Diabetes entwickelt. Personen mit multiplen Antikörpern und normaler Insulinausschüttung haben zwar auch ein erhöhtes Diabetesrisiko, allerdings mit einer verzögerten Diabetesentwicklung von bis zu 20 Jahren.
4.1.4
Zeitlicher Ablauf der Autoimmunität
17
Bereits in den ersten Lebensjahren findet man diabetesassoziierte Antikörper bei Kindern mit familiärer Typ 1 Diabetes-Belastung (. Abb. 4.3). Offenbar beginnt der Autoimmunprozess auch beim Menschen sehr früh im Leben. Eine Serokonversion kann jedoch zu jedem Zeitpunkt während der Kindheit und der Adoleszenz auftreten. In der BABYDIAB-Studie betrug das Risiko, während der
4
49
4.1 · Prädiktion des Typ-1-Diabetes
. Tabelle 4.3 Seruminsulinwerte (µU/ml) bei stoffwechselgesunden Kindern im i.v.GTT (Basalwerte vor Glukoseinjektion und Additionswerte 1 und 3 min nach Glukoseinjektion [0,5 g/kg Körpergewicht]). (Nach Bardet et al. 1993) Tanner-Stadium
Basalwert
Additionswert 1+3 min
50. Perzentile
50. Perzentile
5. Perzentile
3. Perzentile
1. Perzentile
1
4,9
63,7
27,2
24,3
19,7
2–3
7,9
100,1
57,0
51,8
46,6
4–5
9,6
108,4
46,1
39,9
33,4
Erwachsen
8,3
82,0
35,5
29,8
19,7
. Abb. 4.3 Prävalenz von einem (helle Säule) und mehr als einem (dunkle Säule) diabetesassoziierten Antikörper bei Kindern diabetischer Eltern im Alter von neun Monaten, zwei und fünf Jahren. Ergebnisse der BABYDIAB-Studie. (Nach Ziegler u. Hummel 2001)
ersten 10 Lebensjahre einen klinisch manifesten Diabetes zu entwickeln, 100%, wenn im Alter von 2 Jahren bereits zwei oder mehr diabetesassoziierte Antikörper vorhanden waren. Waren dagegen alle drei Antikörpertypen im Alter von 2 Jahren negativ, lag das Diabetesrisiko bis zum 10. Lebensjahr bei nahezu 0%. Das bedeutet für die Praxis, dass ein Antikörperscreening bei Kindern mit einem an Typ-1-Diabetes erkrankten erstgradig Verwandten im Alter von
50
2 2
Kapitel 4 · Prädiktion und Prävention des Typ-1-Diabetes
2 Jahren eine hohe Vorhersagekraft für die Entwicklung eines Typ-1-Diabetes im frühen Kindesalter hat. Noch ungeklärt ist die Frage, ob es eine transiente Autoimmunität gibt, da vereinzelt Kinder beobachtet werden, die zunächst GADA- bzw. IAA-positiv waren, diese Antikörper jedoch wieder verloren.
3
4.1.5
4
Da 9 von 10 Manifestationen in Familien ohne Typ-1-Diabetes auftreten, können Früherkennungsergebnisse nicht ohne weiteres auf die Gesamtbevölkerung extrapoliert werden. Etwa in 8% von Schulkindern im Alter von 6–17 Jahren werden diabetesassoziierte Antikörper nachgewiesen, davon bei 0,8% zwei oder mehr Antikörper. Auch ohne familiäre Diabetesbelastung weisen Menschen mit zwei oder mehr Antikörpern ein großes Risiko für eine rasche Diabetesentwicklung auf. Eine HLA-Bestimmung kann die Ergebnisse der Antikörpermessungen nicht verbessern, erst recht nicht ersetzen. Zur Erfassung eines Diabetesrisikos vor Auftreten einer Autoimmunität ist die HLA-Bestimmung dagegen unerlässlich.
5 6 7 8
Prädiktion eines Typ-1-Diabetes in der Gesamtbevölkerung
9
4.2
Prävention des Typ-1-Diabetes
10 11 12 13 14 15 16 17
Die Entwicklung des Typ-1-Diabetes ist durch drei Stadien charakterisiert: 1. Stadium der genetischen Prädisposition, 2. Stadium des Prä-Typ-1-Diabetes mit Beginn des autoimmunologischen Zerstörungsprozesses der E-Zellen und dem Nachweis von Diabetes-assoziierten Autoantikörpern, 3. Stadium des manifesten Typ-1-Diabetes mit konstanter Hyperglykämie und Glukosurie. Bei den Diabetes-Präventionsstudien unterscheidet man dementsprechend zwischen Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention (. Abb. 4.4).
4.2 · Prävention des Typ-1-Diabetes
51
4
. Abb. 4.4 Verlauf des Typ-1-Diabetes als schubweise Erkrankung mit sukzessivem Abfall der Insulinproduktion
4.2.2
Tertiäre Präventionsstudien
)) Erst durch die Bestimmung der HLA-Antigene und der Autoimmunantikörper wurden die Diagnose eines Prä-Typ-1-Diabetes und damit primäre oder sekundäre Präventionsstudien möglich. Bis dahin wurden nur Versuche unternommen, den Krankheitsverlauf nach Manifestation des Typ-1-Diabetes durch Immunintervention zu beeinflussen. Dabei ging es v. a. um die Verlängerung bzw. den Erhalt der Remission.
Ausgehend von der Annahme, dass der Typ-1-Diabetes durch einen autoimmunologischen Prozess entsteht, wurden unterschiedliche Versuche einer immunologischen Intervention bei Menschen mit Typ-1-Diabetes unternommen. Die verwendeten Medikamente können in Wirkstoffe zur Immunmodulation (Plasmapherese, Leukozytentransfusionen, Gammaglobulin, Interferon, Levamisole, Ciamexon u. a.), Entzündungshemmung (Theophyllin, Indometazin, Nikotinamid, Ketotifen u. a.) und Immunsuppression (Kortikoide, Antithymozyten-Globulin, Azathioprin, Cyclosporin, Pentoxifyllin u. a.) eingeteilt werden. Alle Studien leiden unter der geringen Zahl behandelter Patienten, der Schwierigkeit, die Effektivität der Therapie zu objektivieren und der Unmöglichkeit, die Therapie langfristig durchführen zu können. Obwohl durch eine
52
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Kapitel 4 · Prädiktion und Prävention des Typ-1-Diabetes
Behandlung mit Cyclosporin A die Remissionsphase nach Manifestation ausgeprägter ist und verlängert wird, ging die Remission trotz Fortführung der immunsuppressiven Therapie spätestens nach zwei bis drei Jahren verloren. Da es sich bei Cyclosporin A um eine der potentesten immunsuppressiven Substanzen handelt, ist davon auszugehen, dass zum Zeitpunkt der Manifestation des Diabetes die Inselzellreserve zu gering ist, um eine Heilung des Diabetes zu erreichen. In der letzten Zeit steht die Tertiärprävention wieder weitaus mehr im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Ziel ist jetzt nicht mehr, die Insulinpflichtigkeit grundsätzlich zu vermeiden, sondern einen temporären oder permanenten Effekt auf die Remissionsphase zu erzielen. Durch diesen Ansatz sollen mit geringerem logistischen Aufwand und kürzerer Beobachtungsdauer als in den Primär- oder Sekundärpräventionsstudien erfolgversprechende Interventionen ermittelt werden. Insgesamt geht man zunehmend davon aus, dass nicht eine einzelne Intervention, sondern eine Kombination verschiedener Maßnahmen in Analogie zur Chemotherapie in der Krebsbehandlung erfolgreich sein könnte. Damit es untereinander zu einer besseren Abstimmung unter den verschiedenen Studiengruppen kommt, wurde die Initiative »TRIAL-NET« gegründet. 4.2.2
Sekundäre Präventionsstudien
Nach der Entwicklung von Methoden zur Diagnose des Prä-Typ-1-Diabetes lag es nahe, eine Immunintervention während der prädiabetischen Phase, in der die E-Zellen noch weitgehend erhalten sind, zu erproben. So wurde in den letzten Jahren weltweit eine Reihe von sekundären Interventionsstudien bei erstgradigen Verwandten von Patienten mit Typ-1-Diabetes mit nachweisbar hohem Diabetesrisiko initiiert. Da aber in der Familie bei 9 von 10 Fällen mit Diabetesmanifestation keine weiteren Fälle von Typ-1-Diabetes bekannt sind, haben die Ansätze, die in diesen Studien untersucht werden, nur für einen kleinen Teil der an Typ-1-Diabetes erkrankenden Personen eine Aussagekraft. Bislang haben alle Interventionen (Nikotinamid, Proteasen, NPH-Insulin subkutan, Insulin oral) in großen aussagekräftigen Studien keinen Effekt gezeigt. 4.2.3
Primäre Präventionsstudien
! Bei primären Präventionsstudien wird versucht, die Manifestation eines Diabetes bei gesunden Versuchspersonen ohne Anzeichen für Diabetes zu verhindern. In Deutschland wirden gegenwärtig zwei Studien zur Ernährungsprävention bei Säuglingen mit einem hohen genetischen Risiko für einen Typ-1-Diabetes durchgeführt. Beim »Trial to Reduce IDDM in the Genetically at Risk«, sog. TRIGRStudie, wird in einer prospektiven, placebokontrollierten Doppelblindstudie
4.2 · Prävention des Typ-1-Diabetes
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4
untersucht, ob eine frühe Kuhmilchproteinexposition zur Entstehung der Erkrankung beiträgt bzw. ob durch Vermeidung einer Kuhmilchproteinexposition bei diesen Kindern das Auftreten eines Diabetes verhindert werden kann. In der BABYDIÄT-Studie wird der Einfluss einer frükindlichen Glutenexposition untersucht.
4.2.4
Zukünftige Präventionsstudien
! Weitere Interventionsstudien, die sich noch in der Planungsphase befinden, lassen sich in vier große Gruppen teilen: 1. antigenbasierte Therapien, bei denen verschiedene Bruchstücke des Insulinmoleküls oder §-Zellantigene immunmodulatorisch eingesetzt werden sollen, 2. Verwendung monoklonaler Antikörper gegen die autoimmunwirksamen Zellen, 3. immunoregulatorische Ansätze, wie die oben beschriebene Proteasenstudie (z. B. mit Vitamin-D-Analoga oder Cox-2-Inhibitoren), 4. Anwendung konventioneller und neuartiger Immunsuppressiva.
Angesichts der großen Schwierigkeiten bei der Rekrutierung und Untersuchung von Antikörper-positiven Verwandten und den Unsicherheiten, ob auch alle Antikörper-positiven Probanden tatsächlich langfristig ein erhöhtes Risiko für einen Typ-1-Diabetes aufweisen, geht man bei der Planung der neuen Studien jetzt wieder dazu über, die Interventionen bei Patienten zum Zeitpunkt der Diabetesmanifestation zu untersuchen. Nur Strategien, die zu einer Präservation der E-Zellfunktion und einer Verlängerung der Remissionsphase führen, sollen dann bei noch nicht erkrankten Probanden mit hohem Diabetesrisiko untersucht werden. Eine Schwäche dieses Ansatzes besteht darin, dass nur Maßnahmen gefunden werden können, die bereits relativ spät im Erkrankungsprozess effektiv werden. So zeigte eine Behandlung mit dem monoklonalen Anti-CD3- Antikörper bei Diabetesmanifestation sehr vielversprechende Befunde. Bei monoklonalen Antikörpern gegen CD3-Epitope auf T-Zellen genügen einige Behandlungstage, um (wahrscheinlich durch eine Verschiebung der CD4/CD8 ratio hin zu Suppressorzellen) einen Langzeiteffekt zu erzielen. Die Mehrzahl der mit dem Antikörper behandelten Patienten entwickelte vorübergehend grippeähnliche Symptome und Symptome einer Mononukleose mit Fieber und Rachenschmerzen, die jedoch in der Regel nach zwei Wochen verschwunden waren. Bereits im Tiermodell der NOD-Maus stellte die Anti-CD3-Therapie eine bemerkenswerte Ausnahme dar: sie führte zum Verschwinden des Diabetes bei Tieren mit manifestem Diabetes, während fast alle anderen Methoden zwar
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Kapitel 4 · Prädiktion und Prävention des Typ-1-Diabetes
Diabetes verhindern konnten, aber wirkungslos wurde, sobald die Tiere einmal Diabetes hatten. Der CD3-Komplex, der auf der Oberfläche der Lymphozyten in stabiler Verbindung mit dem T-Zell-Rezeptor lokalisiert ist, spielt eine zentrale Rolle in der antigenspezifischen Aktivierung von T-Zellen. Die antigenbindenden Regionen der Anti-CD3-Antikörper blockieren diesen Komplex. Eine effektive Immuntherapie bei Diabetesmanifestation hat entscheidende Vorteile gegenüber der prophylaktischen Therapie bei für Insel-Autoantikörper positiven Diabetesrisikopersonen: sie ist bezüglich Screening und Verlauf kostensparender, weniger zeitaufwendig und darüber hinaus sicherer, da nur Patienten mit gesicherter Diagnose behandelt werden. Mit Beginn der klinischen Symptome sind noch rund 10- 20% der E-Zellen aktiv, aber möglicherweise liegt das Erholungspotential dieser Zellen sogar höher. Die DCCT-Studie konnte zeigen, dass ein Erhalt der Residualfunktion der insulinproduzierenden Zellen zu einer besseren Blutzuckereinstellung mit weniger Hypoglykämien und langsamerer Progression zu vaskulären Erkrankungen beitrug; eine bessere Blutzuckereinstellung wiederum verlängerte die Dauer dieser Restfunktion. Auch andere neue Therapiekonzepte (1,25-Dihydroxy-Vitamin D3, DiaPep277, APL-NBI-6024) stehen in Erprobung (. Tabelle 4.4). Es wird sich in den nächsten Jahren zeigen, ob C-Peptid-erhaltende Therapien einen Stellenwert in der Behandlung des Typ-1-Diabetes erlangen. Zumindest wird in den USA (FDA) bereits heftig diskutiert, ob C-Peptid als ein Indikator für die Qualität der Therapie ähnlich wie der HbA1c-Wert anzuerkennen ist. Anfang 2006 erhielt der Anti-CD3-Antikörper der Firma ToleRx eine sogenannte „Orphan Drug Designation“ für die Behandluung des frisch manifestierten Typ 1 Diabetes der amerikanischen Zulassungsbehörde, der ein beschleunigtes Zulassungsverfahren bei besonders vielversprechenden Medikamenten ermöglicht. Allerdings wäre weiterhin eine Insulinsubstitution erforderlich. Die Forschung geht deshalb dahin, das Immunsystem durch die rechzeitige Exposition mit Antigenen wieder mit den E-Zellen zu versöhnen. Dieser Ansatz wird Immuntoleranz genannt. Da das Insulin einer der wichtigsten Angriffspunkte der Immunattacke ist, werden Proinsuline als Impfstoffe eingesetzt. Diese ImmunImpfstoffe sind in der Lage, die Bildung von so genannten regulatorischen TZellen zu induzieren. Für sich genommen ist die Wirkung allerdings nicht stark genug, um die weitere Zerstörung der E-Zellen zu verhindern. Die Gruppe um Matthias von Herrath vom La Jolla Institute for Allergy and Immunology in San Diego hat jetzt beide Ansätze kombiniert und bei zwei unterschiedlichen Mäusemodellen eine gute Wirkung erzielt. Demnach scheint die Kombination die Erfolgsrate zu erhöhen. Die alleinige Therapie mit anti-CD3-Antikörpern verhinderte den Diabetes nur bei 20 Prozent der Versuchsstiere. Ob der kombinierte Ansatz zur Wende führt, bleibt abzuwarten. Nicht immer erfüllen sich
4.2 · Prävention des Typ-1-Diabetes
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4
. Tabelle 4.4 Diskutierte Einzelschritte zur Zerstörung der E-Zelle und Therapeutika, die den zur Zerstörung der E-Zelle führenden Autoimmunprozess aufhalten sollen und in gegenwärtigen Studie geprüft wirden 1. MHC Klasse II (Antigenpräsentation, Toleranzverlust gegenüber Autoantigenen) 5 NBI-6024 (alternierter Peptidligand) 5 DiaPep277 (synthetisches Peptid) 2. gestörte Reifung von dendritischen Zellen 5 1,25-(OH)2 - Vitamin D3 3. Expansion von autoreaktiven T-Zellen 5 Anti-CD 3 (monoklonale Antikörper, Fa. ToleRx) 5 anti-CD 20 (Rituximab) 5 MMF DZB (Mycophenolat mofetil, Daclizumab) 4. verminderte Zahl regualtorischer T - Zellen 5 NBI-6024 DiaPep277® 5 Anti-CD 31,25-(OH)2 - Vitamin D3 5. Migration zu den Inselzellen (CD4, CD8, NK-Zellen) 6. Inflamation 7. insuffiziente Betazellregeneration 5 Exenatide (mit dem menschlichen Glukagon-like Peptide (GLP-1) verwandt und zur Therapie des Typ 2 Diabetes in den USA zugelassen, soll Regeneration der EZellen stimulieren können) 8. Hyperglykämie
in klinischen Studien die Hoffnungen, die durch tierexperimentelle Ergebnisse geweckt werden. Zusammenfassung Abschließend muss kritisch darauf hingewiesen werden, dass sich die unterschiedlichen Methoden zur primären, sekundären und tertiären Prävention des Typ-1-Diabetes noch im Stadium der experimentellen Erprobung befinden. Ihr therapeutischer Einsatz im klinischen Alltag ist daher nicht abzusehen und völlig ungewiss.
Literatur Bardet S, Joseph MG, Maugendre D et al. (1993) Predictive value of age-related response to glucose in subjects at risk for type 1 diabetes: results of a 6-year follow-up study from West-France. Diabetes Metab 19: 372-380
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Kapitel 4 · Prädiktion und Prävention des Typ-1-Diabetes
Bingley PJ, Christie MR, Bonifacio E et al. (1994) Combined analysis of autoantibodies improves prediction of IDDM in islet cell antibody-positive relatives. Diabetes 43: 1304-1310 Bingley PJ, Bonifacio E, Ziegler AG, Schatz DA, Atkinson MA, Eisenbarth GS; Immunology of Diabetes Society (2001) Proposed guidelines on screening for risk of type 1 diabetes. Diabetes Care 24: 398 Position Statement American Diabetes Association (2002) Prevention of type I diabetes mellitus. Diabetes Care 25 (Suppl 1): S131 Seissler J, Hatziagelaki E, Scherbaum WA (2001) Modern concepts for the prediction of Type 1 diabetes. Exp Clin Endocrinol Diabetes 109(Suppl 2) S304-S316 Ziegler AG, Hummel M (2001) Entstehung des Typ 1 Diabetes -- die ersten Lebensjahre sind entscheidend. Ergebnisse der deutschen Multicenterstudie BABYDIAB. Dtsch Ärztebl 98: A1260-1265
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5
Normale und pathologische Physiologie des Inselzellsystems )) Die E-Zellen des Pankreas und ihr Sekretionsprodukt Insulin nehmen eine Schlüsselstellung in der Pathophysiologie des Diabetes ein. Der Typ-1-Diabetes entsteht durch einen zunächst relativen, später absoluten Insulinmangel als Folge einer autoimmunologischen Zerstörung der E-Zellen. Der Typ-1-Diabetes ist nach wie vor die häufigste Diabetesform bei Kindern und Jugendlichen.
5.1
Morphologie der Inselzellen
Paul Langerhans beschrieb 1869 erstmalig in seiner Dissertation die nach ihm benannten Inselzellen des Pankreas. Damit begann die Erforschung der morphologischen und physiologischen Grundlagen des Diabetes mellitus. Das Pankreas weist zwei unterschiedliche Zellpopulationen auf: 5 exokrine Zellen, die Enzyme in den Verdauungstrakt sezernieren, und 5 endokrine Zellen, die Hormone in den Blutstrom abgeben. Die Bauchspeicheldrüse ist endodermalen Ursprungs und entwickelt sich aus einer ventralen und einer dorsalen Anlage des Vordarmes, die miteinander fusionieren und ein einziges Organ bilden. Aus der dorsalen Anlage des Vordarmes gehen 80–90% des Pankreas hervor (der Pankreasschwanz, der Körper und der vordere Anteil des Kopfes), aus der ventralen Anlage der hintere Teil des Kopfes. Die endokrinen Zellen der Bauchspeicheldrüse entstehen aus den Epithelzellen der Ausführungsgänge (Ducti) des exokrinen Teils der Pankreasanlagen. Sie bilden eng gepackte Zellhaufen, die als Langerhans-Inseln bezeichnet werden. Endokrine Zellen kommen jedoch nicht nur in den Inseln vor, sondern auch so fein verteilt im übrigen Pankreasgewebe, dass sie nicht als Inseln wahrgenommen werden können. Die Langerhans-Inseln machen annähernd 1–2% des gesamten Pankreas beim Erwachsenen aus und sind relativ gleichmäßig in der gesamten Bauchspeicheldrüse verteilt, allerdings etwas dichter im Pankreaskopf. Die rundlichen, seltener länglichen Epithelkomplexe weisen einen Durchmesser zwischen 20 und 300 µmol auf. Das etwa 100 g schwere Pankreas des Erwach-
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Kapitel 5 · Normale und pathologische Physiologie des Inselzellsystems
senen enthält ca. 106 Inseln, das etwa 10 g schwere Pankreas eines einjährigen Kindes entsprechend weniger. In den Inseln lassen sich 4 Zelltypen nachweisen, die Insulin-sezernierenden E-Zellen, die Glukagon-sezernierenden α-Zellen, die Somatostatin-sezernierenden D-Zellen und die pankreatisches Polypeptidsezernierenden (PP-)Zellen. In . Abb. 5.1 sind Insulin enthaltende E-Zellen und Glukagon enthaltende αZellen in einer Langerhans-Insel dargestellt. Die arterielle Blutversorgung der Inseln erfolgt über Arteriolen, die über einen neurovaskulären Gefäßstiel in das Zentrum der Inseln dringen, sich dort in reich gefensterte Kapillaren verästeln, um zunächst die E-Zellen zu versorgen. Anschließend kehren sie zu den in der Peripherie lokalisierten D- und D-Zellen zurück. Auf diesem Wege kann Insulin auf parakrinem Wege die Sekretion von Glukagon und Somatostatin beeinflussen. Die Innervation der Langerhans-Inseln erfolgt durch marklose Nervenfasern des autonomen Nervensystems. Sympathisch-adrenergische und parasympathisch-cholinergische Fasern innervieren nicht nur die intrapankreatischen Blutgefäße, sondern enden auch in intrapankreatischen Ganglien, die Transmittersubstanzen abgeben, um die sekretorische Inselzellfunktion zu steuern. Bei Reizung sympathischer Fasern wird die Insulin- und Somatostatinsekretion gehemmt, während die Glukagonsekretion gefördert wird. Die Reizung parasympathischer Fasern führt dagegen zu einer gesteigerten Insulin- und Glukagonsekretion. Die Hormonsekretion wird jedoch nicht nur über das klassische sympathische und parasympathische System gesteuert, sondern auch über peptidergische Nerven, die Neurotransmitter abgeben. Zu den Neuropeptiden, die die Insulinsekretion stimulieren, gehören u. a. die sog. Inkretine Glizentin (»Glucagon-like Peptide-1« [GLP-1]), vasoaktives intestinales Peptid (VIP) und Bombesin (»Gastrin-Releasing Peptide«, GRP).
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5.2
Insulin
1922 gelang Banting u. Best die Extraktion von Insulin aus dem Pankreas. Ende der 70er Jahre gelang die In-vitro-Synthese des Humaninsulins. Bei der Biosynthese entsteht das aus $- und %-Kette bestehende Insulin aus dem einkettigen Proinsulin. Die Insulinsekretion wird in erster Linie über die Glukosekonzentration gesteuert. Insulin-Clearance und Degradation finden vorwiegend in Leber und Niere statt. Über den Insulinrezeptor kontrolliert das Insulin den gesamten Intermediärstoffwechsel, d. h. nicht nur den Kohlenhydratstoffwechsel, sondern auch den Fett- und Eiweißstoffwechsel.
5.2 · Insulin
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a
b . Abb. 5.1 Normale Langerhans-Insel (»PP-poor lobe«). a Insulin enthaltende E-Zellen; b Glukagon enthaltende D-Zellen. (Nach Foulis 1995)
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Kapitel 5 · Normale und pathologische Physiologie des Inselzellsystems
5.2.1
Molekulare Struktur des Insulins
! Menschliches Insulin ist ein Protein mit einem Molekulargewicht von 5.734. Es besteht aus insgesamt 51 Aminosäuren, die in zwei Ketten angeordnet sind. Die A-Kette mit 21 Aminosäuren ist mit der B-Kette mit 30 Aminosäuren über zwei Disulfidbrücken verbunden. Die A-Kette weist eine weitere Disulfidbrücke auf.
Tierische Insuline, v. a. die vom Schwein, Rind und Schaf, unterscheiden sich nur in wenigen Aminosäuren vom Humaninsulin. Das Rinderinsulin differiert in drei, das Schweineinsulin nur in einer Aminosäure. Es kommt damit dem menschlichen Insulin am nächsten. Die Insulinmoleküle lagern sich in verschiedenen Kristallisationsformen zusammen. Bei physiologischen Konzentrationen von weniger als 1 nmol liegt Insulin als Monomer vor. Bei höheren Konzentrationen kommt es zur Selbstassoziation von 2 Monomeren zu einem Dimer. In Anwesenheit von Zinkionen + aggregieren 3 Dimere zu einer ringförmigen Struktur um 2 Zn2 zu einem Hexamer. Die Assoziationen zu Dimeren und Hexameren erfolgen vorwiegend über Wasserstoffbrückenbindungen zwischen den Seitenketten von Aminosäuren der B-Kette (. Abb. 5.2). 5.2.2
Biosynthese und Sekretion des Insulins
Die Biosynthese des Insulins erfolgt schrittweise über zwei Vorstufen: 11
5 Präproinsulin und 5 Proinsulin.
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Das funktionsfähige Insulin wird zunächst gespeichert und auf einen Sekretionsreiz hin an den perikapillären Raum abgegeben (Exozytose). Am Anfang der Signalkette, die die Insulinsynthese und Sekretion steuert, steht die E-Zellglukokinase als Glukosesensor der E-Zelle. Die Aktivität der Präproinsulinsynthese bzw. die Transkriptionsrate am Insulingen wird durch eine Reihe von Transkriptionsfaktoren gesteuert. Einzelgenmutationen an Genen, die das Enzym Glukokinase und verschiedene Transkriptionsfaktoren kodieren, sind als Ursachen der verschiedenen Formen des MODY-Typ-Diabetes identifiziert worden. Ablauf der Insulinsynthese und Sekretion ! In den Ribosomen der E-Zellen beginnt die Insulinsynthese mit der Bildung von zwei einkettigen Vorläufern, dem Präproinsulin und dem Proinsulin.
Das Proinsulin ist ein Polypeptid, das die $- und %-Kette des Insulins und ein »connecting peptide« (C-Peptid) enthält. Das C-Peptid verbindet die endständi-
. Abb. 5.2 Primärstruktur des Humaninsulins. Schwarz sind die Aminosäuren, die bei der Assoziation von Monomeren zu Dimeren beteiligt sind, grau diejenigen, die bei der Assoziation von Dimeren zu Hexameren beteiligt sind. Aminosäuren, die an den Insulinrezeptor binden, sind mit Pfeil gekennzeichnet
5.2 · Insulin 61
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Kapitel 5 · Normale und pathologische Physiologie des Inselzellsystems
3
ge Karboxylgruppe der B-Kette mit der endständigen Aminogruppe der A-Kette. Beim Präproinsulin ist die endständige Aminogruppe der B-Kette mit einem Signalpeptid verbunden, das beim Menschen aus 24 Aminosäuren besteht. Die Aminosäurefrequenz des Signalpeptids und des C-Peptids variiert von Spezies zu Spezies sehr viel mehr als die der A- und B-Ketten. Das Proinsulin weist nur etwa 1–3% der biologischen Wirksamkeit des Insulins auf und besitzt ausgeprägte antigene Eigenschaften.
4
Steuerung der Insulinsynthese und Sekretion
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! Das Insulingen ist beim Menschen auf dem kurzen Arm des Chromosomen 11 lokalisiert. Es enthält zwei Exons und ein Intron. Die Aktivitätsrate der Präproinsulinsynthese wird durch eine Reihe von Transkriptionsfaktoren gesteuert. Für einige der wichtigsten Transkriptionsfaktoren sind Genmutationen mit einem MODY als Folge bekannt.
In . Abb. 5.3 ist die Regulation der Glukose-induzierten Insulinsynthese in der E-Zelle schematisch dargestellt. Der Glukosetransport in die E-Zelle erfolgt energieunabhängig entsprechend dem Konzentrationsgefälle. Der passive Transport durch die beiden Lipidschichten der Zellmembran erfordert die Bindung an spezifische Carrier-Proteine, die Glukosetranporter. Der Glukosetransporter GLUT 2 ermöglicht den Einstrom in die E-Zelle. Die E-Zellglukokinase katalysiert den Tranfer von Phosphat aus ATP (Adenosintriphosphat) auf Glukose und wirkt durch die Bildung von Glukose-6-Phosphat als Glukosesensor der E-Zelle. Die Glukokinasereaktion steuert damit das Ausmaß des Einstroms von Glukose in die Stoffwechselwege der Glykolyse und des Krebszyklus. Die hepatische Glukokinase ermöglicht den Aufbau von Glykogen aus Glukose. Heterozygote Mutationen des Glukokinasegens haben einen MODY-2, homozygote einen neonatalen Diabetes zur Folge. Die Plasmaglukose ist bei Glukokinasemangel sowohl durch die verminderte Glukose-induzierte Insulinsekretion wie durch die verminderte Glykogenspeicherung in der Leber erhöht. Die Bereitstellung von ATP aus Glykolyse und Krebszyklus führt zum Ver+ schluss des ATP-sensitiven K -Kanals. Dadurch kommt es zur Depolarisation der Plasmamembran und zum Einstrom von extrazellulärem Kalzium. Das bewirkt, zusammen mit intrazellulärem Kalzium, das aus Speichern mobilisiert wird, eine Fusion der Insulin enthaltenden Speichergranula mit der Plasmamembran. Bei Zerreißen der Membran wird Insulin im Sinne einer Exozytose in die Zirkulation sezerniert. Die Insulinsekretion wird durch verschiedene Substanzen beeinflusst. Der wichtigste physiologische Reiz ist der Anstieg der Glukosekonzentration in der extrazellulären Flüssigkeit. Andere Zucker, Aminosäuren, Fettsäuren und ihre Derivate wirken ebenfalls als Sekretionsreiz (z. B. Mannose, Fruktose, Glukosa-
5.2 · Insulin
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5
. Abb. 5.3 Regulation der Insulinsynthese und Sekretion in der E-Zelle: Einstrom von Glukose in die E-Zelle mit Hilfe des Glukosetransporters GLUT 2. Glukokinase katalysiert den Transfer von ATP auf Glukose mit Bildung von Glukose-6-Phosphat. Die Bildung von ATP in Glykolyse und Krebszyklus führt zum Verschluss des ATP-senstiven K+-Kanals, zur Depolarisation der Plasmamembran und zum Einstrom von extrazellulärem Ca2+, das gemeinsam mit intrazellulärem Ca2+ die Fusion der Speichergranula mit der Plasmamembran bewirkt. Durch Zerreißen der Membran wird Insulin in die Zirkulation sezerniert (Exozytose). Die Insulinsynthese erfolgt im endoplasmatischen Retikulum und wird durch eine Reihe von Transskriptionsfaktoren reguliert, u. a. durch die MODY-assoziierten Trankriptionsfaktoren HNF-4D (MODY-1), HNF-1D (MODY-3), HNF-1E (MODY-5), IPF-1 bzw. PDX-1 (MODY-4) und NeuroD 1 (MODY-6). (Nach Bell u. Polonsky 2001)
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Kapitel 5 · Normale und pathologische Physiologie des Inselzellsystems
min, Sorbit, Xylit), weiterhin in der Reihenfolge ihrer Wirkung Arginin, Lysin, Leuzin, Phenylalanin, Valin, Methionin sowie Caproat und Caprylat. Cholinerge Agonisten fördern die Insulinfreisetzung. Glukagon stimuliert ebenfalls die Insulinsekretion. Es wird bei peroraler Glukosegabe daher eher sezerniert als Insulin. Auch andere Hormone (ACTH, Wachstumshormon, TSH, Prostaglandine) fördern die Insulinausschüttung. Mehrere gastrointestinale Hormone weisen eine Insulin-freisetzende Wirkung auf (GIP, GRP, Cholezystokinin, VIP, GLP-1). Somatostatin, Pankreastatin und Insulin hemmen die Insulinsekretion ebenso wie E-adrenerge, D-adrenerge und dopaminerge Agonisten. Mehrere Neurotransmitter vermindern die Glukose-induzierte Insulinexozytose. Am besten charakterisiert ist das aus 29 Aminosäuren bestehende Galanin. Verschiedene pharmakologische Substanzen beeinflussen die Insulinausschüttung aus den E-Zellen. E-Rezeptorenblocker wie Propranolol hemmen die Insulinfreisetzung, weiterhin Diazoxid und Mannuheptulose, während die Sulfonylharnstoffe die Sekretion fördern. Bei konstanter Glukosestimulation über 24 h läuft die Insulinsekretion in 3 Phasen ab, da das Insulin in unterschiedlich schnell mobilisierbaren Speichern vorliegt.
9
5.2.3
Clearance und Degradation des Insulins
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Sämtliche Insulin-sensitiven Gewebe können Insulin nicht nur aufnehmen, sondern auch abbauen. Clearance und Degradation des Insulins werden durch den Insulinrezeptor vermittelt. Die wichtigsten Organe für die Insulin-Clearance sind die Leber (50%) und die Niere (25%). Wegen der Notwendigkeit, auf Veränderungen der Blutglukosekonzentration schnell zu reagieren, besitzt das Insulin eine sehr kurze Halbwertzeit. Sie liegt bei physiologischer Sekretion in das Pfortadersystem zwischen 4 und 6 min. Bei Diabetikern, die Insulin intrakutan injizieren, ist die Halbwertzeit verlängert, da nicht die Leber, sondern die Niere erstes Zielorgan der Insulin-Clearance ist.
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Insulinclearance
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! Etwa 50% des portalen Insulins werden von der Leber aufgenommen. Die
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Clearancerate wird sowohl von physiologischen wie von pathologischen Faktoren beeinflusst. Aufnahme- und Abbaurate sind nicht identisch, da ein Teil des Rezeptor-gebundenen Insulins an die Zirkulation zurückgegeben wird.
Glukosegaben erhöhen die hepatische Insulinaufnahme, wahrscheinlich über Signale vom Darm, da intraportale Glukoseinfusionen diese Wirkung nicht aufweisen. Die hepatische Insulinclearancerate ist bei Adipositas und Typ-2-Diabe-
5.2 · Insulin
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tes vermindert. Neben Insulinresistenz und Hypersekretion ist die verminderte Insulin-Clearance eine der Ursachen für die Erhöhung der Konzentration zirkulierenden Insulins. Die Niere ist das wichtigste Organ der extrahepatischen Insulinclearance. Sie nimmt etwa 50% des peripheren Insulins auf, daneben auch 50% des zirkulierenden Proinsulins und 70% des C-Peptids. Die Insulin-Clearance erfolgt in der Niere durch glomeruläre Filtration und Reabsorption durch die proximalen Tubuli sowie durch Degradation. Da 99% des gefilterten Insulins reabsorbiert werden, gelangen nur Spuren von Insulin in den Urin. Die Degradation des Insulins entspricht der in der Leber. Die Insulin-Clearance der Niere spielt bei Insulin-behandelten Patienten eine sehr viel wichtigere Rolle als bei Stoffwechselgesunden, da subkutan injiziertes Insulin primär die Niere und erst sekundär die Leber passiert. Bei Niereninsuffizienz ist daher der Insulinbedarf dramatisch reduziert. Insulin wird in allen Insulin-sensitiven Geweben aufgenommen und abgebaut. Nach Leber und Niere weist das Muskelgewebe die höchste Clearancerate auf. Insulindegradation Das »Insulin-degrading Enzyme« (IDE) gilt als Schlüsselenzym der Insulindegradation. IDE ist eine Metalloproteinase mit einem Molekulargewicht von 110.000. Die IDE-Einzelgene von Mensch und Maus sind auf den Chromosomen 10 bzw. 19 lokalisiert. 95% des IDE findet sich in der löslichen Zytosolfraktion, kleine Mengen auch in der Plasmamembran sowie in Endosomen und Peroxysomen. Alle insulinsensitiven Zellen enthalten IDE. Das Enzym ist jedoch auch in anderen Zellen nachweisbar. Über die Bindung an den Insulinrezeptor sind sowohl die Wirkung wie die Degradation des Insulins miteinander verbunden. Das Rezeptor-gebundene Insulin kann 1. durch das IDE der Zellmembran degradiert, 2. an die Zirkulation zurückgegeben oder 3. ins Zellinnere durch Endozytose aufgenommen werden, um dort seine Wirkung zu entwickeln, bevor es endgültig durch das intrazelluläre IDE abgebaut wird. Der erste Degradationsschritt erfolgt IDE-katalysiert in der Membran bzw. intrazellulär mit der Abspaltung von zwei oder mehr Fragmenten aus der B-Kette. Es folgt die Reduktion der Disulfidbindungen durch PDI, sodass eine intakte A-Kette und mehrere B-Kettenfragmente entstehen, die schließlich durch lyso-
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Kapitel 5 · Normale und pathologische Physiologie des Inselzellsystems
somale proteolytische Enzyme zu den endgültigen Abbauprodukten gespalten werden. Zusammenfassung Die biologische Funktion der Insulinclearance und -degradation besteht darin, zirkulierendes Insulin zu inaktivieren, da die hormonale Steuerung des Stoffwechsels nicht nur von der Bereitstellung, sondern auch vom Abbau des Hormons abhängig ist. Die Insulindegradation ist daher genau so wichtig wie die Insulinsekretion. Störungen des kompliziert gesteuerten Vorgangs der Insulinclearance spielen bei der Pathophysiologie verschiedener Erkrankungen, z. B. beim Typ-2-Diabetes, eine wichtige Rolle. Weiterhin ist die Insulindegradation untrennbar mit der Insulinwirkung verbunden, denn die ersten Schritte sowohl des Insulinabbaus als auch der Insulinwirkung erfolgen über die Bindung an den Insulinrezeptor.
7 8
5.2.4
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! Das Insulin greift als das potenteste anabol wirkende Hormon in vielfältiger Weise
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Wirkung des Insulins
in den Intermediärstoffwechsel ein. Es fördert die Synthese und Speicherung von Kohlenhydraten (Glykogensynthese), Fetten (Fettsäuresynthese, Lipogenese) und Eiweiß (Proteinsynthese), während es ihre Degradation (Glykogenolyse, Lipolyse, Proteolyse) und Freisetzung in den Kreislauf (Glukoneogenese) hemmt.
Insulin stimuliert die Aufnahme von Glukose, Fettsäuren und Aminosäuren in die Zellen. Es erhöht die Aktivität bzw. Expression von Enzymen, die die Synthese von Glykogen, Lipiden und Proteinen katalysieren, während es die Aktivität bzw. Expression der Enzyme hemmt, die für deren Abbau zuständig sind. Insulin steuert die Glukosehomöostase, indem es die Glukoseaufnahme und Glykolyse in Muskulatur und Fettgewebe fördert und die Glukoneogenese und Glykogenolyse in der Leber hemmt. Insulin ist damit der wichtigste Regulator des Gleichgewichts zwischen Glukoseabsorption im Darm, Glukoseproduktion in der Leber und Glukoseaufnahme und Abbau in den peripheren Geweben. Die vielfältigen Insulinwirkungen werden über einen spezifischen Insulinrezeptor an die Zielzellen vermittelt. Durch ihn werden Signaltransduktionsmechanismen in Gang gesetzt, die das Insulinsignal an die intrazellulären Stoffwechselsysteme weiterleiten. Insulin bewirkt einerseits die Aktivierung bzw. Inaktivierung von Enzymen des Kohlenhydrat-, Fett- und Proteinstoffwechsels (z. B. durch Phosphorylierungen bzw. Dephosphorylierungen), andererseits
5.2 · Insulin
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reguliert es die Enzymaktivitäten durch die Stimulation bzw. Hemmung der Transkription der Gene, die diese Enzyme exprimieren. Die wichtigsten über einen spezifischen Insulinrezeptor vermittelten intrazellulären Insulinwirkungen 5 Regulation von Transporteraktivitäten (Glukose, Fettsäuren, Aminosäuren, Ionen) 5 Direkte Stimulation bzw. Hemmung von Enzymaktivitäten durch Phosphorylierungs- bzw. Dephosphorylierungsreaktionen 5 Indirekte Stimulation bzw. Hemmung von Enzymaktivitäten durch Regulation der Genexpression von Enzymen auf Transkriptionsebene.
Insulinmangel bei Typ-1-Diabetes (Prärezeptorstörung) und Insulinresistenz bei Typ-2-Diabetes (Rezeptor- bzw. Postrezeptorstörung) führen zu einer erheblichen Dysregulation der komplexen intrazellulären Stoffwechselvorgänge. Insulinwirkung auf den Kohlenhydratsstoffwechsel Insulin fördert den Glukosetransport in die Zellen von Muskulatur und Fettgewebe, die Glykolyse in allen Geweben und die Glykogensynthese in Leber und Muskulatur. Es hemmt dagegen die Glykogenolyse in Leber und Muskulatur und die Glukoneogenese in der Leber. Glukosetransport ! Insulin erhöht die Transportrate von Glukose durch die Zellmembran in das Fettund Muskelgewebe. Etwa 75% des Insulin-abhängigen Glukosetransportes betrifft die Muskulatur, nur ein kleiner Teil das Fettgewebe.
Insulin fördert den Glukosetransport, indem es die Translokation des Glukosetransporters GLUT 4 aus einem intrazellulären Pool an die Zelloberfläche stimuliert. GLUT 4 wird in Mikrovesikeln gespeichert, die über zytoplasmatische Mikrotubuli zur Zellmembran transportiert werden, dort andocken, fusionieren und das GLUT-4-Protein exponieren. Die Förderung des Glukosetransports durch Steigerung der Exozytoserate der GLUT-4-Vesikel durch Insulin wird über den Signaltransduktionsmechanismus vom Insulinrezeptor auf die Glukosetransporter gesteuert. Bei dieser Insulin-stimulierten GLUT-4-Translokation wirken viele neu entdeckte Regulationsfaktoren mit. Neben der Translokation der Glukosetranporter zur Zellmembran wird auch deren Synthese in endosomalen Strukturen durch Insulin stimuliert.
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Kapitel 5 · Normale und pathologische Physiologie des Inselzellsystems
Die maximale Transportrate des für Muskel- und Fettzellen zuständigen GLUT 4 liegt im physiologischen Blutglukosebereich bei 5 mmol und kann durch Insulin um den Faktor 15–40 gesteigert werden. Mit Hilfe des Insulinregulierten Glukosetransportes über GLUT 4 ist es daher möglich, die postprandiale Blutglukosekonzentration innerhalb physiologischer Grenzen zu halten, auch wenn unterschiedlichste Mengen von Glukose aus dem Darm resorbiert werden. Die Funktion des für die Leberzellen und die E-Zelle zuständigen Glukosetransporters GLUT 2 wird dagegen nicht durch Insulin beeinflusst. Die maximale Transportrate von GLUT 2 liegt allerdings mit 17–20 mmol sehr hoch. Daher ist in der Leber ein bidirektionaler Glukosetransport über den gesamten Bereich unterschiedlicher Glukosekonzentrationen möglich. Die Glukoseaufnahme verläuft daher bei Hemmung der hepatischen Glukoseproduktion durch Insulin genau so ungestört wie die Glukoseabgabe bei Stimulierung der Glukoseproduktion durch Glukagon. Auch die E-Zelle kann proportional, entsprechend dem Konzentrationsgefälle, Glukose aus dem Blut aufnehmen, auch noch bei sehr hohen Blutglukosekonzentrationen. Das ist wichtig, da die für die Glukosehomöostase notwendige Insulinsekretionsrate von der intrazellulären Glukosekonzentration der E-Zelle bestimmt wird.
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Glykolyse 10 11 12 13 14 15 16 17
! Insulin fördert nicht nur die Aktivität, sondern auch die Expression der bei der Glykolyse beteiligten Enzyme. Die Glykolyserate wird durch Insulin deutlich erhöht.
Intrazellulär steigert Insulin die Aktivität verschiedner Schlüsselenzyme der Glykolyse. Zunächst wird die Hexokinase aktiviert, die nach Aufnahme von Glukose in die Zelle die Bildung von Glukose-6-Phosphat katalysiert, später die Phosphofruktokinase-1 (PFK-1), durch die Fruktose-6-Phosphat in Fruktose1,6-Diphosphat umgesetzt wird. Außerdem stimuliert Insulin die Aktivität der Phosphofruktokinase-2 (PFK-2), die durch Bildung von Fruktose-2,6-Diphosphat aus Fruktose-6-Phosphat ebenfalls die Aktivität der PFK-1 stimuliert und damit zur vermehrten Bildung von Fruktose-1,6-Diphosphat beträgt. Durch hohe Fruktose-1,6-Diphosphat-Spiegel wird wiederum die Pyruvatkinase stimuliert, sodass die Umwandlung von Phosphoenolpyruvat in Pyruvat gesteigert wird, aus dem schließlich Azetyl-CoA (Acetyl-Coenzym A), das Endprodukt der Glykolyse, entsteht.
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Glykogensynthese und Glykogenolyse ! Insulin stimuliert die Glykogensynthese und hemmt die Glykogenolyse. Das in den meisten Geweben nachweisbare Glykogen stellt eine jederzeit mobilisierbare Speicherform der Glukose dar. Die wichtigsten Glykogendepots sind in Leber und Muskulatur lokalisiert.
Das Schlüsselenzym der Glykogensynthese ist die Glykogensynthase, das der Glykogenolyse die Phosphorylase. Die Aktivität beider Enzyme ist gegenläufig koordiniert, d. h. das eine wird inaktiviert, wenn das andere aktiviert wird. Nach einer Mahlzeit stimuliert der Anstieg der Plasmaspiegel von Glukose und Insulin die Glykogensynthese, während gleichzeitig die Glykogenolyse gehemmt wird. Während der Postabsorptionsphase ist es umgekehrt. Die Glykogensynthese verläuft über die Bildung von Glukose-6-Phosphat, Glukose-1-Phosphat und Uridin-Diphosphat-Glukose (UDPG) unter dem Einfluss von Hexokinase, Phosphoglukomutase und Uridyltranferase. Anschließend katalysiert die Glykogensynthase den Tranfer von UDPG an einen Glykogen-Primer. Die Glykogenkettenverzweigungen werden schließlich durch Branching-Enzyme katalysiert. Die Glykogensythese wird über das Substratangebot, d. h. das Glukoseangebot, gesteuert. Daneben fördert Insulin die Glykogensynthese hormonell und zwar ausschließlich über die Stimulation der Glykogensynthaseaaktivität. Auf molekularer Ebene stimuliert Insulin die Glykogensynthese über die Verminderung des Phosphorylierungsstatus der Glykogensynthase durch Hemmung der cAMP-abhängigen Proteinkinase A (PKA) und der Glykogensynthasekinase 3 (PSK-3) sowie durch Aktivierung der Proteinphosphatase 1 (PP 1). Insulin stimuliert PP 1 nicht global. Nur die über sog. Gerüstproteine an das Glykogen-Molekül gebundene PP 1 wird durch Insulin aktiviert, sodass die Glykogensynthase als Substrat der PP 1 dephosphoryliert und damit aktiviert werden kann. Wenn nach einer Mahlzeit die Glykogendepots gefüllt sind, wird fast die gesamte in Leber und Muskulatur eintretende Glukose zu Laktat abgebaut bzw. im Krebszyklus oxydiert. In der Muskulatur regelt der Glykogengehalt des Gewebes auch den Glukoseeinstrom, d. h. bei vollen Glykogendepots wird der Glukoseeinstrom gehemmt. Drei bis vier Stunden nach einer Mahlzeit, d. h. während der Postabsorptionsphase, beginnt die Leber, Glukose an die Blutzirkulation abzugeben. Die Glukose stammt zunächst fast ausschließlich aus der Glykogenolyse.. Bevor das Schlüsselenzym der Glykogenolyse, die Phosphorylase, Glukoseeinheiten in Form von Glukose-1-Phosphat freisetzen kann, katalysieren Debrancher-Enzyme die Abspaltung von Ketten aus dem Glykogenmolekül. Die Phosphorylase bestimmt das Ausmaß der Glykogenabbaurate. Unter dem
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Einfluss von Phosphoglukomutase wird anschließend Glukose-1-Phosphat in Glukose-6-Phosphat umgewandelt. Nach Dephosphorylierung durch Glukose-6-Phosphatase entsteht daraus freie Glukose, die als einziger Zucker aus der Leberzelle diffundieren kann. Andere Gewebe können ebenfalls Glykogen speichern. Da sie jedoch keine Glukose-6-Phosphatase-Aktivität aufweisen und daher keine freie Glukose freisetzen können, spielen sie für die Glukosehomöostase eine nachgeordnete Rolle. Das gilt v. a. für die Muskulatur, die insgesamt mehr Glykogen speichern kann als die Leber. Das Muskelglykogen wird bei Muskeltätigkeit, aber auch durch Anoxie, mobilisiert und bis zum Glukose-1-Phophat abgebaut, um für die eigene Energiegewinnung bereitgestellt zu werden. Die Phosphorylaseaktivität ist 50-mal größer als die der Glykogensynthase. Um die Glykogenolyse effektiv zu hemmen, muss daher die maximale Phosphorylaseaktivität durch Insulin um 99% reduziert werden. Im Wechselspiel zwischen Glykogensynthese und Glykogenolyse spielt daher die Hemmung der Phosphorylaseaktivität eine entscheidende Rolle. Auf molekularer Ebene kommt die Blockierung der Phosphorylaseaktivität durch die Reduktion des Phosphorylierungsgrades und damit die Deaktivierung der cAMP-abhängigen Proteinkinase zustande. Dadurch wird die aktive Phosphorylase A in die inaktive Phosphorylase E transformiert. Zusammenfassung Die Insulinwirkung kommt auch im Bereich des Glykogenstoffwechsels auf molekularer Ebene durch die Beeinflussung der durchEnzyme katalysierten Umsatzraten zustande. Einerseits reguliert Insulin die Aktivität der beteiligten Enzyme durch direkte Aktivierung bzw. Inaktivierung, meist über Phosphorylierungs- bzw. Dephosphorylierungsreaktionen. Andererseits wirkt Insulin auch bei der Regulation der Synthese der Enzyme mit. So fördert es z. B. die Expression von Genen, die spezifische Enzyme kodieren, die die Aktivität der Glykogensynthase stimulieren. Andererseits stimuliert es die Kodierung von Enzymen, die die Aktivität von Phosphorylase blockieren. Diese Effekte werden durch eine Reihe von Transkriptionsfaktoren und Co-Faktoren vermittelt.
Glukoneogenese ! Insulin hemmt die Produktion und Freisetzung von Glukose aus der Leber nicht nur durch die Hemmung der Glykogenolyse, sondern auch durch die Blockierung der Glukoneogenese.
Der Begriff Glukoneogenese beschreibt die Bildung von Glukose aus verschiedenen Substraten, ausgenommen Monosacchariden und Glykogen. Amino-
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säuren, insbesondere Alanin und Glutamin sowie Laktat und Glyzerol sind die wichtigsten Substrate für die Glukoneogenese. Die Aminosäuren stammen vorwiegend aus dem Proteinkatabolismus der Skelettmuskulatur. Dabei nimmt das Alanin eine Schlüsselstellung ein. Es stammt nicht nur aus dem Abbau der intrazellulären Proteine, sondern es wird auch im Muskelgewebe im Glukose-Alanin-Glukose-Zyklus durch Transaminierung aus Pyruvat gebildet. Keine andere Aminosäure wird in dem Maße von der Muskulatur abgegeben und von der Leber aufgenommen und zu Glukose umgewandelt wie Alanin. Ein Drittel des für die Glukoneogenese utilisierten Laktats stammt aus Geweben mit anaeroben Stoffwechsel, z. B. Erythrozyten, Leukozyten, Nierenmark und Retina, zwei Drittel aus Skelettmuskulatur, Dünndarm, Haut und Fettgewebe. Laktat wird zunächst zu Pyruvat, dann über Oxalazetat und Phosphoenopyruvat zu Glukose umgewandelt. Das Fettgewebe ist die wichtigste Quelle für die Bereitstellung von Glyzerol und damit der wichtigste langfristig genutzte Energiespeicher. Bei der Hydrolyse von Triglyzeriden entstehen Glyzerol, das für die Glukoneogenese genutzt wird, und Fettsäuren, deren Oxydation Energie für die Glukoneogenese freisetzt. Während der Postabsorptionsphase wird Glukose ausschließlich von der Leber bereitgestellt. Zunächst entfallen etwa 70–80% der gesamten Glukoseabgabe auf die Glykogenolyse und nur 20–30% auf die Glukoneogenese. 10–15% der gesamten Glukoseproduktion der Leber stammen aus der Umwandlung von Glukose aus Laktat, 1–2% aus Glyzerol und 5–12% aus Alanin. Bei länger dauerndem Fasten wird die Glukoneogenese jedoch zunehmend die wichtigste Glukosequelle. Daher steigt die Glukoseproduktion aus Alanin nach 2–3 Tagen Fasten auf 26%. Das Ausmaß der Glukoneogenese wird in erster Linie über das Substratangebot gesteuert, d. h. hohe Konzentrationen von Aminosäuren, Laktat und Glyzerol steigern die Glukoneogenese. Durch Erhöhung der Glukosekonzentration wird die Glukoneogenese dagegen blockiert. Insulin vermindert die Freisetzung von Aminosäuren aus Proteinen durch Hemmung der Proteolyse, die von Glyzerol und Fettsäuren aus Triglyzeriden durch Hemmung der Lipolyse und die von Laktat durch Stimulierung der Pyruvatdehydrogenase. Auf molekularer Ebene hemmt Insulin die Glukoneogenese durch die direkte Beeinflussung der Aktivität einer Reihe von Glukoneogeneseenzymen und durch die Hemmung der Expression von Genen, die diese Enzyme kodieren. Insulin hemmt z. B. eine der Schlüsselreaktionen der Glukoneogenese, indem es die Umsatzrate der Fruktose-1,6-Diphosphatase (FDP) reduziert, die Fruktose-1,6-Diphosphat in Fruktose-6-Phosphat umwandelt. Durch Blockierung der Transkription des Gens, das die Phospho-Enolpyruvat-Karboxy-Kinase (PEPCK) kodiert, hemmt Insulin einen weiteren Umsatz-bestimmenden Schritt
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Kapitel 5 · Normale und pathologische Physiologie des Inselzellsystems
der Glukoneogenese. PEPCK katalysiert die Umwandlung von Oxalazetat in Phosphoenolpyruvat. Außerdem vermindert Insulin die Transkription der Gene, die FDP und die nur in der Leber vorkommende Glukose-6-Phosphatase kodieren. Glukose-6-Phosphatase katalysiert die Umwandlung von Glukose-6-Phosphat in freie Glukose. Allerdings hemmt Insulin die Glukoneogenese auch durch die Stimulation der Glykolyse, indem es die Transkription der Gene fördert, die die Glykolyseenzyme Glukokinase, PFK-1 und Pyruvatkinase kodieren. Insulinwirkung auf den Fettstoffwechsel Insulin stimuliert die Lipogenese, d. h. die Synthese von Fettsäuren und Triglyzeriden. Es vermindert dagegen die Lipolyserate v. a. im Fettgewebe und senkt damit den Plasmaspiegel von freien Fettsäuren. Insulin hemmt die Fettsäureoxydation in Muskulatur und Leber und vermindert die Bildung von Ketonen in der Leber. Lipogenese Insulin vermittelt nicht nur die Aufnahme von Glukose in die Adipozyten, sondern es fördert auch den glykolytischen Abbau von Glukose. Als Endprodukt der Glykolyse entsteht Azetyl-CoA, das durch Karboxylierung in Malonyl-CoA, das Ausgangssubstrat der Fettsäuresynthese, umgewandelt wird. Die vermehrt anfallenden Fettsäuren werden zu Triglyzeriden nicht nur im Fettgewebe, sondern auch in anderen Geweben verestert. Insulin fördert die Lipogenese jedoch nicht nur durch ein vermehrtes Substratangebot, sondern auch durch die direkte Aktivierung der Lipid-synthetisierenden Enzyme (z. B. Pyruvatdehydrogenase, Azetyl-CoA-Karboxylase, Fettsäuresynthase) sowie durch die Expression der Gene, die diese Enzyme kodieren. Lipolyse, Fettsäureoxydation und Ketogenese Insulin hemmt die Lipolyse durch die Verminderung von cAMP, indem es eine cAMP-spezifischen Phosphodiesterase stimuliert. Dadurch wird die cAMPabhängige Proteinkinase A gehemmt, die für die Phosphorylierung, d. h. Aktivierung der Lipase, zuständig ist. Die Aktivität der Lipase wird durch Insulin jedoch nicht nur über die Proteinkinaseblockierung gehemmt, sondern auch durch eine Phosphataseaktivierung. Dadurch wird die durch Phosphorylierung aktivierte Lipase vermehrt dephosphoryliert und damit inaktiviert. Das Fettgewebe ist der wichtigste Triglyzeridspeicher des Körpers. Durch die Lipolyse werden langkettige Fettsäuren freigesetzt und über das Blut an verschiedene Gewebe transportiert, um dort oxydiert zu werden. Durch die Fettsäureoxydation z. B. in der Muskulatur wird nicht nur Energie freigesetzt, sondern auch die Utilisationsrate von Glukose herabgesetzt. Darüber hinaus wird jedoch auch die Oxydationsrate der Fettsäuren durch ein vermehrtes Glukoseangebot
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gesenkt. Es besteht daher eine reziproke Beziehung zwischen den Oxydationsraten der beiden Substrate. Dieser Kontrollmechanismus wird auch als GlukoseFettsäure-Zyklus bezeichnet. Der umsatzbestimmende Faktor der Fettsäureoxydation ist daher die Lipolyserate im Fettgewebe, durch die die Konzentration der Fettsäuren im Blut erhöht wird. Insulin hemmt durch Blockierung der Aktivität der Fettgewebslipase die Lipolyserate, senkt dadurch die Plasmaspiegel der Fettsäuren und vermindert deren Oxydation. Glukagon hat eine entgegengesetzte Wirkung. Durch Erhöhung der Konzentration von Acyl-CoA steigert es die Aktivität der Lipase und damit die Lipolyserate. Fettsäuren werden vermehrt für die Oxydation bereitgestellt. Das Schlüsselenzym der Fettsäureoxydation ist die Karnitin-PalmitoylTransferase 1. Sie katalysiert die Bildung von Fettsäurekarnitin (Acylkarnitin), wodurch die Passage der aktivierten Fettsäuren (Fettsäure-Acyl-CoA) durch die mitochondrale Membran erleichtert und deren Oxydation gesteigert wird. Malonyl-CoA, dessen Bildung durch Azetyl-CoA-Karboxylase katalysiert wird, ist einerseits das Ausgangssubstrat der Fettsäuresynthese. Bei hohem Glukoseangebot mit entsprechender Insulinwirkung wird durch gesteigerte Glykolyse vermehrt Malonyl-CoA gebildet und damit die Fettsäuresynthese gefördert. Andererseits hemmt Malonyl-CoA die Aktivität der Karnitin-Palmitoyl-Transferase 1. Dadurch wird die Bildung von Acyl-Karnitin vermindert und die Passage von Fettsäure-Acyl-CoA in die Mitochondrien blockiert. Die Fettsäureoxydation wird gehemmt. Bei Glukose- bzw. Insulinmangel ist durch die verstärkte Glukagonwirkung nicht nur die Lipolyse gesteigert und damit die Bereitstellung von Fettsäuren erhöht, sondern auch die Malonyl-CoA-Bildung durch Hemmung der Glykolyse vermindert. Dadurch ist die Fettsäuresynthese gehemmt und die KarnitinPalmitolyil-Transferase 1 kann ungehemmt wirksam werden. Durch die vermehrte Bildung von Acylkarnitin wird der Einstrom von aktivierten Fettsäuren in die Mitochondrien erheblich gesteigert. Der vermehrte Einstrom von Fettsäure-Acyl-CoA führt dazu, dass die Fettsäuren nicht nur zur Energiewinnung oxydiert, sondern auch im Hydroxymethylglutaryl-Zyklus zu E-Hydroxybutyrat und Azetazetat im Sinne einer gesteigerten Ketogenese transformiert werden.
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Kapitel 5 · Normale und pathologische Physiologie des Inselzellsystems
Zusammenfassung Insulin hemmt die Lipolyse in verschiedenen Organen, v. a. im Fettgewebe. Dadurch wird der Fettsäurespiegel gesenkt und die Fettsäureoxydation insbesondere in der Muskulatur reduziert. Die Stimulation der Glykolyse durch Insulin führt zur Erhöhung der Konzentration von Malonyl-CoA, das die Karnitin-Palmitoyl-Transferase 1 hemmt und damit die Bildung von Acyl-Karnitin vermindert. Dadurch wird der Einstrom von aktivierten Fettsäuren in die Mitochondrien reduziert und ihre Oxydation vermindert. Auch die Umbildung von Fettsäuren in Ketone wird dadurch gehemmt. Insulin hemmt daher nicht nur die Lipolyse, sondern auch die b-Oxydation der Fettsäuren und die Ketogenese. Umgekehrt werden bei Hunger bzw. Insulinmangel durch die Dominanz der Glukagonwirkung nicht nur die Lipolyse, sondern auch die Oxydation von Fettsäuren und die Ketogenese gesteigert.
Insulinwirkung auf den Proteinstoffwechsel ! Insulin stimuliert die Proteinsynthese in Muskulatur, Fettgewebe, Leber und anderen Geweben und blockiert die Proteolyse v. a. in der Muskulatur. Insulin steigert die Transportrate von Aminosäuren in verschiedene Gewebe, insbesondere in die Leber.
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Die Proteinsynthese wird durch das Substratangebot, d. h. die Bereitstellung von Aminosäuren, v. a. Leuzin, und in der Muskulatur auch durch das Ausmaß der Bewegungsaktivität gesteuert. Insulin erhöht die Proteinsyntheserate und blockiert den Proteinabbau durch die Aktivierung eines Enzymsystems, das als »Mammalian Target of Rapamycin« (mTOR) bezeichnet wird. Die durch Insulin initiierte Aktivierung von mTOR erfolgt über die konsekutive Aktivierung der drei Enzyme 5 PI(3)K, 5 »Phosphoinositide-dependent Proteinkinase« (PDK 1) und 5 Proteinkinase B (PK). Als Aktivierungssignale sind neben Insulin auch Aminosäuren und »Insulinlike Growth Factor 1« (IGF-1) beteiligt. Die Aktivierung von mTOR kann durch Aminosäurendeprivation oder PI(3)K-Hemmer blockiert werden. Das aktivierte mTOR kontrolliert die mRNA-Translationsreaktionen der Proteinsynthese.
5.2 · Insulin
5.2.5
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5
Insulinrezeptor
! Das Insulin vermittelt seine Wirkungen über die reversible Bindung an einen spezifischen Rezeptor, der in der Zellmembran verschiedener Zielzellen lokalisiert ist, zu denen v. a. Muskel-, Fett- und Leberzellen gehören.
Der Insulinrezeptor gehört zur Unterfamilie der Rezeptor-Tyrosinkinasen, zu denen auch der IGF-1-Rezeptor und der »Insulin Receptor-related Receptor« (IRR) gehören. Beim Insulinrezeptor handelt es sich um ein tetrameres Protein, das aus einer dimeren extrazellulär gelegenen D-Untereinheit mit einer Bindungsstelle für das Insulinmolekül und einer extra-, überwiegend jedoch intrazellulär gelegenen, ebenfalls dimeren E-Untereinheit besteht. Die E-Untereinheit enthält die Tyrosinkinase. Beide Untereinheiten sind durch Disulfidbrücken miteinander verbunden. Die Synthese des Rezeptors erfolgt über ein einzelnes Polypeptid (Prorezeptor), das durch Proteolyse und Disulfidbrückenbildung in den reifen Rezeptor umgewandelt wird. Ablauf der Insulinsignaltransduktion Die D-Untereinheit hemmt primär die Tyrosinkinaseaktivität der E-Untereinheit. Die Insulinbindung an die D-Untereinheit führt jedoch zu einer Konformationsänderung der Rezeptorproteine und damit zur Derepression der Tyrosinkinaseaktivität in der E-Untereinheit. Durch Autophosphorylierung mehrerer Tyrosinreste wird die Aktivität der Tyrosinkinase aktiviert, wodurch das Insulinsignal verstärkt wird. Die folgende Signaltransduktion erfolgt über die Phosphorylierung intrazellulärer Proteinsubstrate, d. h. die aktivierte Tyrosinkinase initiiert diverse Phosphorylierungskaskaden, die die Mediatorensysteme der intrazellulären Insulinsignaltransduktion aktivieren und damit die vielfältigen Insulinwirkungen vermitteln. Als Insulinrezeptorsubstrate wurden verschiedene, an Tyrosinresten phosphorylierte Proteine identifiziert, z. B. die Insulinrezeptorsubstrate 1–4 (IRS 1– 4). Die phosphorylierten Tyrosine in diesen Substraten wirken als Liganden für andere Signalemoleküle, an deren SH2-Domänen sie andocken können, um sie zu aktivieren. Solche Adaptorproteine sind z. B. die regulatorische Untereinheit p 85 und die katalytische Untereinheit p 110 der PI(3)K, die dadurch aktiviert wird. PI(3)K nimmt bei allen metabolischen und mitogenen Wirkungen des Insulins eine Schlüsselstellung ein. Inhibitoren der PI(3)K blockieren daher fast alle Insulinwirkungen einschließlich des Glukosetransports und der Glykogen- und Lipidsynthese. Die über ihre SH2-Domänen aktivierte PI(3)K katalysiert die Phosphorylierung von Phosphoinositiden zu Phosphatidyl-Inositol-3-Phos-
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Kapitel 5 · Normale und pathologische Physiologie des Inselzellsystems
phat, das verschiedene Signalmoleküle, d. h. Proteinkinasen, bindet und deren Aktivität oder Lokalisation verändert. PI(3)K besitzt jedoch auch Serinkinaseaktivität, z. B. bei der Aktivierung von mTOR im Rahmen der durch Insulin stimulierten Proteinsynthese. Beide Untereinheiten, die regulatorische (p 85) und die katalytische (p 110) interagieren auch mit anderen Signalmolekülen, z. B. der Proteinsynthese und können unabhängig von der Phosphatidyl-Inositol-3Phosphat-Bildung wirken. Für den insulininduzierten Glukosetransport ist ein zweiter Signaltransduktionsweg wichtig. Über den Adaptor-Protein-Komplex Cbl-CAP sowie die Signalproteine C3G und TC 10 wird der Glukosetransporter GLUT 4 aktiviert. Eine weitere wichtige Phosphorylierungskaskade betrifft die Mitogen-activated-Protein-(MAP-)Kinase, die über Insulinrezeptorproteine und Adaptorproteine aktiviert wird und verschiedene Transkriptionsfaktoren phosphoryliert. Dadurch wird ein Transkriptionsprogramm initiiert, das für die Regulation der Zellproliferation und Zelldifferenzierung notwendig ist. Eine Blockade dieses Transduktionsweges verhindert die Stimulation des Zellwachstums durch Insulin, nicht jedoch die metabolischen Wirkungen des Insulins. In . Abb. 5. 4 sind die wichtigsten Schritte der Signaltransduktion über den Insulinrezeptor dargestellt.
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Hemmung der Insulinsignaltransduktion Die Tyrosinphosphorylierung des Insulinrezeptors und der IRS-Proteine kann durch Serinphosphorylierung kompetetiv gehemmt werden. Dadurch wird die Signaltransduktion gestört. Mehrere Proteinkinasen sind bei diesen inhibitorischen Serinphosphorylierungen beteiligt, z. B. die PI(3)K, die Glykogen-Synthase-Kinase-3 und mTOR. Die Insulinwirkung wird auch durch Protein-Tyrosin-Phosphatasen (PTP) beeinträchtigt, die die schnelle Dephosphorylierung des Rezeptors und seiner Substrate katalysieren. Prärezeptor-, Rezeptor- und Postrezeptorstörungen Die wichtigste Prärezeptorstörung ist der durch verminderte oder fehlende Insulinsekretion bedingte relative bzw. totale Insulinmangel beim Typ-1-Diabetes. Störungen auf Rezeptorebene können durch eine verminderte Insulinbindung auf D-Untereinheitenebene oder eine gestörte Signalübermittlung auf E-Untereinheitenebene bedingt sein. Postrezeptordefekte sind Störungen im Bereich des oxydativen und nichtoxydativen Glukosestoffwechsels, der Glukoneogenese, der Glykogensynthese und Glykogenolyse, der Lipogenese und Lipolyse sowie der Proteinsynthese und Proteolyse. Die Assoziation und Dissoziation des Insulins an seinem Rezeptor ist in den verschiedenen Geweben (Adipozyten, Leberzellen, Muskelzellen) unterschiedlich ausgeprägt. Die Insulinbindung an den Rezeptor ist schließlich auch vom Ausmaß des Insulinangebots abhängig. So führt ein Überangebot von Insulin zur Verminderung der Rezeptorbindung
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. Abb. 5.4 Signaltransduktion über den Insulinrezeptor. Der Insulinrezeptor katalysiert als Tyrosinkinase die Phosphorylierung von Zellproteinen (z. B. IRS-1–4), die an die SH2-Domänen anderer Signalmoleküle andocken und sie aktivieren, z. B. die Untereinheiten p 85 und p 110 der PI(3)K mit Konsequenzen für die Glykogen-, Lipid- und Proteinsynthese, oder die SHP2 mit Aktivierung der MAP-Kaskade, die die Genexpression vieler Enzyme reguliert. Der Glukosetransporter GLUT 4 wird über den Adaptor-Protein-Komplex Cbl-CAP mit den Signalproteinen C3G und TC 10 aktiviert. Die verschiedenen Signaltransduktionswege wirken in konzertierter Weise auf die Koordination der GLUT-4-Vesikeltransporte, der Enzymaktivierung und Inaktivierung und der Genexpression und damit auf die Regulation des Kohlenhydrat-, Fett- und Eiweißstoffwechsels. (Nach Saltiel u. Kahn 2001)
5.2 · Insulin
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Kapitel 5 · Normale und pathologische Physiologie des Inselzellsystems
(Down-Regulation), ein Minderangebot zu erhöhter Bindungsaffinität (UpRegulation). Zusammenwirken der verschiedenen Schritte der Insulinsignaltransduktion und Koordination der wichtigsten Insulinwirkungen 5 Proteintranslokation zur Zellmembran (GLUT-4-Vesikeltransport) 5 Stimulation des Membrantransports (Glukose, Fettsäuren, Aminosäuren, Ionen) 5 Stimulation der Glykogenese in Leber und Muskulatur 5 Stimulation der Lipogenese im Fettgewebe 5 Stimulation der Proteinsynthese in Muskulatur, Fettgewebe und Leber 5 Hemmung der Glukoneogenese in der Leber 5 Hemmung der Lipolyse in Leber und Fettgewebe 5 Hemmung der Proteolyse in verschiedenen Geweben 5 Regulation der Zellproliferation und Zelldifferenzierung in verschiedenen Geweben
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Intrazellulär wirkt Insulin meist über die Aktivierung bzw. Inaktivierung von Enzymen (Phosphorylierungs- bzw. Dephosphorylierungsreaktionen) und die Hemmung bzw. Stimulation der Transkription von Genen, die für die Expression der beteiligten Enzyme zuständig sind. Beim Insulinmangel des Typ-1-Diabetes liegt eine typische Prärezeptorstörung vor, bei der Insulinresistenz des Typ-2-Diabetes dagegen eine Rezeptorbzw. Postrezeptorstörung. 5.2.6
Messung der Insulinkonzentration, Sekretion und Sensitivität
Das Insulin weist erhebliche basale und postprandiale Konzentrationsschwankungen im Plasma auf (0–200 µU/ml). Die Basalwerte betragen 10–20 µU/ml, die Postprandialwerte steigen bis 100 µU/ml. Bei Kindern werden niedrigere Werte gemessen. Sie steigen jedoch während der Pubertät an. Die tägliche Insulinsekretion liegt bei Kindern und Jugendlichen zwischen 0,8 und 1,2 I.E/kg Körpergewicht. Die Insulinsekretion erfolgt pulsativ in zwei Phasen, einer kurzen 1. Phase (10 min) und einer längeren 2. Phase (50–100 min). Die klassischen Clamp-Tests zur Bestimmung der Insulinsekretion und Sensitivität sind durch Berechnungsmethoden ergänzt worden, die entweder Basalwerte für Glukose und Insulin oder Befunde des oGTT verwenden. Die mit unterschiedlichen Formeln ermittelten Indizes (HOMA, QUICKI, ISI usw.) korrelieren gut mit den Ergebnissen der sehr viel aufwendigeren Clamp-Tests.
5.2 · Insulin
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Messung der Insulinkonzentration Die E-Zelle sezerniert neben Insulin äquimolare Mengen von C-Peptid sowie in geringem Maße auch intaktes und Split-Proinsuline. Proinsuline werden von der Leber nicht extrahiert. Daher weisen sie im Vergleich zu Insulin (5 min) eine relativ lange Halbwertzeit auf (90 min). Da Proinsuline im Plasma akkumulieren, entfallen basal etwa 15–20% der Gesamtmenge von Insulin und Proinsulin auf Proinsuline. Die mit klassischen Radioimmunoassays bestimmten Insulinwerte lagen wegen der Kreuzreaktivität mit Proinsulinen deutlich höher als die mit modernen Methoden gemessenen. Die Insulinkonzentration ist durch ausgeprägte Schwankungen gekennzeichnet. Das hängt u. a. damit zusammen, dass das Insulin pulsativ sezerniert wird. Einer kurzen 1. Phase von etwa 10 min Dauer folgt eine längere 2. Phase von 50–100 min Dauer. Diese Oszillationen sind für die Glukosehomöostase notwendig. Sie sind nach Glukosebelastung bzw. nach Nahrungsaufnahme sehr viel ausgeprägter. Bei verminderter Glukosetoleranz, Typ-2-Diabetes und im Alter sind sie weniger ausgeprägt. Für eine normale Glukoseregulation ist die Insulinsekretion der 1. Phase von besonderer Bedeutung. Die Insulinkonzentration beträgt beim nüchternen Stoffwechselgesunden venös und arteriell 10–20 µU/ml. Im Pfortaderblut liegt sie 2- bis 3-fach höher. Bei Kindern liegen die Basalwerte eher niedriger (zwischen 5 und 10 µU/ml). Bei sehr niedriger Blutglukosekonzentration werden Werte von nahezu 0–2 µU/ ml gemessen. Nach Nahrungsaufnahme werden arteriell Spiegel bis 100 µU/ml sowie portal Konzentrationen bis 180 µU/ml gemessen. Daraus geht hervor, dass die Leber fast 50% des vom Inselzellsystem in den Pfortaderkreislauf sezernierten Insulins extrahiert. Während der Pubertät treten deutlich erhöhte Insulin-Nüchternwerte auf. Die Insulinkonzentration nach oraler oder intravenöser Glukosebelastung ist bei Jugendlichen ebenfalls gegenüber der bei Kindern erhöht. Bei Mädchen liegen die Werte meist noch höher als bei Jungen. Ursache dieser basal und nach Stimulation erhöhten Plasmaspiegel von Insulin bei Jugendlichen ist die durch Wachstumshormon und wahrscheinlich auch durch Sexualhormone bedingte Verminderung der Insulinsensitivität während der Pubertät. Stoffwechselgesunde Freiwillige sezernieren basal, d. h. ohne Nahrungszufuhr, 14–17 µU Insulin pro Minute, das sind etwa 1 I.E./h bzw. 24 I.E./Tag. Das entspricht einer Basalinsulinsekretion von etwa 0,35 I.E./kg Körpergewicht und Tag. Bei Kindern und Jugendlichen werden während eines Fastentages entsprechende Basalinsulinwerte nachgewiesen. Die orale Gabe von 12 g Glukose erfordert die Bereitstellung von etwa 1,35 I.E. Insulin. Unter Berücksichtigung dieser Daten weist ein etwa 10-jähriges Kind mit einem Körpergewicht von 30 kg folgenden täglichen Insulinbedarf auf:
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Kapitel 5 · Normale und pathologische Physiologie des Inselzellsystems
5 Nahrungsunabhängige Basalinsulinsekretion: 10,5 I.E. (0,35 I.E./kg Körper-
gewicht), 5 Nahrungsabhängige Prandialinsulinsekretion (bei Zufuhr kohlenhydrathal-
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tiger Nahrungsmittel, die 14x10 g Glukose äquivalent sind): 19 I.E. (0,65 I. E./kg Körpergewicht). Insgesamt werden etwa 1,0 I.E. Insulin/kg Körpergewicht und Tag benötigt. Der ermittelte Wert für den Insulintagesbedarf entspricht den klinischen Erfahrungen mit der differenzierten Prandial- und Basalinsulinsubstitution von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes. Der tägliche Insulinbedarf liegt bei Säuglingen, Klein- und Schulkindern eher niedriger (0,8 I.E./kg Körpergewicht), bei Jugendlichen dagegen oft deutlich höher (bis 1,5 I.E./kg Körpergewicht).
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Messung der Insulinsekretion und Sensitivität
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! Insulin nimmt unter den Hormonen eine Sonderstellung ein, weil seine Wirkung
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nicht nur von der Änderung seiner Sekretionsraten, sondern auch von seiner Sensitivität in verschiedenen Geweben.
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Die Messung dieser beiden voneinander abhängigen Parameter ist im Hinblick auf die Aufklärung der Pathogenese des Typ-2-Diabetes von großer wissenschaftlicher, jedoch geringerer praktischer Bedeutung. Die Referenzmethode für die Bestimmung der Insulinsekretion ist der hyperglykämische Glukose-ClampTest, die für die Messung der Insulinsensitivität der euglykämisch-hyperinsulinämische Glukose-Clamp-Test. Da beide Messmethoden sehr aufwendig sind, wurden Tests entwickelt, die mit wenigen basalen Bestimmungen der Blutglukose- und Plasmainsulinkonzentration auskommen. Mit dem »Homeostasis Model Assessment« (HOMA) können mit Hilfe mathematischer Annäherungen sowohl die E-Zellfunktion (HOMA-B) sowie die Insulinsensitivität bzw. Resistenz (HOMA-R) ermittelt werden. Ein weiterer Index für die Ermittlung der Insulinsensitivität ist der »Quantitative Insulin Sensitivity Check-Index« (QUICKI).
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5.3
Glukagon
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Die Glukosehomöostase wird wesentlich durch den Insulin-Glukagon-Antagonismus, d. h. durch eine fein aufeinander abgestimmte Insulin- und Glukagonsekretion, gesteuert. Das Somatostatin, erst recht aber das PP, haben für die Pathophysiologie des Diabetes eine nachgeordnete Bedeutung. Glukagon ist ein einkettiges Peptid ohne Disulfidbrücke. Es besteht aus 129 Aminosäuren und hat ein Molekulargewicht von 3.485. Die Primärstruktur
5.3 · Glukagon
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5
des Glukagons ist bei allen Säugetieren gleich. Das C-terminale Ende der Peptidkette scheint für die biologische Wirksamkeit und die spezifische Antigenität des pankreatischen Glukagons verantwortlich zu sein. Glukagon wird nicht nur in den D-Zellen des Pankreas, sondern auch in der Magenmukosa gebildet. Daneben wurden in der Darmschleimhaut und in den Speicheldrüsen glukagonähnliche Substanzen nachgewiesen, deren Molekulargewicht meist über dem des pankreatischen Glukagons liegt. Da sie mit unspezifischen Glukagonantikörpern reagieren, werden sie als immunreaktives Glukagon (IRG) bezeichnet. Die Biosynthese des Glukagons verläuft in den D-Zellen des Pankreas über ein Proglukagon. Bei Stimulation erfolgt die Sekretion des in Granula gespeicherten Glukagons ebenfalls durch Exozytose. Die Sekretion wird durch folgende Agonisten stimuliert: 5 nervöse (Vagus, Splanchnikus, E-adrenerge Agonisten, E-adrenerge Blocker), 5 endokrine (Cholezystokinin, Gastrin, Sekretin, Pankreastatin, GIP, VIP, Wachstumshormon, ACTH, TSH, Katecholamine, Prostaglandine), 5 metabolische (Abfall der extrazellulären Konzentration utilisierbarer Zucker und Fettsäuren, Anstieg des Aminosäurenspiegels), aber auch 5 cholinerge, 5 D-adrenerge, 5 E-adrenerge und 5 dopaminerge. Schließlich fördern auch Neurotransmitter wie Galanin und pharmakologische Substanzen (Diazoxid, Sulfonylharnstoffe, Aspirin) die Glukagonsekretion. Insulin, Somatostatin, Glukagon selbst und GLP-1 hemmen die Glukagonsekretion. Während hohe Plasmaspiegel von Glukose und Fettsäuren die Ausschüttung von pankreatischem Glukagon hemmen, stimulieren Kohlenhydrat- und Fettingestion die Freisetzung von intestinalem Glukagon. Die Art der Durchblutung einer Langerhans-Insel mit der Flussrichtung des arteriellen Blutes vom E-zellreichen Kern zum D-zellreichen Randsaum ermöglicht eine feinabgestimmte parakrine Regulation von Glukagon- und Insulinsekretion. Der funktionelle Insulin-Glukagon-Antagonismus ist eine der wichtigsten Grundlagen der Glukosehomöostase. Die Inaktivierung des Glukagons erfolgt vorwiegend in der Leber, den Nieren und der Skelettmuskulatur. Die physiologische Serumkonzentration pankreatischen Glukagons liegt bei stoffwechselgesunden Menschen zwischen 50 und 150 pg/ml, die Tagessekretion beträgt 0,10–0,15 mg. Die physiologischen Serumkonzentrationen von Glukagon schwanken sehr viel weniger als die von Insulin.
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Kapitel 5 · Normale und pathologische Physiologie des Inselzellsystems
Glukagon repräsentiert gemeinsam mit den Katecholaminen (Adrenalin und Noradrenalin), Kortisol und Wachstumshormon das katabole Prinzip des Energiestoffwechsels. Seine Wirkungen sind dem des anabol wirkenden Insulins entgegengesetzt. Glukagon steigert die Glukoseproduktion durch Stimulation der Glukoneogenese und Glykogenolyse sowie die Ketogenese in der Leber. Es erhöht weiterhin die Lipolyserate im Fettgewebe. Obwohl die Glukagonwirkung von relativ kurzer Dauer und durch die Insulinsekretion limitiert ist, sorgt das Glukagon für die Freisetzung utilisierbarer Substrate (Glukose, Fettsäuren, Ketonkörper) und für die Energiegewinnung bei Mangelzuständen (Hunger, Hypoglykämie). Daher steigt der Glukagonspiegel bei körperlicher Anstrengung, Trauma, Schmerz, Verbrennungen, Blutungen, Sepsis, Hypoxie oder anderen Formen von Stress. Im Zusammenspiel mit anderen katabol wirkenden, kontrainsulinären Hormonen stellt Glukagon v. a. Glukose für das Gehirn bereit, während die Katecholamine Fettsäuren für die Muskulatur mobilisieren. Die Glukagonwirkung wird über spezifische Rezeptoren in Leberzell- und Muskelzellmembran vermittelt. Hauptangriffspunkt des pankreatischen Glukagons ist jedoch die Leber. Die Bindung von Glukagon an seinen Rezeptor führt zu einer Aktivierung des Adenylzyklasesystems und damit zur vermehrten Bildung von cAMP. Als intrazellulärer Messenger innerhalb des für einige Proteohormone typischen Effektorsystems löst das cAMP die Phosphorylierung nukleärer und ribosomaler Enzyme des Intermediärstoffwechsels aus. Im Gegensatz dazu wird die cAMP-Konzentration durch Insulin intrazellulär vermindert. Die Folgen der durch Glukagon ausgelösten Phosphorylierungskaskade sind v. a. eine Inaktivierung der Proteinsynthese und Stimulation der Proteolyse in der Leber. Durch die Bereitstellung von Aminosäuren wird die Glukoneogenese gesteigert. Weiterhin aktiviert Glukagon das Phosphorylasesystems und inaktiviert die Glykogensynthase, was zu einer Steigerung der Glykogenolyse und Hemmung der Glykogensynthese führt. Schließlich fördert Glukagon die Aktivität der Lipasen in den Adipozyten und verursacht eine gesteigerte Lipolyse mit vermehrtem Angebot von Fettsäuren und damit eine Stimulation der Ketogenese. Neben seinen Stoffwechselwirkungen beeinflusst das Glukagon verschiedene Organfunktionen (Herz, Gefäße, Gastrointestinaltrakt, Niere) und stimuliert die Freisetzung von Hormonen (Katecholamine, Wachstumshormon, Insulin, Kalzitonin, Prostaglandin), während es die von GIP hemmt. 5.4
Hormonelle Steuerung der Glukosehomöostase
Die Regulation der Glukosehomöostase mit Blutglukosewerten zwischen 60 und 180 mg/dl hängt in erster Linie von einem fein aufeinander abgestimm-
5.4 · Hormonelle Steuerung der Glukosehomöostase
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ten Wechselspiel der beiden Inselzellhormone Insulin und Glukagon ab. Während das Insulin die Aufnahme, Verbrennung oder Speicherung von Glukose in den Insulin-abhängigen Organen Muskulatur, Fettgewebe und Leber aktiviert, kontrolliert das Glukagon die Produktion von Glukose in der Leber durch die Stimulation der Glukoneogenese und der Glykogenolyse. Bei allen Lebenssituationen, z. B. unter Ruhebedingungen, bei Muskeltätigkeit, nach Mahlzeiten oder im Hungerzustand vertritt das Insulin daher das anabole, das Glukagon dagegen das katabole Stoffwechselprinzip. Unter bestimmten Bedingungen (z. B. bei Hypoglykämie) greifen neben Insulin und Glukagon auch Katecholamine, Kortisol und Wachstumshormon in die Glukoseregulation ein. 5.4.1
Glukosehomöostase unter Ruhebedingungen
! Die Glukosehomöostase mit Blutglukosewerten zwischen 60 und 180 mg/dl wird durch eine kontinuierliche Feinabstimmung der Sekretion von Insulin und Glukagon ermöglicht.
Die typische Struktur der Durchblutung der Langerhans-Inseln mit der Flussrichtung des arteriellen Blutes vom E-zellreichen Kern zum D- und D-zellreichen Randsaum sorgt für eine direkte parakine Kommunikation von D- und E-Zellen über interzelluläre Kanäle. Glukagon stimuliert auf diesem direkten Wege die Insulinsekretion, während Insulin die Glukagonsekretion hemmt. Bemerkenswert ist, dass das Insulin sehr viel ausgeprägtere physiologische Konzentrationsänderungen aufweist als das Glukagon (Insulin: 0–600 pmol; Glukagon: 10–40 pmol). Wichtig ist weiterhin, dass die beiden Hormone über das Portalsystem direkt zur Leber, dem wichtigsten Schaltorgan der Stoffwechselregulation, gelangen. Unter Ruhebedingungen reguliert das vom Inselzellsytem sezernierte Insulin-Glukagon-Gemisch die Glukosehomöostase und verhindert damit sowohl Hyper- wie Hypoglykämien. Die Glukoseutilisation beträgt unter Ruhebedingungen beim Erwachsenen etwa 170 mg/min, entsprechend 10 g/h bzw. 240 g/Tag. Das sind etwa 2 mg/kg/ min bzw. 120 mg/kg/h oder 3 g/kg/Tag. Etwa 50–60% des Glukoseverbrauchs entfallen beim Erwachsenen auf das Gehirn, das über die Blut-Liquor-Schranke Insulin-unabhängig Glukose aufnehmen kann. Der Rest wird von Muskulatur, Fettgewebe, Leber und Nierenmark verbraucht sowie von den Glykolyse-abhängigen korpuskulären Bestandteilen des Blutes. Wegen ihres Mitochondrienmangels können Erythrozyten Glukose nur anoxydativ zu Laktat abbauen. Um unter basalen Bedingungen eine Glukosehomöostase aufrecht zu erhalten, muss die Leber pro Stunde mindestens 10 g Glukose produzieren. Davon entfallen knapp drei Viertel auf die glukagongesteuerte Glukoneogenese in der Leber. Glukagon ist lebensnotwendig, um unter Ruhebedingungen eine minimale Glukosebereit-
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Kapitel 5 · Normale und pathologische Physiologie des Inselzellsystems
stellung für das Gehirn zu garantieren. Das erklärt z. B., warum bisher kein angeborener Glukagonmangel bekannt geworden ist. Die basale Glukoseproduktion und Utilisation bei Kindern zwischen 4 Monaten und 6 Jahren (1–25 kg Körpergewicht) zeigt einen linearen gewichtsabhängigen Anstieg des Glukoseverbrauchs, der zwischen 5 und 8 mg/kg/min liegt, entsprechend 300–480 mg/kg/h bzw. 7,2–11,5 g/kg/Tag. Das sind auf das Körpergewicht bezogen mehr als doppelt soviel wie beim Erwachsenen. Allerdings entfallen 60–80% des Glukoseumsatzes auf das Gehirn, das bei jungen Kindern im Verhältnis zur Körpermasse sehr schwer ist und während der ersten Lebensjahre noch erheblich an Volumen zunimmt. Erst im Alter von 6 Jahren werden etwa 90% des Gehirngewichtes von Erwachsenen erreicht. Der Glukoseverbrauch des Gehirns von größeren Kindern und Jugendlichen nähert sich zunehmend dem des Erwachsenen an. Zusammenfassung
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Kinder, v. a. aber Säuglinge und Kleinkinder, sind unter Ruhebedingungen auf die glukagongesteuerte Glukoseproduktion der Leber angewiesen, um die Glukoseversorgung des Gehirns zu sichern, d. h. Blutglukosewerte zu garantieren, die deutlich über 50 mg/dl liegen.
5.4.2
Glukosehomöostase bei körperlicher Tätigkeit
11 ! Bei körperlicher Aktivität sorgen Hyperglukagonämie, Hypoinsulinämie und 12 13 14 15 16 17
eine erhöhte Insulinsensitivität für eine ausreichende Glukoseversorgung der arbeitenden Muskulatur. Hypoglykämien und die Minderversorgung des Gehirns mit Glukose werden dabei vermieden.
Wegen des erhöhten Glukoseverbrauchs der Muskulatur bei körperlicher Aktivität müssen erhebliche Mengen an Glukose bereitgestellt werden, um eine Hypoglykämie zu vermeiden. Der notwendige Anstieg der Glukoseproduktion in der Leber ist Folge einer adrenerg stimulierten Glykogenolyse und einer durch vermehrte Glukagonsekretion stimulierten Glukoneogenese. Gleichzeitig wird die Insulinsekretion adrenerg gehemmt. Dadurch werden die Glukoseaufnahme und der Glukoseverbrauch im Fettgewebe, aber auch in der nichtarbeitenden Muskulatur gehemmt. In Ruhe sind nur etwa 5% der Insulinrezeptoren am Glukosetransport beteiligt. Bei Muskelkontraktion werden deutlich vermehrt Insulinrezeptoren wirksam, u. a. durch die verbesserte Durchblutung. Insgesamt kommt es bei Muskeltätigkeit zu einer erheblichen Erhöhung der Insulinsensitivität.
5.4 · Hormonelle Steuerung der Glukosehomöostase
5.4.3
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5
Glukosehomöostase nach Nahrungsaufnahme
! Die Steigerung der prandialen Insulinsekretion erfolgt bereits während der Nahrungsaufnahme durch die gastrointestinalen Hormone GIP und GLP-1, die auch als Insulinotropine bezeichnet werden. Weiterhin wird die Insulinsekretion reaktiv durch den Blutglukoseanstieg stimuliert. Die Glukagonsekretion wird in Abhängigkeit vom Ausmaß der Glukoseresorption gebremst. Die prandiale Somatostatinämie zügelt die Verdauung und Absorption der Nahrungssubstrate im Darm. Nach Nahrungsaufnahme wird die Glukosehomöostase daher durch ein funktionelles Wechselspiel der Inselzellhormone Insulin, Glukagon und Somatostatin sowie der gastrointestinalen Hormone GIP und GLP-1 gesteuert.
Nach oraler Nahrungsaufnahme sorgt der Insulin-Glukagon-Antagonismus für die Limitierung des Blutglukoseanstiegs auf Werte über 180 mg/dl. Der durch Glukoseresorption im Darm bedingte Glukoseanstieg im Blut stimuliert die Insulinsekretion. Die prandiale Insulinämie führt zur Steigerung der Glukoseaufnahme in Muskulatur und Fettgewebe und minimiert damit den Blutglukoseanstieg. Die hepatische Glukoseproduktion wird durch Hemmung der Glukagonsekretion reduziert. Dabei spielt allerdings die Zusammensetzung der Nahrung eine wichtige Rolle. Glukosereiche Mahlzeiten führen zur Steigerung der Insulin- und ausgeprägten Verminderung der Glukagonsekretion und damit zur Reduzierung der Glukoneogenese und Steigerung der Glykogensynthese sowie Vermeidung einer Hyperglykämie. Bei eiweiß- und fettreichen, aber kohlenhydratarmen Mahlzeiten wird dagegen Glukagon vermehrt sezerniert, um die Glukoneogenese zu stimulieren und eine Hypoglykämie zu verhindern. Die Insulinsekretion wird jedoch nicht nur reaktiv durch den prandialen Blutglukoseanstieg, sondern auch schon vorher durch gastrointestinale Hormone stimuliert. Bereits während des Anstiegs der enteralen Glukosekonzentration wird die Sekretion der Inkretine GIP und v. a. GLP-1 induziert. Beide als Insulinotropine bezeichneten Hormone stimulieren die Insulinsekretion im Sinne der enteroinsulinären Achse. Durch Insulin, aber auch die gastrointestinalen Hormone GLP-1, GIP, Cholezystokinin und Sekretin, werden gleichzeitig sowohl pankreatisches als auch v. a. gastrales Somatostatin vermehrt sezerniert. Durch die gastrointestinalen Wirkungen des prandialen Somatostatins werden die Verdauung und Absorption und damit der Einstrom von Nahrungsbestandteilen gezügelt, um den postprandialen Blutglukoseanstieg zu vermindern. Die subtile, durch Substrate und Hormone gesteuerte Koordination von D-Zell-, E-Zell- und D-Zellfunktion trägt wesentlich zur Glukosehomöostase während und nach der Nahrungsaufnahme bei.
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Kapitel 5 · Normale und pathologische Physiologie des Inselzellsystems
5.4.4
Glukosehomöostase bei fehlender Nahrungsaufnahme
! Bei hypokalorischer Ernährung oder während langanhaltenden Fastens wird die Glukosehomöostase in erster Linie durch Hypoinsulinämie und Hyperglukagonämie aufrecht erhalten. Kinder weisen im Vergleich zu Erwachsenen wegen ihrer verminderten Leber-, Fett- und Muskelmasse eine geringere Toleranz gegenüber Hungerzuständen auf. Die Energieversorgung des Gehirns ist bei ihnen während längeren Fastens besonders auf die Utilisation von Ketonkörpern angewiesen.
Bei fehlender Nahrungszufuhr und sinkendem Blutglukosespiegel wird die Insulinsekretion blockiert. Als Folge des Insulinmangels gelangt vermindert Glukose in die insulinabhängigen Gewebe, Muskulatur und Fett. Der Glukosemangel wird zunächst durch den Abbau von Glykogen ausgeglichen. Die Leber des Erwachsenen kann 40–50 g Glukose aus ihrem Glykogendepot mobilisieren. In der sehr viel kleineren Leber von Kindern wird entsprechend weniger Glykogen gespeichert. Bei Nahrungsmangel reicht diese Reserve daher für höchstens 12 h. Nach längerem Fasten ist der Organismus auf die Energiebereitstellung durch Lipolyse, Ketogenese und Glukoneogenese angewiesen. Diese drei Vorgänge werden durch die Verminderung des Insulin-, v. a. aber die Erhöhung des Glukagonspiegels stimuliert. Durch die erhöhte Lipolyse im Fettgewebe und die gesteigerte Proteolyse in der Muskulatur werden Fettsäuren und Aminosäuren freigesetzt. Die Fettsäuren werden teils oxydiert, teils unter dem Einfluss von Glukagon zu Ketonen umgewandelt. Ein Drittel der Aminosäuren, die der Glukoneogenese als Substrat dienen, stammen aus der Muskulatur. Da sowohl die Fett- als auch die Muskelmasse bei Kindern im Vergleich zur Körpermasse vermindert sind, verfügen Kinder über eine deutlich verminderte Glukoneogenesekapazität. Nach 30 h Fasten weisen Kinder im Vergleich zu Erwachsenen niedrigere Glukosewerte (2.9 mmol/l vs. 4.0 mmol/l), niedrigere Alaninwerte (167 µmol vs. 279 µmol), aber höhere E-Hydroxy-Buttersäure-Werte (3.7 mmol vs. 0.9 mmol) auf. Da die Glykolyse bei Insulinmangel durch den verminderten Glukoseeinstrom in die Zellen und fehlende Aktivierung der Glykolyseenzyme gehemmt ist, fallen nicht nur Pyruvat, sondern auch Malonyl-CoA vermindert an. Dadurch fällt die Hemmung der in der Mitochondrienmembran lokalisierten CarnitinPalmitoyl-Transferase-1 weg, sodass vermehrt Acylkarnitin gebildet wird und dadurch vermehrt Acyl-CoA-Ketten in die Leberzellen aufgenommen und teils oxydiert, teils zu Ketonen umgewandelt werden können. Die vermehrt gebildeten Ketone werden bei Glukosemangel zur Energiegewinnung sowohl in der Peripherie als auch im Gehirn verbrannt. Da bei Kindern der Energieverbrauch
5.4 · Hormonelle Steuerung der Glukosehomöostase
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5
des Gehirns im Vergleich zur Körpermasse sehr viel größer ist als bei Erwachsenen, sind Ketonkörper bei Kindern die wichtigste alternative Energiequelle bei Glukosemangel. ! Kinder tolerieren Hungerzustände sehr viel weniger als Erwachsene. Während Erwachsene nach mehrtägigem Fasten selten eine Hypoglykämie entwickeln, treten bei Kindern auch bei Fehlen metabolischer Störungen schon nach 20–24 h Hunger vermehrt Hypoglykämien auf.
Nach längerem Fasten kommt es bei Kindern mit zunehmenden Alter zu einem relativen Anstieg der Blutglukosekonzentration und Abfall der Werte für freie Fettsäuren und E-Hydroxybuttersäure. Die Fettsäureoxydation nimmt bei Kindern mit dem Alter ab, während die Ketonkörperutilisation zunimmt. Zusammenfassung Die pathophysiologischen Konsequenzen des Insulinmangels bei Typ-1-Diabetes mit Stimulation der Glukoneogenese, der Lipolyse und der Ketogenese bei verminderter Glukose- und gesteigerter Fettsäure- und Ketonkörperutilisation sind mit den im Hungerzustand auftretenden Veränderungen des Intermediärstoffwechsels identisch.
5.4.5
Glukosehomöostase bei Stress
! Vorgänge, die mit Stress einhergehen (z. B. Trauma, Operationen, Verbrennungen, Sepsis), stellen an die Glukoseregulation erhebliche Anforderungen. Vor allem die zentralnervöse Energieversorgung muss auch bei evtl. Hypoperfusion des Gehirns gesichert werden.
Im Vordergrund steht eine adrenerg regulierte Stimulation der Glukagonsekretion und Hemmung der Insulinsekretion. Bei Hypovolämie wird adrenerg die Blutversorgung und damit auch die Glukoseversorgung der peripheren Organe zugunsten des Gehirns vermindert. Durch Adrenalin wird außerdem die Insulinsensitivität in den insulinabhängigen Organen erheblich reduziert (stressbedingte Insulinresistenz). Sowohl die Sekretion als auch die Wirkung von Glukagon werden durch die glukoregulatorischen Stresshormone Adrenalin, Kortisol, Wachstumshormon und die E-Endomorphine besonders in der Leber gesteigert. Die Glykogenolyse und Glukoneogenese werden maximal gefördert und steigern die hepatische Glukoseproduktion. Eine Erhöhung der Blutglukosekonzentrati-
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Kapitel 5 · Normale und pathologische Physiologie des Inselzellsystems
on wird dabei in Kauf genommen, um auch bei zerebraler Hypoperfusion eine ausreichende Energieversorgung zu ermöglichen. Zusammenfassung Bei ausgeprägtem Stress wird die Glukosehomöostase durch eine sehr deutliche Sekretion der glukoregulatorischen Hormone Glukagon, Kortisol, Adrenalin und Wachstumshormon mit entsprechender Bereitstellung von Glukose bei gleichzeitiger Verminderung der Insulinsekretion und Sensitivität gewährleistet.
5.4.6
Glukosehomöostase bei Hypoglykämie
! Bei stoffwechselgesunden Erwachsenen treten akute Hypoglykämien, d. h. Blutglukosewerte unter 50 mg/dl, praktisch nicht auf. Nur bei schwerster körperlicher Belastung und gleichzeitiger Nahrungskarenz (z. B. »Hungerast« bei Radrennfahrern), kann sich eine Hypoglykämie entwickeln. Bei Kindern besteht eine geringere Hypoglykämietoleranz, v. a. bei längerem Nahrungsentzug. Bei Patienten mit Typ-1-Diabetes ist die Glukoseregulation gestört, da die Wirkung des injizierten Insulins weiterbesteht, wenn eine Hypoglykämie droht.
Bei sinkendem Blutglukosespiegel erfolgt die Glukoseregulation zur Vermeidung einer Hypoglykämie über mehrere Stufen 5 Verminderung der Insulinsekretion, 5 Stimulation der Glukagonsekretion, 5 Stimulation der Adrenalinsekretion, 5 Ausschüttung von Kortisol, Wachstumshormon, Noradrenalin 5 Glukoseautoregulation. In . Abb. 5.5 ist die Hierarchie der Glukoseregulation schematisch dargestellt. Die erste Reaktion bei Abfall der Glukosekonzentration im Blut (bei etwa 83 mg/dl) ist die Verminderung oder das Sistieren der Insulinsekretion. Wegen der relativ kurzen Halbwertzeit des Insulins von etwa 5 min liegen sehr schnell kaum messbare Insulinkonzentrationen vor. Diese wichtigste glukoseregulatorische Reaktion funktioniert bei Patienten mit Typ-1-Diabetes, die Insulin gespritzt haben, nicht. Darum ist bei ihnen die Glukoseregulation bei drohender Hypoglykämie a priori gestört. Der zweiten Stufe der Glukoseregulation entspricht die Stimulation der Glukagonsekretion (bei etwa 68 mg/dl). Der Antagonismus zwischen Insulin und Glukagon steht in der Hierarchie glukoseregulativer Faktoren zur Vermeidung einer Hypoglykämie an oberster Stelle. Die Stimulation der glukagonsezernie-
5.4 · Hormonelle Steuerung der Glukosehomöostase
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5
. Abb. 5.5 Hierarchie der Glukoseregulation mit Angabe der Blutglukoseschwellenwerte (Mittelwert r SEM), bei denen die verschiedenen regulatorischen Systeme aktiviert werden. (Nach Cryer et al. 1994)
renden D-Zellen erfolgt über sympathische und parasympathische Nervenfasern, wobei die sympathischen Neurotransmitter Noradrenalin und Galanin und die parasympathischen Neuropeptide sowie Azetylcholin wirksam werden. Bei weiterem Abfall des Blutglukosespiegels tritt die dritte Stufe der Glukoseregulation in Kraft, die Stimulation der Adrenalinsekretion. Dies ist auch notwendig, wenn im Rahmen einer autonomen Neuropathie bei länger dauerndem Diabetes die hypoglykämieinduzierte Glukagonsekretion ausfällt. Adrenalin hemmt die Insulinsekretion, stimuliert die Glukagonsekretion, fördert die Glukoneogenese in der Leber und hemmt die Glukoseutilisation in der Muskulatur. Adrenalin und Glukagon können sich gegenseitig im Rahmen der Glukoseregu-
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Kapitel 5 · Normale und pathologische Physiologie des Inselzellsystems
lation ersetzen. Bei fortgeschrittener autonomer Neuropathie mit Fehlen beider Regulationsfaktoren ist die Stoffwechselsituation allerdings desolat. Kortisol, Wachstumshormon und andere Hormone (z. B. Noradrenalin) spielen bei der Glukoseregulation eine nachgeordnete Rolle. Ob bei Blutglukosewerten zwischen 30 und 50 mg/dl eine effektive Glukoseautoregulation erfolgt, ist fraglich. Ohne hormonelle Unterstützung kann die hepatische Glukoseproduktion durch Glukosemangel nicht wirksam stimuliert werden. Zusammenfassung Bei der Regulation der Glukosehomöostase spielen die beiden Stoffwechselhormone Insulin und Glukagon eine dominierende Rolle. Der Insulin-Glukagon-Antagonismus wirkt in erster Linie am Sekretionort der beiden Hormone, den D- und E-Zellen der Langerhans-Inseln, und an ihrem wichtigsten Wirkungsort, den Leberzellen. Eine der wichtigsten Aufgaben dieses Regulationssystems besteht darin, die Energieversorgung des Gehirns zu sichern. Die vielfältigen Wirkungen der beiden Hormone auf molekularer Ebene, v. a. im Bereich der Leber, aber auch der Muskulatur und des Fettgewebes, betreffen den gesamten Intermediärstoffwechsel, d. h. den Kohlenhydrat-, Fett- und Proteinstoffwechsel. Daher treten bei Versagen der Insulinsekretion im Rahmen eines Typ-1-Diabetes tiefgreifende Störungen nicht nur der Glukosehomöostase, sondern des gesamten Intermediärstoffwechsels auf. Die komplexen pathophysiologischen Konsequenzen des Insulinmangels bei Typ-1-Diabetes können auch durch eine subtile Insulinsubstitutionstherapie nicht behoben werden.
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Literatur 13 14 15 16 17
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Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes )) Akute Komplikationen (Hypoglykämie, diabetische Ketoazidose) können mit den heute zur Verfügung stehenden Behandlungsmethoden weitgehend vermieden werden. Das trifft nicht für die Spätkomplikationen zu. Vor allem eine beschleunigte Ateriosklerosee (Makroangiopahtie) und vaskuläre Folgeerkrankungen der kleinen Gefäße (Mikroangiopathie), d. h. Organveränderungen, die sich am Auge (Retinopathie) und an der Niere (Nephropathie) manifestieren, aber auch andere Organsysteme (Neuropathie) betreffen können, sind heute bestimmend für das Lebensschicksal von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes. In der letzten Zeit mehren sich die Hinweise, dass gerade während der ersten Zeit der Betreuung wichtige Weichen für eine gute (Selbst-) Behandlung der Erkrankung gestellt werden. Damit kommt der pädiatrischen Betreuung in der Prävention der Langzeitfolgen des Typ-1-Diabetes eine außerordentliche medizinische und gesundheitspolitische Bedeutung zu. Durch die verbesserten Möglichkeiten eine nahe-normoglykämische Einstellung zu erreichen, hat sich die Prognose von Kindern mit Diabetes verbessert.
6.1
Grundsätzliches zur Prognose des Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen
Da die diabetische Mikroangiopathie sich sehr langsam entwickelt, treten organische Dysfunktionen als Ausdruck diabetischer Spätschäden meist erst nach 10- bis 15-jähriger Diabetesdauer in Erscheinung. Allerdings werden in den ersten Jahren der Betreuung die Weichen für eine erfolgreiche Behandlung gestellt. Außerdem wurden Methoden zur Früherkennung diabetischer Folgeerkrankungen (Fluoreszenzangiographie, Nachweis einer Mikroalbuminurie usw.) entwickelt. Beides hat zur Folge, dass auch der Pädiater sich mit diagnostischen und klinischen Problemen der diabetischer Folgeerkrankungen befassen muss. ! Die immer wieder gestellte Frage: »Beginnt die Prävention diabetischer Folgeerkrankungen bereits in der Kindheit?« muss heute eindeutig mit »Ja« beantwortet werden.
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Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes
Obwohl Familienstudien und der Nachweis verschiedener Kandidatengene und Polymorphismen Hinweise auf einen ausgeprägten Einfluss genetischer Faktoren zur Entwicklung von Folgeerkrankungen ergeben hat, sind die Ergebnisse so uneinheitlich, dass solche Analysen außerhalb wissenschaftlicher Fragestellungen zur Ableitung eventueller therapeutischer Konsequenzen gegenwärtig noch nicht angezeigt sind. Demgegenüber wurden alle Zweifel über den kausalen Zusammenhang zwischen Hyperglykämie und Auftreten und Progression der diabetischen Mikroangiopathie durch die Ergebnisse des »Diabetes Control and Complications Trial« (DCCT) endgültig behoben. Die Studie bewies die glukosetoxische, d. h. metabolisch bedingte Pathogenese der diabetischen Mikroangiopathie so eindeutig, dass der DCCT vorzeitig abgebrochen werden musste. Die definitive Klärung dieses Kausalzusammenhanges war von so großer praktischer Bedeutung, weil die therapeutische Haltung der Ärzte und die Bereitschaft der Patienten, die vielfältigen Mühen, Opfer und Restriktionen der Diabetestherapie auf sich zu nehmen, hiervon abhängen. Jeder pädiatrischer Diabetologe muss daher die allergrößten Anstrengungen unternehmen, um bei Kindern und Jugendlichen vor, während und nach der Pubertät, d. h. vom Zeitpunkt der Manifestation des Diabetes an, die bestmögliche Stoffwechseleinstellung mit möglichst normalen Blutglukose- und möglichst niedrigen HbA1c-Werten bei Vermeidung schwerer Hypoglykämien zu erzielen. Zusammenfassung
11 12 13 14 15
Das heute unstrittige metabolische Ziel der Behandlung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Typ-1-Diabetes ist, von Beginn der Erkrankung an ein Stoffwechselgleichgewicht mit möglichst normalen Blutglukosewerten zwischen 60 und 180 mg/dl zu erreichen. In den letzten Jahren sind mehrere Consensus-Guidelines erschienen, in denen diese Standards der Behandlung von Patienten mit Typ-1-Diabetes festgelegt wurden (American Diabetes Association 2005; European Diabetes Policy Group International Diabetes Federation (Europe) 1998; International Society for Pediatric and Adolescent Diabetes 2000).
16
6.2 17
Vorstellungen zur Ätiopathogenese der diabetischen Folgeerkrankungen
Zwei differente Krankheitsprozesse mit unterschiedlicher Pathogenese und Morphologie müssen bei der diabetischen Angiopathie unterschieden werden: 5 unspezifische Läsionen der großen Gefäße (Atherosklerose): – die diabetische Makrogiopathie,
6.2 · Vorstellungen zur Ätiopathogenese
93
6
5 spezifische Läsionen im Bereich der terminalen Strombahn (Arteriolen,
Kapillaren, Venolen) mit sekundärer Permeabilitätserhöhung und Verdickung der Basalmembran, die zu hämodynamischen Veränderungen mit multifokaler Ischämie und Hypoxie führen: – die diabetische Mikroangiopathie. Die Atherosklerose der großen Gefäße beginnt sicher bereits in der Kindheit. Es ist davon auszugehen, dass auch für die Entwicklung der Makroangiopathie die Behandlung von Risikofaktoren von Krankheitsbeginn an günstig wäre. Die diabetische Mikroangiopathie tritt besonders in drei unterschiedlichen Gewebestrukturen auf, in 5 der Retina (Retinopathie), 5 den Nierenglomerula (Nephropathie) und 5 dem Nervengewebe (Neuropathie). Die anhaltende Hyperglykämie bei nicht ausreichend kompensiertem Stoffwechsel führt zu einer Utilisation von Glukose durch nichtglykolytische Stoffwechselreaktionen und zur Reaktion von Glukose mit Proteinen und anderen zellulären Bestandteilen. Vier wesentliche pathogenetische Konzepte sind bzgl. der hyperglykämieinduzierten mikrovasklären Folgeerkrankungen entwickelt worden. Diese Hypothesen umfassen 5 den gesteigerten Flux durch den Polyolstoffwechselweg, 5 die Glykosylierungen von Proteinen mit Bildung von »Advanced Glycosylation Endproducts« (AGE), 5 die Aktivierung der Proteinkinase C (PKC) und 5 den gesteigerten Flux durch den Hexosaminstoffwechselweg. Brownlee stellte im Jahre 2001 die Hypothese auf, dass alle vier Mechanismen durch eine hyperglykämiebedingte mitochondrale Superoxidüberproduktion aktiviert werden. Zusammenfassung Die Kausalkette der pathophysiologischen Vorgänge, die letztendlich zu den pathoanatomischen Veränderungen an Gefäßen und Nerven führen, ist im Einzelnen noch unklar. Mindestens vier unterschiedliche, möglicherweise zusammenhängende biochemische Stoffwechselprozesse (Bildung von AGEProdukten, Polyolstoffwechsel, PKC-Aktivität und Hexosaminstoffwechsel) haben Veränderungen der Hämodynamik, des Gerinnungssystems und der zellulären Wachstumsfaktoren zur Folge. Nicht erklärbar ist weiterhin, wann und unter welchen Bedingungen diese Vorgänge reversibel bzw. irreversibel sind. Sicher ist dagegen der kausale Zusammenhang zwischen einer Hyperglykämie und dem Auftreten und Fortschreiten der diabetischen Folgeerkrankungen.
94
2 2 3 4 5 6 7
6.3
Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes
Diabetische Retinopathie
)) Verschiedene Augenkomplikationen können bei Diabetes auftreten. Am häufigsten betroffen ist die Retina (Retinopathie), sehr viel seltener die Linse (Katarakt), die vordere Augenkammer (Glaukom), die Nerven der Augenmuskeln (Lähmung), die Iris (Rubeosis).
Die Retinopathie ist die häufigste, auch schon bei Jugendlichen zu beobachtende Form der diabetischen Mikroangiopathie. Die Ergebnisse epidemiologischer Studien sind sehr unterschiedlich. Die Prävalenz schwankt zwischen 65% und 90% nach 30 Jahren Diabetesdauer. Mit Verwendung der sehr sensitiven Untersuchungstechnik der Fluoreszenzangiographie wurden nach über 20-jähriger Diabetesdauer bei fast allen Patienten Zeichen einer Mikroangiopathie im Sinne von Mikroaneurysmen am Augenhintergrund nachgewiesen (. Abb. 6.1). Die
8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
. Abb. 6.1 Ergebnisse der Berliner Retinopathie-Studie: Fluoreszenzangiographischer Nachweis retinaler Veränderungen bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes. Das durchschnittliche Diabetes-Manifestationsalter der Studiengruppe betrug 9.5±4 Jahre. Die Wahrscheinlichlichkeit, mit der das jeweilige Stadium der Retinopathie erwartet werden muss, wurde mittels der Lebenstafelanalyse berechnet. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich die durchschnittliche Stoffwechseleinstellung seit Beginn dieser Studie vielerorts verbessert hat
6.3 · Diabetische Retinopathie
95
6
mittlere Erwartungswahrscheinlichkeit einer milden, das Sehen nicht beeinträchtigenden, nichtproliferativen Retinopathie betrug 14 Jahre. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die ophthalmoskopische Einschätzung der Augenveränderungen trotz Untersuchung in Mydriasis in dieser Studie auch bei jahrzehntelanger Erfahrung des Untersuchers eine im Mittel 6-jährige Verzögerung auf. Andererseits wiesen diese Patienten eine durchschnittlich noch um 1% höhheren HbA1c auf, als heutzutage überwiegend erreicht werden kann. Das Auftreten von lasertherapiebedürftigen proliferativen Veränderungen findet üblicherweise erst in der dritten Lebensdekade statt. Nur einzelne seltene Fälle von proliferativer Retinopathie sind vor dem 20. Lebensjahr beschrieben worden. 6.3.1
Pathologische Anatomie und Physiologie
Morphologisch kommt es bei Beginn der Retinopathie zu einer Degeneration der Kapillarperizyten, einer Verdickung der Basalamembran und zu Veränderungen der Matrix. Die Gefäßwände werden vermehrt permeabel. Es bilden sich Mikroaneurismen, d. h. kleine Gefäßaussackungen, die bluten können. Durch Wandverdickungen treten Kapillarverschlüsse auf, die zur Dilatation von Kapillaren führen, aber auch Kapillarneubildungen hervorrufen. Bei der schweren nichtproliferativen Retinopathie treten lokale Infarkte in der Retina auf, die als weißliche Areale oder Cotton-wool-Herde imponieren. Retinablutungen und Kaliberschwankungen der Gefäße werden sichtbar. Die proliferative Retinopathie weist durch Ischämie bedingte Neovaskularisationen in Retina und Glaskörper auf. Die neuen Gefäße rupturieren. Glaskörper und massive Retinablutungen treten auf. Durch narbige Schrumpfung kann es zur Ablösung der Retina kommen. In der Endphase der proliferativen Retinopathie treten erhebliche Visusverluste bis zur Erblindung auf.
96
2
Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes
6.3.2
Stadieneinteilung
Die heute übliche Stadieneinteilung (DDG 2000) zeigt folgende Übersicht:
2 Stadieneinteilung diabetischer Retinopathie.
3 4 5
Nichtproliferativ Stadium
Klinisches Bild
Mild
Mikroaneurysmen (. Abb. 6.2)
Mäßig
Mikroanaeurysmen, einzelne intraretinale Blutungen, perlschnurartige Venen
Schwer (früher: präproliferativ)
Zahlreiche Mikroaneurysmen und intraretinale Blutungen in 4 Quadranten oder perlschnurartige Venen in 2 Quadranten oder intraretinale mikrovaskuläre Anomalien (IRMA) in 1 Quadranten
6 7 8 9 10 Proliferativ 11 12
5 Papillenproliferation (. Abb. 6.2) 5 Präretinale Blutung (. Abb. 6.2) 5 Traktionsbedingte Netzhautablösung
13 Diabetische Makulopathie 14 15 16 17
Die Diagnostik ist nur binokular biomikroskopisch durch den Ophthalmologen möglich, da das Makulaödem nur stereoskopisch erkennbar ist. 5 Fokales Makulaödem Umschriebene Zonen von Ödem,
kombiniert mit intraretinalen Blutungen und hartenExsudaten. Klinisch signifikant, also visusbedrohend, wenn die Veränderungen ganz oder teilweise innerhalb eines Papillendurchmessers von der Foveola entfernt liegen. Ohne adäquate Therapie kann die Prognose trotz gutem Ausgangsvisus schlecht sein 5 Diffuses Makulaödem Vorliegen eines Ödems und harter Exsudate (Ablagerungen von Eiweiß und Lipiden) am gesamten hinteren Augenpol mit massiver Leakage. Der Visus ist stark herabgesetzt 5 Ischämische Makulopathie Hier liegt ein ausgedehnter Perfusionsausfall des Kapillarnetzes um die Fovea mit schlechter Visusprognose vor. Die Diagnose ist nur fluoreszenzangiographisch zu stellen. Mischformen der diabetesbedingten Makulopathie sind möglich. Daher sollte im Zweifel zur Differenzierung der Makulopathie eine Fluoreszenzangiographie durchgeführt werden
6.3 · Diabetische Retinopathie
6.3.3
97
6
Diagnostik und Therapie
Mindestanforderungen an eine Augenuntersuchung auf beginnende diabetische Retinopathie beinhalten: 5 Untersuchungen der Sehschärfe (Refraktion) sowie 5 der vorderen Augenabschnitte (Rubeosis, ggf. Augeninnendruck) und 5 die binokulare biomikroskopische Funduskopie bei dilatierter Pupille. Es wird dringend empfohlen, den Befund auf einem standardisierten Untersuchungsbogen zu dokumentieren. Für wissenschaftliche Zwecke und bei unklaren Befunden hat sich die Fluoreszenzangiographie des Augenhintergrundes als Früherkennungsmethode bewährt. Als früheste Hinweise für eine Retinopathie werden Mikroaneurysmen und Fluoreszeinaustritte sichtbar gemacht (. Abb. 6.2). Als nichtinvasive Methode zur Früherkennung einer Retinopathie wurde die nonmydriatische Photographie des Augenhintergrundes mit Hilfe einer Funduskamera eingeführt. Die verbreitetste diagnostische Methode ist nach wie vor die Fundoskopie in Mydriasis, mit der die Frühstadien der Retinopathie allerdings nicht sicher erkannnt werden können. ! Eine Analyse der Daten der Berliner Retinopathiestudie zeigte, dass auch bei einem erfahrenen Untersucher beginnende Veränderungen im Sinne von Mikroaneurysmen ophthalmoskopisch im Mittel 4 Jahre später gesehen werden als mit der Fluoreszenzangiograhie. Weiter fortgeschrittene Veränderungen einer milden nichtproliferativen Retinopathie werden sogar erst 6 Jahre später erkannt.
Für Kinder und Jugendliche mit Diabetes wird eine augenärztliche Untersuchung bei Manifestation der Krankheit zum Ausschluss ophthalmologischer Grundkrankheiten, wie z. B. einer Katarakt, empfohlen. Zum Screening von diabetesbedingten Augenveränderungen wird eine augenärztliche Untersuchung von Patienten ab einem Alter von >11 Jahren bzw. einer Diabetesdauer von >5 Jahren empfohlen. Ein Sonderfall stellt die Schwangerschaft dar. Wenn möglich sollte eine Augenuntersuchung vor der geplanten Konzeption erfolgen oder aber sofort nach Bekanntwerden der Schwangerschaft. Folgeuntersuchungen sind präpartal alle 3 Monate indiziert, bei schon bestehender diabetesbedingter Retinopathie jedoch monatlich. ! Erst fortgeschrittene Netzhautveränderungen verursachen Symptome.
Trotz Laserkoagulation haben sie eine signifikant schlechtere Prognose als die Frühstadien der Retinopathie.
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Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes
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. Abb. 6.2 a Beispiel einer milden nichtproliferativen Retinopathie mittels Fluoreszenzangiographie. Die Beispiele eines punktförmigen Mikroaneursymas und eines Austritts von Kontrastmittel (Leakage) sind markiert b Beispiel einer proliferativen Retinopathie mit Laserbehandlung, Glaskörperblutung
6.4 · Diabetische Nephropathie
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6
Die Laserkoagulation hat sich als erfolgreiche visuserhaltende Methode durchgesetzt. Sie kann jedoch nur das Fortschreiten des Visusverlustes mindern und keine Visusverbesserung herbeiführen. Eine Laserkoagulation wird bei Makulaödem und ab dem Stadium der schweren nichtproliferativen Retinopathie erwogen, insbesondere bei Risikopatienten mit schlechter Stoffwechseleinstellung, beginnender Katarakt mit erschwertem Funduseinblick oder beim Vorliegen anderer risikobelasteter Allgemeinkrankheiten (speziell: arterielle Hypertonie) und Schwangerschaft. Besonders bei der panretinalen Lasertherapie, bei der bis zu einem Drittel der Netzhaut koaguliert wird, können Nebenwirkungen wie z. B. eine Einschränkung des Gesichtsfeldes und Störungen des Sehens in Dunkelheit und Dämmerung auftreten. Diese Nebenwirkungen lassen sich meist nicht vermeiden. Man sollte aber bedenken, dass durch die panretinale Laserkoagulation eine drohende Erblindung verhindert werden kann. Bei Glaskörperblutungen und traktionsbedingter Netzhautablösung wird die Vitrektomie als zusätzliche chirurgische Therapiemöglichkeit angewendet. Dabei werden Glaskörperblutungen und fibrovaskuläre Proliferationen entfernt, die evtl. abgehobene Netzhaut wieder angelegt und mit dem »Endo-Laser« eine panretinale Laserkoagulation durchgeführt. Gute Visusergebnisse lassen sich nur bei frühzeitiger Operation mit guter Vorbehandlung durch ausgiebige Laserkoagulation erreichen. 6.4
Diabetische Nephropathie
)) Obwohl fast alle Patienten mit Typ-1-Diabetes histologisch nachweisbare renale Läsionen entwickeln, tritt nur bei höchstens 40–50% von ihnen eine Nephropathie mit terminalem Nierenversagen auf.
Während es zu einer kontinuierlichen Zunahme der retinalen Veränderungen bei Patienten mit Typ-1-Diabetes kommt, wird das Auftreten einer diabetesbedingten Nephropathie nach 20-jähriger Diabetesdauer nur noch selten gefunden. Besondere Bedeutung erhält die diabetesbedingte Nephropathie nicht nur durch ihre Assoziation mit anderen mikroangiopathischen Veränderungen, sondern auch mit den Folgen der Makroangiopathie wie z. B. Schlaganfall und anderen peripheren arteriellen Verschlusskrankheiten. Das Auftreten einer Nephropathie ist daher eng mit einer vorzeitigen Mortalität von Menschen mit insulinpflichtigem Diabetes korreliert. Bereits im Jugendalter kann eine Mikroalbuminurie als Ausdruck einer beginnenden Mikroangiopathie der Niere bzw. Vorstufe der diabetesbedingten
100
2 2 3 4 5 6
Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes
Nephropathie auftreten. Der prädiktive Wert der Mikroalbuminurie, d. h. einer Albuminexkretionsrate von 20–200 µg/min, ist sowohl für die Entwicklung einer Nephropathie wie die einer erhöhten kardiovaskulären Mortalität bei Erwachsenen belegt worden. Obwohl nach 11-jähriger Diabetesdauer eine kumulative Inzidenz der Mikroalbuminurie von bis zu 40% beschrieben wird, ist häufig eine Regression zur Normalbuminurie besonders nach der Pubertät festzustellen, deren prognostische Bedeutung gegenwärtig noch unklar ist. Eine Regression der Mikroalbuminurie zeigte sich vor allem bei Patienten mit kurzdauernder Mikroalbuminurie, d. h. beginnender Nephropathie, mit einem niedrigeren HbA1c-Wert, einem niedrigeren systolischen Blutdruck und besseren Triglyzerid- und Cholesterinwerten. Diese Beobachtungen sollten aber nicht dazu führen, eine Mikroalbuminurie als unsicheren Prädiktor einer sich entwickelnden Nephropathie anzusehen. Zusammenfassung
7 8
Eine beginnende Nephropathie sollte möglichst frühzeitig diagnostiziert und intensiv behandelt werden, da durchaus die Chance zur Reversibilität mikroangiopathischer Veränderungen in der Niere besteht.
9
6.4.1
Pathologische Anatomie und Physiologie
10 11 12 13 14 15 16 17
Ursächlich spielen für die Entstehung der diabetischen Nephropathie Veränderungen der Hämodynamik durch Erhöhung des intraglomerulären Drucks und Glykosylierungen, die zur Verdickung und Erhöhung der Permeabilität der Basalmembran führen, die wichtigste Rolle. Hinzu kommt eine Proliferation der Mesangialzellen und die zunehmende Sklerosierung der mesangialen Matrix bis hin zur klassischen interkapillären Glomerulosklerose wie sie Kimmelstiel und Wilson schon 1936 beschrieben haben. Neben dieser nodulären Form der Glomerulosklerose findet man noch häufiger eine nicht nur bei Menschen mit Diabetes auftretende diffuse Glomerulosklerose. Die Entwicklung der Nephropathie wird nicht nur durch die diabetesbedingte Hyperglykämie gefördert, sondern auch durch eine Erhöhung des systemarteriellen Blutdrucks. Das Auftreten einer diabetischen Nephropathie wird zudem noch durch Nikotinabusus, erhöhte Eiweißzufuhr und genetische Faktoren beschleunigt (DDG 2000). 6.4.2
Stadieneinteilung
Während der Entwicklung einer Nephropathie treten typische Veränderungen der Nierenfunktion auf (. Abb. 6.3). Nach Manifestation des Typ-1-Diabetes zunächst zu einer passageren renalen Hypertrophie mit Überfunktion. Als dro-
6.4 · Diabetische Nephropathie
101
6
. Abb. 6.3 Entwicklung der diabetischen Nephropathie. (Nach Mogensen 1988)
hende Nephropathie wird ein diagnostisch fassbares Stadium bezeichnet, das durch eine persistierende Mikroalbuminurie (30–300 mg/24 h), eine Verminderung der glomerulären Filtrationsrate und die Entwicklung einer arteriellen Hypertension charakterisiert ist. Dem schließen sich Stadien der manifesten Nephropathie mit konstanter Proteinurie (Albuminausscheidung von mehr als 300 mg/24 h), Niereninsuffizienz und schließlich finalem Nierenversagen an.
102
2
Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes
. Tabelle 6.1 Stadieneinteilung der diabetischen Nephropathie (Nach Mogensen 1988) Nephropathiestadium
Albuminsausscheidung
Serumkreatinin
GFR / RPF
I. Stadium der Hyperfunktion
Erhöht
Normal
Erhöht
3 4
II. Stadium der klinischen Latenz
Normal
Normal
Normal bis erhöht
III. Beginnende Nephropathie Mikroalbuminurie
Persistierend
Normal
Normal bis erhöht
Makroalbuminurie
Im Normbereich ansteigend
Abnehmend
7
IV. Klinischmanifeste Nephropathie V. Niereninsuffizienz
Makroalbuminurie
Erhöht
Erniedrigt
8
2
5 6
9 10 11
In . Tabelle 6.1 ist der typische Ablauf der diabetischen Nephropathie in 5 Stadien nach Mogensen (1988) aufgeführt. 6.4.3
Diagnostik der Nephropathie
12 13 14 15 16 17
Die erhöhte glomeruläre Filtrationsrate drückt sich sonographisch durch ein vergrößertes Nierenvolumen aus (Stadium der Hyperfunktion). Während des Latenzstadiums versagen diagnostische Methoden. Für das Stadium der beginnenden Nephropathie ist die konstante bzw. persistierende Mikroalbuminurie charakteristisch. Unter physiologischen Bedingungen wird Albumin in geringen Mengen glomerulär filtriert und tubulär weitesgehend wieder rückresorbiert. Eine geringfügige Erhöhung der Albuminausscheidung, die nicht mit den üblichen Eiweißteststreifen nachweisbar ist, wird als Mikroalbuminurie bezeichnet. Sie ist je nach Urinsammelmethode und Bezugsgröße unterschiedlich definiert. Als Goldstandard gilt die zeitbezogene Bestimmung der Albuminexkretionsrate. Eine Erhöhung der Albuminausscheidung kann außer durch die Schädigung renaler Strukturen auch durch verschiedene extrarenale Einflussfaktoren bedingt sein, dazu gehören 5 körperliche Aktivität, 5 Harnwegsinfekt,
6.4 · Diabetische Nephropathie
5 5 5 5 5
103
6
dekompensierter Diabetes, Blutdruckanstieg, klinisch manifeste Herzinsuffizienz, akute febrile Infektion und operative Eingriffe.
Wenn nach Ausschluss dieser Ursachen die Albuminurie verschwindet, handelt es sich lediglich um eine transitorische Albuminurie ohne sicheren Krankheitswert. Der sicherste Nachweis für das Vorliegen einer Mikroalbinurie gelingt mit quantitativen Messmethoden (Radioimmunoassay, ELISA, Nephelometrie oder Turbimetrie). Für den semiquantitativen Nachweis einer Mikroalbuminurie gibt es Teststreifen auf immunologischer Grundlage (z. B. Micraltest II), die sich jedoch bei einer pädiatrischen Multizenterstudie nicht bewährt haben. Die Mikroalbuminurie kann mit den üblichen Eiweißteststreifen (Albustix, Combur usw.) nicht nachgewiesen werden. Sie können nur zum Ausschluss einer Makroalbuminurie verwendet werden. Die Definition des Mikroalbuminbereichs hängt von der Urinsammelmethode und der Bezugsgröße ab. Drei verschiedene Untersuchungsmethoden finden heute Verwendung. Konzentrationsmessung im Spontanurin ! Von einer Mikroalbuminurie spricht man, wenn die Albuminwerte zwischen 20 mg/l und 200 mg/l liegen.
Bei Kindern sollte ein Bezug auf 1,73 m2 Körperoberfläche erfolgen. Verbessert wird die Wertigkeit dieser Methode durch die gleichzeitige Bestimmung des Urinkreatinins. Wegen des Einflusses der Muskelmasse auf die Kreatininausscheidung müssen geschlechtsbezogene Normwerte verwendet werden. Eine Mikroalbuminurie liegt bei Frauen und Mädchen vor, wenn der Albumin-Kreatinin-Quotient zwischen 3,5 und 35 mg/mmol U-Krea bzw. 30 und 300 mg/g U-Krea liegt, bei Jungen und Männern, wenn der Quotient zwischen 20 und 200 mg/g U-Krea bzw. 2,5 und 25 mg/mmol U-Krea beträgt (. Tabelle 6.2). Untersuchung der Urinalbuminausscheidung im 24-h-Urin Pathologisch im Sinne einer Mikroalbuminurie sind Werte zwischen 30 und 300 mg/24 h/1,73 m2. Problematisch sind hierbei mögliche Einflüsse körperlicher Aktivität und Sammelfehler. Untersuchung der Urinalbuminexkretionsrate im Nachturin Pathologisch sind Werte über 20 µg/min/1,73m2. Die Patienten messen den Zeitraum zwischen der letzten Miktion vor dem Schlafen und der ersten Mikti-
104
2
Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes
. Tabelle 6.2 Grenzwerte für die Diagnose einer Mikro- bzw. Makroalbuminurie Mikroalbuminurie
2 3
20–200
>200
mg/l
Nächtliche Sekretionsrate
20–200
>200
mg/min/1,73m2 KOF
24-h-Sammelurin
30–300
>300
mg/min/1,73m2 KOF
20–200
>200
mg/g Kreatinin
2,5–25
>25
mg/mmol Kreatinin
30–300
>300
mg/g Kreatinin
3,5–35
>35
mg/mmol Kreatinin
Albumin-/ Kreatininverhältnis
5
Jungen/Männer
7 8 9 10 11 12 13 14 15
Einheiten
Konzentrationsmessung
4
6
Makroalbuminurie
Mädchen/Frauen
KOF Körperoberfläche.
on am Morgen. Der gesamte Morgenurin wird untersucht. Diese Methode gilt als die sicherste zum Nachweis einer Mikroalbuminurie. ! Zur Diagnose einer diabetischen Nephropathie wird der Nachweis von mindesten 2 Albuminausscheidungsraten im Mikroalbuminuriebereich gefordert, die im Abstand von 2–4 Wochen gemessen werden sollten. Man spricht in diesem Falle von einer persistierenden Mikroalbuminurie (DDG 2000).
Bei der manifesten Nephropathie ist die Proteinurie so ausgeprägt, dass sie mit konventionellen Messmethoden nachgewiesen werden kann. Die Albuminausscheidung im 24-h-Urin liegt über 300 mg/1,73 m2. Als Folge der Nephropathie entwickelt sich meist eine arterielle Hypertension. Im Stadium der Niereninsuffizienz steigen Harnstoff und Kreatinin im Serum an, die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) sinkt ab, das Nierenvolumen wird sonographisch nachweisbar geringer. Ein terminales Nierenversagen kann auftreten.
16
6.4.4
17
Wegen der ätiopathogenetischen Bedeutung des arteriellen Bluthochdrucks für die diabetische Nephropathie ist die regelmäßige Blutdruckmessung auch bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes dringend notwendig. Zur Abgrenzung einer Hypertension bei Kindern und Jugendlichen eignen sich die europäischen Normalwerte für die Gelegenheitsmessung des Blutdrucks (. Tabelle 6.3).
Diagnostik der arteriellen Hypertonie
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Mädchen systolisch
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Jungen systolisch
50.
Perzentile
cm
. Tabelle 6.3 Normwerte für die Gelegenheitsblutdruckmessung bei Kindern und Jugendlichen. (Nach de Man et al. 1991)
6.4 · Diabetische Nephropathie
6
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Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes
Empfehlungen für die Untersuchungstechnik 5 Die Messung erfolgt nach 5 min Ruhe im Sitzen. 5 Der Arm liegt entspannt in Herzhöhe auf. 5 Die Blutdruckmanschette muss hinsichtlich ihrer Größe für den Patienten geeignet sein. 5 Bei Benutzung eines Sphygmomanometers wird während des Aufpumpens der Manschette der Puls der A. radialis palpiert. Das Aufpumpen erfolgt zügig bis zu einer Druckhöhe von ca. 30 mmHg oberhalb des Verschwindens des Radialispulses 5 Die Korotkoff-Phasen I (erstmaliges Auftreten der Korotkoff-Töne) und V (vollständiges Verschwinden der Korotkoff-Töne der Phase IV) markieren den systolischen bzw. diastolischen Blutdruck. Wenn die Korotkoff-Töne bis in sehr niedrige diastolische Bereiche zu hören sind, markiert der Beginn der Korotkoff-Phase IV den diastolischen Blutdruck. 5 Das Ablesen des Drucks auf der Manometerskala erfolgt auf 2 mmHg genau. Dafür muss der Manschettendruck mit einer
Geschwindigkeit von etwa 2 mmHg pro Sekunde reduziert werden. Höhere Ablassgeschwindigkeiten führen vor allem bei Patienten mit niedrigeren Pulsfrequenzen zu einer wesentlichen Unterschätzung des systolischen und Überschätzung des diastolischen Blutdrucks. 5 Die Auskultation der KorotkoffTöne mit der Glocke des Stethoskops erleichtert die Wahrnehmung vor allem der niederfrequenten Töne der Phase IV, was eine Voraussetzung für die korrekte Ermittlung des diastolischen Blutdrucks ist. 5 Der Vorgang der Blutdruckmessung steigert kurzfristig den Blutdruck. Daher wird der Blutdruck zweimal gemessen. Das Ergebnis der ersten Messung wird verworfen. Zwischen zwei Messungen ist eine Pause von mindestens 60 s erforderlich. 5 Bei dem ersten Patientenkontakt erfolgen die Messungen an beiden Armen. Bei unterschiedlichen Messwerten ist der höhere Wert relevant. Spätere Messungen werden an diesem Arm durchgeführt.
Wenn mit der konventionellen Einzelblutdruckmessung mehrfach pathologisch erhöhte Werte gemessen werden, sollte die Sicherung der Diagnose »arterielle Hypertension« mit Hilfe einer vollautomatischen 24-h-Blutdruckmessung erfolgen. Besonders bei Kindern und Jugendlichen mit Diabetes liegt häufig eine sog. »Weißkittel-Hypertonie« vor, die sich durch eine zirkadiane Messung nicht bestätigen lässt (Normalwerte . Tabelle 6.4).
6
107
6.4 · Diabetische Nephropathie
. Tabelle 6.4 Oszillometrisch gemessene ambulante 24-h-Blutdruckmessungs-(ABDM)Mittelwerte für gesunde Kinder (in mmHg; Soergel et al. 1997). Auch für den längenunabhängigen nächtlichen Blutdruckabfall (Dip) wurden in dieser Studie Normwerte angegeben. Beurteilungskriterium für einen aufgehobenen nächtlichen Dip war die 5. Perzentile. Die 5. Perzentile des nächtlichen Dips gesunder Kinder und Jugendlicher lag für Jungen und Mädchen gemeinsam systolisch bei 3% und diastolisch bei 7% Perzentilen für die 24-h-Periode
Tageswerte
P50
P95
P50
P95
P50
P95
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105/65
113/72
112/73
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95/55
104/63
130
105/65
117/75
113/73
125/85
96/55
107/65
140
107/65
121/77
114/73
127/85
97/55
110/67
150
109/66
124/78
115/73
129/85
99/56
113/67
160
112/66
126/78
118/73
132/85
102/56
116/67
170
115/67
128/77
121/73
135/85
104/56
119/67
180
120/67
130/77
124/73
137/85
107/56
122/67
120
103/65
113/73
111/72
120/84
96/55
107/66
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105/66
117/75
112/72
124/84
97/55
109/66
140
108/66
120/76
114/72
127/84
98/55
111/66
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110/66
122/76
115/73
129/84
99/55
112/66
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111/66
124/76
116/73
131/84
100/55
113/66
170
112/66
124/76
118/74
131/84
101/55
113/66
180
113/66
124/76
120/74
131/84
103/55
114/66
Länge (cm)
Nachtwerte
Jungen
Mädchen
P Perzentile
Eine besondere Form der Hypertonie ist das Fehlen der nächtlichen Blutdrucksenkung bei aufgehobenem zirkadianen Blutdruckrhythmus. Bei Erwachsenen mit Diabetes wird dieses Phänomen als Hinweis auf existente oder entstehende Endorganschäden gewertet. Eine 24-h-Blutdruckmessung sollte immer dann durchgeführt werden, wenn Gelegenheitsblutdruckmessungen systolisch oder diastolisch oberhalb der 95. Perzentile liegen oder eine Retinopathie bzw. Mikroalbuminurie vorliegt.
108
2 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
6.4.5
Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes
Therapie der Nephropathie und der arteriellen Hypertonie
Der Nachweis einer arteriellen Hypertension bei Jugendlichen mit Diabetes ist so wichtig, weil unverzüglich mit der Therapie begonnen werden muss, um ein weiteres Fortschreiten des mikroangiopathischen Prozesses zu minimieren bzw. zu unterbinden. Große Bedeutung kommt dabei einer adäquaten Hypertonieschulung der Patienten zu. Sie beinhaltet die 5 Einweisung in Blutdruckselbstmessung, 5 Erkennung und Therapie von orthostatischen Blutdruckerhöhungen und 5 Aufklärung über potentielle Nebenwirkungen. Schwieriger ist das therapeutische Vorgehen bei normotensiven Jugendlichen mit Mikroalbuminurie. Neben einer bestmöglichen glykämischen Einstellung werden verschiedene weitere präventive Maßnahmen z. T. kontrovers diskutiert. Von besonderer Bedeutung für die Pädiatrie ist der Nikotinkonsum, da das Rauchen ein nachgewiesener unabhängiger Progressionsfaktor sowohl für die Retinopathie und Nephropathie als auch für die Makroangiopathie ist. Eine weitere Maßnahme zur Prävention bzw. Behandlung der diabetischen Nephropathie ist die Reduktion der täglichen Eiweißaufnahme. (ca. 10% der Gesamtkalorienzufuhr). Wegen der hohen Rate einer transienten bzw. intermittierenden Mikroalbuminurie bei Jugendlichen und den fehlenden Langzeitstudien, muss, im Hinblick auf die Notwendigkeit einer lebenslangen Therapie, nach dem gegenwärtigen Stand die Entscheidung über den Einsatz der ACE-Hemmer Medikamente im Einzelfall getroffen werden. Für eine prophylaktische Gabe von ACE-Hemmern oder Rheologika an Jugendliche mit Diabetes ohne Frühzeichen von Sekundärveränderungen gibt es gegenwärtig keine wissenschaftliche Basis. Bei Vorliegen einer persistierenden Mikroalbuminurie sollten 5 langfristige Stoffwechsellage, 5 Diabetesdauer, 5 24-h-Blutdruckprofile, 5 Vorhandensein retinaler Veränderungen und 5 anderer Risikofaktoren die Basis für die Entscheidung über den Beginn einer ACE-Hemmertherapie liefern. Wegen seiner relativ langen Halbwertzeit hat sich Enalapril (Xanef, Pres; täglich eine Dosis) bewährt. Bei ungünstigem Verlauf und drohendem Nierenversagen ergeben sich Indikationen zum Einsatz der Dialyse und Nierentransplantation. Da die Hämodialyse bei Diabetikern mit häufigen Komplikationen behaftet ist, sollte frühzeitig (bei Kreatininwerten über 5 mg/dl = 45 mmol/l) die Transplantation geplant werden.
6.5 · Diabetische Neuropathie
109
6
Neuere Berichte zeigen, dass die Transplantationserfolge bei Diabetikern nicht viel schlechter sind als bei Nichtdiabetikern. Daneben gibt es zunehmend günstige Ergebnisse bei simultaner Transplantation von Niere und Pankreas. Zusammenfassung Die wirksamste Maßnahme zur Verhinderung einer diabetischen Nephropathie bleibt die Vermeidung langfristiger ausgeprägter Hyperglykämien. HbA1c-Werte unter 7,5% und Blutdruckwerte unter 135/85 mmHg sind die einzigen therapeutischen Möglichkeiten, um eine beginnende Nephropathie in ihrem Verlauf günstig zu beeinflussen.
6.5
Diabetische Neuropathie
Diabetische Spätschäden des Nervensystems sind polymorph in Bezug auf Pathogenese und klinische Symptomatologie. Daher sind die epidemiologischen Daten über die Prävalenz der diabetischen Neuropathie sehr unterschiedlich. Obwohl bei Kindern und Jugendlichen mit Diabetes vereinzelt pathologische Befunde erhoben werden können, sind diese in der longitudinalen Beobachtung mit den heute verfügbaren Nachweismethoden meist ohne klinische Relevanz, sodass die Erfassung einer Neuropathie für die pädiatrische Diabetologie im Vergleich zur Retinopathie und Nephropathie bislang von untergeordneter Bedeutung ist. Grundsätzlich unterscheidet man eine sensomotorische und eine autonome Neuropathie. 6.5.1
Pathologische Anatomie und Physiologie
Bei der diabetischen Neuropathie ist kein einheitliches histologisches Bild der Schädigung des peripheren Nerven nachweisbar. Es werden nebeneinander axonale und demyelinisierende Schädigungszeichen beobachtet. Die Variabilität der pathologisch-anatomischen Befunde entspricht den sehr unterschiedlichen klinischen Manifestationsformen. Charakteristisch ist, dass es bleibende, morphologisch fassbare Veränderungen am Nerven gibt, daneben aber auch reversible Störungen der Nervenfunktion, die z. B. nach besserer Stoffwechseleinstellung des Patienten wieder verschwinden. Pathogenetisch werden im Wesentlichen vaskuläre Ursachen mit konsekutiver Ischämie bzw. Hypoxie und metabolische Faktoren (z. B. nichtenzymatische Glykierung, Polyolstoffwechsel) angenommen. Mikroangiopathische Veränderungen der Vasa nervorum, die die peripheren Nerven versorgen, könnten z. B. eine ischämische Neuropathie verursachen. Ausmaß und Schwere der diabe-
110
2 2 3 4 5
tischen Neuropathie korreliert eindeutig mit der Qualität der Stoffwechseleinstellung. Weiterhin spielt die arterielle Hypertonie bei der Entwicklung der Neuropathie eine wichtige Rolle. Alkohol und Nikotin sind zusätzlich diskutierte Risikofaktoren. 6.5.2
Klassifikation der Neuropathien 5 Symmetrische Polyneuropathie
– Sensible oder sensomotorische Polyneuropathie – Autonome Neuropathie – Symmetrische proximale Neuropathie der unteren Extremitäten 5 Fokale und multifokale Neuropathien
– Kraniale Neuropathie – Mononeuropathie des Stammes und der Extremitäten – Asymmetrische proximale Neuropathie der unteren Extremitäten
8 9
Klassifikation
In der folgenden Übersicht ist die in den Leitlinien der DDG dargestellte Klassifikation der Neuropathien zitiert:.
6 7
Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes
5 Mischformen
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6.5.3
Sensomotorische diabetische Neuropathie
Eine der häufigsten Formen der sensomotorischen diabetischen Neuropathie ist die vom symmetrisch-proximalen Typ. Sie beginnt an den Beinen, später sind auch die Arme betroffen. Die Beschwerden bleiben beinbetont. Kribbeln, Brennen, Ameisenlaufen, Hyperästhesie, Schmerzmissempfindung und Temperturmissempfindung sind die wichtigsten sensiblen Symptome, Lähmungen, Eigenreflexabschwächung, Faszikulieren und Muskelkrämpfe die häufigsten motorischen. Beim asymmetrisch-proximalen Typ der Neuropathie sind einseitige Schmerzen von bohrendem, wühlenden oder brennenden Charakter an Hüfte und Oberschenkel, die in Ruhe, z. B. während der Nacht, zunehmen, charakteristisch. Eine möglich Lähmung betrifft meist das Heben des Oberschenkels und die Streckung des Unterschenkels. Sehr viel seltener sind diabetische Mononeuropathien, z. B. im Bereich des N. oculomotorius, des Plexus lumbosacralis und des Plexus brachialis. Auch die sog. Engpasssyndrome wie das Karpaltunnelsyndrom werden den Mononeuropathien zugeordnet.
6.5 · Diabetische Neuropathie
111
6
Diagnostik Die wichtigste Maßnahme zur Identifikation einer diabetischen Neuropathie ist die sorgfältige Erhebung der Anamnese, d. h. besonders der von Patienten geklagten Beschwerden. Hierfür eignet sich der sog. Young-Score, der in einen neurologischen Symptomen- und einen neurologischen Defizit-Score unterteilt ist (. Abb. 6.4 und 6.5). Hilfreich ist weiterhin die Gegenüberstellung der verschiedenen Verlaufsphasen der sensomotorischen diabetischen Neuropathien mit den entsprechenden Diagnosekriterien (. Tabelle 6.5). Die apparative Diagnostik hat nur einen geringen Stellenwert. Auf eine Elektroneuro- oder Elektromyographie kann bei der sensomotorischen diabetischen Neuropathie meist verzichtet werden. Die Messung der Leitgeschwindigkeit erfasst z.B. nur die Funktion der schnelleitenden Nervenfasern. Die für die Wahrnehmung des Schmerzes und die autonomen Funktionsstörungen wichtigen dünnen, unbemarkten Fasern werden nicht erfasst. Wichtig für die Diagnose einer sensomotorischen diabetischen Neuropathie sind dagegen neurologische Untersuchungmethoden, die mit Hilfe einfacher Geräte (z. B. Stimmgabel, Reflexhammer, Monofilament) durchgeführt werden können. Die Schmerzempfindung wird mit einem Zahnstocher, einer Einmalnadel oder einem Neurotip geprüft (Frage: »Ist es schmerzhaft?«), die Berührungsempfindung (Oberflächensensibilität) mit einem Wattebausch, die Vibrationsempfindung mit einer 128-Hz-Stimmgabel (zunächst am Großzehengrundgelenk, wenn negativ am Malleolus medialis). Wichtig ist weiterhin die Auslösung der Muskeleigenreflexe (Achilles- und Patellarsehnenreflex). Die Temperaturempfindung wird mit Hilfe einer kalten Stimmgabel, eines eiswassergekühlten Reagenzglases oder eines Tip Therm geprüft, die Druckempfindung mit einem 10-g-Monofilament auf der Plantarseite des Metatarsale II im Bereich des Zehenballens. Therapie Eine signifikante Verbesserung objektiver und subjektiver Parameter der sensomotorischen Neuropathie nur durch eine langfristig nahe-normoglykämische Stoffwechseleinstellung möglich ist. Neben dieser kausalen Therapie gibt es nur symptomatische Maßnahmen zur Reduzierung der Symptome und Beschwerden der diabetischen Neuropathie. Dazu gehören die Normalisierung des Blutdrucks, die Fußpflege, die Prophylaxe von Fußläsionen und Krankengymnastik. Bei Schmerzen können einfache Analgetika, aber auch Antiepileptika (Carbamazepin, Gabapentin), selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (Citalopran, Paroxetin), trizyklische Antidepressiva (Amitriptylin, Clomipramin, Imipramin) und Tramadol eingesetzt werden (DDG-Leitlinie 2002).
112
Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes
2 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
. Abb. 6.4 Neurologischer Symptomen-Score (NSS, Young-Score). (Nach DDG 2002)
6.5 · Diabetische Neuropathie
113
. Abb. 6.5 Neurologischer Defizit-Score (NDS, Young-Score). (Nach DDG 2002)
6
114
Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes
2
. Tabelle 6.5 Verlaufsformen und Diagnosekriterien der sensomotorischen diabetischen Neuropathie. (Nach DDG 2002)
2
Verlaufsformen der Neuropathie
Diagnosekriterien
3
Subklinische Neuropathie
Pathologische quantitative neurophysiologische Tests (Vibratometrie, quantitative Thermästhesie, Elektroneurographie), weder Beschwerden noch klinische Befunde
Chronisch-schmerzhafte Neuropathie (häufig)
Schmerzhafte Symptomatik in Ruhe (symmetrisch und nachts zunehmend): Brennen, einschließende oder stechende Schmerzen, unangenehmes Kribbeln Sensibilitätsverlust unterschiedlicher Qualität und/oder beidseitig reduzierte Muskeleigenreflexe
Akut-schmerzhafte Neuropathie (eher selten)
Symmetrische Schmerzen an den unteren Extremitäten und eventuell auch im Stammbereich stehen im Vordergrund Eventuell zusätzlich Hyperästhesie Kann mit Beginn bzw. Intensivierung einer Insulintherapie assoziiert sein (Insulinneuritis) Geringe Sensibilitätsstörungen an den unteren Extremitäten oder normaler neurologischer Untersuchungsbefund
Schmerzlose Neuropathie
Fehlende Symptome bzw. Taubheitsgefühl und/oder Parästhesien Reduzierte oder fehlende Sensibilität bei fehlenden Muskeleigenreflexen (insbesondere ASR)
Diabetische Amyotrophie
Progredienter, zumeist asymetrischer Befall der proximalen Oberschenkel- und Beckenmuskulatur mit Schmerzen und Paresen
Langzeitkomplikationen der distal-symmetrischen Polyneuropathie mit unterschiedlichem Penetrationsgrad
Neuropathische Fußläsionen, z. B. Fußulzera Diabetische Osteoarthropathie (Charcot-Fuß) Nichttraumatische Amputation
4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
6.5 · Diabetische Neuropathie
6.5.4
115
6
Autonome diabetische Neuropathie
Autonome Neuropathien treten selten isoliert auf, sie betreffen meist mehrere Organsysteme. Die folgenschwerste ist die kardiovaskuläre Neuropathie, weil sie zum »stummen Infarkt« führen kann. Symptome der kardiovaskulären Neuropathie sind Blutdruckabfall, Schwäche, Schwindel und Ohnmacht. Die gastrointestinale Neuropathie kann mit Störungen der Ösophagusfunktion und der Magen- oder Darmentleerung einhergehen. Bei ösophagealer Beteiligung treten dysphagische Beschwerden, Sodbrennen, Übelkeit und Erbrechen auf, bei der sehr viel häufigeren Magenbeteiligung Übelkeit, Erbrechen, Völlegefühl, Blähungen, Aufstoßen und abdominelle Schmerzen. Führendes Symptom bei der Neuropathie des Dünndarms ist die Diarrhö, bei der des Dickdarms die Obstipation. Die urogenitale Neuropathie tritt ausschließlich bei erwachsenen Patienten auf und ist durch diabetische Zystopathie und erektile Dysfunktion charakterisiert. Bei der endokrinen Dysfunktion ist die Hypoglykämiewahrnehmung gestört und es fehlt die hormonelle Gegenregulation. Sehr selten ist die Neuropathie der Pupille, bei der die Pupillenmotorik gestört ist. Sie verursacht geringe Beschwerden (Störungen der Hell-Dunkel-Adaptation mit Blendungsgefühl). Störungen der Sudomotorik (gustatorisches Schwitzen, »trockene Füße«) und der Trophik (Hyperkeratose, Rhagaden, neurotrophisches Ulkus, Osteopathie, Osteoarthropathie, Ödem) sind Manifestationen der autonomen diabetischen Neuropathie, zu der schließlich auch noch die respiratorische Neuropathie mit einer Fehlregulation der Atmung gehört (Schlafapnoe, Atemstillstand). Diagnostik Auch bei der Diagnose der autonomen diabetischen Neuropathie spielt die Erhebung der Anamnese eine zentrale Rolle. Bei Beschwerden, die auf eine autonome Neuropathie hinweisen, sind verschiedene spezielle Untersuchungen notwendig. In . Tabelle 6.6 sind die klinisch wichtigen Manifestationen und die zugeordnete Diagnostik der autonomen Neuropathie einander gegenübergestellt (DDG 2002). Therapie Eine ganze Reihe spezieller Therapien der verschiedenen Formen der autonomen diabetischen Neuropathie stehen heute zur Verfügung. In der folgenden Übersicht sind diese Behandlungsmöglichkeiten zusammengestellt (DDG 2002), obwohl sie für den Pädiater, der Kinder und Jugendliche mit Diabetes betreut, kaum eine praktische Bedeutung haben.
116
Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes
2
. Tabelle 6.6 Formen der autonomen diabetischen Neuropathie und zugeordnete Diagnostik
2
Organe und Funktionen
3 4 5 6 7 8
Kardiovaskuläres System Ruhetachykardie Herzfrequenzstarre Belastungsintoleranz Verminderte bzw. fehlende Wahrnehmung von Myokardischämien Perioperative Instabilität Posturale Hypotonie Präkapilläre arteriovenöse Shunts Gastrointestinales System Dysfunktion: Ösophagus, Magen, Darm, Gallenblase Anorektale Dysfunktion (Stuhlinkontinenz)
9 10
Urogenitales System Diabetische Zystopathie Erektile Dysfunktion
11 12 13
Endokrine Dysfunktion Gestörte Hypoglykämiewahrnehmung und (oder) Fehlen einer hormonellen Gegenregulation Pupillomotorik Miosis
14 15 16 17
Gestörte Pupillenreflexe Verminderte Dunkeladaptation Sudomotorik Dyshidrose (gustatorisches Schwitzen, »trockene Füße«) Trophik Hyperkeratosen, Rhagaden Neurotrophisches Ulkus
Untersuchungsmethoden
Tests zur Herzfrequenzvarianten Orthosthasetest, Kipptischtest
Magenentleerung (nuklearmedizinisch, sonographisch) Gastrokolische Transitzeit (röntgenologisch, H2-Exhalationstest, nuklearmedizinisch) Gallenblasenkontraktion (sonographisch) Ösophagogastrointestinale Manometrie
Max. Nacht-Morgen-Urinvolumen Sonographie Urologische Funktionstests Standardisierter Fragebogen Engmaschige Blutglukosekontrollen (insbesondere Selbstkontrollen) besonders auch nachts
Infrarotpupillometrie (Mydriasegeschwindigkeit, Latenzzeit des Pupillenreflexes)
Schweißtest
Fußinspektion Klinisch-neurologische und -angiologische Untersuchung
6
117
6.5 · Diabetische Neuropathie
. Tabelle 6.6 Formen der autonomen diabetischen Neuropathie und zugeordnete Diagnostik Organe und Funktionen
Untersuchungsmethoden
Osteopathie Osteoarthropathie (Charcot-Fuß) Ödem
Röntgen, ggf. CT, NMR Pedographie (zur Qualitätskontrolle orthopädieschuh technischer Maßnahmen und Ermittlung der Druckbelastung unter den Fußsohlen)
Respiratorisches System Zentrale Fehlregulation der Atmung mit herabgesetztem Atemantrieb gegenüber Hyperkapnie bzw. Hypoxämie Schlafapnoe Atemstillstand
Ggf. Schlaflabor
CT Computertomographie, NMR »nuclear magnetic resonance«.
Therapiemöglichkeiten verschiedener Formen der autonomen diabetischen Neuropathie 5 Herz-Kreislauf-System – Kardiovaskuläre Neuropathie:
Im Allgemeinen keine spezielle Behandlung notwendig (wichtig: Diagnose und Therapie von koronarer Herzkrankheit und Herzinsuffizienz) – Orthostasesyndrom: Allgemeine Maßnahmen: liberalisierte Kochsalzzufuhr, körperliches Training, Schlafen mit erhöhtem Kopfteil (Verminderung der Diurese), Kompressionsstrümpfe, Beachtung hypoton wirkender Pharmaka
Fludrokortison (beginnend mit niedriger Dosierung bei Beachtung von Nebenwirkungen) Blutdrucksteigernd wirksame Medikamente mit kurzer Halbwertszeit (z. B. Midodrin) 5 Gastrointestinales System – Gastroparese:
Pharmakotherapie: Metoclopramid, Domperidon, Erythromycin Jejunostomie/Ernährungssonde (nur in Ausnahmefällen) – Diarrhoe: Synthetische Opioide (Loperamid) 6
118
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Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes
Clonidin (a-2-Rezeptor-Agonist) Antibiotika: z. B. Gyrasehemmer, Amoxizillin, Doxyzyklin Andere Substanzen (nach spezieller Ätiologie der Diarrhoe): Pankreasenzyme, Kolestyramin, Psylliumsamen, Kaolin und Pektin, Oktreotid (Somatostatinanalogon) – Obstipation: Volumenfördernde Maßnahmen: reichlich Flüssigkeit Ballaststoffe (Psylliumsamen) Bewegung Osmotisch wirksame Laxantien: Laktulose, Makrogol Mobilitäts- und sekretionswirksame Laxantien: Bisakodyl, Antrachinome Salinische Abführmittel: Magnesiumsulfat, Natriumsulfat Versuch mit Prokinetika: Metoklopramid, Domperidon – Stuhlinkontinenz: Antidiarrhoika Biofeedback-Techniken 5 Endokrines System – Neuroendokrine Dysfunktion:
Häufige Blutzuckerkontrollen und ärztliche Kontrollen, Vermeidung von symptomatischen und asymptomatischen (oftmals nächtlichen) Hypoglykämien Therapie mit kurz wirksamen Normalinsulinen oder Insulinanaloga
5 Urogenitales System – Diabetische Zystopathie: Selbstkatheterisation Parasympathikomimetika (z.B. Carbachol, Distigmin) Diagnose und Therapie einer Prostatahyperplasie (»bladderoutlet-obstruction«): konservative (z. B. Hyperthermie, a-1A-Rezeptorenblocker) oder operative urologische Maßnahmen (Prostataresektion) Gegebenenfalls antibiotische Therapie – Erektile Dysfunktion:
Vermeidung medikamentöser Nebenwirkungen (bedingt durch Antihypertonika, Tranquilizer, Antidepressiva) 5-Phosphodiesterasehemmer (Sildenafil, Vardenafil, Tadalafil) Erektionshilfesysteme (Vakuumpumpe) Intraurethrale Applikation von Alprostadil (MUSE) Schwellkörper-Autoinjektionstherapie (SKAT) Schwellkörperimplantat 5 Trophik 5 Neuropathischer Fuß – Neuropathisches Ulkus, Neuroarthropathie und -osteopathie:
Fußpflege (Schulung) Druckentlastung (Vorfußentlastungsschuh, orthopädische Einlagen-und Schuhversorgung) Infektionsbekämpfung (Antibiotika, Desinfektion) Lokale chirurgische Maßnahmen (Abtragen von Nekrosen, 6
6.5 · Diabetische Neuropathie
Kallus und Granulationsgewebe; Strahlresektion, Endgliedamputation); konservative oder operative Therapie einer arteriellen Verschlusskrankheit – Neuropathisches Ödem: Saluretika – Sudomotorische Dysfunktion (diabetische Anhidrose, gustatorisches Schwitzen):
Prophylaxe bei identifizierter Ursache des Schwitzens
119
(Nahrungsbestandteile), Anticholinergika, Clonidin (niedrige Dosis) Vermeidung starker Hitzeexposition Fett- oder harnstoffhaltige Externa, Fußpflege 5 Pupillomotorisches System – Hinweis für den Patienten auf verminderte Dunkeladaption und Gefährdung bei Nachtblindheit – Glaukomgefährdung (Kontrolle
des Augendrucks)
Zusammenfassung Wie bei der sensomotorischen Neuropathie treten Dysfunktionen und Beschwerden der autonomen Neuropathie frühestens nach 10-, meist jedoch erst nach 15- bis 20-jähriger Diabetesdauer auf, d. h. frühestens bei älteren Jugendlichen, nie jedoch bei Kindern mit Typ-1-Diabetes. Für den Kinder- und Jugendarzt ist es daher wichtig, bei seinen Patienten durch eine möglichst gute, d. h. nahenormoglykämische Stoffwechseleinstellung das Auftreten einer diabetischen Neuropathie herauszuschieben oder ganz zu verhindern. Eine wichtige Aufgabe besteht aber auch darin, bei Eltern und vor allem bei Jugendlichen die Ängste vor neuropathischen Folgeerkrankungen, z. B. der erektilen Dysfunktion oder dem diabetischen Fuß, zu zerstreuen. Dazu gehören nicht nur der Hinweis, dass sie, wenn überhaupt, erst nach langer Diabetesdauer im Erwachsenenalter auftreten, sondern auch die Tatsache, dass schon jetzt wirksame Therapiemöglichkeiten verfügbar sind, die in den nächsten Jahren weiter verbessert werden.
6
120
2
6.6
Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes
Möglichkeiten der Prävention von Folgeerkrankungen und der Verbesserung der Prognose des Typ-1-Diabetes
2
))
3
Vor Beginn der Insulinära war die Prognose des insulinabhängigen Diabetes schlecht. Die Patienten starben häufig 2 bis 4 Monate nach Manifestation der Erkrankung. Todesursache war immer eine diabetische Ketoazidose mit Koma. Nach Einführung des Insulins in die Therapie hoffte man, dass Patienten mit Typ-1-Diabetes ein fast normales Leben zu erwarten hätten. Im Laufe der 40er Jahre stellte sich diese Annahme als Irrtum heraus. Durch die Entwicklung diabetischer Spätkomplikationen, die heute als Folgerkrankungen bezeichnet werden, ist die Lebenserwartung von Kindern und Jugendlichen weiterhin verkürzt, die Lebensqualität vermindert.
4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
Man muss heute noch davon ausgehen, dass nach 20 Jahren Diabetesdauer 40% der Patienten eine Nephropathie und 80% eine Retinopathie aufweisen. Ein Drittel aller Nierentransplantationen betrifft Diabetiker, ein Drittel der an terminaler Niereninsuffizienz sterbenden Patienten sind Diabetiker. Die diabetische Makroangiopathie tritt zwar selten bei Kindern und Jugendlichen mit Diabetes auf, im Erwachsenenalter erkranken und sterben jedoch Typ-1-Diabetiker früher und häufiger an einer Arteriosklerose. 6.6.1
Die DCCT-Studie
Der Kausalzusammenhang zwischen Hyperglykämie und Mikroangiopathie wurde endgültig und mit großer Breitenwirkung durch die Publikation der Ergebnisse des DCCT im September 1993 im New England Journal of Medicine bewiesen. Die 1.441 Patienten wurden randomisiert entweder mit konventioneller Insulintherapie (CT: 2 Injektionen pro Tag) weiterbehandelt oder auf eine intensivierte Insulintherapie (ICT: 4 Injektionen pro Tag, mehrheitlich CSII) umgestellt. An der Studie nahmen auch 195 Jugendliche mit Typ-1-Diabetes teil. Die Studiendauer betrug im Mittel 6,5 Jahre. Der mittlere HbA1c-Wert lag bei der intensiviert behandelten Gruppe während der Studie bei 7,12%, bei der konventionell behandelten Gruppe bei 9,02%. Die mittlere Blutglukosekonzentration betrug bei der intensiviert behandelten Gruppe 155±30 mg/dl, bei der konventionellen Gruppe 231±55 mg/dl. Das Neuauftreten der diabetischen Retinopathie (primäre Prävention) ließ sich bei der intensiviert behandelten Gruppe um 76% reduzieren (. Abb. 6.6), das der Nephropathie um 44% (. Abb. 6.7) und das der Neuropathie um 70%. Bei den Patienten, die bereits bei Studienbeginn mikroangiopathische und neuropathische Veränderungen aufwiesen, konnte die Verschlechterung der
6.6 · Möglichkeiten der Prävention von Folgeerkrankungen
121
6
. Abb. 6.6 Kumulative Inzidenz der Retinopathie bei Patienten, die im Rahmen des DCCT eine konventionelle bzw. intensivierte Insulintherapie erhielten
. Abb.6.7 Kumulative Inzidenz der Nephropathie bei Patienten, die im Rahmen des DCCT eine konventionelle bzw. intensivierte Insulintherapie erhielten
Befunde signifikant verzögert werden (sekundäre Prävention). Die Rate neuaufgetretener Veränderungen an den Augen verminderte sich um 54%, an den Nieren um 56%, an den Nerven um 57%. Der exponentielle Zusammenhang zwischen Langzeit-HbA1c und Folgeerkrankungen, wie er in der DCCT-Studie beschrieben wurde, findet sich in gleichem Maße für die Kinder, die in der Berliner Retinopathiestudie verfolgt wurden (. Abb. 6.8).
122
Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes
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. Abb. 6.8 Exponentieller Zusammenhang zwischen dem Auftreten einer fluoreszenzangiographisch nachgewiesenen milden, nichtproliferativen (Background)Retinopathie und dem Mittelwert der Jahresmittelwerte des HbA1c-Wertes bis zu diesem Ereignis. Ergebnis der Berliner Retinopathie-Studie
Auch eine Nachuntersuchung von knapp 90% der adoleszenten Patienten der ursprünglichen DCCT-Studiengruppe (»Epidemiology of Diabetes Interventions and Complications«/EDIC) belegte die langfristige Bedeutung der guten Stoffwechseleinstellung von Anfang an. Sowohl die Patienten des ursprünglich konventionell wie die des intensiviert behandelten Studienarms wiesen in den vier Jahren nach Studienende im Mittel vergleichbare HbA1c-Werte (8,38 vs. 8,45%) auf. Die Retinopathieprävalenz war jedoch signifikant um über 70% in der Adoleszentengruppe reduziert, die ursprünglich intensiviert behandelt wurde und initial bessere Stoffwechselergebnisse aufwies (DCCT/EDIC 2001). Ein ähnlicher langfristiger Effekt der besseren Stoffwechseleinstellung auf die Entwicklung einer Mikroangiopathie ist auch für die Gesamtstudiengruppe gefunden worden, sogar über die Phase besserer glykämischer Kontrolle hinaus (DCCT/EDIC 2002). Eine gute Einstellung zu Beginn der Erkrankung hat also eine große langfristige Bedeutung für die Vermeidung diabetischer Folgeerkrankungen. Eindrucksvoll belegt die DCCT-Studie auch den über den HbA1c-Wert hinausgehenden positiven Einfluss intensivierter Therapieverfahren auf die Retinopathieentwicklung. Bei gleichem durchschnittlichen HbA1c-Wert entwickelten die Patienten in der intensivierten Gruppe deutlich seltener Folgeer-
6.6 · Möglichkeiten der Prävention von Folgeerkrankungen
123
6
. Abb. 6.9 Ergebnisse der DCCT-Studie. Trotz gleichen HbA1c-Wertes entwickelten die mit intensivierter Therapie behandelte Patienten seltener eine Retinopathie als die mit konventioneller Therapie behandelten (__ intensive Behandlung, … konventionelle Behandlung)
krankungen als konventionell behandelte (. Abb. 6.9). Man kann die Ergebnisse dahingehend interpretieren, dass der HbA1c-Wert immer nur einen Mittelwert darstellt, der die Blutzuckerschwankungen nicht erfasst. ! Das heute unstrittige metabolische Ziel der Langzeitbehandlung des Typ1-Diabetes ist, ein Stoffwechselgleichgewicht mit möglichst normalen Blutglukosewerten zwischen 60 und 180 mg/dl zu erzielen.
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Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes
6.6.2
Die Rolle der Pubertät
)) Im Jahre 1989 wurden Daten der kinderdiabetologischen Arbeitsgruppe aus Pittsburgh veröffentlicht, die dahingehend interpretiert wurden, dass die Zeit vor der Pubertät für die Entwicklung von Folgeerkrankungen nicht bedeutsam sei. Diese Ergebnisse wurden inzwischen eindeutig widerlegt, sodass ein therapeutischer Nihilismus in keiner Weise gerechtfertigt ist
1989 veröffentlichten Kostraba et al. Daten, aus denen hervorzugehen schien, dass die präpubertäre Diabetesdauer geringen Einfluss auf die Prävalenz mikrovaskulärer Komplikationen habe. Obwohl die Autoren betonen, dass es viele Interpretationsmöglichkeiten dieser Daten gebe und sie im klinischen Zusammenhang mit Vorsicht behandelt werden sollten, wird auch heute immer noch von einigen pädiatrischen Diabetologen der Schluss gezogen, dass nicht nur die Dauer, sondern auch die Qualität der Stoffwechseleinstellung bei Klein- und Schulkindern von geringer Bedeutung für das Auftreten von diabetischen Folgeerkrankungen sei. Dieser Auffassung muss energisch entgegengetreten werden, da inzwischen Publikationen vorliegen, die folgendes beweisen: ! F Mikrovaskuläre Komplikationen können bereits präpubertär auftreten: jüngster Patient mit Retinopathie 9,6 Jahre, mit Mikroalbuminurie 11,5 Jahre. Die präpubertäre Diabetesdauer beeinflusst nachweislich die Inzidenz diabetischer Spätkomplikationen. F Eine schlechte Qualität der Stoffwechselkontrolle hat auch schon vor der Pubertät vom Beginn des Diabetes an erhebliche Auswirkungen auf die Entwicklung diabetischer Folgeerkrankungen.
F
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Benutzt man statistische Methoden, um die mittleren HbA1c-Werte der präpubertären und postpubertäten Diabetesdauer für die Entwicklung einer Retinopathie getrennt zu betrachten, so scheinen die hormonellen Umstellungen in der Pubertät sogar eine Beschleunigung der Retinopathieentwicklung zu bedingen. Eine lang andauernde Hyperglykämie vor der Pubertät trägt also genau so wie die Zeit während und nach der Pubertät zum Risiko für Folgeerkrankungen bei. Dabei ist zu berücksichtigen, dass genau in dieser Phase besonders viele Jugendliche sowohl nach eigenen wie nach internationalen Erfahrungen eine gute Stoffwechseleinstellung häufig nicht erreichen können. Mut machen die Daten einer Gruppe pädiatrischer und internistischer Diabetologen aus Mittelschweden, die zeigen, dass die kumulative Inzidenz der
6.6 · Möglichkeiten der Prävention von Folgeerkrankungen
125
6
. Abb. 6.10 Rückgang der Inzidenz der diabetesbedingten Nephropathie bei schwedischen Kindern mit Typ-1-Diabetes
persistierenden Mikroalbuminurie bei einer homogenen, genetisch gleichbelasteten Population von 28,0% in den Jahren 1961–1965 auf 5,8% in den Jahren 1976–1980 durch Verbesserung der Stoffwechselkontrolle reduziert werden konnte (. Abb. 6.10). Einer langfristig bestmöglichen nahe-normoglykämischen Stoffwechseleinstellung kommt also eine herausragende Bedeutung für die Prävention von Sekundärkomplikationen und damit der Prognose des Typ-1-Diabetes im Kindesalter zu. Beim Vergleich der Werte verschiedener Diabeteszentren ergaben sich hochsignifikante Unterschiede im durchschnittlichen HbA1c-Wert. Auffällig war, dass in Zentren mit einem überdurchschnittlich guten mittleren HbA1c-Wert dieser sehr wohl bei Patienten mit kurzer als auch langer Diabetesdauer nachweisbar ist. Das spricht für die außerordentliche Bedeutung bereits des 1. Jahres nach Manifestation, in dem ein möglichst guter Umgang mit der Krankheit gelernt und etabliert wird. In der DCCT-Studie führte eine intensive Insulintherapie während der ersten 5 Diabetesjahre langfristig zu besseren HbA1c-Werten und niedrigerer Mikroangiopathierate. Auch in der Berliner Retinopathiestudie waren Patienten, die einen guten HbA1c-Wert im ersten Diabetesjahr aufwiesen, signifikant später von Augenhintergrundsveränderungen betroffen.
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Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes
Zusammenfassung Auch wenn andere Risikofaktoren (Hypertonie, Rauchen, erhöhte Eiweißzufuhr) und die genetische Prädispositon für die Entstehung von diabetischen Folgeerkrankungen mitverantwortlich sind, ist die zentrale pathogenetische Bedeutung der glukosetoxischen Wirkung einer unzureichenden Stoffwechselkontrolle heute unbestritten. Die einzige als gesichert anzusehende Maßnahme zur Prävention von Folgeerkrankungen und zur Reduktion der Mortalität bei Typ-1-Diabetes ist die Optimierung der Stoffwechseleinstellung bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gleichermaßen. Zur Prävention von diabetischen Folgeerkrankungen müssen daher alle Pädiater dafür Sorge tragen, dass möglichst alle Kinder mit Diabetes bereits ab Manifestation eine kompetente pädiatrisch-diabetologische Betreuung erhalten und ihren Eltern und Betreuern durch entsprechende Schulung die Kompetenz für die sachgerechte Behandlung ihrer Kinder im Alltag von Anfang an vermittelt wird.
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7
Insulintherapie )) Bis etwa 1980 wurde Insulin ausschließlich aus den Bauchspeicheldrüsen von Schlachttieren, insbesondere von Rindern und Schweinen, gewonnen. Inzwischen ist diese Art der Herstellung fast vollständig durch unterschiedliche Methoden der Gewinnung von Humaninsulin abgelöst worden. Als Ergänzung der Humaninsuline sind in den letzten Jahren modifizierte Insuline, die Insulin-Analoga, entwickelt und erprobt worden.
7.1
Herstellung von Humaninsulin
Die industrielle Herstellung von Humaninsulin erfolgt heute ausschließlich biosynthetisch durch gentechnologische Verfahren. Eli Lilly stellte als erste Firma gentechnologisch produzierte Humaninsuline her. Verwendet wird heute ein menschliches Genom, über das in Escherichia coli Proinsulin hergestellt wird. Durch enzymatische Abspaltung des C-Peptids entsteht Humaninsulin. Fa. Novo-Nordisk produzierte zunächst semisynthetisches Humaninsulin. Heute benutzt die Firma synthetische DNS zur Herstellung von Mini-Proinsulin in Hefen zur Herstellung von biosynthetischem Humaninsulin. Die Fa. SanofiAventis (ehemals Hoechst) stellte zunächst ebenfalls semisynthetisches Humaninsulin her. Inzwischen verwendet die Firma für die Produktion von biosynthetischem Humaninsulin das Genom der Affenart Macaca fascicularis. Nach Insertion in Escherichia coli wird humanes Proinsulin synthetisiert. Als letzter Syntheseschritt erfolgt ebenfalls die enzymatische Abspaltung von C-Peptid. Durch die industrielle Herstellung von Humaninsulin hat sich der Insulinmarkt von der begrenzten Verfügbarkeit von Rinder- und Schweinepankreas unabhängig gemacht. 7.2
Standardisierung von Insulinpräparaten
Die biologische bzw. blutzuckersenkende Aktivität des Insulins wird in internationalen Einheiten pro Milliliter (I.E./ml bzw. U/ml) angegeben. Nach dem 1. Internationalen Standard für reines Humaninsulin entspricht eine internationale Einheit 38,5 µg Reinsubstanz (=26 I.E./ml). Jede Fabrikationsmenge musste bisher biologisch getestet werden. Das erfolgte nach international festgelegten Richtlinien im In-vivo-Bioassay. Nach der Definition des »Public Health Com-
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Kapitel 7 · Insulintherapie
mittee of the League of Nations« entspricht eine internationale Einheit Insulin der Menge an Substanz, die notwendig ist, um den Blutzucker eines 2,0–2,5 kg schweren Kaninchens, das 24 h lang gefastet hat, vom Normalwert (118 mg/dl) auf 50 mg/dl in 1 h bzw. auf 40 mg/dl in 2 h zu senken. Die Messung des hypoglykämisierenden Effekts zur Bestimmung der Wirkungsstärke von Insulin ist heute durch die quantitative Bestimmung des Insulingehalts der Insulinzubereitung (z.B. durch HPLC) ersetzt worden. 7.3
Konzentration von Insulinpräparaten
In der Bundesrepublik Deutschland enthalten die Insulinpräparate (in Flaschen zum Aufziehen in Spritzen) sowohl 40 I.E. Insulin/ml (U40-Insulin) als auch 100 I.E. Insulin/ml (U100-Insulin). Das steht im Gegensatz zu vielen anderen Ländern, in denen ausschließlich U100-Insulin verwendet wird. Herstellung von Insulinverdünnungen Selten muss der Pädiater Säuglinge oder Kleinkinder mit Diabetes behandeln, die einen sehr niedrigen Insulinbedarf aufweisen. Bei Einzeldosen z. B. unter 1 oder 2 I.E. Insulin kann man mit Hilfe eines insulinfreien Mediums, das über die Pharmafirmen zu beziehen ist, vom Apotheker eine niedrigkonzentrierte U20-, U10- oder U4-Insulinzubereitung aus konventionellen Humaninsulinen herstellen lassen. Ein ähnliches Problem gilt für die Insulin-Analoga, die nur in der Konzentration U100 erhältlich sind. Die Fa. Lilly bietet zur Verdünnung von U100-Humalog (Lispro) eine Verdünnungslösung mit der Bezeichnung »Sterile Diluent ND-800« an, die Fa. NovoNordisk eine Verdünnungslösung für NPH-Insulin „Diluting Medium for Protamin Cont. Insulin Injection“ sowie für lösliches Insulin „Diluting medium for soluble insulin injection“ mit deren Hilfe z. B. eine U40-Präparation hergestellt werden kann. »Sterile Diluent« ist in den USA zur Verdünnung von Humalog zugelassen und in 10-ml-Flaschen erhältlich. Die Verdünnungslösung enthält antimikrobielle Zusätze sowie einen Puffer. Die Stabilität der Humalog-Verdünnungen in den Konzentrationen U10 und U50 wurde im Rahmen einer umfangreichen Untersuchung in den Lilly-Forschungslabors in Indianapolis untersucht. Hierbei zeigte sich, dass die Humalog-Verdünnung bei einer Lagerungstemperatur von 5°C über 28 Tage und bei 30°C über 14 Tage stabil ist. Bei Bedarf kann »Sterile Diluent ND-800« in 10ml-Flaschen gemäß § 73 Abs. 3 AMG unter Angabe des verordnenden Arztes bzw. Vorlage einer Verordnung bei der Kundenbetreuung der Fa. Lilly bestellt werden. Die Stabilität einer Insulinaspartmischung (U 100) mit „Diluting Medium for Protamin Cont. Insulin Injection“ in den Konzentrationen U10 und U50 wurde für eine simulierte kontinuierliche Infusionstherapie für 7 Tage bei 37°C
7.4 · Zusätze zu Insulinzubereitungen/pH-Wert
131
7
mit Insulinpumpen untersucht. Dabei behielten beide Insulinkonzentrationen eine Wirkstärke von über 97% in beiden Konzentrationen nach 7 Tagen bei. Es kam zu keiner nennenswerten Degradation von Insulinaspart oder Katheterverschlüssen. Dieses Verdünnungsmedium ist jedoch noch nicht für die Verdünnung von NovoRapid (Insulinaspart) zugelassen worden. Sowohl der betreuende Arzt als auch der Apotheker können für den Patienten eine entsprechende Insulinverdünnung herstellen. Benötigt werden hierzu sterile 10-ml-Leerflaschen, die über den Apothekenbedarf bezogen werden können, sowie Humalog U100 in 10-ml-Flaschen und die »Sterile-Diluent-ND-800Verdünnungslösung«, die ebenfalls in 10-ml-Flaschen angeboten wird. Nach Desinfektion der Gummimembranen der 3 Flaschen mit 70%igem Alkohol wird zunächst Humalog mit einer sterilen Einmalspritze in die Leerflasche umgefüllt und danach die restliche Menge Verdünnungslösung bis auf 10 ml ebenfalls mit einer sterilen Einmalspritze in die Leerkartusche gespritzt. Vor dem Befüllen der Leerkartusche sollte hier ein entsprechendes Vakuum durch Abziehen der Luft mit Hilfe einer sterilen Einmalspritze erzeugt werden. Um so beispielsweise 10 ml einer U40-Insulinlösung herzustellen, werden zunächst 4 ml Humalog U100 in die Leerflasche gefüllt und anschließend 6ml des »Sterile Diluent ND-800«. Auf genaue Dosierung ist hier besonders zu achten, da ansonsten eine falsche Insulinkonzentration entsteht. Um Verwechslungen zu vermeiden, ist es wichtig, dass derjenige, der die verdünnte Insulinlösung herstellt, die Verdünnung entsprechend beschriftet. 7.4
Zusätze zu Insulinzubereitungen/pH-Wert
Allen Insulinzubereitungen sind antibakteriell wirksame Substanzen zugesetzt. Die meisten Präparate enthalten m-Kresol und Phenol bzw. beides in geringen Konzentrationen als Konservierungsmittel. Bei Zink-Insulinen darf kein Phenol verwendet werden, da die physikalischen Eigenschaften der Insulinpartikel verändert würden. Daher enthalten diese Präparate Methylparaben (PHBEster = Para-Hydroxy-Benzoesäuremethylester) als antimikrobiellen Zusatz. Durch die Desinfizienzien wird eine bakterielle Kontamination beim mehrfachen Durchstechen des Verschlusses der Insulinflaschen vermieden. Zur Kristallisierung enthalten Zink-Insulin-Suspensionen NaCl, NPH-Insulin dagegen Glyzerol. Manche Insulinzubereitungen enthalten einen Phosphatpuffer. Sie dürfen nicht mit Zink-Insulin-Suspensionen gemischt werden, da Zinkphosphat ausfallen und damit die Verzögerungswirkung beeinträchtigt würde. Insulin ist bei einem sauren pH-Wert von 2–3 klar löslich. Am isoelektrischen Punkt, d. h. bei einem pH von 5,4, besitzt Insulin sein Fällungsmaximum. Bei weiterem Anstieg des pH geht Insulin wieder in Lösung. Daher sind die meis-
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2
Kapitel 7 · Insulintherapie
ten der heute angebotenen Insulinzubereitungen neutral. Ihr pH-Wert liegt zwischen 7,0 und 7,3. Nur Surfen-Insulinlösungen liegen im sauren Bereich bei einem pH-Wert von 3,5 vor.
2 7.5
Aufbewahrung von Insulinpräparaten
3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Die Stabilität der Insulinpräparationen hängt von der Lagerungstemperatur ab. Insulinpräparate sollten während der Zeit der Bevorratung sorgfältig bei einer Temperatur zwischen +2 und +8°C aufbewahrt werden, damit ihre Wirksamkeit voll erhalten bleibt. Am besten geschieht das im Kühlschrank, nicht jedoch im Tiefkühlfach, denn durch Einfrieren treten ähnliche Denaturierungen wie bei hohen Temperaturen auf. Bei Temperaturen um 30°C kommt es bei kurzwirkenden Insulinpräparaten zu Fibrillenbildung. Das Insulin wird biologisch inaktiv. Bei länger wirksamen Insulinzubereitungen treten Insulinkoagulationen auf. Während der Zeit des Gebrauchs, z. B. im Pen oder in der Insulinpumpe, können Insulinpräparate jedoch zeitlich begrenzt bei Zimmertemperatur aufbewahrt werden. Auf das Verfallsdatum der Insulinpräparation ist streng zu achten. Wenn Insulinlösungen oder Suspensionen ihre Farbe oder ihr Aussehen verändern, sollten sie entsorgt werden. Intensive Sonnenbestrahlung verändert ebenfalls die Qualität des Insulinpräparats. Bei kurzen Reisen kann auf die Kühlung verzichtet werden. Bei längeren Reisen sollte das Insulinpräparat allerdings in einer Kühltasche transportiert werden, v. a. im Sommer und im Auto. Bei Kindern mit sehr niedrigem Insulintagesbedarf sollte der Inhalt eines Insulinfläschchens bei Zimmertemperatur nur 4 Wochen Verwendung finden; im Kühlschrank bei 2–8°C hält er bis zu 3 Monaten (ISPAD 2000). Nach Ablauf dieser Frist sollte der unbenutzte Rest des Insulins entsorgt werden.
13 14
7.6
15
))
16
Die Applikation von Insulin in das Interstitium des subkutanen Fettgewebes, wie sie bei Patienten mit Diabetes durchgeführt wird, ist im Vergleich zur Insulinsekretion ins Pfortadersystem bei Stoffwechselgesunden a priori unphysiologisch. Transportwege und Halbwertszeiten des endogenen und exogenen Insulins sind sehr unterschiedlich. Die Absorption des exogenen Insulins hängt von der Kapillardichte und vom Blutfluss im subkutanen Fettgewebe ab. Auch der Assoziationsgrad des Insulins in Mono-, Dibzw. Hexamere beeinflusst die Absorption.
17
Absorption des injizierten Insulins
7.6 · Absorption des injizierten Insulins
7.6.1
133
7
Transportwege und Halbwertszeiten des Insulins
Bei Stoffwechselgesunden gelangt das von den E-Zellen sezernierte Insulin direkt über den Pfortaderkreislauf in die Leber und erst von dort in den peripheren Blutkreislauf. Die Basalinsulinkonzentration liegt daher in der Pfortader um ein Dreifaches, die Postprandialinsulinkonzentration um das Doppelte höher als in der Peripherie. Mehr als 50% des in den Pfortaderkreislauf sezernierten Insulins werden von der Leber extrahiert. Um eine den normalen Verhältnissen entsprechende Insulinkonzentration in der Leber zu erreichen, müssen daher bei Patienten, die Insulin in das subkutane Fettgewebe spritzen, unphysiologisch hohe Insulinspiegel hingenommen werden. Die biologische Halbwertszeit von sezerniertem Insulin beträgt beim Stoffwechselgesunden 4 bis 6 min . Sie hängt fast ausschließlich von der v. a. in Leber und Niere erfolgenden Degradation und Elimination des Insulins ab. Im Vergleich dazu ist die Halbwertszeit subkutan injizierten Normalinsulins etwa um das Zehnfache verlängert. Die Halbwertszeit der verschiedenen Verzögerungsinsuline ist noch viel länger. Sie kann in Abhängigkeit von der Insulinpräparation mehr als 12 h betragen. Im Gegensatz zum intravasal sezernierten Insulin hängt die biologische Halbwertszeit der subkutan injizierten Insulinpräparate daher in erster Linie von ihrem unterschiedlich lang dauernden Absorptionsprozess ab, erst in zweiter Linie von ihrer Degradation und Elimination. 7.6.2
Die Subkutis als Ort der Insulininjektion
! Das Interstitium des subkutanen Gewebes wird von lockerem Bindegewebe und Fettgewebe gebildet, das über zahlreiche Kapillaren mit Blut versorgt wird. Der Übertritt von Insulin aus dem extravasalen in den intravasalen Raum erfolgt ausschließlich über die Kapillarwände. Die Absorption von Insulin hängt entscheidend vom Blutfluss im Injektionsgebiet ab. Nur ein Teil der Kapillaren ist ständig durchblutet. Durch Erhöhung der Anzahl der offenen Gefäße kann die Mikrozirkulation beträchtlich verbessert werden. Faktoren, die den Blutfluss in den Kapillaren beeinflussen, haben eine starke Wirkung auf die Insulinabsorption in der Subkutis.
Die Kenntnis der Faktoren, die die Absorption fördern, ist von großer praktischer Bedeutung für die Insulintherapie. Vor allem die unterschiedliche Kapillardichte des Fettgewebes an der Injektionsstelle muss berücksichtigt werden. Die Absorptionsgeschwindigkeit im subkutanen Fettgewebe der Bauchregion ist sehr viel größer als die aus der Subkutis des Oberschenkels. Die Injektionsstellen an Oberarm und Gesäß weisen eine mittlere Absorptionsgeschwindigkeit auf. Die Injektionsstellen sollten wegen ihrer unterschiedlichen Kapillardichte
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Kapitel 7 · Insulintherapie
mit entsprechend variabler Absorptionsgeschwindigkeit im Hinblick auf die gewünschte Insulinwirkung ausgewählt werden (z. B. Normalinsulin vor einer Mahlzeit in die Bauchhaut, Verzögerungsinsulin spät abends in den Oberschenkel). Die Insulinabsorption ist bei Lipodystrophien (Lipome, Lipoatrophien) durch Verminderung der Mikrozirkulation herabgesetzt. Injektionsareale, die Lipodystrophien aufweisen, sind daher für die Insulinapplikation ungeeignet. Die Absorptionsgeschwindigkeit wird bei Erwärmen der Injektionsstelle durch Verbesserung der Durchblutung beschleunigt. Das ist z. B. bei Reisen in den Süden zu beachten. Aber auch ein heißes Bad oder eine Wärmflasche auf der Injektionsstelle beschleunigen die Absorption. Intensive Sonneneinstrahlung kann z. B. bei Kindern, die am Strand spielen, die Insulinabsorption so sehr beschleunigen, dass eine Hypoglykämie auftritt. Muskelarbeit führt zur Mehrdurchblutung der Injektionsstelle und damit ebenfalls zu einer Beschleunigung der Insulinabsorption. Bei Kleinkindern und schlanken Schulkindern ist das subkutane Fettgewebe oft dünner als 8 mm. Die Injektionskanülen der Spritzen und Pens sind manchmal länger. Daher besteht die Möglichkeit der intramuskulären Injektion, die bei sehr dünnen Kanülen nicht schmerzhaft sein muss. Wegen der im Vergleich zur Subkutis deutlich vermehrten Blutversorgung der Muskulatur ist die Resorptionsgeschwindigkeit bei intramuskulär appliziertem Insulin erheblich größer als bei subkutan injiziertem Insulin. Ausgeprägte Blutglukoseschwankungen mit Hypoglykämien können auftreten. 7.6.3
Assoziationszustand der Insulinmoleküle (Mono-, Di- und Hexamere)
12 13 14 15 16 17
! Der Assoziationszustand des Insulins beeinflusst die Absorptionsrate im subkutanen Fettgewebe. Da nur Mono- und Dimere, nicht jedoch Hexamere durch die Kapillarmembran diffundieren können, hängt die Absorption davon ab, in welchem Mengenverhältnis die Insulinmoleküle in der Präparation als Monomere, Dimere oder Hexamere vorliegen.
Die Kapillaren der Subkutis weisen eine Schicht aus Endothelzellen auf, die einer Basalmembran anliegt. Der Kapillarraum ist mit dem Interstitium über zahlreiche Endothelkanäle mit einem Radius von 4,0–4,5 nm verbunden. Durch diese transmuralen Poren kann Insulin nur diffundieren, wenn es in monomerer oder dimerer Form vorliegt. Die Diffusion ist deutlich behindert, wenn die Insulinmoleküle zu Hexameren assoziiert sind. Nach Injektion des Insulinpräparats werden die Hexamere durch Diffusion zu den Kapillaren transportiert. Durch Entzug von Zinkionen dissoziieren
7.6 · Absorption des injizierten Insulins
135
7
sie zu Dimeren und Monomeren. Dabei spielt die Verdünnung des durch die Injektion gesetzten Insulindepots eine wichtige Rolle. In kommerziellen Insulinmischungen liegt Insulin in einem Gemisch aus Monomeren, Dimeren und Hexameren vor. In zinkhaltigen Mischungen beträgt der Anteil an Hexameren mehr als 75%. Das Verhältnis der Assoziationsformen zueinander ändert sich in Abhängigkeit von der Insulinkonzentration, des pH-Wertes, der Zinkionenkonzentration und den Salzbeimischungen (NaCl). Bei niedrigen Insulinkonzentrationen in neutralen Lösungen liegt Insulin weitgehend als Monomer vor, bei höheren Konzentrationen und in Anwesenheit von Zinkionen überwiegen die Hexamere. In . Abb. 7.1 ist dargestellt, wie durch Verminderung der molaren Konzentration von Insulin im Interstitium die zunächst als Hexamere vorliegenden Insulinmoleküle über Dimere in Monomere dissoziieren, sodass sie zunehmend durch die Poren der Kapillarwände in den intravasalen Raum eintreten können. Durch Behinderung bzw. Verstärkung der Assoziation der Insulinmoleküle zu Di- und Hexameren kann die Resorption beschleunigt bzw. verlangsamt werden. Die intermolekularen Bindungskräfte können dadurch verändert werden, dass eine oder mehrere der für die Assoziation der Insulinmoleküle verantwort-
. Abb. 7.1 Schematische Darstellung der Absorptionsvorgänge nach Injektion von Normalinsulin in die Subkutis. Die Insulinmoleküle liegen in U40- und U100-Insulinpräparationen vorwiegend als Hexamere vor, die durch Verdünnung in Dimere und Monomere zerfallen. Sie können umso besser durch die Poren der Kapillarmembran hindurchtreten, je geringer ihre räumliche Ausdehnung ist. (Nach Brange et al. 1990)
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Kapitel 7 · Insulintherapie
lichen Aminosäuren der B-Kette ausgetauscht bzw. angehängt oder ihre Sequenz verändert werden. Nach diesem Prinzip wurden die rasch oder lang wirkenden Insulin-Analoga entwickelt. Im Hinblick auf die Insulinwirkung ist es wichtig, dass die Modifikationen der Aminosäurefrequenz der B-Kette weit entfernt von den Bereichen des Insulinmoleküls liegen, die an der Insulinrezeptorbindung beteiligt sind. Bei den Verzögerungsinsulinen wird die Absorption durch den Zusatz von Verzögerungssubstanzen beeinflusst. Die physikochemischen Grundlagen der Absorptionsvorgänge von Verzögerungsinsulinen konnten bisher nicht aufgeklärt werden.
5 7.7
Typisierung der Insulinpräparate
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)) Nach ihrem Wirkungsprofil werden grundsätzlich zwei Gruppen von Insulinpräparaten unterschieden: 5 Normalinsuline mit schnellem Wirkungseintritt und kurzer Wirkungsdauer und 5 Verzögerungsinsuline mit langsamem Wirkungseintritt und langer Wirkungsdauer. Als dritte Gruppe kommen konstante Mischungen aus Normal- und Verzögerungsinsulin hinzu, die Kombinationsinsuline. Seit einigen Jahren ist eine vierte Gruppe von Insulinpräparaten therapeutisch verfügbar, die Insulin-Analoga. Dabei handelt es sich um modifizierte Insuline, die einerseits raschere, andererseits langsamere Absorptionsraten als die konventionellen Normal- und Verzögerungsinsuline aufweisen.
Der wichtigste pharmakodynamische Effekt des subkutan injizierten Insulins ist seine blutglukosesenkende Wirkung. Das Wirkungsprofil der verschiedenen Insulinpräparationen wird daher mit Hilfe der euglykämischen Glukose-ClampTechnik bestimmt. Nach subkutaner Injektion von Insulin wird bei kontinuierlicher Blutglukosemessung die Flussrate der Glukoseinfusion ermittelt, die notwendig ist, um die Abweichungen von einem definierten Blutglukosewert (z. B. 4,5 mmol/l) möglichst gering zu halten. Die über den Zeitraum der Insulinwirkung infundierte notwendige Glukosemenge gibt das Wirkungsprofil der getesteten Insulinpräparation wieder. Das während des Glukose-Clamp-Versuchs gleichzeitig gemessene Konzentrationsprofil des Seruminsulins ist zeitlich verschoben, da zwischen dem Plasmaraum und dem Interstitium, das die insulinsensitiven Zellen umgibt, Verzögerungen und Konzentrationsabnahmen auftreten. Ein geringer Teil des subkutan injizierten Insulins wird bereits an der Injektionsstelle enzymatisch degradiert. Der Anteil ist individuell sehr unterschiedlich
7.7 · Typisierung der Insulinpräparate
137
7
und variiert in Abhängigkeit vom Insulinpräparat und Injektionsort. Die lokale Abbaurate kann bis zu 20% der injizierten Insulindosis betragen und ist nicht selten Ursache von Problemen bei der Stoffwechseleinstellung. Zusammenfassung Der Anstieg der Seruminsulinkonzentration hängt in erster Linie von der Absorptionsrate ab, das Absinken dagegen von der Elimination des Insulins, d. h. der vorwiegend in Leber und Niere erfolgenden Insulindegradation. Die Wirkungsdauer injizierten Insulins ist durch eine relativ langsame Resorption bei schneller Elimination gekennzeichnet. Das unterscheidet Insulin von vielen Medikamenten, die meist schnell resorbiert, aber langsam eliminiert werden.
7.7.1
Normalinsulin
Der Wirkungsablauf der verschiedenen Normalinsuline unterscheidet sich kaum voneinander. Der Wirkungseintritt erfolgt etwa 15–30 min nach subkutaner Injektion. Das Wirkungsmaximum tritt nach 120–150 min auf. Die Wirkungsdauer beträgt nach Angaben der meisten Firmen 6–8 h. Zur Substitution des physiologischen Insulinbedarfs muss Normalinsulin daher mindestens 4mal pro Tag injiziert werden. Das Maximum der Wirkung weist in Abhängigkeit von der Insulindosis dagegen erhebliche Unterschiede auf. Bei niedrigen Dosen (0,05 I.E./kg KG) liegt es zwischen 1,5 und 3 h, bei mittleren Dosen (0,2 I.E./kg KG) zwischen 2 und 5 h, bei hohen Dosen (0,4 I.E./kg KG) zwischen 2,5 und 7 h. Auch die Wirkungsdauer nimmt mit steigender Insulindosis zu. In . Abb. 7.2 sind die Glukose-
. Abb. 7.2 Glukoseinfusionsraten nach subkutaner Injektion unterschiedlicher Dosierungen von Normalinsulin bei stoffwechselgesunden Probanden. Höhe und Zeitpunkt des Wirkungsmaximums und der Wirkungsdauer variieren in Abhängigkeit von der Insulindosis. (Nach Heinemann u. Woodworth 1998)
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Kapitel 7 · Insulintherapie
infusionsraten nach Injektion unterschiedlicher Normalinsulindosen (0,05 I. E./ kg–0,4 I.E./kg) dargestellt. Normalinsulin ist die einzige Insulinpräparation, die auch i.v. appliziert werden kann. Bei intravenöser Anwendung ist der blutzuckersenkende Effekt bereits 15 min nach Injektion nachweisbar. Die Maximalwirkung ist nach 30 min erreicht, die Wirkungsdauer beträgt etwa 2 h. Normalinsulin kann intravenös verwendet werden. Dies ist der Fall bei Stoffwechselentgleisungen (diabetische Ketoazidose), bei Operationen. Wir verwenden eine intravenöse Normalinsulininfusion während der Initialtherapie nach Typ-1 Diabetes-Manifestation zur Stoffwechselnormalisierung und Bestimmung des Insulinbedarfs. Die subkutane Applikation von Normalinsulin hat seit Einführung der intensivierten Insulintherapie große Bedeutung erlangt. Als Prandialinsulin wird Normalinsulin bei der intensivierten konventionellen Insulintherapie (ICT) mit Spritzen, bei der CSII mit Pumpen subkutan appliziert. Außerdem wird es für die freie Mischung von Normal- und Verzögerungsinsulin unmittelbar vor der Injektion in der Spritze verwendet. Zusammenfassung Der Wirkungsverlauf des subkutan applizierten Normalinsulins unterscheidet sich erheblich von dem des endogen sezernierten Insulins. Die Halbwertszeit des aus den subkutanen Fettdepots absorbierten Insulins ist um etwa das 10fache verlängert. Das Absinken der Seruminsulinkonzentration auf den Basalwert erfordert Stunden. Nach Sistieren der physiologischen Insulinsekretion sinkt die Insulinkonzentration dagegen schon nach wenigen Minuten auf Basalwerte. Für die Prandialinsulinsubstitution bei intensivierter Insulintherapie ist das Wirkungsprofil von Normalinsulin daher nicht besonders gut geeignet. Aus diesem Grunde wurden Insulin-Analoga mit schnellem Wirkungseintritt und kurzer Wirkungsdauer entwickelt.
7.7.2
Verzögerungsinsulin
Um dem Patienten die täglichen schmerzhaften Insulininjektionen zu ersparen, wurden immer wieder Versuche unternommen, oral wirksame Insulinzubereitungen zu entwickeln, d. h. Insulinpräparate in Tabletten- oder Tropfenform. Alle diese Bemühungen mussten scheitern, da Insulin als Protein im Magen durch HCl und im Darm durch Enzyme abgebaut wird, bevor es wirksam werden kann. Dagegen gelang es während der 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts, die Zahl der täglichen Insulininjektionen durch die Herstellung von Verzögerungsinsulinen, die auch als Intermediär- oder Depotinsuline bezeichnet wurden, zu
7.7 · Typisierung der Insulinpräparate
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7
verringern. Depotstoffe wurden entwickelt, mit deren Hilfe die Absorption von subkutan injiziertem Insulin verzögert werden konnte. In den Verzögerungsinsulinpräparaten liegt das Insulin in präzipitierter Form, d. h. als Suspension, vor. Es muss daher vor Gebrauch sorgfältig durchmischt werden. ! Verzögerungsinsuline werden heutzutage eingesetzt, um den Basisinsulinbedarf des Körpers abzudecken (7 Kap. 10).
NPH-Insulin ! Das NPH-Insulin ist heute das wichtigste und am häufigsten verwendete Verzögerungsinsulin.
Der Wirkungseintritt der NPH-Insuline wird mit 1–1,5 h, das Wirkungsmaximum mit 4–5 h, die Wirkungsdauer mit 16–22 h angegeben. Wie beim Normalinsulin verschieben sich Wirkungsmaximum und Wirkungsdauer mit zunehmender Insulindosis. NPH-Insulin kann mit Normalinsulin in jedem Verhältnis stabil gemischt werden. Daher wird eine reiche Palette von Insulinpräparationen angeboten, die NPH- und Normalinsulin in konstanten Mischungen enthalten. Weit verbreitet ist die freie Mischung von NPH- und Normalinsulin in der Spritze unmittelbar vor der Injektion. Die NPH-Insuline haben sich auch als Basalinsulin für die intensivierte Insulintherapie bewährt. Wegen ihrer breiten Anwendungsmöglichkeit werden NPH-Insuline daher heute von allen insulinherstellenden Firmen angeboten. 7.7.3
Kombinations- bzw. Mischinsulin
! Kombinations- bzw. Mischinsuline sind konstante Mischungen aus Normal- und Verzögerungsinsulin.
Heute werden von den Firmen präformierte Mischinsuline vertrieben, die aus Mischungen von Normal- und NPH-Insulin in verschiedenen Verhältnissen bestehen (. Tabelle 7.1). Außerdem gibt es inzwischen auch Kombinationsinsuline aus NPH- und schnell wirkenden Insulin-Analoga. Bei der Behandlung des Typ-1-Diabetes von Kindern und Jugendlichen finden die Kombinationsinsuline kaum noch Anwendung. Auch bei einer konventionellen Therapie mit 2 Insulininjektionen pro Tag werden fast ausschließlich freie Mischungen von Normal- und NPH-Insulin verwendet.
140
2 2 3 4
Kapitel 7 · Insulintherapie
Zusammenfassung Das subkutan injizierte Normalinsulin weist einen zu langsamen Wirkungseintritt und eine zu lange Wirkungsdauer auf. Das als Verzögerungsinsulin verwendete NPH-Insulin zeigt ein sehr ausgeprägtes Wirkungsmaximum noch nach 6 h, besitzt aber eine zu kurze blutglukosesenkende Wirkung, wenn es nur einmal täglich injiziert wird. Daher wurden in den letzten Jahren Insulinpräparationen mit schnellerem Wirkungsbeginn und kürzerer Wirkungsdauer für die Prandialinsulinsubstitution sowie Verzögerungsinsuline mit konstant langer Wirkungsdauer für die Basalinsulinsubstitution entwickelt, d. h. die Insulin-Analoga mit raschem Wirkungseintritt und die mit langer Wirkungsdauer.
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7.7.4
Insulin-Analoga
! Die Absorption des subkutan injizierten Insulins wird u. a. durch die Selbstassoziation der Insulinmoleküle von Monomeren zu Dimeren und Hexameren beeinflusst. Mono- und Dimere durchdringen die Kapillarmembran, während der Durchtritt der Hexamere behindert ist. Durch Modifikationen der Aminosäuresequenz des Insulins kann die Bindungsfestigkeit der Moleküle untereinander sowohl vermindert wie verstärkt werden. Nach diesem Prinzip wurden Insulin-Analoga mit beschleunigter und verlangsamter Absorption entwickelt. Bei den Insulin-Analoga mit raschem Wirkungseintritt (Lispro, Aspart und Glulisine) ist die Selbstassoziation behindert, sodass das Insulin vorwiegend als Mono- und Dimer vorliegt und daher schnell absorbiert wird. Bei dem Insulin-Analogon Glargin mit langer Wirkungsdauer ist der Zusammenhalt der Moleküle als Hexamere verstärkt, sodass die Absorption verzögert ist. Bei dem mittellangwirkenden Insulin-Analogon Detemir wird die Verzögerungswirkung durch eine Assoziation des Insulinmoleküls an Serumalbumin erzielt.
Insulin-Analoga mit schnellem Wirkungseintritt ! Eine raschere Absorption des Insulins kann erreicht werden, wenn die
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Selbstassoziation der Insulinmoleküle zu Hexameren vermindert wird und die Moleküle im subkutanen Fettgewebe vorwiegend als Mono- oder Dimere vorliegen. Drei rasch wirkende Insulin-Analoga stehen heute zur Verfügung: seit 1996 das Lispro (Humalog) der Fa. Lilly, seit 2000 das Aspart (NovoRapid) der Fa. NovoNordisk und seit 2004 das Glulisine (Apidra) der Fa. Sanofi-Aventis.
Die intermolekularen Bindungskräfte, die zur Selbstassoziation der Insulinmonomere zu Dimeren und Hexameren führen, können verringert werden, wenn
7.7 · Typisierung der Insulinpräparate
141
7
einzelne Aminosäuren ausgetauscht werden oder deren Reihenfolge verändert wird. Es handelt sich dabei v. a. um Aminosäuren der B-Kette. Mit Hilfe gentechnologischer Methoden wurde eine ganze Reihe von Insulin-Analoga mit unterschiedlicher Aminosäuresequenz hergestellt. Mehrere der zunächst in Tierversuchen getesteten Insulin-Analoga zeigten nicht nur eine deutliche Verminderung der Selbstassoziation zu Hexameren in den pharmakologischen Insulinzubereitungen, sondern auch einen beschleunigten Zerfall der Hexamere nach Injektion ins subkutane Fettgewebe. Da diese Insulin-Analoga fast ausschließlich als Monomer und Dimer vorlagen, war die Absorption aus dem subkutanen Fettgewebe um das 2- bis 3fache gegenüber humanem Normalinsulin beschleunigt. Zusammenfassung Wegen ihres schnellen Wirkungseintritts haben die rasch wirkenden Insulin-Analoga nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes heute eine weite Verbreitung gefunden. Bei der intensivierten Insulintherapie werden sie als Prandialinsulin sowohl mit Injektionsspritzen wie mit Insulinpumpen appliziert.
Insulin-Analoga mit langer Wirkungsdauer ! Zur Verbesserung der Basalinsulinsubstitution bei der intensivierten Insulintherapie wurde ein Insulin-Analogon mit einem flachen, gleichmäßigen und langdauernden Wirkungsprofil entwickelt, das Insulin Glargin der Fa. SanofiAventis. Nach klinischer Prüfung und Zulassung ist es seit 2001 als Lantus auf dem Markt. Ein zweites Insulin-Analogon mit mittellanger Wirkungsdauer wurde von der Fa. Novo-Nordisk entwickelt. Die Zulassung des Insulin-Analogons Detemir erfolgte 2004 unter dem Namen Levemir.
Durch Verschiebung des isoelektrischen Punktes, d. h. des pH-Wertes, bei dem das Insulin am wenigsten löslich ist, von 5,4 zum neutralen pH-Wert, können die pharmakokinetischen Eigenschaften der Insulin-Analoga dahingehend modifiziert werden, dass sie langsamere Absorptionsraten aufweisen als Humaninsulin. Die Fa. Sanofi-Aventis entwickelte ein solches, als klar gelöste Insulinzubereitung vorliegendes Insulin-Analogon, das Diarginin(B31, B32)-Insulin Glargin. Durch Austausch von Asparagin in Position 21 der A-Kette gegen Glycin wurden die Bindungskräfte der Insulinmoleküle innerhalb der Hexamere noch verstärkt. Dadurch konnte die Absorption noch mehr verzögert und der DepotEffekt potenziert werden.
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Kapitel 7 · Insulintherapie
Das Glycin(A21)-Diarginin (B31, B32)-Insulin wurde als Glargin klinisch geprüft und befindet sich seit 2001 als Lantus im Handel. Glargin weist in den Glukose-Clamp-Versuchen nach einmaliger Injektion ein gleichmäßigeres und längeres Wirkungsprofil auf als das NPH-Insulin. Damit deckt es den Basalinsulinbedarf bis zu 24 h ab und somit länger als andere Verzögerungsinsuline. Einen anderen Weg bei der Entwicklung eines Insulin-Analogons mit längerer Wirkungsdauer beschritt die Fa. Novo-Nordisk. Beim Detemir wurde eine Fettsäure an das Ende der B-Kette (Position 28) angekoppelt. Der Verzögerungseffekt entsteht dadurch, dass das lösliche Insulin-Analogon nach relativ schneller Absorption im Blut über die Fettsäure an Albumin gebunden wird. Erst nach verzögerter Freisetzung aus der Albuminbindung kann das Analogon über den Insulinrezeptor wirken. Damit ist man mit diesem Verzögerungsprinzip erstmals unabhängig von der Absorption aus der Subkutis. Nach klinischer Prüfung wurde das Detemir 2004 ab 6 Jahren zugelassen. Insulin Detemir hat eine geringere interindividuelle Varianz als NPH-Insulin und kann altersunabhängig bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen nach ähnlichen Titrationsregeln dosiert werden. Bei der Umstellung muss ein individuell sehr unterschiedliches Ansprechen berücksichtigt werden. Nach unserer Erfahrung werden sowohl eine dosisgleiche Umstellung aber auch eine Verdopplung der Einheiten gegenüber der vorhergehenden Basalinsulindosis bei Kindern und Jugendlichen beobachtet. Die beiden Insulin-Analoga mit mittellanger und langer Wirkungsdauer werden bei Patienten mit Typ-1-Diabetes in erster Linie als Basalinsulin bei intensivierter Insulintherapie eingesetzt. Sicherheit der Insulin-Analoga Weil es sich bei den Insulin-Analoga gegenüber dem Humaninsulin um veränderte Moleküle handelt, sind insbesondere auch in der Laienpresse Sicherheitsbedenken gegen diese »Kunstinsuline« vorgebracht worden. Dabei muss auch berücksichtigt werden, dass die erste Entwicklung eines schnellwirksamen Insulin-Analogons, das Insulin AspB10, Tumoren in Tierstudien bewirkte. Neben seiner schnelleren Wirkung zeigte AspB10 eine verstärkte Affinität zum IGF-1- und Insulinrezeptor. Für viel Aufregung hatte dann eine Publikation gesorgt, die darüber berichtete, dass Insulin Glargin über eine 7,8fach höhere mitogene Potenz gegenüber Normalinsulin verfügt. Während Insulin Lispro ebenfalls eine etwas höhere mitogene Potenz in diesen Studien aufwies, war dies bei Insulin Aspart und Detemir nicht der Fall. Die erhöhte Mitogenität wurde über die höhere Bindungsaffinität von Glargin und Lispro am IGF-1-Rezeptor (IGF = »insulin-like growth factor«) erklärt. Allerdings ist das Modell, bei dem die mitogene Potenz geprüft wurde, eine humane Osteosarkom-Zelllinie mit sehr vielen IGF-1- und wenigen Insulinrezeptoren. Die Beobachtung konnte in anderen experimentellen Modellen nicht reproduziert werden. Darüber hin-
7.7 · Typisierung der Insulinpräparate
143
7
aus ist es inzwischen klar, dass die erhöhte Kanzerogenität von Insulin AspB10 durch eine deutlich verlängerte Bindungszeit am Insulinrezeptor und nicht durch eine höhere Affinität zum IGF-1-Rezeptor bedingt ist. Durch diese verlängerte Bindungszeit kommt es zu einer Anregung mitogener Signalwege durch den Insulinrezeptor, was unter normalen Bedingungen nicht beobachtet wird. Außerdem würde eine 1.000fach über der physiologischen liegende Insulinkonzentration erforderlich sein, um eine 50%-Rezeptorbindung am IGF-1-Rezeptor zu erreichen. Die Beobachtung einer erhöhten Retinopathie-Häufigkeit in einer Untergruppe der Glargin-Zulassungstudien bei Patienten mit Typ-2-Diabetes hat sich ebenfalls als statistisch unbegründet erwiesen, die Herstellerfirma aber zu weiteren umfangreichen Beobachtungen veranlasst, die bislang keine Bedenken ergaben. Sicher kann man einwenden, dass derzeit noch keine »Langzeiterfahrungen« vorliegen. Insgesamt gibt es aber gegenwärtig keine wissenschaftlich begründbaren Zweifel an der Sicherheit der im Handel befindlichen Insulin-Analoga für ihre Anwendung in der Pädiatrie. Eine ganz andere Frage ist, ob es gerechtfertigt ist, dass die Insulin-Analoga nach wie vor sehr viel teurer als die konventionellen Humaminsuline sind. Inhalatives Insulin Im Januar 2006 wurde von der EMEA und der FDA, der Europäischen und der Amerikanischen Zulassungsbehörde, das inhalative Insulin Exubera zugelassen. Seit Mai 2006 ist es in Deutschland in den Apotheken erhältlich. Exubera wurde von der Firmenkooperation Pfizer/Sanofi-Aventis/Nektar entwickelt. Die Zulassung betrifft Patienten mit Typ-1- und Typ-2-Diabetes ab dem 18. Lebensjahr; Raucher und Patienten mit bestehenden Lungenerkrankungen wie z.B. Asthma oder chronisch-obstruktiver Lungenerkrankung sind von der Zulassung ausgeschlossen. Mit der Zulassung der ersten, nadelfreien Insulin-Applikationsform erfüllte sich ein alter Wunschtraum. Das jetzt verfügbare inhalative Insulinpräparat Exubera erzielt – bei 10fach höherer Dosierung – eine in etwa gleich gute Stoffwechseleinstellung wie die herkömmliche subkutane Injektion. Lungenfunktionsparameter, bisher geprüft über einige Jahre, nehmen im Vergleich zur Kontrollgruppe nicht bzw. nur insignifikant ab. Die Veränderungen waren reversibel. Insulinantikörper steigen im Vergleich zu subkutaner Insulingabe stärker an, soweit bekannt ohne klinische Auswirkungen. Für Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes sind noch weitere Studien erforderlich. Offene Fragen betreffen hauptsächlich die langfristige Wirkung auf die Lungenfunktion beim wachsenden Organismus und die immunologischen Aspekte der Antikörperbildung. Von einem Einsatz des inhalativen Insulins bei pädiatrischen Patienten außerhalb dieser Studien raten wir gegenwärtig ab.
144
2 2 3
7.8
Kapitel 7 · Insulintherapie
Mischbarkeit von Insulinpräparaten
Für die Insulinsubstitution bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes hat sich die freie Mischung von Normal- und Verzögerungsinsulin in der Spritze unmittelbar vor der Injektion vielfach bewährt. Kombinationsinsuline werden kaum noch verwendet. Folgende chemisch-galenische Voraussetzungen müssen an die Mischbarkeit von Normal- und Verzögerungsinsulin gestellt werden:
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Chemisch-galenische Voraussetzungen für die Mischbarkeit von Normalund Verzögerungsinsulin 5 Die Normal- und Verzögerungsinsuline sollten vom gleichen Hersteller stammen. 5 Die Insuline sollten speziesidentisch sein (Humaninsulin bzw. Insulin vom Schwein). 5 Selbsthergestellte Insulinmischungen sollten stabil sein. Der Depotstoff sollte nicht im Überschuss vorhanden sein, da er Normalinsulin binden kann; damit würde der Verzögerungsinsulineffekt unberechenbar verstärkt werden. Die Bindung an den Depotstoff sollte stabil sein, da sonst Insulin freigesetzt und der Normalinsulineffekt der Mischung unberechenbar verstärkt wird. 5 Die Konservierungsstoffe (Kresol, Phenol, Methylparaben) sollten in Verzögerungs- und Normalinsulin identisch sein. 5 Der pH-Wert sollte gleich sein.
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Die in der Übersicht genannten Voraussetzungen werden von Mischungen aus Normal- und NPH-Insulin derselben Spezies und derselben Firma erfüllt. In jedem Mischungsverhältnis bleiben die Wirkungscharakteristika der beiden Insulinpräparationen zeitlich unverändert erhalten. Die Insulin-Analoga mit raschem Wirkungseintritt (NovoRapid, Humalog und Apidra) dürfen mit NPH-haltigen Insulinen nur direkt vor der Injektion gemischt werden. Die langwirkenden Insulinanaloga (Lantus, Levemir) dürfen nicht mit Normalinsulin oder schnellwirkendem Analogon gemischt werden.
16
7.9
Tabellarische Zusammenstellung der Insulinpräparate
17
Die für die Therapie von Kindern und Jugendlichen wichtigsten Präparategruppen sind die Normalinsuline und die NPH-Insuline sowie die zugelassenen Insulin-Analoga (Humalog, NovoRapid, Apidra, Lantus und Levemir). Es sollten daher ausschließlich Humaninsuline bzw. Insulin-Analoga bei Kindern und
7.9 · Tabellarische Zusammenstellung der Insulinpräparate
145
7
Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes Verwendung finden. Die Humaninsuline der Lente-Gruppe (Monotard HM und Ultratard HM) werden selten eingesetzt. Die in . Tabelle 7.1 mitgeteilten Angaben über den Wirkungseintritt und die Wirkungsdauer der Insulinpräparate sind an die Angaben der Hersteller adaptiert. Sie bieten allerdings nur einen gewissen Anhalt zum Vergleich der einzelnen Insulinzubereitungen. Wirkungseintritt und Wirkungsdauer sind in Abhängigkeit von der Menge des injizierten Insulins, der aktuellen Blutglukosekonzentration, dem Spritz-Ess-Abstand und dem Injektionsort intra- und interindividuellen Schwankungen unterworfen.
. Tabelle 7.1 Insulintabelle der aktuellen Insulinpräparate
A
Charakterisierung (unverzögerter Anteil in %)
W (min/ h)
SanofiAventis Pfizer
Sehr kurz wirkend
10/5
Exubera
Sehr kurz wirkend
10/4
Apidra d (U100)
Protamin(50)
15/15
Misch(30)
20/17
Analoga (25)
20/18
BasalAnaloga
60/24
90/20
Lilly
Novo Nordisk
Humalog (U100) a
NovoRapid (U100) b
Humalog Mix 50 (U100) a
B. Braun Melsungen & ratiopharm
BerlinChemie
Liprolog (U100)
Liprolog Mix 50 (U100)
NovoMix 30 (U100) b Humalog Mix 25 (U100) a
Liprolog Mix 25 (U100)
Lantus c (U100) Levemir e (U100)
146
2
. Tabelle 7.1 (Fortsetzung)
2 3 4 5 6 7 8 9
Kapitel 7 · Insulintherapie
H
Charakterisierung (unverzögerter Anteil in %)
W (min/ h)
SanofiAventis Pfizer
Lilly
Novo Nordisk
B. Braun Melsungen & ratiopharm
BerlinChemie
Normalinsuline kurz wirkend
20/8
Insuman Rapid, Insuman Infusat (U100)
Huminsulin Normal
Actrapid Velosulin (U100)
B. Braun ratiopharm Rapid
Berlinsulin H Normal (U100)
NPH- (50)
30/14
Insuman Comb 50
MischInsuline (40)
35/17
(30)
35/19
B. Braun ratiopharm Comb 30/70
Berlinsulin H 30/70 (U100)
(25)
35/17
(20)
45/21
(15)
45/18
(10)
45/23
NPH-Insuline
45/20
Actraphane 50 (U100) Actraphane 40 (U100) Huminsulin Profil III
Actraphane 30 (U100)
Huminsulin Profil II (U100)
Actraphane 20 (U100)
10 11
Insuman Comb 25
12 13
Berlinsulin H 20/80 (U100)
14 15
Insuman Comb 15 Actraphane 10 (U100)
16 17
Insuman Basal
Huminsulin Basal
Protaphane
B. Braun ratiopharm Basal
Berlinsulin H Basal (U100)
A Insulin-Analoga, H Humaninsulin, S Schweineinsulin, Z Zink-verzögertes Insulin. a Lispro Humalog, b Aspart NovoRapid, c Glargin Lantus, d Glulisine Apidra, e Detemir Levemir.
Literatur
147
7
Zusammenfassung Zum augenblicklichen Zeitpunkt sind in Deutschland noch U40- und U100-Insuline für die Applikation mit Spritzen, Pens, Insulinfertigspritzen und Pumpen im Handel. In absehbarer Zeit wird bei uns – wie in fast allen Ländern der Erde – nur noch U100-Insulin verfügbar sein. Trotz der Entwicklung neuer Insulin-Analoga wird sich die Zahl verschiedener Insulinpräparate weiter vermindern. Neben den konventionellen Humaninsulinpräparaten, insbesondere Normal- und NPHInsulin, kommen in zunehmendem Maße die rasch und verzögert wirkenden Insulin-Analoga zur Anwendung.
Literatur Brange J, Owens DR, Kang S, Solund A (1990) Monomeric insulins and their experimental and clinical implications. Diabetes Care 13: 923–954 Heinemann L, Woodworth JR (1998) Insulin Lispor, chap III: Pharmacokinetics and metabolism of Insulin Lispro. Drugs of Today 34(Suppl C): 23–36 Heinemann L, Breuer J, Cebulla D, Wüssel B, Bender R, Heise T (1996) Wirkprofil von Normalinsulin, 25/75-Mischinsulin und NPH-Insulin, hergestellt aus gentechnologischem oder semisynthetischem Humaninsulin. Diabetes und Stoffwechsel 5: 157–163 Kriegstein E von (200) Insulin-Tabelle I/2006. Diabetologie und Stoffwechsel 2: 73-138
149
8
Ernährung Bei der Ernährung von Kindern und Jugendlichen mit Diabetes muss v. a. darauf geachtet werden, dass sie sich in Art, Zusammensetzung und Menge nicht von der stoffwechselgesunder Gleichaltriger unterscheidet. Kinder und Jugendliche mit Diabetes und ihre Eltern müssen allerdings auch in der Lage sein, vor jeder Mahlzeit den Kohlenhydratgehalt und die Blutglukosewirksamkeit der Nahrungsmittel abzuschätzen, um die Insulindosis sachgerecht an die geplante Nahrungszufuhr anzupassen. Ohne Abschätzung insbesondere des Kohlenhydratgehalts der Nahrungsmittel sind auch die intensivierten Formen der Insulinbehandlung nicht erfolgreich umzusetzen. Damit bleibt die Ernährungsbehandlung – das muss immer wieder betont werden – das wichtigste Adjuvans jeder Form der Insulintherapie. 8.1
Berechnung der Grundnährstoffe (Kohlenhydrate, Fett, Eiweiß)
)) Der tägliche Bedarf an Kohlenhydraten, Fett und Eiweiß ist unterschiedlich groß. Er richtet sich nach Alter, Geschlecht, Größe, Gewicht, Arbeitsleistung und besonderen Lebensbedingungen wie z. B. Klima und Jahreszeit. Der Nährstoffgehalt der zahlreichen verfügbaren Nahrungsmittel ist ebenfalls unterschiedlich groß. Um den unterschiedlichen Nährstoffbedarf des Menschen mit Nahrungsmitteln unterschiedlichen Nährstoffgehaltes decken zu können, sind einheitliche Berechnungsgrundlagen notwendig. Der Nährstoffbedarf des Menschen wird meist in Gramm (g)/Tag angegeben, der Nährstoffgehalt der Nahrungsmittel in g/100 g Lebensmittel.
Da die 3 Grundnährstoffe Kohlenhydrate, Fett und Eiweiß Energie enthalten, die im Körper durch die Stoffwechselprozesse freigesetzt und verwertet wird, hat man sich geeinigt, sowohl den Nährstoffbedarf des Menschen als auch den Nährstoffgehalt der Nahrungsmittel mit Hilfe einer einheitlichen Maßeinheit für die Energie zu berechnen. Bei der vollständigen Verbrennung von Kohlenhydraten, Fett und Eiweiß in einer Kalorimeterbombe wird die in ihnen gebundene Energie frei und als Wärme abgegeben. Die Wärme kann daher als Maß für die in den Nährstoffen gebundene physikalische Energie gemessen und berechnet werden. Als Maß-
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Kapitel 8 · Ernährung
einheit für die Wärmeenergie dient die Kalorie (kcal), die in folgender Weise definiert wird: ! 1 kcal ist die Energie- bzw. Wärmemenge, die notwendig ist, um 1 l Wasser von 14,5 auf 15,5°C, also um 1°C, zu erwärmen.
Bei der Verbrennung von 5 1 g Kohlenhydrat werden 4,1 kcal, bei 5 1 g Fett 9,3 kcal und bei 5 1 g Eiweiß 5,4 kcal freigesetzt. Bei der vollständigen Verbrennung von Kohlenhydraten und Fetten im Körper stimmt die physiologische Verbrennungsenergie mit den physikalischen Brennwerten überein. Bei der Verbrennung von Eiweiß im Körper erfolgt jedoch durch die Umwandlung von Stickstoff zu Harnstoff ein Energieverlust, so dass der physiologische Brennwert von 1 g Eiweiß 4,1 kcal beträgt. Die »Kalorie«, mit der Jahrzehnte lang in der ganzen Welt gerechnet wurde, ist durch eine andere Maßeinheit, das »Joule« (dzu:l) abgelöst worden. Diese Änderung hat zunächst viel Verwirrung gestiftet und die Berechnung der Nahrungsmittel erschwert. Bis zum 31.12.1977 wurde ausschließlich die »Kalorie« auf Lebensmittelpackungen verwendet. Nach diesem Termin erfolgten die Angaben über den Nährstoffgehalt der Nahrungsmittel zunächst in »Joule«. Heute erfolgen die Angaben meist in »Joule« und »Kalorien«, wobei 5 1 kcal 4,185 kJ und 5 1 kJ 0,239 kcal entspricht. Der physiologische Energie- bzw. Wärmegehalt der Grundnährstoffe beträgt daher in Kalorien und Joule angegeben: 1 g Kohlenhydrat = 4,1 kcal = 17 kJ; 1 g Fett = 9,3 kcal = 38 kJ; 1 g Eiweiß = 4,1 kcal = 17 kJ. Der physiologische Gesamtenergiegehalt der Nährstoffe eines Nahrungsmittels ist selbstverständlich nicht identisch mit der Energiemenge, die dem Organismus letztendlich für die Stoffwechselprozesse zur Verfügung steht. Von der mit einem Nahrungsmittel zugeführten Bruttoenergie müssen Energieverluste abgezogen werden, die mit den Faeces, über Harn und Darmgase und durch postprandiale Thermogenese verloren gehen. Das Ausmaß der Umwandlung von Brutto- in Nettoenergie sowie die Verwertung der Nettoenergie für Stoffwechselprozesse weist erhebliche individuelle Unterschiede auf. Hinzu kommt, dass die Messung der Bioverfügbarkeit der einzelnen Nahrungsbestandteile methodisch nicht gesichert ist und daher fast nur Schätzungen vorliegen.
8.2 · Energie- und Nährstoffbedarf
151
8
Die Ausnutzbarkeit der Nahrungsbestandteile wird schließlich auch durch die unterschiedlichen küchentechnischen Verfahren stark variiert. Ein gewisser Fortschritt für die Abschätzung der Bioverfügbarkeit der Nährstoffe war die Abtrennung der »nichtverwertbaren Kohlenhydrate« (Ballaststoffe) von den »verwertbaren Kohlenhydraten« (Einfach-, Zweifachzucker, Stärke). Dabei berücksichtigt diese Differenzierung nicht, dass geringe Anteile der Ballaststoffe ebenfalls energetisch verwertet werden. Die physiologischen Brennwerte der verschiedenen Nahrungsmittel und ihr quantitativer Anteil an Kohlenhydraten (»verwertbare« und »nichtverwertbare«), Fett, Eiweiß, Vitaminen, Mineralstoffen, Spurenelementen und Wasser sind in Nahrungsmitteltabellen (Nährwerttabellen, Lebensmitteltabellen) zusammengestellt. Die handlichste Zusammenstellung ist »Der kleine Souci-Fachmann-Kraut«, eine von der Deutschen Forschungsanstalt für Lebensmittelchemie herausgegebene »Lebensmitteltabelle für die Praxis« (1991). Die in den Nahrungsmitteltabellen angegebenen physiologischen Brennwerte (in kJ bzw. kcal) sagen allerdings wenig über den für die Stoffwechselprozesse verwertbaren Anteil der in den Nahrungsmitteln enthaltenen Nährstoffenergie aus. 8.2
Energie- und Nährstoffbedarf von Kindern und Jugendlichen
)) Der Bedarf an Kalorien, Kohlenhydraten, Fett, Eiweiß, Vitaminen, Mineralsalzen, Spurenelementen und Flüssigkeit ist bei Kindern und Jugendlichen noch größeren individuellen und interindividuellen Schwankungen unterworfen als bei Erwachsenen. Dieser Bedarf ist bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes grundsätzlich nicht anders als bei denen ohne Diabetes. Die wichtigsten Faktoren, die den Bedarf bestimmen, sind das Alter, die Körpergröße, das Körpergewicht und das Geschlecht, aber auch die von Tag zu Tag und Stunde zu Stunde wechselnde Lebensweise mit unterschiedlicher körperlicher, geistiger und seelischer Aktivität.
Der ständige Wechsel des Kalorien- und Nährstoffbedarfs und der damit verbundenen Nahrungszufuhr ist das wichtigste Charakteristikum der Ernährung von Kindern und Jugendlichen. Persönliche Vorlieben für bestimmte Speisen und unterschiedliche Essgewohnheiten in der Familie vergrößern noch die Variabilität der Ernährung. Daher sind Richtwerte, z. B. die der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, nur als Orientierungshilfen für den Kalorien- und Nährstoffbedarf von Kindern und Jugendlichen zu bewerten. Man kann, wie es schon Karl Stolte betonte, davon ausgehen, dass die physiologische Appetitregu-
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2 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Kapitel 8 · Ernährung
lation den Energie- und Nährstoffbedarf eines Kindes oder Jugendlichen sicherstellt, der zur Erhaltung seines Körpergewichts und für ein altersentsprechendes Wachstum und Gedeihen bei guter körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit notwendig ist. Bei Kindern und Jugendlichen sollte allerdings darauf geachtet werden, dass die generelle Energieaufnahme, v. a. aber die Kohlenhydratzufuhr, mit Hilfe der Dosis und des Wirkungsprofils des injizierten Insulins und der körperlichen Aktivität ausbalanciert werden. Nur bei Übergewicht bzw. Adipositas (Body-mass-Index: BMI >p90 bzw. >p97) ist eine Reduzierung der Energie- und Nährstoffzufuhr aus therapeutischen Gründen notwendig (Leitlinien der Deutschen Adipositas-Gesellschaft 2002). 8.2.1
Richtwerte für die Energiezufuhr
! Der Energiebedarf setzt sich aus dem Energieumsatz bei völliger Körperruhe und bei körperlicher Aktivität, dem Bedarf für die postprandiale Thermogenese und das Wachstum zusammen. Richtwerte für die Energiezufuhr werden in kcal bzw. MJ pro Tag oder kcal bzw. kJ pro kg Körpergewicht angegeben. Sie orientieren sich an den ermittelten Durchschnittswerten des Energiebedarfs für verschiedene Altergruppen und sind nur als Orientierungshilfen für normalgewichtige Kinder und Jugendliche anzusehen.
In . Tabelle 8.1 sind die Richtwerte für durchschnittlich aktive Kinder und Jugendliche der Deutschen Gesellschaft für Ernährung wiedergegeben. Bei Übergewicht oder Untergewicht müssen sie entsprechend korrigiert werden. Die älteste und einfachste Orientierungsgröße zur Ermittlung des Kalorienbedarfs von Kindern stammt von Priscilla White und wird nach folgender Formel berechnet: Alter in Jahren × 100+1.000 = Kalorienbedarf (kcal) pro Tag. Erfahrungsgemäß entspricht die durchschnittliche, durch den Appetit geregelte Energieaufnahme der meisten Kinder und Jugendlichen ihrem physiologischen Energiebedarf, v. a. dann, wenn sie normalgewichtig sind. Die Variabilität bei den einzelnen Mahlzeiten ist sehr groß, die Zufuhr gleicht sich jedoch meist durch den Wechsel von energiereichen und energiearmen Mahlzeiten aus.
16 Zusammenfassung 17
Aus psychologischen und physiologischen Gründen ist es wenig sinnvoll, regulierend in die Energie- und Nahrungsaufnahme einzugreifen. Das gilt selbstverständlich nicht nur für stoffwechselgesunde Kinder und Jugendliche, sondern auch für solche mit Typ-1-Diabetes. Allerdings muss bei ihnen die exogene Insulingabe ständig an die wechselnde Nahrungszufuhr angepasst werden.
8
153
8.2 · Energie- und Nährstoffbedarf
. Tabelle 8.1 Richtwerte für die Energiezufuhr bei Säuglingen, Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen (Deutsche Gesellschaft für Ernährung 1992) Alter
[kcal/Tag]
[MJ/Tag]
[kcal/kg]
[kJ/kg]
m
m
m
m
w
w
w
w
Säuglinge 0 bis unter 4 Monate 4 bis unter 12 Monate
550 800
2,3 3,3
112 95
470 400
Kinder 1 bis unter 4 Jahre 4 bis unter 7 Jahre 7 bis unter 10 Jahre
1300 1800 2000
5,4 7,5 8,4
102 90 73
430 380 300
10 bis unter 13 Jahre 13 bis unter 15 Jahre
2250 2500
2150 2300
9,4 10,5
9,0 9,6
Jugendliche und Erwachsene 15 bis unter 19 Jahre 19 bis unter 25 Jahre
3000 2600
2400 2200
12,5 11,0
10,0 9,0
8.2.2
61 53
54 46
260 220
230 190
Richtwerte für die Zufuhr von Kohlenhydraten, Fett und Eiweiß
! Der Kohlenhydrat- und Fettbedarf orientiert sich am Gesamtenergiebedarf. Der prozentuale Anteil der Kohlenhydrate an der Gesamtenergieaufnahme ist weltweit sehr unterschiedlich. In manchen Ländern beträgt er bis 70% der Gesamtenergie. Er liegt in Europa zwischen 45 und 60%.
Unter der Voraussetzung, dass Kohlenhydrate mit niedrigem glykämischen Index und hohem Ballaststoffanteil überwiegen, muss nicht mit nachteiligen Effekten für die Stoffwechseleinstellung gerechnet werden, wenn die Kohlenhydrataufnahme an der oberen Grenze, d. h. bei 60%, liegt. Der für Kinder und Jugendliche mit Diabetes empfohlene prozentuale Anteil der Kohlenhydrate sollte mehr als 50% betragen (ISPAD 2000). Erhebungen haben ergeben, dass der prozentuale Kohlenhydratanteil in der Regel zugunsten des Fettverzehrs deutlich niedriger liegt. Erwachsene sollten täglich mindestens 30 g Ballaststoffe zu sich nehmen. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung hält eine Ballaststoffdichte von mindestens 12,5 g/1.000 kcal für Kinder als wünschenswert und auch realisierbar. Als
154
2 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
Kapitel 8 · Ernährung
vernünftiges Ziel wird bei Kindern ab 2 Jahren eine Ballaststoffaufnahme angenommen, die in Gramm dem Alter des Kindes entspricht plus 5 g pro Tag. Die Fettzufuhr sollte bei Kindern ab 4 Jahren und Jugendlichen 35% der Gesamtenergiezufuhr nicht überschreiten. . Tabelle 8.2 zeigt, dass Säuglinge und Kleinkinder unter 4 Jahren einen höheren Anteil an Nahrungsfett benötigen, um den Gesamtkalorienbedarf zu decken. In Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, dass die Fettzufuhr bei Kindern und Jugendlichen oft 35% überschreitet. Im Hinblick auf die Prävention von kardiovaskulären Erkrankungen ist nicht nur die mit der Nahrung aufgenommene Gesamtfettmenge, sondern auch deren Zusammensetzung von Bedeutung. Ein hohes Risiko für Herz-KreislaufErkrankungen weisen Triglyceride mit gesättigten (tierische Fette) und transungesättigten Fettsäuren (Kekse, Kuchen, Schokolade) auf. Eine Reduzierung des Verzehrs dieser Fettsäuren unter 10% der Gesamtkalorien reduziert das makrovaskuläre Risiko, u. a. durch Verminderung des Serumcholesterinspiegels (LDL-Cholesterin). Mehrfach ungesättigte Fettsäuren pflanzlichen Ursprungs reduzieren dagegen die kardiovaskulären Risiken. Ungesättigte Fettsäuren des Omega-3-Typs (tranhaltiger Fisch) gelten als besonders günstig. Die Zufuhr dieser Fettsäuren kann bis 10% betragen. Als Ersatz für gesättigte Fettsäuren gelten einfach ungesättigte Fettsäuren (Pflanzen- und Nussöle), v. a. die mit cis-Konfiguration. Sie bieten nachweislich Schutz vor makrovaskulären Erkrankungen. Daher sollte ihr Anteil an der Gesamtkalorienzufuhr deutlich mehr als 10% betragen. Erhöhte LDL- und erniedrigte HDL-Cholesterinwerte gelten ebenfalls als kardiovaskuläres Risiko. Daher sollten Erwachsene nicht mehr als 300 mg Cholesterin pro Tag zu sich nehmen. Dieser Richtwert wird bei einer Fettzufuhr unter 35% der Gesamtkalorien in der Regel nicht überschritten. Das National Cholesterol Education Program gibt für Kinder und Jugendliche einen Richtwert von 100 mg täglich an. Die Ermittlung des Proteinbedarfs muss den altersabhängigen Erhaltungsbedarf, die altersabhängigen Zuschläge für das Wachstum, den Grad der Ausnutzung und die individuelle Variabilität berücksichtigen. Daraus hat die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (1992) die in . Tabelle 8.3 zusammengestellten Empfehlungen abgeleitet. Sie liegen bei Kindern und Jugendlichen in Abhängigkeit vom Alter und Geschlecht zwischen 1,2 und 0,8 g pro kg Körpergewicht und Tag. Das entspricht etwa 10–15% der zugeführten Gesamtenergie.
8
155
8.2 · Energie- und Nährstoffbedarf
. Tabelle 8.2 Richtwerte für die Zufuhr von Fett bei Säuglingen, Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen (Deutsche Gesellschaft für Ernährung) Alter
Fett [%] der Energie
Säuglinge 0 bis unter 4 Monate 4 bis unter 12 Monate
45–50 40–45
Kinder 1 bis unter 4 Jahre 4 bis unter 7 Jahre 7 bis unter 10 Jahre 10 bis unter 13 Jahre 13 bis unter 15 Jahre
35–40 30–35 30–35 30–35 30–35
Jugendliche und Erwachsene 15 bis unter 19 Jahre 19 bis unter 25 Jahre
30–35 25–30
. Tabelle 8.3 Richtwerte für die Zufuhr von Proteinen bei Säuglingen, Kindern und Jugendlichen (Deutsche Gesellschaft für Ernährung) Alter
Empfohlene Zufuhr
Alter
Empfohlene Zufuhr
[Monate]
[g/kg KG/Tag]
[g/Tag]
[Jahre]
[g/kg KG/Tag]
[g/Tag]
1
2,2
11
1
1,2
16
2
2,2
11
2
1,2
16
3
2,2
11
3
1,2
16
4
1,6
13
4
1,1
21
5
1,6
13
5
1,1
21
6
1,6
13
6
1,1
21
7
1,6
13
7
1,0
27
8
1,6
13
8
1,0
27
9
1,0
27
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13
10
1,6
13
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13
12
1,6
13
156
2 2 3 4 5 6 7 8
Kapitel 8 · Ernährung
. Tabelle 8.3 (Fortsetzung) Alter
Empfohlene Zufuhr
[Jahre]
[g/kg KG/Tag]
[g/Tag]
m
w
m
w
10
1,0
1,0
38
39
11
1,0
1,0
38
39
12
1,0
1,0
38
39
13
1,0
1,0
51
50
14
1,0
1,0
51
50
15
0,9
0,8
60
47
16
0,9
0,8
60
47
17
0,9
0,8
60
47
18
0,9
0,8
60
47
9 10 11 12 13 14 15
Verteilung der Grundnährstoffe auf die tägliche Gesamtenergiezufuhr bei Kindern und Jugendlichen 5 Kohlenhydrate >50%: – komplexe, nichtraffinierte, ballaststoffreiche Kohlenhydrate sollten bevorzugt werden, – mäßige Aufnahme von Saccharose. 5 Fett 30–35%: – weniger als 10% gesättigte Fettsäuren, – weniger als 10% mehrfach ungesättigte Fettsäuren, – mehr als 10% einfach ungesättigte Fettsäuren. 5 Eiweiß 10–15%: – mit zunehmendem Alter weniger.
16
8.2.3 17
Richtwerte für die Zufuhr von Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen
! Mit einer Mischkost, die die Richtwerte für den täglichen Bedarf an Kohlenhydraten, Fett und Eiweiß berücksichtigt, nehmen Kinder und Jugendliche in der Regel eine ausreichende Menge an Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen zu sich.
8.3 · Ratschläge für die Ernährung
157
8
Bei Einbeziehung vitaminreicher Nahrungsmittel (Obst, Gemüse, Pflanzenöle, Nüsse, Fisch, Fleisch, Eier usw.) in den Speiseplan wird der Vitaminbedarf reichlich gedeckt. Die Einnahme pharmazeutischer Kombinationspräparate, die Vitamine, Antioxidanzien, Spurenelemente und u. U. auch Mineralstoffe enthalten, ist bei Kindern und Jugendlichen mit und ohne Diabetes, die eine gesunde Mischkost erhalten, nicht notwendig. 8.2.4
Richtwerte für die Zufuhr von Flüssigkeit
Der Flüssigkeitsbedarf von Kindern und Jugendlichen ist auf das Gewicht bezogen sehr viel größer als der von Erwachsenen. Auf die Kalorienzufuhr bezogen ist er jedoch identisch. Die tägliche Flüssigkeitsaufnahme eines Kindes entspricht 10–15% seines Körpergewichts, die des Erwachsenen nur 2–4%. Flüssigkeitsverluste durch Stuhl, Urin Schweiß und Perspiratio insensibilis können bei akuten Erkrankungen durch Fieber, Durchfall und Erbrechen oder bei Diabetes, durch eine gesteigerte Diurese, schnell zu einer mit Exsikkose einhergehenden Dehydratation führen. Besonders gefährdet sind Säuglinge und Kleinkinder. Daher muss sorgfältig darauf geachtet werden, dass Kinder und Jugendliche reichlich trinken und auch mit der Nahrung ausreichend Flüssigkeit zu sich nehmen. Die normale Kost eines Kindes weist einen hohen Flüssigkeitsgehalt auf. Feste Nahrung enthält in der Regel 60–70% Wasser, Obst und Gemüse sogar 90%. Da der Flüssigkeitsbedarf von Säuglingen, Kleinkindern, Schulkindern und Jugendlichen oft unterschätzt wird, sind in . Tabelle 8.4 Richtwerte für die täglichen Umsatzraten zusammengestellt. Die tägliche Trinkmenge sollte etwa die Hälfte des Flüssigkeitsbedarfs decken. Wegen der großen Flüssigkeitsaufnahme sollten die Getränke für Kinder möglichst energiearm oder energiefrei sein. 8.3
Ratschläge für die Ernährung von Kindern und Jugendlichen
Das Prinzip der Auswahl der Nahrungsmittel orientiert sich an 3 einfachen Regeln: 5 reichlich: Getränke (möglichst energiefrei) und pflanzliche Lebensmittel, 5 mäßig: tierische Lebensmittel (fettarme Varianten), 5 sparsam: fett- und zuckerreiche Lebensmittel. Von den Lebensmitteln, die mehr als 90% der Gesamtenergie enthalten, werden Getränke, Brot, Getreide, Kartoffeln, Nudeln, Reis, Obst und Gemüse reichlich empfohlen. Dagegen sollten Milch, Milchprodukte, Fleisch, Wurst, Eier und Fisch mäßig, Öl, Margarine und Butter sparsam verzehrt werden. Zucker- und fettreiche Lebensmittel sind geduldet, wenn sie weniger als 10% der Gesamtenergie enthalten. Es bleibt daher ein gewisser Spielraum für Süßigkeiten, Feinge-
158
2
Kapitel 8 · Ernährung
. Tabelle 8.4 Durchschnittlicher täglicher Flüssigkeitsumsatz von Kindern unterschiedlichen Alters. (Nach Brodehl 1978) Gewicht kg
Körperoberfläche m2
Perspiratio insensibilis ml/kg KG
Urin ml/kg KG
Stuhl ml/kg KG
Total ml/kg KG
Neugeborenes
3,0
0,2
30
40–60
10
80–100
Säugling 5 Monate
6,0
0,32
50
60–80
10
120–140
Kleinkind 1 Jahr
10,0
0,45
40
40–60
8
90–110
Schulkind 9 Jahre
30,0
1,0
25
30–50
4
60–80
Jugendlicher 14 Jahre
50,0
1,5
20
20–40
3
40–60
Erwachsene
70,0
1,73
15
10–20
2
20–40
2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
bäck, Eiscreme und Schokolade, auf die auch Kinder und Jugendliche mit Typ1-Diabetes nicht ganz verzichten müssen. Hinsichtlich des Verzehrs tierischer Lebensmittel wird empfohlen, Vollmilch und Vollmilchprodukte gegen teilentrahmte Milch und Milchprodukte auszutauschen. Dann müsste auf fettreichen Käse sowie fette Fleisch- und Wurstsorten in mäßiger Menge nicht verzichtet werden. Durch diese Maßnahme würde auch die Aufnahme gesättigter Fettsäuren ausreichend reduziert. Speiseöle sollten sparsam verwendet werden. Empfehlenswert ist v.a. Sojaöl, geeignet sind aber auch Sonnenblumenöl und Maiskeimöl. Bei Margarine sollten Produkte mit der Bezeichnung »Pflanzenmargarine« gewählt werden. Butter sollte sparsam verwendet werden. Kinder müssen reichlich trinken. Die Getränke sollten möglichst energiefrei sein (Trinkwasser, ungesüßter Kräuter- oder Früchtetee, Mineralwasser). Die skizzierten Regeln entsprechen der in . Abb. 8.1 dargestellten Ernährungspyramide des U.S. Department of Health and Human Services, die in optisch eindrucksvoller Weise die Wertigkeit der verschiedenen Lebensmittelgruppen zeigt und auch Angaben über die Anzahl der angebotenen Portionen
8.3 · Ratschläge für die Ernährung
159
8
. Abb. 8.1 Ernährungspyramide des U.S. Health Department and Human Services. (Nach Barlow u. Dietz 1998)
enthält. In der Reihenfolge ihrer Wertigkeit für die Ernährung von Kindern und Jugendlichen werden die Lebensmittel in 6 Gruppen eingeteilt: Einteilung der Lebensmittel in 6 Gruppen nach ihrer Wertigkeit für die Ernährung von Kindern und Jugendlichen 5 5 5 5 5 5
Brot, Hülsenfrüchte, Teigwaren (Nudeln) Gemüse Obst Milch, Joghurt, Käse Fleisch, Geflügel, Fisch, Eier, Nüsse Fett, Öl, Süßigkeiten
160
2
Kapitel 8 · Ernährung
8.4
Wechselbeziehung zwischen Nahrungsaufnahme und Insulinwirkung
2
))
3
Das physiologische Gleichgewicht zwischen nahrungsbedingtem Blutglukoseanstieg und insulinbedingter Blutglukosesenkung ist beim Typ-1-Diabetes aufgehoben. Alle therapeutischen Bemühungen, die prandiale Insulinwirkung mit Hilfe von Normalinsulininjektionen oder schnellwirksamen Insulin-Analoga an die Nahrungszufuhr anzupassen, sind grobe Nachahmungen der physiologischen Insulinantwort auf prandiale Blutglukosesteigerungen.
4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
8.4.1
Postprandiale Stoffwechselsituation beim Stoffwechselgesunden
! Nach Passage des Speisebreis durch den Magen beginnt im Dünndarm die Verdauung und Resorption der Kohlenhydrate. Stärke, Saccharose, Maltose und Laktose werden zu Monosacchariden gespalten. Anschließend werden Glukose, Fruktose und Galaktose resorbiert und gelangen in die Blutbahn.
Unmittelbar blutglukosesteigernd wirkt allein die Glukose. Das proximale Jejunum ist in der Lage, maximal 1,5–2 g Glukose/min zu resorbieren. Bei Stoffwechselgesunden erreicht die Glukoseresorption nach etwa 30 min ihren Höhepunkt und ist nach 90–120 min abgeschlossen. Die Insulinsekretion beginnt unmittelbar nach Anstieg der Blutglukosekonzentration im Splanchnikusgebiet. Sie entspricht dem Anfluten der Glukose und hält den Blutglukosespiegel in engen Grenzen (60–140 mg/dl). Mehr als 50% des in den Pfortaderkreislauf sezernierten Insulins wird von der Leber extrahiert und unterdrückt dort die hepatische Glukoseproduktion. Erst nach Passage der Leber entfaltet das Insulin seine Wirkung in der Peripherie und sorgt für den Abstrom der Glukose vom Blut in die Gewebe (Muskulatur, Fettgewebe). Der Verlauf der Blutglukose- und Seruminsulinkurven hängt nicht nur von Art und Menge der Kohlenhydrate im Speisebrei ab, sondern auch vom Fettund Eiweißgehalt. Beide Nährstoffe verzögern die Magenentleerung. Auch die Konsistenz der Nahrung beeinflusst die Magenentleerung. Flüssigkeiten passieren den Magen schneller als feste Speisen.
8.4 · Nahrungsaufnahme und Insulinwirkung
8.4.2
161
8
Postprandiale Stoffwechselsituation bei Typ-1-Diabetes
! Die postprandiale Hyperglykämie bei Typ-1-Diabetes ist nur zum Teil Folge der intestinalen Kohlenhydratverdauung und Glukoseresorption. Die durch den Insulinmangel bedingte Dysregulation der hepatischen Glukoseproduktion spielt eine wesentliche Rolle.
Bei stoffwechselgesunden Erwachsenen beträgt die hepatische Glukoseproduktion etwa 2,4 mg pro kg Körpergewicht und Minute, bei Kleinkindern bis 4 mg pro kg. Bei Typ-1-Diabetes kann die hepatische Glukoseproduktion bei fehlender Suppression durch Insulin um das Doppelte gesteigert sein. Wegen seiner unphysiologischen Applikation in die Subkutis kann das vor einer Mahlzeit injizierte Normalinsulin die Glukoseproduktion in der Leber nicht ausreichend supprimieren. Die Folge ist, dass kaum 50% des postprandialen Blutglukoseanstiegs Folge der intestinalen Glukoseresorption ist. Bei Stoffwechselgesunden werden nach Ingestion von 10 g Glukose etwa 1 I.E. Insulin sezerniert. Bei Typ1-Diabetes müssen dagegen bei fehlender Insulinsekretion mindestens 1,5–2,0 I. E. Normalinsulin pro 10 g Glukose injiziert werden. Bei unzureichender Basalinsulinsubstitution kann der Prandialinsulinanteil noch größer sein. Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes haben einen täglichen Basalinsulinbedarf von etwa 0,35 I.E. pro kg Körpergewicht. Präprandiale Blutglukosewerte zwischen 100 und 120 mg/dl sind Ausdruck einer ausreichenden Basalinsulinsubstitution. Die hepatische Glukoseproduktion ist supprimiert. Nüchternblutglukosewerte über 200 mg/dl weisen jedoch auf eine unzureichende Basalinsulinsubstitution hin. Die hepatische Glukoseproduktion ist offenbar nicht hinreichend supprimiert. Unabhängig von der Basalinsulinsubstitution und damit der hepatischen Glukoseproduktion steigt die Blutglukosekonzentration ohne Normalinsulininjektion nach Ingestion von 10 g Glukose bei Erwachsenen um etwa 40 mg/dl an. Bei Kindern und Jugendlichen hängt der postprandiale Blutglukoseanstieg vom Alter und Gewicht ab. Er kann bei Kleinkindern bis 100 mg/dl betragen und nähert sich bei Jugendlichen dem von Erwachsenen an. Der Blutglukoseanstieg wird auch vom Zirkadianrhythmus der Insulinwirkung beeinflusst.
162
2 2 3 4
Kapitel 8 · Ernährung
Zusammenfassung Die postprandialen Blutglukosewerte sind bei Vorliegen eines Typ-1-Diabetes nur teilweise von der intestinalen Glukoseresorption abhängig. Sie werden auch durch die hepatische Glukoseproduktion beeinflusst, die bei s.c.-Injektion von Normalinsulin nicht ausreichend supprimiert wird. Eine ausreichende Basalinsulinsubstitution ist daher für den postprandialen Blutglukoseverlauf von großer Bedeutung. Die physiologische Insulinsekretion des Stoffwechselgesunden nach Nahrungsaufnahme kann nur unzureichend mit Hilfe einer differenzierten Prandial- und Basalinsulinsubstitution nachgeahmt werden.
5 6 7 8 9
8.5
Bedeutung des Kohlenhydratgehalts der Nahrungsmittel für die Insulintherapie
)) Bei den konventionellen Methoden der Insulintherapie mit ein oder zwei täglichen Injektionen von Verzögerungsinsulin muss die Nahrungszufuhr an die vorgegebene, im Tagesverlauf sehr unterschiedliche blutglukosesenkende Wirkung des injizierten Verzögerungsinsulins angepasst werden.
10 11 12 13 14 15 16 17
Um ein einigermaßen ausgeglichenes Blutglukosetagesprofil zu erreichen, muss der Kohlenhydratgehalt der Nahrungsmittel exakt für die einzelnen Mahlzeiten vorausberechnet werden. Das Prinzip der konventionellen Insulintherapie funktioniert daher nur mit Hilfe einer exakt berechneten und streng eingehaltenen »Diabetesdiät«. ! Bei den intensivierten Formen der Insulintherapie mit differenzierter Prandialund Basalinsulinsubstitution wird versucht, die Prandialinsulinwirkung so gut wie möglich an den vom Kohlenhydratgehalt der geplanten Mahlzeit abhängigen postprandialen Blutglukoseanstieg anzupassen.
Auch bei Durchführung der intensivierten Insulintherapie ist der Patient daher auf die quantitative Schätzung der Kohlenhydratmenge in den Nahrungsmitteln angewiesen. Allerdings nicht im Sinne einer vorgeplanten, exakt berechneten Diabetesdiät mit konstanten Mahlzeitenzusammensetzungen, die Tag für Tag eingehalten werden müssen. Ohne eine Schätzung des Kohlenhydratgehalts der ständig wechselnden freigewählten Nahrungsmenge einer Mahlzeit kann die für die Absenkung des postprandialen Blutglukoseanstiegs notwendige Insulindosis jedoch nicht bestimmt werden.
8.5 · Bedeutung des Kohlenhydratgehalts der Nahrungsmittel
163
8
Der Kohlenhydratgehalt der Nahrungsmittel hat bei den beiden Formen der Insulinbehandlung eine unterschiedliche Bedeutung: 5 Bei der konventionellen Insulintherapie ist die Kenntnis des Kohlenhydratgehalts erforderlich, um die Nahrungsmenge zu berechnen, die notwendig ist, um bei vorgegebener Insulinwirkung ein Absinken des Blutglukosespiegels zu verhindern. 5 Bei der intensivierten Insulintherapie ist die Schätzung des Kohlenhydratgehalts notwendig, um die Insulinmenge zu berechnen, die den durch die geplante Nahrungszufuhr hervorgerufenen Blutglukoseanstieg in Grenzen hält. 8.5.1
Methoden zur Quantifizierung der Kohlenhydrate und ihres Austausches
! Die Aufgabe von Nahrungsmittelaustauschtabellen besteht darin, die Vielfalt verfügbarer Nahrungsmittel mit ihrem unterschiedlichen Gehalt an Eiweiß, Fett und Kohlenhydraten in ein berechenbares System zu bringen.
Verschiedene Methoden der Berechnung und Systematisierung der Nahrungsmittel sind denkbar. Eine Methode geht davon aus, tabellarisch anzugeben, wie viel Eiweiß, Fett und Kohlenhydrate in jeweils 100 g eines Nahrungsmittels enthalten sind (Beispiel: 100 g Nudeln enthalten 13 g Eiweiß, 3 g Fett, 70 g Kohlenhydrate bzw. 349 kcal). Eine andere Methode dreht das Berechnungsprinzip um und gibt an, wie viel Gramm eines Nahrungsmittels eine definierte Menge an Kohlenhydraten enthält, z. B. 10 oder 12 g (Beispiel: 30 g Graubrot enthält 10 g Kohlenhydrate). Diese Methode ermöglicht den Austausch von Nahrungsmitteln mit Hilfe sog. Kohlenhydrateinheiten. Die in Deutschland lange Zeit verwendete Broteinheit (BE ) wurde zunächst als diejenige Menge eines Lebensmittels definiert, die auf den Stoffwechsel des Menschen mit Diabetes die gleiche Wirkung ausübt wie 12 g D-Glukose. Diese sinnvolle stoffwechselorientierte Definition wurde später durch eine kalorienorientierte Definition ergänzt, die lautete: »Als Broteinheit gilt eine Menge von insgesamt 12 g an Monosacchariden, verdaulichen Oligo- und Polysacchariden sowie Sorbit und Xylit, wobei verdauliche Poly- und Oligosaccharide als Monosaccharide zu berechnen sind«. Nach dieser Definition entsprach 1 BE der Kohlenhydrat- aber auch Zuckeralkoholmenge, die 12 g Glukose kalorisch äquivalent sind. Diese starre Festlegung implizierte, dass Nahrungsmittel mit identischen Kohlenhydrat- bzw. Kaloriengehalt auch die gleichen Blutglukosereaktionen nach einer Mahlzeit verursa-
164
2 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
Kapitel 8 · Ernährung
chen. Diese Annahme wurde mit Recht zunehmend in Frage gestellt. Die in der Bundesrepublik gültige 12-g-Broteinheit (BE) und die in der ehemaligen DDR übliche 10-g-Kohlenhydrateinheit (KHE) wurden daher aufgegeben. In einem Statement des Ausschusses für Ernährung der Deutschen Diabetes-Gesellschaft heißt es folgerichtig: ! »Die analytische Erfassung der verwertbaren Kohlenhydrate sowohl auf indirektem (Differenzmethode) als auch direktem Wege liefert heute gut übereinstimmende und reproduzierbare Ergebnisse. Die biologische Schwankungsbreite der einzelnen Kohlenhydratträger liegt jedoch im Schnitt bei 20–30%, sodass eine starre Festlegung von Kohlenhydrataustauscheinheiten auf 10 bzw. 12 g Kohlenhydrate nicht mehr gerechtfertigt erscheint. Es wird vorgeschlagen, in den Austauschtabellen die oben genannten Schwankungsbreiten zu berücksichtigen«.
Über den praktischen Umgang mit Kohlenhydrataustauscheinheiten heißt es in dem Statement: »Die Austauscheinheiten BE, KHE und KE sind nicht als Berechnungseinheiten, sondern als Schätzeinheiten zur praktischen Orientierung von Insulin-behandelten Diabetes-Patienten anzusehen. Lebensmittelportionen, die 10–12 g verwertbare Kohlenhydrate enthalten, können gegeneinander ausgetauscht werden. Nach praktischer Erfahrung entsprechen solche Lebensmittelportionen praktikablen Größen. Das Einschätzen der Portionen kann orientiert an Küchenmaßen erfolgen.« 8.5.2
Kohlenhydrataustauschtabellen
In Deutschland werden von den verschiedenen Diabetesteams unterschiedliche Kohlenhydrataustauschtabellen empfohlen. Sehr verbreitet ist die vom Diabetes-Forschungsinstitut in Düsseldorf herausgegebene Tabelle. Die Kohlenhydrataustauscheinheiten beschreiben darin Lebensmittelportionen, die 10–12 g verwertbare Kohlenhydrate enthalten und gegeneinander ausgetauscht werden können. Das Einschätzen der Portionen orientiert sich einerseits an Gramm, andererseits an Küchenmaßen mit unterschiedlichem Fassungsvermögen: Wichtige Küchenmaße 5 5 5 5 5
1 Esslöffel: ca. 15 g 1 Teelöffel: ca. 5 g 1 Tasse/Kaffeetasse: ca. 125 g (1/8 l) 1 mittelgroßes Glas: ca. 250 g (1/4 l) 1 mittelgroßes Schälchen: ca. 200 g (0,2 l)
8.5 · Bedeutung des Kohlenhydratgehalts der Nahrungsmittel
8
165
Nahrungsmittel, die keine Kohlenhydrate enthalten, sind in dieser Tabelle nicht zu finden, so z. B.: Fleisch, Fleischwaren und Wurst, Fisch, Ei, Käse, Koch- und Streichfette. Diese Lebensmittel enthalten v. a. Eiweiß und Fett. Eine andere weit verbreitete Kohlenhydrataustauschtabelle orientiert sich an »Zehn Gramm KH«. Sie wird in der Pädiatrie häufig verwendet, weil sie durch farbige Fotos von Nahrungsmittelportionen, die 10 g Kohlenhydrate enthalten, Kindern eine greifbare Vorstellung von Nahrungsmittelmengen vermittelt. Außerdem findet man als Ausdruck einer allerdings sehr liberalen Ernährungsauffassung auch Mengenangaben über Schokolade, Schokoriegel, Pralinen, Bonbons, Fruchtgummi, Lakritz, Eis, Fastfood und Sushi. In . Tabelle 8.5 ist die aus der pädiatrischen Praxis in der Universitätskinderklinik der Charité Berlin entwickelte Kohlenhydrataustauschtabelle wiedergegeben. Einer KE bzw. BE entsprechen 10–12 g Kohlenhydrate. Als Faustregel zur Umrechnung von Kalorienbedarf und täglicher KE-Menge kann man davon ausgehen, dass eine »gut belegte« KE etwa 100 kcal entspricht. Als Ergänzung zu dieser Kohlenhydrataustauschtabelle sind in . Tabelle 8.6 und 8.7 die Zusammensetzung und der Kaloriengehalt exotischer Gemüse und Früchte zusammengestellt, um dazu beizutragen, dass auch diese Nahrungsmittel in den Speiseplan von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes eingebaut werden.
. Tabelle 8.5 Kohlenhydrataustauschtabelle Brot dunkle Sorten: Graubrot/Mischbrot Grahambrot/Steinmetzbrot Kommissbrot/Pumpernickel Kleiebrötchen Roggenbrot, -brötchen Schusterjungen Vollkornbrötchen Knäckebrot (je nach Sorte) helle Sorten: Brötchen, Baguette Croissant Kräcker Weiß-, Toastbrot Weizenmischbrot Salzstangen Zwieback Cherimoya
1 KE
Mehle, Teigwaren, Nährmittel
1 KE
25 g 25 g 25 g 25 g 25 g 25 g 25 g 15–25 g
Cornflakes Haferflocken Kartoffelstärkemehl (Sago) Mondamin, Gustin Paniermehl, Semmelmehl Puddingpulver Weizenmehl Weizengrieß Weizenvollkornmehl Nudeln (roh 15 g) gekocht Vollkornnudeln (roh 20 g) gekocht Reis (roh 15 g) gekocht Karambole/Sternfrucht
15 g 20 g 15 g 15 g 15 g 15 g 15 g 15 g 20 g 45–50 g 60 g 45–50 g 160 g
25 g 25 g 15 g 25 g 25 g 15 g 15 g 100 g
166
2 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Kapitel 8 · Ernährung
. Tabelle 8.5 Kohlenhydrataustauschtabelle Körner (gemahlen/ganz)
1 KE
Vollkorn/Buchweizen Dinkel, Grünkern, Hirse Mais, Grütze, Graupen (roh) alle Sorten (gekocht × 3) Weizengrütze (Bulgur/Couscous roh) (gekocht × 3)
15 g 15 g 15 g 60 g 15 g 45–50 g
Verschiedenes
1 KE
Blätterteig TK, roh Hefeteig, Pizzateig Popcorn, salzig
30 g 30 g 20 g
Milch und Milchprodukte
1 KE
Buttermilch Dickmilch (0,5–3,9% Fett) Joghurt (0,5–3,9% Fett) Kefir (1,5–3,9% Fett) Milch (0,5–3,9% Fett) Molke Kondensmilch 4% Fett
200 ml 200 ml 200 ml 200 ml 200 ml 200 ml 100 ml
Kartoffeln/ Kartoffelerzeugnisse
1 KE
Kartoffeln roh oder gekocht Kartoffelbrei, fertig zubereitet Kartoffelknödel/-püree/ -puffermehl Knödel, Puffer, fertig zubereitet Kroketten, fertig zubereitet Kartoffelchips, Kartoffelsticks Pommes frites
65 g 75 g 15 g 45 g 35 g 25 g 35 g 200 g 100 g 90 g
16 17
1 KE = 10 g Kohlenhydrate.
Obst und Obstkonserven (essbarer Anteil)
1 KE
Ananas Apfel Apfelsine Orange (mit Schale 170g) Aprikosen Banane (mit Schale 90 g) Birne Brombeeren Erdbeeren Feigen frisch Granatapfel Guaven Grapefruit (mit Schale 230 g) Himbeeren Heidel-/Blaubeeren Holunderbeeren Honigmelone Johannisbeeren, rot Johannisbeeren, schwarz Kakipflaume Kiwi Kirschen, sauer/süß Kumquat Litschi Mango Mandarine (mit Schale 170 g) Moosbeeren Mirabellen Mispel Nektarine Opuntie/Kaktusfrucht Papaya Passionsfrucht Pflaumen Preiselbeeren Quitte Renekloden Sanddornbeeren Stachelbeeren Tamarillo/Baumtomate Wassermelone Weintrauben
140 g 90 g 150 g 110 g 70 g 90 g 140 g 160 g 80 g 170 g 170 g 170 g 150 g 140 g 140 g 100 g 140 g 120 g 70 g 110 g 90 g 70 g 90 g 110 g 150 g 130 g 70 g 100 g 100 g 260 g 200 g 100 g 90 g 140 g 140 g 100 g 200 g 130 g 130 g 270 g 70 g
8
167
8.5 · Bedeutung des Kohlenhydratgehalts der Nahrungsmittel
. Tabelle 8.6 Zusammensetzung und Kaloriengehalt exotischer Gemüse In 100 g essbarem Anteil sind enthalten: Gemüsesorte
Eiweiß [g]
Fett [g]
KH [g]
Ballaststoffe [g]
kcal
Artischocken
2,4
0,1
12,2
1,5
61
Auberginen
1,2
0,2
4,6
0,8
26
Bambussprossen
2,5
0,3
4,1
1,2
29
Bohnenkeime (Lunja)
3,4
Bleichsellerie
1,2
0,2
5,6 3,6
1,0
37 21
Broccoli
3,3
0,2
4,4
1,3
33
Chicoree
1,3
0,2
2,3
0,8
16
Chilli
2,0
0,5
6,0
Chinakohl
1,2
0,2
2,0
37
Eisbergsalat
5,0
Gemüsefenchel
2,4
0,2
9,1
Okra (Eibisch)
2,1
0,2
8,2
Palmito (Palmenmark)
2,5
0,5
5,0
34
Paprika
1,2
0,3
4,7
27
0,5
5,0
16 42 50
1,7
4,0
44
Radicchio
1,5
Topinambur
2,4
0,4
15,8
0,7
79
23
Wassermelone
0,6
0,2
7,7
0,2
35
Zucchini
1,6
0,4
5,1
0,6
31
Zuckermais
3,2
1,2
19,2
0,8
107
168
2
Kapitel 8 · Ernährung
. Tabelle 8.7 Zusammensetzung und Kaloriengehalt exotischer Früchte In 100 g essbarem Anteil sind enthalten:
2
Obstsorte
Eiweiß [g]
Fett [g]
3
Acerola
0,2
0,2
5,0
4,9
23
Ananas
0,5
0,2
13,2
1,4
56
2,0
4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
KH [g]
Ballaststoffe [g]
kcal
Banane
1,2
0,2
21,0
Gemüsebanane
1,2
0,2
38,0
90
Cherimoya
1,5
0,3
13,4
Cranberry
0,8
0,5
9,4
Feigen, frisch
1,3
0,5
13,0
Granatapfel
0,7
0,6
16,7
3,2
75
Grapefruit
0,6
0,2
9,3
0,6
41
Guave
0,9
0,5
7,0
10,2
37
Honigmelone
0,9
0,1
12,4
1,0
54
Kaki
0,6
0,3
17,0
1,4
Kaktusfeige
1,0
0,4
7,0
Kapstachelbeere
2,7
1,1
12,0
Karambola
1,2
0,5
4,0
3,2
23
Kiwi
1,0
0,6
11,0
3,6
50
Kumquat/Zwergorange
0,7
0,3
15,0
64
Limette
0,4
0,3
1,9
32
158 1,0
62 52 62
69 36 92
Litschi
0,9
0,3
16,8
Mandarine
0,7
0,3
10,1
2,5
46
74
Mango
0,6
0,3
13,0
1,7
56
Orange
1,0
0,2
9,3
2,2
43
Papaya
0,5
0,1
2,3
Passionsfrucht/Maracuja
2,4
0,4
13,4
Tamarillo/Baumtomate
1,7
0,8
10,6
56
Zitrone (Saft)
0,7
0,6
7,0
37
12 1,4
67
8.5 · Bedeutung des Kohlenhydratgehalts der Nahrungsmittel
169
8
Zusammenfassung Kohlenhydrataustauschtabellen sind für die Ernährung von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes ein unverzichtbares Orientierungsmittel für die Schätzung des Kohlenhydratgehalts der Nahrungsmittel. Bei konventioneller Insulintherapie helfen sie, den Speiseplan für die Anpassung der Nahrungszufuhr an die vorgegebene Insulinwirkung zu berechnen, bei der intensivierten Insulintherapie (CSII, ICT) sind sie notwendig, um die Insulindosis sachgerecht an die geschätzte Kohlenhydratmenge anzupassen.
8.5.3
Zuckerersatzstoffe
Zum Süßen von Nahrungsmitteln werden 2 Arten von Zuckerersatzstoffen verwendet: Zuckeraustauschstoffe und Süßstoffe. Zuckeraustauschstoffe Zuckeraustauschstoffe sind Fruktose sowie die Monosaccharidalkohole D-Sorbitol, Mannitol und Xylitol und die Disaccharidalkohole Isomalt, Maltit und Lactit. Sie werden in den Stoffwechsel eingeschleust und verwertet. Daher müssen sie kalorisch berechnet werden. Fruktose und die Monosaccharidpolyole werden wie Kohlenhydrate berechnet, Disaccharidpolyole mit 2,4 kcal/g. Ein Nachteil der Mono- und Disaccharidpolyole liegt darin, dass ein Teil unresorbiert in den Dickdarm gelangt und dort vergoren wird. Daher wirken Zuckeraustauschstoffe blähend und abführend und können zu Diarrhö (Gärstühle) führen. Da Zuckeraustauschstoffe nur sehr langsam im Darm resorbiert und verzögert in der Leber zu Glukose umgebaut werden, kommt es nach ihrer Aufnahme zu einem verzögerten und nur wenig ausgeprägten Blutglukoseanstieg. Der glykämische Index von Fruktose liegt z. B. nur zwischen 20 und 29%. Süßstoffe Die in Deutschland zugelassenen Süßstoffe sind Saccharin, Cyclamat, Acesulfan, Aspartam, Neohespiridin und Thaumatin. Immer wieder wurde daran gezweifelt, dass Süßstoffe keine schädlichen Nebenwirkungen aufweisen. Tierexperimentelle Untersuchungen ließen den Verdacht aufkommen, dass Cyclamat Nebenwirkungen besitzt, die das Verbot des Süßstoffes rechtfertigen. Allerdings wurden bei diesen Versuchen Mengen von Cyclamat an die Tiere verfüttert, die ein Vielfaches von dem betragen, was Menschen an Cyclamat zu sich nehmen. Die geringen, von Patienten mit Diabetes verzehrten Cyclamatmengen sind unschädlich. Gegen die Verwendung von Süßstoffen zum Süßen von Nahrungsmitteln ist daher nichts einzuwenden. Viele »light«-Produkte enthalten Süßstoff, v. a. Limonaden oder Cola-Getränke.
170
2 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Kapitel 8 · Ernährung
Zuckerersatzstoffe bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes Das komplette Verbot von Saccharose in der Ernährung von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes ist nicht mehr gerechtfertigt. Es sollten allerdings nicht mehr als 10% der Gesamtkalorien in Form von Zuckerzusätzen zur Nahrung verzehrt werden. Die Verwendung von Fruktose sowie Mono- und Disaccharidpolyolen ist daher im Grunde überflüssig. Im »Statement 1995« der DNSG der European Association for the Study of Diabetes (EASD) heißt es: ! »Fruktose und andere kalorienhaltige Zuckeraustauschstoffe bringen DiabetesPatienten keinen wesentlichen Vorteil gegenüber der Verwendung von Saccharose außer einer verminderten Kariesbildung. Zum Verzehr von Fruktose und anderen Zuckeraustauschstoffen sollte nicht ermutigt werden. Energiefreie Süßstoffe können in Getränken nützlich sein«.
Das Verdikt gegen die Verwendung von Zuckeraustauschstoffen trifft auch alle Lebensmittel, die »als geeignet für Diabetiker« angeboten werden. Sie zeichnen sich meist durch einen hohen Fett- und Energiegehalt aus und sind meistens teurer als übliche Produkte. ! Wenn Kinder und Jugendliche mit Diabetes süße Nahrungsmittel essen wollen, dann mit Saccharose gesüßte. Allerdings muss die Wirkung auf den Blutglukosespiegel abgeschätzt und die Insulindosis entsprechend angepasst werden.
11
8.5.4
12
Unter dem Etikett »Diabetikerlebensmittel« werden eine Fülle unnötiger, meist teurer Lebensmittel angeboten: Diabetikermehl, Diabetikernudeln, Diabetikerreis, Diabetikermehlbackmischungen, Diabetiker-Instant-Kakaopulver, Diabetikerbrot, Diabetikerzwieback, Fertigmischungen für Diabetikerdesserts (Puddingpulver, Gelee, Fruchtmix, Cremes) usw. Eltern müssen immer wieder darauf hingewiesen werden, dass die üblichen, in normalen Lebensmittelgeschäften erhältlichen Nahrungsmittel für die Ernährung ihrer Kinder am besten geeignet sind. Nur nichtalkoholische Getränke, die mit Süßstoffen gesüßt sind (z. B. Deit, Diät-Fanta, Diät-Lift, Flori-Fit, Gerolsteiner kalorienarm, Schweppes Slimline, Cola light) können als spezielle Diabetikergetränke nützlich sein und akzeptiert werden. Für alle anderen Lebensmittel gilt das Statement:
13 14 15 16 17
Spezielle »Diabetikerlebensmittel«
»Es sind keine Gründe bekannt, die eine Ermunterung zu speziell hergestellten Diabetiker- oder Diätlebensmitteln rechtfertigen könnten«.
8.6 · Glykämischer Index
8.6
171
8
Glykämischer Index
)) Äquivalente Kohlenhydratmengen verschiedener Nahrungsmittel weisen unterschiedliche Wirkungen auf den Blutglukosespiegel auf. Eine Hilfe für die Abschätzung der hyperglykämisierenden Wirkung kohlenhydrathaltiger Nahrungsmittel bietet der glykämische Index.
1982 wurde eine Klassifizierung der Nahrungsmittel nach ihrer akuten blutzuckererhöhenden Wirkung vorgeschlagen. Nach diesem Einteilungsprinzip werden Nahrungsmittel mit niedrigem glykämischen Index (z.B. Hülsenfrüchte, Haferflocken, Graupen) von solchen mit hohem glykämischen Index (z.B. Zucker, Weißbrot, Nudeln) unterschieden. Bezugsgröße für den glykämischen Index ist die blutglukoseerhöhende Wirkung von Glukose, die mit 100% angegeben wird. Die Methoden zum Ermitteln des glykämischen Index wurden häufig kritisiert, weil wichtige Einflussgrößen keine Berücksichtigung fanden (Ausgangsblutglukosewert, Glukosurie, Typ-1- bzw. Typ-2-Diabetes, Testdauer, Substitution mit und ohne Basalinsulin usw.). Weiterhin wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass der glykämische Index nicht nur individuell, sondern auch interindividuell extrem variabel ist. Trotzdem ist unstrittig, dass der glykämische Index der Nahrungsmittel wichtige Hinweise für die Einschätzung der hyperglykämisierenden Wirkung der in den Kohlenhydrataustauschtabellen allein nach ihrem Kohlenhydratgehalt aufgeführten Nahrungsmittel gibt. Eine graphische Darstellung des glykämischen Index verschiedener Nahrungsmittel ist in . Abb. 8.2 wiedergegeben. Sie hat sich als praktische Hilfe für die Abschätzung der Blutglukosewirkung der Nahrungsmittel bewährt. ! Die Kenntnis des glykämischen Index einiger wichtiger Nahrungsmittel ist für die Ernährung von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes als Ergänzung zu den Austauschtabellen unverzichtbar.
Die unterschiedliche hyperglykämisierende Wirkung der Nahrungsmittel, die im glykämischen Index eine Quantifizierung gefunden hat, hängt jedoch von einer Vielzahl weiterer Faktoren ab:
172
2 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
Kapitel 8 · Ernährung
173
. Abb. 8.2 Glykämischer Index wichtiger Nahrungsmittel. (Nach Chantelau 2000)
8.6 · Glykämischer Index
8
174
2 2 3 4 5
Kapitel 8 · Ernährung
Faktoren für die unterschiedliche hyperglykämisierende Wirkung der Nahrungsmittel 5 Aufbereitung der Nahrungsmittel (Zerkleinern, Mahlen, Erhitzen, Rösten, Kochen, Backen, Garen, Pressen, Versaften usw.) 5 Zeitpunkt der Magenentleerung (feste, breiige, flüssige Nahrung, Fett-, Eiweißbeimengung), Passage des Speisebreis durch den Dünndarm (z. B. intestinale Motilität bei Diarrhö) 5 Verdauung und Resorption (Fermentaktivität und Verfügbarkeit /Amylase, Disaccharidase usw./, Grad der Verdaulichkeit der Kohlenhydrate, Anteil an Ballaststoffen, Grad der Malabsorption usw.) 5 Glukoseanteil der Kohlenhydrate (Anteil der Kohlenhydrate an Fruktose bzw. Saccharose und Laktose)
6 7 8 9
Obwohl der glykämische Index eine große praktische Bedeutung für die Einschätzung der blutzuckererhöhenden Wirkung kohlenhydrathaltiger Nahrungsmittel hat, wurde er in die Berechnung von Lebensmittelaustauschtabellen bisher nicht aufgenommen. Im Rahmen der Diabetes-Schulung sollten die Eltern von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes jedoch darin geschult werden, den glykämischen Index wichtiger Nahrungsmittel bei der Berechnung der Insulindosis zu berücksichtigen.
10 Zusammenfassung 11 12 13 14 15 16 17
Der glykämische Index – als Indikator für die hyperglykämisierende Wirkung kohlenhydrathaltiger Nahrungsmittel – ist als wichtige Ergänzung der Kohlenhydrataustauschtabellen für die Ernährung von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes anzusehen. Daneben wird die Digestion und Resorption der Kohlenhydrate jedoch von einer Reihe weiterer Faktoren beeinflusst. Die Blutglukosewirkung der verschiedenen Nahrungsmittel ist daher auch durch aufwendige Tabellen und strenge Regeln schwer fassbar. Perfektionistische Berechnungen von Mahlzeiten im Sinne einer traditionellen Diabetesdiät sind daher sinnlos.
8.7 · Bedeutung der Ernährung für die Insulintherapie
8.7
175
8
Bedeutung der Ernährung für die Insulintherapie
)) Der Bedarf an Kalorien, Kohlenhydraten, Fett, Eiweiß, Vitaminen, Mineralsalzen, Spurenelementen und Flüssigkeit ist bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes denselben individuellen und interindividuellen Schwankungen unterworfen wie bei stoffwechselgesunden Kindern und Jugendlichen. Die wichtigsten Faktoren, die den Bedarf bestimmen, sind das Alter, die Körpergröße, das Körpergewicht und das Geschlecht, aber auch die von Tag zu Tag und von Stunde zu Stunde wechselnde Lebensweise mit unterschiedlichster körperlicher, geistiger und seelischer Aktivität. Der ständige Wechsel des Nahrungsbedarfs und der damit verbundenen Nahrungszufuhr ist das wichtigste Charakteristikum der Ernährung von Kindern und Jugendlichen.
Die konventionelle Insulintherapie mit ein oder zwei Injektionen pro Tag erlaubt kaum Schwankungen der täglichen Nahrungszufuhr. Häufige, genau berechnete Mahlzeiten müssen befolgt werden, um die Nahrungszufuhr an die vorgegebene Insulinwirkung anzupassen. Bei der intensivierten Insulintherapie mit differenzierter Prandial- und Basalinsulinsubstitution können die Patienten dagegen jederzeit frei entscheiden, wann und wie viel sie essen wollen. Voraussetzung ist allerdings, dass sie die Zusammensetzung der Nahrungsmittel und ihre Blutglukosewirksamkeit abschätzen können, um die adäquate Prandialinsulindosis zu ermitteln, die für die Anpassung der Insulindosis an die frei geplante Nahrungszufuhr notwendig ist. Wichtigste Hilfsmittel für die Ernährung bei konventioneller wie bei intensivierter Insulintherapie sind eine Kohlenhydrataustauschtabelle und eine Tabelle mit Angaben zum glykämischen Index der Lebensmittel. 8.7.1
Verteilung der Nahrungsmittel bei konventioneller Insulintherapie
! Bei der konventionellen Insulintherapie müssen genau berechnete Mahlzeiten eingenommen werden, um eine gute Stoffwechseleinstellung zu erreichen, da die Nahrungsmittelmengen dem Wirkungsprofil des injizierten Insulinpräparates angepasst werden müssen. Die Nahrungszufuhr richtet sich nach der vorgegebenen Insulinwirkung.
Um ein Stoßangebot von Kohlenhydraten zu verhindern, die den Blutglukosespiegel über Gebühr ansteigen lassen, müssen die Nahrungsmittel auf möglichst
176
2 2 3 4 5 6 7 8 9
Kapitel 8 · Ernährung
viele kleine Mahlzeiten verteilt werden. Je häufiger Mahlzeiten eingenommen werden, desto leichter ist eine gute Stoffwechseleinstellung zu erzielen. Daher müssen sich die Patienten, die nur 1- oder 2-mal am Tag Insulin spritzen, an mindestens 6 Mahlzeiten gewöhnen: 1. Frühstück, 2. Frühstück, Mittagessen, Kaffeetrinken (Vesper), Abendessen und Spätmahlzeit. Die Verteilung der Nahrungsmittel auf die Mahlzeiten hängt von verschiedenen Faktoren ab. Wichtig sind die von Familie zu Familie, aber auch von Land zu Land wechselnden Essgewohnheiten. So wird in Deutschland zu den 3 Hauptmahlzeiten (Frühstück, Mittagessen und Abendessen) etwa gleich viel gegessen, während in den angloamerikanischen und skandinavischen Ländern die Hauptmahlzeit am Abend eingenommen wird. Zusammenfassung Die Ernährung bei konventioneller Insulintherapie entspricht in keiner Weise den Essgewohnheiten, dem wechselnden Nahrungsbedarf und dem Lebensstil von Kindern und Jugendlichen. Um eine gute Stoffwechseleinstellung zu erzielen, müssen die klassischen Leitsätze einer geregelten Diabetesdiät angewendet werden, d. h. häufige, kleine, berechnete Mahlzeiten, die pünktlich eingenommen werden müssen und möglichst keine Süßigkeiten. Weiterhin wird bei dieser Therapieform empfohlen, das komplizierte System Insulin-Diät-Bewegung relativ konstant zu halten, eine Forderung, die für Kinder nicht zu realisieren ist.
10 11
8.8
12
))
13
Subjektive Zeichen dafür, dass Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes richtig ernährt werden, sind Angaben der Patienten, dass sie satt werden und die Wünsche und Erwartungen, die sie an die Nahrung stellen, befriedigt werden. Objektive Hinweise für eine gesunde Ernährung sind eine normale Größen- und Gewichtszunahme und ein normaler Body-mass-Index (BMI).
14 15 16 17
Parameter zur Beurteilung der Qualität der Ernährung
Die Größen- und Gewichtszunahme von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1Diabetes kann mit Hilfe von Perzentilenkurven beurteilt werden. Der BMI ist definiert als Körpergewicht (kg) dividiert durch das Quadrat der Körperlänge (m). Die Verwendung des 90. bzw. 97. alters- und geschlechtsspezifischen Perzentils wird heute als Grenzwert zur Definition von Übergewicht bzw. Adipositas im Kindes- und Jugendalter empfohlen.
8.8 · Parameter zur Beurteilung der Qualität der Ernährung
177
8
Zusammenfassung Größe, Gewicht und BMI sollten bei jeder ambulanten Vorstellung von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes für die Beurteilung der Größen- und Gewichtsentwicklung und des Ernährungszustandes bestimmt und protokolliert werden. Aber auch die subjektiven Angaben über Art und Zusammensetzung der Nahrung, Sättigungs- und Gesundheitsgrad der Ernährung und Zufriedenheit mit den Essgewohnheiten des Kindes und der Familie sollten regelmäßig erfragt werden.
Literatur Barlow SE, Dietz WH (1998) Obesity evaluation and treatment: Expert Committee recommendations. The Maternal and Child Health Bureau, Health Resources and Services Administration and the Department of Health and Human Services. Pediatrics 102: E29 Brodehl J (1978) Die Therapie der akuten Dehydratation. Monatsschr Kinderheilkd 126: 531–539 Chantelau E (2000) Diät (?) bei Diabetes mellitus. In: Berger M (Hrsg) Diabetes mellitus, 2. Aufl. Urban & Fischer, München Jena, S 150–180 Der kleine Souci-Fachmann-Kraut. Lebensmitteltabelle für die Praxis (1991) 2. Aufl. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart Deutsche Gesellschaft für Ernährung (1992) Empfehlungen für die Nährstoffzufuhr, 5. Überarb. 1. korr. Nachr. Umschau, Frankfurt/M Grüßer M, Jörgens V, Kronsbein P (2001) »Zehn Gramm KH =…«, 8. Aufl. Kirchheim, Mainz International Society for Pediatric and Adolescent Diabetes (ISPAD), International Diabetes Federation World Health Organisation (2000) Consensus guideline for the management of insulin-dependent (type I) diabetes mellitus (IDDM) in childhood and adolescence. Swift PGF (ed). Medforum, Zeist, NL, http://www.ispad.org, deutsche Fassung: http:www.diesetronic.de/download/0701_B_ISPAD.pdf Jenkins DJA (1982) Lente carbohydrate: A newer approach to the dietary management of diabetes. Diabetes Care 6: 634 Kalorien mundgerecht (2003) 12. Aufl. Umschau, Frankfurt/M Kromeyer-Hauschild K, Wabitsch M, Geller F et al. (2001) Perzentile für den Body-massIndex für das Kindes- und Jugendalter unter Heranziehung verschiedener deutscher Stichproben. Monatsschrift Kinderheilkd 149: 807–818 Leitlinien der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (2002) Adipositas im Kindes- und Jugendalter. In: Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin. Urban & Fischer, München Jena
178
2 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
Kapitel 8 · Ernährung
National Cholesterol Education Program (1992) Report of the Expert Panel on Blood Cholesterol Levels in Children and Adolescents. Pediatrics 89(Suppl): 525–584 Prader A, Largo RH, Molinari L, Issler C (1989) Physical growth of Swiss children from birth to 20 years of age. First Zürich longitudinal study of growth and development. Helv Paediatr Acta (Suppl) 52: 1–125 Schumacher W, Toeller M, Gries FA (2002) KH-Tabellen; Schätzhilfen für Kohlenhydratportionen, 8. Aufl. Kirchheim, Mainz White P, Graham CA (1971) The child with diabetes. In: Marble A, White P, Bradley RF, Krall LP (eds) Joslin’s Diabetes mellitus. Lea & Febinger, Philadelphia, p 339
453
17
Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung von Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern )) Angesichts der anspruchsvollen Diabetestherapie und den damit verbundenen täglichen Aufgaben und seelischen Belastungen kommt der psychosozialen Betreuung von Kindern und Jugendlichen eine wichtige Stellung in der Langzeitbehandlung zu. Unverzichtbar ist auch die psychologische und soziale Beratung der Eltern. Dieser Hilfebedarf wird sowohl in nationalen als auch internationalen evidenzbasierten Leitlinien konstatiert.
17.1
Psychosoziale Faktoren in der Ätiologie des Diabetes
Die Frage nach einer »diabetischen Persönlichkeitsstruktur«, die vor allem in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts im Umfeld psychosomatischer und psychoanalytischer Ansätze als prädisponierend für einen Diabetes diskutiert wurde, ist nur noch von historischem Interesse. Dunn und Turtle bezeichnen im Jahr 1981 in ihrer methodenkritischen Publikation die »diabetische Persönlichkeit« als Mythos, der vor allem durch methodische Mängel und Fehlinterpretationen gestützt wurde. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass es keine Evidenz für eine diabetische Persönlichkeit gibt, die direkt mit der Erkrankung selbst verbunden ist. Psychologische Faktoren sind in der Ätiologie des Typ-1-Diabetes eher von geringer Bedeutung, bei Typ-2-Diabetes im Kindes- und Jugendalter kommt ihnen dagegen eine zentrale Stellung zu. 17.1.1 Psychosoziale Faktoren und Manifestation eines Typ-1-Diabetes Einige Autoren vertraten in den 50er bis 70er Jahren auf Grund retrospektiver Studien die These, dass die Häufung anhaltender emotionaler Konflikte oder gravierende Verlust- und Trennungserlebnisse kausal mit der Manifestation eines Diabetes in Verbindung stehen könnten. Auch in neuerer Zeit wird die
454
2 2 3 4 5 6
Kapitel 17 · Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung
Zahl kritischer Lebensereignisse, die Kinder vor ihrer Diabetesmanifestation erfahren haben, mit denen gesunder Kontrollen verglichen. Dabei vermuten einige Autoren, dass erheblicher psychischer Stress vor allem in den ersten zwei Lebensjahren über autoimmunologische Prozesse das Risiko für Typ-1-Diabetes erhöhen könnte. Eine differenzierte Klärung dieser Hypothese steht bisher jedoch noch aus. Für die klinische Praxis ist zu bedenken, wie sich diese noch sehr spekulativen Ergebnisse auf die Krankheitsbewältigung von Eltern neu erkrankter Kinder auswirken können. Vorschnell und vereinfacht dargestellte Zusammenhänge zwischen psychischem Stress und dem Auftreten einer Autoimmunerkrankung können unbegründete Schuldgefühle provozieren und eine konstruktive Krankheitsbewältigung beeinträchtigen. ! Subjektive Krankheitstheorien der Eltern sollten erfragt und möglichen Schuldgefühlen entgegengewirkt werden.
7 8 9 10 11
12 13 14 15 17 17
Ebenso sensibel müssen Studienergebnisse vertreten werden, die sich auf korrelative Beziehungen zwischen psychosozialen Umweltfaktoren (Schichtzugehörigkeit, Aufnahme in Kinderkrippen, Ernährung im ersten Lebensjahr) und der Manifestation eines Diabetes beziehen. Ob diese Umweltfaktoren wirklich einen direkten Einfluss ausüben, oder ob sie eher als sekundäre Variable gesehen werden sollten, die an andere noch unbekannte, primäre Umweltfaktoren gekoppelt sind, bleibt zu klären. Zusammenfassung Im Licht heutiger ätiopathogenetischer Kenntnisse wird das Auftreten eines Typ1-Diabetes individuell durch ein komplexes Zusammenspiel von verschiedenen Risikogenen und Umweltfaktoren in jeweils variabler Kombination erklärt. Das einfache Modell der direkten kausalen Beziehung zwischen psychischen Belastungen und Typ-1-Diabetes hat heute keine wissenschaftliche Relevanz. Darüber, ob und in welcher Form Umwelteinflüsse, u.a. auch seelische Belastungen oder Traumata, den Beginn des Autoimmunprozesses bei Typ-1-Diabetes beeinflussen können, kann derzeit nur spekuliert werden.
17.1 · Psychosoziale Faktoren in der Ätiologie des Diabetes
455
17
17.1.2 Psychosoziale Faktoren und Manifestation eines Typ-2-Diabetes )) Völlig anders als beim Typ-1-Diabetes ist die psychische Situation von Kindern und Jugendlichen bei Diagnose eines Typ-2-Diabetes. Neben einer genetischen Prädisposition zählen vor allem falsche Ernährungsgewohnheiten und Bewegungsmangel und daraus folgend eine Adipositas zu den Auslösern dieser Stoffwechselstörung.
In Deutschland sind überproportional viele Kinder und Jugendliche aus unteren sozioökonomischen Schichten, Kinder allein Erziehender und aus Migrantenfamilien adipös. Die familiären Strukturen dieser Kinder sind häufig gekennzeichnet durch geringe Kohärenz, wenig Zeit für Familienaktivitäten mit dem Kind, einen hohen Erschöpfungsgrad der Eltern und somit einem eher passiven Freizeitverhalten. Diejenigen Kinder, die durch ihre ausgeprägte Adipositas ein erhöhtes Risiko für Typ-2-Diabetes tragen, weisen gleichzeitig ein erhöhtes Risiko für psychiatrische und psychosoziale Störungen auf, die durch psychosoziale Diskriminierung hervorgerufen oder verstärkt werden. In den Leitlinien der Deutschen Adipositas-Gesellschaft zur Adipositas im Kindes- und Jugendalter werden daher eine umfassende psychologische Diagnostik vor Therapiebeginn und ggf. psychotherapeutische Angebote empfohlen. Zu berücksichtigende Aspekte bei der Diagnostik: 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Essstörungen (ICD-10: F50) Intrapsychische und intrafamiliäre Konflikte Schulische oder berufliche Überforderung bzw. Unterforderung Affektive Störungen (ICD-10: F30–F39) Angststörungen, insbes. soziale Phobie (ICD-10: F41–F41.9, F40.1) Traumatisierende Erfahrungen, u. a. sexueller Missbrauch Posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F43.1) Autoaggression Alkohol-, Nikotin-, Drogengebrauch bzw. -abhängigkeit (ICD-10: F1) Störung des Sozialverhaltens (ICD-10: F91) Delinquenz Geringes Selbstwertgefühl Risikoreiches Sexualverhalten Enuresis nocturna (ICD-10: F98)
456
2 2
Kapitel 17 · Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung
Zusammenfassung Bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-2-Diabetes sollte nicht nur eine umfassende somatische, sondern auch eine psychologisch-psychiatrische Diagnostik durchgeführt und ggf. eine Psychotherapie angeboten werden.
3 17.2
4 5 6 7 8
Psychosoziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit Diabetes
)) Verschiedene Einflüsse des Diabetes auf die psychosoziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen werden beobachtet. Akute Krisen, vor allem die Manifestation, aber auch schwere Hypoglykämien müssen bewältigt werden. Die tägliche Therapie stellt für die gesamte Familie eine Dauerbelastung dar. Anhaltende Hyperglykämien oder schwere Hypoglykämien können die kognitive Entwicklung eines Kindes direkt und indirekt beeinflussen. Auch bereits bestehende psychosoziale Probleme und psychische Störungen können durch die Manifestation eines Diabetes verschärft werden.
9 10 11
12 13 14 15 17 17
Die Diabetesdiagnose bei einem Kind oder Jugendlichen wird wie das Auftreten anderer schwerer Krankheiten als kritisches Lebensereignis bezeichnet, das von allen Familienmitgliedern große emotionale und praktische Anpassungsleistungen (»Coping«) erfordert. Die ersten Reaktionen der Eltern, vor allem der Mütter, reichen von tiefer Verstörtheit, Leugnung der Realität, Depression, Angst und Schuldvorwürfen bis hin zu Gefühlen absoluter Hilflosigkeit. Ihre Aufnahmefähigkeit für neue Informationen ist in den ersten Tagen begrenzt. Da heute die meisten Mütter berufstätig sind, stellt sich für viele Eltern umgehend die Frage nach der angemessenen Versorgung ihres Kindes mit Diabetes. Für viele Familien sind mit der Diabetesmanifestation die Aufgabe oder Einschränkung der mütterlichen Berufstätigkeit und finanzielle Einbußen verbunden. Besonders jüngere Kinder, die den Diabetes und dessen Tragweite noch nicht verstehen, machen ihre Interpretation der Manifestation von den emotionalen Reaktionen ihrer Eltern abhängig. Viele Eltern von jüngeren Kindern berichten, dass diese die Chronizität des Diabetes erst nach mehreren Wochen realisieren. Trauerreaktionen und Widerstand gegen die anfangs akzeptierten therapeutischen Maßnahmen sind häufig zu beobachten und verunsichern die Eltern. ! Eltern sollten wissen, dass Kinder die Chronizität ihrer Krankheit oft erst nach einigen Wochen realisieren und dann »normal« mit Trauer oder Widerstand reagieren. Kinder benötigen in dieser Phase Verständnis, Zuwendung und eine hoffnungsvolle Zukunftssicht der Eltern.
17.2 · Psychosoziale Entwicklung
457
17
Prospektive Längsschnittstudien zeigen, dass sich die meisten Kinder und Familien trotz anfänglicher Belastungsreaktionen innerhalb des ersten Jahres nach Diabetesmanifestation mit der neuen Situation arrangieren und ihr emotionales Gleichgewicht wiedererlangen. Es zeigt sich aber auch, dass Anpassungsstörungen in Folge der Diagnose häufiger sind und dass sie vor allem bei Müttern über eine lange Periode anhalten können. Kinder und Jugendliche, denen es im Verlauf des ersten Jahres nicht gelingt, sich mit dem Diabetes zu arrangieren, tragen ein großes Risiko, langfristig unbefriedigende Stoffwechselwerte und psychosoziale Probleme zu entwickeln. Aber auch eine anhaltende durch Überforderung und Isolation hervorgerufene Depression der Mutter gefährdet nicht nur die psychische Entwicklung des Kindes, sie ist auch häufig mit einer unbefriedigenden Stoffwechseleinstellung verbunden. Familien, deren Kapazität durch andere psychosoziale Probleme (allein erziehende Eltern, ökonomische Schwierigkeiten, Trennung, Konflikte) bereits erschöpft ist, können durch die chronische Krankheit eines Kindes völlig überfordert werden. Hier ist eine der individuellen familiären Situation angemessene Initialschulung erforderlich, die nicht nur Wissen vermittelt, sondern auch die emotionale Bewältigung der Krankheit und die praktische Umsetzung der Therapie im Alltag unterstützt. Psychosoziale Beratung bis hin zu psychotherapeutischen Hilfen für Kinder und Eltern mit Akzeptanzproblemen werden heute als notwendige Bestandteile einer initialen Behandlung angesehen und auch von vielen Eltern in der Initialphase gewünscht. ! Während des ersten Jahres nach Diabetesdiagnose sollte bei allen Familienmitgliedern, vor allem bei den Müttern, auf anhaltende Anpassungsstörungen geachtet und ihnen ggf. frühzeitig eine psychologische Beratung oder psychotherapeutische Behandlung vermittelt werden.
Vergleichbar mit den psychischen Belastungen durch die Diabetesmanifestation sind auch affektive Störungen, die sich im Verlauf des Diabetes nach akuten Krisen, z. B. einer schweren Hypoglykämie mit Bewusstlosigkeit und Krampfanfall, ergeben können. Hier geht es vor allem um überdauernde phobische Ängste, die zu sozialem Rückzug der Familie, Isolation, eingeschränkter Selbstständigkeit des Kindes und gleichzeitig extremer Hypoglykämievermeidung führen können. Ebenso stellt die Diagnose erster Folgeerkrankungen für Jugendliche und Eltern eine einschneidende psychische Belastung dar, die oft dem Schock bei der Diabetesmanifestation gleichkommt. Zusammenfassung Akute Krisen, insbesondere schwere Hypoglykämien, erfordern eine sensible Klärung und Beratung der Eltern, um phobisch geprägten Ängsten und unzureichender Therapie vorzubeugen.
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Kapitel 17 · Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung
17.2.1 Belastungen durch den Diabetes )) Flexible, auf die individuelle Lebenssituation von Kind und Familie abgestimmte Behandlungsprinzipien und umfassende alltagsorientierte Schulungen haben in den vergangenen zwei Dekaden zur Verringerung der psychischen Belastungen durch den Diabetes beigetragen.
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Informierte Familien können ihren Tagesablauf, die Ernährung sowie körperliche und soziale Aktivitäten flexibler gestalten. Altersgemäß geschulte Kinder und Jugendliche werden nicht mehr zwangsläufig durch ein starres Therapieschema in eine Außenseiterposition gedrängt. Sie können an Ausflügen, Klassenfahrten, Feiern und anderen sozialen Aktivitäten teilnehmen. Die wichtigsten Anforderungen, denen Kinder und Eltern aber auch heute noch ständig gegenüberstehen, sind in der folgenden Übersicht zusammengestellt:
8 Belastungen, denen Kinder und Eltern täglich gegenüberstehen 9 10 11
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5 Akzeptanz einer lebenslangen Therapie 5 Ständige kognitive Kontrolle des eigenen Verhaltens (Ernährung, Bewegung etc.) bzw. Kontrolle des Verhaltens des Kindes 5 Anpassung des Familienlebens an die Therapie (z. B. oft Aufgabe der Berufstätigkeit der Mutter, Sonderrolle gegenüber Geschwistern) 5 Eingeschränkte Spontaneität 5 Regelmäßige Blutglukosekontrollen und Insulininjektionen (ständige Mitnahme aller Materialien und Utensilien) 5 Ständiger Entscheidungsdruck (Insulindosierung, Nahrungsaufnahme), oft Abwägung von Risiken ohne eindeutige Kriterien 5 Frustrationen durch nicht vorhersehbare und damit nicht beeinflussbare Schwankungen des Blutglukosespiegels 5 Regelmäßige Arztbesuche 5 Soziale Belastung durch unerwünschtes Mitleid, offene oder verdeckte Diskriminierung 5 Angst vor akuten Komplikationen, vor allem Hypoglykämien, und entsprechende Daueraufmerksamkeit 5 Angst vor Folgeerkrankungen und eingeschränkte Zukunftsperspektiven
17 Die Aufzählung verdeutlicht, wie schwierig es selbst bei großer Motivation ist, unter Alltagsbedingungen ständig eine optimale Diabetestherapie zu realisie-
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ren. Besonders komplex ist diese Aufgabe für Jugendliche. Das Bewusstsein, den hohen Anforderungen häufig nicht zu genügen, stellt für sie eine zusätzliche psychische Belastung dar, die zu Schuldgefühlen, Ängsten, geringer Selbstwirksamkeitserwartung und vermindertem Selbstwertgefühl führen kann. Technische Fortschritte, z. B. Speicherung und Verarbeitung der Daten der Blutglukoseselbstkontrollen oder das Auslesen der Pumpendaten, können diese Problematik – trotz vieler anderer unbestrittener Vorteile – nochmals verstärken. Die völlige Transparenz des Therapieverhaltens lässt keine Rückzugsmöglichkeit und Intimität zu. Es kann ein Rechtfertigungsdruck entstehen, dem sich manche Jugendliche nicht stellen wollen. Ihre Dokumentation ist entsprechend unvollständig. Aber auch Eltern, insbesondere die von Kleinkindern, sind durch die ständigen Verpflichtungen und die begrenzte Steuerbarkeit des Stoffwechsels und entsprechend häufige Frustrationen hoch belastet. Zusammenfassung Die Auseinandersetzung mit unzureichenden Blutglukosewerten und deren regelmäßige Dokumentation machen die ungünstige gesundheitliche Prognose fortwährend bewusst. Jugendlichen fällt es dadurch schwer, ein davon unabhängiges positives und stabiles Selbstbild zu entwickeln.
Belastungen der Eltern von Säuglingen und Kleinkindern mit Diabetes 5 Die Kinder können den Sinn der schmerzhaften Behandlungsmaßnahmen nicht verstehen und widersetzen sich ihnen oft mit aller Kraft. Eltern erleben die notwendigen Insulininjektionen und Blutglukosemessungen als ausgesprochenen Konflikt, der zusätzlich von der natürlichen Entwicklung eines Kleinkindes – der Trotzphase – überlagert wird. 5 Ebenso schwierig ist es, die Nahrungsaufnahme des Kindes vorherzusehen bzw. passend zur Insulindosis zu beeinflussen. 5 Die körperliche Aktivität eines Kleinkindes kann weder vorhergesehen noch geplant werden. 5 Eltern fürchten ständig Hypoglykämien, die das Kind selbst noch nicht erkennen und ansprechen kann. Das Verhalten des Kindes wird deshalb – oft auch nachts – kontinuierlich überwacht. Dabei besteht die Gefahr, dass sich Angst und Unsicherheit der Eltern auf das Kind übertragen. 5 Vor allem die mit der Versorgung des Kindes betrauten Mütter können durch den Verantwortungsdruck und die Therapie überfordert werden. Besonders schwierig ist es für sie, gegensätzliche Aspekte der altersgemäßen Erziehung und der Diabetestherapie miteinander zu vereinbaren. 6
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5 Die Rivalität unter Geschwistern, die sich gegenüber dem Kind mit Diabetes zurückgesetzt fühlen, stellt ein weiteres Problem dar. 5 Das Leben der Mütter wird in starkem Ausmaß durch den Diabetes des Kindes zu Lasten eigener Bedürfnisse bestimmt (Aufgabe der Berufstätigkeit, weniger Sozialkontakte, Isolation). 5 Selbstquälerische Gedanken wegen der Erblichkeit des Diabetes können Schuldgefühle der Eltern verstärken. Hinzu kommen Zukunftssorgen wegen Folgeerkrankungen und der Lebensperspektive des Kindes. Auch das erhöhte Diabetesrisiko für Geschwisterkinder kann Eltern belasten und die weitere Familienplanung beeinflussen.
! Eltern von Klein- und Vorschulkindern sind kontinuierlich gefordert und stehen unter hohem Verantwortungsdruck. Psychosoziale Beratung darüber, wie die notwendige Überwachung des Kindes mit der altersgemäßen Selbstständigkeit verbunden werden kann, sollte angeboten werden. Ebenso sollte über Unterstützung außerhalb der Kernfamilie und über Erholungsmöglichkeiten für Eltern gesprochen werden.
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Schulkinder mit Diabetes und deren Schwierigkeiten bei der Bewältigung des Alltags 5 Überforderung bei der selbstständigen Umsetzung der Therapie (Einschätzung der Nahrung, Interpretation der Blutglukoseselbstkontrollen, Insulindosierung) 5 Belastung durch Ängste und Ermahnungen der Eltern 5 Eingeschränkte Selbstständigkeit 5 Angst vor Ablehnung und Außenseiterposition 5 Kränkung durch Mitleid und Besorgnis Erwachsener 5 Instrumentalisierung des Diabetes
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Die Mehrheit der Schulkinder ist technisch in der Lage, Blutglukosemessungen und Insulininjektionen korrekt durchzuführen. Auch die Insulinpumpentherapie ist bei entsprechender Unterstützung möglich. Kindern dieses Alters mangelt es jedoch an Einsicht in die Schwere ihrer Krankheit und die langfristige Bedrohung durch eine unbefriedigende Stoffwechseleinstellung. Dafür belasten sie Sorgen und Ängste ihrer Eltern, die sie besonders bei hohen Blutglukose- und HbA1c-Werten spüren. Das häufig beklagte »heimliche Naschen» und »Mogeln» bei den Stoffwechselselbstkontrollen kann als pragmatischer Versuch der Kinder verstanden werden, diese Belastung bei sich und ihren Eltern zu verringern.
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Erfahrungen mit intensivierten Therapieformen zeigen, dass das Problem des Naschens bei Kindern mit Diabetes zwar nicht gelöst, aber auf das Maß reduziert werden kann, mit dem sich heute Eltern aller Kinder auseinandersetzen müssen. ! Die Berechnung und Bewertung der vielfältigen Nahrungsangebote außerhalb der Hauptmahlzeiten überfordert Schulkinder und grenzt deren Flexibilität trotz intensivierter Insulintherapie ein.
Weitgehend ungelöst ist das Problem der fachgerechten Insulindosisbestimmung bei Grundschulkindern in Ganztagsschulen oder bei langen Schulzeiten und Hortbetreuung. Kinder dieser Altersgruppe sind mit der kontinuierlichen Therapie und Berechnung ihrer Insulindosis überfordert. Das deutsche Schulsystem sieht jedoch keine kompetente Unterstützung der Kinder vor, hier besteht dringender Handlungsbedarf. Im Einzelfall einer allein erziehenden berufstätigen Mutter wurde diese Aufgabe von einem ambulanten Pflegedienst übernommen und durch den Kostenträger finanziert (Bundessozialgericht: Urteil vom 21. November 2002 – B 3 KR 13/02 R). Für Lehrer und Erzieher von Kindern mit Diabetes stellt die AGPD kompakte Informations-Broschüren zur Verfügung. Sie sind auf der Homepage www.diabetes-kinder.de abrufbar. Zusammenfassung Besonders kompliziert gestaltet sich die Situation von Kindern im Grundschulalter, die keine angemessene Unterstützung durch ihre Eltern erfahren und viel zu früh auf sich selbst gestellt sind.
Typische psychische Belastungen von Jugendlichen mit Diabetes 5 5 5 5 5
Auseinandersetzung mit der Chronizität und möglichen Folgeerkrankungen Beeinträchtigte Entwicklung einer stabilen Identität Autonomiekonflikte Angst vor Ausgrenzung und Ablehnung durch Gleichaltrige Zukunftssorgen (Beruf, Partnerschaft, Familiengründung)
Mit zunehmender kognitiver Reife werden älteren Kindern und Jugendlichen die Chronizität des Diabetes und ihre persönliche Bedrohung durch Folgeerkrankungen bewusst. Da körperliche Gesundheit und Leistungsfähigkeit das Selbstbild und das Selbstwertgefühl von Jugendlichen prägen, kann der Ein-
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Kapitel 17 · Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung
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druck körperlicher Minderwertigkeit, z. B. durch die Erfahrung von schweren Hypoglykämien oder ständig schwankenden Blutglukosewerten, verstärkt werden. Jugendliche, die ihre körperliche Attraktivität in Frage stellen, verbinden damit oft die Befürchtung, von Gleichaltrigen abgelehnt zu werden. Mangelt es ihnen zusätzlich an sozialer Kompetenz, um selbstsicher mit ihrem Diabetes umzugehen, können sozialer Rückzug, Unsicherheit, Identitätskrisen oder reaktiv-depressive Verstimmungen die Folge sein. Wie kaum ein anderes Thema bietet die Diabetesbehandlung viele Anlässe für Regelverstöße, die zu Konflikten zwischen besorgten Eltern und nach Autonomie strebenden Jugendlichen führen können. Mangelnde Disziplin und Nachlässigkeit sind folglich die häufigsten Streitpunkte, über die Eltern berichten. Jugendliche fühlen sich durch Verbote und ängstliche Fürsorge der Eltern gegenüber Gleichaltrigen zurückgesetzt und bevormundet. Eine konstruktive Kooperation zwischen Eltern und Jugendlichen sollte vom Diabetesteam frühzeitig aktiv angeregt und unterstützt werden, z. B. durch ambulante Vorstellungen ohne elterliche Begleitung. Trotz aller Bemühungen um Selbstständigkeit sind viele jüngere Jugendliche auf die Unterstützung ihrer Eltern angewiesen. Geradezu typisch ist ihre Ambivalenz zwischen der Abwehr jeder Hilfe einerseits und der Suche nach Unterstützung andererseits. Die Kunst der Eltern und des Diabetesteams besteht darin, die Autonomie der Jugendlichen angemessen zu fördern, ohne sie durch zu hohe Ansprüche zu überfordern. Im späten Jugendalter können sich Belastungen vor allem bei der Berufswahl, der Partnerschaft und der Zukunftsplanung ergeben. Obwohl berufliche Einschränkungen dank flexibler Insulintherapien heute deutlich abgenommen haben, ist die Suche nach einem Ausbildungs- oder Arbeitsplatz noch immer schwierig.
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! Begründete und übertriebene Befürchtungen zur gesundheitlichen Prognose
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beeinflussen die Zukunftsplanung. Unrealistischen Erwartungen sollte entgegengewirkt werden.
17.2.2 Kognitive Entwicklung und Schulerfolg
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)) Die kognitive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes wird vor allem mit Blick auf mögliche Beeinträchtigungen der Gedächtnisfunktionen untersucht.
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Bedingt durch relativ kleine und ausgewählte Stichproben, zum Teil unzureichende Konzepte der Diabetestherapie sowie methodische Probleme lassen sich aus den vorliegenden Studien zur kognitiven Entwicklung nur begrenzt allgemeingültige Aussagen ableiten. Es zeichnet sich ab, dass Kinder, die in den ersten sechs Lebensjahren an Diabetes erkrankten, gegenüber Kindern mit späterer Manifestation ein erhöhtes Risiko für Entwicklungsverzögerungen, klinisch bedeutsame kognitive Beeinträchtigungen, Wiederholung von Schulklassen und Anomalien im EEG aufweisen. Bei älteren Kindern und Erwachsenen lässt sich aus den empirischen Daten kein entsprechend konsistentes Bild ableiten. Einige Studien können keine diabetesspezifischen kognitiven Beeinträchtigungen belegen, andere verweisen auf Defizite bei einzelnen Aufgaben in komplexen Gedächtnistests und bei der Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung. Aktuelle Reviews zeigen, dass einzelne schwere Hypoglykämien keine systematischen Einschränkungen kognitiver Leistungen nach sich ziehen. ! Einzelne schwere Hypoglykämien haben bei älteren Kindern keinen anhaltenden Einfluss auf die geistige Leistungsfähigkeit.
Dagegen findet sich zunehmend Evidenz dafür, dass eine andauernde Hyperglykämie in systematischer Beziehung zu einem Verlust an intellektueller Leistungsfähigkeit steht. Dieser Zusammenhang ist jedoch gegenüber den Einflüssen durch den sozioökonomischen Status der Familien und ggf. Verhaltensauffälligkeiten der Kinder relativ gering. ! Chronische Hyperglykämie erhöht das Risiko intellektueller Beeinträchtigungen.
Abgesehen von den genannten Risikokonstellationen unterscheidet sich die Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit Diabetes allgemein in ihren konkreten schulischen Leistungen und den Schulabschlüssen nicht systematisch von stoffwechselgesunden Gleichaltrigen. Eine deutsche Studie weist sogar auf eine verstärkte Leistungsorientierung und Leistungsbereitschaft bei Jugendlichen mit Diabetes und ihren Eltern hin. Zusammenfassung Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes sind intellektuell ebenso leistungsfähig wie stoffwechselgesunde Gleichaltrige. Die wechselseitige Beeinflussung von schlechter Stoffwechseleinstellung und kognitiven Defiziten stellt jedoch eine Risikokonstellation dar.
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Kapitel 17 · Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung
Psychosoziale Einflüsse auf die Qualität der Stoffwechseleinstellung
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Sozioökonomische Bedingungen, psychosoziale Belastungen, Familienstruktur, Erziehungsstile und individuelle Charakteristika der Kinder und Jugendlichen beeinflussen den Verlauf und den Erfolg der Diabetestherapie.
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Die Beziehung zwischen psychosozialen Rahmenbedingungen und der Qualität der Stoffwechseleinstellung von Kindern und Jugendlichen mit Diabetes ist wechselseitig und komplex: 5 Der Blutglukosespiegel kann direkt durch neuroendokrine und physiologische Effekte beeinflusst werden, die sich als Folge von akutem oder anhaltendem psychischen Stress ergeben. 5 Ungünstige psychosoziale Voraussetzungen stehen einer fachgerechten Therapie entgegenstehen. 5 Erfolglose Therapieversuche, Ängste vor akuten und langfristigen Komplikationen und Einschränkungen in der täglichen Lebensführung können zu Überforderung bei Kindern und Eltern führen. 5 Bereits bestehende psychische Störungen können durch seelische Dauerbelastung, Misserfolge oder akute Komplikationen des Diabetes verstärkt werden.
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17.3.1 Psychischer Stress
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)) Psychischer Stress kann die Stoffwechseleinstellung über verschiedene neuroendokrine Mechanismen beeinflussen, bei denen es als Teil des allgemeinen Adaptationssyndroms zur Freisetzung von Katecholaminen, ACTH (adrenokortikotropines Hormon) und Kortikoiden kommt.
Seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts werden signifikante Beziehungen zwischen akutem psychischem Stress, hormonellen Reaktionen und metabolischen Parametern bei Diabetes nachgewiesen. Daneben zeigen sich wiederholt signifikante Korrelationen zwischen belastenden Lebensereignissen und unbefriedigenden Stoffwechseleinstellungen bei Kindern und Jugendlichen mit Diabetes. Bei experimentell induziertem Stress wird auch deutlich, dass dessen Auswirkungen auf den Blutglukosespiegel intra- und interindividuell stark variieren.
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Diese Daten decken sich mit den Erfahrungen vieler diabetologisch tätiger Pädiater und Beobachtungen von Eltern. Trotz sorgfältiger Diabetestherapie werden bei Kindern mit Diabetes im Alltag immer wieder Blutglukoseanstiege beobachtet, die in direkter Beziehung zu belastenden Alltagsereignissen zu stehen scheinen. Keinesfalls müssen es immer die so genannten kritischen Lebensereignisse sein, die den Blutglukosespiegel ansteigen lassen. Wenig bedeutsame, für Kinder aber aufregende Erlebnisse und wichtige Aufgaben können zu vergleichbaren Effekten führen. ! Die Beratung von Eltern und Kindern über den Einfluss von Stress auf die Stoffwechseleinstellung erfordert besondere Sensibilität. Viele vermeintlich stressbedingte Stoffwechselschwankungen sind bei genauer Betrachtung durch unbewusste oder nicht eingestandene Therapiefehler zu erklären. Eine vorschnelle Erklärung dieser Schwankungen durch Stress kann so dazu beitragen, dass eine unzureichende Therapie aufrechterhalten wird. Allerdings gibt es auch einen direkten Einfluss von psychischem Stress auf die Stoffwechselsituation. Eltern und Kinder erleben es als ausgesprochen kränkend, wenn ihnen bei nachvollziehbar stressbedingten Stoffwechselschwankungen scheinbar leichtfertig Therapiefehler unterstellt werden.
Einen Sonderfall stellen plötzliche Hypoglykämien dar, die Kinder und Jugendliche mit Stress oder Aufregung bei Klassenarbeiten verbinden. Da sich die Symptome allgemeiner Erregung (Zittern, Herzklopfen, Schweißausbruch) weitgehend mit den Anzeichen einer Hypoglykämie decken, fällt es insbesondere Kindern schwer, zwischen beiden Zuständen zu differenzieren. Bei genauer Nachfrage stellt sich meist heraus, dass während der Klassenarbeit keine Blutzuckerbestimmung zur Bestätigung durchgeführt wurde. Zusammenfassung Symptome einer Hypoglykämie und körperliche Reaktionen bei Aufregung sind sehr ähnlich. Daher berichten Kinder häufig, dass ihr Blutglukosespiegel unter Stress »absinkt«.
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Kapitel 17 · Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung
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17.3.2 Individuelle Risikokonstellationen bei Kindern und Jugendlichen
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In vielen Querschnittsstudien werden Merkmale von Kindern und vor allem von Jugendlichen mit Diabetes identifiziert, die in systematischer Beziehung zu einer unbefriedigenden Stoffwechseleinstellung und häufigen stationären Aufnahmen stehen. Sie erschweren die eigenverantwortliche Therapie:
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Kognitive Defizite oder geistige Behinderung Erhebliche Schul- und Lernschwierigkeiten Geringes Selbstvertrauen, negatives Selbstbild Geringe soziale Kompetenz Schwerwiegende Autonomiekonflikte Vermeidende dysfunktionale Bewältigungsstrategien, teilweise verbunden mit selbstschädigendem Verhalten Verhaltensauffälligkeiten (geringe Affekt- und Impulskontrolle, aggressivdestruktives oder depressiv-regressives Handlungsrepertoire) Essstörungen Substanzabhängigkeit Delinquenz
Zwischen verschiedenen Aspekten des Selbstbildes und der Qualität der Stoffwechselkontrolle werden Zusammenhänge beschrieben. Schlecht eingestellte Jugendliche weisen im Mittel ein eher negatives Selbstbild, ein geringes Maß an Selbstvertrauen und Selbstsicherheit auf, während gut eingestellte Jugendliche ein positives Selbstkonzept zeigen. Im Hinblick auf die Diabetestherapie wird bei Jugendlichen mit guten Stoffwechselwerten eine eher intern orientierte Kontrollüberzeugung und ein stärker ausgeprägtes Gefühl der Selbstwirksamkeit (»self-efficacy«) beobachtet. Jugendliche, die überzeugt sind, dass ihre Stoffwechseleinstellung vor allem von ihrem eigenen Verhalten und nicht von unberechenbaren Zufällen abhängt und die sich gleichzeitig zutrauen, ihre Krankheit gut zu behandeln, haben demnach die größten Chancen, dieses Ziel auch zu erreichen. Besonders schwierig ist die Situation bei gleichzeitigem Auftreten von Diabetes und klinischen oder subklinischen Essstörungen (Anorexia nervosa, Bulimia nervosa, »Binge eating disorder«). Die betroffenen Patienten, mehrheitlich Mädchen und junge Frauen, ersetzen häufig die »klassischen« Gewichtskontrolltechniken wie Fasten, Erbrechen und exzessive Bewegung durch diabetesspezifische Praktiken. Insulinunterdosierung, das sog. »insulin purging«, wird dabei
17.3 · Psychosoziale Einflüsse
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gezielt eingesetzt, um einen Energieverlust durch Glukosurie zu erreichen. Bei Essstörungen ist die Stoffwechselsituation meist durch große, unsystematische Schwankungen und einen entsprechend unbefriedigenden HbA1c-Wert gekennzeichnet. Jugendliche mit einer affektiven Störung weisen ebenfalls deutlich schlechtere Stoffwechselwerte auf als seelisch ausgeglichene Jugendliche mit Diabetes. Dazu zählen auch Jugendliche, deren destruktive Ausprägung der Krankheitsbewältigung sich in selbstschädigendem Verhalten, z. B. Auslassen von Insulininjektionen, seltener auch Insulinüberdosierung, zeigt. Zusammenfassung Für die klinische Arbeit sind diese Untersuchungen relevant, weil sie auf Risikogruppen hinweisen, die einer besonderen Aufmerksamkeit und evtl. frühzeitiger psychosozialer Hilfen bedürfen. Weiterhin sind ein positives Selbstbild und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit (»self-efficacy«) für das Leben mit Diabetes von großer Bedeutung. Kinder und Jugendliche mit Diabetes können in diesem Sinne vor allem durch ein entsprechendes Training, individuell zugeschnittene Therapiekonzepte und erreichbare Therapieziele gefördert werden.
17.3.3 Familiäre und gesellschaftliche Risikokonstellationen )) Je jünger ein Kind an Diabetes erkrankt, desto weniger kann es selbst zu seiner Behandlung beitragen und desto mehr ist es von der kompetenten und verlässlichen Betreuung durch seine Familie abhängig.
Wenn die Familie bereits durch andere äußere oder innere Umstände belastet ist, reicht die verbleibende Kapazität oft nicht aus, um den Bedürfnissen eines Kindes mit Diabetes gewachsen zu sein. Zu diesen Risiken zählen: 5 Zerrüttete Familie 5 Fehlen eines Elternteils durch Tod 5 Einelternfamilie 5 Emotional belastetes Familienklima 5 Geringe familiäre Integration und unzureichende Unterstützung des Kindes 5 Überbehütendes ängstliches Erziehungsverhalten 5 Dysfunktionale Krankheitsbewältigung der Eltern 5 Psychische Erkrankung eines Elternteils 5 »Psychosomatische Familie«
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Kapitel 17 · Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung
Hinzu kommen sozioökonomische Bedingungen: 5 niedriger sozioökonomischer Status 5 Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minorität Diese familiären und sozioökonomischen Risikokonstellationen sind nahezu deckungsgleich mit denen, die bei Kindern allgemein mit einem erhöhten Risiko für Verhaltensstörungen verbunden sind. Familienklima und Erziehungsstil Große Bedeutung für eine erfolgreiche Diabetesbehandlung wird dem Familienklima und dem diabetesspezifischen Erziehungsverhalten beigemessen. Als günstig wird ein kohäsives und wenig konfliktbelastetes Familienklima angesehen, das sich durch einen starken Zusammenhalt aller Familienmitglieder, eine klare Organisation und Struktur der Verantwortlichkeit zwischen den Familienmitgliedern, eine aktive Freizeitgestaltung, die Ermutigung des Kindes zu altersgemäßer Unabhängigkeit und Selbstständigkeit sowie durch offene Affektabfuhr auszeichnet. Eine positive Konstellation zeigt sich, wenn sich Eltern in der ersten Phase nach Diabetesmanifestation beschützend und ausgesprochen hilfreich verhalten und im Lauf der Zeit ihre Unterstützung schrittweise zugunsten einer maßvollen Selbstständigkeit ihres Kindes abbauen. Da die Mütter in der Regel hauptsächlich für die Betreuung des Kindes mit Diabetes verantwortlich sind, kommt deren Einstellungen zum Diabetes und ihren Bewältigungsmechanismen besondere Bedeutung zu. Als ungünstig erwiesen sich überängstliche, übermäßig behütende und zu nachsichtige bzw. überkontrollierende, ablehnende oder desinteressiert vernachlässigende mütterliche Haltungen. Ein durch Angst geprägter übermäßig kontrollierender perfektionistischer Erziehungsstil (»Overprotection«) führt zwar oft zu einer guten Stoffwechseleinstellung, er behindert aber gleichzeitig die soziale Entwicklung und Integration des Kindes. Durch Schuldgefühle motivierte überbehütende oder extrem nachsichtige Haltungen konkurrieren mit einer konsequenten Diabetestherapie und beeinträchtigen die Bewältigung altersgemäßer Entwicklungsaufgaben. Beide Erziehungsstile werden mit resignativen, rebellierenden oder verleugnenden Verhaltensmustern von Jugendlichen mit Diabetes in Verbindung gebracht . Zusammenfassung Ein extremes Engagement der Eltern für den Diabetes, das keine altersgemäße Autonomie des Kindes zulässt, birgt das Risiko dramatischer Lösungsversuche im Jugendalter, die auf dem zentralen Schauplatz des Familienlebens, dem Diabetes, ausgelebt werden. Rebellion gegen die Krankheit mit Vernachlässigung der Therapie bis zur Provokation akuter Stoffwechselkrisen können die Folge sein. 6
17.4 · Psychische Störungen
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Im Gegensatz zu diesen oft neurotisch geprägten Erziehungsstilen wird eine Erziehungshaltung als erstrebenswert angesehen, die durch Toleranz, Flexibilität und Konsequenz in der Diabetesbehandlung gekennzeichnet ist. Obwohl die empirischen Hinweise auf kritische Familienkonstellationen aus korrelativen Studien stammen, die wenig konkrete Aussagen über das komplexe Ineinandergreifen verschiedenster Variablen bei der Diabetesbewältigung von Kindern, Jugendlichen und Eltern erlauben, ist ihre Bedeutung für die Langzeitbetreuung groß. Sie betonen die Notwendigkeit einer möglichst frühzeitigen Diagnose und individueller psychosozialer Fürsorge und Hilfe für Familien, die durch Konflikte belastet und in ihrer Funktion als Gemeinschaft gestört sind oder deren Stabilität bedroht ist. Bei akuten Krisen sollten psychosoziale Hilfen umgehend und unkompliziert angeboten werden.
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Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen mit Diabetes
)) Derzeit wird noch kontrovers diskutiert, ob der Typ-1-Diabetes mit einem erhöhten Risiko für psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen verbunden ist. Vor allem bei weiblichen Jugendlichen zeichnet sich jedoch eine erhöhte Rate an milden affektiven Störungen und subklinischen Essstörungen ab.
Kurzfristige emotionale Belastungen und Anpassungsstörungen nach akuten Krisen, z. B. der Manifestation oder nach einer schweren Hypoglykämie, müssen bei der Frage nach der Prävalenz seelischer Erkrankungen von klinisch relevanten überdauernden psychischen Störungen unterschieden werden. Der Einsatz standardisierter psychologischer Messinstrumente und Diagnosekriterien bei Patienten mit Diabetes ist ebenfalls kritisch zu bewerten. Repräsentative deutsche und internationale Studien konnten keine signifikant erhöhten Raten klinisch relevanter psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen mit Diabetes feststellen. Bei Erwachsenen mit Typ-1-Diabetes, insbesondere bei Vorliegen einschränkender Folgeerkrankungen, findet sich dagegen eine zwei- bis dreifach erhöhte Rate affektiver Störungen. Die aktuelle Datenlage zu affektiven Störungen bei Jugendlichen mit Diabetes ist ausgesprochen heterogen und wird vor allem durch Therapieprinzipien, ökonomische Belastungen durch die Therapie und verschiedene soziale Konsequenzen der Stoffwechselstörung bestimmt. In einer sorgfältig konzipierten
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Kapitel 17 · Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung
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repräsentativen Studie in Deutschland konnten Blanz et al. (1993) keine erhöhte Rate psychiatrischer Störungen bei Jugendlichen mit Diabetes gegenüber einer Kontrollgruppe feststellen. Sie berichten jedoch von einem erhöhten Risiko für milde subklinische psychische Störungen bei 17- bis 19-jährigen Jugendlichen mit Diabetes (affektive Störungen, Essstörungen). Die betroffenen Jugendlichen zeichnen sich durch ein geringes Selbstwertgefühl, eine Misserfolgserwartung, sozialen Rückzug, verringerten Antrieb, psychosomatische Symptome und resignative Haltung gegenüber der eigenen Zukunft aus. Bei den Angststörungen spielen neben Ängsten vor Folgeerkrankungen auch neurotisch geprägte Ängste vor schweren Hypoglykämien eine Rolle. Sie können sowohl Jugendliche betreffen, die vor allem einen Kontrollverlust in der Öffentlichkeit fürchten, wie auch Eltern von Kindern mit Diabetes. Überzogene Ängste können einerseits eine ständige gezielte Unterdosierung des Insulins und damit eine unzureichende Stoffwechseleinstellung zur Folge haben; andererseits kommt es zu extrem häufigen Blutzuckerkontrollen, die besonders ängstliche Eltern auch mehrfach in der Nacht bei ihren Kindern durchführen. Bei der Bewertung dieser Ängste bleibt jedoch die Frage, welche Ausprägung bei Diabetes sinnvoll und welche übertrieben ist.
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! Die Grenzen zwischen einer begründeten und motivierenden Sorge und einer
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Angststörung oder einer depressiven Verstimmung sind fließend.
Zusammenfassung Milde affektive Störungen sind bei Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes häufiger als bei Stoffwechselgesunden. Sie sind vor allem im Zusammenhang mit Misserfolgen in der Therapie und realen Risiken durch Hypoglykämien und Folgeerkrankungen zu sehen. Frühzeitige Diagnose und psychotherapeutische Hilfen können einer Verschärfung der Problematik vorbeugen.
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17.4.1 Essstörungen )) Eine Reihe von Studien weisen für weibliche Jugendliche und junge Frauen mit Typ-1Diabetes ein erhöhtes Risiko für eine Essstörung nach, vor allem für eine diabetesspezifische Form.
Kontrollierte Studien zur Prävalenz von klinisch relevanten Essstörungen bei Jugendlichen mit Diabetes zeigen, dass eine Komorbidität von Anorexia nervosa und Diabetes mellitus extrem selten ist. Dagegen zeichnet sich ab, dass die
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Prävalenz so genannter nicht näher bezeichneter Essstörungen nach den Kriterien des DSM-IV und deren subklinischen Varianten bei adoleszenten Mädchen mit Typ-1-Diabetes gegenüber Stoffwechselgesunden etwa zweifach erhöht ist. Dabei kommt dem »Binge Eating Disorder (BED)« (Fressattacken) und in Folge dem sog. »insulin-purging« (heimliche und gezielte Unterdosierung des Insulins) eine besondere Bedeutung zu. Die Stoffwechselsituation der Betroffenen ist entsprechend unbefriedigend und das Risiko, frühzeitig Folgeerkrankungen zu entwickeln, deutlich erhöht. Den jungen Frauen ist die eigene Problematik bewusst, sie leiden unter Schuldgefühlen, ihr Selbstwertgefühl ist gering, und häufig kommt es zu affektiven Störungen. Für die Langzeitbetreuung von weiblichen Jugendlichen wird deshalb eine kontinuierliche Aufmerksamkeit empfohlen. Sie sollte sich beziehen auf: 5 Gewichtsschwankungen, 5 Unzufriedenheit mit der Figur, 5 erhöhte HbA1c-Werte mit unerklärlichen Schwankungen des Stoffwechsels, 5 Verheimlichen der Stoffwechselwerte (unrealistische oder fehlende Aufzeichnungen) und 5 geringes Selbstwertgefühl. Sachliche Nachfragen ohne negative Bewertung können Schuldgefühle bei dieser diabetesspezifischen Form der Essstörung abbauen und Jugendliche für weitere Hilfen zugänglich machen. Einige Autoren diskutieren, ob in der Risikogruppe ein regelmäßiges psychologisches Screening auf eine Essstörung durchgeführt werden sollte. ! Hinweisen auf subklinische Essstörungen sollte verständnisvoll und nicht wertend nachgegangen und den Betroffenen frühzeitig Hilfen angeboten werden, um negativen Folgen für die Stoffwechselsituation, die gesundheitliche Prognose und die seelische Entwicklung allgemein vorzubeugen.
Die Komorbidität von zwei schweren, sich gegenseitig verstärkenden Krankheiten wie Diabetes und klinisch relevante Essstörung (Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa) stellt eine vitale Gefährdung dar. Hier kommt es gegenüber betroffenen jungen Frauen ohne Diabetes nochmals zu einem signifikanten Anstieg der Mortalität. Betroffene Mädchen und Frauen müssen umgehend in eine kompetente, gut abgestimmte kombinierte Behandlung durch ein psychiatrisch-psychotherapeutisches und ein diabetologisches Team weitergeleitet werden.
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Kapitel 17 · Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung
Zusammenfassung Das seltene Zusammentreffen von zwei schweren Krankheiten, Diabetes und Anorexie bzw. Bulimie, stellt eine vitale Bedrohung dar, die eine abgestimmte diabetologische und psychotherapeutische Behandlung erfordert.
17.4.2 Selbstschädigendes Verhalten Bereits Campagnoli beschrieb 1979 ein »thanatophiles Verhalten« (unbewusste Suizidversuche durch grobe Missachtung therapeutischer Maßnahmen) als eine bedrohliche Form neurotischer Fehlentwicklung bei Kindern und Jugendlichen mit Diabetes. In der Regel geht ein solches selbstschädigendes Verhalten mit schweren psychosozialen Störungen einher, entweder bedingt durch eine individuelle Psychopathologie, eine dysfunktionale Familienstruktur oder durch schwerste Akzeptanzprobleme der gesamten Familie. Entsprechend zeigt sich ein enger Zusammenhang zwischen frühzeitiger Mortalität bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Diabetes und sozialer Deprivation. Schwere, scheinbar unerklärliche Stoffwechselkrisen, die mit ausgeprägten Hypo- oder auch Hyperglykämien einhergehen und wiederholte stationäre Aufnahmen erfordern, müssen daher sehr ernst genommen werden. Bei diesen, insgesamt seltenen Fällen, kann es sich um dramatische Versuche von Kindern oder Jugendlichen handeln, sich einer unerträglichen häuslichen Situation durch lebensgefährliche Manipulationen der Diabetestherapie zu entziehen (z. B. bei Gewalt oder sexuellem Missbrauch). Schwere unerklärliche Hypoglykämien oder ein angeblich drastisch sinkender Insulinbedarf bei länger bestehendem Diabetes erfordern in jedem Fall ein umgehendes sensibles Handeln und eine konsequente Aufklärung der Hintergründe. Es besteht fast immer eine vitale Gefährdung für die Kinder und Jugendlichen mit Diabetes, die eine koordinierte soziale, psychotherapeutische und diabetologische Hilfe benötigen. Zusammenfassung Selbstschädigendes Verhalten durch Manipulation der Diabetestherapie stellt eine vitale Bedrohung dar, das auf eine schwere psychosoziale Störung des Kindes oder des gesamten Familiensystems hinweist.
17.5 · Psychosoziale Unterstützung
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Psychosoziale Unterstützung für Kinder, Jugendliche und ihre Eltern
Eine psychosoziale Beratung sollte immer auch Teil der ärztlichen Gespräche während der ambulanten Langzeitbehandlung sein. Psychosoziale Hilfen zur praktischen Umsetzung der Therapie zählen zum Aufgabengebiet der Diabetesberaterinnen und der von ihnen durchgeführten Schulungen. Individuelle Beratungen durch Diplom-Psychologen konzentrieren sich neben der psychologischen Diagnostik vor allem auf Akzeptanzprobleme, Ängste, Konflikte in Familien mit einem an Diabetes erkrankten Kind und diabetesspezifische Erziehungsfragen. Um den besonderen Bedürfnissen von Patienten mit Diabetes gerecht zu werden, wurde von der Deutschen Diabetes Gesellschaft eine Zusatzqualifikation zum »Fachpsychologen Diabetes DDG« konzipiert. Die Anzahl der DiplomPsychologen an Kinderkliniken, die diese Ausbildung absolviert haben, wächst kontinuierlich. Eine aktuelle Adressenliste findet sich auf der Homepage der Arbeitsgemeinschaft Psychologie und Verhaltensmedizin (DDG): www.diabetes-psychologie.de. Sozialarbeiter können bei sozialrechtlichen (z. B. Schwerbehindertenrecht, Pflegeversicherung) oder alltagspraktischen Fragestellungen (z. B. staatliche Unterstützungen für Familien) weiterhelfen. Darüber hinaus findet psychosoziale Unterstützung von Familien über verschiedene Gruppenangebote (z. B. Elternabende, geleitete Gesprächsgruppen und Selbsthilfegruppen) statt. Ein neues Feld der Information und psychosozialen Beratung stellen Foren im Internet dar, in denen sich Familien über die Bewältigung des Diabetes im Alltag austauschen können. Interessant ist derzeit z. B. ein Forum (www.diabetes-kids.de), das sich vor allem an Eltern von jüngeren Kindern mit Diabetes richtet. Die deutlichen Qualitätsunterschiede dieser Initiativen können es Eltern schwer machen, seriöse fachlich qualifizierte Informationen von anderen zu unterscheiden. ! Den Schwerpunkt der psychosozialen Hilfen für Familien stellen die Diabetesschulungen dar, die als integraler Bestandteil jeder Langzeitbehandlung angeboten werden.
Direkt nach der Diabetesmanifestation besteht bei vielen Eltern der Wunsch nach psychologischer Beratung. Häufige Themen sind dabei Schuldgefühle und Trauer der Eltern, Ängste vor Überforderung, irrationale Zukunftsängste, kindgemäße Erklärungen des Diabetes, Kommunikation zum Diabetes im sozialen Umfeld und Integration der Therapie in Kindergarten, Schule und Freizeit. Im ersten Kapitel des Elternbuches (Hürter u. Lange 2004) werden die häufigsten Fragen und Sorgen der Eltern ausführlich vorgestellt.
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Kapitel 17 · Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung
Eine schwere Hypoglykämie mit Bewusstlosigkeit und/oder zerebralem Krampfanfall wird von fast allen Eltern trotz vorangegangener guter Schulung traumatisch erlebt. Hilfen zur emotionalen Verarbeitung des Ereignisses, sachliche Informationen zum Gesundheitsrisiko durch ein einzelnes Ereignis, Abbau von Schuldgefühlen und Strategien zur Vermeidung weiterer schwerer Hypoglykämien können der Entwicklung einer Angststörung vor allem bei Müttern und auch langfristig riskanten Therapiekonzepten (z. B. Unterdosierung des Insulins) vorbeugen. Durch zunehmend verfeinerte Methoden können heute diabetische Folgeerkrankungen im Frühstadium bereits während der pädiatrischen Betreuung diagnostiziert werden. Für die Jugendlichen und ihre Eltern sind damit meist existenzielle Ängste verbunden. Verzweiflung, Resignation und Depression bis hin zu Suizidgedanken sind mögliche Reaktionen auf die gefürchtete, aber noch nicht erwartete Diagnose von Folgeerkrankungen. Aus psychologischer Sicht kann Jugendlichen in dieser Situation vor allem durch eine einfühlsame, ehrliche und nicht persönlich bewertende Aufklärung über das konkrete Ausmaß der festgestellten Schädigung geholfen werden. Drohungen sind dabei ebenso wenig sinnvoll wie bagatellisierende Darstellungen. Im Elternbuch sind in Kap. 9 psychologische Hilfen zur Bewältigung von Ängsten vor Folgeerkrankungen zusammengestellt. Sie konzentrieren sich auf sachliche Informationen zum zeitlichen Verlauf der Schädigungen, auf therapeutische Möglichkeiten und auf wissenschaftliche Fortschritte, die im Rückblick auf die vergangenen 30 Jahre besonders anschaulich werden. Weitere individuelle psychologische Beratungen können überforderten Müttern, speziell denen von sehr jungen Kindern mit Diabetes, angeboten werden. Eigene und von außen an sie herangetragene Ansprüche sowie die emotionale Belastung durch ständige Aufsichtspflicht und ggf. Widerstand des Kleinkindes gegen die Therapie übersteigen die Kräfte vieler Frauen. Durch Beratungen können sie darin unterstützt werden, die Hilfe von Dritten einzufordern und anzunehmen, um selbst Zeit zur Erholung und auch für die Partnerschaft zu finden. Großeltern sind zwar oft bereit, für ihre Enkel zu sorgen. Sie fürchten jedoch, Fehler in der Diabetestherapie zu machen, und ziehen sich darum zurück. Mit jungen Eltern und den Großeltern kann abgestimmt werden, wie die Betreuung des Kindes mit Diabetes gemeinsam vertrauensvoll und konfliktfrei gestaltet wird. Allen Beteiligten sollte dabei deutlich werden, dass eine gute Lebensqualität der Eltern eine wichtige Grundlage für das normale Aufwachsen eines jeden Kindes ist. Die altersentsprechende Selbstständigkeit von Kindern und Jugendlichen in der Diabetestherapie ist ein Thema, das immer wieder von Eltern angesprochen wird. Da Vorbilder durch andere Familien im direkten Umfeld kaum anzutreffen sind, wünschen sich Eltern Informationen darüber, welche Aufgaben Kin-
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der und Jugendliche in welchem Alter bei ihrer Therapie erfüllen können. Viele Konflikte in Familien ergeben sich durch unklare Regelungen darüber, wer für welche Aspekte der Therapie verantwortlich ist. Beratungsgespräche für Eltern und Jugendliche haben das Ziel, die Kommunikation zwischen beiden Gruppen zu verbessern und Verständnis für die Anliegen der jeweils anderen Seite zu entwickeln. Eltern sollen durch diese Beratungen unterstützt werden, die Rolle des Therapeuten ihres Kindes gegen die Rolle des wohlwollenden Tutors eines Jugendlichen auszutauschen. Wenn es durch den Diabetes zu Schwierigkeiten im Kindergarten oder in der Schule kommt, können sowohl Eltern als auch Schülern pragmatische Hilfen angeboten werden, um die Krankheit und die notwendige Therapie gegenüber Erziehern und Lehrern besser und selbstbewusst zu vermitteln. Häufig geht es darum, überzogene Ängste und unnötige Einschränkungen abzubauen oder Diskriminierungen entgegenzutreten. Im Schulungsbuch für Eltern sind in Kap. 10 entsprechende Anregungen für Eltern zusammengestellt. Die AGPD bietet auf ihrer Homepage www.diabetes-kinder.de Informationen für Lehrer an. Eine psychologisch besonders sensible Beratung ist die von Jugendlichen, bei denen ein Typ-2-Diabetes diagnostiziert wurde. Einerseits muss den Jugendlichen und ihren Familien die große gesundheitliche Bedrohung verdeutlicht werden, die nicht durch eindeutige Symptome spürbar ist. Andererseits müssen Therapeuten davon ausgehen, dass diese Patienten oft bereits seit Jahren Diskriminierungen und Schuldvorwürfen wegen ihres erhöhten Körpergewichtes ausgesetzt sind, die bereits vor der Diabetesmanifestation zu einer resignativen Haltung und depressiven Störung geführt haben können. Therapeuten, die solche negativen Bewertungen gegenüber adipösen Jugendlichen verdeckt oder sogar offen vertreten und sie durch eine fatalistische Haltung eher demotivieren als stärken, werden als »Gift« für diese spezielle Patientengruppe bezeichnet. 17.5.1 Psychotherapeutische Behandlung )) Im Gegensatz zur großen Zahl von Familien, die eine psychosoziale Beratung zur besseren Bewältigung des Diabetes wünschen, ist die Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit Diabetes, die eine psychotherapeutische Behandlung benötigt, relativ klein.
Daher finden sich nur wenige Publikationen über spezifische psychotherapeutische Verfahren für Kinder und Jugendliche mit Diabetes. Angesichts der Heterogenität der psychosozialen Belastungen der Betroffenen, ist eine individuelle, auf die aktuelle Problemkonstellation der Familie abgestimmte Beratung oder Behandlung standardisierten Konzepten überlegen. Das Spektrum der psycho-
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Kapitel 17 · Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung
therapeutischen Techniken reicht dabei von gruppenzentrierten Verfahren über familientherapeutische Ansätze bis hin zu Trainingsprogrammen zur Förderung sozialer Kompetenz oder verhaltensmedizinischen Konzepten speziell für Jugendliche mit unzureichender Stoffwechseleinstellung. Verbesserung des Selbstmanagements Verhaltensmedizinische Ansätze wurden mit dem Ziel entwickelt, die Therapiemitarbeit von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes zu verbessern und ihre Selbständigkeit und Selbstsicherheit zu fördern. Viele der Verfahren gehen von einem Gruppenansatz aus, in dem das Lernen am Modell, Rollenspiele und alltagsnahes Training zu den zentralen Elementen zählen. Die Diabetesschulungsprogramme, die in 7 Kap. 16 dargestellt sind, integrieren diese Elemente. Deren Wirksamkeit bezogen auf das Therapieverhalten wie auch auf die Lebensqualität im Alltag, wurde sowohl bei Kindern als auch bei Jugendlichen nachgewiesen. Die Förderung sozialer Kompetenz hat mit der Betonung des sog. Empowerment-Ansatzes in der Diabetestherapie eine besondere Bedeutung erlangt. Durch Erlernen und Üben von Problemlösefähigkeiten und Sozialtechniken zur Durchsetzung diabetesbezogener Ziele gegenüber Gleichaltrigen können die Stoffwechseleinstellung und auch die Lebensqualität von Jugendlichen mit Diabetes verbessert werden. Zusammenfassung Die Förderung von sozialer Kompetenz und Problemlösefähigkeiten sowie ein alltagsnahes Training verbessern das Selbstmanagement und damit auch die Qualität der Stoffwechseleinstellung.
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Hypoglykämieangst Das für Erwachsene von Cox und Mitarbeitern entwickelte standardisierte psychotherapeutische Konzept zur besseren Hypoglykämiewahrnehmung und zur Bewältigung von einschränkenden Ängsten vor Hypoglykämien kann auch für Jugendliche und Eltern jüngerer Kinder sinnvoll sein. Das Prinzip des Trainings besteht darin, die körperlichen, die emotionalen und die motorischen Symptome einer Hypoglykämie frühzeitig zu erkennen und individuell zu bewerten. Daran schließen sich Übungen zu verschiedenen Alltagssituationen an, in denen effektive Bewältigungsreaktionen entwickelt werden. Das Training zur Verminderung der Hypoglykämieangst setzt bei der Schwierigkeit an, dass Hypoglykämiezeichen schwer von allgemeinen Angstsymptomen zu unterscheiden sind. Diese Elemente sind integraler Bestandteil der strukturierten Schulungen für Kinder und Jugendliche (7 Kap. 16). Für Eltern wird im Kap. 6 des Elternbuchs das Thema Hypoglykämieangst vergleichbar ausführlich bearbeitet.
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Überzogene Ängste vor Hypoglykämien und entsprechende Vermeidungsreaktionen werden vor allem dadurch bestimmt, welche bedrohlichen Konsequenzen die Eltern und ihre Kinder gedanklich mit einer schweren Hypoglykämie verbinden bzw. durch ein Diabetesteam vermittelt bekommen. Psychotherapeutische Behandlungskonzepte greifen kognitive Ansätze aus der allgemeinen Angsttherapie auf. Darin wird die Entwicklung einer Angststörung gemeinsam mit dem Patienten anhand des klassischen Lernmodells erarbeitet und anschließend eine realistische Risikoeinschätzung vorgenommen. In einem weiteren Schritt werden die Hypoglykämiewahrnehmung und die Unterscheidung von anders begründeten Erregungszuständen trainiert. Über praktische Übungen, die von Entspannungstrainings begleitet werden, nähert sich der Patient dann sukzessiv im Sinne einer systematischen Desensibilisierung den angstbesetzten Situationen an, bis schließlich anfangs bedrohlich bewertete Situationen angemessen und ohne Panikattacke oder Überreaktion bewältigt werden können. Zusammenfassung Zur Behandlung von phobisch geprägter Hypoglykämieangst haben sich verhaltenstherapeutische Techniken bewährt, die durch diabetesspezifische Informationen über Symptome und Risiken schwerer Hypoglykämien ergänzt werden.
Essstörungen Während klinisch relevante Essstörungen gut diagnostizierbar sind, werden subklinische Essstörungen bei Typ-1-Diabetes, die häufig durch eine BED mit anschließend gezielter Insulinunterdosierung charakterisiert sind, oft über viele Jahre von den Patientinnen verheimlicht und nicht diagnostiziert. Die Folge sind erhöhte HbA1c-Werte und wiederholte erfolglose Versuche, die Stoffwechselschwankungen mit somatisch/technisch orientierten Konzepten, z. B. einer Pumpentherapie, aufzufangen. Bei typischen Anzeichen einer subklinischen Essstörung, sollte der Verdacht wertfrei angesprochen und ggf. psychotherapeutische Hilfen angeboten werden. Das Vorliegen einer klinisch relevanten Essstörung bei Jugendlichen erfordert eine koordinierte psychotherapeutische und diabetologische Behandlung. Dazu werden verschiedene kognitiv-verhaltenstherapeutisch orientierte Verfahren, aber auch familientherapeutische Ansätze diskutiert, die auch bei stoffwechselgesunden Patienten erfolgreich zum Einsatz kommen: 5 Im ersten Therapieschritt werden eine vorläufige Stabilisierung der Stoffwechsellage ohne den Anspruch einer normnahen Einstellung und ein regelmäßiges strukturiertes Essverhalten mit isokalorischer Nahrungsaufnahme angestrebt. Hinzu kommen Informationen über die Hunger- und Sättigungsregulation und die Folgen für die emotionale Stabilität.
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Kapitel 17 · Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung
5 Im zweiten Schritt geht es für die Patienten darum, die eigene Identität zu
entwickeln. Dazu zählen ein langfristig veränderter Umgang mit der eigenen Person, der Familie, dem Diabetes und den damit verbundenen Belastungen, eine sichere Wahrnehmung des eigenen Körpers und der eigenen Gefühle und die Fähigkeit zur Konflikt- und Stressbewältigung. Weiterhin werden die gestörte Autonomieentwicklung und die damit verbundenen Konflikte, Selbstwertprobleme und typischen Insuffizienzgefühle bearbeitet. In der Literatur finden sich Berichte sowohl über ambulante psychotherapeutische Therapien wie auch über langfristige stationäre Behandlungen in jugendpsychiatrischen Abteilungen oder verhaltenstherapeutischen Fachkliniken. Die Entscheidung für ein Therapiekonzept ist abhängig von der Dauer und dem Schweregrad der Essstörung sowie deren akuten Konsequenzen für die Diabeteseinstellung. Bei Jugendlichen und jungen Frauen mit Diabetes, die gleichzeitig schwerwiegende Essstörungen aufweisen, hat sich ein Konzept bewährt, bei dem die vital gefährdeten Patientinnen stationär in der jugendpsychiatrischen Abteilung eines Kinderkrankenhauses gemeinsam mit anderen essgestörten Jugendlichen betreut werden. Die Behandlung des Diabetes erfolgt während der psychotherapeutischen Betreuung parallel durch das Team der Diabetesstation derselben Klinik. ! Bei jugendlichen Patientinnen mit einer manifesten Essstörung und einem Typ-1-Diabetes ist eine koordinierte psychotherapeutische und diabetologische Behandlung unverzichtbar, um die wechselseitige Verstärkung der Gesundheitsrisiken aufzubrechen. Konzepte, die Psychoedukation mit systematischer Verhaltensmodifikation, kognitiven Ansätzen, Identitätsbildung und Stärkung des Selbstbewusstseins verbinden, haben sich als wirksam erwiesen.
Zur Prävention von Essstörungen bei pubertären Mädchen mit Typ-1-Diabetes werden spezifische Schulungsmaßnahmen durchgeführt, deren Erfolg in ersten Studien belegt ist. Den Teilnehmerinnen werden Grundlagen der Hunger- und Sättigungsregulation, Informationen zu einer ausgewogenen Ernährung und Möglichkeiten der Gewichtsregulation bei Typ-1-Diabetes vermittelt. Zusammenfassung
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Die Prävention von Essstörungen bei jungen Mädchen mit Typ-1-Diabetes ist im Kontext einer Ernährungsschulung möglich, die das Essverhalten sowie psychologische Aspekte der Gewichtsregulation bearbeitet.
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Selbstschädigendes Verhalten )) Unter selbstschädigendem Verhalten werden nicht nur weitreichende, durch gezielte Manipulationen hervorgerufene Therapiefehler zusammengefasst, sondern auch Diabetesverläufe, die aus anderen Gründen durch häufige schwere Hypoglykämien und/ oder Ketoazidosen gekennzeichnet sind.
In der Regel geht ein selbstschädigendes Verhalten mit schweren psychosozialen Störungen einher, die bei Kindern und Jugendlichen in enger Verbindung mit dysfunktionalen Familienstrukturen und/oder weiteren psychosozialen Risikokonstellationen stehen. Als ein Therapieansatz bei selbstschädigendem Verhalten werden familientherapeutische Konzepte favorisiert. Dabei konzentrieren sich einige Autoren auf die Beziehung zwischen familiären Konflikten, neuroendokrinen Stressreaktionen und Stoffwechselschwankungen bei Kindern aus sog. psychosomatischen Familien. Im Mittelpunkt entsprechender systemischer Therapiekonzepte steht die Frage, welche Bedeutung die Diabeteserkrankung des Kindes und insbesondere die häufigen Stoffwechselentgleisungen für jedes Familienmitglied allein und auch für die Familie als System haben. Vor allem geht es darum zu lernen, wie grundlegende Konflikte angesprochen und bewältigt werden können, ohne dabei den Diabetes des Kindes bewusst oder unbewusst als Ersatzschauplatz zu nutzen. Das optimistische Bild dieser systemischen Therapieansätze lässt sich jedoch nur sehr begrenzt auf die wachsende Zahl der Kinder und Jugendlichen übertragen, deren Situation durch langjährige massive psychosoziale Belastungen bis hin zur Verwahrlosung gekennzeichnet ist. Fallstudien zeigen, dass auf die individuelle Problematik zugeschnittene Langzeitbehandlungen, z. T. auch außerhalb der Familie im Rahmen des KJHG erforderlich sind, um die Situation der Jugendlichen zu stabilisieren. Langfristige Erfolge entsprechender Maßnahmen sind dazu bisher jedoch nicht dokumentiert. Zusammenfassung Verschiedene Ansätze zur psychosozialen Beratung von Kindern und Jugendlichen mit Diabetes sowie ihren Eltern können im Rahmen eines multiprofessionellen Betreuungskonzeptes gemeinsam mit den »klassischen Säulen« der Diabetestherapie zu einer altersgemäßen seelischen, körperlichen und sozialen Entwicklung der Kinder mit Diabetes beitragen. Der präventiven Beratung zur erfolgreichen Bewältigung des Alltags mit Diabetes kommt dabei eine deutlich größere Bedeutung zu als der psychotherapeutischen Behandlung. Für eine kleine, durch mehrfache psychosoziale Risiken belastete Gruppe von Kindern und Jugendlichen mit Diabetes sind psychotherapeutische und soziale Hilfen jedoch unverzichtbar.
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Kapitel 17 · Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung
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Grundlagen und Durchführung der Diabetesschulung )) Eine strukturierte und qualitätsgesicherte Diabetesschulung ist ein integraler und unverzichtbarer Bestandteil jeder Diabetestherapie. Sie soll den Patienten und ihren Familien ein sachkundiges Selbstmanagement der Therapie ermöglichen. In nationalen und internationalen Statements zur Qualitätssicherung und in evidenzbasierten Leitlinien wird dem durch Forderungen nach wiederholten altersgerechten Schulungsangeboten Rechnung getragen.
16.1
Relevanz und Ziele der Diabetesschulung
Die tägliche Diabetestherapie erfordert neben theoretischen Kenntnissen vor allem handlungsrelevantes Wissen und praktische Fertigkeiten. Außerdem kommt den subjektiven Einschätzungen (sog. »health beliefs«), die Betroffene mit der Krankheit, den daraus folgenden Risiken und den Erfolgsaussichten der Therapie verbinden, eine wichtige Rolle zu. Eng damit verbunden ist die emotionale und kognitive Akzeptanz des Diabetes und der notwendigen Behandlungsmaßnahmen. Orientiert an dem seit den 1980er Jahren favorisierten »Empowerment-Ansatz« verfolgt die Diabetesschulung heute zwei zentrale Ziele: 1. Patienten alltagsorientiert über ihre Krankheit zu informieren; 2. Patienten darin zu unterstützen, vor dem Hintergrund eigener Lebensziele und Lebensstile individuelle Therapieziele und -konzepte zu formulieren und diese eigenverantwortlich umzusetzen. Übertragen auf die Pädiatrie bedeutet dies, dass eine Therapie nicht vorgeschrieben, sondern nur gemeinsam mit dem Kind und seiner Familien erarbeitet und auf dessen Lebenssituation mit Diabetes zugeschnitten werden kann. Entsprechend sind Schulungsformen effizient, die eine Förderung des Selbstmanagements der Kinder und Jugendlichen und in besonderem Maße ihrer Eltern zum Ziel haben. Kinder und Jugendliche benötigen spezifische didaktisch und psychologisch fundierte Schulungsangebote, die sie altersgemäß unterstützen, ihr Diabeteswissen im Alltag kompetent anzuwenden und mit einer normalen seelischen Entwicklung zu verbinden. Schulungen für Eltern von Kindern mit Typ-1-
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Kapitel 16 · Grundlagen und Durchführung der Diabetesschulung
Diabetes müssen nicht nur die notwendigen Kenntnisse zur Umsetzung einer intensivierten Insulintherapie vermitteln, sie müssen Eltern auch darin unterstützen, ihr Kind trotz chronischer Krankheit möglichst normal und unbelastet aufwachsen zu lassen. Schulungsangebote für Erwachsene mit Typ-1-Diabetes sind dazu nicht geeignet. Zusammenfassung Ziele der Diabetesschulung: alltagsrelevante Information, Hilfen zur emotionalen und kognitiven Krankheitsakzeptanz und Unterstützung des Selbstmanagements in der Therapie. Mütter und Väter sollen lernen, wie sie die Rolle als Therapeuten ihres Kindes mit ihrer üblichen Elternrolle verbinden können.
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16.1.1 Gliederung der Diabetesschulung
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Ebenso, wie die somatisch orientierte Behandlung des Diabetes lebenslang überdacht und an Entwicklungsschritte angepasst werden muss, ist auch die Diabetesschulung ein dynamischer Prozess. Das Spektrum der Schulungsangebote wird zum einen durch den Entwicklungsstand und die Selbstständigkeit des Kindes oder Jugendlichen mit Diabetes bestimmt, zum anderen durch die Diabetesdauer. Wünschenswert sind unterschiedliche Schulungsangebote (Struktur, Inhalte, didaktisches Konzept) für: 5 Vorschulkinder, 5 Grundschulkinder, 5 Jugendliche in der Pubertät und 5 Adoleszenten. 5 Eltern benötigen differenzierte Schulungsangebote, die ihre jeweiligen Erziehungsaufgaben berücksichtigen.
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Dem Initialgespräch bzw. der Diagnoseröffnung als erstem Schulungsschritt nach der Manifestation, in dem wesentliche Weichen für den zukünftigen Umgang einer Familie mit der Stoffwechselstörung gestellt werden, folgt eine umfassende – in Deutschland meist stationäre – Initialschulung von Eltern und Kind. Daran schließt sich eine kontinuierliche ambulante Langzeitbetreuung an, in die individuelle, an aktuellen Fragen orientierte Folgeschulungen integriert sind. Zusammenfassung Initialgespräch, Initialschulung und wiederholte Folgeschulungen sind integrale Bestandteile der Langzeitbehandlung. Sie orientieren sich an der Diabetesdauer und dem Entwicklungsstand des Kindes oder Jugendlichen und den Erziehungsaufgaben der Eltern.
16.2 · Psychologische und didaktische Grundlagen
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16.1.2 Strukturelle Rahmenbedingungen Die Schulung ist ein integraler Bestandteil der stationären und ambulanten Langzeitbehandlung und sollte von einem pädiatrisch-diabetologischen Team durchgeführt werden. Die strukturellen Qualitätskriterien der Deutschen Diabetes-Gesellschaft (2006) zur Anerkennung einer Behandlungseinrichtung für Kinder und Jugendliche (Basisanerkennung Stufe 1) finden sich im Wesentlichen auch in den neuesten Empfehlungen des Koordinierungsausschusses zu den Disease-Management-Programmen gemäß §137f Abs. 2 Satz 2 SGB V. Zentrale Anforderungen betreffen die Zusammensetzung des Teams (Pädiater mit Anerkennung als Diabetologe DDG, ein Diabetesberater DDG und ein Diätassistent). Zusätzlich wird die Einbindung eines Diplom-Psychologen und eines Sozialarbeiters gefordert. Angemessene Räumlichkeiten zur individuellen Beratung und für Gruppenangebote sollten ebenso gegeben sein wie evaluierte und vom Bundesversicherungsamt akkreditierte Schulungsprogramme für Kinder, Jugendliche und Eltern (s. Literatur) mit entsprechenden Lern- und Übungsmedien. 16.2
Entwicklungspsychologische und didaktische Grundlagen
)) «Kinder denken nicht weniger als Erwachsene, sie denken anders.« Mit dieser These hat der Genfer Erkenntnistheoretiker und Philosoph Jean Piaget (1896–1980) seine wegweisende entwicklungspsychologische Theorie der geistigen Entwicklung umrissen. Die wichtigsten Entwicklungsphasen werden im Folgenden mit Blick auf die Diabetestherapie charakterisiert.
16.2.1 Säuglinge und Kleinkinder Säuglinge und Kleinkinder sind ihrem Diabetes passiv ausgeliefert; sie können weder die Krankheit noch die Therapie verstehen. Im ersten Lebensjahr verbringen Kinder einen großen Teil der wachen Zeit mit der Nahrungsaufnahme und dem engen körperlichen Kontakt zur Mutter. Ein Gefühl der Geborgenheit und sicheren Bindung entsteht, das jedoch durch mütterliche Unsicherheit und Stress empfindlich beeinträchtigt werden kann. Wenn ein Kind bereits in dieser Lebensphase an Diabetes erkrankt, muss es ein therapeutisches Ziel sein, Mütter und Väter so weit wie möglich zu entlasten und einen gelassenen Umgang mit dem Kind zu fördern. Daher sollte die Nahrungsaufnahme durch den Appetit des Kindes bestimmt und die Insulindosis
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Kapitel 16 · Grundlagen und Durchführung der Diabetesschulung
daran flexibel angepasst werden können. Obwohl dazu nur wenige systematische Untersuchungen vorliegen, zeichnen sich gerade in dieser Altersgruppe psychologische Vorteile einer Insulinpumpe gegenüber mehrfachen Injektionen ab. Je gelassener, angstfreier und selbstverständlicher Eltern die Therapie bei sehr jungen Kindern durchführen, umso weniger werden diese durch die für sie unverständlichen und schmerzhaften Injektionen und Blutglukosebestimmungen verunsichert und in ihrer Entwicklung beeinträchtigt. Kleinkinder beginnen schrittweise sich als eigenständige Person zu verstehen und eigene Bedürfnisse zu realisieren. Sie erkunden Möglichkeiten, wie eigene Wünsche allein – oder mit Hilfe anderer – erfüllt werden können. »Selber machen« gehört zu ihrem ständigen Wortschatz, ebenso wie Trotz, wenn ein angestrebtes Ziel nicht erreicht wird. Intensiver als in jeder anderen Lebensphase erweitern Kleinkinder ihr Wissen darüber, wie die Dinge der Welt beschaffen sind und nach welchen Regeln diese – einschließlich der Erwachsenen – funktionieren. Verlässliche Routinen und einfache konkrete Regeln geben Kindern in dieser Phase die notwendige Orientierung und Sicherheit. Eltern, die aus verständlichem Mitgefühl für ihr Kind mit Diabetes von gelernten Regeln abweichen, verunsichern es nur. Kleinkinder können die eigenen Gefühle noch nicht als solche verstehen und auch nicht bewusst steuern. Ein Kind ist einfach traurig oder aggressiv, ohne dass ihm die seelische Ursache als solche Situation jeweils bewusst ist. Entsprechend können die jüngsten Kinder mit Diabetes die Anzeichen einer Unterzuckerung noch nicht zuverlässig erkennen und um Hilfe bitten. Gerade hier sind sie auf die ständige Aufsicht Erwachsener angewiesen. Zusammenfassung
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Die Entlastung der Eltern eines Säuglings mit Diabetes, vor allem bei der Ernährung, ist aus psychologischer Sicht unverzichtbar, um eine stabile Eltern-KindBindung zu fördern. Kleinkinder entwickeln ein Verständnis der eigenen Person. Sie erforschen ständig die eigenen Möglichkeiten und die Regeln »der Welt«. Einfache Routinen und konkrete Regeln geben ihnen dabei nicht nur bei der Diabetesbehandlung die notwendige Sicherheit. Eltern sehr junger Kinder mit Diabetes bedürfen einer besonders verständnisvollen und sachkundigen Begleitung durch ein erfahrenes pädiatrisches Diabetesteam.
16.2.2 Kindergarten- und Vorschulkinder Kognitive Entwicklung Während Kleinkinder die Diabetesbehandlung ihren Eltern relativ passiv überlassen, beginnen etwas ältere Kinder, nach Erklärungen für die Behandlungsschritte, Verbote und Sorgen ihrer Eltern zu suchen. Die Spanne zwischen 3 und
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7 Jahren entspricht etwa dem Lebensabschnitt, den Piaget als Phase des präoperatorischen Denkens bezeichnete. Kinder dieser Entwicklungsphase erleben und verstehen die Welt im Wesentlichen durch konkrete eigene Erfahrungen oder unmittelbare Fakten. Sie erfassen ihre Umwelt so, wie sie ihnen gerade erscheint, und nicht so, wie sie logisch sein müsste. Abstrakte Beispiele, Analogien und für Erwachsene logische Erklärungen können ihnen deshalb wenig helfen, z. B. die unsichtbare Stoffwechselstörung in ihrem Körper und die Diabetestherapie besser zu verstehen. Die kindliche Logik wird an einigen typischen Phänomenen deutlich: 5 Bei Ursache-Wirkungs-Erklärungen stellen sie oft Beziehungen zwischen beliebigen zeitgleichen Ereignissen her. Ein Junge, der während eines Streits im Kindergarten eine Hypoglykämie bekommen hatte, war überzeugt, dass »ihm nur deshalb komisch war, weil ein anderer Junge ihm ein Auto weggenommen hatte«. 5 Magisches Denken wird deutlich, wenn Kinder glauben, Dinge durch intensives Wünschen verändern zu können. Viele korrekt über die Chronizität des Diabetes informierte Kinder sind sich sicher, dass die Krankheit nach der Entlassung aus der Klinik verschwinden wird. 5 Der kindliche Animismus, d. h. der Glaube an eine universelle Belebtheit der Lebensumwelt, zeigt sich, wenn Kinder meinen, »die Injektionsnadel wolle ihnen absichtlich Schmerzen zufügen«. Um sich zu orientieren, benötigen auch Kinder dieser Altersgruppe Regeln, die ihrer Auffassungsgabe angepasst sind. Entscheidungshilfen in Form eindeutiger »Schwarz-Weiß-Regeln« sind dazu am ehesten geeignet. Eine schwankende Haltung zwischen Nachgiebigkeit und Strenge, z. B. beim Thema Ernährung und Süßigkeiten, führt daher statt zu einer Entlastung eher zu Unsicherheit. Konsequentes elterliches Handeln und verlässlich festgelegte Abläufe bei der Diabetesbehandlung helfen Kindern, die noch unverständliche Krankheit einzuordnen. Das Zeitverständnis von Kindern orientiert sich an der aktuellen Gegenwart. Sie erleben die Zeit als Kontinuum eines »beständigen Jetzt«. Versuche, jüngeren Kindern z. B. den Nutzen von Stoffwechselkontrollen damit zu erklären, dass Folgeerkrankungen verhindert werden sollen, verfehlen ihr Ziel zwangsläufig. Sie können nur irrationale Ängste vor akuter Bedrohung hervorrufen. Die Vorstellungen, die Kinder über ihren Körper und Krankheiten haben, sind Ausgangspunkt für kindgemäße Diabeteserklärungen: Kindergarten- und Vorschulkinder kennen von ihrem Körperinnern zunächst einmal das, was sie hineingetan haben, also ihre Nahrung. Hinzu kommen die Elemente, die sie konkret wahrnehmen können, z. B. Knochen, die sie ertasten, oder Blut, das aus einer der üblichen Schürfwunden an ihrem Knie tropft. Das Herz ist vielen Kindern bekannt, es befindet sich »irgendwo im Bauch« und »ist wichtig«, ohne
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dass nähere Vorstellungen über dessen konkrete Funktion bestehen. Injektionen in den Bauch lehnen die Kinder auch deshalb vehement ab, weil sie fürchten, dieses wichtige Organ zu verletzen. Im Krankheitskonzept von 3- bis 7-Jährigen stehen augenscheinliche Symptome und persönliche Erfahrungen im Vordergrund. Viele jüngere Kinder sind sich sicher, dass Ungehorsam – im Sinne eines immanenten Gerechtigkeitsprinzips – zu Krankheit führen kann. Typische Ermahnungen von Eltern, wie »Iss nicht so viele Süßigkeiten, sonst wirst du krank!«, können diese Vorstellung festigen. Viele Kinder entwickeln nach der Diagnose ihres Diabetes irrationale Schuldgefühle, die sie jedoch aus Scham gegenüber ihren Eltern und dem Behandlungsteam nicht anzusprechen wagen. Auch medizinische Maßnahmen können als Strafe interpretiert werden. Ruhige anschauliche Erklärungen, die sich am aktuellen Geschehen, d. h. »was geschieht, wie lange dauert es« orientieren, können Kindern die verständliche Angst nehmen. Entwicklung der Persönlichkeit Zu den zentralen Entwicklungsaufgaben im Vorschulalter gehört, das neue Bewusstsein der eigenen Autonomie durch Aktivitäten innerhalb und außerhalb des engsten Familienkreises zu stärken. Positive Erfahrungen bilden eine zentrale Grundlage für ein stabiles Selbstvertrauen in der Zukunft. Ebenso wird auch die Fähigkeit entwickelt, mit Enttäuschungen und Misserfolgen angemessen umzugehen. Mit dem Eintritt in den Kindergarten müssen Kinder oft zum ersten Mal eine längere Trennung von der Familie bewältigen und lernen, sich außerhalb der direkten elterlichen Fürsorge sicher zu fühlen. Das gemeinsame Spiel mit Gleichaltrigen bietet weitere wichtige soziale Erfahrungen. Auch Kinder mit Diabetes, die zu Hause oft im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit ihrer Eltern stehen und deren gesunde Geschwister oft weniger Beachtung finden, brauchen die Erfahrung, dass sie eines von vielen Kindern mit ähnlichen Bedürfnissen sind und Rücksicht auf andere nehmen müssen. In der Diabetesschulung für Eltern sollte besprochen werden, wie Erzieher in Kindergärten so über den Diabetes aufgeklärt werden können, dass diese sich nicht überfordert fühlen und deshalb die Aufnahme des Kindes ablehnen (s. Kapitel 10 im Schulungsbuch für Eltern). Die AGPD bietet auf ihrer Homepage www.diabetes-kinder.de eine Broschüre für Erzieherinnen in Kindergärten an.
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Zusammenfassung Kinder im Vorschulalter sind intellektuell noch nicht in der Lage, ihren Diabetes zu verstehen. Statt einer strukturierten Schulung sollten ihnen Erklärungen angeboten werden, die an ihre Erfahrungswelt, ihre Ängste und individuellen Vorstellungen anknüpfen. Dagegen ist eine psychologisch und pädagogisch ausgerichtete Schulung für Mütter und Väter dieser Kinder unverzichtbar. Sie sollte sich auch auf die soziale Integration in Kindergärten, Sportgruppen oder Spielkreisen beziehen.
16.2.3 Grundschulkinder Im Grundschulalter, der Phase des konkret-operatorischen Denkens, gelingt es Kindern zunehmend, zwischen der eigenen Perspektive und der Sichtweise anderer Menschen zu unterscheiden. Anerkennung durch die Gruppe der Gleichaltrigen ist für die Entwicklung eines positiven Selbstkonzeptes in dieser Altersgruppe von großer Bedeutung. Kognitive Entwicklung Schulkinder können sich die Regeln der elementaren Logik zu Nutze machen. Ihr Denken und Problemlösen ist allerdings an konkrete Objekte oder Abläufe gebunden. Fast alle Schulkinder mit Diabetes können sich Insulin spritzen, ihren Blutzuckerwert bestimmen und sogar zwei Insulinpräparate in einer Plastikspritze mischen. Das Körperkonzept in dieser Altersgruppe ist primär an sicht- und fühlbaren Erfahrungen orientiert. Je mehr Erfahrungen Kinder mit Diabetes, z. B. bei ihrer Insulintherapie sammeln, umso besser können auch schon ältere Grundschulkinder das Prinzip ihrer Behandlung verstehen, ohne dass ihnen die physiologischen Hintergründe bekannt sein müssen. Abstrakte Inhalte können sie jedoch kaum nachvollziehen und ebenso wenig auf eigene Alltagsprobleme anwenden. Sie können Klassifikationen nach mehr als einem Merkmal oder einfachen »Schwarz-Weiß-Regeln« durchführen, z. B. ihre Nahrungsmittel bewerten (»Das hat KE, das hat keine KE«). Grundschulkinder sind aber noch überfordert, wenn sie ihre Insulindosis abhängig von Nahrung, aktuellem Blutzuckerwert, geplanter Bewegung und anderen relevanten Faktoren festlegen sollen. Das Zeitverständnis beschränkt sich auf eine relativ kurze Spanne. Eine langfristige Kosten-Nutzen-Abwägung, wie sie zur Prävention von Folgeerkrankungen erforderlich ist, kann von Schulkindern gedanklich nicht geleistet werden.
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Kapitel 16 · Grundlagen und Durchführung der Diabetesschulung
Die Fähigkeit, das eigene körperliche und seelische Befinden zu reflektieren, entwickelt sich schrittweise. Konzentrationsschwäche und emotionale Schwankungen, die Erwachsenen mit Diabetes als eindeutige Hypoglykämieanzeichen dienen, können Grundschulkinder noch nicht bewusst zuordnen. Sie orientieren sich hier an konkret beobachtbaren Symptomen wie Schwitzen oder Zittern. Entsprechend fällt es ihnen beispielsweise schwer, zwischen Aufregung und Hypoglykämie zu unterscheiden. Zusammenfassung Die Kinder sind manuell ausgesprochen geschickt und erlernen die praktischen Aufgaben der Diabetestherapie schnell und sicher. Abstrakte Aufgaben, z. B. die vorausschauende Insulindosisbestimmung, überfordern sie dagegen.
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Entwicklung der Persönlichkeit Das zentrale Thema der Persönlichkeitsentwicklung in diesem Lebensabschnitt ist Leistung. Kinder müssen Erfolg direkt erfahren, um ein positives Selbstbild aufzubauen. Die Erfahrung der Wirksamkeit eigener Anstrengung ist dabei besonders wichtig. Bei der Langzeitbetreuung von Kindern mit Diabetes kommt dem Leistungsverständnis vor allem bei der Diskussion der Stoffwechselwerte große Bedeutung zu. Wenn ein Kind seine Blutzuckerwerte sorgfältig in seinem Protokollheft notiert hat, geschieht es oft, dass diese tägliche Mühe nicht gewürdigt wird. Dafür werden aber die Werte, die das Kind selbst kaum beeinflussen kann, ausführlich kritisiert. Aus der Sicht des Kindes war die eigene Anstrengung damit umsonst. Es wird andere »erfolgreichere« Strategien zur Bewältigung des Arztbesuches suchen und finden. Erschwert wird der Umgang mit unbefriedigenden Stoffwechselwerten zusätzlich dadurch, dass es vielen Kindern und auch Eltern emotional nicht gelingt, die Bewertung des Blutzuckerwerts von der Bewertung der eigenen Person zu trennen. Ein hoher HbA1c-Wert wird als »schlechte Note« für die eigenen Anstrengungen, wenn nicht sogar für die eigene Person insgesamt, erlebt. Jüngere Kinder orientieren sich dabei an den Reaktionen ihrer Eltern. Sie fürchten, bei »schlechten Blutzuckerwerten« die Zuneigung der Eltern zu verlieren. Neben leistungsbezogenen Themen stellen sich Kindern im Grundschulalter soziale Entwicklungsaufgaben wie die der Kooperation und des Wettbewerbes in der Gruppe der Gleichaltrigen. Kinder mit Diabetes sollten deshalb auch nicht von Klassenaktivitäten ausgeschlossen werden. Die AGPD hat dazu eine Informationsbroschüre für Lehrer entwickelt. Sie kann auf der Homepage www. diabetes-kinder.de eingesehen und dann ausgedruckt werden. Enge Freundschaften zu Kindern des gleichen Geschlechts sind typisch und helfen, ein stabiles positives Selbstbild zu entwickeln.
16.2 · Psychologische und didaktische Grundlagen
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Zusammenfassung Schulkinder können ihren Diabetes und die Behandlung nur begrenzt verstehen. Während sie viele praktische Aufgaben geschickt bewältigen können, sind sie mit der verantwortlichen Therapie noch völlig überfordert. Altersgemäße Selbstständigkeit außerhalb der Familie und Integration in die Gruppe der Gleichaltrigen gehören für sie zu den wichtigsten Entwicklungsaufgaben. Schulung und Unterstützung der Eltern sind zentrale Elemente der Diabetestherapie bei Kindern.
16.2.4 Jugendliche Kognitive Entwicklung Die neue Qualität des Denkens in diesem Lebensabschnitt wird als »Richtungsänderung zwischen Realität und Möglichkeit« charakterisiert. Kennzeichnend ist dabei die Fähigkeit zu abstraktem, logischem und hypothesenprüfendem Denken. Das Verständnis löst sich von der beobachtbaren Wirklichkeit. Jugendliche können Situationen vorausschauend simulieren, ohne dass diese in der Realität eintreten müssen. Sie können dabei wie bei einem wissenschaftlichen Experiment vorgehen, Hypothesen bilden und deren systematische Überprüfung planen. Damit können sie z. B. die Prinzipien der intensivierten Therapie verstehen und im Alltag systematisch, z. B. bei der Insulindosisbestimmung, umsetzen. Nicht wie die Welt ist, sondern was in ihr möglich erscheint, wird zum vorherrschenden Thema von Gedankenexperimenten. Widersprüche zwischen denkbaren Idealen und der realen Welt mit ihren moralischen Werten und Standards treten deutlich hervor. Jugendliche werden sich zunehmend der Komplexität und Unüberschaubarkeit des Lebens und der eigenen Grenzen bewusst. Diese erlebten Diskrepanzen können zusammen mit anderen sozialen Faktoren auch zu einer Ausgangsbedingung für typische Problemkonstellationen im Jugendalter werden. Nicht nur die äußere Wirklichkeit, sondern auch das eigene Erleben und Handeln wird zum Gegenstand kritischer Selbstreflektion. Jugendliche erfahren eigene Grenzen, Schwächen und Unzulänglichkeiten, die zu emotionalen Schwingungen bis hin zu einem negativen Selbstbild, affektiven Störungen und sozialen Ängsten führen können. ! Die kritische Selbstreflektion beherrscht die emotionale Situation vieler Jugendlicher.
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Kapitel 16 · Grundlagen und Durchführung der Diabetesschulung
Jugendliche mit Diabetes können sich den Stoffwechsel in ihrem Körper, obwohl nicht direkt beobachtbar, als organisiertes System vorstellen. Diejenigen, deren geistige Leistungsfähigkeit nicht eingeschränkt ist, verfügen also über die intellektuellen Voraussetzungen, um die Prinzipien einer intensivierten Insulintherapie zu erlernen und umzusetzen. Die neuen geistigen Möglichkeiten bedeuten jedoch nicht nur Entlastung. Die Chronizität und mögliche Folgeerkrankungen werden für Jugendliche zu einer realen Bedrohung der eigenen Lebensperspektive. Emotionale Krisen in Form aggressiver oder depressiver Verstimmungen, Resignation oder Verleugnung werden oft beobachtet. ! Die Chronizität des Diabetes und die Bedrohung durch Folgeerkrankungen werden Jugendlichen zunehmend bewusst.
Die gedankliche Auseinandersetzung mit der Diskrepanz zwischen dem idealen Therapieziel Normoglykämie und den eigenen Stoffwechselwerten belastet Jugendliche zusätzlich. Wenn die Blutzuckerwerte in der Pubertät trotz großer Anstrengung hormonell bedingt unvorhersehbar schwanken, entstehen Gefühle der Hilflosigkeit und Abhängigkeit. Sie beeinträchtigen das Selbstbild. Manche Jugendliche können nur dadurch ein positives Bild der eigenen Person aufrechterhalten, dass sie unerwünschte Werte nicht dokumentieren, ihren Blutzuckerspiegel überhaupt nicht mehr kontrollieren oder die Therapie insgesamt vernachlässigen. Entwicklung der Persönlichkeit Die zentralen Entwicklungsaufgaben des Jugendalters betreffen die Selbstverwirklichung, die Selbständigkeit und die Suche nach einer stabilen Identität. In der frühen Adoleszenz stehen daher typische Fragen wie »Wer bin ich?« und »Bin ich normal?« für die Unsicherheit – die Identitätskrise – vieler Mädchen und Jungen. Die Phase zwischen etwa 12 und 15 Jahren ist entsprechend gekennzeichnet durch: 5 starke Hinwendung zum Körper, seiner Erscheinung und seiner Funktion, 5 ängstliche Beachtung normativer Vorstellungen, 5 starke Orientierung an Gleichaltrigen, 5 erste Schritte der Ablösung von den Eltern, 5 Wechsel zwischen unabhängigem und abhängigem Verhalten, 5 emotionale Instabilität, 5 Auseinandersetzung mit der Geschlechtsrolle, 5 erste Liebesbeziehungen und sexuelle Kontakte.
16.3 · Grundlagen des Selbstmanagement
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Während mit dem Jugendalter oft noch das Bild eines durch schwere psychische Krisen bestimmten Lebensabschnitts verbunden wird, lassen repräsentative entwicklungspsychologische Untersuchungen die Adoleszenz in einem sehr viel günstigeren Licht erscheinen. Der Übergang vom Kind zum Erwachsenen stellt zwar Anforderungen, sie werden jedoch von vielen Jugendlichen ohne gravierende Probleme gemeistert. Zusammenfassung Jugendliche erreichen ein geistiges Niveau, das ihnen ermöglicht, z. B. die intensivierte Insulintherapie, erfolgreich zu bewältigen. Gleichzeitig verstehen sie erstmalig, was chronische Krankheit und mögliche Folgeerkrankungen für ihre Zukunft bedeuten. Diese Erkenntnisse können ebenso zu Akzeptanzproblemen führen, wie die Erfahrung, dass die eigenen Stoffwechselwerte trotz Anstrengung weit vom gewünschten Ideal abweichen. Der Aufbau einer stabilen Identität und die Lösung aus der engen Bindung an die Eltern gehören zu den zentralen Entwicklungsaufgaben des Jugendalters.
16.3
Grundlagen des Selbstmanagement in der Diabetestherapie
)) Langfristig stabile Stoffwechselwerte sind nur möglich, wenn Eltern, Jugendliche und Kinder sich täglich selbst motivieren können, die Diabetestherapie konsequent durchzuführen.
Studien zum Therapieverhalten bei Diabetes zeigen, dass dieses trotz vieler therapeutischer Fortschritte bei weitem nicht immer gelingt. Ein wichtiger Grund dafür liegt neben individuellen Faktoren der Familien im präventiven Charakter der Diabetesbehandlung. Nach dem so genannten »health belief model« wird das langfristige Therapieverhalten durch subjektive Einschätzungen (health beliefs) der Betroffenen bestimmt. Nicht objektive Tatsachen, z. B. das statistische Retinopathierisiko bei Diabetes, bedingen das Therapieverhalten, sondern die persönlichen Erwartungen, die eine Person mit der Krankheit und deren Folgen verbindet. Übertragen auf die Situation von Eltern und deren Kindern mit Diabetes sollten folgende »health beliefs« der Familien angesprochen werden: 5 Wie realistisch schätzen Jugendliche und Eltern das persönliche Risiko durch die Krankheit ein? 5 Glauben Eltern und Jugendliche, dass sie über den Diabetes und seine Behandlung ausreichend informiert sind?
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Kapitel 16 · Grundlagen und Durchführung der Diabetesschulung
5 Wie schätzen Eltern und Jugendliche den individuellen Nutzen durch die
Therapie im Vergleich zum geleisteten Aufwand ein? 5 Trauen sich die Familien im Alltag zu, die Therapie selbst fachgerecht durch-
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zuführen? 5 Sind Eltern jüngerer Kinder und Jugendliche selbst vom Erfolg ihrer Anstren-
gungen um eine gute Diabetesbehandlung überzeugt? Die letzte und wichtigste persönliche Einschätzung betrifft das Maß der erwarteten Selbstwirksamkeit (sog. »self efficacy«). Erleben Jugendliche bei ihren Therapieversuchen wiederholt, dass sie erfolglos bleiben, stellen sie ihre Anstrengungen ein. Sie entwickeln eine scheinbare Handlungskompetenz, die sich z. B. in sozialem Rückzug, Aggression, Resignation (»Null-Bock-Haltung«) und psychischen oder psychosomatischen Störungen zeigen kann. ! Selbstmanagement wird durch die Erfahrung eigener Erfolge in der Therapie
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gefördert.
Aus dem »health belief model« und Ansätzen zm Selbstmanagement lassen sich Strategien zur Unterstützung von Krankheitsakzeptanz und Bereitschaft zu verantwortungsvoller Therapiemitarbeit ableiten: 5 Schulung und Beratung sollten eine realistische Einschätzung des persönlichen Risikos fördern. Dazu tragen sachliche Informationen ohne unterschwellige Drohungen oder Schuldzuweisungen, Gespräche über die persönliche Bewertung des Risikos und Hilfen zur Angstbewältigung bei. 5 Das Therapieprinzip sollte möglichst maßgeschneidert auf die Lebenssituation und die Lebensziele jedes Kindes mit Diabetes und seiner Familie abgestimmt werden. Dazu gehören auch individuell erarbeitete Therapieziele, die z. B. auch von Jugendlichen mit vertretbarem Aufwand erreicht werden können. 5 Schulung sollte praktische Fertigkeiten zur Umsetzung der Therapie im persönlichen Alltag vermitteln. Dazu zählt neben der korrekten Technik auch die soziale Kompetenz zur Durchsetzung eigener Ziele. Von besonderer Bedeutung sind außerdem Strategien, die Patienten helfen, ihr Verhalten nach eigenen Maßstäben zu verändern und zu steuern. 5 Schulung sollte Aktivität fördern und Erfahrung von Selbstwirksamkeit durch alltagsnahe Themen und Erfahrungssammlung ermöglichen. Frontale Vorträge sind dazu nicht geeignet. Sie sollten durch aktive Lernangebote für kleine homogene Gruppen von Eltern, Kindern oder Jugendlichen ersetzt werden. 5 Schließlich sollte es Ziel jeder Beratung oder Schulung sein, Kinder und Jugendliche mit Diabetes und ihre Eltern auf dem Weg zu größtmöglicher
16.4 · Initiale Diabetesschulung nach der Manifestation
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Selbständigkeit zu unterstützen. Sie sollten in die Lage versetzt werden, eigene sinnvolle Entscheidungen über die Diabetesbehandlung im Alltag unter Berücksichtigung persönlicher Werte, Bedürfnisse und Lebensziele zu fällen. Zusammenfassung Maßnahmen zur Unterstützung der Motivation von Eltern, Kindern und Jugendlichen verfolgen das Schulungsziel, Jugendliche und Eltern zu Experten auf dem Gebiet des Diabetes zu machen. Die psychologischen und pädagogischen Konzepte der Diabetesschulung in der Pädiatrie decken sich mit der heute allgemein anerkannten Schulungsphilosophie des »Empowerments«.
16.4
Initiale Diabetesschulung nach der Manifestation
)) Dem Initialgespräch als erstem Schulungsschritt nach der Manifestation, in dem wesentliche Weichen für den zukünftigen Umgang einer Familie mit der Stoffwechselstörung gestellt werden, folgt während des stationären Aufenthaltes eine umfassende Initialschulung für beide Elternteile und altersentsprechend für das Kind oder den Jugendlichen mit Diabetes.
16.4.1 Diagnoseeröffnung und Initialgespräch Der Diabetes eines Kindes trifft die meisten Familien völlig unvorbereitet. Sie erleben die Diagnose als außerordentliche seelische Belastung, die mit Angst, Trauer, Enttäuschung, depressiver Verstimmung oder großer Unsicherheit verbunden sein kann. Das Initialgespräch hat die Funktion, die Diagnose zu vermitteln, die Gefühle der Familie aufzufangen und mit ihr gemeinsam erste Perspektiven für die aktive Bewältigung der Krankheit zu entwickeln. Wenn möglich, sollte das Gespräch noch am Tag der stationären Aufnahme stattfinden und das erkrankte Kind, beide Eltern, den behandelnden Arzt und den Diabetesberater als Behandlungsteam zusammenführen. Wegen der hohen emotionalen Belastung ist die Aufnahmefähigkeit der Eltern sehr begrenzt. Deshalb sollten zu Beginn nur die wichtigsten Informationen vermittelt werden: 5 aktueller Gesundheitszustand des Kindes, 5 Basisinformationen zum Diabetes
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Kapitel 16 · Grundlagen und Durchführung der Diabetesschulung
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Diagnose Typ-1-Diabetes; dazu auch Vorwissen über Typ-1-Diabetes klären, Chronizität und lebenslang notwendige Insulinbehandlung, Ursachen des Diabetes, ggf. Schuldgefühle klären Basisinformationen zur Prognose orientiert an individuellen Sorgen und Fragen – der Eltern (ggf. Geschwister, Ausbildung, Beruf, Heirat, Kinder), – des Kindes (Sport, Ferien, Feiern, Schule), 5 Perspektiven für die nächste Zukunft, 5 Schulung während des stationären Aufenthaltes, 5 Betreuung nach der Entlassung. Die ersten Informationen sollten möglichst einfach und präzise formuliert und gelassen vermittelt werden. Pathophysiologische Details und Therapieprinzipien überfordern die Aufnahmefähigkeit der Familie in dieser Phase. Ebenso kann es durch falsche, ungenaue oder bemüht-hilflose Informationen oder Tröstungsversuche von Anfang an zu einer ungünstigen Weichenstellung mit langfristig negativen Konsequenzen kommen. Die Chronizität des Diabetes und die lebenslang notwendige Insulintherapie sollten unbedingt ehrlich angesprochen werden. Der Tenor »Diabetes kann nicht geheilt, aber sehr gut behandelt werden«, kann Eltern helfen, die bittere Wahrheit etwas gelassener aufzunehmen. Um Schuldgefühlen oder Vorwürfen vorzubeugen, sollten die Ursachen des Diabetes grob umrissen werden. Für Eltern und Kinder ist es dabei wichtig zu erfahren, dass weder sie zur Entstehung des Diabetes beigetragen haben, noch irgendjemand anderes Schuld an der Krankheit hat. Im Mittelpunkt des ersten Gespräches sollten konkrete Fragen und Sorgen der Familie stehen. Kinder sind oft schon entlastet, wenn sie hören, dass sie z. B. weiterhin zum Reiten, Schwimmen oder Fußball gehen dürfen, Süßigkeiten essen, Kindergeburtstag feiern oder in den Ferien ans Meer fahren können. Die Befürchtungen vieler Eltern betreffen die langfristige Lebensperspektive ihres Kindes bis hin zu Ausbildung, Beruf und eigenen Kindern. Für Mütter stellt sich oft die Frage nach der weiteren eigenen Berufstätigkeit. Allen Fragen sollte mit möglichst großer Offenheit und Verständnis begegnet werden, um die notwendige Basis für eine langfristig vertrauensvolle Zusammenarbeit zu schaffen. Dies gilt auch, wenn Eltern ideologisch oder religiös geprägte irrationale Krankheitsvorstellungen oder alternative Heilmethoden ansprechen. Der Ablauf und die Ziele der stationären Behandlung müssen möglichst konkret besprochen werden. Dabei sollte die Familien der Eindruck gewinnen, dass sie die Behandlung des Diabetes ohne Zeitdruck erlernen und sich auch nach der Entlassung mit allen Fragen an das Team in der Klinik wenden können. Je jünger ein Kind mit Diabetes ist, umso mehr ist dabei zu betonen, dass nicht allein die Mutter, sondern auch der Vater oder ein anderer erwachsener Betreuer die Diabetestherapie erlernen müssen.
16.4 · Initiale Diabetesschulung nach der Manifestation
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! Beide Elternteile sollten von Anfang an in die Diabetestherapie einbezogen werden.
Nach dem Erstgespräch ist es hilfreich, der Familie die wichtigsten Informationen noch einmal schriftlich zum Nachlesen anzubieten: 5 Für Eltern wurde dazu das erste Kapitel des Elternschulungsbuches konzipiert, in dem nicht nur die wichtigsten Sachinformationen in Form eines Gesprächsprotokolls zwischen Eltern und Kinderarzt zusammengestellt sind, sondern auch psychologische Hilfen zur seelischen Bewältigung der Diagnose in den ersten Tagen. 5 Kinder können das erste Kapitel des Kinderschulungsprogramms mit ihren Eltern anschauen. 5 Für Jugendliche steht das erste Kapitel des Jugendprogramms: »Diabetes, was nun?« zur Verfügung. 16.4.2 Initialschulung für Eltern Während des ersten Klinikaufenthaltes ist es das Ziel der Schulung, die Familie in die Lage zu versetzen, die Behandlung mit Insulinsubstitution, ausgewogener Ernährung und Stoffwechselselbstkontrollen zu Hause eigenständig durchzuführen. Daneben sollten die Eltern unterstützt werden, den Diabetes und die Therapie möglichst konfliktfrei und gelassen mit ihren persönlichen Lebenszielen und Gewohnheiten abzustimmen. Rahmenbedingungen der Elternschulung Wegen der relativen Seltenheit des Diabetes im Kindes- und Jugendalter findet die Erstschulung beider Eltern fast immer individuell statt. Da die Eltern bis ins Jugendalter ihres Kindes weitgehend die Verantwortung für dessen Therapie tragen, benötigen sie eine umfassende, auf das Alter des Kindes abgestimmte Schulung. Bei jüngeren Kindern empfiehlt es sich, einen Elternteil mit in die Klinik aufzunehmen. Die medizinische Indikation zur Mitaufnahme wird von Kostenträgern und Trägern von Kinderkrankenhäusern allgemein anerkannt, wenn es gilt, die Behandlung einer chronischen Krankheit zu erlernen. Die Diabetesschulung sollte flexibel an die Aufnahmefähigkeit und die Lebensumstände der Familienmitglieder angepasst werden. Flexibilität ist hier ein Qualitätsstandard. Als Orientierung wird von durchschnittlich 20 theoretischen und 10 praktischen Unterrichtsstunden für Eltern ausgegangen. Die Schulung sollte wenige Tage nach der Diagnose beginnen, wenn die erste Verstörtheit der Familie überwunden ist. Die Schulungstermine sollten so verabredet werden, dass beide Elternteile und evtl. auch andere Betreuer des Kindes teilnehmen können.
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Kapitel 16 · Grundlagen und Durchführung der Diabetesschulung
Zusammenfassung Inhaltliche und terminliche Flexibilität als Standard der Initialschulung.
Curriculum der Elternschulung Praktisch ausgerichtete Schulungen für Familien nach dem Prinzip des »learning by doing« versprechen den größten Lernerfolg. Begleitend kann das Schulungsbuch für Eltern als Leitlinie und zur individuellen Vertiefung genutzt werden. Eltern und Kinder werden vom Zeitpunkt der Manifestation an aktiv in die tägliche Behandlung der Stoffwechselstörung einbezogen. Gemeinsam mit den Mitgliedern des Diabetesteams stellen sie Mahlzeiten zusammen, schätzen den Kohlenhydratanteil von Speisen ein, führen Insulininjektionen durch, beobachten den Einfluss von körperlicher Aktivität und besprechen die Insulindosierung, nachdem sie den Blutglukosewert selbst bestimmt haben. Schuldgefühle und Ängste, die besonders Eltern sehr junger Kinder bei Injektionen und Blutzuckermessungen erleben, können verringert werden, wenn Eltern sich selbst zur Probe physiologische Kochsalzlösung injizieren und ihren Blutzuckerwert bestimmen. Sie spüren so, dass der Schmerz dabei meist viel geringer ist, als befürchtet. Ergänzende theoretische Schulungsinhalte sollten sich nicht am Themenkatalog medizinischer Lehrbücher orientieren, sondern daran, ob sie für Familien im täglichen Leben relevant sind. Aus didaktischen Gründen empfiehlt es sich, allen Eltern und Jugendlichen von Beginn an das Prinzip der normalen Insulinausschüttung durch die Bauchspeicheldrüse zu erklären. Daraus können viele Eltern bereits selbst ableiten, wie die physiologische Insulinsekretion durch eine intensivierte Insulintherapie imitiert werden kann. In Kap. 2 des Elternbuches wird das Grundprinzip erläutert, in dessen Kap. 5 wird es ausführlich anhand von vielen Beispielen erklärt. Selbst wenn jüngere Kinder während der Remissionsphase wegen des geringen Insulinbedarfes noch mit zwei Injektionen täglich behandelt werden, erleichtert der gedankliche Zugang über die physiologische Insulinsekretion den Eltern, die Insulindosis schrittweise an den sich ändernden Bedarf ihres Kindes anzupassen. Auf diese Weise erfahren Eltern von Anfang an, dass sie dem Diabetes nicht passiv ausgeliefert sind, sondern aktiv über die Insulindosierung Einfluss nehmen können. Das daraus erwachsende Gefühl von Kompetenz und Sicherheit fördert zugleich die emotionale Bewältigung der Diagnose. Das Curriculum der Elternschulung entspricht in den Grundzügen dem der Typ-1-Diabetesschulung für Erwachsene. Die Ausgestaltung der Unterrichtseinheiten sollte jedoch auf die spezifischen Bedürfnisse der Eltern von Kindern mit Typ-1-Diabetes zugeschnitten sein. Es umfasst die folgenden Themen (im Klammern sind die Abschnitte im Elternbuch angegeben):
16.4 · Initiale Diabetesschulung nach der Manifestation
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Physiologie/Pathophysiologie (Kap. 2.1 und 2.2), Grundlagen der Insulintherapie (Kap. 2.3 und 2.4), Ernährungslehre (Kap. 3), Stoffwechselkontrollen (Kap. 4), Insulindosierung bei der intensivierten Insulintherapie (Kap. 5), Hypoglykämie (Kap. 6), Körperliche Aktivität und Sport (Kap. 7), Insulintherapie bei akuten Krankheiten (Kap. 8), Therapieziele (Kap. 9.1), Folgekomplikationen (Kap. 9.2 und 9.3), psychologische und pädagogische Aspekte (Kap. 10) und sozialmedizinische Fragestellungen (Kap. 11).
Die Ernährungsberatung für Eltern konzentriert sich neben den Grundlagen der Ernährungslehre vor allem auf deren praktische Umsetzung in eine kindgerechte schmackhafte Kost. Eltern sollten bereits in der Klinik Gelegenheiten erhalten, selbst Erfahrungen zu sammeln. Praktische Übungen betreffen dabei: 5 Berechnung der üblichen Ernährung des Kindes und eigener Kochrezepte, 5 Interpretation von Lebensmittelanalysen auf Verpackungen, 5 Nutzung einer Kohlenhydrataustauschtabelle, 5 Bewertung von kohlenhydrathaltigen Nahrungsmitteln und Süßigkeiten, 5 Auswahl und Zubereitung kindgemäßer Getränke, 5 Kindergeburtstage, 5 Ernährung bei körperlicher Aktivität, 5 Ernährung bei typischen Kinderkrankheiten und 5 kritische Bewertung von Spezialprodukten für Diabetiker. Mit den Eltern sollte auch besprochen werden, wie sie sich mit ihren Kindern auf eine akzeptable Form des unvermeidlichen Naschens verständigen können. Insgesamt sollte den Eltern der Eindruck vermittelt werden, dass sich die Ernährung bei Diabetes nicht grundsätzlich von einer ausgewogenen Kost für alle Menschen unterscheidet. Spezialrezepte sind ebenso wenig erforderlich wie eine separate Zubereitung der Mahlzeiten für Kinder mit Diabetes. Bei aller Flexibilität einer intensivierten Insulintherapie muss Eltern aber auch deutlich werden, dass eine gute Stoffwechseleinstellung nur gelingen kann, wenn die Nahrung ebenso »dosiert« wird wie das Insulin. Regelmäßige Mahlzeiten in der Familie, ein weitgehender Verzicht auf Nahrungsangebote beim Fernsehen und Spielen hilft Kindern mit Diabetes ebenso wie allen anderen Kindern, Übergewicht vorzubeugen. Die intensivierte Insulintherapie mit praktischen Übungen zur Insulindosierung nimmt in der Schulung eine zentrale Position ein. Das 5. Kapitel des
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Kapitel 16 · Grundlagen und Durchführung der Diabetesschulung
Elternbuchs vermittelt die notwendigen Grundlagen sowohl theoretisch als auch praktisch an konkreten Dosierungsbeispielen und der Entwicklung der Insulintherapie bei Kindern in den ersten Jahren nach der Manifestation. Zwei Arbeitsbögen haben sich als didaktische Hilfen bewährt: 5 Der Insulindosierungsbogen (s. Abb. 11.18), den die Eltern schrittweise für ihr Kind ausfüllen und dadurch lernen, zwischen Mahlzeiten-, Korrekturund Basalinsulin zu differenzieren. 5 Der Stoffwechselübungsbogen (s. Abb. 11.21) hilft Eltern, die Beziehungen zwischen Ernährung, Insulindosis, körperlicher Aktivität und den Ergebnissen der Blutglukoseselbstkontrollen schrittweise selbst zu erarbeiten und auf die Behandlung ihres Kindes im Alltag zu übertragen. Obwohl eine auf vier Injektionen verteilte Insulindosierung in der Remissionsphase bei Kindern nicht immer erforderlich ist, bildet das richtige Therapieverständnis von Anfang an eine tragfähige Basis für die erfolgreiche Langzeitbehandlung. Alle Details können in der begrenzten Initialschulung noch nicht bearbeitet werden, sie können nach und nach während der ambulanten Vorstellungen oder im Rahmen von Folgeschulungen am Beispiel eigener Erfahrungen besprochen werden. Die meisten Eltern verbinden mit Hypoglykämien große Ängste. Neben sachlichen Informationen über Symptome, die richtige Hypoglykämiebehandlung einschließlich der Handhabung von Glukagon geht es in der Elternschulung auch darum, wie größtmögliche Sicherheit für Kinder geschaffen werden kann, ohne sie gleichzeitig zu ängstigen oder zu sehr einzuschränken. Eltern sollten auch erfahren, wie sich Kinder bei zu niedrigem Blutglukosespiegel fühlen und verhalten. Ziel der Schulung sollte eine realistische Einschätzung des Risikos sein, um Überbehütung und neurotischen Fehlentwicklungen vorzubeugen. Das in den letzten Jahren deutliche gesunkene Risiko von schweren Hypoglykämien bei Kindern sollte Eltern so anschaulich vermittelt werden, dass sie selbst nachts ohne Sorge durchschlafen können. Auch im Kindergarten und in der Schule sollte das heute extrem seltene Ereignis nicht zu sehr in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt werden. Praktische Hilfen zur Vorsorge betreffen »SOS-Anhänger«, Notfallhinweise in Form von Scheckkarten, Handy und persönliche Kontakte mit Erziehern, Lehrern und anderen Betreuern. Beim Thema Pathophysiologie sind Fragen nach dem Erbgang und dem Diabetesrisiko von Geschwisterkindern für die Eltern wichtig, die sich weitere Kinder wünschen. Folgeerkrankungen sind ebenfalls ein sehr sensibles und emotional belastendes Thema für Mütter und Väter, die sich für das weitere Lebensschicksal ihres Kindes in hohem Maße verantwortlich fühlen. Neben sachlicher Information geht es in den Schulungseinheiten vor allem darum, Eltern zu einer realistischen und gleichzeitig zuversichtlichen Einschätzung zu verhelfen und
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übertriebenen Ängsten, Schuldgefühlen oder neurotischen Fehlentwicklungen vorzubeugen. Gleichzeitig sollten Eltern erfahren, dass Schulkinder die Bedrohung durch Folgeerkrankungen nicht verstehen und durch entsprechende Hinweise keinesfalls motiviert, sondern nur verängstigt werden können. Angemessene Formen der Motivation von Kindern zur Therapiemitarbeit sollten diese Unterrichtseinheit abschließen. Spezielle Kästen (»Kinderleben« oder »Familienleben«) zu psychologischen Themen widmen sich im Elternbuch z. B. folgenden Fragen: 5 Was ist mit den Geschwistern? (S. 32) 5 Wie können Sie Ihrem Kind den Diabetes erklären? (S. 34) 5 Angst vor Injektionen (S. 52) 5 Wann sollten Kinder selbst spritzen können? (S. 57) 5 Wie können Sie Ihrem Kind erklären, was es beim Essen und Trinken beachten muss? (S. 96) 5 Das richtige Maß für Süßigkeiten finden (S. 101) 5 Angst vor Selbstkontrollen (S. 129) 5 Wenn hohe Blutzuckerwerte auf die Stimmung drücken (S. 137) 5 Das HbA1c ist keine Schulnote! (S. 145) 5 Wie fühlt sich eine Unterzuckerung an? (S. 196) 5 Angst vor Hypoglykämien (S. 219) 5 Was sollten Kinder über Folgeerkrankungen wissen? (S. 306) 5 Was kann helfen, die Angst vor Folgeerkrankungen zu vermindern? (S. 313) 5 Was sollten Erzieher im Kindergarten über Diabetes wissen? (S. 327) Weiterhin gehören Hilfen zur Bewältigung des Alltags, z. B. die Betreuung durch einen Babysitter, Informationen über das Schwerbehindertenrecht, angemessene Aufklärung von Freunden und Lehrern, Erziehung zu altersgemäßer Selbstständigkeit und die Förderung der sozialen Kompetenz des Kindes im Umgang mit dem Diabetes in der Öffentlichkeit, zu den Themen der Elternschulung. Spezielle Themen für Eltern von Kleinkindern Für Eltern von Klein- und Vorschulkindern sollten über die allgemeine Schulung hinaus folgende Themen angesprochen werden: 5 Hypoglykämieanzeichen bei Kindern, die sich noch nicht zuverlässig über ihr Befinden äußern können. 5 Risiken durch leichte und schwere Hypoglykämien bei Kleinkindern. 5 Ausgewogene und flexible Ernährung bei Kleinkindern und entsprechende Insulintherapie. 5 Therapieanpassung und Ernährung bei den in dieser Altersgruppe häufigen Infekten.
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5 Elterliches Verhalten und Erleben (Schuldgefühle), wenn sich Kleinkinder
der Behandlung widersetzen. 5 Soziale Integration der Kinder in Spielkreisen oder Kindergärten. 5 Unterstützung der erheblich geforderten Mütter innerhalb und außerhalb der
Familie. 5 Die Situation von Geschwisterkindern als »Schattenkinder«. 5 Gesetzliche Hilfen (Pflegeversicherung, Steuerrecht, Schwerbehinderten-
recht).
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Spezielle Themen für Eltern von Jugendlichen Eltern von neu erkrankten Jugendlichen haben die Aufgabe, ihre Kinder auf dem Weg zu einer eigenverantwortlichen Diabetestherapie zu begleiten. Die besondere Schwierigkeit für Eltern besteht darin, die Autonomie der Jugendlichen – trotz der plötzlich aufgetretenen Krankheit – angemessen zu fördern, ohne sie durch zu hohe Ansprüche zu überfordern. Denn Gefühle von Abhängigkeit und Hilfsbedürftigkeit können das Selbstbild und die Bewältigung des Diabetes in diesem Lebensabschnitt ebenso beeinträchtigen wie andauernde Misserfolge bei eigenen Behandlungsversuchen. Neben einer umfassenden Initialschulung zum Typ-1-Diabetes, an der Jugendliche und Eltern gemeinsam teilnehmen, sind Familiengespräche über gewünschte und übertriebene Unterstützung sowie über die Aufteilung der Therapieverantwortung in der Familie sinnvoll. Ohne die oft sehr fürsorglichen Eltern zu kränken, sollten Autonomiebestrebungen Jugendlicher auch in der Diabetestherapie unterstützt werden. In der Schulung sollten deshalb auch die folgenden Themen angesprochen werden: 5 Einflüsse der Pubertät auf den Stoffwechsel, 5 Fast Food, 5 Methoden der Gewichtskontrolle, 5 sportliche Belastungen, 5 nächtliche Unternehmungen, 5 Alkoholkonsum, Nikotinkonsum, 5 Urlaub mit Freunden, 5 körperliche Entwicklung, späterer Kinderwunsch und Kontrazeption. Zusammenfassung Mit der initialen Schulung der Eltern werden entscheidende Weichen für die langfristige Therapie und Bewältigung des Diabetes gestellt. Beide Elternteile sollten dabei einbezogen werden und von Anfang an das Prinzip der intensivierten Insulintherapie mit differenzierter Prandial- und Basalinsulinsubstitution erlernen und praktisch üben. Eine alltagsbezogene Beratung, die auch die emotionale Situation der Eltern einbezieht, kann helfen, den Diabetes in das Familienleben zu integrieren, ohne die Krankheit auf Dauer in den Mittelpunkt zu rücken.
16.4 · Initiale Diabetesschulung nach der Manifestation
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16.4.3 Initialschulung für Klein- und Vorschulkinder Klein- und Vorschulkinder (bis ca. 6 Jahre) sind mit einer strukturierten Diabetesschulung überfordert. Sie benötigen stattdessen ihrem Erleben angemessene Erklärungen für den Klinikaufenthalt, die Krankheit und die Behandlungsschritte, um Ängsten, Schuldgefühlen oder bedrohlichen Phantasien entgegenzuwirken. Ein konsistentes Verhalten und abgestimmte Erklärungen des Behandlungsteams und der Eltern erleichtern jüngeren Kindern die Orientierung in der neuen Lebenssituation. Die Verantwortung für die Behandlung dieser Kinder liegt in den Händen ihrer Eltern, die eine intensive Schulung und psychologische Beratung benötigen, um der Doppelaufgabe als Eltern und Therapeuten gerecht zu werden. 16.4.4 Initialschulung für Schulkinder )) Schulkinder (etwa zwischen 6 und 12 Jahren) sind im täglichen Leben bereits bei vielen Gelegenheiten auf eigene Entscheidungen angewiesen. Sie benötigen kindgerechte Informationen über ihre Krankheit, die Behandlung und das richtige Verhalten in besonderen Situationen, z. B. bei einer Hypoglykämie. Obwohl die Verantwortung für die Therapie noch weitestgehend bei den Eltern liegt, sollte jedem Kind dieser Altersgruppe eine strukturierte Schulung angeboten werden, die ein wenig eingeschränktes, aber sicheres Aufwachsen mit Diabetes ermöglicht.
Zur Diabetesschulung von Kindern liegt ein evaluiertes, standardisiertes Programm vor, das Diabetesbehandlungs- und Schulungsprogramm für Kinder. Es wurde vom Bundesversicherungsamt im Rahmen des DMP Typ 1 Pädiatrie akkreditiert und kann entsprechend abgerechnet werden. Die Kosten für die Schulungsmaterialien sind dabei erstattungsfähig. Das wichtigste Element des Programms ist ein »Diabetes-Buch für Kinder«, ein Ringbuch mit sechs Kapiteln, in dem kindgemäß über die Ursachen der Erkrankung, die Insulintherapie, die Ernährung, Stoffwechselkontrollen und das Verhalten bei Hypoglykämien berichtet wird. Für ältere Kinder findet im sechsten Kapitel außerdem eine Einführung in die Insulindosierung bei einer intensivierten Insulintherapie statt. Der notwendige zeitliche Aufwand der Erstschulung unterliegt großen interindividuellen Schwankungen, im Mittel kann von ca. 8 theoretischen und nochmals 18 praktischen Unterrichtseinheiten ausgegangen werden. Die Kapitel des Kinderbuches orientieren sich an entwicklungspsychologischen Grundlagen zum Denken, Verstehen, Krankheitswissen und Erleben sowie typischen Entwicklungsaufgaben dieser Altersgruppe. Die Inhalte wurden entsprechend folgender Kriterien ausgewählt:
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Kapitel 16 · Grundlagen und Durchführung der Diabetesschulung
Handlungsrelevanz für Kinder, den Verantwortungsbereich von Kindern betreffend, für Kinder notwendig sein, um die Therapie zu verstehen, erforderlich sein, um Ängsten oder Schuldgefühlen entgegenzuwirken, notwendig sein, um die soziale Integration zu fördern.
Auf theoretische Informationen, die keines der genannten Kriterien erfüllen, z. B. physiologische Details des Stoffwechsels oder Folgeerkrankungen, die das Verständnis von Kindern übersteigen, wird bewusst verzichtet. Dafür stehen Inhalte im Mittelpunkt, die Kindern helfen, mit ihren Diabetes selbstsicher umzugehen und sich seelisch und sozial altersgemäß zu entwickeln. Ein einfaches Stoffwechselmodell erklärt Kindern die Notwendigkeit der Behandlung. Dem kognitiven Entwicklungsstand von Schulkindern entsprechend bezieht es sich ausschließlich auf konkret erfahrbare Elemente wie Insulin, Nahrung, Blutzuckerwert und Befindlichkeit. Es folgt der Logik: »Insulin und Nahrung müssen zusammenpassen, damit du dich wohl fühlst. Wenn die Freunde Insulin und Nahrung nicht gleich stark sind, kann der Blutzuckerwert zu hoch oder zu niedrig werden.« Die einzelnen Kapitel können im Rahmen einer individuellen Schulung entweder von den Kindern selbst gelesen, ihnen vorgelesen oder anhand vieler detaillierter Zeichnungen erzählt werden. Jedes Kapitel schließt mit einem »Wissenstest« ab, mit dem den Kindern eine positive Rückmeldung gegeben werden kann. In den ersten Tagen nach der Manifestation hat es sich bewährt, dieses Buch auch den Eltern an die Hand zu geben. Die einfachen Texte erleichtern es ihnen, mit ihrem Kind über den Diabetes zu sprechen, den sie selbst noch nicht richtig erfasst und emotional verarbeitet haben. Zusammenfassung
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Die altersgemäße Schulung von Kindern ist ein unverzichtbares Element im Disease Management-Programm Typ 1 Diabetes (Pädiatrie).
14 16.4.5 Initialschulung für Jugendliche
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Das Jugendalter steht allgemein im Zeichen der Individuation und Identitätssuche. Bei der Diabetesschulung kommt es in diesem Lebensabschnitt deshalb nicht nur darauf an, theoretische Kenntnisse darüber zu vermitteln, wie die intensivierte Insulintherapie eingesetzt werden kann. Jugendliche sollten außerdem bei der Bewältigung typischer Entwicklungsaufgaben und bei der Akzeptanz der Krankheit unterstützt werden.
16.4 · Initiale Diabetesschulung nach der Manifestation
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Jugendliche mit Diabetes müssen von Anfang an umfassend über ihre Krankheit informiert werden und die praktische Behandlung im Alltag erlernen. Ihre Eltern haben die Aufgabe, sie zu begleiten und zu beraten, ohne sie durch übertriebene Fürsorge oder autoritäre Vorgaben in ihrer allgemeinen Entwicklung zu beeinträchtigen. Im Schulungsbuch für Eltern finden Eltern in den Kap. 8 und 10 psychologische Hintergrundinformationen zur Pubertät und zur Vermeidung von Familienkonflikte um die Diabetestherapie. Zur Diabetesschulung von Jugendlichen im Alter von 12–18 Jahren liegt ein evaluiertes Programm vor, das individuell auf die Bedürfnisse und Voraussetzungen einzelner Patienten zugeschnitten werden kann (s. Literaturliste). Es ist vom Bundesversicherungsamt im Rahmen des DMP Typ 1 Pädiatrie akkreditiert. Die Kosten für die Patientenunterlagen werden dabei durch die Kostenträger übernommen Die Unterrichtsmaterialien setzen sich 11 Hefte für Jugendliche in Form von Magazinen zusammen. Fünf Hefte sind auf das Niveau von »Einsteigern« direkt nach der Manifestation zugeschnitten, zwei Hefte richten sich an »Fortgeschrittene«, die ihren Diabetes mit einer intensivierten Insulintherapie behandeln. Vier weitere Hefte beschäftigen sich mit den Themen Sport, Freizeit und Reisen, Kontrazeption und Kinderwunsch, Schule, Beruf und Rechtsfragen sowie Folgeerkrankungen. Außerdem gehören Informationsbroschüren für Lehrer/Ausbilder, eine Kohlenhydrataustauschtabelle, Notfallhinweise und ein Ratgeber für Eltern zum Programmpaket. Über das erforderliche Grundlagenwissen hinaus wird darin die besondere Lebenssituation von Jugendlichen angesprochen: 5 Selbstständigkeit und Lösung vom Elternhaus, 5 Körperbild und Ernährung, 5 Umgang mit typischen Jugendkonflikten, 5 Gespräche mit Gleichaltrigen über den Diabetes, 5 Selbstbild und Selbstwertgefühl, 5 Entwicklung eigener Lebensperspektiven, 5 Zukunftsaussichten in Verbindung mit Folgeerkrankungen, 5 Berufswahl und zukünftige Partnerschaft. Die Hefte sind als Begleitmaterial zu einer aktiven Form der Schulung direkt nach der Manifestation und für eine Folgschulung konzipiert. Übungen zur Anwendung des Wissens im Alltag und Anregungen dazu, wie mit Hilfe eines Insulindosierungsbogens und eines Stoffwechselübungsbogens die intensivierte Insulintherapie geübt werden kann, machen den Hauptteil der Schulung aus. Erprobte Anregungen zur lebendigen Gestaltung einzelner Unterrichtssequenzen und zum Curriculum finden sich im didaktischen Leitfaden für Schulungsteams.
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Kapitel 16 · Grundlagen und Durchführung der Diabetesschulung
Bei der stationären Initialschulung der Jugendlichen muss von durchschnittlich 20 Unterrichtseinheiten – bei großer interindividueller Streuung – ausgegangen werden. Zusammenfassung Zur Schulung von Kindern und Jugendlichen liegen jeweils strukturierte und evaluierte Diabetesschulungsprogramme vor. Sie sind auf die intellektuelle Leistungsfähigkeit, die Entwicklungsaufgaben und den Lebensstil der jeweiligen Altersgruppe abgestimmt.
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Schulungen während der Langzeitbetreuung
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)) Folgeschulungen sind in der Pädiatrie in regelmäßigen Abständen erforderlich, um die Therapie an die sich wandelnden Lebensumstände der Familien, die körperliche Entwicklung der Kinder und den Verlauf des Diabetes anzupassen. Das DMP Typ 1 Pädiatrie sieht diese Schulungen leitliniengemäß vor.
Strukturierte Folgeschulungen werden zunehmend ambulant im Rahmen des DMP Typ 1 Pädiatrie angeboten. Sie schließen Gruppenangebote für Eltern, Schulkinder und für Jugendliche ein. Kompakte Kurse, bei denen z. B. drei Doppelstunden täglich über zwei bis drei Tage einer Woche verteilt für geschlossene Gruppen (4–8 Teilnehmer) angeboten werden, haben sich als umsetzbar und effektiv erwiesen. Wegen der relativen Seltenheit des Diabetes und teilweise langen Anfahrtswegen zum Zentrum kann aber nicht völlig auf stationäre Angebote zu Folgeschulungen verzichtet werden. Das gilt auch dann, wenn die Schulung mit einer Therapieumstellung, z. B. auf eine Insulinpumpe, verbunden ist. Während dieser Gruppenschulungen werden 5 Fertigkeiten zur Umsetzung der Therapie im täglichen Leben trainiert, 5 neue Therapieprinzipien vorgestellt, 5 Erfahrungen ausgetauscht, 5 die Selbständigkeit und soziale Kompetenz von Kindern und Jugendlichen gefördert und 5 Motivation aufgebaut.
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Bei den kontinuierlichen, möglichst im Abstand von 4–6 Wochen stattfindenden Ambulanzbesuchen ist die patientenzentrierte Beratung und Schulung ein integraler Bestandteil. Es werden Möglichkeiten der Anpassung der Therapie
16.5 · Schulungen während der Langzeitbetreuung
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an veränderte Lebensumstände diskutiert und Lösungen für aktuelle Probleme erarbeitet. Die Therapie- und Protokollbögen zur intensivierten Insulintherapie eignen sich gut, um mit Jugendlichen oder Eltern von jüngeren Kindern die Insulintherapie strukturiert zu überdenken und gemeinsam zu verbessern. Nach Absprache können die Übungsbögen zu Hause an einzelnen Tagen exemplarisch ausgefüllt werden, um sie beim nächsten Ambulanzbesuch als gemeinsame Arbeitsgrundlage zu nutzen. 16.5.1 Folgeschulung für Eltern Folgeschulungen für Mütter und Väter von Kindern mit Diabetes werden in etwa 2- bis 3-jährigem Abstand empfohlen. Sie werden im Rahmen des DMP Typ 1 Diabetes oder durch entsprechende Diabetesvereinbarungen in den unterschiedlichen Regionen finanziert. Eltern möglichst gleichaltriger Kinder erhalten dabei Gelegenheit, ihre Kenntnisse in entspannter Atmosphäre zu vertiefen. Übungen zur intensivierten Insulintherapie an konkreten eigenen Beispielen stehen dabei im Mittelpunkt. Sie werden durch praktische Anregungen im täglichen Umgang mit dem Kind, Hilfen bei Erziehungsfragen und sachlichen Informationen ergänzt, die sich an den Interessen der Eltern orientieren. Wiederholt angesprochen werden dabei folgende Themen: 5 Insulintherapie bei körperlicher Belastung, 5 Insulintherapie bei Infektionskrankheiten, 5 Insulintherapie mit einer Pumpe, 5 Ausgewogene Ernährung und Süßigkeitenkonsum, 5 Risiken durch leichte und schwere Hypoglykämien, 5 Entwicklung von Folgeerkrankungen, 5 Grenzen und Möglichkeiten der Selbstständigkeit von Kindern, 5 Integration in Kindergarten und Schule, 5 Insulintherapie in der Pubertät, 5 soziale Hilfen und Rechtsfragen (z. B. Aufsicht in der Schule) Ausgewählte Kapitel des Elternbuches können dabei zur Vorbereitung und als Leitlinie genutzt werden. Je enger sich die Themen an der aktuellen Lebenssituation der Familien orientieren, z. B. Kindergartenbesuch, Einschulung, Wechsel in eine weiterführende Schule, Ferienvorbereitung oder Sport, umso effektiver kann das Selbstmanagement der Eltern werden. Zusammenfassung Regelmäßige Folgeschulungen unterstützen Eltern in ihrer Doppelrolle als Therapeuten und Erzieher ihrer Kinder mit Diabetes.
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Kapitel 16 · Grundlagen und Durchführung der Diabetesschulung
16.5.2 Folgeschulung für Schulkinder Schulkinder profitieren von einer strukturierten Schulung, in der sie die Grundzüge der Diabetesbehandlung gemeinsam mit Gleichaltrigen kennen lernen und unter alltagsnahen Bedingungen üben. Ohne die intensive elterliche Fürsorge gewinnen die Kinder in der Gruppe schnell an Selbstständigkeit. Viele lernen, sich Insulin zu injizieren, den Blutzucker zu kontrollieren, angemessen auf Hypoglykämien zu reagieren und in der Öffentlichkeit selbstbewusst mit ihrer Krankheit umzugehen. Für Kinder, die sehr jung an Diabetes erkrankt sind und mittlerweile das Schulalter erreicht haben, ist diese Maßnahme oft die erste strukturierte Diabetesschulung. Ein weiterer wichtiger Vorteil der Gruppenkurse ist, dass viele Kinder zum ersten Mal andere Gleichaltrige mit Diabetes erleben, sich mit ihnen austauschen und voneinander lernen können. Strukturiere Schulungen werden von den Kostenträgern im Rahmen des DMP Typ 1 finanziert. Wegen langer Anfahrtswege sind auch hier mehrere Unterrichtseinheiten an einem Tag empfehlenswert Dieses ambulante oder auch stationäre Schulungsangebot für Kinder aus einer Klinik bietet den Vorteil, dass eine direkte Abstimmung mit den therapeutischen Konzepten des Diabetesteams und der Eltern sichergestellt ist. Es darf nicht mit den sog. Ferienlagern verwechselt werden, in denen Kinder aus unterschiedlichen Kliniken mit entsprechend verschiedenen Therapiekonzepten für mehrere Wochen zusammengefasst werden. Zusammenfassung
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Schulkinder profitieren vom Vorbild anderer Kinder mit Diabetes und der Erfahrung, dass auch andere Mädchen und Jungen mit Diabetes leben. Die Kinderschulung sollte genau mit der Schulung der Eltern abgestimmt sein.
16.5.3 Folgeschulung für Jugendliche )) Vor dem Hintergrund des körperlichen und geistigen Wandels beim Übergang von der Kindheit ins Jugendalter hat die Diabetesschulung für fortgeschrittene Jugendliche eine besondere Bedeutung. Jugendlichen, die bereits als Kinder an Diabetes erkrankten und bisher von ihren Eltern umsorgt wurden, sollte ein Diabetestraining in einer Gruppe Gleichaltriger angeboten werden, das sie auf die eigenverantwortliche Diabetesbehandlung vorbereitet.
16.5 · Schulungen während der Langzeitbetreuung
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Ziel dieser Schulung ist es einerseits, das Wissen über die intensivierte Insulintherapie unter Alltagsbedingungen zu vertiefen. Andererseits geht es für Jugendliche darum, gemeinsam mit anderen Gleichaltrigen eigene Wege zu suchen, die es erlauben, alterstypische Entwicklungsaufgaben trotz Diabetes gut zu bewältigen. Als Schulungsform bietet sich ein einwöchiger Kurs entweder stationär oder ambulant für Gruppen von 6–8 Jugendlichen an. Der Titel »Training« statt Schulung ist bei diesen Maßnahmen bereits Programm. Die Praxis der Diabetesbehandlung mit einer intensivierten Insulintherapie steht dabei mit dem Ziel im Mittelpunkt, dass jeder Jugendliche eigene Erfolge bei der Therapie erleben kann. Alltagsnahe Unternehmungen, z. B. Sport, Restaurantbesuch, frühes oder spätes Aufstehen, werden durch engmaschige Selbstkontrollen des Blutglukosespiegels und systematische Diskussionen der selbst gewählten Therapieschritte begleitet. Dabei können die ausführlichen Protokoll- und Therapiebögen (s. Abb. 9.5, 11.18 und 11.21) genutzt werden. Die praxisorientierte Schulung wird nur durch wenige, aber notwendige theoretische Schulungsanteile ergänzt, die nicht frontal vorgetragen, sondern gemeinsam mit den Jugendlichen erarbeitet werden. Dazu können sie z. B. die Aufgabe erhalten, selbst die Wirkkurven ihrer Insuline für einen Tag zu zeichnen und in Beziehung zum Kohlenhydratgehalt ihrer Nahrung zu setzen. Sie können ein Poster über das Prinzip der intensivierten Insulintherapie entwerfen oder dazu eine eigene Powerpoint-Präsentation erstellen. Zum Thema Ernährung können sie beliebte Nahrungsmittel und Fertigprodukte bewerten, indem sie Analysen auf den Verpackungen interpretieren. Speziell für Mädchen mit Diabetes sind Fragen zur Gewichtsregulation und zum Umgang mit dem Schlankheitsdruck wichtige Themen, um der Entwicklung von Essstörungen vorzubeugen. Weiterhin können Jugendliche angeregt werden, sich über schwierige Alltagsprobleme auszutauschen und gemeinsam selbstbewusste und angemessene Verhaltensweisen zu überlegen. Als Leitlinie und Unterrichtsmaterial zum Training können die Hefte des Schulungsprogramms für Jugendliche mit Diabetes dienen. Die Hauptthemen des Kurses werden durch die Hefte für »Fortgeschrittene« abgedeckt, die als Leitfaden konzipiert sind für 5 praktische Unterrichtssequenzen (z. B. Beschreibung der eigenen Insulinwirkung, Dosisfindung, Blutzuckerwirksamkeit verschiedener Nahrungsmittel, Einfluss körperlicher Aktivität), 5 Diskussionen (z. B. Empfängnisverhütung, Kinderwunsch, Angst vor Folgeerkrankungen, Vermeidung von Folgeerkrankungen und Zukunftsaussichten) oder 5 Gesprächsübungen (z. B. Bewerbung um einen Ausbildungsplatz, Konflikte mit Eltern um Selbständigkeit, Information der neuen Freundin).
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Kapitel 16 · Grundlagen und Durchführung der Diabetesschulung
Da jedes Heft durch persönliche Berichte, Erfahrungen und vor allem authentische Fotos von Jugendlichen mit Diabetes illustriert ist, können entsprechende Aufnahmen auch genutzt werden, um Diskussionen anzuregen. Injektionen in der Öffentlichkeit, Alkoholkonsum, Urlaub ohne Eltern oder das Verhalten von Mitschülern und Fremden sind dafür nur einige Beispiele. Weitere Anregungen zum Aufbau des Curriculums und zu einer lebensnahen Gestaltung der praktischen Unterrichtsanteile finden sich im didaktischen Leitfaden zu diesem Programm. Zusammenfassung In der Folgeschulung für Jugendliche geht es weniger darum, vorgefertigte Lösungen zu wiederholen, als vielmehr darum, zu lernen, wie individuell passende Lösungen erarbeitet und umgesetzt werden können.
Literatur Arbeitsgemeinschaft Pädiatrische Diabetologie (2004) Kinder mit Diabetes im Kindergarten: Informationen für Erzieherinnen und Erzieher in Kindergärten. www.diabetes-kinder.de Arbeitsgemeinschaft Pädiatrische Diabetologie (2004) Kinder mit Diabetes in der Schule. Informationen für Lehrerinnen und Lehrer. www.diabetes-kinder.de Danne T, Beyer P, Holl RW et al. (2004) Diagnostik, Therapie und Verlaufskontrolle des Diabetes mellitus im Kindes- und Jugendalter. Diab Stoffw 13: 37–47 Deutsche Diabetes-Gesellschaft (2006) Qualitätsstandards zur Anerkennung einer Behandlungseinrichtung »Basisanerkennung (Stufe 1)«. www.deutsche-diabetesgesellschaft.de/redaktion/einrichtungen/Qualitätsrichtlinien_Stufe_1_Mai_2006 Hürter P, Jastram H-U, Regling B et al. (2005) Diabetes bei Kindern: ein Behandlungsund Schulungsprogramm, 3. Aufl. Kirchheim, Mainz Hürter P, Lange K (2004) Kinder und Jugendliche mit Diabetes. Medizinischer und psychologischer Ratgeber für Eltern, 2. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokio Koordinierungsausschuss Disease Management-Programme (2004) Empfehlungen des Koordinierungsausschusses gemäß §3 Abs. 2 Satz 2 SGB V S 137f »Anforderungen« an die Ausgestaltung von strukturierten Behandlungsprogrammen für Patienten mit Diabetes mellitus Typ 1. www.gesundheitspolitik.net/01_gesundheitssystem/ disease-management/diabetes-mellitus-typ1/DM-Typ1-Beschluss.pdf Lange K (2002) Jugendliche mit Diabetes: ein Schulungsprogramm. Didaktischer Leitfaden, 2. Aufl. Kirchheim, Mainz Lange K, Burger W, Haller R et al. (1995) Diabetes bei Jugendlichen: ein Schulungsprogramm. Kirchheim, Mainz
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Medizinische Behandlung und soziale Beratung )) Der Typ-1-Diabetes ist eine lebenslange chronische Krankheit, die zwar nicht geheilt, aber durch eine sorgfältige ambulante Langzeitbehandlung so gut kontrolliert werden kann, dass die Patienten fast ohne Klinikaufenthalte ein wenig beeinträchtigtes Leben führen können. Die durch die Trias Insulinsubstitution, Ernährung und Stoffwechselselbstkontrolle geprägte Diabetestherapie bestimmt das tägliche Leben der Familien. Das System der metabolischen Langzeitbehandlung muss daher durch ein Rehabilitationssystem ergänzt werden, dessen Aufgabe darin besteht, Kindern und Jugendlichen ein möglichst wenig durch den Diabetes beeinträchtigtes Familien-, Schul-, Berufs- und Sozialleben zu ermöglichen. Die medizinische, soziale, pädagogische und psychologische Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes erfordert jedoch sehr viel mehr organisierte und institutionalisierte Versorgungskapazität, als bisher angeboten werden kann.
15.1
Medizinische Behandlung
)) Es besteht noch Konsens darüber, dass Kinder und Jugendliche nach der Manifestation ihres Diabetes stationär zur Erstbehandlung und zur anschließenden individuellen Initialschulung in einer diabetologisch-qualifizierten Kinderklinik aufgenommen werden.
Die sich an den initialen Klinikaufenthalt anschließende Langzeitbehandlung von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes sollte fast ausschließlich ambulant in diabetologisch-qualifizierten Kinderkliniken erfolgen. Stationäre Aufnahmen nach der Diabetesmanifestation sollten auf ein Mindestmaß reduziert werden. Die Indikationen zur Klinikaufnahme werden in den neuesten Empfehlungen des Koordinierungsausschusses zum »Disease Management Programm« (gemäß § 137 f Abs. 2 Satz 2 SGB V) aufgeführt: 5 bei Kindern und Jugendlichen mit neu diagnostiziertem Diabetes mellitus Typ 1 in pädiatrisch diabetologisch-qualifizierten Einrichtungen, 5 bei Notfall, 5 zur Abklärung nach wiederholten schweren Hypoglykämien oder Ketoazidosen,
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Kapitel 15 · Medizinische Behandlung und soziale Beratung
5 bei Nichterreichen eines HbA1c-Wertes unter dem ca. 1,2-fachen der oberen
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Norm der jeweiligen Labormethode nach in der Regel 6 Monaten (spätestens 9 Monaten) Behandlungsdauer in einer ambulanten diabetologisch-qualifizierten Einrichtung, ggf. zur Einleitung einer intensivierten Insulintherapie, ggf. zur Durchführung eines strukturierten Schulungs- und Behandlungsprogramms, ggf. zur Einleitung einer Insulinpumpentherapie, ggf. zur Mitbehandlung von Begleit- und Folgeerkrankungen des Diabetes mellitus Typ 1.
15.1.1 Qualitätsstandards der stationären Behandlung in Kinderkliniken Die neuen Qualitätsstandards der Deutschen Diabetes Gesellschaft zur Anerkennung einer Behandlungseinrichtung für Kinder und Jugendliche (Basisanerkennung Stufe 1) nehmen im Wesentlichen die entsprechenden Kriterien des Koordinierungsausschusses für das Disease-Management-Programm auf: 5 Patienten: Mindestens 30 kontinuierlich ambulant und/oder stationär betreute Patienten pro Jahr. 5 Personal: Pädiater mit Anerkennung als Diabetologe (DDG), Diabetesberaterin (DDG) und Diätassistentin, denen ein Psychologe und ein Sozialarbeiter assoziiert sind. Das Team sollte über Erfahrungen in der Anwendung moderner Therapiemethoden verfügen. 5 Funktion: Möglichkeit der ambulanten und stationären Betreuung mit psychosozialer Krisenintervention, strukturierter Initial- und kontinuierlicher Folgeschulung (ambulant und stationär, individuell und in altershomogenen Gruppen). 5 Möglichkeit zu kontinuierlicher ambulanter Langzeitbetreuung mit regelmäßigen Kontrolluntersuchungen. 5 Adäquate Räume für die Durchführung der Behandlungen, Beratungen und Schulungen. 5 Beteiligung an Maßnahmen zur Qualitätssicherung im Bereich der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität. 15.1.2 Disease-Management-Programm Typ-1-Diabetes Von großer gesundheitspolitischer Relevanz ist die Entwicklung der DiseaseManagement-Programme (DMP) für Typ-1-Diabetes. Ende 2003 lagen die ersten Empfehlungen u. a. für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes im DMP-Typ-1 vor. Seine Aufgaben wurden zum 1. Januar 2004 vom Gemeinsamen Bundesausschuss der Ärzte, Zahnärzte, Krankenhäuser und
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Krankenkassen (GemBA) übernommen. Die Aufgaben des GemBA sind im Sozialgesetzbuch (§ 91 SGB V) festgelegt. Von zentraler Bedeutung für die zukünftige Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes sind die neuesten Empfehlungen des Koordinierungsausschusses zum DMP (http://www.gesundheitspolitik.net/01_gesundheitssystem/disease-management/diabetes-mellitus-typ1/DM-Typ1-Beschluss. pdf ), in denen es heißt: „Bei Kindern und Jugendlichen erfolgt die Koordination unter 16 Jahren grundsätzlich, unter 21 Jahren fakultativ durch einen diabetologisch qualifizierten Pädiater/pädiatrische Einrichtung. Erfolgt in Einzelfällen die Koordination durch einen Hausarzt…, wird unter »enger Kooperation« verstanden, dass… eine Überweisung bei Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren grundsätzlich, unter 21 Jahren fakultativ an eine diabetologisch qualifizierte pädiatrische Einrichtung zu veranlassen ist.“ Derzeit (Juli 2006) ist das DMP Typ-1-Diabetes in einigen KV-Regionen umgesetzt. Es bleibt abzuwarten, ob die Empfehlungen bundesweit spezifisch für Kinder und Jugendliche umgesetzt werden. 15.1.3 Wirtschaftliche Grundlagen der ambulanten Langzeitbehandlung ! Die beste ambulante Versorgungssituation besteht zweifellos in Institutionen, die den Kriterien der DDG zu Anerkennung als Schulungs- und Behandlungseinheiten für Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes entsprechen.
Die Finanzierung der vielfältigen Behandlungsmaßnahmen erfolgt meist über persönliche oder institutionelle Ermächtigungsverträge zwischen Klinikärzten und der kassenärztlichen Vereinigung (KV) sowie über Poliklinikverträge. In einigen KV-Regionen ist eine Abrechnung der Behandlungsmaßnahmen über die Anerkennung als Diabetesschwerpunktpraxis möglich. Die über die Ziffernabrechnung (EBM2000+) oder Poliklinikpauschale abgerechneten Beträge sind für die Krankenhausträger meist defizitär. Das Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GMG) bietet einige weitere Möglichkeiten, um die ambulante Versorgung über die Regelversorgung nach § 72 durch stationäre Einrichtungen zu ermöglichen und zu finanzieren: 5 Der § 137g SGB V betrifft die Disease-Management-Programme. Zu deren Durchführung haben Krankenkassen die Möglichkeit, auch Krankenhäuser in die ambulante Langzeitbehandlung einzubeziehen. Krankenkassen können darüber hinaus mit zugelassenen Krankenhäusern Verträge über ambulante
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Kapitel 15 · Medizinische Behandlung und soziale Beratung
hochspezialisierte Leistungen und zur Behandlung seltener Erkrankungen abschließen. Die §§ 116a, 116b SGB V betreffen außerdem die Öffnung der Krankenhäuser bei Unterversorgung. Soweit und solange für ein entsprechendes Fachgebiet in einem Planungsbereich durch den Landesausschuss der Ärzte und Krankenkassen eine Unterversorgung festgestellt wird, kann der Zulassungsausschuss zugelassene Krankenhäuser auf deren Antrag zur vertragsärztlichen Versorgung ermächtigen. Der § 140a SGB V beschreibt Modelle »Integrierter Versorgung«. Die integrierte Versorgung wird ohne die Kassenärztlichen Vereinigungen außerhalb des Sicherstellungsauftrags nach § 75 Abs. 1 durchgeführt. Der § 63 SGB V beschreibt Modellvorhaben. Der § 73a SGB V sieht spezifische Strukturverträge vor, die im Kontext der Disease-Management-Programme von Bedeutung sein können.
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15.1.4 Qualitätsrichtlinien für die stationäre und ambulante Behandlung
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Grundlage der medizinischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes ist das am 25.5.1995 verabschiedete Statement der AGPD zur »Qualitätssicherung in der pädiatrischen Diabetologie«. Im Rahmen der evidenzbasierten Diabetes-Leitlinien (DDG) wurden 2004 die pädiatrischen Leitlinien: »Diagnostik, Therapie und Verlaufskontrolle des Diabetes mellitus im Kindes- und Jugendalter« verabschiedet. Sie kamen auf Empfehlung der DDG, der AGPD und des Koordinierungsausschusses gemäß § 137f Abs. 2 Satz 2 SGB V (DMP) zustande und richten sich an alle Berufsgruppen, die Kinder und Jugendliche mit Diabetes betreuen und unterstützen. Die institutionellen und personellen Voraussetzungen sowie die Parameter zur Kontrolle der ambulanten Langzeitbehandlung sind in den beiden folgenden Übersichten aufgeführt. Anschließend folgen die zentralen Parameter der Ergebnisqualität.
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Institutionelle und personelle Voraussetzungen (Strukturqualität) 5 Eine umfassende Betreuung setzt ein Team aus Diabetesberaterin (möglichst DDG), Ernährungsberaterin, Kinderpsychologe, evtl. Sozialarbeiter und einem Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde (Diabetologe DDG) voraus. Es ist wünschenswert, dass dieses Team die Patienten sowohl stationär als auch ambulant betreut. 5 Das Behandlungsteam sollte Erfahrung in der Anwendung moderner Therapiemaßnahmen haben und diese allen geeigneten Patienten zugänglich machen. 6
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5 Bei akuten Problemen im medizinischen, psychischen oder sozialen Bereich muss eine kurzfristige Intervention gewährleistet sein. Ein in der pädiatrischen Diabetologie erfahrener Arzt sollte ständig erreichbar sein. 5 Die Betreuung muss regelmäßige Kontrolluntersuchungen einschließen. Werden diese Untersuchungen teilweise von niedergelassenen Ärzten und teilweise an einer Klinikambulanz durchgeführt, muss gewährleistet werden, dass alle in der Betreuung mitwirkenden Ärzte sowohl über die erhobenen Untersuchungsergebnisse als auch über die geplanten Therapiemaßnahmen unterrichtet werden. Eine enge Kooperation zwischen niedergelassenem Bereich und Zentrum setzt regelmäßige Treffen und gemeinsame Weiterbildung über aktuelle Behandlungsstrategien voraus. 5 Eine intensive Schulung von Patienten und Eltern ist die Grundlage für eine eigenverantwortliche Diabetestherapie. Schulungsaktivitäten müssen speziell auf die Diabetesbehandlung bei Kindern und Jugendlichen zugeschnitten werden, wobei die altersentsprechenden Möglichkeiten berücksichtigt werden müssen. 5 Besondere Hilfsangebote sind für Familien in schwierigen Situationen notwendig. Diese sollten in Zusammenarbeit zwischen Kinder- und Jugendpsychologen, Sozialarbeiter, Kinderarzt und den jeweils zuständigen öffentlichen Behörden erfolgen. Alle Familien sollen auf die Angebote der Patientenorganisationen aufmerksam gemacht werden. 5 Eine regelmäßige Fortbildung auf dem Gebiet des Diabetes bei Kindern ist für alle Mitarbeiter im Diabetesteam notwendig. Die Arbeitsgemeinschaft für Pädiatrische Diabetologie hat die Aufgabe, u. a. im Rahmen der jährlichen Arbeitstreffen, eine ausgewogene Fortbildung auf hohem Niveau sicherzustellen. Darüber hinaus sollten Fortbildungsveranstaltungen organisiert werden, die sich an das ganze Diabetes-Behandlungsteam wenden und einen Erfahrungsaustausch in kleinen Gruppen ermöglichen. 5 Wissenschaftliche Aktivitäten mit dem Ziel einer Verbesserung der Diabetestherapie im Sinne der obigen Ziele sind zu unterstützen. Hier kann eine Koordination durch die APGD übernommen werden. 5 Betroffene Familien sollten über die Möglichkeit für Screening-Untersuchungen bzgl. des zukünftigen Auftretens von Diabetes bei bisher stoffwechselgesunden Geschwistern und Eltern informiert werden. Auf aktuelle Studien mit dem Ziel einer Diabetesprävention ist hinzuweisen. 5 Eine wohnortnahe Betreuung der Patienten ist wünschenswert. Nur ein regelmäßiger Kontakt zum Behandlungsteam kann ein optimales Langzeitergebnis sicherstellen. Dieses Ziel steht im Konflikt mit der Tatsache, dass eine größere Patientengruppe an einem Zentrum betreut werden muss, damit 6
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Kapitel 15 · Medizinische Behandlung und soziale Beratung
das Behandlungsteam ausreichend Erfahrung mit der Diabetestherapie bei Kindern und Jugendlichen unterschiedlicher Altersgruppen gewinnt. Auch der notwendige Personalbedarf (Arzt, Diabetesberaterin, Ernährungsberaterin, Psychologe, Sozialarbeiter) ist wirtschaftlich erst ab einer gewissen Größe des Zentrums zu rechtfertigen. Die optimale Anzahl der in einem Zentrum für pädiatrische Diabetologie betreuten Patienten muss deshalb regionale Gegebenheiten berücksichtigen.
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Parameter für die Dokumentation der ambulanten Langzeitbehandlung (Prozessqualität) 5 Häufigkeit und Dauer stationärer Aufenthalte 5 Häufigkeit ambulanter Vorstellungstermine 5 Therapiemodalität (die Intensität der Therapie kann objektiv anhand der Anzahl der täglichen Insulininjektionen beurteilt werden) 5 Durchführung von Stoffwechselselbstkontrollen 5 Durchführung von Schulungsmaßnahmen 5 Vollständigkeit medizinisch notwendiger Kontrolluntersuchungen: 5 als Mindestanforderung sollten bei jedem Patienten alle 6 Monate folgende Parameter untersucht und dokumentiert werden (empfehlenswert sind Kontrollen alle 3 Monate): – Blutdruck systolisch und diastolisch – Gewicht, Größe, Bodymass-Index (BMI) – Kontrolle der Injektionsstellen – HbA1c, einmal jährlich sollten untersucht und dokumentiert werden: – Cholesterin, Triglyzeride bei Patienten, die über 11 Jahre alt sind oder seit über 5 Jahren an Diabetes erkrankt sind, muss mindestens einmal jährlich durchgeführt werden: – Augenhintergrundsuntersuchung in Mydriasis – Bestimmung der Albuminausscheidung im Urin (vorzugsweise im Nachturin) – Befragung, ob der Patient regelmäßig raucht (Alter >11 Jahre) 5 Kontrazeptive Beratung Information über präkonzeptionelle Stoffwechseleinstellung, Diabetesführung während der Schwangerschaft und Fehlbildungs-/Diabetesrisiko des Kindes
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Parameter zur Beurteilung der Qualität der ambulanten Langzeitbehandlung (Ergebnisqualität) 5 Häufigkeit schwerer Hypoglykämien (Anzahl pro 100 Patientenjahre; 7 Kap. 13) – Notwendigkeit der Fremdhilfe – Koma, Krampfanfall, Injektion von Glukagon oder i.v.-Glukose, stationäre Aufnahme wegen schwerer Hypoglykämie 5 Häufigkeit von ketoazidotischen Entgleisungen (pro Jahr pro 100 Patienten) 5 Längenwachstum und Gewichtsverlauf, Häufigkeit des Übergewichtes (BMI) 5 Stoffwechseleinstellung (HbA1c) Medianer HbA1c-Wert aller in der Klinik betreuten Patienten, sowohl als Absolutwert als auch als Anzahl der Standardabweichungen über dem Mittelwert einer stoffwechselgesunden Vergleichsgruppe. Liegen mehrere Messwerte eines Patienten in dem Vergleichszeitraum vor, so wird zunächst jeweils der Median dieser Einzelmesswerte gebildet (7 Kap. 9).
Die an Kinderkliniken betreuten Patienten unterscheiden sich in Alter und Diabetesdauer. Beides sind wichtige Einflussgrößen auf die Stoffwechselkontrolle. Eine separate Auswertung folgender Gruppen ist daher sinnvoll: 5 Patienten in der Remission (Diabetesdauer 2 Monate bis 1 Jahr), 5 Patienten mit längerer Diabetesdauer, präpubertär (Alter <11 Jahre), 5 Patienten mit längerer Diabetesdauer, pubertär (Alter 11–15 Jahre), 5 Patienten mit längerer Diabetesdauer, postpubertär (Alter >15 Jahre). Hyperlipidämie 5 Anteil der Patienten mit normalem (<200 mg/dl bzw. 5,2 mmol/l), grenzwertigem oder erhöhtem (>250 mg/dl bzw. 6,5 mmol/l) Gesamtcholesterin. 5 Für eine verlässliche Bestimmung der Triglyzeride ist einmal jährlich eine Nüchtern-Blutentnahme empfehlenswert. Bei Patienten mit erhöhtem Gesamtcholesterin sollte eine Differenzierung der Cholesterinunterfraktionen (HDL/LDL) durchgeführt werden.
Hypertension 5 Anteil der Patienten, deren systolischer bzw. diastolischer Blutdruck bei wiederholter Messung über der 90. Perzentile der alters- und geschlechtsspezifischen Normwerte liegt. Zum Ausschluss einer Praxishypertonie sollte bei Jugendlichen eine 24-h-Blutdruckmessung durchgeführt werden (7 Kap. 6).
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Kapitel 15 · Medizinische Behandlung und soziale Beratung
Prävalenz von Folgeerkrankungen in Abhängigkeit von der Diabetesdauer 5 Beginnende/manifeste diabetische Nephropathie 5 Retinopathie: Background/proliferativ.
Für die Beurteilung der Urinalbuminausscheidung als wichtigstem Parameter für die Diagnose einer beginnenden bzw. manifesten diabetischen Nephropathie wurden im Statement von 1995 die von der European IDDM Policy Group (1993) und der American Diabetes Association (1996) vorgeschlagenen Grenzwerte zugrundegelegt. 1997 wurden in einem ergänzenden Statement der AGPD die Grenzwerte für die Diagnose einer Mikro- bzw. Makroalbuminurie festgelegt (7 Kap. 6). Als Mindestanforderung für die Durchführung der Augenuntersuchung zum Ausschluss einer diabetischen Retinopathie wird eine Ophthalmoskopie bei dilatierter Pupille gefordert. Fundusphotographie und Fluoreszenzangiographie können pathologische Befunde bereits in einem früheren Stadium nachweisen. Die Prävalenz pathologischer Befunde wird somit auch durch die Untersuchungstechnik bestimmt (7 Kap. 6). Als Vergleichsgröße sollte für alle Fragen der prozentuale Anteil der Patienten dargestellt werden, auf die die jeweilige Kategorie zutrifft. Holl et al. entwickelten ein EDV-Dokumentationsprogramm »Diabetes-Patienten Verlaufsdokumentation« (dpv; www.dpv.mathematik.uni-ulm.de), das die im Statement der AGPD aufgeführten Parameter der Prozess- und Ergebnisqualität umfasst und eine statistische Auswertung der Daten ermöglicht. Ein weiteres Dokument für die Patienten ist der rote (pädiatrische) Gesundheitspass Diabetes. Er hat die Größe eines Reisepasses, kann 5 Jahre lang genutzt werden und enthält einige wichtige Daten zur Prozess- und Ergebnisqualität der Behandlung eines Patienten mit Typ-1-Diabetes. 15.1.5 Vorstellungen in der Diabetesambulanz ! Im Mittelpunkt der regelmäßigen Vorstellungen in der Diabetesambulanz steht das Beratungsgespräch zwischen den Kindern und Jugendlichen sowie ihren Eltern und dem pädiatrischen Diabetologen.
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Kinder bis zum 12.–14. Lebensjahr kommen gemeinsam mit ihren Eltern in die Sprechstunde, meist mit der Mutter. Es gehört zur Kunst des Arztes, die Kinder in das Gespräch einzubeziehen. Häufig dominieren die Mütter. Sie fühlen sich für die Behandlung des Diabetes verantwortlich und suchen im intensiven Dialog mit dem Arzt Rat und Hilfe. Dabei kommen die Kinder oft zu kurz. Während
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der Zeit der Individuation zwischen dem 12. und 15. Lebensjahr wird die Anwesenheit einer Freundin oft als hilfreich empfunden, wenn die jungen Patienten lernen müssen, den Dialog mit dem Arzt allein zu führen. Der Lösungsprozess von den Eltern sollte vom Arzt behutsam gefördert werden, ohne die Eltern zu kränken. Jugendliche mit Diabetes wollen und können, wenn sie das 15. oder 16. Lebensjahr erreicht haben, für ihren Diabetes allein verantwortlich sein. Sie möchten die Ambulanzgespräche ohne ihre Eltern führen. Die Frequenz der Ambulanzbesuche betrug nach einer Umfrage der AGPD im Jahre 2003 bei den beteiligten Kinderkliniken 6–7 pro Jahr. Die Dauer der Ambulanzgespräche beträgt normaler Weise etwa 15 min, bei problematischen Situationen (metabolische Probleme, psychische oder soziale Konflikte etc.) kann sie 30 min weit überschreiten. Erörterung der aktuellen Stoffwechselsituation In der Sprechstunde wird der Verlauf der Stoffwechseleinstellung seit dem vorausgegangenen Besuch eingehend diskutiert. Die Ergebnisse der Stoffwechselselbstkontrolle der letzten 4–6 Wochen, die selbstständigen therapeutischen Entscheidungen, ihre Folgen für die Stoffwechseleinstellung und besondere Stoffwechselereignisse (z. B. Hypoglykämien) werden retrospektiv erörtert. Grundlage der Stoffwechseleinstellung sind die protokollierten Aufzeichnungen der Ergebnisse der Stoffwechselselbstkontrolle und der Therapie. Erörterung der aktuellen Lebenssituation in der Familie Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes sind mehr als ihre stoffwechselgesunden Altersgenossen auf die Hilfe und Fürsorge ihrer Eltern angewiesen. Eine intakte Familienstruktur ist daher die beste Gewähr und wichtigste Voraussetzung für eine erfolgreiche Diabetesbehandlung. Die Erörterung der aktuellen Lebenssituation ist daher neben der Diskussion der Stoffwechseleinstellung ein weiterer wichtiger Bestandteil des Gesprächs zwischen dem Patienten, seinen Eltern und dem Arzt. Jede Altersstufe ist mit charakteristischen Problemen belastet. Besonders schwierig ist die Betreuungs- und Behandlungssituation bei Kindern von allein erziehenden Müttern oder Vätern. Sie sind fast immer, vor allem wenn sie berufstätig sein müssen, überfordert und in hohem Maße hilfsbedürftig. Diabetes bei Säuglingen Im 1. Lebensjahr tritt ein Typ-1-Diabetes äußerst selten auf. Die Behandlungsprobleme bei Säuglingen sind von den Eltern kaum zu meistern. Besondere Schwierigkeiten bereiten die Insulindosierung, die Ernährung und die Stoffwechselkontrollen. Eine zufriedenstellende Insulinbehandlung ist nur mit differenzierter Prandial- und Basalinsulinsubstitution möglich. In den letzten Jahren hat sich bei dieser Altersgruppe daher der Einsatz einer Insulinpumpe bewährt.
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Für die exakte Dosierung der geringen Insulinmengen stellt man eine U-4Insulinpräparation mit Hilfe eines insulinfreien Mediums her (1 I.E. auf der Insulininjektionsspritze entspricht bei dieser Verdünnung 0,1 I.E. Insulin). Besonders bewährt haben sich schnell wirkende Insulinanaloga, da sie postprandial injiziert werden. Vor bzw. nach jeder Mahlzeit (4–6 Mahlzeiten pro Tag) muss die adäquate Prandialinsulindosis gefunden werden. Die Basalratensubstitution erfordert häufig 3–4 Insulininjektionen pro Tag. Die Stoffwechselkontrolle erfolgt mit Hilfe von Blutglukosebestimmungen, die durch Uringlukosemessungen ergänzt werden können (Teststäbchen in die nasse Windel drücken). Jenseits des 1. Trimenons sind gut geschulte Eltern oft in der Lage, ihre Säuglinge selbstständig zu Hause zu behandeln. Engmaschige Vorstellungen in der Diabetesambulanz (alle 3–4 Wochen) sind wünschenswert. Diabetes bei Kleinkindern Sehr viel häufiger tritt der Typ-1-Diabetes während des Kleinkind- und Vorschulalters auf. Die Stoffwechseleinstellung dieser Kinder, die sich während dieser Altersphase meist in der Remission befinden, ist oft schwieriger als während der Pubertät. Die Blutglukosewerte schwanken erheblich. Die Eltern sind verzweifelt, weil das Blutglukoseverhalten nicht ihren Berechnungen entspricht. Wegen des meist niedrigen Insulinbedarfs wurden Kleinkinder früher häufig mit einer konventionellen Insulintherapie eingestellt, heute wird die Insulinpumpentherapie zunehmend eingesetzt. Die Hypoglykämiegefahr ist bei Kleinkindern relativ groß (7 Kap. 13). Kleinkinder leiden oft unter den schmerzhaften Maßnahmen der Stoffwechselselbstkontrollen und der Insulininjektionen. Sie widersetzen sich, toben und schreien und rufen damit bei ihren Eltern nicht nur Mitleid, sondern auch Schuldgefühle hervor (7 Kap. 16). Diabetes bei Schulkindern Die Zeit zwischen dem 6. und 12. Lebensjahr bereitet den Eltern deutlich weniger Probleme. Viele Schulkinder akzeptieren ihren Diabetes, lernen vor allem im operationalen Bereich, geschickt mit ihm umzugehen. Sie überlassen die Therapieverantwortung ohne große Widerstände ihren Eltern, meist der Mutter (7 Kap. 16). Schulkinder fürchten stationäre Klinikaufenthalte, sie arrangieren sich jedoch meist mit den regelmäßigen Besuchen in der Diabetesambulanz. Unzufrieden und verdrossen werden sie, wenn sie in der Sprechstunde nicht zu Wort kommen. Ehescheidungen haben während dieser Altersphase immer katastrophale Wirkungen auf die Lebenssituation und damit auch auf die Stoffwechseleinstellung von Kindern mit Typ-1-Diabetes (7 Kap. 17).
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Diabetes bei Jugendlichen Die Altersphase zwischen dem 12. und 18. Lebensjahr steht im Zeichen der Individuation. Die Jugendlichen lernen, ihren Diabetes selbstverantwortlich zu behandeln. Sie erleben die behütende Betreuung durch ihre Eltern häufig als Bevormundung. Der Diabetes wird von ihnen nicht selten krisenhaft erlebt. Der Akzeptanzprozess erfährt neue Aktualität (7 Kap. 16). Die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensperspektive (Beruf, Folgeerkrankungen etc.) motiviert viele Jugendliche, sich verstärkt um eine gute Stoffwechseleinstellung zu bemühen, sie kann aber auch Ursache psychischer Not und Verzweiflung sein. Die Gespräche zwischen dem Jugendlichen und dem Arzt gewinnen eine neue Dimension. Man kennt sich oft jahrelang, weiß sich gegenseitig einzuschätzen, macht sich nichts mehr vor. Die Möglichkeit zu einem vertrauensvollen Dialog zwischen gleichberechtigten Partnern sollte von jedem Arzt, der Jugendliche mit Typ-1-Diabetes betreut, erkannt und genutzt werden. In den Gesprächen geht es nicht nur um die Stoffwechseleinstellung, sondern auch um die Bewältigung der aktuellen und zukünftigen Lebenssituation. Wenn die Arzt-Patienten-Beziehung stimmt, wünschen viele Jugendlichen bis ins junge Erwachsenenalter hinein, vom Kinder- und Jugendarzt betreut zu werden (fakultativ bis zum 21. Lebensjahr möglich). Die Therapie der Wahl ist in dieser Altersphase die intensivierte differenzierte Prandial- und Basalinsulinsubstitution (ICT bzw. CSII). Jugendliche mit Typ-1-Diabetes gehören zu der am schwierigsten zu behandelnden Altersgruppe. Nationale und internationale Studien weisen übereinstimmend darauf hin, dass es bei Jugendlichen weitaus schwerer gelingt, eine ausgeglichene Stoffwechsellage zu erreichen als bei jüngeren Kindern oder Erwachsenen mit Typ-1-Diabetes (7 Kap. 9). Als Ursachen werden somatische, pädagogische und psychosoziale Faktoren diskutiert. Aus somatischer Sicht sind vor allem hormonelle Einflüsse zu nennen, die mit den Reifungs- und Wachstumsprozessen einhergehen. Aus pädagogischer Sicht stellen Wissensdefizite und mangelnde praktische Erfahrung in der komplexen und anspruchsvollen Diabetestherapie weitere Gründe für die unbefriedigende Stoffwechsellage vieler Jugendlicher dar. Vor allem die Abstimmung der Therapie mit einem jugendtypischen Lebensstil, z. B. mit extremer körperlicher Belastung, unregelmäßigem Tagesablauf, Schlafdefizit, Restaurantbesuch, Fastfood oder Alkoholkonsum, stellt Jugendliche vor bisher nicht gewohnte schwierige Aufgaben. Obwohl die intensivierte Insulintherapie eine flexiblere und weniger eingeschränkte Lebensführung ermöglicht als die konventionelle Insulintherapie, sind die Anforderungen an Verständnis, Verantwortungsbewusstsein und Selbstdisziplin erheblich. Jugendliche mit Typ-1-Diabetes beschreiben vor allem die Notwendigkeit von ständiger Wachsamkeit, kontrolliertem Verhalten, Mit-
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führen der notwendigen Utensilien und Dokumentation aller Therapieschritte als belastend und schwierig (7 Kap. 16).
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! Die Fürsorgepflicht des pädiatrischen Diabetesteams hat daher ganz besonders
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der Gruppe von Jugendlichen zu gelten, deren Stoffwechsel besonders schlecht eingestellt ist, d. h. Jugendliche mit einem HbA1c-Wert über 9%.
Die Verfügbarkeit dieses objektiven Parameters zur Beurteilung der individuellen und kollektiven Behandlungsergebnisse birgt dabei ohne Zweifel die Gefahr in sich, dass im Wettstreit um den Nachweis möglichst guter mittlerer HbA1c-Werte schlecht eingestellte Jugendliche das Betreuungssystem verlassen, weil sie sich überfordert oder sogar diskriminiert fühlen. Untersuchungen in der Diabetesambulanz Langfristig kann die Qualität der Diabetestherapie danach beurteilt werden, ob sich das Kind oder der Jugendliche mit Typ-1-Diabetes normal entwickelt. Die altersentsprechende Größen- und Gewichtszunahme, die der Größe und dem Alter entsprechende Entwicklung des Knochenalters, die reguläre Sexualreife und eine gute körperliche und geistige Leistungsfähigkeit sind indirekte Hinweise für die Güte der Therapie. Alle während der ambulanten Vorstellung notwendigen Untersuchungsmaßnahmen sind im Abschnitt über die Qualitätssicherung der Diabetestherapie von Kindern und Jugendlichen dargestellt. Die ärztliche Untersuchung und Beratung des Patienten und seiner Eltern sollte, wenn möglich, durch ein Gespräch mit der Ernährungsberaterin ergänzt werden. Psychische Probleme können mit einem Psychologen, soziale mit einem Sozialarbeiter erörtert werden. Zusammenfassung Dauer, Inhalt und Ergebnis der Ambulanzgespräche und die erhobenen Befunde müssen sorgfältig in einem Ambulanzprotokoll dokumentiert werden. (u. a. als Leistungsnachweis zur Vorlage bei der Kassenärztlichen Vereinigung oder beim Kostenträger). Ein Duplikat des Ambulanzprotokolls oder ein Arztbrief müssen umgehend an den überweisenden Hausarzt geschickt werden.
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)) Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes sollten in ihrer Lebensweise möglichst wenig durch die therapeutischen und diagnostischen Maßnahmen eingeschränkt werden. Daher muss immer wieder geprüft werden, wie die Patienten in das normale Familien-, Kindergarten-, Schul-, Sozial- und Berufsleben integriert sind. Die von staatlichen und privaten Organisationen angebotenen Hilfen sollten vorgestellt und mit den Familien kritisch abwägend erörtert werden.
15.2.1 Kindergarten ! Keinerlei Bedenken bestehen dagegen, ein Kind mit Typ-1-Diabetes im Vorschulalter halbtags in den Kindergarten zu schicken. Der Besuch sollte mit Blick auf die soziale Entwicklung sogar gefördert werden.
Trotz intensivierter Insulintherapie, z. T auch einer CSII, ist die Flexibilität der Kinder deutlich eingeschränkt, da sie die notwendigen Überlegungen zur Insulindosierung noch nicht selbst anstellen können. Die Erzieherinnen müssen daher wissen, dass ein Kind seine mitgebrachten Mahlzeiten zu festgelegten Zeiten essen muss und dass weitere Nahrungsmittel möglichst nicht verzehrt werden sollten. Erzieherinnen, die bei der Therapie verantwortlich helfen (Blutglukosekontrolle, angepasste Insulindosierung und Injektion), sind sehr seltene Ausnahmen. Alle Erzieherinnen müssen dagegen in der Lage sein, eine Hypoglykämie frühzeitig zu erkennen und sachgerecht zu handeln. Sie sollten wissen, dass bei besonderen körperlichen Anstrengungen (längeren Spaziergängen, wildem Toben) Hypoglykämien auftreten können, die durch die Gabe von Traubenzucker, Apfelsaft oder anderen schnell resorbierbaren Kohlenhydraten behandelt werden können. Die AGPD bietet auf ihrer Homepage eine Informationbroschüre für Erzieherinnen in Kindergärten an (www.diabetes-kinder.de). ! Kleinkinder mit Typ-1-Diabetes dürfen nie ganz aus den Augen gelassen werden. Daher sollten sie immer von ihren Eltern zum Kindergarten gebracht und auch wieder abgeholt werden.
Leider fehlen derzeit befriedigende gesetzliche Regelungen dafür, in welchem Rahmen Erzieherinnen Kinder mit Diabetes im Alltag unterstützen dürfen oder müssen. Jeder Einzelfall ist mit der Kindergartenleitung abzustimmen. Wenn Erzieherinnen sich bereit erklären, bei einem Kind den Blutzuckerwert zu
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bestimmen oder im Einzelfall sogar bei der Insulininjektion zu helfen, geschieht das immer auf Risiko der Eltern. Zur Absicherung verlangen die Institutionen meist eine schriftliche Einverständniserklärung von den Eltern. Da es den meisten Erzieherinnen schwer fällt, die aktuelle Situation eines so jungen Kindes mit Diabetes zu beurteilen, wird oft die Möglichkeit eines ständigen Handy-Kontaktes mit einem Elternteil gewünscht. Anregungen für Eltern zum Vorgespräch im Kindergarten sind im Schulungsbuch für Eltern zusammengestellt. Wenn Eltern aus sprachlichen oder anderen Gründen nicht ausreichend in der Lage sind, Erzieherinnen kompetent zu informieren, ist es im Einzelfall sinnvoll, eine Diabetesberaterin zum Gespräch hinzuziehen. Deutlich kritischer ist die Ganztagsbetreuung in Kindergärten, Krippen oder anderen Institutionen zu sehen. Ein einfaches starres Therapieschema wird dem wechselnden Insulinbedarf in dieser Altersphase meist nicht gerecht und macht eine ständige Anpassung der Insulingaben erforderlich. Diese komplexe Therapie eines Kindes mit Diabetes gehört jedoch nicht zum Aufgabenbereich der Erzieherinnen. Wenn sich Erzieherinnen bereit erklären, die Therapie eines Kindes auf Risiko der Eltern verantwortlich zu übernehmen, sind viele und detaillierte Absprachen erforderlich, um Behandlungsfehlern vorzubeugen. In einem Einzelfall, in dem sich die Institution nicht in der Lage sah, die Therapie eines Kindes einer allein erziehenden berufstätigen Mutter über die Mittagszeit zu übernehmen, wurde ein ambulanter Pflegedienst mit der Behandlung zu Lasten des Kostenträgers beauftragt (Bundessozialgericht: Urteil vom 21. November 2002 – B 3 KR 13/02 R). Es handelt sich hierbei um häusliche Krankenpflege, die auch außerhalb der Familienwohnung erbracht werden kann. Zusammenfassung
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Die Ganztagsbetreuung für Vor- und auch Grundschulkinder mit Diabetes ist derzeit in Deutschland unzureichend geregelt.
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15.2.2 Schule ! Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes sollten stets, wie alle anderen Kinder auch, eine ihrer individuellen Begabung entsprechende Schulausbildung erhalten.
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Die Schule ist oft weit vom Elternhaus entfernt. Lange Wege müssen zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt werden. Die Kinder sollten wissen, dass Hypoglykämien v. a. auf dem Heimweg auftreten können. Bei jüngeren Kindern kann nicht davon ausgegangen werden, dass sie für jede Mahlzeit in der Schule selbstständig Mahlzeiteninsulin injizieren. Die
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morgendliche Insulingabe sollte deshalb im Grundschulalter so gewählt sein, dass die Frühstücke davon abgedeckt werden. Die intellektuelle Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen mit Typ1-Diabetes unterscheidet sich nicht von der stoffwechselgesunder Gleichaltriger. Sie sind den schulischen Anforderungen ebenso gewachsen wie andere in ihrem Alter (7 Kap. 17). Neben diesem relativ positiven Bild ist jedoch eine Gruppe von psychosozial besonders belasteten jugendlichen Patienten zu nennen, die wegen erheblicher Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Therapie im Alltag gehäuft und längerfristig stationär behandelt werden müssen. Je nach Einzugsgebiet der pädiatrischen Klinik liegt die Zahl dieser Patienten bei etwa 5–10% (7 Kap. 17). Lehrer und Mitschüler müssen wissen, dass sich ein Kind mit Typ-1-Diabetes in der Klasse befindet. Darüber hinaus sollten sie über ausreichende Kenntnisse verfügen, die es ihnen möglich machen, eine Hypoglykämie zu erkennen und zu behandeln. Außerdem sollten sie Verständnis dafür haben, wenn Kinder mit Typ-1-Diabetes während des Unterrichts ihren Blutzucker messen und ggf. schnell wirkende Kohlenhydrate zu sich nehmen. Zur Information von Lehrerinnen und Lehrern biete die AGPD auf ihrer Homepage eine Broschüre an (www.diabetes-psychologie.de). Im Elternbuch sind praktische Anregungen zur Vorbereitung eines Gespräches zwischen Eltern und Lehrern beim Schuleintritt in Kapitel 10 zusammengestellt. Derzeit liegen leider keine aktualisierten Erlasse der Kultusministerien vor, die sich auf moderne intensivierte Insulintherapien und die Pumpentherapie beziehen. Ebenso fehlen Konzepte, wie Grundschulkinder mit Diabetes in Ganztagsschulen angemessen unterstützt werden können. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Zusammenfassung Die Diabetestherapie mit Insulinsubstitution, Stoffwechselselbstkontrollen und einigen Besonderheiten in der Ernährung verlangt von Kindern mit Typ-1-Diabetes ein hohes Maß an Zuverlässigkeit, Selbstdisziplin und Leistung. Eltern und Betreuern sollte das stets bewusst sein, damit sie sich immer wieder bemühen, Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes auf allen anderen Gebieten des täglichen Lebens den Freiraum zu verschaffen, den junge Menschen brauchen, um ihre Persönlichkeit möglichst frei zu entwickeln und zu entfalten.
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15.2.3 Berufsausbildung ! Nahezu alle Berufe stehen Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes offen. Die Berufswahl sollte daher in erster Linie durch Interessen, Begabung, Leistungsfähigkeit und Schulbildung bestimmt werden.
Der Diabetes sollte wie bei der Wahl des Schultyps auch bei der Berufswahl höchstens eine Nebenrolle spielen. Die Leistungsfähigkeit von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist durch den Diabetes nur in sehr seltenen Ausnahmen eingeschränkt. Die intensivierte Insulintherapie macht es möglich, dass auch Berufe mit wechselnden körperlichen Belastungen, mit Schichtdienst, Nachtarbeit, Akkordarbeit oder vielen Reisen ausgeübt werden können. Eine allgemeingültige Empfehlung für bestimmte Berufe ist heute nicht mehr üblich. Der Beruf selbst tritt eher in den Hintergrund, im Gegensatz zur konkreten Tätigkeit und den individuellen Fähigkeiten einer Person (Ausschuss Soziales DDG 2003). Einschränkungen bei der Berufswahl Die Liste der Tätigkeiten, die nicht mit Typ-1-Diabetes vereinbar sind, ist relativ kurz. Es handelt sich um Berufe, bei denen eine plötzlich auftretende schwere Hypoglykämie im Sinne von Eigen- oder Fremdgefährdung zu riskant wäre: 5 Berufliche Personenbeförderung, z. B. Busfahrer, Lokomotivführer, Taxifahrer, Pilot, oder auch Lkw-Fahrer, vor allem diejenigen, die Gefahrengut transportieren. 5 Tätigkeiten mit berufsmäßigem Waffengebrauch, z. B. bei der Bundeswehr, der Bundespolizei, dem Zoll oder der Polizei. 5 Berufe mit alleinigen verantwortlichen Überwachungsaufgaben, z. B. bei der Bundesbahn, der Verkehrsüberwachung, in Kraftwerken oder bei der Flugsicherung. 5 Arbeiten mit konkreter Absturzgefahr oder an anderen gefährlichen Arbeitsplätzen werden kritisch gesehen 5 Arbeiten im Überdruck, Taucherarbeiten Einige Ausbildungsgänge, z. B. bei der Berufsfeuerwehr, der Polizei oder dem Zoll stellen sehr hohe Anforderungen an die Gesundheit und die körperliche Belastbarkeit aller Bewerber. Diabetes ist dabei ein Ablehnungsgrund von vielen. Tätigkeiten mit hohem Absturzrisiko, z. B. Dachdecker, Kaminkehrer, Kranführer, Tätigkeiten an Freileitungen, Brücken, Masten, Schornsteinen oder ähnliche, gelten als kritisch. Sie sind nur möglich, wenn das Risiko durch besondere Sicherheitsvorkehrungen und besondere Kompetenzen in der Diabetestherapie verringert werden kann. Im Einzelfall kommen die berufsgenossenschaftlichen Grundsätze für arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen zum Tragen, in
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denen das Arbeitsschutzgesetz, das Arbeitssicherheitsgesetz, die Unfallverhütungsvorschriften und andere Regelungen berücksichtigt werden (Ausschuss Soziales DDG 2003). Zusammenfassung Berufliche Eignung bei Diabetes: Von der pauschalen Defizitorientierung zur individuellen Ressourcenorientierung.
Öffentlicher Dienst und Bundeswehr Eine Anstellung im öffentlichen Dienst, auch eine Übernahme ins Beamtenverhältnis ist mit Typ-1-Diabetes möglich. Bei der Übernahme in das Beamtenverhältnis wird jedoch verlangt, dass der Bewerber frei von Folgeerkrankungen ist und eine stabile Stoffwechseleinstellung nachweisen kann. Junge Männer mit Typ-1-Diabetes werden in Deutschland nicht zum Wehrdienst eingezogen. Sie gelten juristisch als nicht wehrdienstfähig, entsprechend werden sie auch nicht zum Zivildienst herangezogen. Die Angabe des Typ-1Diabetes bei der Tauglichkeitsuntersuchung reicht aus, um nicht zum Wehrdienst eingezogen zu werden. Bewerbung um einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz Mit der schriftlichen Bewerbung um einen Ausbildungsplatz stellt sich ein Jugendlicher möglichen Arbeitgebern vor. Dieser erste Kontakt soll einen Eindruck über den Ausbildungsstand, die Fähigkeiten und berufsbezogenen Interessen vermitteln. Der Diabetes zählt nicht dazu und sollte in der schriftlichen Bewerbung nicht genannt werden. Erfolgt eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch, sollte jeder Jugendliche versuchen, den Arbeitgeber persönlich von seinen Fähigkeiten zu überzeugen. Es empfiehlt sich in dieser Phase, den Diabetes nicht unaufgefordert anzusprechen, da die meisten Arbeitgeber nicht hinreichend über die Krankheit informiert sind. Die Frage nach (Vor-)Erkrankungen bei einem Einstellungsgespräch, z. B. nach Diabetes, ist nach heutiger Rechtssprechung nicht zulässig und muss deshalb auch nicht wahrheitsgemäß beantwortet werden. Eine Ausnahme besteht nur dann, wenn die Krankheit die Ausübung der Tätigkeit unmöglich macht, wie z. B. bei einem Lkw-Fahrer, der diabetesbedingt keinen Führerschein der Klasse C besitzt. Hat ein Jugendlicher einen Ausbildungsplatz oder eine Arbeitsstelle gefunden, ist es dagegen notwendig und sinnvoll, direkte Kollegen oder Vorgesetzte über den Diabetes zu informieren. So werden Heimlichkeiten und Missverständnisse bei Injektionen und Blutglukosemessungen vermieden. Im sehr seltenen Fall
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einer drohenden schweren Hypoglykämie können Kollegen frühzeitig helfen oder den Notarzt rufen und ihm über den Diabetes berichten. Zusammenfassung Direkte Arbeitskollegen sollten über den Diabetes informiert werden.
3 15.2.4 Fahrtauglichkeit und Führerscheine
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! Mobilität und damit vor allem der Pkw-Führerschein sind heute selbstverständlich und häufig Voraussetzung für berufliche und private Aktivitäten. Diskriminierende Einschränkungen für Menschen mit Typ-1-Diabetes wurden in den letzten Jahren weitgehend abgebaut.
Im Gegensatz zur Vergangenheit brauchen Jugendliche mit Diabetes heute nicht mehr mit zusätzlichen Hürden zu rechnen, wenn sie die Fahrerlaubnis für einen Pkw oder ein Motorrad erlangen möchten. In der Anlage 4 (zu den Artikeln 11, 13 und 14) der Fahrerlaubnisverordnung (FeV) vom 18.8.1998 werden Krankheiten aufgelistet, die die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen längere Zeit beeinträchtigen können. Diabetes ist eine der darin genannten Krankheiten. Danach besteht eine Eignung oder bedingte Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeugs der Gruppe 1 (Klassen A, A1, B, BE, M, LT) bei ausgeglichener Stoffwechsellage unter der Therapie mit Diät, oralen Antidiabetika oder Insulin. Für die Führerscheinklassen A/A1 (Motorrad, Leichtkrafträder) und B/BE (Pkw, Pkw mit Anhänger) gibt es keine wesentlichen Beschränkungen. Gleiches gilt für die Klassen M (Kleinkrafträder), T und L (Zug- und Arbeitsmaschinen in Land- und Forstwirtschaft). Jede Fahrerlaubnis ist jedoch immer an die Bedingung gebunden, dass kein besonderes Gefährdungsrisiko für andere oder den Betroffenen selbst im Straßenverkehr besteht. Als wichtigstes Risiko bei Menschen mit Typ-1-Diabetes gelten schwere Hypoglykämien. Daneben kann die Fahrtauglichkeit durch vor allem durch Folgeerkrankungen oder schwere akute Stoffwechselentgleisungen beeinträchtigt werden. ! Jugendliche und junge Erwachsene mit Diabetes können die Führerscheine der Klassen A (Motorrad) und B (Pkw) erwerben.
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Die Führerscheine der Gruppe 2 (Klassen C/C1 [Lkw] und D/D1/DE/D1E [Kraftwagen zur Personenbeförderung mit mehr als 8 Plätzen]) können Menschen, die sich Insulin spritzen, meist nicht erwerben. Gleiches gilt für die Erlaubnis zur Fahrgastbeförderung (Taxi-Schein) gemäß § 15d StVZO. Ausnahmen davon setzen außergewöhnliche Umstände voraus, die in einem ausführlichen Gutachten zu beschreiben sind.
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! Führerscheine für Lkw oder die Erlaubnis zur Fahrgastbeförderung sind bei Typ-1Diabetes nur bei außergewöhnlichen Umständen mit viel Aufwand möglich.
Derzeit wird unter Fachleuten kontrovers diskutiert, ob der Diabetes beim Antrag auf einen Führerschein angegeben werden sollte. Juristisch ist dabei umstritten, ob die Frage nach einem Diabetes durch die Behörde – wie in der Vergangenheit üblich – heute noch zulässig ist. In Einzelfällen werden kostspielige Gutachten verlangt, denen nur auf dem Rechtsweg begegnet werden kann. Der Ausschuss Soziales der DDG und die Selbsthilfevereinigungen bieten in diesen Fällen kompetente Unterstützung an. Deren Empfehlungen gehen derzeit in die Richtung, den Diabetes nicht ungefragt oder ohne Not mitzuteilen, bei konkreten Nachfragen der Behörde sollte jedoch wahrheitsgemäß geantwortet werden. Zusammenfassung Beim Antrag auf einen Führerschein sollte der Diabetes nicht ungefragt angegeben werden.
Verhalten im Straßenverkehr Für alle Verkehrsteilnehmer gilt seit 1999 die Fahrerlaubnisverordnung (FeV, die allgemeine Regelungen für die Teilnahme am Straßenverkehr definiert. § 2 der FeV schreibt darin vor: »Wer sich infolge körperlicher oder geistiger Mängel nicht sicher im Verkehr bewegen kann, darf am Straßenverkehr nur teilnehmen, wenn Vorsorge getroffen ist, dass er andere nicht gefährdet. Die Pflicht zur Vorsorge … obliegt dem Verkehrsteilnehmer selbst oder einem für ihn Verantwortlichen.« Menschen mit Typ-1-Diabetes gelten aus juristischer Sicht grundsätzlich als hypoglykämiegefährdet, weil sie Insulin spritzen. Sie sollten deshalb nur dann als Auto- oder Motorradfahrer am Straßenverkehr teilnehmen, wenn sie Hypoglykämien frühzeitig erkennen und sicher behandeln können. Weiterhin sollten sie ihre Stoffwechseleinstellung regelmäßig überprüfen und ständig alles Notwendige zur Vermeidung einer schweren Hypoglykämie bedenken. Für insulinbehandelte Kraftfahrer gibt es eine Reihe von Leitlinien, die der Publikation von Malcherczyk u. Finck (2002) entnommen werden können. Zusammenfassung Zum Schutz anderer Verkehrsteilnehmer und zum Selbstschutz sollten Jugendliche mit Typ-1-Diabetes über sinnvolle und notwendige Vorsichtsmaßnahmen informiert werden.
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Weitere Führerscheine und Lizenzen In Deutschland können Fluglizenzen bei insulinbehandeltem Diabetes nicht erworben werden, vorhandene verlieren ihre Gültigkeit. Das Risiko durch Hypoglykämien wird als zu hoch eingeschätzt. Gleiches gilt für Patente in der Küsten- und Seeschifffahrt.
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15.2.5 Ferien und Urlaub
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Jedes Ferienziel, das den Wünschen einer Familie entspricht, kann unabhängig vom Diabetes gewählt werden. Wenn ältere Kinder und Jugendliche an Freizeiten oder an einem längeren Schüleraustausch teilnehmen möchten, sollten sie auch darin bestärkt werden.
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Urlaubsvorbereitungen Ausgestattet mit allen Utensilien (7 Checkliste im Elternbuch) zur Behandlung können Familien erfüllte gemeinsame Wochen verbringen. Eltern sollten auch darüber informiert werden, dass bei Reisen ins Ausland die Diabetesversorgung längst nicht überall so gut ist wie in Deutschland. Bei Fernreisen sollten deshalb alle Medikamente und Verbrauchsmaterialien in dreifacher Menge mitgenommen und zum Schutz vor Diebstahl auf verschiedene Gepäckstücke verteilt werden. Bei längeren Reisen kann bei den jeweiligen Herstellern erfragt werden, ob und unter welchem Namen z. B. das Insulin in einem anderen Land vertrieben wird. Spezielle Reise- oder Hotelangebote für Diabetiker sind überflüssig. Erfahrene Eltern und auch ältere Kinder können sich aus den Speisen in Hotels und den Angeboten der Geschäfte am Ferienort alle Mahlzeiten zusammenstellen. Hypoglykämien im Urlaub Besonders sorgfältig müssen die Stoff wechselkontrollen am Beginn und am Ende der Ferien durchgeführt werden. Durch die vermehrte körperliche Tätigkeit steigt der Nahrungsbedarf meist an, während die Insulindosis reduziert werden kann. Am Ende der Ferien und unmittelbar danach tritt eine entgegengesetzte Entwicklung auf. Ein besonderes Risiko durch Hypoglykämien besteht vor allem dann, wenn Familien unzureichend vorsorgen und Hilfe nicht sofort geholt werden kann. Während langer Wanderungen im Gebirge oder während eines Segeltörns ist es bei einer schweren Hypoglykämie oft nicht möglich, sofort Hilfe zu holen. Deshalb sollten Familien hier an ausreichend Glukagon und Kohlenhydrate im Rucksack denken. Über eine besondere Gefahr, die bei sportlicher Betätigung am Meer droht, sollten vor allem Jugendliche informiert werden. Surfen oder sehr weites Hinausschwimmen ins offene Meer lassen es kaum zu, bei einer drohenden Unterzuckerung schnell genug zum Land zurückzukehren. Selbstüberschätzung in einer solchen Situation bedeutet akute Lebensgefahr.
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Zusammenfassung Risiken durch Hypoglykämien vorhersehen, Selbstüberschätzung vermeiden und Vorbereitungen treffen.
Flugreisen Kurze Flugreisen ins europäische Ausland, bei denen nur eine oder zwei Zeitzonen überflogen werden, stellen kein besonderes Problem dar. Die Therapie erfordert keine grundlegende Veränderung. Da die Temperatur im Frachtraum eines Flugzeugs deutlich unter den Gefrierpunkt absinken kann, sollte das gesamte Insulin und auch das Glukagon ebenso wie alle anderen Utensilien zur Diabetestherapie im Handgepäck mitgenommen werden. Einmal gefroren, verlieren die Medikamente ihre Wirksamkeit. Die Durchleuchtung beim Sicherheitscheck am Flughafen beeinflusst weder das Insulin, noch die Teststreifen oder das Glukagon. ! Medikamente und Therapieutensilien immer ins Handgepäck.
Fernreisen in tropische Länder bedürfen mehr Vorbereitung. Unabhängig vom Diabetes sollte aus kinderärztlicher Sicht mit den Eltern überlegt werden, welche gesundheitlichen Risiken für ein Kind mit Fernreisen verbunden sein können. Das Spektrum reicht von Durchfallserkrankungen bis hin zu Malaria und anderen schwerwiegenden Infektionen. Vor allem bei jüngeren Kindern mit Diabetes sollte erwogen werden, ob der notwendige Aufwand (z. B. Impfungen, Malaria-Prophylaxe) und die gesundheitlichen Risiken bei Fernreisen in tropische Länder wirklich vertretbar sind. Bei Flugreisen über mehrere Zeitzonen, z. B. nach Amerika oder Australien, ist eine Anpassung der Basalinsulindosis an den verkürzten Tag (beim Flug nach Osten) oder den verlängerten Tag (beim Flug nach Westen) erforderlich. Es hat sich bewährt, anhand der Flugdaten mit jeder Familie einen individuell zugeschnittenen Therapieplan für den Hin- und Rückflug abzusprechen (7 folgende Übersicht). Da während des Fluges kaum Bewegung möglich ist und die Aufregung der Reise hinzukommt, sollte der Blutzuckerwert des Kindes alle 2–3 h kontrolliert und bei sehr hohen Werten über 300 mg/dl zusätzlich Normalinsulin oder ein schnell wirkendes Analoginsulin zur Korrektur injiziert werden.
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Kapitel 15 · Medizinische Behandlung und soziale Beratung
Anpassung des Mahlzeiten- und Basalinsulins während eines Langstreckenfluges Flug nach Osten (z. B. Florida– Flug nach Westen (z. B. Frankfurt– Frankfurt, der Tag wird 6 h kürzer) Florida: der Tag wird 6 h länger) 5 Um 6.00 Uhr morgens FrankfurtZeit: Mahlzeiten- und Basalinsulin wie üblich 5 Abflug am Vormittag 5 Während des Fluges: Mahlzeitenund Basalinsulin zum Mittagessen nach Frankfurt-Zeit gegen 12.00 Uhr 5 Um 18.00 Uhr Frankfurt-Zeit: Umstellung der Uhr um 6 h zurück auf 12.00 Uhr Ortszeit Florida 5 Um 12.00 Uhr Florida-Zeit: Mahlzeiten- und Basalinsulin zur nächsten Hauptmahlzeit 5 Um 18.00 Uhr Florida-Zeit: nur Mahlzeiteninsulin zum Abendessen 5 Um 23.00 Uhr Florida-Zeit: Basalinsulin für die Nacht 5 Am nächsten Morgen um 8.00 Uhr Florida-Zeit: Mahlzeiten- und Basalinsulin wie üblich
5 Um 6.00 Uhr morgens Florida-Zeit: Mahlzeiten- und Basalinsulin wie üblich 5 Abflug am Vormittag 5 Während des Fluges: Mahlzeitenund Basalinsulin zum Mittagessen gegen 12.00 Uhr nach Florida-Zeit 5 Um 18.00 Uhr Florida-Zeit: Umstellung der Uhr um 6 h vor auf 24.00 Uhr Ortszeit Frankfurt 5 Um 24.00 Uhr Frankfurt-Zeit: Mahlzeiteninsulin zum Abendessen und jetzt schon Basalinsulin für die auf 6 h verkürzte Nacht. Dosis des Basalinsulins um ca. 30% vermindern. 5 Um 6.00 Uhr Frankfurt-Zeit Mahlzeiten- und Basalinsulin zum Frühstück. 5 Der weitere Tag verläuft wie üblich.
Der Flug nach Westen verläuft meist ohne Schwierigkeiten. Das Kind injiziert einmal mehr Insulin als sonst und nimmt eine Hauptmahlzeit mehr ein. Der Tag ist länger als üblich, trotzdem geht es den meisten Kindern sehr gut. Die Umstellung auf die neue Zeit bereitet kaum Probleme. Etwas schwieriger ist die Situation beim Flug nach Osten, weil Zeit verloren geht. Dadurch ist vor allem die Nachtruhe gestört. Insgesamt wird einmal weniger Insulin gespritzt. Die Zahl der Hauptmahlzeiten bleibt gleich. Die Abendund die nächste Morgenmahlzeit rücken enger zusammen, weil die Nacht kürzer ist. Die meisten Menschen haben am folgenden Tag noch einige Probleme mit dem »Jetlag«, weil eine fehlende halbe Nacht zu verkraften ist. Zusammenfassung Therapiepläne für Langstreckenflüge individuell mit der Familie abstimmen.
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Jugendfreizeiten Wenn Jugendliche mit Diabetes den Wunsch äußern, gemeinsam mit anderen aus dem Sportverein oder der Jugendgruppe an einer Freizeit teilzunehmen, sollten sie darin unterstützt werden. Das Vertrauen, das Eltern und Therapeuten ihnen damit aussprechen, fördert ihr Selbstbewusstsein und ihre Selbstständigkeit. Wie bei Klassenfahrten machen sich viele Eltern Gedanken, ob ihr Kind mit 12 oder 13 Jahren schon allein die Verantwortung für seine Diabetestherapie tragen kann. Als Lösung bietet sich an, es zuvor unter häuslichen Bedingungen auszuprobieren. Zusätzlich kann eine Diabetesschulung für Jugendliche helfen, Wissenslücken zu füllen und praktische Kenntnisse zu vertiefen. Von den Betreuern einer Jugendfreizeit kann nicht erwartet werden, dass sie sich um die Diabetesbehandlung insgesamt kümmern. Diese Verantwortung müssen die Jugendlichen selbst tragen. Selbstverständlich müssen die Betreuer über den Diabetes und die richtigen Maßnahmen im Fall einer schweren Hypoglykämie informiert sein. Dazu können sie mit schriftlichen Informationen ausgestattet werden, die auf der Homepage der AGPD (ww.diabetes-kinder.de) für Lehrer zu finden sind. Die Betreuer sollten den Jugendlichen immer erlauben, mit ihren Eltern zu telefonieren, wenn es der Diabetes erfordert. Zusammenfassung Jugendliche sollten in der Lage sein, ihre Therapie während einer Jugendfreizeit selbst zu verantworten. Darauf sollten sie vom Diabetesteam vorbereitet und bestärkt werden.
Internationaler Schüleraustausch Für ältere Jugendliche, die ihre Behandlung selbst durchführen können, sollte der Diabetes kein Grund sein, um auf einen längeren Schüleraustausch oder ein Jahr im Ausland zu verzichten. In den häufigsten Gastländern, z. B. den USA, England, Frankreich oder auch Australien, kann der Diabetes gut behandelt werden. In Notfällen ist dort überall kompetente Hilfe zu erwarten. Einige Besonderheiten sind jedoch bei der Vorbereitung zu bedenken: 5 Der Versicherungsschutz für mehrere Monate im Ausland muss mit der Krankenkasse abgeklärt werden. Eine entsprechende Regelung für Auslandsaufenthalte, die aus schulischen oder Studiengründen erforderlich sind, liegt für Menschen mit Diabetes vor, und zwar ohne die sonst übliche Beschränkung auf sechs Wochen. 5 Es ist nicht sinnvoll und oft auch nicht möglich, Medikamente für ein ganzes Jahr mit nach Amerika oder England zu nehmen. Die Hersteller von Insulin
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Kapitel 15 · Medizinische Behandlung und soziale Beratung
und Teststreifen bieten Informationen darüber an, unter welchem Namen und in welcher Form die Produkte im Gastland zur Verfügung stehen. 5 Obwohl der Typ-1-Diabetes in den entwickelten Ländern im Prinzip gleich behandelt wird, gibt es im Detail doch Unterschiede. Die intensivierte Insulintherapie ist z. B. in den USA noch nicht überall Standard. Ein gut geschulter Jugendlicher aus Deutschland, der seine intensivierte Insulintherapie fachgerecht umsetzt, sollte sich daher nicht aus der Ruhe bringen lassen, wenn er im Ausland auf einen Arzt trifft, der diese Methode kaum kennt oder sogar ablehnt. 5 Einige Veranstalter von Austauschreisen gehen auf besondere Wünsche der Teilnehmer ein. Sie bemühen sich z. B. darum, Gastfamilien mit Diabeteserfahrung auszuwählen. Weitere Informationen über die Diabetesbehandlung, Selbsthilfegruppen und Adressen in vielen Gastländern können über das Internet eingeholt werden (www.diabetes.org). Auch der Deutsche Diabetiker Bund (DDB) (www.deutscher-diabetiker-bund.de) vermittelt Informationen über Selbsthilfeorganisationen in der ganzen Welt. 15.2.6 Sport ! Schon für Joslin war die Ausübung körperlicher Tätigkeit neben der Insulinsubstitution und der diätetischen Behandlung eine der drei Säulen der Diabetestherapie.
Körperliche Aktivität führt zu einer Verbesserung der Glukosetoleranz durch Vergrößerung der Muskelmasse, Verkleinerung des Fettgewebes, Erhöhung der Sensibilität des Muskels für Insulin und Erhöhung der insulinabhängigen Glukoseaufnahme des Muskels (7 Kap. 5). Sportliche Kinder sind nicht nur belastbarer und leistungsfähiger als andere, sie sind auch seelisch ausgeglichener und können besser mit Stress umgehen. Sportliche Aktivitäten fördern den Kontakt und die Gemeinschaft mit Gleichaltrigen, stärken das Selbstvertrauen und beugen Übergewicht vor. Sport gemeinsam mit der ganzen Familie kann ein verbindendes Hobby sein, das den vertrauensvollen Zusammenhalt von Eltern und Kindern fördert. Daraus folgt jedoch nicht, dass die Stoffwechseleinstellung von Kindern mit Diabetes durch intensives körperliches Training kurzfristig verbessert wird. Der günstige Effekt sportlicher Aktivität zeigt sich nur dann, wenn Insulinbehandlung und körperliche Anstrengung gut auf einander abgestimmt sind und die körperliche Aktivität regelmäßig stattfindet. Wie die Insulinbehandlung und die Ernährung mit einer kurz- und langdauernden körperlichen Aktivität
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abgestimmt werden kann, muss im Rahmen der Diabetesschulung mit Eltern und Jugendlichen praxisnah geübt werden. Das Kap. 7 im Elternschulungsbuch liefert dazu konkrete Beispiele der Insulindosierung bei kurz- und langfristiger körperlicher Belastung. Weiterhin werden die besonderen Anzeichen einer Hypoglykämie beim Sport, die Risiken durch verzögerte Hypoglykämien nach körperlicher Aktivität und Möglichkeiten der Gewichtsreduktion durch vermehrte Aktivität vermittelt. Kinder und Jugendliche mit Diabetes dürfen die Sportarten ausüben, die ihren Interessen, ihrer Begabung und ihren persönlichen Vorlieben entsprechen. Kein Kind und kein Jugendlicher mit Typ-1-Diabetes sollte daran gehindert werden, am Schulsport teilzunehmen oder einem Sportverein beizutreten. ! Diabetes ist kein Grund für eine Befreiung vom Sportunterricht.
Die meisten Sportarten für Kinder und Jugendliche sind auch mit Diabetes unproblematisch. Weniger geeignet sind einige Risikosportarten, die wegen zu großer Verletzungsgefahr insgesamt kritisch beurteilt werden müssen. Jugendliche mit Diabetes müssen dabei bedenken, ob Hypoglykämien das Risiko zusätzlich steigern können. Kein Bergsteiger sollte allein ins Hochgebirge gehen. Aber auch bei langen Wanderungen in der Natur, Jogging im Wald oder Touren mit dem Mountainbike muss an die Möglichkeit einer schweren Hypoglykämie gedacht und vorgesorgt werden. Eine ausreichende Menge an Kohlenhydraten und Glukagon zur Hypoglykämiebehandlung müssen immer mitgenommen und Begleiter gut darüber informiert werden. Flaschentauchen ist bei Typ-1Diabetes nur möglich, wenn besondere Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden. Auf keinen Fall darf der Diabetes gegenüber dem Tauchlehrer verschwiegen werden. Jugendliche müssen wissen, dass Selbstüberschätzung für sie hier Lebensgefahr bedeuten kann. Leistungssport ist bei Diabetes möglich, wenn die Insulinbehandlung darauf abgestimmt wird. Die intensivierte Insulintherapie erleichtert mit ihrer flexiblen Insulinanpassung und den engmaschigen Blutglukosekontrollen die Ausübung von Leistungssport. Es gibt eine Reihe von Olympiasiegern, Weltmeistern und Profi-Sportlern mit Typ-1-Diabetes. Neben besonders sportlichen Kindern gibt es auch andere, die eher musisch, technisch oder naturwissenschaftlich interessiert sind und sich lieber mit ihrem ruhigen Hobby beschäftigen. Sie sollten nicht gegen ihren Willen gezwungen werden, Sport zu treiben – auf keinen Fall mit dem Diabetes als Begründung. Das würde nur die Akzeptanz des Diabetes erschweren. Wenn Kinder und Jugendliche im Alltag regelmäßig körperlich aktiv sind, gibt es keinen Grund, auch noch sportliche Höchstleistungen zu verlangen.
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Kapitel 15 · Medizinische Behandlung und soziale Beratung
Zusammenfassung Eine Verbesserung der Stoffwechseleinstellung ist nur bei regelmäßiger körperlicher Betätigung zu erwarten. Jedes Kind sollte darin unterstützt werden, eine Sportart oder Aktivität auszuüben, die seinen Neigungen entspricht und ihm Freude bereitet.
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15.2.7 Soziale Hilfen Soziale Hilfen für Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes werden über das Schwerbehindertenrecht, in seltenen Einzelfällen auch über die Pflegeversicherung ermöglicht. Aber auch in der Kinder- und Jugendhilfe und über die ambulante Kinderkrankenpflege werden Hilfen für besonders belastete Familien gewährt. Schwerbehindertengesetz (SchwbG) Die Anerkennung als Schwerbehinderter erfolgt auf Antrag beim Versorgungsamt. Der Antrag wird von den Betroffenen selbst oder deren Erziehungsberechtigten gestellt. Die Begutachtung durch das Versorgungsamt orientiert sich an den vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung herausgegebenen »Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz«. Eine Schwerbehinderung wird bei einem GdB von 50 oder mehr anerkannt. Der Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen wird in den Anhaltspunkten wie folgt beschrieben: „Kinder mit Diabetes mellitus rechnen grundsätzlich und gehören stets zur Gruppe der mit Insulin schwer einstellbaren Diabetiker, bei denen ein Grad der Behinderung (GdB) von 40 bis 60 anerkannt wird.“ Weiterhin wird definiert: „Bei Diabetes mellitus ist Hilflosigkeit stets bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres, bei fortbestehender unausgeglichener Stoffwechsellage bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres anzunehmen (ständige Überwachung erforderlich wegen der Gefahr hypoglykämischer Schocks, zwecks strenger Einhaltung der Diät und zur Dosierung des Insulins sowie im Hinblick auf die notwendigen körperlichen Betätigungen)“ (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1996). Ein GdB < 50 gilt als Behinderung, jedoch ohne den Schwerbehindertenstatus und die daran gebundenen Nachteilsausgleiche. Mit dem Vorliegen eines Schwerbehindertenausweises (GdB mindestens 50) können verschiedene »Nachteilsausgleiche« verbunden sein: Steuerlicher Nachteilsausgleich Im Steuerrecht bedeutet das Vorliegen eines Schwerbehindertenausweises, dass Eltern eines betroffenen Kindes jährlich einen Pauschbetrag geltend machen
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können, dessen Höhe durch den GdB definiert ist. Bei einem GdB von 50 sind das 570,– Euro jährlich. Eine darüber erheblich hinausgehende steuerliche Hilfe ist bei Kindern und Jugendlichen mit dem Merkzeichen »H« verbunden, das für »Hilflosigkeit« in den Schwerbehindertenausweis eingetragen wird. Unabhängig vom GdB, d. h. auch bei einem GdB unter 50, wird beim Vorliegen eines »H« ein steuerlicher Freibetrag von jährlich 3.681,30 Euro anerkannt, der von den Eltern eines Kindes mit Diabetes in Anspruch genommen werden kann. Dies ist besonders bedenkenswert, weil Eltern hier finanzielle Hilfe erhalten, ohne dabei gleichzeitig den teilweise kritisch betrachteten Schwerbehindertenstatus für ihr Kind akzeptieren zu müssen. Zusätzlich können Steuerpflichtige, also die Eltern, die eine »hilflose Person« im eigenen Haus versorgen, entweder die tatsächlich entstandenen Kosten oder eine Pauschale steuerlich geltend machen (§ 33b Abs. 6 EstG 1990). Die vom Versorgungsamt ausgestellten Unterlagen müssen die Eltern dem Finanzamt vorlegen. Details finden sich dazu in der umfassenden Darstellung rechtlicher Aspekte bei Diabetes von Malcherczyk u. Finck (2002). Wird einem Kind mit Typ-1-Diabetes vom Versorgungsamt kein Merkzeichen »H« zuerkannt, sollte innerhalb von 4 Wochen Widerspruch eingelegt werden. Bis zum vollendeten 16. Lebensjahr muss »Hilflosigkeit« bei Kindern mit Diabetes immer gewährt werden. Ein Rechtsbeistand ist beim ersten Widerspruch nicht erforderlich. Kostenlose Beförderung in öffentlichen Verkehrsmitteln Ein weiterer Nachteilsausgleich, der an das »H« gebunden ist, betrifft die Beförderung in öffentlichen Verkehrsmitteln. Auf Antrag beim Versorgungsamt erhalten Kinder und Jugendliche, die als »hilflos« anerkannt sind, eine Wertmarke, mit der sie kostenlos die öffentlichen Verkehrsmittel im Umkreis von ca. 50 km um den Wohnort nutzen können. Befreiung von der Kraftfahrzeugsteuer Schwerbehinderten Kraftfahrzeugbesitzern, die als »hilflos« anerkannt sind, kann die Kfz-Steuer unter bestimmten Umständen erlassen werden. Bedingungen sind, dass das Kfz nicht von anderen Personen benutzt wird, es sei denn, die Fahrten stehen im Zusammenhang mit dem Transport oder der Haushaltsführung des Behinderten. Wenn ein Fahrzeug auf den Namen eines Kindes mit Diabetes und dem Merkzeichen »H« zugelassen wird, ist nur dann eine Steuerbefreiung möglich, wenn das Auto ausschließlich für das Kind genutzt wird. Auch diese Leistung ist an das Merkzeichen »H« eines Kindes gebunden. Sie entfällt ersatzlos, wenn die Hilflosigkeit nicht mehr anerkannt ist.
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Kapitel 15 · Medizinische Behandlung und soziale Beratung
Zusammenfassung Das Merkzeichen »H« bietet unabhängig von der Schwerbehinderteneigenschaft eine Reihe nennenswerter Nachteilsausgleiche für Kinder und Jugendliche.
Arbeitsrecht Die wichtigsten Konsequenzen der Schwerbehinderteneigenschaft im Arbeitsrecht sind ein besonderer Kündigungsschutz und eine Woche bezahlter Urlaub zusätzlich. Während sich diese Rechte für ältere Arbeitnehmer mit einer festen Anstellung günstig auswirken können, ist es für junge Arbeitssuchende meist von großem Nachteil, weil die Chancen auf Einstellung dadurch drastisch sinken. Arbeitnehmer, die als schwerbehindert (GdB ≥50) oder gleichgestellt (GdB >25) anerkannt sind, haben die Verpflichtung, ihren zukünftigen Arbeitgeber darüber ohne Aufforderung vor Vertragsabschluss zu informieren. Die Konsequenz ist leider oft, dass von einer Einstellung abgesehen wird. Weitere Hilfen betreffen die berufliche Qualifikation, die Eingliederung in die Arbeitswelt sowie die behindertengerechte Gestaltung von Arbeitsplätzen. Diese besonderen Hilfen bieten Jugendlichen, die »nur« einen Typ-1-Diabetes haben, keine Vorteile. Kommen zusätzlich noch andere körperliche oder geistige Behinderungen hinzu, dann können diverse »Leistungen zur beruflichen Eingliederung Behinderter« hilfreich sein. Sie werden vor allem von der Bundesagentur für Arbeit angeboten und koordiniert. Hilfen für Familien, die das Gesundheitsamt vermitteln kann, sind nach folgenden Bestimmungen des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) im Einzelfall möglich. Nach § 40 (1) 4 und 5 wird in extremen Ausnahmen Hilfe bei der Berufswahl sowie Hilfe zur Förderung in geeigneten Berufsausbildungsstätten in der Nähe von Ambulatorien und Kliniken angeboten, die mit der Behandlung des Diabetes bei Kindern und Jugendlichen Erfahrung haben. Vor- und Nachteile abwägen Eltern sollten nicht durch Begriffe wie »Grad der Behinderung« oder »Hilflosigkeit« irritiert werden. Diese Begriffe stammen aus dem steuer- und sozialrechtlichen Bereich und haben dort ihre klar definierte Bedeutung. Die vom Gesetzgeber vorgesehenen Hilfen für Kinder und Jugendliche mit Diabetes sind trotzdem umstritten. Vor allem die mit der Anerkennung eines GdB von 50 verbundene Schwerbehinderteneigenschaft wird von vielen Eltern zu Recht, insbesondere im Hinblick auf die Ausbildungs- oder Arbeitsplatzsuche, als »Danaergeschenk« aufgefasst und abgelehnt. Mit dem GdB von 50 ist ein Steuerfreibetrag von jährlich 570,- Euro verbundenen. Jedoch erwiesen sich die Schutzvorschriften aus dem Arbeitsrecht (v. a. besonderer Kündigungsschutz und zusätzlicher bezahlter Urlaub) bei der Ausbildungsplatz- und Stellensuche
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meist als nachteilig. Deshalb erscheint es den Autoren für junge, leistungsfähige Menschen mit Typ-1-Diabetes keinesfalls empfehlenswert, zu Beginn des Berufslebens eine Schwerbehinderteneigenschaft anzustreben. Während das Merkzeichen »H« mit Vollendung des 16. Lebensjahres entfällt, ist die Rückgabe einer einmal anerkannten Schwerbehinderung (GdB 50 oder mehr) schwierig, da eigentlich keine Besserung des Gesundheitszustandes bei Typ-1-Diabetes zu erwarten ist. Weitere detaillierte Informationen zu sozialrechtlichen Fragen bei Diabetes sowie spezifische Urteile sind für interessierte Familien und auch Diabetesteams von Malcherczyk u. Finck (2002) zusammengestellt worden. Zusammenfassung Für fast alle Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes sind durch die Schwerbehinderteneigenschaft mehr Nachteile als Vorteile zu erwarten.
Pflegeversicherung nach SGB XI Als sog. fünfte Säule der Sozialversicherung wurde die Pflegeversicherung eingeführt. Leider erhalten die meisten Eltern, die für die Pflege ihres Kindes mit Diabetes Leistungen aus der Pflegeversicherung beantragen, einen abschlägigen Bescheid. Die Begründung lautet, dass Pflegetätigkeiten im Sinne dieses Gesetzes auf die »klassischen Pflegetätigkeiten: Körperpflege, Ernährung, Mobilität« beschränkt sind. Die sog. Behandlungspflege, d. h. die medizinische Therapie, wird von der Pflegekasse nicht berücksichtigt. Einschätzung von Kindern mit Typ-1-Diabetes Der Antrag auf Leistungen aus der Pflegeversicherung wird bei der Pflegekasse, d. h. der jeweiligen Krankenkasse, durch die Eltern gestellt. Die Einschätzung des Pflegeaufwandes erfolgt nach einem Hausbesuch durch einen Mitarbeiter des Medizinischen Dienstes der Krankenkasse (MDK). Die Verantwortlichen der Pflegekasse entscheiden darüber, ob und welche Pflegestufe einem einzelnen Kind gewährt wird. Der größte Aufwand in der Pflege und Betreuung von Kindern mit Diabetes ergibt sich aus den Selbstkontrollen, den Insulininjektionen, der Nahrungszubereitung und der ständigen Wachsamkeit wegen möglicher Hypoglykämien. Aus juristischer Sicht wird darüber gestritten, ob diese Pflegeleistungen der Eltern zur Grundpflege oder zur Behandlungspflege zählen. Einige Eltern von Vorschulkindern mit Diabetes haben erfolgreich gegenüber ihrer Pflegekasse argumentiert, dass die folgenden mit der Ernährung ihres Kindes verbundenen Tätigkeiten Maßnahmen der Grundpflege und nicht Maßnahmen der Behandlungspflege sind:
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Kapitel 15 · Medizinische Behandlung und soziale Beratung
5 Berechnen, Zusammenstellen und Abwiegen der Mahlzeiten als Hilfe bei der
mundgerechten Zubereitung der Nahrung; 5 Blutglukosemessungen als Hilfe bei der mundgerechten Zubereitung der
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Nahrung;
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5 Insulingaben als Hilfe bei der Aufnahme der Nahrung; 5 Beaufsichtigung beim Essen als Hilfe bei der Aufnahme der Nahrung; 5 hinzu kommen Hilfen zur Mobilität, d. h. Überwachung bei Sport und Spiel
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5 Aufklärung und Information von anderen betreuenden Erwachsenen (Eltern
wegen der Hypoglykämiegefahr;
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von Freunden etc.). Die Einschätzung des Pflegeaufwandes durch die Mitarbeiter des medizinischen Dienstes orientiert sich am konkreten zeitlichen Aufwand. Für die Pflegestufe I ist ein Pflegeaufwand von mindestens 90 min täglich erforderlich. Bei Kindern mit einem Handicap wird dabei nur der Pflegeaufwand berücksichtigt, der über den üblichen Hilfebedarf gesunder Kinder im gleichen Alter hinausgeht. Da die Mitarbeiter des medizinischen Dienstes nicht alle Einzelheiten einer Erkrankung kennen können, sollten Eltern auf alle Hilfeleistungen ausdrücklich hinweisen und darauf bestehen, dass sie auch schriftlich in die Protokollbögen des MDK eingetragen werden. Ein Pflegeaufwand, der unter 1 1/2 h täglich liegt, sollte nicht akzeptiert werden. Zur Vorbereitung des Besuchs des MDK empfiehlt es sich, ein Pflegetagebuch zu erstellen, in dem der Zeitaufwand aller notwendigen pflegerischen Tätigkeiten notiert ist. Gegebenenfalls sollte nachgewiesen werden, dass ein Elternteil wegen des Diabetes des Kindes in seiner beruflichen Tätigkeit eingeschränkt ist oder seinen Beruf ganz aufgeben musste. Weiterhin kann eine Bescheinigung des behandelnden Arztes mit der Diagnose und den notwendigen täglichen Betreuungsaufgaben hilfreich sein. Lehnt die Pflegekasse den Antrag auf Pflegegeld ab, können Eltern innerhalb eines Monats Widerspruch einlegen und eine Klage beim Sozialgericht erheben. Prinzipiell ist dieses auch ohne Hilfe durch einen Anwalt möglich, jedoch hat sich in der Praxis eine juristische Unterstützung als günstig erwiesen. Weitere Hilfen und aktuelle Informationen zum Thema Pflegegeld können über Selbsthilfeorganisationen (Deutscher Diabetiker Bund (DDB) oder Bund diabetischer Kinder und Jugendlicher [BdKJ]) eingeholt werden. Zusammenfassung Pflegegeld nach SGB XI wird Kindern mit Diabetes nur in Einzelfällen gewährt. Eltern von jüngeren Kindern sollten motiviert und unterstützt werden, diese Hilfe in Anspruch zu nehmen.
15.2 · Sozialmedizinische Beratung
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Weitere Hilfen für Kinder und Familien Bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes aus psychosozial hochbelastetem Milieu oder zerbrochenen Ehen ist es häufig außerordentlich schwierig, eine zufriedenstellende Stoffwechseleinstellung zu erreichen. Zu den häufigsten psychosozialen Risikokonstellationen zählen Familien mit sehr niedrigem sozioökonomischen Status, das Fehlen beider Eltern oder eines Elternteils, psychische Erkrankung oder Suchtproblematik eines Elternteils, geringe familiäre Integration bis hin zu Vernachlässigung/Misshandlung des Kindes, Zugehörigkeit zu einer Minorität sowie mangelndes Krankheitsverständnis und mangelnde Krankheitsakzeptanz der Familie. Bevor eine Unterbringung des Kindes oder Jugendlichen außerhalb der Herkunftsfamilie erwogen wird, sollten alle anderen Möglichkeiten sozialer Hilfe ausgeschöpft werden. Dazu zählen vor allem sozialpädagogische Familien- und Einzelfallhelfer (gemäß § 31 u. 35 SGB VIII). Weitergehende Hilfen sind die Aufnahme in heilpädagogische Tagesgruppen (§ 32 SGB VIII), in Pflegefamilien (§ 33 SGB VIII), die Eingliederungshilfe (§ 39 BSHG) oder das Wohnen in betreuten Wohngemeinschaften. Da die schwierige psychosoziale Situation der Familie, oft auch Gewalterfahrungen oder psychische Störungen des Kindes die Hauptbegründung für eine außerfamiliäre Unterbringung darstellen – und nicht der Diabetes – sollte bei der Auswahl eines Heims (§ 34 SGB VIII) auf die heilpädagogische und psychotherapeutische Kompetenz und Ausstattung geachtet werden. Voraussetzung ist eine enge Kooperation der verantwortlichen Erzieher mit einem Diabeteszentrum für Kinder und Jugendliche. Weiterhin gibt es einzelne Internate, die sich bereit erklären, Kinder und Jugendliche mit Diabetes aufzunehmen und mit einem Diabeteszentrum für Kinder und Jugendliche eng zu kooperieren. Dazu zählt z. B. das Internat Weiherhof (D-67295 Bolanden). Zusammenfassung Heime sind als letzte mögliche Notlösung für die Betreuung einer sehr kleinen Gruppe von mehrfach belasteten Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes anzusehen, die nicht mehr in ihrer Familie leben können, ohne dauerhaften Schaden zu erleiden. Bei der Auswahl einer Einrichtung der stationären Jugendhilfe sollte die psychosoziale Grundproblematik des Kindes und nicht der Diabetes im Vordergrund stehen.
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Kapitel 15 · Medizinische Behandlung und soziale Beratung
Literatur Ausschuss Soziales der DDG (1999) Empfehlungen zur Beratung bei der Berufswahl und Berufsausübung von Diabetikern der Deutschen Diabetes-Gesellschaft. www. deutsche-diabetes-gesellschaft.de Ausschuss Soziales der DDG (2003) Empfehlungen zur Beurteilung beruflicher Möglichkeiten von Personen mit Diabetes mellitus. www.deutsche-diabetes-gesellschaft. de Bundesanstalt für Straßenwesen (Hrsg) (2000) Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung des gemeinsamen Beirates für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und beim Bundesministerium für Gesundheit von 2000. Heft M 115, Bergisch Gladbach, Wirtschaftsverlag NW, Bremerhaven Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (1996) Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz. www.bmgs.bund.de Deutsche Diabetes-Gesellschaft (2006) Qualitätsstandards zur Anerkennung einer Behandlungseinrichtung »Basisanerkennung (Stufe 1)«. www.deutsche-diabetesgesellschaft.de/redaktion/einrichtungen/Qualitätsrichtlinien_Stufe_1_Mai_2006 Malcherczyk L, Finck H (2002) Diabetes und Soziales: ein praktischer Ratgeber für Diabetiker und ihre Angehörigen, 3. Aufl. Kirchheim, Mainz
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14
Andere Diabetesformen bei Kindern und Jugendlichen und deren Therapieansätze )) Bei Kindern und Jugendlichen tritt nach wie vor fast ausschließlich ein insulinpflichtiger Typ-1-Diabetes auf. Daneben sollte jedoch nicht vergessen werden, dass sich auch andere Formen des Diabetes mellitus bereits im Kindes- und Jugendalter manifestieren können. Vor allem der Typ-2-Diabetes scheint ab dem 10. Lebensjahr häufiger vorzukommen, als lange Zeit angenommen wurde. Sehr viel seltener als ein Typ-1- oder Typ2-Diabetes tritt bei Kindern und Jugendlichen ein Diabetes auf, der Teil oder Folge einer anderen Erkrankung oder eines anderen Syndroms ist.
14.1
Typ-2-Diabetes
)) Hauptursache für die steigende Zahl von Kindern und Jugendlichen mit Typ-2-Diabetes ist die rasche und dramatische Zunahme von Übergewicht und Adipositas im Kindesund Jugendalter. Deren Vermeidung muss daher eine vordringliche und flächendeckende Aufgabe in der Gesundheitserziehung an allen Schulen in Zusammenarbeit mit Experten und Gesundheitsbehörden werden.
14.1.1 Früherkennung und Diagnose Zur Beurteilung von Übergewicht und Adipositas wird der Body-mass-Index (BMI) nach folgender Formel berechnet: BMI = (kg Körpergewicht) × (Länge in m)2. Zur Definition von Übergewicht (90.–97. Perzentile) bzw. Adipositas (>97. Perzentile ) werden Perzentilendaten verwendet. Weitere Risikofaktoren für die Entwicklung eines Typ-2-Diabetes sind Verwandte 1. oder 2. Grades mit Typ-2-Diabetes und ethnische Faktoren. Bei adipösen Kindern und Jugendlichen muss nach Ausschluss einer zugrunde
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Kapitel 14 · Andere Diabetesformen bei Kindern und Jugendlichen
liegenden Grunderkrankung die Ermittlung des Gesundheitsrisiko und der Komorbidität erfolgen. Dazu gehört eine Untersuchung auf das Vorliegen eines metabolischen Syndroms und der Ausschluss eines bereits bestehenden Typ2-Diabetes. Im Gegensatz zum Typ-1-Diabetes beginnt das Risiko für Folgeerkrankungen beim Typ-2-Diabetes bereits vor der Diagnosestellung. Unterscheidung zwischen Typ-1- und Typ-2-Diabetes In der Regel liegen bei Kindern und Jugendlichen die klassischen Symptome der Hyperglykämie (Polydipsie, Polyurie) und erhöhte Nüchtern- (>120 mg/dl kapillär) und/oder Postprandialblutglukosewerte (über 200 mg/dl kapillär) vor. In Zweifelsfällen kann ein oraler Glukose-Toleranztest unter Heranziehung des 2-h-Wertes (Diabetes: >200 mg/dl) durchgeführt werden. Auch klinische Symptome helfen, zwischen Typ-1- und Typ-2-Diabetes zu unterscheiden (. Tabelle 14.1). Bei ausgeprägter Adipositas, Vorliegen einer Acanthosis nigricans, Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe mit erhöhtem Risiko für Typ-2-Diabetes im Kindes- bzw. Jugendalter und einer entsprechenden Familienanamnese muss ein Typ-2-Diabetes vermutet werden.
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. Tabelle 14.1 Unterschiedliche Befunde bei Diagnose eines Typ-1- bzw. Typ-2-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen. (Nach Kapellen et al. 2003) Typ-1-Diabetes
Typ-2-Diabetes
Geschlecht
Weiblich/männlich
Weiblich/männlich
Blutzucker (mg/dl)
550±50
339±23
Insulin (mU/ml)
12±5
108±40
Insulinspiegel niedrig
>90%
10–45%
C-Peptid (ng/ml)
0,8±0,2
4,0±1,0
Acanthosis nigricans
Selten
Häufig (bis 86%)
Hypertension
4%
32%
Polydipsie
96%
85%
Polyurie
94%
88%
Gewichtsverlust
71%
40%
Adipositas/Übergewicht
Seltener (bis 25% in USA)
Häufig
Angehörige einer ethnischen Minderheit (USA)
18%
76–94%
Ketoazidose
20–50%
5–25%
Inselzellautoimmunität
Üblicherweise
Sehr selten
11
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14.1 · Typ-2-Diabetes
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14
Der Beginn der Krankheit verläuft typischerweise schleichender als bei der Manifestation eines Typ-1-Diabetes. Es wird fast immer eine nichtketotische Hyperglykämie nachgewiesen. In Zweifelsfällen sollten Bestimmungen des C-Peptids und v. a. der Typ-1Diabetes-assoziierten Antikörper (GAD-Antikörper, IA2-Antikörper, ggf. Inselzellantikörper und Insulinautoantikörper) erfolgen, die in etwa 90% der Fälle bei Manifestation eines Typ-1-Diabetes nachgewiesen werden (. Abb. 14.1). Allerdings schließt der Nachweis diabetesspezifischer Antikörper das Vorliegen eines Typ-2-Diabetes nicht vollkommen aus. Daher ist die genaue Klassifikation nach Typ-1- oder Typ-2-Diabetes im Kindes- und Jugendalter in einigen Fällen bisher nicht möglich.
. Abb. 14.1 Differentialdiagnostische Differenzierung zwischen Typ-1- und Typ-2-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen
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Kapitel 14 · Andere Diabetesformen bei Kindern und Jugendlichen
Ein polyzystisches Ovarialsyndrom (PCO-Syndrom), eine Hyperlipidämie und Hypertension sind häufig mit Typ-2-Diabetes schon bei Manifestation vergesellschaftet. Zusammenfassung Im Rahmen der Abklärung einer Adipositas im Kindes- und Jugendalter muss v. a. bei Vorliegen von 2 der folgenden 3 wesentlichen Risikofaktoren ein Typ-2Diabetes ausgeschlossen werden: 5 Insulinresistenz oder assoziierte Konditionen (Acanthosis nigricans, Hypertonie, Dyslipidämie, PCO-Syndrom), 5 Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe mit erhöhtem Typ-2-Diabetesrisiko und 5 Familienanamnese für Typ-2-Diabetes. Ab dem 10. Lebensjahr bzw. mit Beginn der Pubertät sollte daher ein oGTT veranlasst werden. Gegebenenfalls ist eine Wiederholung in 2-jährigen Abständen sinnvoll.
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14.1.2 Therapie bei Kindern und Jugendlichen ! Grundsätzlich gelten als Therapieziele Gewichtsreduktion, normale Blutglukosespiegel und ein normaler HbA1c-Wert.
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Die Behandlung sollte wie die Betreuung von Patienten mit Typ-1-Diabetes durch ein multidisziplinäres Team erfolgen. Wichtig ist, die Komorbiditäten bezüglich Hypertension und Hyperlipidämien zu normalisieren, um die Gefahr der vaskulären Folgeerkrankungen zu minimieren. Lifestyle-Veränderungen Auch Kinder und Jugendliche mit Typ-2-Diabetes sollten eine Schulung zum Selbstmanagement der Erkrankung erhalten. Da das Übergewicht der wesentliche auslösende Faktor für die Erkrankung ist, gelten für Kinder mit Typ-2Diabetes neben möglichst weitgehender Normalisierung der Blutglukosewerte besonders folgende Therapieziele: 5 Langfristige Gewichtsreduktion und -stabilisierung 5 Verbesserung der Adipositas-assoziierten Komorbidität 5 Verbesserung des aktuellen Ess- und Bewegungsverhaltens des Patienten unter Einbeziehung seiner Familie 5 Erlernen von Problembewältigungsstrategien und langfristiges Sicherstellen von erreichten Verhaltensänderungen
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14.1 · Typ-2-Diabetes
14
5 Vermeiden unerwünschter Therapieeffekte 5 Förderung der normalen körperlichen, psychischen und sozialen Entwick-
lung und Leistungsfähigkeit Zur Verwirklichung dieser Ziele sind langfristige therapeutische Maßnahmen erforderlich, die neben der Wissensvermittlung die dauerhafte Änderung des Ernährungs- und Bewegungsverhaltens erreichen. Bei den Kindern und Jugendlichen Problembewusstsein zu schaffen, Motivation zu steigern, neue Verhaltensweisen zu festigen, Selbstkontrolle zu schulen und Rückfallverhütungsstrategien zu erarbeiten sind dabei wichtige Eckpfeiler des Therapieprogramms. An die Therapieprogramme sind folgende Anforderungen zu stellen: 5 Sie sollten die Bereiche Medizin, Ernährung, Bewegung und Sport umfassen, 5 von einem interdisziplinär zusammengesetzten Schulungsteam vermittelt werden und 5 die Eltern bzw. Bezugspersonen integrieren. Medikamentöse Therapie Zur medikamentösen Therapie ist in den meisten Ländern bisher nur Insulin zugelassen. Dennoch werden orale Antidiabetika von vielen Diabetologen auch im Kindes- und Jugendalter bei Typ-2-Diabetes verwendet (. Tabelle 14.2). Metformin ist als einziges orales Antidiabetikum bei Kindern und Jugendlichen in den USA, in Deutschland bei Kindern ab dem 10 Lebensjahr zuge-
. Tabelle 14.2 Medikamentöse Therapie bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-2-Diabetes Zulassung
Dosierung
Probleme
Insulin
Weltweit
Verschiedenste Kombinationen prinzipiell wie bei Erwachsenen möglich
Gewichtszunahme; Akzeptanz
Metformin
USA
2500 bis 21.000 mg/Tag
Gastrointestinale Nebenwirkungen
Glibenclamid
Keine
1,25–2,5 bis max. 5–10 mg/Tag
Hypoglykämien
Glimepirid
Keine
Noch unklar
Studie läuft
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lassen. Seltener werden Sulfonylharnstoffe und Glukosidase-Inhibitoren eingesetzt. Auch bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-2-Diabetes muss man davon ausgehen, dass eine zunehmende Zahl der Patienten nicht mit einem oralen Antidiabetikum allein eine gute Stoffwechseleinstellung erreichen kann. Bisher gibt es jedoch keine Untersuchungen, die die Überlegenheit der Insulintherapie gegenüber der Therapie mit oralen Antidiabetika beweist. Trotzdem sollte bei unzureichender Stoffwechseleinstellung unter Ernährungs- und Lifestyle-Beratung und Metforminbehandlung bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-2-Diabetes nicht auf Insulin verzichtet werden. Angesichts der schlechten Prognose bei frühem Krankheitsbeginn in der Kindheit sollte jede Chance zur besseren Stoffwechseleinstellung genutzt werden. Obwohl prinzipiell bei Typ-2-Diabetes durchaus eine mahlzeitenbezogene intensive Form der Therapie mit Gaben von Normalinsulin oder schnellwirkenden Analoga infrage kommt, können gute Ergebnisse auch mit Verzögerungsinsulininjektionen in der Kombinationstherapie erreicht werden. In Analogie zu den Studienergebnissen bei Erwachsenen kann auch beim Typ-2-Diabetes im Kindes- und Jugendalter das langwirkende Insulin-Analogon Glargin (Lantus) einmal täglich eingesetzt werden. Langzeitbetreuung Die Langzeitbetreuung von Kindern und Jugendlichen mit Typ-2-Diabetes muss die Kompetenzen der Betreuung und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Diabetes und Adipositas vereinen. Die üblichen pädiatrisch-diabetologischen Verlaufskontrollen, wie z. B. eine augenärztliche Untersuchung und ein Mikroalbuminurie-Screening, sollten jährlich durchgeführt werden. Besonderes Augenmerk muss jedoch auf andere mit der Adipositas assoziierte Komorbiditäten und Begleiterkrankungen im Sinne des metabolischen Syndroms (Hypertonie und Hyperlipidämie) gelegt werden. Zusammenfassung Zur Prognose des Typ-2-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen lassen sich heute noch keine sicheren Aussagen machen. Angesichts des frühen Erkrankungsbeginns muss von einer erheblich eingeschränkten Lebenserwartung ausgegangen werden. Daher sind von Anfang an intensive und konsequente therapeutische Interventionen gerechtfertigt.
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Diabetes bei genetischen Defekten und anderen Grundkrankheiten
! Das Vorliegen anderer Diabetestypen sollte differentialdiagnostisch besonders bei Kindern und Jugendlichen in Erwägung gezogen werden, die folgende Merkmale aufweisen: 5 Eine Familienanamnese, die auf einen autosomal-dominanten Erbgang schließen lässt, 5 assoziierte Symptome wie Taubheit, Optikusatrophie bzw. syndromales Aussehen, 5 eine ausgeprägte Insulinresistenz, 5 ein sehr geringer Insulinbedarf nach Beendigung der partiellen Remissionsphase bzw. bei Totalremission, 5 Gabe von Medikamenten mit bekannten toxischen Effekten auf E-Zellen, 5 Gabe von Medikamenten, die als Auslöser einer Insulinresistenz bekannt sind und 5 Grundkrankheiten, die als Auslöser einer Insulinresistenz bekannt sind.
14.2.1 Maturity-Onset Diabetes of the Young (MODY) Bei Vererbung eines Diabetes über 3 Generationen bei Verwandten 1. Grades einer Familie, fehlendem Übergewicht (BMI <25 kg/m2) und keinem Typ-1-Diabetes in der Familie bzw. beim Patienten sollte an einen MODY gedacht werden (. Abb. 14.2). Der MODY ist ein Diabetes-Typ mit folgenden Charakteristika: 5 Beginn vor dem 25. Lebensjahr, 5 nichtketotischer Diabetes mellitus, 5 autosomal-dominanter Erbgang und 5 primärer Defekt der Funktion der pankreatischen E-Zellen. Beim MODY handelt es sich um eine heterogene Krankheitsgruppe mit mindestens 6 Formen, die alle dominant vererbt werden. Das Ausmaß der Hyperglykämie variiert stark von Patient zu Patient, so dass auch hinsichtlich der Insulinbedürftigkeit und dem Risiko für Folgeerkrankungen große Unterschiede zwischen den verschiedenen Formen bestehen. Alle bisher bekannten Formen des MODY, mit Ausnahme des MODY-2, sind Mutationen von Transkriptionsfaktoren. Man geht davon aus, dass in Zukunft weitere Mutationen bei phenotypisch an MODY erkrankten Personen identifiziert werden. Folgende verschiedene Formen des MODY sind bisher bekannt: 5 MODY-1: Mutation des hepatischen Nuklearfaktors-4D (HNF-4D)-Gens auf Chromosom 20q
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. Abb. 14.2 Typischer Stammbaum einer Familie mit genetisch bedingtem »maturity-onset diabetes of the young« (MODY)
10 5 MODY-2: Mutation des Glukokinase-Gens auf dem kurzen Arm des Chro-
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mosoms 7p. Die Glukokinase ist ein E-Zellenzym, das als Glukosesensor der E-Zelle funktioniert. Daher weisen Patienten mit MODY-2 in der Regel ein höheres Diagnosealter mit einer milden Hyperglykämie und einem niedrigen Risiko für diabetesbedingte Folgeerkrankungen auf MODY-3: Mutation des HNF-1D-Gens auf Chromosom 12q. Bei den Patienten liegt ein erheblicher Defekt der Insulinsekretion und eine ausgeprägte Hyperglykämie vor MODY-4: Mutation des Insulinpromotor-Faktor-1-Gens (IPF1) auf Chromosom 13q. Die homozygoten Patienten weisen eine Aplasie des Pankreas auf MODY-5: Mutation des HNF-1E-Gens auf Chromosom 17q MODY-6: Mutation des »Neurogenic Differentiation Factor-1« (NeuroD1)Gens auf Chromosomen 2q32
Erwachsene mit MODY können die gleichen mikro- und makrovaskulären Folgeerkrankungen entwickeln wie Patienten mit Typ-2-Diabetes. Hiervon sind allerdings die Patienten mit MODY-2 in der Regel zu unterscheiden. Deshalb hat die Differentialdiagnose der verschiedenen MODY-Typen auch direkte therapeutische Konsequenzen. Während ein MODY-2 manchmal nur während
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interkurrenter Erkrankungen oder Schwangerschaft behandelt werden muss, führt die fehlende Behandlung eines MODY-3 zu mikro- und makrovaskulären Komplikationen. Am typischen Verlauf des oGTT lassen sich bereits die beiden häufigsten Formen MODY-2 und MODY-3 differenzieren (. Abb. 14.3). Die Transkriptionsfaktoren HNF-4D (MODY-1) und HNF-1D (MODY-3) regulieren in den E-Zellen die gewebespezifische Expression des Proinsulins sowie Proteine, die am Glukosetransport und -metabolismus sowie an mitochondrialen Stoffwechselprozessen beteiligt sind. Darüber hinaus moduliert HNF-4D auch die Expression von HNF-1D in den E-Zellen. Daher haben MODY-1 und 3 zahlreiche Gemeinsamkeiten. Im Vergleich zu MODY-2 entwickelt sich die Hyperglykämie bei MODY-1 und 3 etwas später, häufig in der frühen (MODY-3) oder späten (MODY-1) Phase der Pubertät. Pathophysiologisch liegt eine deutlich verminderte Insulinproduktion vor, die im Krankheitsverlauf noch weiter abnimmt. Typisch sind zunächst nur leicht erhöhte Nüchternglukosespiegel sowie ein starker Glukoseanstieg nach Glukosebelastung, der mit einer inadäquat verminderten Insulinantwort einhergeht (. Abb. 14.3). Die Hyperglykämie nimmt im weiteren Verlauf der Erkrankung zu und kann sehr ausgeprägt sein. Zusätzlich zu den bereits erwähnten Abnormalitäten haben Patienten mit MODY-3 eine verminderte renale Glukosereabsorption, die in einer niedrigen »Nierenschwelle« für Glukose mit einer verstärkten Glukosurie resultiert. HNF-1D wird in den Nieren exprimiert und ist offensichtlich für die Expression renaler Anionenaustauscher von Bedeutung. Die Expression renaler Anionenaustauscher ist bei Patienten mit MODY-3 vermindert. Bei MODY-4 wird durch Mutationen im »insulin promoter factor-1« (PDX-1, IPF-1) eine verminderte Expression von Proinsulin, den Prohormonkonvertasen PC 1/3 und PC 2 (diese Enzyme schneiden Insulin aus Proinsulin heraus), des ATP-sensitiven Kaliumkanals (Rezeptor für Sulfonylharnstoffe) und des Rezeptors für »glukagon-like peptide-1« bewirkt. Daher liegt beim MODY-4 am ehesten eine kombinierte Störung aus einer verminderten Insulinproduktion, einer gestörten Proinsulinprozessierung und einem Sekretionsdefekt vor. Auf Sulfonylharnstoffe sollte bei verminderter Expression ATP-sensitiver Kaliumkanäle verzichtet werden. Bei Hyperglykämie ist daher beim MODY-4 eine Insulintherapie anzustreben. Das klinische Bild der extrem seltenen Genmutation bei MODY-5 ist sehr typisch und unterscheidet sich von den anderen MODY-Formen. Neben dem Diabetes mellitus liegt eine Nierenerkrankung mit Nierenzysten und Nierenhypoplasie vor. Für die recht typische Assoziation von Nierenerkrankungen mit dieser MODY-Form wurde sogar der klinische Terminus »renal cysts and diabetes« (RCAD) eingeführt. Bis zu 50% der Betroffenen erleiden noch vor dem 45. Lebensjahr eine terminale Niereninsuffizienz mit der Konsequenz einer lebenslangen Dialyse oder Nierentransplantation. Diese Erkrankung darf nicht mit einer diabetischen Nephropathie verwechselt werden.
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b . Abb. 14.3 Differentialdiagnose zwischen MODY-2 (Glukokinase-Mutation) und MODY-3 (Mutation des HNF-1a-Gens auf Chromosom 12). a Typische Verläufe im oralen Glukosetoleranztest. Prozentuale Verteilung der Blutglukosewerte bei den Patienten: während beim MODY-2 meist ein erhöhter Nüchternblutglukosewert über 100 mg/dl gefunden wird, ist der Blutglukoseanstieg im oGTT gering. Patienten mit MODY-3 weisen dagegen häufiger einen normalen Nüchternblutglukosewert auf, aber einen ausgeprägten Anstieg und verzögerten Abfall der Blutglukosewerte. (Nach Stride et al. 2002)
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. Abb. 14.4 Verteilung der Genmutationen von MODY und Therapieoptionen. (Nach Fehmann et al. 2004)
Die Therapie des MODY richtet sich nach dem genetischen Defekt und ist im Prinzip mit der Behandlung des Typ-2-Diabetes vergleichbar (. Abb. 14.4): 5 Gewichtsreduktion im Falle von Übergewicht, 5 Bewegung und gesunder Lebensstil, 5 diätetische Beratung hinsichtlich von Kohlenhydraten und Fett, 5 Behandlung mit Sulfonylharnstoffen bzw. Netaglinid/Repaglinid Besonders Patienten mit MODY-3 lassen sich erfolgreich mit Sulfonylharnstoffen behandeln. Letztendlich kommt jedoch für einige Patienten mit MODY nur eine Insulinbehandlung in Frage. 14.2.2 DIDMOAD-Syndrom (Wolfram-Syndrom) ! Das DIDMOAD-Syndrom (Diabetes insipidus, Diabetes mellitus, Optikusatrophie, Taubheits-/Deafness-Syndrom) ist eine seltene autosomal-rezessive Erkrankung, die mit einer nichtautoimmunen Degeneration der pankreatischen E-Zellen einhergeht und auch als Wolfram-Syndrom bezeichnet wird.
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Das verantwortliche sog. Wolfram-Gen (WSF-1) ist geklont worden und befindet sich auf dem Chromosom 4. Der Diabetes ist üblicherweise die 1. Manifestation der Erkrankung. Alle bislang beschriebenen Fälle wiesen eine Optikusatrophie auf. Die Manifestation der Erkrankung tritt in der Regel bei den Patienten zu verschiedenen Zeitpunkten mit unterschiedlicher Ausprägung auf. Manifestationszeitpunkte der Erkrankungen beim Wolfram-Syndrom 5 5 5 5 5 5 5
Diabetes mellitus (medianes Diagnosealter 8,2 Jahre) Optikusatrophie (medianes Diagnosealter 13,1 Jahre) Diabetes insipidus (medianes Diagnosealter 14,1 Jahre) Taubheit (medianes Diagnosealter 15 Jahre) ZNS-Degeneration mit Zeichen einer Atrophie (in der Kernspintomographie) Psychiatrische Störungen Letztendlich Tod (medianes Alter 28 Jahre)
Angesichts der Progredienz der Erkrankung, die fast immer mit einem insulinpflichtigen Diabetes beginnt, ist auf das Auftreten anderer Manifestationen des DIDMOAD-Syndroms in der Diabetesbetreuung zu achten, damit rechtzeitig entsprechende sozialpädiatrische Maßnahmen eingeleitet werden können.
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14.2.3 Mitochondrialer Diabetes 11
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Die mütterliche Transmission von mutierter mitochondrialer DNA kann die Ursache eines von der Mutter vererbten Diabetes sein. Obwohl verschiedene Mutationen beschrieben worden sind, ergibt sich die engste Krankheitsassoziation mit einer Punktmutation an der Nukleotidposition 3243 (A–G) in der mitochondrialen tRNA des (leu-UUR)-Gens. Der mitochondriale Diabetes ist üblicherweise mit Innenohrschwerhörigkeit assoziiert und trägt Zeichen einer progressiven, nichtautoimmunen E-Zell-Dysfunktion. Mutationen im mitochondrialen Genom finden sich bei 1–2% der Patienten mit Typ-2-Diabetes und bis zu 5% der Patienten mit Typ-1-Diabetes. Die häufigste Punktmutation beim MIDD (»maternally inherited diabetes and deafness«) betrifft eine Transport-RNA (tRNA) im mitochondrialen Genom. Dies führt zu Synthesedefekten sämtlicher mitochondrialer Proteine und beeinträchtigt auch die Atmungskette. Im Allgemeinen ist nur ein kleiner Teil der Mitochondrien betroffen (Heteroplasmie). MIDD ist häufig mit einer Hochtonschwerhörigkeit assoziiert. Bei manchen Patienten verursacht die gleiche Mutation das sog. MELASSyndrom (Myopathie-Enzephalopathie-Laktatazidose-Schlaganfall-Syndrom).
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Wenn nahezu alle Mitochondrien betroffen sind, handelt es sich um ein schweres neurologisches Krankheitsbild. Der Verlauf des Diabetes ist variabel und kann bei starker Ausprägung des mitochondrialen Defekts ähnlich wie beim Typ-1-Diabetes mit dem vollständigen Verlust der Insulinbiosynthese als Folge eines E-Zellverlustes einhergehen. Bei geringerer Ausprägung ähnelt das MELAS-Syndrom eher einem Typ-2-Diabetes. Die Manifestation liegt im frühen Erwachsenenalter mit einer Penetranz von etwa 70%. Die Vererbung über die Eizelle ist rein maternal. Bei entsprechender Symptomatologie ist eine genetische Diagnostik in spezialisierten Labors angezeigt. 14.2.4 Neonataler Diabetes ! Der Neugeborenendiabetes wird als Hyperglykämiesyndrom definiert, das während des 1. Lebensmonats auftritt, mit Insulin behandelt werden muss und länger als 2 Wochen anhält.
Diese seltene Erkrankung (1:400.000 Geburten) kann mit intrauteriner Wachstumsretardierung assoziiert sein. Von 57 Kasuistiken aus 123 Publikationen wiesen 27 Patienten einen permanenten Diabetes auf, 18 einen transienten und 13 einen vorübergehend transienten, der nach einer Totalremission in der Säuglingszeit zwischen dem 7. und 20. Lebensjahr endgültig manifest wurde. Der neonatale Diabetes war bei 6 Kindern mit dem Wolcott-Rallison-Syndrom assoziiert, bei 2 Patienten mit Hyperurikämie (Erhöhung der Phosphoribosyl-ATPpyrophosphatase-Aktivität), bei 2 Kindern mit Zöliakie. Beim transienten neonatalen Diabetes wurde eine paternale Isodisomie des Chromosom 6 gefunden. Wegen der Möglichkeit des Wiederauftretens in der Adoleszenz sollten Patienten mit transientem neonatalen Diabetes einer Langzeitbetreuung zugeführt werden. Folgende Ursachen des permanenten neonatalen Diabetes sind beschrieben worden: 5 Pankreasaplasie, 5 Mutationen des Insulinpromotors Faktor-1 auf Chromosom 7, 5 eine komplette Glukokinasedefizienz auf Chromosom 7 und 5 Mutation des FOXP3-Gens (einem T-Zell-regulatorischen Gens) als Teil des sog. IPEX-Syndroms (»Immune-dysregulation-polyendocrinopathy-enteropathy-X-linked-syndrome«). Üblicherweise sind beim neonatalen Diabetes Insulin und C-Peptid erniedrigt oder nicht nachweisbar. Diabetes-assoziierte Antikörper sind nicht nachweisbar. Eine familiäre Häufung wird oft gefunden, d. h. eine positive Familienanamnese liegt in 30–40% der Fälle vor, eine Geschwistererkrankung bei 25%.
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Mit Hilfe des ISPAD-Centers for Rare Diabetes gelang vor kurzem die molekulargenetische Aufklärung des zugrunde liegenden Defekts bei vielen Patienten mit neonatalem Diabetes. Weil ATP-sensitive Kaliumkanäle (KATP) die glukosevermittelte Insulinsekretion der E-Zellen vermitteln, wurde mit Hilfe der Fallsammlung der ISPAD bei 29 Kindern mit permanentem neonatalem Diabetes die Kir6.2-Untereinheit dieses Kanals untersucht. Tatsächlich fanden sich bei 10 der 29 Patienten 6 verschiedene Mutationen in diesem Kanal. Kürzlich wurden ebenfalls Mutationen in der SUR 1 Untereinheit als Ursache eines neonatalen Diabetes beschrieben. Die Diagnose dieser aktivierenden Mutation in der Kir6.2-Untereinheit oder der SUR 1 Untereinheit könnte für die betroffenen Patienten auch therapeutische Konsequenzen haben. Vorläufigen Ergebnissen zufolge könnte sich bei einigen Patienten mit permanentem neonatalem Diabetes und Kir6.2-Mutation durch Sulfonylharnstoffgabe (oder anderen KATP-Blockern) eine Wiederherstellung der Insulinsekretion mit oraler Therapie erreichen lassen. Bei Diagnose eines solchen Falles sollte Kontakt mit dem ISPAD-Centre aufgenommen werden, um das jeweils aktuelle Protokoll für den versuch einer Umstellung auf Sulfonylharnstoffe zu erhaleten. Gegenwärtigen Erfahrungen nach sind dafür hohe Dosen von Sulfonylharnstoffen erforderlich (0,2–1,0 mg/kg/Tag Glibenclamid). Erfolgversprechend sind besonders Versuche bei Kindern mit einem Tagesinsulinbedarf von unter 30 E pro Tag ohne Vorliegen schwerer neurologischer Ausfälle oder Epilepsie. Bei der Umstellung sollte die Glibenclamid-Dosis täglich (bei Umstellung in der Klinik) oder wöchentlich (bei ambulanter Umstellung) um 0,2 mg/kg in zwei Dosen bis zu einer Dosis von 1mg pro Tag gesteigert werden. Die Insulingabe wird während der Umstellung als prandiale Insulintherapie durchgeführt. Langwirksame Insuline sollten für die Umstellungsphase abgesetzt werden bzw. bei einer Insulinpumpenbehandlung eine Reduktion der Basalrate zunächst um mindestens 50%. Präprandiale Werte von <130 mg/dl (7 mmol/l) sollten zu einer deutlichen Reduktion der präprandialen Insulindosis und Beibehaltung der Glibenclamiddosierung führen. Präprandiale Werte von über 130 mg/dl (>7 mmol/l) haben eine weitere Steigerung der Glibenclamiddosis zur Folge. Bevor solche Umstellungsversuche unternommen werden ist jedoch die Kontaktaufnahme mit einem erfahrenen Zentrum dringend anzuraten. Die Insulintherapie des neonatalen Diabetes ist außerordentlich schwierig. Bereits geringe Insulindosen können erhebliche Blutglukoseabfälle bewirken. Wie man aus der Beobachtung von Kindern mit Nesidioblastose weiß, ist das Gehirn in dieser Lebensphase durch Hypoglykämien besonders gefährdet. Daher drohen bei schwerer Hypoglykämie irreversible Zerebralschäden. ! Ziel der Therapie des neonatalen Diabetes darf daher nicht eine nahezu normoglykämische Stoffwechseleinstellung sein, sondern das Gedeihen des Kindes möglichst ohne schwere Hypoglykämien.
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Nach Diagnosestellung erfolgt zunächst die kontinuierliche i.v.-Insulinsubstitution mit ausreichender Rehydratation. Angesichts der sehr geringen Insulindosen bei Neugeborenen mit niedrigem Körpergewicht sollte man wegen der Oberflächenaffinität von Insulin an die Infusionsschläuche 1% Albumin in die Lösung geben. Nach erfolgtem Nahrungsaufbau sollte das Neugeborene möglichst bald auf eine s.c.-Insulintherapie umgestellt werden. Der Insulintagesbedarf beträgt in der Regel 0,2–1,0 I.E./kg KG. Bei der s.c.-Insulinapplikation müssen täglich mehrmals Normal- und Verzögerungsinsulin injiziert werden. Bei dieser Altersgruppe hat sich die Gabe von kurzwirkenden Insulin-Analoga wegen ihrer besseren Steuerbarkeit besonders bewährt. Wegen der ausgeprägten Stoffwechselschwankungen besteht bei neonatalem Diabetes eine dringende Indikation zur Durchführung einer Insulinpumpentherapie. In der Regel muss die Insulinkonzentration der Infusionslösung verdünnt werden, z. B. auf U10-Insulin. Da die üblichen Insulinpumpenkatheter wegen der Kanülenlänge und dem geringen s.c. Fettgewebe der Neugeborenen häufig nicht verwendet werden können, kann man Plastikkatheter für i.v.-Zugänge s.c. einführen und mit einem Luer-Verschluss an die entsprechenden Pumpenkatheter ankoppeln. Wegen der regelmäßigen häufigen Mahlzeiten müssen die Patienten oft ausschließlich mit einer kontinuierlichen Basalrate behandelt werden. Mit Zunahme des Kohlenhydratgehalts der einzelnen Mahlzeiten können später postprandial Nahrungs- und/oder Korrekturboli abgegeben werden. Obwohl für diese Altersgruppe keine Zulassung vorliegt, werden kurzwirksame Insulin-Analoga bei neonatalem Diabetes erfolgreich als Pumpeninsulin eingesetzt. 14.2.5 Diabetes bei zystischer Fibrose (CF) )) Ein Diabetes aufgrund einer Erkrankung des exokrinen Pankreas macht in entwickelten Ländern ungefähr 0,5% aller Diabetesfälle aus. Sehr selten tritt bei Kindern ein Diabetes als Folge einer akuten Pankreatitis auf. Eine große Rolle spielt dagegen der Diabetes bei zystischer Fibrose (CF).
Diagnostik der gestörten Glukosetoleranz bei CF Der Diabetes bei CF ist primär durch die mit zunehmender Lebensdauer fortschreitende Pankreasfibrose und den daraus folgenden endokrinen Funktionsverlusten des Pankreas bedingt. Allerdings trägt zur Entstehung des Diabetes auch eine durch Infektionen und Medikamente (z. B. Bronchodilatoren und Glukokortikoide) verursachte Insulinresistenz bei. Etwa 40–50% der CF-Pati-
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enten weisen eine gestörte Glukosetoleranz auf, bei erwachsenen Patienten werden sogar bis 75% angegeben. Etwa 10% der Patienten mit CF entwickeln einen behandlungsbedürftigen Diabetes. Ein linearer Anstieg der Diabeteshäufigkeit tritt ab einem Alter von 10 Jahren auf (. Abb. 14.5). Zur Frühdiagnose sollte daher ab dem 8.–10. Lebensjahr jährlich ein oGTT durchgeführt werden (. Abb. 14.6). Nüchternblutglukose-, HbA1c- und Urinzuckerwerte eigenen sich nicht zum Screening, da diese Parameter erst bei manifestem Diabetes auffällig werden. Bei klinischen Symptomen (unklarem Gewichtsverlust, Polyurie, Polydipsie) muss immer an einen Diabetes gedacht werden. Ein Hauptsymptom des CF-Diabetes ist neben dem Gewichtsverlust die pulmonale Exazerbation. Da auch die D-Zellen der Langerhans-Inseln von der zunehmenden Fibrosierung des Pankreas betroffen sind, ist auch die Glukagonsekretion gestört. Eine Ketoazidose tritt wegen der fehlenden Gegenregulation durch Glukagon (Ketogenese) nie auf. Andererseits neigen CF-Patienten wegen des Glukagonmangels vermehrt zu Hypoglykämien. Diese können schon in der prädiabetischen Phase, meist 2–4 h postprandial, auftreten, da bereits eine Verminderung der Glukagonsekretion vorliegt, wenn die Insulinausschüttung noch nicht reduziert, sondern nur verzögert ist.
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. Abb. 14.5 Zunahme der Prävalenz des Diabetes mellitus bei Patienten mit zystischer Fibrose (CF) mit steigendem Alter. (Nach Lanng et al. 1994)
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. Abb. 14.6 Screening von Patienten mit zystischer Fibrose auf Vorliegen einer sekundären Störung der Glukosetoleranz
Trotz der nach wie vor eingeschränkten Prognose der CF ist eine adäquate Therapie des Diabetes unerlässlich, um negative Auswirkungen auf die Grunderkrankung und Folgeerkrankungen des Diabetes möglichst zu vermeiden. ! Eine gesteigerte Infektionshäufigkeit, die Verschlechterung der Lungenfunktion, eine Verminderung der Lebenserwartung und mikroangiopathische Folgeerkrankungen sind bei Vorliegen eines Diabetes bei CF beschrieben worden.
Therapie des CF-Diabetes Die Behandlung des Diabetes bei Kindern mit CF unterscheidet sich grundsätzlich von der Therapie des Typ-1-Diabetes. Bei der Ernährung ist die ausreichende Zufuhr hochkalorischer, fettreicher Nahrungsmittel ohne jede Einschränkung besonders wichtig. Häufige kleine Mahlzeiten sollten eingenommen werden. Empfehlenswert ist das »Verpacken« des Zuckers durch gleichzeitige Aufnahme von Fett und schwer resorbierbaren Kohlenhydraten. Man muss besonders darauf achten, dass keine Mahlzeiten ausgelassen werden. Die medikamentöse Therapie wird mit oralen Antidiabetika durchgeführt. Auch eine konventionelle oder intensivierte Insulintherapie kann grundsätzlich eingesetzt werden. Der Einsatz von Sulfonylharnstoffen ist umstritten. Insulin ist wegen seines anabolen Effekts und der größeren Freiheit bei der Ernährung vorzuziehen. Da die meisten Patienten anfangs noch eine ausreichende Basalinsulinsekretion aufweisen, ist es häufig ausreichend, Normalinsulin zu den Mahlzeiten zu injizieren. Sehr gut eignen sich kurzwirkende Insulin-Analoga wegen ihres raschen Wirkungseintritts und ihrer kürzeren Wirkungsdauer, aber auch
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wegen der Möglichkeit der postprandialen Injektion und der dadurch verminderten Gefahr von Hypoglykämien.
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14.2.6 Diabetes bei Hämosiderose
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! Bei Patienten mit Hämoglobinopathien, wie z. B. der homozygoten E-Thalassämie,
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kann mit steigendem Lebensalter neben anderen endokrinen Komplikationen ein Diabetes als Folge einer Hämosiderose auftreten.
Pathogenetisch liegt auch bei der Hämosiderose eine Kombination von Insulinresistenz und Insulinmangel vor. Die Manifestation eines Diabetes wird gehäuft nach Auftreten einer Virushepatitis C beschrieben. Die Prävalenz steigt mit dem Lebensalter. Bei Jugendlichen ab 14 Jahren tritt bei bis zu 30% eine gestörte Glukosetoleranz auf. Die Prävalenz des Diabetes bei Hämosiderose beträgt 2,5–9%. Therapeutisch stehen bei der Thalassämie regelmäßige Transfusionen im Vordergrund. Hypertransfusionsprogramme mit einem Ziel-Hb von >10 g/dl wurden entwickelt und durchgeführt. Die Prävention der Hämosiderose durch die frühzeitige Therapie mit Chelatbildnern, wie z. B. der s.c.-Gabe von Desferrioxamin, ist für die Entwicklung der eisenbedingten Organkomplikationen wie der exo- und endokrinen Pankreasinsuffizienz von herausragender Bedeutung. Wie beim CFDiabetes erfolgt die Behandlung mit oralen Antidiabetika, aber auch mit Insulin. 14.2.7 Medikamentös induzierter Diabetes
11 ! Potentiell diabetogen wirksame Medikamente gehören zu den am
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häufigsten verordneten Arzneimitteln (. Tabelle 14.3). Die meisten Fälle eines therapieinduzierten Diabetes treten im Bereich der Immunsuppression im Rahmen der Transplantationsmedizin auf, weiterhin als Folge der Chemotherapie maligner Tumoren und der Neurochirurgie.
Als Ursachen kommen die Störung der Glukosetoleranz durch die Grundkrankheit (z. B. zystische Fibrose oder Infektionen) in Frage, aber auch die Blockade bzw. Stimulation der D2- und E2-adrenergen Rezeptoren der E-Zellen durch Medikamente wie z. B. Clonidin, Prazosin oder Theophyllin. Ebenso können die Auslösung einer peripheren Insulinresistenz durch Steroide oder Wachstumshormon oder der toxische Effekt auf die E-Zellen durch Medikamente wie z. B. FK506 (Tacrolimus), Cyclosporin A, Asparaginase oder Diazoxid einen Diabetes verursachen. Diese Medikamente entfalten an verschiedenen Stellen des Signaltransduktionsprozesses des Insulinrezeptors ihre Wirkung. Im Bereich der Neurochirurgie werden häufig hohe Dosen von Dexamethason eingesetzt, um ein Hirnödem zu behandeln.
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. Tabelle 14.3 Liste potentiell diabetogen wirksamer Medikamente. (Mod. nach Böhm u. Rosak 1999) Diuretika und Antihypertensiva Chlortalidon Clonidin Diazoxid Furosemid Thiaziddiuretika Spironolacton Zentralwirksame D-Blocker Selektive und nichtselektive E-Blocker Psychoaktive Substanzen Haloperidol Lithium Imipramin Phenothiazinderivate Diphenylhydantoin Trizyklische Antidepressiva Andere Pharmaka Theophyllin Morphin Indometacin Antiarrhythmika Nalidixinsäure Cimetidin Rifampicin
Hormone und hormonell wirksame Substanzen STH, Prolaktin ACTH Glukagon LT3, LT4 Glukokortikoide, systemisch und topisch Sexualsteroide Somatostatin und Analoga Katecholamine, Tokolytika Chemotherapeutika/Immunsuppressiva Alloxan Streptozotocin L-Asparaginase Pentamidin Cyclophosphamid Cyclosporin A Tacrolimus Rapamycin
In der Onkologie ist die Behandlung mit L-Asparaginase, hochdosierten Glukokortikoiden, Cyclosporin A oder Tacrolimus nicht selten mit einem Diabetes assoziiert. Hierbei tritt der Diabetes oft zyklisch in Assoziation mit den Chemotherapiezyklen auf, häufig in direkter Abhängigkeit von der GlukokortikoidDosis. In der Transplantationsmedizin sind v. a. hochdosierte Steroide und Tacrolimus für das Auftreten eines sekundären Diabetes verantwortlich. Per definitionem liegt ein Posttransplantationsdiabetes vor, wenn ein Nüchternblutglukosewert >400 mg/dl vorliegt, oder wenn mindestens 2 Wochen lang Blutglukosewerte >200 mg/dl gemessen werden bzw. während dieses Zeitraums eine Insulinbehandlung erforderlich ist. Bei der Therapie mit Tacrolimus besteht ein 5fach höheres Diabetesrisiko gegenüber der Anwendung von Cyclosporin A. Dem steht jedoch eine deutlich
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Kapitel 14 · Andere Diabetesformen bei Kindern und Jugendlichen
niedrigere Rate akuter Rejektionen bei der Tacrolimus-Therapie (Odd-Ratio: 0,52) gegenüber. Als Ursache der Glukose-Toleranzstörung durch Tacrolimus wird eine reversible dosisabhängige Inhibition der Insulin-Gentranskription durch Störung der kalziumvermittelten Signaltransduktion angenommen. Daneben ist jedoch auch ein toxischer Effekt mit morphologischen Veränderungen der E-Zellen beschrieben worden. Schließlich führt Tacrolimus auch zum Auftreten einer Inselzellautoimmunität bei genetisch prädisponierten Patienten. Die intensive Behandlung des Posttransplantationsdiabetes ist für die Prognose der Patienten außerordentlich wichtig. Während einer Wachstumshormonbehandlung, z. B. bei Kleinwuchs, tritt ein Diabetes äußerst selten auf. Dagegen ist ein Steroiddiabetes bei Kindern und Jugendlichen ein nicht seltenes Ereignis. Die Störung der Glukosetoleranz durch Glukokortikoide hat extrahepatische Ursachen, da die Serumkonzentration von Insulin meist erhöht ist. Als Ursache ist eine Reduzierung des Glukosetransports bei normaler Insulinbindung am Rezeptor beschrieben worden. Man nimmt daher an, dass die verminderte Insulinsensitivität durch Störung der Postrezeptor-Signaltransduktion bewirkt wird. Hinzu kommt ein Anstieg der insulinantagonistischen Glukagonsekretion bei hochdosierter Glukokortikoidgabe. Zusammenfassung Bei Verwendung potentiell diabetogen wirksamer Medikamente sollte daher immer eine regelmäßige Harnzuckerkontrolle erfolgen. Zusätzlich können serielle HbA1c-Bestimmungen zur Verlaufsbeobachtung durchgeführt werden. Die Glukose-Toleranzstörung sollte immer vor einer bedrohlichen Stoffwechselentgleisung erkannt werden (Ketoazidose, nichtketotisches hyperosmolares Koma). Eine gute Diabetesbehandlung bei medikamentös induziertem Diabetes ist für die Prognose der Grunderkrankung von großer Bedeutung.
14.2.8 Stresshyperglykämie Eine durch Stress verursachte Hyperglykämie tritt bei Kindern und Jugendlichen häufig im Rahmen einer fieberhaften Erkrankung, einer akuten Infektion, chirurgischer Eingriffe, einer Ateminsuffizienz, eines Schädelhirntraumas oder bei anderen Formen von Stress auf. Es handelt sich üblicherweise um eine passagere Stoffwechselstörung, die nicht als Hinweis auf das Vorliegen eines Diabetes angesehen werden darf. Bei Kindern mit Stresshyperglykämie weist die Bestimmung von Inselzellantikörpern und anderen Diabetes-assoziierten Autoantikörpern eine hohe prädiktive Aussagekraft hinsichtlich der Entwicklung eines Typ-
Literatur
391
14
1-Diabetes auf. Allerdings sollte die Indikation zur Durchführung dieser Untersuchungen wegen fehlender Präventionsmöglichkeiten streng gestellt werden. Literatur American Diabetes Association (2000) Type 2 diabetes in children and adolescents. Pediatrics 105: 671–680 Böhm BO, Rosak C (1999) Iatrogener Diabetes mellitus. In: Mehnert, Standl, Usadel (Hrsg) Diabetologie in Klinik und Praxis. Thieme, Stuttgart, S 591 Fehmann HC, Strowski MZ, Göke B (2004) Diabetes mellitus mit monogen determinierter Störung der b-Zell-Finktion: Maturity-onset Diabetes of the Young. Dtsch Ärtzebl 101: A860–A867 Gloyn AL, Pearson ER, Antcliff JF et al. (2004) Activating mutations in the gene encoding the ATP-sensitive potassium-channel subunit Kir6.2 and permanent neonatal diabetes. N Engl J Med 350: 1838–1849 Holl RW, Buck C, Cario H, Wolf A, Thon A, Kohne E, Debatin KM (1998) Diagnosis of diabetes in cystic fibrosis and thalassemia major. Diabetes Care 21: 671–672 Kapellen TM, Böttner A, Fürst-Recktenwald S, Raile K, Danne T (2003) Epidemiologie und Behandlungsstrategie von Kindern und Jugendlichen mit Diabetes mellitus Typ 2. Diabetes & Stoffwechsel 12: 167–172 Lanng S, Thorsteinsson B, Lund-Andersen C, Nerup J, Schiotz PO, Koch C (1994) Diabetes mellitus in Danish cystic fibrosis patients: prevalence and late diabetic complications. Acta Paediatr 83: 72–77 Mühlendahl KE von, Herkenhoff H (1995) Long-term course of neonatal diabetes. N Engl J Med 333: 704–708 Stride A, Vaxillaire M, Tuomi T et al. (2002) The genetic abnormality in the beta cell determines the response to an oral glucose load. Diabetologia 45: 427–435
345
13
Hypoglykämie )) Hypoglykämien stellen ein konstantes Risiko für alle Kinder und Jugendlichen mit Typ1-Diabetes dar. Sie sind die häufigste akute Nebenwirkung der Insulintherapie und daher von großer praktischer Bedeutung. Asymptomatische und leichte bis mittelgradige Hypoglykämien können fast täglich auftreten, schwere Hypoglykämien, bei denen der Patient sich selbst nicht mehr helfen kann, auf fremde Hilfe angewiesen ist, bzw. Bewusstlosigkeit und/oder Krämpfe auftreten, sind selten, sollten jedoch möglichst ganz vermieden werden. Eine geringe Inzidenz schwerer Hypoglykämien ist neben einem niedrigen HbA1c-Wert das wichtigste Qualitätsmerkmal für die Diabetestherapie.
13.1
Definition einer Hypoglykämie
Eine einheitliche oder vereinbarte Definition der Hypoglykämie existiert bis heute nicht. Traditionell und nach wie vor weit verbreitet wird ein Blutglukosewert <50 mg/dl bzw. <2,7 mmol/l für die Definition der Hypoglykämie angenommen. Da beim Stoffwechselgesunden die Suppression der Insulinsekretion bereits bei Blutzuckerwerten beginnt, die nur etwa 10 mg/dl unter den Postprandialwerten liegen, d. h. zwischen 80 und 85 mg/dl, und die hormonelle Gegenregulation schon bei Werten zwischen 65 und 70 mg/dl ausgelöst wird, wurde eine Glukosekonzentration von 70 mg/dl bzw. 4 mmol/l oder 65 mg/dl bzw. 3,5 mmol/l als Grenzwert zur Hypoglykämie angenommen. Das führte u. a. zu der praktischen Empfehlung, nach der die Blutglukosewerte bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes grundsätzlich über 70 mg/dl gehalten werden sollten. Zusammenfassung Die Definition der Hypoglykämie ist nicht einheitlich. Nach der klassischen Definition liegt eine Hypoglykämie bei Blutglukosewerten <50 mg/dl bzw. <2,7 mmol/l vor. Neuere Definitionen gehen vom Beginn der hormonellen Glukosegegenregulation bei Stoffwechselgesunden aus, d. h. von Blutglukosewerten zwischen 65 und 70 mg/dl bzw. 3,5 und 4,0 mmol/l.
346
2 2 3
13.2
Kapitel 13 · Hypoglykämie
Klassifikation von Hypoglykämien
Für die Diagnostik und Behandlung der Hypoglykämie bei Typ-1-Diabetes ist deren Klassifikation wichtig. Drei Arten von Hypoglykämien werden unterschieden: 5 asymptomatische oder biochemische Hypoglykämie (Blutglukose <50 mg/dl), 5 milde bis mittelgradige symptomatische Hypoglykämie und 5 schwere Hypoglykämie.
4 5 6 7 8 9 10 11
12 13 14 15
Die asymptomatische Hypoglykämie kann nur mit Hilfe einer Blutglukosebestimmung diagnostiziert werden, während die milde bis mittelgradige symptomatische Hypoglykämie vom Patienten selbst erkannt und behandelt werden kann. Bei der schweren Hypoglykämie ist der Patient nicht mehr in der Lage, sich selbst zu helfen, d. h. er ist auf fremde Hilfe angewiesen. Diese Definition einer schweren Hypoglykämie kann nicht für Kinder und Jugendliche mit Typ1-Diabetes gelten. Bei ihnen liegt eine schwere Hypoglykämie vor, wenn eine der folgenden Kriterien erfüllt ist: 5 Bewusstseinsverlust, 5 Krämpfe, 5 Notwendigkeit von Glukagon (i.m. oder s.c.) oder Glukosegabe (i.v.). Entsprechend werden in den ISPAD Consensus Guidelines 2000 die symptomatischen Hypoglykämien bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes nach ihrem Schweregrad wie folgt eingeteilt: 5 Leichte Hypoglykämie (Grad 1): – Das Kind bzw. der Jugendliche nimmt die Hypoglykämie wahr, reagiert darauf und behandelt sie selbst. 5 Mäßige Hypoglykämie (Grad 2): – Das Kind bzw. der Jugendliche kann auf die Hypoglykämie nicht reagieren und benötigt fremde Hilfe, eine orale Behandlung ist jedoch erfolgreich. 5 Schwere Hypoglykämie (Grad 3): – Das Kind bzw. der Jugendliche ist bewusstseinsgetrübt oder bewusstlos (Koma mit oder ohne Krampfanfall) und benötigt eine parenterale Therapie (Glukagon oder Glukose i.v.).
16
13.3
Symptomatologie von Hypoglykämien
17
Patienten mit Typ-1-Diabetes beschreiben eine Vielzahl subjektiver Symptome bei Auftreten einer Hypoglykämie. In . Tabelle 13.1 und 13.2 sind die von 40 Kindern mit Typ-1-Diabetes erlebten und ihren Eltern beobachteten Hypoglykämiezeichen zusammengestellt.
347
13.3 · Symptomatologie von Hypoglykämien
13
. Tabelle 13.1 Häufigkeit und mittlerer Intensitäts-Score von Hypoglykämiesymptomen, die von Eltern bei ihren Kindern mit Typ-1-Diabetes beobachtet wurden (n = 40). P-Wert Signifikanz der Übereinstimmung mit den von den Kindern beschriebenen Hypoglykämiesymptomen. (Nach Chiarelli et al. 1998) Symptome
Häufigkeit (%)
P-Wert
Mittlerer Intensitäts-Score
Weinerlichkeit
81
<0,05
2,8
Kopfschmerzen
76
<0,05
4,1
Irritabilität
81
<0,05
3,1
Unkoordiniertheit
62
<0,05
2,4
Ungezogenheit
51
<0,05
1,2
Schwäche
78
<0,05
4,1
Aggressivität
74
<0,05
2,3
Zittrigkeit
59
<0,05
2,1
Schläfrigkeit
59
<0,05
1,5
Albträume
19
n. s.
0,4
Schwitzen
66
<0,05
2,6
Verwaschene Sprache
40
<0,05
0,9
Verschwommenes Sehen
28
n. s.
0,7
Bauchschmerzen
57
<0,05
2,0
Krankheitsgefühl
56
<0,05
2,0
Hunger
76
n. s.
2,4
Eigenartiges Verhalten
58
<0,05
1,4
Wärmegefühl
51
<0,05
1,5
Ruhelosigkeit
49
<0,05
1,4
Eifern
68
n. s.
1,6
Herzklopfen
8
n. s.
0,1
70
n. s.
1,3
Kribbeln Lippen
20
n. s.
0,2
Schwindel
54
<0,05
2,0 1,1
Konfusion
Krämpfe
11
<0,05
Müdigkeit
74
<0,05
2,3
Blässe
83
<0,05
4,3
348
2 2
Kapitel 13 · Hypoglykämie
. Tabelle 13.2 Häufigkeit und mittlerer Intensitäts-Score von Hypoglykämiesymptomen, die von Kindern mit Typ-1-Diabetes beschrieben wurden (n=40). (Nach Chiarelli et al. 1998) Symptome
Häufigkeit (%)
Mittlerer Intensitäts-Score
Weinerlichkeit
45
2,1
Kopfschmerzen
71
2,8
4
Irritabilität
52
2,7
Ungezogenheit
34
2,2
5
Schwäche
80
3,8
Aggressivität
56
2,7
Zittrigkeit
74
3,8
Schläfrigkeit
62
2,9
Schwitzen
60
3,4
Verwaschene Sprache
35
1,7
3
6 7 8 9 10 11
12
Verschwommenes Sehen
39
1,9
Doppeltsehen
32
1,5
Bauchschmerzen
51
2,1
Hunger
62
3,6
Albtraum
13
0,9
Konfusion
57
2,2
Übelkeit
21
1,7
Konzentrationsschwäche
62
3,2
Schwindel
61
1,6
Eifern
58
3,1
13 14 15 16 17
Beim Übergang einer mittelgradigen in eine schwere Hypoglykämie tritt zunächst eine Bewusstseinstrübung auf, die Patienten taumeln, irren herum, können stürzen, sich verletzen. Sie sind nicht mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen oder deutlich zu sprechen, Wortfindungsstörungen können auftreten. Die Patienten können sich nicht mehr selbst helfen, keinen Blutglukosetest durchführen und keine Nahrung zu sich nehmen. Sie verlieren das Bewusstsein, Krämpfe können auftreten (fokale oder generalisierte zerebrale Anfälle). Wenn die ausgeprägte Hypoglykämie durch parenterale Therapie (Glukagon- bzw. i.v.-Glukosegabe) behoben ist, sind die Patienten manchmal stunden- oder sogar tagelang desorientiert. Eine retrograde Amnesie ist die Regel. Nächtliche Hypoglykämien während des Schlafes sind relativ häufig, schwierig zu diagnostizieren und daher besonders gefürchtet.
349
13.3 · Symptomatologie von Hypoglykämien
13
! Folgende Symptome weisen auf eine nächtliche Hypogykämie hin: 5 unruhiger Schlaf mit quälenden Träumen, 5 zerwühltes Bettzeug, 5 Kopfschmerzen, 5 Albträume 5 Müdigkeit, Mattigkeit, Zerschlagenheit am Morgen.
Die Kinder können im Schlaf aufschreien, stöhnen oder wimmern, sie können auch nachtwandeln. Nicht selten geben Kinder Hypoglykämiesymptome an, ohne dass eine Hypoglykämie vorliegt. Es können autonome Symptome vorliegen, die durch Schreck, Aufregung, Angst oder Streit verursacht wurden und mit den autonomen Symptomen bei Hypoglykämie identisch sind. Ursache kann aber auch der Wunsch des Kindes sein, ein Stück Zucker oder eine andere Süßigkeit zu essen. Daher muss jederzeit die Möglichkeit bestehen, eine Blutglukosebestimmung zum Ausschluss bzw. Nachweis einer Hypoglykämie durchzuführen. Für die Hypoglykämiewahrnehmung ist es wichtig, dass jedes Kind und jeder Jugendliche, aber auch die Eltern das individualtypische Muster der Hypoglykämiesymptome kennt, um durch rechtzeitige Behandlung einer symptomatischen Hypoglykämie das Auftreten einer schweren Hypoglykämie zu verhindern. Es ist üblich, die Vielzahl der Hypoglykämiesymptome in zwei Gruppen einzuteilen: 1. neuroglykopenische Symptome, 2. autonome Symptome. Neuroglykopenische Symptome sind Folge des Glukosemangels im Gehirn. Sie sind v. a. durch Veränderungen des Verhaltens und der Wahrnehmung charakterisiert (z. B. Bewusstseinstrübung bis Bewusstlosigkeit, Krämpfe). Autonome Symptome sind Ausdruck der physiologischen Veränderungen des autonomen Nervensystems (Nebennierenmark, sympathisches und parasympathisches Nervensystem) im Rahmen der Glukoseregulation. In der folgenden Übersicht wird versucht, autonome und neuroglykopenische Symptome einander gegenüber zu stellen, obwohl eine eindeutige Zuordnung oft schwierig ist: Autonome und neuroglykopenische Symptome einer Hypoglykämie 5 Autonome Symptome: – Zittrigkeit – Schwanken – Blässe – Tachykardie – Ängstlichkeit
– – – –
Schwitzen Hunger Unruhe Die Hypoglykämie wird wahrgenommen
350
2 2 3 4
Kapitel 13 · Hypoglykämie
5 Neuroglykopenische Symptome: – Konfusion – Müdigkeit – Schläfrigkeit – Mattigkeit – Schwindel – Verwirrtheit – Nervösität – Unkoordiniertheit
– – – – – – – –
Wärmegefühl Stimmungsschwankungen Schwierigkeiten beim Sprechen Schwierigkeiten beim Denken Kopfschmerzen Bewusstseinstrübung Bewusstlosigkeit Krämpfe
5 6 7 8 9 10 11
Bei Patienten mit Diabetes ist eine eindeutige Zuordnung des Blutglukoseschwellenwertes für die autonome Reaktion kaum möglich. Noch schwieriger ist die Beurteilung bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes, deren Blutglukoseschwellenwert meist höher liegt als bei Erwachsenen. Er ist u. a. von der Qualität der Stoffwechsel-kontrolle abhängig, d. h. bei schlechter Stoffwechseleinstellung liegt er höher, bei guter niedriger. Durch eine oder mehrere vorausgegangene Hypoglykämien kann er abgesenkt werden. Nachts während des Schlafs liegt er ebenfalls niedriger. Zusammenfassung Der Blutglukoseschwellenwert für die kognitive Beeinträchtigung liegt bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes zwischen 45 und 65 mg/dl bzw. 2,6- und 3,4 mmol/l.
12 13
13.4
Physiologie der Glukoseregulation
14
))
15
Mit dem Absinken der Blutglukosekonzentration setzen beim Stoffwechselgesunden gegenregulatorische Vorgänge ein, die einen weiteren Blutglukoseabfall verhindern und das Auftreten einer schweren Hypoglykämie praktisch unmöglich machen. Der physiologische Ablauf der Glukoseregulation schützt den Nichtdiabetiker vor dem lebensbedrohlichen Zustand der schweren Hypoglykämie.
16 17
Bei Absinken des Blutglukosespiegels läuft die Glukoseregulation beim Stoffwechselgesunden nach einem dreistufigen Schema ab:
13.4 · Physiologie der Glukoseregulation
351
13
1. Sistieren der Insulinsekretion, 2. Sekretion von Glukagon und 3. Sekretion von Adrenalin. 13.4.1 Sistieren der Insulinsekretion Während der ersten Stufe der Glukoseregulation wird bereits bei einer Verminderung der Blutglukosekonzentration auf Werte zwischen 80 und 85 mg/dl die Insulinsekretion deutlich reduziert bzw. ganz eingestellt. Wegen der kurzen Halbwertzeit des sezernierten Insulins liegen sehr bald kaum messbare Insulinkonzentrationen vor. Diese wichtige glukoseregulatorische Maßnahme bei drohender Hypoglykämie funktioniert bei Patienten mit Typ-1-Diabetes nicht, da die Wirkung des aus therapeutischen Gründen injizierten Insulins nicht rückgängig gemacht werden kann. Zusammenfassung Bei Patienten mit Typ-1-Diabetes wirkt das injizierte Insulin auch bei Auftreten einer Hypoglykämie unvermindert weiter. Die Glukoseregulation ist daher bei ihnen a priori gestört.
13.4.2 Glukagonsekretion Die zweite Stufe der Glukoseregulation, die hormonelle Gegenregulation, wird bereits oberhalb der Symptomschwelle der Hypoglykämie bei Blutglukosewerten zwischen 65 und 70 mg/dl aktiviert. Die Symptomschwelle für Hypoglykämiesymptome liegt bei Stoffwechselgesunden bei Blutglukosewerten um 54 mg/dl, die für Symptome der kognitiven Dysfunktion bei Blutglukosewerten um 49 mg/dl. Die zweite Stufe der Glukoseregulation ist durch eine ausgeprägte Sekretion von Glukagon charakterisiert. Damit steht der Antagonismus zwischen Insulin und Glukagon in der Hierarchie glukoseregulativer Faktoren an erster Stelle. Die Stimulation der glukagonsezernierenden a-Zellen erfolgt über sympathische und parasympathische Nervenfasern. Dabei werden die sympathischen Neurotransmitter Noradrenalin und Galanin und die parasympathischen Neuropeptide sowie Azetylcholin wirksam. Glukagon steigert die Glukoseproduktion durch Stimulation der Glukoneogenese und Glykogenolyse und Aktivierung der Ketogenese in der Leber. Glukagon erhöht weiterhin die Lipolyserate in den Fettzellen. Es mobilisiert damit die Freisetzung wichtiger für den Energiestoffwechsel utilisierbarer Substrate (Glukose, Fettsäuren, Ketonkörper) bei Mangelzuständen (z. B. Hypoglykämie).
352
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12 13 14 15 16 17
Kapitel 13 · Hypoglykämie
Zusammenfassung Mit dem Ausbleiben der Glukagonsekretion bei Auftreten einer Hypoglykämie ist bei Patienten mit Typ-1-Diabetes die wichtigste hormonell induzierte gegenregulatorische Maßnahme irreversibel gestört.
13.4.3 Adrenalinsekretion Die dritte Stufe der Glukoseregulation, die Stimulation der Adrenalinsekretion, tritt bei Stoffwechselgesunden mit ungestörter Glukagonsekretion ebenfalls bei Blutglukosewerten zwischen 65 und 70 mg/dl auf und hat bei intakter Glukagonsekretion keine kritische Bedeutung. Patienten mit Typ-1-Diabetes sind dagegen in hohem Maße auf die gegenregulatorische Wirkung des Adrenalins angewiesen. Besonders kritisch ist die Situation, wenn beide Hormone, Adrenalin und Glukagon, unzureichend sezerniert werden. Adrenalin hemmt die Insulinsekretion, stimuliert die Glukagonsekretion, fördert die Glukoneogenese in der Leber und hemmt die Glukoseutilisation in der Muskulatur. Die Aktivierung der Sekretion von Hormonen des sympathochromaffinen Systems, d. h. von Adrenalin aus dem Nebennierenmark und Noradrenalin aus den postganglionären Ganglien des sympathischen Nervensystems, ist für das Auftreten autonomer Hypoglykämiesymptome bei sinkenden Blutglukosewerten verantwortlich. Die prophylaktische Vermeidung rezidivierender Hypoglykämien, z. B. durch ein intensives Hypoglykämie- bzw. Blutglukose-Wahrnehmungstraining, ist überaus wichtig, um angesichts der unbeeinflussbaren Verminderung der Glukagonsekretion eine Störung der adrenalinabhängigen Gegenregulation unbedingt zu verhindern. Nur bei sehr langer Diabetesdauer kommt als Ursache der Störung der Adrenalinsekretion auch eine beginnende autonome Neuropathie in Frage. Die Hypoglykämiewahrnehmung ist dabei ebenfalls erheblich vermindert oder kann vollständig fehlen. Das Nichterkennen einer Hypoglykämie und das Fehlen der glukagon- und adrenalinbedingten Gegenregulation stellt für diese Patienten eine latente Lebensbedrohung dar. Zusammenfassung In . Abb. 13.1 sind die Beziehungen zwischen Insulintherapie, defizienter Glukagonsekretion, rezidivierenden Hypoglykämien, verminderter Adrenalinsekretion und der Beeinträchtigung der Hypoglykämiewahrnehmung schematisch dargestellt. 6
13.4 · Physiologie der Glukoseregulation
353
13
. Abb. 13.1 Der Teufelskreis: Unsachgemäße Insulinsubstitution/leichte wiederholte Hypoglykämien/ Nichtwahrnehmung von Hypoglykämien/gestörte Gegenregulation/gesteigertes Risiko für schwere Hypoglykämien. (Nach Davis et al. 2000)
Bei länger dauerndem Diabetes sind die zweite und dritte Stufe der Glukoseregulation, die Glukagon- und Adrenalinausschüttung, gestört. Rezidivierend auftretende Hypoglykämien können zu einer Down-Regulation der Adrenalinantwort führen. Sie vermindern die Hypoglykämiewahrnehmung und steigern damit das Risiko für das Auftreten schwerer Hypoglykämien erheblich.
13.4.4 Sekretion von Kortisol und Wachstumshormon Im Gegensatz zu Glukagon und Adrenalin spielen Kortisol und Wachstumshormon bei der Glukoseregulation eine nachgeordnete Rolle. Sie entfalten bei Blutglukosewerten um 60 mg/dl und bei protrahierter Hypoglykämie ihre Wirkung. Schließlich sind weitere Hormone, Neurotransmitter und Stoffwechselsubstrate wie z. B. freie Fettsäuren in die komplexen, noch nicht vollständig aufgeklärten glukoseregulatorischen Reaktionen eingeschaltet. 13.4.5 Glukoseregulation während der Nacht Die relativ hohe Frequenz nicht nur asymptomatischer, sondern auch schwerer Hypoglykämien während der Nacht kann durch eine zu große Insulindosis spät abends bedingt sein, aber sicher auch durch die nachts deutlich erhöhte hepatische Insulinsensitivität. Bei Patienten mit Typ-1-Diabetes, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, scheint darüber hinaus jedoch eine besonders ausgeprägte Störung der Glukoseregulation während der Nacht vorzuliegen.
354
2 2 3 4 5
Kapitel 13 · Hypoglykämie
Zusammenfassung Bei Typ-1-Diabetes ist die Glukoseregulation während des Auftretens einer Hypoglykämie a priori gestört. Erstens wirkt das exogen zugeführte Insulin bei Hypoglykämie unvermindert weiter, zweitens ist schon nach relativ kurzer Diabetesdauer die für die Glukoseregulation wichtige Glukagonausschüttung vermindert. Bei langer Diabetesdauer, v. a. aber bei rezidivierend auftretenden Hypoglykämien können auch Störungen der Adrenalinsekretion auftreten. Dadurch wird nicht nur die hormonelle Gegenregulation, sondern auch die Hypoglykämiewahrnehmung beeinträchtigt. Nachts während des Schlafes scheint die Glukoseregulation in besonderem Maße gestört zu sein. Das erklärt u. a. das relativ häufige Auftreten von asymptomatischen, aber auch schweren Hypoglykämien während der Nacht.
6 7
13.5
8
Die Hypoglykämiewahrnehmung kann durch folgende Faktoren beeinflusst werden: 5 Qualität der Stoffwechseleinstellung, 5 Blutglukoseausgangswert, 5 Schnelligkeit des Blutglukoseabfalls, 5 Häufigkeit aufeinanderfolgender Hypoglykämien und 5 Diabetesdauer.
9 10 11
12 13 14 15 16 17
Hypoglykämiewahrnehmung
Bei Patienten mit schlechter Stoffwechseleinstellung, die nicht nur einen hohen mittleren Blutglukosewert (z. B. über 200 mg/dl) aufweisen, sondern v. a. auch ausgeprägte Blutzuckerschwankungen, kann die hormonelle Gegenregulation (Adrenalin, Noradrenalin) bereits bei Blutglukosewerten um 100 mg/dl aktiviert werden. Unzureichend behandelte Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes nehmen daher schon bei relativ hohen Blutglukosewerten autonome Hypoglykämiesymptome wahr. Allerdings kann die Adrenalinantwort bei Patienten, die sehr gut eingestellt sind und einen mittleren Blutglukosewert um 100 mg/dl aufweisen, bereits gestört sein. Das ist v. a. dann wahrscheinlich, wenn bei ihnen häufiger leichte bis mittelgradige oder auch asymptomatische Hypoglykämien, z. B. nachts, aufgetreten sind. Diese Patienten spüren häufig selbst bei Blutglukosewerten um 40 mg/dl keinerlei Hypoglykämiezeichen. Daher ist das Risiko, eine schwere Hypoglykämie zu erleiden, bei sehr gut eingestellten Patienten erhöht. Besonders gefährdet sind Klein- und Vorschulkinder unter 6 Jahren, deren Eltern sehr häufig um niedrige Blutglukosewerte unter 100 mg/dl bemüht sind, um diabetische Folgeerkrankungen zu vermeiden.
13.5 · Hypoglykämiewahrnehmung
355
13
Der Beginn und das Ausmaß der hormonellen Gegenregulation durch Adrenalin und das Auftreten autonomer Symptome hängen auch vom Ausgangswert der Blutglukosekonzentration ab. Bei einem Absinken des Blutglukosewertes von 60 auf 40 mg/dl können Hypoglykämiezeichen fehlen, während sie bei einem Sturz von 90 auf 40 mg/dl deutlich sind. Die Schnelligkeit des Blutglukoseabfalls spielt ebenfalls eine Rolle. Wenn der Blutglukosewert innerhalb kurzer Zeit (z. B. in 1–2 min) von 100 auf 40 mg/dl absinkt, treten Symptome auf. Bei langsamen Absinken (z. B. in 30 min) können die Zeichen fehlen. Es ist aber auch möglich, dass ein Blutglukosesturz von 300 auf 150 mg/dl die hormonelle Gegenregulation aktiviert und autonome Hypoglykämiesymptome auftreten, während ein langsames Absinken von 120 auf 40 mg/dl symptomlos verläuft. Schon nach einer einzigen Hypoglykämie kann die Hypoglykämiewahrnehmung bei folgenden Hypoglykämien abnehmen. Wenn während eines Tages wiederholt Hypoglykämien auftreten, können die Symptome von Hypoglykämie zu Hypoglykämie geringer werden oder ganz ausbleiben. Die Hypoglykämie wird erst beim Auftreten neuroglykopenischer Symptome identifiziert. Das Risiko, eine schwere Hypoglykämie zu entwickeln, nimmt ebenfalls deutlich zu. Die Nichtwahrnehmung autonomer Symptome betrifft Kinder und Jugendliche nur unmittelbar nach Manifestation des Diabetes, wenn noch keine Hypoglykämieerfahrungen vorliegen können. Später werden Hypoglykämien von Kindern und Jugendlichen und auch von ihren Eltern rechtzeitig und sicher erkannt. Zusammenfassung Die Hypoglykämiewahrnehmung ist bei Kindern und Jugendlichen mit Diabetes meist ungestört. Sie hängt in erster Linie vom Zeitpunkt und Ausmaß des Auftretens autonomer Hypoglykämiesymptome ab, die als Folge der hormonellen Gegenregulation des sympathochromaffinen Systems, d. h. der Adrenalin- und Noradrenalinsekretion, auftreten. Der Blutglukoseschwellenwert für die Aktivierung der Adrenalinantwort kann so niedrig liegen, dass die neuroglykopenischen Symptome vor den autonomen Hypoglykämiezeichen auftreten können. Das Erkennen und die richtige Interpretation beider Symptomgruppen hängt entscheidend von der Hypoglykämieerfahrung der Kinder, Jugendlichen und ihrer Eltern ab. Diese Erfahrung kann selbstverständlich während der ersten Zeit nach Manifestation des Diabetes noch nicht vorhanden sein. Daher besteht eine der wichtigsten Aufgaben der initialen Diabetesschulung darin, die Fähigkeit zu entwickeln, Hypoglykämiesymptome rechtzeitig und sicher zu erkennen. Bei den Folgeschulungen im weiteren Verlauf des Diabetes müssen die inzwischen erworbenen Erfahrungen ständig vertieft werden, da Zeitpunkt und Ausmaß der autonomen Hypoglykämiesymptome sich im Laufe der Zeit verändern können und individuell stark variieren. Die Hypoglykämie- und auch die Blutglukosewahrnehmung sollten ständig überprüft und immer wieder trainiert werden.
356
2 2 3
Kapitel 13 · Hypoglykämie
13.6
Ursachen von Hypoglykämien
Die wichtigsten Ursachen einer Hypoglykämie sind daher: 5 verstärkte Insulinwirkung, 5 vermindertes Kohlenhydratangebot und/oder 5 intensive körperliche Anstrengung (z. B. bei Sport). 13.6.1 Verstärkte Insulinwirkung
4 ! Die therapiebedingte iatrogene Hyperinsulinämie spielt eine sehr wichtige Rolle
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12 13 14 15 16
bei der Entstehung von Hypoglykämien.
Eine Insulinüberdosierung tritt v. a. bei unsachgemäßer Beurteilung des Insulinbedarfes auf. Das kann z. B. bei fehlerhafter Durchführung oder Beurteilung der Ergebnisse der Blutglukosemessung vorkommen oder wenn überhaupt keine Stoffwechselmessungen durchgeführt werden und die Insulindosis nach Gefühl gewählt wird. Die Nichtbeachtung eines reduzierten Insulinbedarfes, z. B. nach Infekten oder nach körperlichen Anstrengungen, kann ebenfalls zu einer Insulinüberdosierung führen. Aber auch bei richtiger Einschätzung der Insulindosis können Hypoglykämien durch eine verstärkte Insulinwirkung auftreten: 5 Die Insulinmenge kann in der Spritze oder mit dem Pen falsch abgemessen werden. 5 Trübe Insulinpräparate werden nicht genügend aufgeschüttelt. 5 Insulinpräparate unterschiedlicher Wirkungsdauer (z. B. Normalinsulin und NPH-Insulin) werden verwechselt. 5 U-100-Insulin wird mit U-40-Insulin vertauscht. 5 U-100-Insulin wird in U-40-Spritzen aufgezogen. 5 U-100-Insulin wird mit U-40-Insulin in einer Spritze gemischt. Eine fehlerhafte Injektionstechnik kann ebenfalls die Ursache einer verstärkten Insulinwirkung sein (z. B. Injektion in die Muskulatur oder ein Blutgefäß). Nach einem heißen Bad oder bei großer Hitze im Sommer ist die Haut stärker durchblutet, Insulinresorption und die Insulinwirkung sind daher verstärkt. 13.6.2 Verminderte Nahrungszufuhr
17 ! Ein vermindertes Kohlenhydratangebot ist die wahrscheinlich häufigste Ursache einer Hypoglykämie.
13.6 · Ursachen von Hypoglykämien
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Appetitlosigkeit bei Infekten, Ablehnung bestimmter Speisen, Bevorzugung schwer resorbierbarer Kohlenhydrate, die Weigerung, überhaupt etwas zu essen (Säuglinge und Kleinkinder) können Ursache einer verminderten Kohlenhydrataufnahme sein. Auch die falsche Einschätzung des Kohlenhydratgehaltes einer Mahlzeit kann zu einem Missverhältnis zwischen Glukoseangebot und Glukoseverbrauch führen. Übelkeit und Erbrechen oder die mangelhafte Resorption von Nahrungsmitteln bei Durchfallserkrankungen können ebenfalls eine Hypoglykämie zur Folge haben. Alkoholkonsum kann durch Hemmung der Glukoneogenese in der Leber zu einer Hypoglykämie führen. Das hat bei Kindern kaum eine Relevanz. Bei Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes muss diese Ursache jedoch in Betracht gezogen werden (z. B. bei Partys). Besonders schwierig sind zuckerhaltige Alkoholika, die durch ihren Kohlenhydratgehalt zunächst kurzzeitig zu einem Blutglukoseanstieg führen. Zur Vermeidung insbesondere nächtlicher Hypoglykämien nach Alkoholgenuss wird Jugendlichen empfohlen, z. B. nach Biergenuss immer auch langwirkende Kohlenhydrate zu sich zu nehmen. Warnend ist darauf hinzuweisen, dass Alkoholgenuss die Hypoglykämiewahrnehmung beeinträchtigt und leicht die Kontrolle über den eigenen Stoffwechsel verloren geht. 13.6.3 Intensive körperliche Aktivität (Sport) Schließlich können plötzliche, ausgeprägte körperliche Anstrengungen, aber auch langanhaltende körperliche Belastungen Hypoglykämien zur Folge haben, wenn sie nicht vorsorglich durch ein Mehrangebot an Nahrungsmitteln (SportBE) und/oder eine Verminderung der Insulingabe kompensiert wurden Intensive körperliche Leistungen können schnell zu einem Glukosedefizit führen, da die Insulinempfindlichkeit der arbeitenden Muskulatur erhöht und damit ihre Glukoseaufnahme verstärkt ist. Beim Stoffwechselgesunden wird bei körperlicher Anstrengung die Insulinsekretion vermindert, sodass in der Leber durch Glukoneogenese vermehrt Glukose für die Energiegewinnung bereitgestellt wird. Außerdem wird die Glukoseaufnahme der Fettzellen vermindert, d. h. Glukose ist für die Muskulatur vermehrt verfügbar. Bei Diabetes bleibt die hepatische Glukoseproduktion dagegen wegen der Wirkung des injizierten Insulins gehemmt. Der Einstrom von Glukose in die Fettzellen läuft ungehindert ab. Die Gefahr, eine Hypoglykämie zu entwickeln, ist daher bei Patienten mit Diabetes ungleich größer als bei Nichtdiabetikern. Besonders gefürchtet sind protrahierte Hypoglykämien, die verzögert mehrere Stunden nach körperlicher Anstrengung auftreten. Typisch sind z. B. Hypoglykämien zwischen 22 und 24 Uhr bei Kindern und Jugendlichen, die am späten Nachmittag intensiv Sport getrieben haben. Durch die Glukagonsekretion bei asymptomatischer oder leichter Hypoglykämie wird Glukose durch gesteigerte Glykogenolyse und Glukoneogenese bereitgestellt. Es werden eher
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Kapitel 13 · Hypoglykämie
hyperglykämische Werte gemessen, die den Patienten daran hindern, die abendliche Insulindosis zu reduzieren und/oder das Kohlenhydratangebot zu erhöhen. Eine verzögert auftretende protrahierte Hypoglykämie kann die Folge sein. Die durch eine vorausgegangene Hypoglykämie gestörte Gegenregulation und der relativ hohe Insulinspiegel können die Entwicklung einer schweren Hypoglykämie induzieren. Zusammenfassung
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Eine verminderte Nahrungszufuhr mit reduzierter Kohlenhydrataufnahme ist die wahrscheinlich häufigste Ursache für die Entstehung einer Hypoglykämie bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes. Eine verstärkte Insulinwirkung, z. B. durch Überdosierung des injizierten Insulins und/oder eine verstärkte körperliche Aktivität, z. B. bei Sport, können ebenfalls, jedoch seltener Hypoglykämien zur Folge haben.
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13.7
Behandlung von Hypoglykämien
Normalerweise erkennen Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes und ihre Eltern eine leichte bis mittelgradige symptomatische Hypoglykämie rechtzeitig und sicher nach Auftreten der autonomen Symptome. Bei Unsicherheit kann die Diagnose mit Hilfe einer Blutglukosebestimmung gesichert werden. Es sollte jedoch keine Zeit verloren gehen und sofort mit der Behandlung der Hypoglykämie begonnen werden. 13.7.1 Therapie bei Auftreten autonomer Symptome Um zu verhindern, dass sich eine schwere Hypoglykämie mit neuroglykopenischen Symptomen entwickelt, muss der Patient sofort nach Einsetzen hypoglykämischer Symptome schnell resorbierbare einfache Kohlenhydrate zu sich nehmen, am besten Traubenzucker (Glukose), je nach Alter und Gewicht 5– 20 g. Auch Kochzucker (Saccharose) ist geeignet. Traubenzucker in fester Form (Plättchen, Stückchen, Pulver) wird von Kindern oft nicht so gut akzeptiert, da es auf sie staubig, pappig oder Brechreiz auslösend wirkt. Sie haben Angst, sich zu verschlucken und es nicht »runter zu kriegen«. Besser geeignet sind Getränke (Wasser, Tee), denen Traubenzucker zugesetzt wird (1 Teelöffel Traubenzucker entspricht etwa 5 g). Auch Obstsäfte, Limonaden oder Cola, die bereits Zucker enthalten, denen man aber noch Zucker zusetzen kann, sind bei Kindern sehr beliebt. Sehr praktisch sind auch Glukose-Sirup-Präparate, die als Glukosegel in der Tube angeboten werden und weit verbreitet sind. Die folgenden Mengen an schnellresorbierbaren Kohlenhydraten (ca. 20 g) sind bei Vorliegen einer leichten bis mittelgradigen Hypoglykämie meist wirksam:
13.7 · Behandlung von Hypoglykämien
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Traubenzucker (4 Plättchen à 5 g bzw. 4 Teelöffel à 5 g), Würfelzucker (6 Stückchen), Apfelsaft (200 ml), Cola (200 ml), Glukosegel (s. Packungsbeilage).
Die meisten anderen kohlenhydrathaltigen Nahrungsmittel (z. B. Obst, Getreideprodukte, Milchprodukte) sind zur Behandlung einer Hypoglykämie ungeeignet. Wegen ihres Gehaltes an Ballaststoffen, Fett oder Eiweiß dauert es viel zu lange bis der Blutglukosespiegel bei einer Hypoglykämie ausreichend ansteigt. Bei erfolgreicher Behandlung einer Hypoglykämie mit einfachen Kohlenhydraten, sollten jedoch frühestens bei der nächsten Mahlzeit reichlich komplexe Kohlenhydrate aufgenommen werden, um das erneute Auftreten einer Hypogykämie zu verhindern. Die außerhalb einer Mahlzeit zur Behandlung oder Vorbeugung einer Hypoglykämie aufgenommenen Kohlenhydratmengen müssen selbstverständlich nicht in die Berechnung der Insulindosis einbezogen werden. 13.7.2 Therapie bei Auftreten neuroglykopenischer Symptome Bei schwerer Hypoglykämie mit Bewusstseinstrübung, Bewusstseinsverlust und/ oder Krämpfen kann sich der Patient nicht mehr selbst helfen. Er kann weder die Blutglukosekonzentration messen noch etwas essen oder trinken. So schnell wie möglich muss Glukagon i.m. oder s.c. in folgender Dosierung injiziert werden: 5 bei Kindern unter 12 Jahren: 0,5 mg bzw. 0,1 mg/10 kg Körpergewicht, 5 bei Kindern über 12 Jahren: 1,0 mg bzw. 0,2 mg/10 kg Körpergewicht. Die Injektion kann evtl. nach 5 oder 10 min wiederholt werden. Wichtig ist, dass nach Einsetzen der Glukagonwirkung kohlenhydrathaltige Nahrungsmittel gegessen werden, um das erneute Auftreten einer schweren Hypoglykämie zu verhindern. Wenn kein Glukagon zur Verfügung steht oder eine Besserung ausbleibt, muss Glukose i.v. injiziert werden. Dazu muss allerdings ein Arzt erreichbar sein. Wichtig ist, dass so viel Glukoselösung injiziert wird, bis der Patient wieder bei Bewusstsein ist. Normalerweise sind dafür 200–500 mg Glukose/kg Körpergewicht (über 5 min) notwendig. Bei einem Kind von 30 kg sind dies 15 g Glukose = 300 ml Glukose 5%, oder 150 ml Glukose 10%, oder 75 ml Glukose 20%. Eine paravenöse Infusion höherprozentiger Glukoselösungen kann schwere Gewebsnekrosen hervorrufen. Da die Flüssigkeitsbelastung bei den Patienten meist keine Rolle spielt, sollten üblicherweise keine Glukosekonzentrationen über 10% verwendet werden.
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Kapitel 13 · Hypoglykämie
Wichtig ist weiterhin, dass alle Eltern, Kinder und Jugendlichen mit mindestens zwei Packungen Glukagon ausgerüstet sind, die im Kühlschrank aufbewahrt werden. Beim Glukagon ist auf das Verfallsdatum zu achten. Während der Erholungsphase nach einer schweren Hypoglykämie muss engmaschig die Blutglukosekonzentration gemessen werden. Nach dem Aufklaren (meist innerhalb weniger Minuten), und wenn keine Übelkeit besteht, erfolgt die Gabe von kohlenhydrathaltigen Nahrungsmitteln (Kinder <6 Jahre: 1–2 KE; Kinder >6 Jahre: 2–3 KE) unter regelmäßigen Blutglukosekontrollen. Wenn die Kinder weiter erbrechen, ist eine Glukoseinfusion notwendig, z. B. 1,2–3,0 ml 10%ige Glukoselösung/kg Körpergewicht und Stunde bzw. 2,0–5,0 mg Glukose/ kg Körpergewicht und Minute. Es kann aber auch sein, dass die Blutglukosewerte durch die endokrine Gegenregulation und die zusätzliche Glukosegabe auf sehr hohe Werte ansteigen. In der folgenden Übersicht sind die wichtigsten Maßnahmen zur Behandlung der leichten bis mittelgradigen Hypoglykämie und der schweren Hypoglykämie zusammengestellt:
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Maßnahmen zur Behandlung der leichten bis mittelgradigen Hypoglykämie und der schweren Hypoglykämie
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5 Bei Auftreten autonomer Symptome:
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– Orale Gabe von Glukose (Traubenzucker) in Form von Plättchen, besser Pulver aufgelöst in Flüssigkeit (Wasser oder Tee) – orale Gabe von kohlenhydrathaltigen Nahrungsmitteln mit hohem glykämischen Index (z. B. Apfelsaft, Coca Cola, Limonade) 5 Bei Auftreten neuroglykopenischer Symptome:
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– Glukagon, i.m. oder s.c.: <12 Jahre: 0,5 mg (halbe Glukagonspritze) bzw. 0,1 mg/10 kg Körpergewicht >12 Jahre: 1,0 mg (ganze Glukagonspritze) bzw. 0,2 mg/kg Körpergewicht Evtl. Wiederholung der Glukagoninjektion nach 5–10 min, – Glukose i.v.: 200–500 mg Glukose/kg Körpergewicht (über 5 min) als 10%ige Lösung
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13.7.3 Empfehlungen für die Diagnose und Behandlung von Hypoglykämien Um jederzeit eine Hypoglykämie sicher diagnostizieren und rechtzeitig behandeln zu können, sind die folgende Empfehlungen zu beachten:
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5 Alle Kinder und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes sollten zu jeder Zeit ein
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Notfall-Set bei sich oder in der Schultasche haben, das einen ausreichenden Vorrat an schnell resorbierbaren Kohlenhydraten (Traubenzuckerplättchen, Würfelzucker, Glukosegel) zur Behandlung einer Hypoglykämie enthält. In dem Notfall-Set sollten alle für eine Blutglukosemessung notwendigen Utensilien enthalten sein, um eine Hypoglykämie sicher bestätigen zu können (Blutglukosemessgerät, Teststreifen, Stechhilfe). Alle Kinder und Jugendlichen sowie ihre Eltern, Lehrer und Sorgeberechtigten sollten im Erkennen und in der Behandlung einer Hypoglykämie geschult werden. Glukagon sollte für alle Eltern und Sorgeberechtigten (z. B. in der Schule, beim Sport) jederzeit verfügbar sein, v. a. dann, wenn ein hohes Risiko für Hypoglykämien besteht (z. B. bei rezidivierend aufgetretenen Hypoglykämien). Unerlässlich ist die Schulung in der Anwendung von Glukagon (Indikation, Dosierung, Injektion). Alle Kinder und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes sollten einen Ausweis bei sich tragen, aus dem eindeutig hervorgeht, dass bei ihnen ein Typ-1-Diabetes vorliegt und die Möglichkeit besteht, dass eine Hypoglykämie auftritt. Im Ausweis sollten der Name des Kindes, die Anschriften der Eltern, des behandelnden Arztes und der behandelnden Kinderklinik eingetragen werden, um im Notfall Hilfe anfordern zu können. Dem Ausweis sollte auch zu entnehmen sein, wie eine Hypoglykämie erkannt und behandelt werden kann.
Wenn sich die Kinder oder Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes nicht in der unmittelbaren Obhut ihrer Eltern befinden (z. B. bei einem Schulausflug, einer Klassenreise, einem Landheimaufenthalt, einer Reise mit dem Sportverein usw.), ist es sinnvoll, die Lehrer und Betreuer, noch eingehender als es ein Ausweis vermag, über das Verhalten bei einer schweren Hypoglykämie zu informieren. In Abb. 13.2. ist ein Informationsbogen dargestellt, der sich bei solchen Sitautionen sehr bewährt hat. 13.8
Häufigkeit von Hypoglykämien
Bei der Inzidenz von Hypoglykämien muss unterschieden werden zwischen: 5 asymptomatischen nur mit Hilfe von Blutglukosemessungen identifizier-
baren Hypoglykämien, 5 symptomatischen leichten bis mittelgradigen Hypoglykämien und 5 schweren mit Bewusstseinsverlust und/oder Krämpfen einhergehenden
Hypoglykämien.
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Kapitel 13 · Hypoglykämie
13.8.1 Inzidenz von asymptomatischen Hypoglykämien Nach eigenen Erfahrungen wiesen Kinder und Jugendliche, die täglich 4- bis 6mal Blutglukose bestimmten und die Ergebnisse mit einem Speichermessgerät dokumentierten, 10- bis 25-mal im Monat Blutglukosewerte unter 50 mg/dl auf. Die große Mehrzahl dieser nachgewiesenen Hypoglykämien verlief ohne subjektiv fassbare Hypoglykämiezeichen. Besonders beunruhigend ist die Inzidenz nächtlicher asymptomatischer Hypoglykämien. Bis zu 50% der Kinder weisen nachts, teilweise sehr langdauernde Hypoglykämien auf. Die Sicherheit, Hypoglykämien mit Hilfe von Blutglukosemessungen vor dem Schlafengehen vorauszusagen, ist gering. Die hohe Inzidenz nächtlicher asymptomatischer Hypoglykämien wurde durch die modernen Methoden der kontinuierlichen Blutglukosemessung bestätigt. Als Ursache der Hypoglykämieneigung nachts kommen in Frage: 5 Insulinüberdosierung spät abends, 5 erhöhte Insulinsensitivität der Leber nachts und 5 Störungen der autonomen Gegenregulation während des Schlafs.
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13.8.2 Inzidenz von leichten bis mittelgradigen Hypoglykämien
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Die Inzidenz symptomatischer Hypoglykämien bei Kindern und Jugendlichen mit konventioneller Insulintherapie (2 Injektionen täglich) wurde zunächst mit Hilfe von Fragebögen ermittelt. Sicherer konnte die Inzidenz symptomatischer Hypoglykämien nach Einführung des Blutglukose-Monitoring durch die Patienten selbst beurteilt werden. Von 161 Kindern und Jugendlichen wiesen 52% während eines Beobachtungszeitraums von 3 Monaten insgesamt 287 symptomatische Hypoglykämien auf, die durch Blutglukosemessungen bestätigt wurden (<3,0 mmol/l). Das sind insgesamt 0,6 Episoden pro Monat und Patient bzw. 720 leichte bis mittelgradige Hypoglykämien pro 100 Patientenjahre. Die Inzidenz symptomatischer Hypoglykämien war bei den Kindern unter 6 Jahren höher (1,1 Episoden pro Monat und Patient). 77% der Hypoglykämien verliefen milde, 33% mittelgradig. Die häufigsten Symptome waren Schwäche (29%), Zittrigkeit (20%), Hunger (14%) und Schläfrigkeit (12%). 20% der Symptome wurden als neuroglykopenisch eingeordnet. Kinder unter 6 Jahren wiesen weniger autonome Symptome auf als die älteren. Der Übergang von autonomen zu neuroglykopenischen Symptomen scheint bei Kindern, insbesondere Vorschulkindern unter 6 Jahren, schneller zu erfolgen als bei Erwachsenen.
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13.8 · Häufigkeit von Hypoglykämien
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Zusammenfassung Über die Inzidenz milder bis mittelgradiger Hypoglykämien bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes liegen wenige verlässliche Daten vor. Insgesamt scheint die Mehrheit der durch Blutglukosemessungen gesicherten Hypoglykämien asymptomatisch zu verlaufen.
13.8.3 Inzidenz von schweren Hypoglykämien Die Angaben über die Häufigkeit schwerer Hypoglykämien schwanken in der Literatur erheblich, sie liegen zwischen 5 und 140 Episoden pro 100 Patientenjahre. Die Ursachen für diese unterschiedlichen Angaben sind: 5 unterschiedliche Definition schwerer Hypoglykämien, 5 Schwierigkeit, schwere Hypoglykämien vollständig zu erfassen, 5 erhebliche Unterschiede in der Qualität der Insulintherapie, Stoffwechselselbstkontrolle und Diabetesschulung. Folgende verschiedenen Definitionen sind für die schwere Hypoglykämie vorgeschlagen worden: 5 Episoden, die Fremdhilfe erfordern, 5 Episoden, die die Injektion von Glukagon (i.m.) und/oder Glukose (i.v.) notwendig machen, 5 Episoden, die mit Bewusstlosigkeit und/oder Krämpfen einhergehen. Die Fremdhilfe-Definition hat sich bei Kindern und Jugendlichen als ungeeignet erwiesen. Hypoglykämiesymptome werden von Kleinkindern unsicher wahrgenommen und angegeben und auch von Schulkindern oft unterschiedlich eingeschätzt, nicht selten vorgetäuscht. Die Fremdhilfe-Definition führt daher, wenn sie unkritisch angewendet wird, zu sehr hohen Inzidenzraten und macht die Vergleichbarkeit der Ergebnisse aus verschiedenen Diabeteszentren problematisch. Auch die an die parenterale Gabe von Glukagon oder Glukose orientierte Definition kann allein nicht angewendet werden, da die Eltern aus Furcht vor schweren Hypoglykämien nicht selten Glukagon ohne Notwendigkeit einsetzen. In den ISPAD Consensus Guidelines 2000 wird daher die schwere Hypoglykämie als Episode definiert, bei der das Kind oder der Jugendliche bewusstseinsgetrübt oder bewusstlos ist, ein Koma und/oder Krämpfe vorliegen und eine parenterale Therapie (Glukagon oder Glukose i.v.) notwendig ist. Ab 1994 wurden in unserer Klinik die Inzidenzraten für schwere Hypoglykämien mit Bewusstlosigkeit und/der Krämpfen prospektiv ermittelt, d. h. sie wur-
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Kapitel 13 · Hypoglykämie
den fortlaufend bei allen im Kinderkrankenhaus auf der Bult Hannover ambulant betreuten Patienten erhoben. Die Inzidenz variiert zwischen 3,7 (2002) und 16,4 (1996) schweren Hypoglykämien pro 100 Patientenjahre. Die Zahl der mit ICT behandelten Patienten nahm während dieser Zeit kontinuierlich zu, der mittlere HbA1c ging zurück, die Zahl der Patienten mit einem HbA1c-Wert unter 7,4% nahm ständig zu. Trotzdem stieg die Inzidenz schwerer Hypoglykämien während der letzten 10 Jahre nicht an. Seit 2000 wurde auch die CSII eingesetzt. Bei diesen Patienten war die Inzidenz schwerer Hypoglykämien besonders niedrig. Sie betrug 2002 bei 71 mit CSII behandelten Patienten nur 1,6 pro 100 Patientenjahre. Das stimmt mit den Ergebnissen aus anderen Zentren überein, die bei Kindern und Jugendlichen mit CSII ebenfalls bei verbesserter Stoffwechselkontrolle niedrigere Inzidenzdaten für schwere Hypoglykämien nachweisen konnten. Zusammenfassung
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Die Ergebnisse der in den letzten Jahren veröffentlichten Studien zeigen eindeutig, dass die Inzidenz schwerer Hypoglykämien nicht von der Art der Insulinsubstitutionsmethode und auch nicht von der Qualität der Stoffwechseleinstellung, d. h. vom individuellen HbA1c-Wert, abhängt. Wichtig für die Vermeidung schwerer Hypoglykämien sind vielmehr die Einstellung der Patienten und des Behandlungsteams zur gewählten Therapieform sowie die Erwartungen, die an sie geknüpft werden. Schließlich ist das Wissen über die Entstehung und die Erfahrung bei der Früherkennung und Behandlung von Hypoglykämien entscheidend, die nur durch eine intensive Inititial- und Folgeschulung von Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern zu erreichen sind.
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13.9
Hypoglykämien und ihre Folgen
)) Die Frage, ob Hypoglykämien langfristige Konsequenzen für das Gehirn haben, wird nach wie vor sehr kontrovers diskutiert. Es wird zwar vermutet, dass schwere und protrahierte Hypoglykämien neurologische Schäden verursachen können, aber Studien, v. a. bei Erwachsenen mit Diabetes, haben bisher keine überzeugende Evidenz für unmittelbare neurologische Folgen nach hypoglykämischen Episoden im Rahmen der Insulintherapie erbracht.
In großen prospektiven Studien bei Erwachsenen konnte der Beweis für neurologische Nebenwirkungen nach wiederholt aufgetretenen schweren Hypo-
13.9 · Hypoglykämien und ihre Folgen
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glykämien nicht erbracht werden. Die Ergebnisse anderer Studien waren widersprüchlich. So wurde zwar eine kognitive Defizienz bei erwachsenen Patienten mit Diabetes nachgewiesen, nicht jedoch eine Korrelation zu schweren Hypoglykämien. Das Gehirn von sehr jungen Kindern mit Typ-1-Diabetes scheint gegenüber Hypoglykämien eine stärkere Vulnerabilität aufzuweisen. In mehreren Studien wurde nachgewiesen, dass Kinder und Jugendliche mit langer Diabetesdauer, v. a. dann, wenn der Diabetes vor dem 6. Lebensjahr auftrat, eine Verminderung ihrer kognitiven Fähigkeiten aufweisen. In neueren Studien wurden auch Defizite spezifischer neuropsychologischer Fähigkeiten nachgewiesen (Aufmerksamkeit, Gedächtnis). Es stellt sich jedoch immer wieder die Frage, ob die Verminderung kognitiver Fähigkeiten bei Kindern mit Typ-1-Diabetes nicht das Ergebnis unterschiedlicher metabolischer Faktoren sein kann (Hypoglykämie, Hyperglykämie, Hyperketonämie usw.). Nicht zuletzt spielen wahrscheinlich auch langfristige psychosoziale Effekte der chronischen Krankheit Diabetes eine wichtige Rolle bei der Entwicklung dieser Defizite. Es gibt bis heute keine direkten Hinweise dafür, dass neuropsychologische Defekte, die bei Kindern mit Typ-1-Diabetes beschrieben werden, allein Folge von schweren Hypoglykämien sind. ! Die Frage, ob asymptomatische, symptomatische oder schwere Hypoglykämien von kurzer oder langer Dauer zu einer Störung zerebraler Funktionen beitragen, bleibt bisher unbeantwortet. Größere prospektive Studien mit genauer Ermittlung von Art, Häufigkeit, Zeitpunkt und Dauer der Hypoglykämien, kontinuierlicher Messung der kognitiver Funktionen und der Analyse anderer, die kognitive Entwicklung störender Faktoren sind zur endgültigen Klärung dieser Frage notwendig.
Ähnlich unsicher ist die Situation bei der Einordnung von Allgemeinveränderungen im EEG bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes. Eine immer wieder von Eltern gestellte Frage ist, ob Kinder mit Typ-1-Diabetes im Rahmen einer schweren Hypoglykämie sterben können. Sie wurde lange Zeit mit einem klaren Nein beantwortet. Inzwischen scheint man jedoch zu wissen, dass extrem selten auch eine schwere Hypoglykämie die Todesursache sein kann. 1991 wurde über einige Todesfälle unklarer Genese bei Jugendlichen und meist jungen Erwachsenen mit Typ-1-Diabetes berichtet. Das als »Dead in Bed Syndrome« bezeichnete Ereignis weist folgende Kriterien auf: der Patient wird tot im Bett gefunden, einen Tag vor dem Ereignis erscheint der Patient gesund, diabetische Folgeerkrankungen liegen nicht vor. In der Autopsie ist in typischer Weise keine Ursache feststellbar.
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Kapitel 13 · Hypoglykämie
Das »Dead in Bed Syndrome« tritt meist vor dem 30., seltener bis zum 50. Lebensjahr auf. Bei kleinen Kindern mit Typ-1-Diabetes, die die weitaus höchste Inzidenz schwerer Hypoglykämien haben, wird es nicht beobachtet. Nur ein Fall ist bislang bei einem 7-jährigen Kind vor der Adoleszenz beschrieben worden. Dies sollte besonders die Eltern junger Kinder beruhigen. Es betrifft etwa 6% aller Todesfälle bei Patienten mit Typ-1-Diabetes. Die Inzidenz liegt nach den vorliegenden Daten zwischen 2 und 6 Ereignissen pro 10.000 Patientenjahre. Die Pathogenese ist nach wie vor unklar. Am häufigsten wird eine schwere Hypoglykämie in Betracht gezogen, deren Ursache eine Insulinüberdosierung aus Versehen oder auch in suizidaler Absicht sein kann Gefährdet sind Patienten mit Diabetes aber häufig nicht so sehr durch die Hypoglykämie selbst, sondern durch die Situation, in der sie sich zum Zeitpunkt der Hypoglykämie befinden. Jugendliche sollten daher beraten werden, bei drohender Hypoglykämie risikoreiche Tätigkeiten (z. B. allein im Meer schwimmen gehen, aktive Teilnahme am Straßenverkehr, Bergsteigen usw.) zu unterlassen. Zusammenfassung Die Frage, ob ein Jugendlicher mit Typ-1-Diabetes an einer schweren Hypoglykämie sterben kann, ist nicht hundertprozentig zu verneinen. Allerdings handelt es sich dabei um ein extrem seltenes Ereignis. Jüngere Kinder sind davon nicht betroffen.
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13.10 Hypoglykämieangst
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Die v. a. bei Eltern von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes, aber auch bei manchen Ärzten verbreitete Hypoglykämieangst sollte nicht dazu führen, die Bemühungen um eine gute Stoffwechseleinstellung mit niedrigen HbA1c-Werten zu reduzieren.
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Asymptomatische, aber auch leichte bis mittelschwere symptomatische Hypoglykämien sind bei allen Methoden der Insulintherapie und bei jeder Qualität der Stoffwechseleinstellung relativ häufig. Sie müssen erkannt, protokolliert und behandelt werden, sollten den Eltern jedoch nicht Angst machen und sie erst recht nicht dazu verführen, weniger Insulin zu injizieren und/oder mehr Nahrungsmittel anzubieten. Die Folge wäre eine schlechte Stoffwechseleinstellung mit hohen HbA1c-Werten.
13.10 · Hypoglykämieangst
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Die Eltern sollten nicht vergessen, dass langfristige, ausgeprägte Hyperglykämien die Ursache für das Auftreten der verschiedenen Formen der diabetischen Mikroangiopathie sind. Die diabetischen Folgeerkrankungen bestimmen wesentlich das Lebensschicksal der Kinder und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes. Hypoglykämien sind im Vergleich zu den vaskulären Folgeerkrankungen Retinopathie, Nephropathie und Neuropathie das kleinere Übel. Seitdem strengere Einstellungskriterien gelten (HbA1c-Werte unter 7,4% bei nahe-normoglykämischen Blutglukosewerten) und heute fast ausschließlich die intensivierten Formen der Insulintherapie (ICT, CSII) angewendet werden, ist die Inzidenz leichter bis mittelschwerer Hypoglykämien nicht angestiegen, erst recht nicht die schwerer Hypoglykämien. Das hat seine Ursache sicher auch darin, dass die Aufmerksamkeit der Kinder und Jugendlichen und ihrer Eltern durch intensive Schulungsmaßnahmen stärker auf das Phänomen der Hypoglykämie gelenkt wurde. Die Patienten wurden motiviert und befähigt, eine Hypoglykämie bereits in ihrem Anfangsstadium zu erkennen und zu behandeln. Die Inzidenz schwerer Hypoglykämien hat daher nicht zugenommen. Die schwere Hypoglykämie ist ohne Zweifel eine lebensbedrohliche Komplikation und wird von den Eltern, den nahen Verwandten und Freunden des Patienten als ein dramatisches, Angst vermittelndes Ereignis erlebt. Vor allem die Eltern entwickeln daher nach Auftreten einer schweren Hypoglykämie häufig eine ausgeprägte, manchmal phobisch gefärbte Hypoglykämieangst. Sie benötigen oft Wochen und Monate, um die Angst vor erneuten Hypoglykämien abzubauen. Schwere Hypoglykämien sollten, daran besteht kein Zweifel, möglichst vermieden werden. Wenn allerdings einmal eine Hypoglykämie mit Bewusstseinsverlust und/oder Krämpfen aufgetreten ist, müssen die Eltern nicht allzu sehr beunruhigt sein. Die Mitarbeiter des Diabetesteams sollten den Eltern jedoch Zeit lassen, das traumatisierende Erlebnis einer schweren Hypoglykämie zu verarbeiten und auch zulassen, dass die Stoffwechseleinstellung eine Zeitlang weniger streng umgesetzt wird. Normalerweise beginnen die Eltern nach einiger Zeit von sich aus, wieder strengere Maßstäbe an die Qualität der Stoff wechselkontrolle zu stellen, da sie wissen, dass nur auf diese Weise diabetische Folgeerkrankungen vermieden werden. Zusammenfassung Bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes sollte die Entscheidung für eine differenzierte Prandial- und Basalinsulinsubstitution (ICT, CSII) auf keinen Fall durch die Angst vor Hypoglykämien beeinflusst werden, sondern allein durch das Bestreben, eine möglichst gute, nahe-normoglykämische Stoffwechseleinstellung mit HbA1c-Werten unter 7,5% zu erreichen, um diabetische Folgeerkrankungen zu vermeiden.
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Kapitel 13 · Hypoglykämie
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12 13 14 15 16 . Abb. 13.2 Informationsbogen für den Notfall (Hürter u. Lange 2001)
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Literatur
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Literatur Chiarelli F, Verrotti A, di Ricco L, Altobelli E (1998) Hypoglycemic symptoms described by diabetic children and their parents. Acta Diabetol 35: 81–84 Cryer PE (1997) Hypoglycemia. Pathophysiology, diagnosis and treatment. Oxford University Press, New York Davos SN, Fowler S, Costa F (2000) Hypoglycemic counterregulatory responses differ between men and women with type 1 diabetes. Diabetes 49: 65–72 Hürter P, Lange K (2001) Kinder und Jugendliche mit Diabetes. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokio ISPAD (International Society for Pediatric and Adolescent Diabetes, International Diabetes Federation World Health Organisation) (2000) Consensus guidelines for the management of insulin-dependent (type I) diabetes mellitus (IDDM) in childhood and adolescence. Swift PGF (ed) Medforum, Zeist/NL, www.ispad.org, deutsche Fassung: www.disetronic.de/download/0701_B_ISPAD.pdf Jones TW, Davis EA (2003) Hypoglycemia in children with type 1 diabetes: current issues and controversies. Pediatr Diabetes 4: 143–150 Ludvigsson J, Nordfeldt S (1998) Hypoglycemia during intensified insulin therapy of children and addolescents. J Pediatr Endocrinol Metab 11 (Suppl 1): 159–166 Tattersall RB, Gill GV (1991) Unexplained deaths of type 1 diabetic patients. Diabet Med 8: 49–58 Tupola S, Rajantie J (1998) Documented symptomatic hypoglycemia in children an adolescents using multiple daily insulin injection therapy. Diabet Med 15: 492–496
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Diabetische Ketoazidose 12.1
Pathophysiologische Konsequenzen des Insulinmangels
)) Unmittelbar nach Manifestation eines Typ-1-Diabetes werden niedrig-normale oder eindeutig verminderte Insulinspiegel im Plasma nachgewiesen. Die Stimulation der Insulinsekretion durch Nahrungszufuhr oder orale bzw. i.v.-Gaben von Glukose, Aminosäuren, Ketonkörpern, 323gastrointestinalen Hormonen oder Sulfonylharnstoff ist vermindert oder bleibt ganz aus. Der Typ-1-Diabetes ist daher durch einen zunächst partiellen, später absoluten Insulinmangel gekennzeichnet. Die wichtigsten Konsequenzen des Insulinmangels sind Hyperglykämie und Hyperketonämie, die erhebliche Störungen des Wasser-, Elektrolyt- und Säure-Basen-Haushalts zur Folge haben.
12.1.1 Hyperglykämie und Hyperketonämie ! Bei Insulinmangel sind die vielfältigen anabolen Wirkungen des Hormons auf molekularer Ebene gestört. Der für das Stoffwechselgleichgewicht wichtige Insulin-Glukagon-Antagonismus ist zu Gunsten des katabol wirkenden Glukagons verschoben. Am Ende einer langen Kette von pathophysiologischen Konsequenzen des Insulinmangels stehen die beiden Leitsymptome des Typ-1Diabetes: Hyperglykämie und Hyperketonämie.
Insulinmangel und Muskelgewebe Bei Insulinmangel ist in der Muskulatur der Membrantransport von Glukose in die Zelle vermindert. Dadurch ist die intrazelluläre Glukose-Utilisation reduziert. Sowohl der anaerobe (Glykolyse) wie der aerobe Abbau von Glukose (Krebs-Zyklus) ist gestört und die Energiebereitstellung dadurch herabgesetzt. Glukagon aktiviert die Phosphorylase, Insulin hemmt sie. Durch die Dominanz der Glukagonwirkung bei Insulinmangel ist die Glykogenolyse mit Bildung von Glukose-1-Phosphat gesteigert. Durch Stimulation der Lipolyse ist die Konzentration von freien Fettsäuren im Blut erhöht. Deren Einstrom in die Mitochondrien der Muskelzellen ist durch die vermehrte Bildung von Acylcarnitin gesteigert. Fettsäuren stehen
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Kapitel 12 · Diabetische Ketoazidose
daher der Muskulatur bei Insulinmangel für die Energiegewinnung vermehrt zur Verfügung. Die Proteinsynthese ist bei Insulinmangel gehemmt, die Proteolyse im Muskelgewebe dagegen erhöht. Der Ausstrom von Aminosäuren aus den Muskelzellen ist vervielfacht. Aminosäuren stehen für die Glukoneogenese in der Leber vermehrt zur Verfügung. Insulinmangel und Fettgewebe Der Membrantransport von Glukose in die Adipozyten ist ebenfalls gehemmt. Durch Verminderung der Glykolyserate ist der Abbau von Glukose mit Karboxylierung von Acetyl-CoA zu Malonyl-CoA gehemmt. Malonyl-CoA steht als Ausgangssubstrat der Fettsäuresynthese vermindert zur Verfügung. Die Lipogenese ist dadurch deutlich reduziert. Glukagon stimuliert über die cAMP-abhängige Proteinkinase die Lipaseaktivität und steigert damit die Lipolyse. Glycerin und Fettsäuren werden vermehrt an den Kreislauf abgegeben. Glycerin wird als Substrat für die Glukoneogenese in der Leber bereitgestellt. Die Fettsäuren werden zu Fettsäure-Acyl-CoA abgebaut und mit Hilfe von Acylcarnitin in die Mitochondrien transportiert, um dort oxydiert zu werden. Insulinmangel und Leber Die Glykogensynthese wird in der Leber wie in der Muskulatur durch den Insulinmangel gehemmt, während die Glykogenolyse durch die vermehrte Glukagonwirkung gesteigert abläuft. Daneben wird Glukose in der Leber durch die bei Insulinmangel deutlich gesteigerte Glukoneogenese vermehrt bereitgestellt. Substrate stehen für die Glukoseneubildung reichlich zur Verfügung: 5 Laktat durch die verminderte Glukoseoxidation, 5 Aminosäuren durch die gesteigerte Proteolyse und 5 Glycerin durch die stimulierte Lipolyse. Das erhöhte Angebot von freien Fettsäuren führt in der Leber ebenfalls zu gesteigerter Fettsäure-Acyl-CoA-Bildung. Die aktivierten Fettsäuren werden in die Mitochondrien der Hepatozyten aufgenommen und können dort für die Energiegewinnung oxidiert oder im Hydroxymethylglutaryl-Zyklus zu E-Hydoxybuttersäure bzw. Acetessigsäure umgewandelt werden. Die Ketogenese ist bei Insulinmangel deutlich gesteigert.
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Zusammenfassung Die wichtigsten Konsequenzen einer verminderten Insulin- und verstärkten Glukagonwirkung sind die verminderte Glukose-Utilisation, die gesteigerte Glykogenolyse und Glukoneogenese mit vermehrter Bereitstellung von Glukose, weiterhin die gesteigerte Lipolyse mit erhöhtem Angebot von Fettsäuren, die teils oxidiert, teils zu Ketonen umgewandelt werden, schließlich die gesteigerte Proteolyse mit erhöhtem Anfall von Aminosäuren als Substrat für die Glukoneogenese. Hyperglykämie und Hyperketonämie sind die wesentlichen pathophysiologischen Konsequenzen des Insulinmangels. Die wichtigsten Konsequenzen einer verstärkten Insulin- und verminderten Glukagonwirkung sind dagegen die vermehrte Glukose-Utilisation, die gesteigerte Glykogensynthese bei verminderter Glykogenolyse, die blockierte Glukoneogenese mit verminderter Bereitstellung von Glukose, weiterhin die gesteigerte Lipogenese bei verminderter Lipolyse mit reduziertem Anfall von Fettsäuren und blockierter Ketogenese, die gesteigerte Proteinsynthese bei reduzierter Proteolyse und vermindertem Anfall von Aminosäuren als Substrat für die Glukoneogenese.
12.1.2 Störungen des Wasser-, Elektrolyt- und Säure-Basen-Haushalts ! Hyperglykämie und Hyperketonämie haben weitreichende Konsequenzen für den Wasser-, Elektrolyt- und Säure-Basen-Haushalt.
Hypertone Dehydratation des Intrazellulärraums Unter physiologischen Bedingungen herrscht im Plasma-, Extrazellulär- und Intrazellulärraum der gleiche osmotische Druck. Die Osmolalität beträgt durchschnittlich 285 Milliosmol (mosmol)/kg Wasser. Steigende Glukosekonzentrationen im Blut und in der extrazellulären Flüssigkeit verursachen eine Erhöhung der Osmolalität, d. h. eine Hyperosmolalität. 1 Millimol (mmol) Glukose wiegt 180 mg. Die Erhöhung des Blutglukosespiegels um 180 mg/l bzw. 18 mg/dl steigert die Osmolalität daher um 1 mosmol von 285 auf 286 mosmol/kg Wasser. Ein Blutglukoseanstieg von 80 mg/dl auf 440 mg/dl, wie er bei Diabetes nicht selten beobachtet wird, lässt die Osmolalität um 20 mosmol von 285 auf 305 mosmol/kg Wasser ansteigen. Eine Hypertonizität des Blutes und der extrazellulären Flüssigkeit ist die Folge. Um einen Konzentrationsausgleich zwischen Extra- und Intrazellulärraum zu erreichen, tritt intrazelluläre Flüssigkeit in den Extrazellulärraum über. Es kommt zu einer osmotischen Flüssigkeitsbewegung aus dem Intra- in den Extrazellulärraum. Hieraus resultiert eine hypertone Dehydratation des Intrazellulärraums mit Verminderung des Zellvolumens.
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Die Hirnzellen besitzen einen besonderen Mechanismus, um sich vor dem hypertonen Wasserentzug zu schützen. Sie können innerhalb kurzer Zeit die intrazelluläre Osmolalität durch die Aufnahme oder Freisetzung niedermolekularer Substanzen (»idiogenic osmols«: Natrium und Aminosäuren) erhöhen. Dadurch kann Wasser intrazellulär – selbst gegenüber einem hypertonen Extrazellulärraum – zurückgehalten werden. Eine ausgeprägtere Hirnschrumpfung, die zu Gefäßabrissen und Blutungen führen könnte, wird dadurch verhindert. Reicht dieser Schutzmechanismus nicht aus, z. B. bei dem schweren Verlauf einer diabetischen Ketoazidose, so können durch die Exsikkose der Hirnzellen zerebrale Symptome auftreten (Unruhe, Irritabilität, Bewusstseinstrübung bis Bewusstlosigkeit/Koma und Krämpfe). Der durch den Ausstrom von Wasser aus dem Intrazellulärraum bewirkte Verdünnungseffekt trägt mit zur Verminderung der Elektrolytkonzentration der extrazellulären Flüssigkeit und des Blutes bei. Dabei ist zu bedenken, dass auch durch andere Faktoren Veränderungen der Elektrolytkonzentration bei Insulinmangel verursacht werden können. Um den durch gesteigerte Glykogenolyse und Proteolyse bedingten Kaliumverlust der Zellen auszugleichen, dringt z. B. vermehrt Natrium vom Extra- in den Intrazellulärraum ein. Andererseits kommt es durch die vorübergehende Hypervolämie zu einem Absinken der Aldosteronsekretion in der Nebennierenrinde und damit zu einem verstärkten Natriumchloridverlust durch die Nieren. Hypertone Dehydratation des Extrazellulär- und Plasmaraums Die Glomerula der Nieren sind für Glukose durchlässig, so dass Glukose in den Primärharn übertritt. Unter physiologischen Bedingungen resorbieren die proximalen Nierentubuli jedoch fast die gesamte filtrierte Glukose aus dem Primärharn zurück. Im Endharn sind daher nur winzige Spuren von Glukose nachweisbar. Diese basale Glukosurie liegt zwischen 2 und 15 mg/dl. Die tubuläre Rückresorptionskapazität der Niere ist jedoch nicht unbegrenzt. Sie beträgt maximal etwa 350 mg Glukose/min und wird als maximale tubuläre Rückresorption für Glukose (TmG) bezeichnet. Bei einer Glukosekonzentration ab 140–180 mg/dl wird die Rückresorptionskapazität einzelner Nierentubuli bereits überschritten, so dass Glukose nicht mehr vollständig rückresorbiert und in steigender Menge im Endharn ausgeschieden wird. Den individuell unterschiedlichen Grenzwert zwischen 140 und 180 mg/dl bezeichnet man als Nierenschwelle für Glukose. Bei hoher Glukosekonzentration im Primärharn wird auch die tubuläre Rückresorptionskapazität für Wasser stark eingeschränkt. Zum einen nimmt die Harnströmungsgeschwindigkeit in den Tubuli stark zu, zum anderen werden Wasser und Salze im Harn osmotisch zurückgehalten. Das Konzentrationsvermögen der Niere, das unter physiologischen Bedingungen maximal 1.400 mosmol/kg Wasser beträgt, übersteigt bei ausgeprägter Glukosurie selten
12.1 · Pathophysiologische Konsequenzen des Insulinmangels
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600–800 mosmol. Dadurch werden mit dem Urin große Flüssigkeits- und Elektrolytmengen (insbesondere Natrium und Chlorid) ausgeschieden. Es kommt zu einer erheblich gesteigerten osmotischen Diurese, d. h. in einem 2. Schritt auch zu einer hypertonen Dehydratation des Extrazellulär- und Plasmaraums. Durch die ausgeprägten Flüssigkeits- und Elektrolytverluste kann sich ein hypovolämischer Schock entwickeln. Metabolische Azidose Die gesteigerte Ketogenese in der Leber, mit einem vermehrten Anfall von bHydroxybuttersäure und Acetessigsäure, führt zu einer ausgeprägten metabolischen Azidose, da Ketone starke Säuren sind und daher zu einer starken Wasserstoffbelastung der Körperflüssigkeiten führen. Die metabolische Azidose ist durch folgende Befunde gekennzeichnet. Der pH-Wert des Blutes, der unter physiologischen Bedingungen zwischen 7,36 und 7,48 liegt, sinkt unter 7,30 ab. pH-Werte unter 7,0 werden bei diabetischer Ketoazidose nicht selten gemessen. Bikarbonatwerte weit unter 15 mÄq/l sind die Regel. Das Basendefizit kann deutlich über 15 mÄq/l liegen. Um den vermehrten Anfall von Säureäquivalenten im Plasma auszugleichen, wird die Abgabe von Kohlendioxyd (CO2) durch die Lungen gesteigert. Eine hochfrequente, vertiefte Atmung (Kussmaul- oder Azidoseatmung) ist die Folge. Daher ist der CO2-Druck im Blut (pCO2), der normalerweise um 40 mmHg liegt, deutlich vermindert (Hypokapnie). Die Rückresorption von Ketonkörpern durch die Niere ist gering, so dass sie schon bei relativ geringgradiger Ketonämie im Urin erscheinen. Sie werden an ein Kation gebunden (zunächst Natrium und Kalium, später Ammonium) ausgeschieden und verstärken daher bei diabetischer Ketoazidose den Elektrolytverlust. Zusammenfassung Die wichtigsten Konsequenzen der Hyperglykämie und Hyperketonämie sind die hypertone Dehydratation des Intrazellulärraums mit der Gefahr der Entwicklung einer Hirnexsikkose (Coma diabeticum), die gesteigerte osmotische Diurese, die zu einer hypertonen Dehydratation auch des Extrazellulär- und des Plasmaraums mit ausgeprägten Glukose-, Elektrolyt- und Flüssigkeitsverlusten durch die Niere führt, die einen hypovolämischen Schock zur Folge haben kann sowie die metabolische Azidose (diabetische Ketoazidose).
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Kapitel 12 · Diabetische Ketoazidose
12.2
Klinik der diabetischen Ketoazidose
! Die biochemischen Kriterien für die Diagnose einer Ketoazidose sind eine ausgeprägte Hyperglykämie (Blutglukosewerte über 200 mg/dl) und ein venöser pH-Wert <7,30 und/oder Bikarbonatwerte <15 mmol/l.
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Eine Glukosurie sowie eine Ketonurie als Folge einer ausgeprägten Ketonämie sollten vorliegen. In seltenen Fällen können bei jungen mit Insulin behandelten Kindern sowie bei schwangeren Adoleszenten nahezu normoglykämische Blutglukosewerte bei einer Ketoazidose bestimmt werden (»euglykämische Ketoazidose«). Der Schweregrad der Ketoazidose wird nach dem Ausmaß der Azidose eingeteilt in 5 4mild: venöser pH-Wert <7,30, Bikarbonat <15 mmol/l, 5 4mäßig: venöser pH-Wert <7,20, Bikarbonat <10 mmol/l und 5 4schwer: venöser pH-Wert <7,10, Bikarbonat <5 mmol/l.
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12.2.1 Häufigkeit der Ketoazidose
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! Die diabetische Ketoazidose tritt bei Kindern und Jugendlichen mit Diabetes
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sowohl bei der Manifestation der Erkrankung als auch als Komplikation bei bereits bestehendem und behandeltem Diabetes auf.
Ketoazidose bei Manifestation Die Inzidenz der diabetischen Ketoazidose bei Manifestation liegt zwischen 15 und 70% in Europa und Nordamerika und ist möglicherweise in den Entwicklungsländern höher. Die Prävalenz der diabetischen Ketoazidose hängt in erster Linie von der Qualität der ärztlichen Versorgung und der Inzidenz des Typ-1Diabetes in dem entsprechenden Land ab. Die Ketoazidose bei Manifestation ist häufiger bei kleinen Kindern (unter 4 Jahren), bei Kindern ohne Verwandte 1. Grades mit Typ-1-Diabetes und in Familien mit niedrigerem sozioökonomischen Status. Ketoazidose bei bekanntem Typ-1-Diabetes Das Risiko einer Ketoazidose bei bekanntem Diabetes beträgt ungefähr 1:100 Patienten pro Jahr. Es ist höher bei Kindern mit schlechter Stoffwechseleinstellung und Neigung zu Ketose. Prädiktiv sind ein höherer mittlerer HbA1c-Wert, höhere dokumentierte Insulindosen, das weibliche Geschlecht, eine längere Diabetesdauer und das Vorhandensein von psychischen Störungen. Mindestens 75% der Ketoazidose-Episoden nach Diagnose des Diabetes hängen mit einer Therapieverweigerung (z. B. Weglassen von Insulininjektionen) oder
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anderen schweren Behandlungsfehlern zusammen, d. h. eine Ketoazidose tritt praktisch nur bei absichtlichem oder durch Nachlässigkeit verursachtem therapeutischen Fehlverhalten der Kinder, Jugendlichen oder ihrer Eltern auf. Die für Kinder und Jugendliche typische Form des Coma diabeticum entwickelt sich fast ausschließlich aus einer schwer verlaufenden diabetischen Ketoazidose, die nicht erkannt und daher verspätet behandelt wurde. Das als Folge einer Hirnexsikkose auftretende Coma diabeticum muss von der durch ein Hirnödem bedingten zerebralen Krise unterschieden werden. Das Coma diabeticum tritt vor, die zerebrale Krise fast ausschließlich nach Beginn der Ketoazidosebehandlung auf. Das Coma diabeticum ist durch eine ausgeprägte Hyperglykämie, die eine exzessive hypertone Dehydratation des Intrazellulär-, Extrazellulär- und Plasmaraums mit hypovolämischem Schock zur Folge hat, sowie die metabolische Azidose charakterisiert. Als Hinweis auf eine zunehmende intrazelluläre Dehydratation der Hirnzellen treten zerebrale Symptome auf. Irritabilität, Rigor, Unruhe, schrilles Schreien können in Bewusstseinstrübung und schließlich Bewusstseinsverlust übergehen. Zerebrale Krämpfe können auftreten. Zwei weitere Komaformen werden beschrieben: 5 Hyperosmolares Koma ohne Ketoazidose Es ist ebenfalls durch eine erhebliche Dehydratation mit ausgeprägter, oft extremer Hyperglykämie und Hypernatriämie charakterisiert und tritt äußerst selten bei jungen Kindern (Säuglinge und Kleinkinder) auf. 5 Laktatazidotisches Koma Es kommt bei erwachsenen Diabetikern mit Zweiterkrankungen vor, die mit Kreislaufinsuffizienz einhergehen. Die Minderdurchblutung führt zu allgemeiner Gewebshypoxie und damit zu einem ausgeprägten Laktatanstieg mit Azidose. In der Kinderheilkunde begegnen wir dem laktatazidotischen Koma bei den seltenen Formen einer angeborenen mitochondralen Störung des Intermediärstoffwechsels (z. B. Leigh-Enzephalopathie) oder bei Glykogenose. Bei Kindern und Jugendlichen mit Diabetes kommt es praktisch nicht vor. Zusammenfassung Das Coma diabeticum ist Folge einer Hirnexsikkose infolge der hypertonen Dehydratation der Hirnzellen und des sie umgebenden Extrazellulärraums und tritt bei Kindern und Jugendlichen in der Regel im Rahmen einer schwer verlaufenden diabetischen Ketoazidose vor Therapiebeginn auf. Die zerebrale Krise ist Folge eines Hirnödems und tritt bei Kindern und Jugendlichen mit diabetischer Ketoazidose in der Regel erst nach Beginn der Behandlung auf.
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Kapitel 12 · Diabetische Ketoazidose
12.2.2 Klinische Befunde bei Ketoazidose Zunächst stehen starker Durst, vermehrtes Trinken und Urinlassen, Gewichtsabnahme, Abgeschlagenheit, Mattigkeit, Leistungs- und Konzentrationsschwäche im Vordergrund. Später treten Zeichen der hypertonen Dehydratation hinzu: Exsikkosezeichen wie trockene Haut und Schleimhäute, belegte, trockene Zunge, rissige Lippen, eingesunkene, weiche Augäpfel und langsames Verstreichen hochgehobener Hautfalten. Symptome des hypovolämischen Schocks treten auf: schneller, flacher Puls, niedriger Blutdruck, Zentralisation des Kreislaufs, Oligobis Anurie. Zeichen für das Vorliegen einer Ketoazidose sind Acetongeruch der Ausatmungsluft und des Urins. Die Atmung ist beschleunigt und vertieft (Kussmaulbzw. Azidoseatmung). Weiterhin können abdominelle Beschwerden, Übelkeit und Erbrechen auftreten. Als Hinweis für eine sich entwickelnde Hirnexsikkose sind Sehstörungen, Kopfschmerzen, Unruhe- und Angstzustände zu bewerten. Schließlich können Bewusstseinsstörungen mit Bewusstseinstrübung bis zur Bewusstlosigkeit (Koma) und auch generalisierte hirnorganische Anfälle auftreten. 12.2.3 Biochemische Befunde bei Ketoazidose Im Vordergrund steht das durch gesteigerte osmotische Diurese, respiratorische Flüssigkeitsverluste und nicht selten Erbrechen bedingte Flüssigkeitsdefizit. Es beträgt bei ausgeprägter Dehydratation ohne Ketoazidose etwa 50 ml/kg KG, bei Dehydratation mit Ketoazidose 50–100 ml/kg KG. Das Elektrolytdefizit ist ebenfalls erheblich. Es beträgt im Mittel 6 (5–13) mmol/kg KG für Natrium, 4 (3–9) mmol/kg KG für Chlorid. Die Natrium- und Chloridverluste erfolgen vorwiegend durch den Harn. Daher muss bereits bei Therapiebeginn mit dem Ersatz des Defizits begonnen werden. Der Kaliumverlust ist dagegen vorwiegend zellulär durch Transmineralisation bedingt, d. h. durch den Ausstrom von Kalium aus der Zelle; er beträgt im Mittel 5 (4–6) mmol/kg KG. Ein ausgeprägtes Kaliumdefizit entsteht daher erst, wenn bei Normalisierung des Stoffwechsels erhebliche Mengen von Kalium in die Zelle zurückfluten. Spätestens dann wird die Kaliumsubstitution dringend notwendig. Der Phosphatverlust liegt im Mittel bei 3 (2–5) mmol/kg KG. Die Osmolalität des Plasmas ist v. a. durch die Hyperglykämie erhöht. Ein Blutglukoseanstieg um 100 mg/dl lässt die Osmolalität des Plasmas, die unter physiologischen Bedingungen (bei Normoglykämie) zwischen 275 und 290 mosmol/kg H2O liegt, um etwa 15,5 mosmol/kg Wasser ansteigen. Die metabolische Azidose wird durch verschiedene pathophysiologische Mechanismen verursacht: Anhäufung von Ketosäuren, renaler Alkaliverlust, Anstieg saurer Metaboliten durch gesteigerte Glykolyse, verminderte Ausschei-
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dung von Säureäquivalenten bei Oligo- bis Anurie. Die Atmung ist beschleunigt und vertieft, der pCO2 daher erniedrigt (Hypokapnie). Die wirksamste Azidosebehandlung besteht in der Normalisierung des Stoffwechsels durch Rehydratation und Insulingabe. Die immer bestehende Hyperglykämie ist unterschiedlich stark ausgeprägt. Meist liegen die Blutglukosewerte zwischen 400 und 800 mg/dl, selten über 1.000 mg/dl. 12.3
Zerebrale Krise bei Ketoazidose
)) Die in der Regel nach Therapiebeginn auftretenden Symptome für eine zerebrale Krise sind typische Hirndruckzeichen: Kopfschmerzen, Irritabilität, Unruhe, zunehmende Bewusstseinstrübung, Bewusstseinsverlust, Krämpfe, inadäquate Verlangsamung der Pulsrate und Anstieg des Blutdrucks. Da das Gehirn in einer geschlossenen Kapsel liegt, führt eine vermehrte intra- und extrazelluläre Flüssigkeitsansammlung (Hirnödem) zu einer Erhöhung des intrazerebralen Drucks, der einen Atemstillstand oder bleibende Hirnschäden zur Folge haben kann. Die zerebralen Symptome beim Coma diabeticum sind ähnlich. Sie sind allerdings durch den intra- und extrazellulären Flüssigkeitsverlust (Hirnexsikkose) bedingt.
In mindestens 50% der Fälle sind symptomatische Hinweise schon vor Beginn der zerebralen Krise retrospektiv nachweisbar, da der Anstieg des intrakranialen Drucks sich langsam entwickelt. Sehr selten tritt eine zerebrale Krise vor Therapiebeginn auf. Allerdings stellt sich die Frage, ob in diesen Fällen nicht ein Coma diabeticum vorlag, das ähnliche Symptome aufweist. In der Regel tritt die zerebrale Krise 4–12 h nach Therapiebeginn auf. Sie kann allerdings auch noch bis 48 h nach dem Beginn der Ketoazidosebehandlung beobachtet werden. 12.3.1 Pathophysiologie der zerebralen Krise Zwei unterschiedliche Formen der zerebralen Krise werden diskutiert, einerseits das vasogene Hirnödem, das durch eine Akkumulation von Wasser im interstitiellen Raum gekennzeichnet ist und als eine Folge der Störung der Blut-HirnSchranke anzusehen ist, andererseits das zytotoxische Hirnödem, das durch eine Akkumulation von Wasser im Intrazellulärraum bedingt ist und durch eine Dysfunktion der Zellvolumenregulation ausgelöst wird. In-vitro-Experimente und Studien an Tieren und Menschen mit Hirnödemen aus anderer Ursache (z. B. Trauma oder Schlaganfall) weisen auf eine sehr komplexe Ätiopathogenese hin.
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So wird diskutiert, dass die zerebrale Ischämie und Hypoxie eine wesentliche Rolle spielen. Sie liegt sicher vor, muss allerdings eher als Folge der durch das Hirnödem bedingten Hirndrucksteigerung angesehen werden, nicht als Ursache. Auch die Freisetzung von verschiedenen inflammatorischen Mediatoren im Rahmen der Reperfusion von ischämischem Gewebe wurden als Ursache erörtert, sowie Störungen des Ionentransports über die Zellmembran und Störungen von Aquaporinkanälen der Blut-Hirn-Schranke. Die größte Bedeutung für die Entstehung einer zerebralen Krise haben sicher Störungen der osmotischen Balance zwischen Intra- und Extrazellulärraum während der Behandlung. In der Phase der hypertonen Dehydratation kommt es zur Ansammlung organischer Osmolyte (idiogenic osmols) in den Hirnzellen, um die intrazelluläre Osmolalität zu erhöhen und Wasser gegenüber dem hypertonen Extrazellulärraum zurückzuhalten. Dieser Mechanismus soll das Ausmaß der Hirnexsikkose verringern und ein Coma diabeticum als Folge verhindern. In der Phase der Wiederauffüllung der Exsikkose nach Beginn der Therapie können die Hirnzellen die zusätzlich angereicherten osmotischen Substanzen jedoch nur langsam eliminieren. Durch die Infusion zu großer Flüssigkeitsmengen, v. a. wenn auch noch vermehrt »freies Wasser« durch hypotone Infusionslösungen angeboten wird, ändert sich die Salzkonzentration in der extrazellulären Flüssigkeit und es kommt zu einem vermehrten Wassereintritt in die Hirnzellen, und damit zum Hirnödem. Es ist nicht bekannt, wie lange die Hirnzellen benötigen, um sich von den angereicherten osmotischen Substanzen zu befreien. Man nimmt eine Zeitspanne von 8–12 h an. Da selbst bei Kindern ohne Zeichen eines erhöhten intrakraniellen Drucks ein Hirnödem mit Hilfe einer Computertomographie, einer Ultraschalluntersuchung oder einer Kernspintomographie nachgewiesen wurde, muss davon ausgegangen werden, dass bei mehr Kindern als vermutet ein Hirnödem geringen Ausmaßes vorliegen kann.
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12.3.2 Risikofaktoren für eine zerebrale Krise 14 15 16 17
Durch epidemiologische Studien wurde ein erhöhtes Risiko für eine zerebrale Krise bei Manifestation des Diabetes, jüngerem Alter (unter 5 Jahre) und längerer Symptomdauer gefunden. Es ist allerdings möglich, dass das Auftreten einer zerebralen Krise allein durch den schweren Verlauf der Ketoazidose bei diesen Konstellationen bedingt ist. Weitere Risikofaktoren für eine zerebrale Krise müssen vor dem Hintergrund der verschiedenen pathophysiologischen Vorstellungen unterschieden werden. Das Absinken der Natriumkonzentration im Extrazellulärraum während der Rehydratationsphase ist mit einem höheren Risiko für eine zerebrale Krise verbunden. Allerdings liegen auch retrospektive Studien vor, bei denen kein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Menge der i.v.-Flüssigkeit, der
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Natriumkonzentration der Infusionslösung oder der Änderung der Blutzuckerkonzentration und dem Auftreten einer zerebralen Krise nachgewiesen werden konnte. Daher wurde auch gefragt, ob die Assoziation zwischen der Änderung der Natriumkonzentration und dem Hirnödem mit der Menge und Art der Flüssigkeitszufuhr zusammenhängt oder ob die renale Salzregulation durch die zerebrale Störung beeinflusst wird. Die Azidose und andere Änderungen im Säure-Basen-Haushalt wurden ebenfalls mit der Pathogenese der zerebralen Krise in Verbindung gebracht. Neben der Assoziation zwischen der Schwere der Azidose und dem Hirnödem gibt es Hinweise für einen Zusammenhang zwischen einer Bikarbonatgabe und einem erhöhten Risiko für ein Hirnödem. Daher gelten Bikarbonatgaben zur Behandlung der metabolischen Azidose heute als obsolet. Zwei Studien zeigten einen Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Hypokapnie als Folge der Azidoseatmung, dem Ausmaß der Azidose und dem Auftreten einer zerebralen Krise. Diese Beobachtung korreliert gut mit den Folgen einer Hypokapnie in anderen Situationen (z. B. traumatische Hirnverletzungen, Höhenkrankheit und Anästhesiefolgen). Eine Erhöhung des Harnstoffwertes bei Diagnose der Ketoazidose ist ebenfalls mit einem höheren Risiko für eine zerebrale Krise verbunden. Obwohl in den Studien kein Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Hyperglykämie bei Beginn der Ketoazidosebehandlung mit einer zerebralen Krise nachgewiesen werden konnte, weiß man von anderen zerebralen Störungen (z. B. Schlaganfall oder Trauma), dass zu den Folgen einer Hyperglykämie u. a. eine vermehrte Hirnödembildung gehört. Daher könnte das Ausmaß der Hyperglykämie die Schwere der hirnorganischen Folgen eines Hirnödems beeinflussen. In experimentellen Studien war auch ein Effekt der Ketonkörper auf das mikrovaskuläre Endothel nachweisbar. ! Kinder mit schwerem Verlauf einer Ketoazidose (lange Dauer der Symptome, ausgeprägte hypertone Dehydratation, hypovolämischer Schock mit eingeschränkter Kreislaufzirkulation, zerebrale Symptome) sowie mit Risikofaktoren für eine zerebrale Krise (Alter unter 5 Jahren, Manifestation des Diabetes, hohe Harnstoffwerte, exzessiver Hyperglykämie, ausgeprägte Azidose mit niedrigem pCO2) sollten besonders engmaschig kontrolliert werden, damit bei Hinweisen auf die Entwicklung einer zerebralen Krise sofort mit der Behandlung begonnen werden kann.
12.3.3 Vorgehen bei Verdacht auf zerebrale Krise Der rechtzeitige Einsatz von Mannitol bei Verdacht auf Vorliegen einer zerebralen Krise im Verlauf einer diabetischen Ketoazidose wird in den KonsensusRichtlinien der ISPAD.
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Wir empfehlen daher in unklaren Fällen den Einsatz von i.v. Mannitol (0,25– 1,0 g/kg KG über 20 min) bei Patienten mit Zeichen einer zerebralen Krise vor Einsetzen einer Ateminsuffizienz. Dabei muss die Infusionsrate ggf. reduziert werden, wenn ein erhöhter intrakranieller Druck wahrscheinlich wird. In Analogie zu anderen Hirntraumen wird eine um 30 Grad erhöhte Kopfposition empfohlen. Daher ist es wichtig, 20%ige Mannitol-Lösung grundsätzlich an Orten der Ketoazidosebehandlung vorrätig zu haben und die Mannitol-Lösung vorbereitend anzuwärmen. Die Intubation mit kontrollierter Hyperventilation war in einer Studie mit Ketoazidose-assoziiertem Hirnödem mit einem schlechteren Outcome assoziiert. Das steht im Einklang mit den Ergebnissen bei verschiedenen anderen zerebralen Krisen (z. B. Trauma, Höhenkrankheit oder Anästhesie). Daher sollte dieses Verfahren bei zerebraler Krise nicht zur Anwendung kommen. Wenn eine Intubation notwendig wird, sollte eine Hyperventilation vermieden werden. Über den therapeutischen Einsatz von Glukokortikoiden gibt es bei Ketoazidose keine Daten. Günstige Effekte werden bei Tumoren oder Höhenkrankheit beobachtet, während ein günstiger Effekt bei Schlaganfall oder Trauma nicht nachgewiesen wurde. Zusammenfassung Im Vordergrund der Behandlung einer zerebralen Krise bei diabetischer Ketoazidose steht die Infusionstherapie mit 20%iger Mannitol-Lösung.
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12.4
Therapie der Ketoazidose
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)) Das Prinzip der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit ausgeprägter Dehydratation und Ketoazidose ist durch 3 Maßnahmen gekennzeichnet: 5 Rehydratation und Ausgleich der Elektrolytverluste, 5 Insulinsubstitution und 5 Kalorienzufuhr.
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Die Behandlung der Ketoazidose bei Kindern und Jugendlichen unterscheidet sich besonders hinsichtlich der Rehydratationstherapie von der bei Erwachsenen. Wegen der Gefahr, eine lebensbedrohliche zerebrale Krise zu entwickeln, ist eine Behandlung und Überwachung grundsätzlich von einem Arzt durchzuführen, der über Erfahrung in der Behandlung einer Ketoazidose bei Kindern
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verfügt. Die Möglichkeiten zu einer intensiven ärztlichen, pflegerischen und biochemischen Überwachung müssen ebenfalls gesichert sein. Wenn längere Transportwege zum Behandlungsort vorliegen, ist eine i.v.-Flüssigkeitszufuhr während des Transportes notwendig (z. B. 10–20 ml/kg KG/h isotone RingerLaktat-Lösung – z. B. Sterofundin, in der Regel nicht mehr als 500 ml/h). Diese Maßnahme sollte mit dem erfahrenen Behandlungsteam in der Kinderklinik abgestimmt werden. Der frühzeitige Beginn der Rehydratationsbehandlung verbessert die Prognose. Die Flüssigkeitszufuhr führt u. a. zu einer Zunahme der glomerulären Filtrationsrate und zum Abfall der Blutglukosekonzentration. Eine Insulingabe ist in der Regel während des Transports nicht erforderlich. Schriftliche Leitlinien zur Ketoazidosetherapie in der Pädiatrie sollten in Kliniken vorliegen, die eine Behandlung der Ketoazidose bei Kindern und Jugendlichen durchführen. Unmittelbar vor Beginn der Behandlung sind einige diagnostische Maßnahmen durchzuführen. Maßnahmen vor Beginn der Behandlung 5 5 5 5 5 5
Gewicht und Länge des Patienten messen Bestimmung der Blutglukosekonzentration Bestimmung des Säure-Basen-Status: pH-Wert, pCO2, Basenexzess, HCO3– Bestimmung der Uringlukose Ketonkörpernachweis im Urin (Azeton) Blutdruckmessung
Wünschenswerte, aber für die Initialtherapie nicht dringend erforderliche Untersuchungen 5 5 5 5
Elektrolyte im Plasma: Na+, Cl–, K+ Blutbild mit Hämatokrit Osmolalität im Plasma Gesamteiweiß, Harnstoff, Kreatinin, Kalzium, Phosphor im Plasma
12.4.1 Rehydratation und Ausgleich der Elektrolytverluste Die wichtigste Maßnahme zur Behandlung des Flüssigkeitsverlustes, des hypovolämischen Schocks und der metabolischen Azidose besteht in einer ausreichenden Flüssigkeitszufuhr. Während der ersten 24 h der Behandlung werden das angenommene Flüssigkeitsdefizit von 50–100 ml/kg KG und zusätzlich der Tagesbedarf des Patienten ersetzt. Die v. a. durch die Hyperglykämie bedingte hohe effektive Osmolalität der extrazellulären Flüssigkeit wird u. a. durch die Wasserbewegung zwischen
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Extra- und Intrazellulärraum beeinflusst. Untersuchungen bei Erwachsenen mit Typ-1-Diabetes ohne Insulingabe belegen, dass ein Verlust von 5–10 l Flüssigkeit mit einem etwa 20%igen Verlust des Gesamtkörpernatriums und -Kaliums einhergehen. Die Natriumkonzentration im Serum ist ein sehr unsicherer Parameter zur Abschätzung des Flüssigkeitsdefizits des Extrazellulärraums. Hilfreich ist die Berechnung des korrigierten Serumnatriums nach folgender Formel: Korrigiertes Na = gemessenes Na + 2 × ([Blutglukose in mg/dl – 100] / 100). Die Natriumkonzentration im Serum steigt häufig in Verbindung mit dem Absinken des Blutglukosewerts. Theoretisch steigt das Natrium um 2 mmol/l, wenn die Blutglukose um 100 mg/dl absinkt, was zu einem langsameren Absinken der Osmolalität im Vergleich zur Normalisierung der Blutglukose führt. Die Serumosmolalität wird nach folgender Formel berechnet: (mOsm / l Wasser) = 2 × (Na+ + K+) + (Blutglukose in mg/dl / 18). Sie liegt bei Behandlungsbeginn häufig im Bereich von 300–350 mosm/l Wasser. Die Höhe des Harnstoffwertes und des Hämatokrits eignen sich ebenfalls zur Beurteilung der Kontraktion des Extrazellulärraums. Für die Infusionsbehandlung eignet sich am besten eine Lösung, die Natrium und Chlorid in dem für das Plasma und den Extrazellulärraum gültigen physiologischen Verhältnis aufweist, d.h. etwa 150 mÄq/l Na+ und 100 mÄq/l Cl –, wie sie in einer nahezu isotonen Ringer-Laktat-Lösung (130 mmol/l Na+, 109 mmol/ l Cl –, 38 mmol/l Laktat, 270 mmosm/l Wasser – z. B. Sterofundin) vorliegt. Manche Autoren stehen laktathaltigen Infusionslösungen zurückhaltend gegenüber. Die Erfahrung lehrt jedoch, dass Ringer-Laktat-Lösungen von Kindern und Jugendlichen gut toleriert werden, da das Laktat schnell metabolisiert wird. Nicht geeignet sind laktathaltige Infusionslösungen bei erwachsenen Diabetikern, die mit Biguaniden behandelt werden und bei Patienten, die wegen Kreislaufinsuffizienz zu Laktatazidose neigen oder Störungen der Leberfunktion aufweisen. Auch bei extrem seltenen angeborenen Stoffwechselstörungen mit Neigung zur Laktatazidose (z. B. Glykogenose, Leigh-Enzephalopathie) sind laktathaltige Infusionslösungen kontraindiziert. Nicht so gut geeignet wie eine isotone Ringer-Laktat-Lösung ist eine isotone 0,9%ige NaCl-Lösung, da sie wegen des unphysiologisch hohen Chloridgehalts zu einer hyperchlorämischen Azidose führen kann. Infusionslösungen, die als Anion bereits HCO3– zum Puffern enthalten (z. B. Sterofundin CD), sind nicht zu empfehlen, da sie leicht zu Bikarbonatüberdosierungen mit Alkalose führen können. ! Während der ersten Stunden der Therapie ist von der Verwendung hypotoner Infusionslösungen (z. B. halbisotone 0,45%ige NaCl-Lösung) streng abzuraten.
12.4 · Therapie der Ketoazidose
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Immer wieder begegnet man dem Fehlschluss, dass eine hypertone Dehydratation mit einer hypotonen Infusionslösung behandelt werden sollte. Diese Therapie birgt die Gefahr in sich, dass durch ein Überangebot von »freiem Wasser« vermehrt Flüssigkeit vom Extra- in den Intrazellulärraum eindringt. Die während der Phase der hypertonen Dehydratation in den Hirnzellen angehäuften osmotisch wirksamen Substanzen (»idiogenic osmols«) werden nach Beginn der Rehydratationstherapie nur langsam eliminiert. Wegen des Konzentrationsgradienten zwischen Intra- und Extrazellulärraum, dringt vermehrt Wasser vom Extrazellulärraum in die Hirnzellen ein. Dieser Vorgang wird durch die Infusion hypotoner Infusionslösungen verstärkt. Ein Hirnödem als Ursache einer lebensbedrohlichen zerebralen Krise kann auftreten. Wenn der Blutglukosewert unter 300 mg/dl absinkt, wird eine halbisotone Ringer-Laktat-Lösung mit 5% Glukose (z. B. Sterofundin HG5) infundiert. Bei weiterem Blutglukoseabfall unter 200 mg/dl sollte der Einsatz von höherprozentigen Glukoselösungen erwogen werden (7,5% oder 10% Glukose mit Zusatz von NaCl oder KCl als isotone oder halbisotone Lösung je nach Serumnatrium und Kalium). Die Unterbrechung der Insulinzufuhr wegen drohender Hypoglykämie bedeutet immer einen Stopp der Ketoazidosebehandlung. Sobald die Insulinzufuhr gestoppt wird, entsteht eine katabole Stoffwechselsituation mit gesteigerter Ketogenese und azidotischer Stoffwechsellage als Folge. Der alte Merkspruch »die Ketone verbrennen im Feuer der Glukose« verweist auf die Notwendigkeit, eine anabole Stoffwechselsituation mit ausreichender Kalorienzufuhr und Insulin zur Behandlung der Ketoazidose herzustellen und zu erhalten. ! Die Rehydratation, d. h. der Ausgleich des Flüssigkeitsdefizits, erfolgt innerhalb der ersten 12 h nach Beginn der Infusionstherapie.
Während der ersten Stunde können z. B. 20% des Defizits, während der folgenden 11 h 80% des Defizits infundiert werden. Anschließend erhält der Patient in weiteren 12 h den seiner Größe und seinem Gewicht entsprechenden Flüssigkeitstagesbedarf (Schulkinder: 60–80 ml/kg KG; Jugendliche: 40–60 mg/kg KG). Mit dieser Infusionstherapie wird das Defizit an Natrium und Chlorid voll ersetzt. Die Behandlung des Kaliumdefizits kann ebenfalls sofort beginnen. Dabei müssen die gemessenen Kaliumwerte immer im Verhältnis zum Ausmaß der Azidose gesehen werden. Ein normales Serumkalium bei ausgeprägter Azidose weist auf ein ausgeprägtes Kaliumdefizit hin und macht die Substitution des Mehrfachen des Tagesbedarfs erforderlich. Nur bei begründetem Zweifel an der Nierenfunktion oder einem Serumkalium über 6 mmol/l (cave: falsch-hohe Werte in hämolytischem Serum) sollte das Einsetzen der Diurese bzw. ein Abfall unter 6 mmol/l abgewartet werden, bevor mit der Kaliumsubstitution begonnen
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Kapitel 12 · Diabetische Ketoazidose
wird. Wir infundieren 1 ml einer 1,0 molaren KCl-Lösung/kg KG in 6 h, d. h. in der Regel bei 1.000 ml Infusionsmenge 40 mmol Kaliumchlorid (entspricht 40 ml einer 7,45%igen Kaliumchloridlösung). Bei hoher Insulindosierung kommt es beim Verschwinden der Ketonämie und der Azidose zu einem stärkeren Absinken des Kaliumspiegels als bei niedriger Insulindosierung. Daher muss die Kaliumkonzentration entsprechend der Kontrollen so titriert werden, dass die Kaliumwerte im Normbereich liegen. Bei Änderung der Infusionsgeschwindigkeit muss ggf. die Kaliumkonzentration der Lösung entsprechend angepasst werden. ! Man muss besonders darauf hinweisen, dass eine einmolare Kaliumsalzlösung nie als Bolus infundiert werden darf.
Kaliumphosphat- oder Kaliumacetatlösungen können auch gegeben werden, obwohl keine Evidenz dafür vorliegt, dass diese Behandlung der Kaliumchloridgabe überlegen ist. Als Folge der osmotischen Diurese kommt es auch zu einem Phosphatverlust. Studien bei Erwachsenen belegen ein Defizit von etwa 0,5–2,5 mmol/kg KG. Vergleichbare Daten bei Kindern fehlen. Der Abfall des Phosphatspiegels im Plasma bei Beginn der Behandlung wird durch den intrazellulären Einstrom von Phosphat als Folge der Insulingabe verstärkt. Niedrige Plasmaphosphatspiegel sind mit einer Reihe metabolischer Störungen assoziiert. So liegen Daten über eine herabgesetzte erythrozytäre 2,3-Diphosphoglycerat-Konzentration und Sauerstoffsättigung des Gewebes vor. Die Depletion des Körperphosphats hält noch einige Tage nach erfolgreicher Behandlung der Ketoazidose an. Prospektive Studien haben keinen klinisch relevanten Vorteil einer Phosphatsubstitution ergeben. Da eine Phosphatsubstitution mit dem Risiko einer Hypokalzämie behaftet ist, raten wir grundsätzlich von einer Phosphatgabe ab.
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12.4.2 Insulinsubstitution 14 ! In der Pädiatrie wird heute fast ausschließlich das Prinzip der niedrig dosierten 15 16 17
Insulininfusion angewendet.
Eine maximale hypoglykämisierende Insulinaktivität im Plasma ist mit sehr niedrigen Insulindosen erreichbar. Hohe Insulindosen sind ineffektiv, da die biologische Halbwertszeit von i.v. injiziertem Insulin nur 3–5 min beträgt, die Zahl der Insulinrezeptoren an den Zellmembranen begrenzt ist und die Affinität der Rezeptoren durch die bestehende Azidose reduziert wird. Mit dem Verschwinden der Ketoazidose können die durch große Insulingaben verursachten
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12.4 · Therapie der Ketoazidose
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hohen Insulinspiegel zu bedrohlichen Hypoglykämien führen, die häufig durch ausgeprägte Hypokaliämien kompliziert werden. Insulininfusion mit einer Dosierung von 0,1 I.E. Normalinsulin/kg KG/h bis der Blutglukosewert 200 mg/dl erreicht wird. Dann wird die Insulininfusion mit 0,05 I.E./kg KG/h fortgesetzt. Sollte zu diesem Zeitpunkt die Azidose noch nicht ausgeglichen sein (Basenexzess unter –8 mmol/l), sollte die Verwendung einer Infusionslösung mit höherprozentiger Glukosekonzentration erwogen werden (7,5% oder 10% Glukose mit Zusatz von NaCl oder KCl als isotone oder halbisotone Lösung je nach Natrium- und Kaliumkonzentration im Serum). Bei Blutglukosewerten unter 150 mg/dl werden 0,025 I.E./kg KG/h infundiert. Bei Werten unter 100 mg/dl kann, v. a. bei drohender Hypoglykämiegefahr, die Insulingabe kurzfristig unterbrochen werden. Die Insulininfusion wird im »Bypass« mit einer 50-ml-Perfusorspritze durchgeführt. Die Spritze wird mit 48 ml einer 0,9%igen NaCl-Lösung und 0,5 I.E. Normalinsulin/kg KG gefüllt. Bei einer Insulininfusion von 0,1 I.E./kg KG/h werden 10 ml/h infundiert, bei 0,05 I.E./kg KG/h 5 ml/h, bei 0,025 I.E./kg KG/h 2,5 ml/h (. Tabelle 12.1). Bei sehr niedrigen Insulinkonzentrationen (z. B. bei
. Tabelle 12.1 Insulinsubstitution bei diabetischer Stoffwechselentgleisung mit hypertoner Dehydratation Die 50-ml-Perfusorspritze wird mit 48 ml 0,9%iger NaCl-Lösung und 0,5 I.E. Normalinsulin/kg KG gefüllt Blutglukose (mg/dl)
Insulindosis (I.E./kg KG/h)
Infusionsmenge Insulinperfusor (ml/h)
Kommentar zur Flüssigkeitssubstitution
über 300
0,1
10
glukosefreie Elektrolytlösung, z. B. Sterofundin
200–300
0,1
10
Glukosekonzentration in Infusionslösung üblicherweise 5%
150–200 (milde Azidose)
0,05
5
bei Fortbestehen mäßiger Ketoazidose (pH-Wert <7,2) Glukosekonzentration in Infusionsflüssigkeit auf 7,5% oder 10% erhöhen; wenn BG ansteigt, Insulin wieder auf 0,1
100–150
0,025
2,5
ggf. Glukosekonzentration erhöhen
<100
keine Substitution
keine Substitution
nur kurzzeitig als Hypoglykämieprophylaxe, cave: Katabolismus
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Kapitel 12 · Diabetische Ketoazidose
Säuglingen) hat sich die Zugabe von 1% Humanalbumin in die Insulininfusion bewährt, damit die mögliche Absorption geringer Insulinmengen an die Infusionsschläuche reduziert wird. 12.4.3 Azidosebehandlung Bei der Ketoazidose liegt eine vergrößerte Anionenlücke vor. Die wesentlichen Anionen sind E-Hydoxybutyrat und Acetoacetat. Die Anionenlücke wird aus der Differenz der gemessenen Kationen und Anionen nach folgender Formel berechnet: Anionenlücke = [Na+] – ([Cl–] + [HCO3–]) = normalerweise 12 ± 2 mmol/l . Durch die Substitution von Insulin werden Ketonkörper oxidiert. Dabei wird Bikarbonat freigesetzt. Die Auffüllung des Extrazellulärraums durch die Infusion von Flüssigkeit steigert die Ausscheidung von Säureäquivalenten durch die Niere. Auch dabei wird Bikarbonat gebildet. Die exogene Zufuhr von Bikarbonat muss äußerst zurückhaltend durchgeführt werden. Nie sollte blind gepuffert werden. Nur bei seltenen Indikationen darf die Bikarbonatkonzentration initial mit Hilfe von einmolarer NaHCO3Lösung auf einen Wert von 15 mÄq/l substituiert werden. Das entspricht einer einmaligen Gabe von durchschnittlich 2 bis höchstens 3 mÄq/kg KG bzw. dem Ausgleich der Hälfte des bestehenden Basendefizits. Allerdings sind in den letzten Jahrzehnten in der pädiatrischen Diabetologie in Hannover und Berlin keine Fälle aufgetreten, bei denen eine Bikarbonatgabe bei Ketoazidose erforderlich war. Die durch Rehydratation und Insulinbehandlung bedingte Normalisierung des Stoffwechsels mit Metabolisierung und Ausscheidung von Ketonkörpern und endogener Neubildung von Bikarbonat macht Bikarbonatgaben überflüssig. ! Mehrfach wurde auf gefährliche Nebenwirkungen der Natriumbikarbonatbehandlung hingewiesen (Liquorazidose, Hypokaliämie, periphere Gewebshypoxie). Da auch in einer prospektiven Studie beim Vergleich der Therapie mit und ohne Birkarbonatgaben keine Unterschiede nachgewiesen werden konnten, halten wir eine Bikarbonattherapie auch bei ausgeprägter diabetischer Ketoazidose für obsolet.
12.4.4 Kalorienzufuhr 17
Eine der gefürchtetsten Komplikationen während der Insulininfusionsbehandlung bei Ketoazidose ist die Entwicklung einer Hypoglykämie. Bei Erreichen eines Blutglukosespiegels von 300 mg/dl muss die Infusion mit glukosehaltigen Lösungen (z. B. Sterofundin HG5) fortgesetzt werden. Sobald der Zustand des
12.4 · Therapie der Ketoazidose
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Patienten es erlaubt, wird mit der Gabe von Tee mit Traubenzucker, geschlagener Banane, geriebenem Apfel oder anderen leicht verdaulichen Kohlenhydratnahrungsmitteln begonnen. Sollte es dennoch zu einem Abfall der Blutglukosekonzentration auf Werte um 150–200 mg/dl kommen, ohne dass die Azidose im Wesentlichen ausgeglichen ist, muss die Verwendung höherprozentiger Glukoseinfusionen erwogen werden. 12.4.5 Beispiel einer Ketoazidosebehandlung In . Abb. 12.1 ist das Beispiel einer Ketoazidosebehandlung dargestellt. Patient: 9 Jahre alt, 30 kg KG; Laborwerte bei Aufnahme: Blutglukose 800 mg/dl, HCO3– 9 mÄq/l, pH-Wert 7,18. Infusionsbehandlung 5 Benötigte Infusionslösungen:
– Lösung A: Isotone Ringer-Laktat-Lösung (Sterofundin) – Lösung B: Halbisotone Ringer-Laktat-Lösung + 0,5% Glukose (Sterofundin HG5) – Lösung C: 1,0 molare KCl-Lösung
. Abb. 12.1 Beispiel einer Ketoazidosebehandlung : A isotone Ringer-Laktat-Lösung, B halbisotone Ringer-Laktat-Lösung + 5% Glukose, C 1,0 mol KCl-Lösung
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Kapitel 12 · Diabetische Ketoazidose
5 Infusionsschema:
– 1. Stunde: 600 ml Lösung A (20 ml/kg KG) – 2.–12. Stunde: 2.400 ml Lösung (80 ml/kg KG), zunächst Lösung A, bei <300 mg/dl Blutglukose Umstellung auf Lösung B, bei Einsetzen der Diurese 30 ml Lösung C in 6 h (1 ml/kg KG) – 13.–24. Stunde: 1.800 ml Lösung B (60 ml/kg KG) + 60 ml Lösung C (2 ¥ 1 ml/kg KG) 5 Insulinsubstitution (. Tabelle 12.1) – Initial: 3 I.E. Normalinsulin i.v. (0,1 I.E./kg KG) – Anschließend: Bei Blutglukosewerten über 200 mg/dl Infusion von 10 ml 0,9%iger NaCl-Lösung mit 3 I.E. Normalinsulin/h (0,1 I.E./kg KG/h). Bei Blutglukosewerten unter 200 mg/dl Infusion von 5 ml 0,9%iger NaCl-Lösung mit 1,5 I.E. Normalinsulin/h (0,05 I.E./kg KG/h). Bei Blutglukosewerten unter 150 mg/dl Infusion von 2,5 ml 0,9%iger NaCl-Lösung mit 0,75 I.E. Normalinsulin/h (0,025 I. E./kg KG/h). Bei Blutglukosewerten unter 100 mg/dl Insulingabe unterbrechen
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12.4.6 Diagnostische Maßnahmen während der Behandlung Stündliche Blutglukosebestimmungen sind ausreichend. Bei Werten unter 100 mg/dl sollte wegen der Hypoglykämiegefahr halbstündlich gemessen werden. In allen Urinportionen sollten Ketonkörper (Aceton) bestimmt werden. Der Säure-Basen-Status kann bis zum vollständigen Ausgleich der Azidose 2stündlich kontrolliert werden. Elektrolytbestimmungen (v. a. Kalium) sind in der Phase beginnender Glukose-Utilisation notwendig. Der Blutdruck sollte stündlich gemessen werden. Blutbild mit Hämatokrit, Gesamteiweiß, Harnstoff, Kreatinin, Kalzium und Phosphat sollten 24 h nach Therapiebeginn kontrolliert werden.
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Literatur 15 16 17
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Ambulante Langzeitbehandlung )) Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes werden heute weitgehend ambulant behandelt und betreut. Stationäre Klinikaufenthalte sollten auf ein Minimum reduziert werden. Nur unmittelbar nach Manifestation des Diabetes, bei Umstellungen der Insulintherapie, bei Operationen oder bei akuten oder chronischen Erkrankungen, die auch bei stoffwechselgesunden Kindern einen Klinikaufenthalt notwendig machen, ist die stationäre Aufnahme gerechtfertigt.
11.1
Ziele der ambulanten Langzeitbehandlung
Die ambulante Langzeitbehandlung von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1Diabetes hat folgende allgemeine Ziele: 5 Vermeidung akuter Stoffwechselentgleisungen (schwere Hypoglykämie, Ketoazidose, diabetisches Koma). 5 Reduktion der Häufigkeit diabetesbedingter Folgeerkrankungen, auch im subklinischen Stadium. Dies setzt eine möglichst normnahe Blutzuckereinstellung sowie die frühzeitige Erkennung und Behandlung von zusätzlichen Risikofaktoren (Hypertension, Hyperlipidämie, Adipositas, Rauchen) voraus. 5 Normale körperliche Entwicklung (Längenwachstum, Gewichtszunahme, Pubertätsbeginn), altersentsprechende Leistungsfähigkeit. 5 Die psychosoziale Entwicklung der Patienten sollte durch den Diabetes und seine Therapie möglichst wenig beeinträchtigt werden. Die gesamte Familie muss in den Behandlungsprozess eingeschlossen werden. Selbstständigkeit und Eigenverantwortung der Patienten sind altersentsprechend zu stärken. Insulininjektionen und Mahlzeiten sollten flexibel auf den Tagesablauf des Patienten abgestimmt sein, der Therapieplan sollte die soziale Integration nicht behindern. Die ambulante Langzeitbehandlung von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1Diabetes ist eine interdisziplinäre Aufgabe. ! Die zentrale therapeutische Maßnahme der Langzeitbehandlung ist die Insulintherapie. Der wichtigste Parameter zur Beurteilung der aktuellen Stoffwechselsituation ist der Blutglukosewert, für die Bewertung der Langzeitsituation sind der
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Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung
mittlere Blutglukosewert und v. a. der HbA1c-Wert hilfreich. Das heute unstrittige metabolische Ziel der Langzeitbehandlung von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes ist, von Beginn der Krankheit an ein Stoffwechselgleichgewicht mit möglichst normalen Blutglukosewerten zwischen 70 und 160 mg/dl zu erreichen,, d.h. unabhängig vom Diabetestyp und der Behandlungsart muss von Anfang an eine möglichst weitgehende Normalisierung der Blutglukosekonzentration angestrebt werden.
Die wichtigste therapeutische Maßnahme im Rahmen der Stoff wechseleinstellung ist die Insulinbehandlung. Je mehr sie physiologischen Insulinsekretionsmustern (intensivierte Formen der Insulintherapie) angenähert wird, desto mehr Freiheiten sind nicht nur im Bereich der Ernährung, sondern auch im gesamten täglichen Leben der Kinder und Jugendlichen möglich. Die Effektivität der Stoffwechseleinstellung muss täglich kontrolliert werden, denn die Behandlungsmaßnahmen stellen nur teilweise berechenbare, sich ständig ändernde Größen dar. Wegen dieser Variabilität, v. a. aber wegen der Notwendigkeit, langdauernde Hypergkykämien und schwere Hypoglykämien zu vermeiden, sind regelmäßige Stoffwechselselbstkontrollen mit Hilfe von Blutglukosebestimmungen dringend erforderlich. Zusammenfassung Das metabolische Ziel der Diabetesbehandlung von Kindern und Jugendlichen ist die weitgehende Normalisierung der Blutglukosewerte mit möglichst niedrigen HbA1c-Werten bei einer geringen Inzidenz schwerer Hypoglykämien. Damit soll u. a. das Auftreten diabetischer Folgeerkrankungen verhindert werden.
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11.2
13
Während des Klinikaufenthaltes nach Manifestation des Diabetes müssen die Eltern die Technik der Insulininjektion erlernen.
Durchführung der Insulininjektion
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Injektionsgeräte (Spritzen, Pens, Insulinfertigspritzen) Für die Insulininjektion haben sich Insulininjektionsspritzen aus Kunststoff am besten bewährt, die 1- bis 3-mal benutzt werden können und denen eine Kanüle eingeschweißt ist (kein Totraum, kaum Luftblasen). Die Injektionsspritzen für U-40-Insulin enthalten in 1 ml 40 I.E. bzw. in 0,5 ml 20 I.E. Insulin. Bei den kleinen 0,5-ml-Spritzen entspricht 1 Teilstrich 0,5 I.E., bei den großen 1-ml-Spritzen dagegen 1,0 I.E. (. Abb. 11.1). Für U-100-Insulin sind ebenfalls Plastikspritzen im Handel; sie enthalten in 1 ml 100 I.E. Insulin. Auch mit U-100-Insulinspritzen kann eine Dosierung in 0,5-I.E.-Schritten erfolgen (0,3-ml-Spritzen).
11.2 · Durchführung der Insulininjektion
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11
. Abb. 11.1 Insulininjektionsspritzen (U-40) mit eingeschweißter Kanüle (BD-Plastipak): oben: 1,0ml-Spritze; unten: 0,5-mlSpritze
Folgendes ist zu beachten: ! 4 Bei der Verwechslung von U-40-Spritzen und U-100-Spritzen treten gefährliche Dosierungsfehler auf (Faktor 2,5).
4 Wenn mit U-100-Spritzen U-40-Insulin injiziert wird, kann die Insulinunterdosierung zu Hyperglykämie und Ketose führen.
4 Weit gefährlicher ist die Injektion von U-100-Insulin mit U-40-Spritzen. Die 2,5fache Insulindosis kann schwere Hypoglykämien zur Folge haben.
Großer Beliebtheit und weiter Verbreitung erfreuen sich die Pens, halbautomatische Insulininjektionsgeräte, die in Aufbau und Größe einem Füllfederhalter ähneln. Sie enthalten meist eine Patrone mit U-100-Insulin. Durch Knopfdruck oder Drehen kann eine exakt abgemessene Insulindosis appliziert werden. Pens für die freie Mischung von Normal- und Verzögerungsinsulin sind bisher nicht verfügbar. Als weitere Injektionshilfen werden Insulinfertigspritzen angeboten. Der unbestreitbare Vorteil der Pens und der Insulinfertigspritzen besteht darin, dass den Patienten das Aufziehen des Insulins erspart bleibt. Skeptisch müssen Insulininjektoren beurteilt werden, bei denen das Insulin mit hohem Druck in feinem Strahl ohne Verwendung einer Kanüle durch die Epidermis ins Unterhautfettgewebe gepresst wird. ! Ohne jeden Zweifel erfüllen Plastikspritzen mit eingeschweißter Kanüle am besten die Anforderungen an ein praktikables, hygienisches, präzises und preiswertes Injektionsgerät.
Zellstofftupfer und 70%iger Alkohol zum Reinigen der Haut haben früher das Injektionsbesteck ergänzt. Die Wischreinigung der Haut mit alkoholischer Lösung führt nur zu einer Keimverminderung und stellt keine Desinfektion der Haut dar. Es gibt es keine Hinweise dafür, dass bei unterlassener »Desinfektion« gehäuft lokale Infektionen auftreten. Wenn die Patienten die allgemein üblichen Maßnahmen der Körperhygiene einhalten, müssen bei der Selbstapplikation von Insulin außer bei der Pumpentherapie keine besonderen Desinfektionsmaßnahmen durchgeführt werden.
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Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung
Das gilt nicht für die Insulininjektionen in Krankenhäusern. Im Bundesgesetzblatt 28 (1985) S. 186–187 wird vor der Ausführung von Injektionen an Patienten eine hygienische Händedesinfektion gefordert. Bei subkutanen Injektionen »ist die Haut im Bereich der Einstichstelle sorgfältig mit Desinfektionsmittel abzureiben… Es sind sterilisierte Tupfer zu verwenden«. Sterilisierte Tupfer sind nach dem Herstellungsprozess sterilisiert zu verpacken; nach Öffnen der Verpackung sind sie nicht mehr als steril zu bezeichnen. Injektionsareale und Schichten der Haut Die Insulininjektionsstellen müssen zur Vermeidung von Lipodystrophien gewechselt werden müssen. Der Abstand der Einstiche voneinander sollte mindestens 1,5–2,0 cm betragen. . Abb. 11.2 zeigt die Injektionsareale für Insulin. Am beliebtesten sind bei Kindern die Stellen am Oberschenkel und am Gesäß. Injektionen in das Fettgewebe des Unterbauches sind bei Kindern nicht beliebt, stellen bei Jugendlichen jedoch kein Problem dar. Seltener wird in den Unter- und Oberarm gespritzt, noch seltener in das Areal zwischen den Schulterblättern.
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. Abb. 11.2 Insulininjektionsareale: Oberschenkel, Gesäß, Unterarm, Oberarm, Bauchhaut, zwischen den Schulterblättern
11.3 · Berechnung der Insulindosis und Wahl des Präparates
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Technik der Insulininjektion > Die Insulininjektion erfolgt in zwei Schritten: 1. Aufziehen des Insulins in die Spritze, 2. Injektion des Insulins in das Unterhautfettgewebe. Zunächst werden die Hände gründlich gewaschen. Dann wischt man den Gummistöpsel des Insulinfläschchens mit einem in Alkohol getränkten Zellstofftupfer ab. Bei trüben Insulinsuspensionen muss das Insulinfläschchen geschwenkt werden, bis sich der weißliche Bodensatz in der Suspension aufgelöst und verteilt hat. Anschließend zieht man den Kolben der Insulinspritze 2–3 Teilstriche weiter zurück, als Insulin injiziert werden soll (z. B. bei 10 I.E. bis zum Teilstrich 12 oder 13). Dann führt man die Kanüle durch den Gummistopfen in das Fläschchen ein und stellt es auf den Kopf, sodass die Kanülenspritze in der Insulinlösung steht. Jetzt wird der Spritzenkolben bis zum Anschlag gedrückt und Luft in das Fläschchen geblasen. Die benötigte Insulinmenge wird anschließend in die Spritze gezogen. Luftblasen, die beim Aufziehen in die Spritze geraten, werden in das Fläschchen zurückgeblasen. Wenn die gewünschte bläschenfreie Insulinlösung in der Spritze ist, wird die Kanüle aus dem Fläschchen herausgezogen. Die Haut der Injektionsstelle muss sauber und trocken sein. Eine Desinfektion der Haut ist zu Hause nicht nötig. Das Abreiben der Haut mit 70%iger Alkohollösung dient nur der Säuberung (Wischreinigung). Eine Hautfalte wird zwischen Daumen und Zeigefinger genommen und die Kanüle an der Basis der Hautfalte in das Unterhautfettgewebe in einem Winkel von 45–90° eingeführt. Der Stempel der Spritze muss nicht angezogen werden, um zu prüfen, ob Blut zurückfließt (das ist bei Pens und Fertigspritzen technisch auch gar nicht möglich). Das Insulin wird langsam in das Fettgewebe injiziert. Anschließend wird die Kanüle langsam herausgezogen, damit möglichst wenig Insulin aus dem Stichkanal austreten kann. Ganz kann das manchmal nicht vermieden werden.
11.3
Berechnung der Insulindosis und Wahl des Insulinpräparates
)) Eine erfolgreiche Insulinbehandlung verlangt vom behandelnden Arzt sehr viel Erfahrung, die wegen der Seltenheit des Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen schwierig zu erlangen ist. Experte wird nur, wer über Jahre zahlreiche Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes langfristig behandelt und betreut.
Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern wird mit dem Insulin ein hochwirksames Medikament in die Hand gegeben, das falsch dosiert gefährliche, manch-
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Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung
mal sogar lebensbedrohliche Stoffwechselentgleisungen (z. B. schwere Hypoglykämien) provozieren kann. Daher ist es unerlässlich, dass nicht nur der behandelnde Arzt Experte auf dem Gebiet des Typ-1-Diabetes ist, sondern auch die Kinder und Jugendlichen, v. a. aber ihre Eltern. Sie können gegenüber dem Arzt einen großen Erfahrungsvorsprung gewinnen, weil sie täglich, Tag und Nacht, mit dem Typ-1-Diabetes konfrontiert sind und in einem viel unmittelbareren Therapiekontext mit ihm stehen als jeder Arzt. Der Erfolg der Insulinbehandlung hängt zunächst von der richtigen Wahl der Insulindosis und des Insulinpräparates ab. Viele Faktoren sind dabei zu beachten, z. B.: 5 Alter, 5 Größe, 5 Gewicht, 5 Geschlecht, 5 körperliche Aktivität, 5 Essgewohnheiten, 5 Lebensweise, 5 Sozialverhalten, 5 Art der schulischen bzw. beruflichen Tätigkeit, aber auch 5 Manifestationsalter, 5 Diabetesdauer, 5 Verlauf des Typ-1-Diabetes und, 5 Art und Häufigkeit akuter und chronischer Komplikationen. ! Die Insulindosis hängt ausschließlich vom aktuellen Insulinbedarf des Patienten ab. Es sollte nicht der Ehrgeiz des Arztes oder der Eltern sein, mit einer möglichst geringen Insulindosis auszukommen. Die Prognose des Diabetes hängt nicht von der Höhe der Insulindosis ab, sondern allein von der Qualität der Stoffwechseleinstellung. Die Insulindosis muss mit Hilfe täglicher Stoffwechselselbstkontrollen (Blutglukosebestimmungen) empirisch ermittelt werden. Sie ist richtig gewählt, wenn die Blutglukosewerte zwischen 70 und 160 mg/dl liegen und im Urin wenig oder keine Glukose ausgeschieden wird.
Die Kenntnis der Insulinsekretionsraten stoffwechselgesunder Erwachsener erlaubt die Schätzung des Insulinbedarfs von Kindern und Jugendlichen. Die basale Insulinsekretionsrate beträgt beim fastenden Erwachsenen 14–17 mU/ min. Das entspricht etwa 0,7–1,0 I.E./h bzw. 17–24 I.E./Tag. Daraus errechnet sich ein nahrungsunabhängiger Basalinsulintagesbedarf von etwa 0,3 I.E./kg KG. Die Insulinfreisetzung nach oraler Gabe von 10–12 g Kohlenhydraten (1 KE), d. h. der nahrungsabhängige Prandialinsulinbedarf, beträgt etwa 1,35 I.E. Bei Umrechnung dieser Richtwerte würde z. B. ein 10-jähriges stoffwechselgesundes Kind mit einem Körpergewicht von 30 kg und einer Kohlenhydratzu-
11.3 · Berechnung der Insulindosis und Wahl des Präparates
239
11
fuhr von 14 KE täglich etwa 28 I.E. Insulin benötigen (Basalinsulinbedarf: 0,3 × 30 = 9 I.E.; Prandialinsulinbedarf: 14 x 1,35 = 19 I.E.). Der Insulintagesbedarf dieses 10-jährigen Kindes würde danach etwa 0,9 I.E./kg KG betragen (Basalbedarf: 0,3 I.E./kg KG; Prandialbedarf: 0,6 I.E./kg KG). Der Insulintagesbedarf von Kindern und Jugendlichen hängt aber auch von der Diabetesphase ab, in der sich der Patient befindet (. Tabelle 11.1). Unmittelbar nach Manifestation des Diabetes, während der Initialphase, liegt der exogene Insulintagesbedarf in Abhängigkeit vom Ausmaß der Stoffwechselentgleisung zwischen 0,5 und 1,5 I.E./kg KG. Bei über 90% aller Kinder und Jugendlichen folgt etwa 1–2 Wochen nach Beginn der Insulinbehandlung die Remissionsphase, d. h. eine Zeit, die durch eine noch bemerkenswerte Restsekretion von endogenem Insulin charakterisiert ist. Die ersten 1–2 Jahre dieser Phase, die auch als »Partielle temporäre Remission« bezeichnet wird, ist definitionsgemäß durch einen exogenen Insulintagesbedarf von weniger als 0,5 I.E./kg KG gekennzeichnet. Eine gute Stoffwechseleinstellung mit Aglukosurie, Blutglukosewerten zwischen 80 und 160 mg/dl und HbA1c-Werten unter 7,4% ist meist ohne Schwierigkeiten zu erzielen. Es schließt sich eine Zeit von etwa 3–4 Jahren an, in der ebenfalls noch eine Restsekretion von endogenem Insulin vorliegt. Der Insulintagesbedarf beträgt 0,5–0,8 I.E./kg KG. Während der Remissionsphase, die individuell unterschiedlich lange dauert, ist eine Teilsubstitution mit exogenem Insulin notwendig. Nach vollständigem Erlöschen der Restfunktion der ß-Zellen beginnt die Postremissionsphase. Lebenslang muss eine Vollsubstitution mit exogenem Insulin durchgeführt werden. Der Insulinbedarf liegt über 0,8 I.E./kg KG. Wenn bei Kindern mehr als 1,0 I.E.Insulin/kg KG injiziert wird, sollte eine Überinsulinierung in Erwägung gezogen werden. Bei Jugendlichen liegen die Insulinbedarfswerte allerdings wegen der hormonell bedingten Verminderung der Insulinsensitivität oft über 1,0 I.E./kg KG. Sie können bis 1,5 I.E./kg KG betragen.
. Tabelle 11.1 Phasen des Diabetesverlaufs bei Kindern und Jugendlichen Verlaufsphasen
Dauer
Insulintagesbedarf (I.E./kgKG)
Initialphase
1–2 Wochen
0,5–1,5
Remissionsphase
1–2 Jahre 3–4 Jahre
<0,5 0,5–0,8
Postremissionsphase
Lebenslang
>0,8
KG Körpergewicht.
240
2 2 3
Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung
Zusammenfassung Der Insulintagesbedarf beträgt bei Kindern mit Typ-1-Diabetes während der Postremissionsphase (Vollsubstitution) im Mittel 0,8–1,0 I.E./kg KG. Bei Jugendlichen liegt der tägliche Insulinbedarf häufig über 1,0 I.E./kg KG. Wegen der ausgeprägten Variabilität des Insulintagesbedarfes muss die tägliche Insulindosis immer wieder individuell mit Hilfe von Stoffwechselselbstkontrollen (Blutglukosemessungen) empirisch ermittelt werden.
4 ! Die Entscheidung darüber, welche Insulinpräparate bei der Therapie von Kindern
5 6 7 8
9 10 11 12 13 14 15 16 17
und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes eingesetzt werden, trifft der behandelnde Arzt.
Für eine sachgerechte Insulintherapie steht heute eine Vielzahl von verschiedenen Insulinpräparaten zur Verfügung. Benötigt werden im Prinzip nur zwei Präparatetypen (7 Kap. 7). 5 Insuline mit schnellem Wirkungseintritt und kurzer Wirkungsdauer (Normalinsuline und rasch wirkende Insulinanaloga) und 5 Insuline mit langsamen Wirkungseintritt und verzögerter Wirkungsdauer (NPH-Insuline und mittellang und langwirkende Insulinanaloga). 11.4
Wahl der Insulinsubstitutionsmethode
Seit Beginn der Insulinära werden zwei grundsätzlich unterschiedliche Strategien der Insulintherapie eingesetzt (. Abb. 11.3): 5 konventionelle Insulintherapie und 5 intensivierte Insulintherapie. Prinzip der konventionellen Insulintherapie Bei der konventionellen Insulintherapie (. Tabelle 11.2) wird täglich ein- oder zweimal Insulin injiziert. Es liegt eine eindeutige Dominanz der Verzögerungsinsulinwirkung vor. Etwa 70–100% der Insulintagesdosis bestehen aus Verzögerungsinsulin, nur etwa 0–30% aus Normalinsulin. Die Nahrungszufuhr muss an die vorgegebene Verzögerungsinsulinwirkung angepasst werden. Die Patienten sind in ein genau berechnetes, streng festgelegtes Insulin-Diät-Regime eingebunden. In . Abb. 11.4 sind drei Beispiele einer konventionellen Insulintherapie dargestellt. Die Insulinsubstitution wird mit einer Injektion eines langwirkenden Insulinanalogons (Glargin) (. Abb. 11.4a), mit zwei Injektionen eines Verzögerungsinsulins (NPH-Insulin) (. Abb. 11.4b) und zwei Injektionen eines Mischinsulins (Normal-/NPH-Insulin, Verhältnis 30:70) (. Abb. 11.4c) durchgeführt.
241
11.4 · Wahl der Insulinsubstitutionsmethode
11
. Abb. 11.3 Gegenüberstellung der zwei Insulinsubstitutionsmethoden: konventionelle Insulintherapie und intensivierte Insulintherapie in ihrem Verhältnis zur physiologischen Insulinsekretion
. Tabelle 11.2 Charakteristika der konventionellen und intensivierten Insulintherapie bei Kindern und Jugendlichen Charakteristika
Konvertionelle Insulintherapie
Intensivierte Insulintherapie
Anzahl der Injektionen pro Tag
1–2
4
Anteil Normalinsulin
30–40%
70–60%
Anteil Verzögerungsinsulin
70–60%
30–40%
Dominierender Insulinanteil
Verzögerungsinsulin
Normalinsulin
Anpassung
Nahrungszufuhr an Insulinwirkung
Insulinwirkung an Nahrungszufuhr
Kostform
Strenge Diät
Frei gewählte Kost
Differenzierung Prandial-/Basalinsulin
Nein
Ja
242
2 2 3 4 5
a
6 7 8
9 10 11
b
12 13 14 15 16 17 c
Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung
. Abb. 11.4 Beispiele für unphysiologische Formen der Insulinsubstitution (konventionelle Insulintherapie): a Einmalige Injektion eines langwirkenden Insulinanalogons; b zweimalige Gabe eines NPH- bzw. mittelang wirksamen Insulinanalogons; c zweimalige Gabe eines NPH- bzw. mittelang wirksamen Insulinanalogons sowie eines Normalinsulins. (Nach DeWitt u. Hirsch 2003)
11.4 · Wahl der Insulinsubstitutionsmethode
243
11
Die konventionelle Insulintherapie setzte wurde bis zum Beginn der 1980er Jahre in der Diabetologie ausschließlich angewendet. Zusammenfassung Die konventionelle Insulintherapie imitiert nicht die physiologische E-Zellsekretion. Sie muss daher als nichtphysiologische Insulinsubstitutionsmethode bezeichnet werden.
Prinzip der intensivierten Insulintherapie Die intensivierte Insulintherapie (. Tabelle 11.2) imitiert das physiologische Insulinsekretionsmuster bei Stoffwechselgesunden. In . Abb. 11.5 sind die Insulinsekretionsphasen stoffwechselgesunder Freiwilliger in Abhängigkeit von 3 Hauptmahlzeiten (Frühstück, Mittag, Abendessen) und einer Spätmahlzeit dargestellt. Man erkennt deutlich das Nebeneinander von Basal- und Prandialratensekretion. Während der Basalinsulinspiegel 15 µU/ml nicht überschreitet, steigt die Prandialinsulinkonzentration während und nach einer Mahlzeit bis 75 µU/ml an. Die Blutglukosewerte liegen während des gesamten Zeitraums in einem relativ engen Bereich (60–130 mg/dl). Die differenzierte Prandial- und Basalratensekretion der E-Zellen diente als Vorbild für die intensivierte Insulintherapie.
. Abb. 11.5 24-h-Profil der Seruminsulinund Glukosekonzentration bei Stoffwechselgesunden; F Frühstück, M Mittagessen, A Abendessen, S Spätmahlzeit. (Nach Shade et al. 1983)
244
2 2 3 4
Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung
Bei der intensivierten Insulintherapie wird der nahrungsabhängige Prandialinsulinbedarf durch die Injektion von Normalinsulin oder einem rasch wirkenden Insulinanalogon vor den Mahlzeiten gedeckt, der nahrungsunabhängige Basalinsulinbedarf durch die Injektion von NPH-Insulin oder einem langwirkendem Insulinanalogon, ein- oder mehrmals am Tag. In . Abb. 11.6 sind zwei Beispiele einer intensivierten Insulintherapie dargestellt. Die Prandialinsulinsubstitution wird in beiden Beispielen mit der dreimaligen Injektion eines Normalinsulins bzw. eines schnell wirkenden Insulinanalogons durchgeführt: die Basalinsulinsubstitution im ersten Beispiel mit
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a
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b
. Abb. 11.6 Beispiele für physiologische Formen der Insulinsubstitution (intensivierte Insulintherapie): a dreimalige Gabe eines schnellwirkenden Insulinanalogons vor den Hauptmahlzeiten, einmalige Gabe eines langwirkenden Insulinanalogons. b dreimalige Gabe eines schnellwirkenden Insulinanalogons vor den Mahlzeiten, zweimalige Gabe eines NPH- bzw. mittelang wirksamen Insulinanalogons. (Nach DeWitt u. Hirsch 2003)
11.4 · Wahl der Insulinsubstitutionsmethode
245
11
einer Injektion eines langwirkenden Insulinanalogons (Glargin) (. Abb. 11.6a), im zweiten Beispiel mit der zweimaligen Injektion eines Verzögerungsinsulins (NPH) oder eines mittelang wirksamen Insulinanalogons (Detemir) (. Abb. 11.6b). Das Prandialinsulin ermöglicht die Metabolisierung der durch die Nahrung aufgenommenen Kohlenhydrate und soll eine postprandiale Hyperglykämie verhindern, das Basalinsulin reguliert die hepatische Glukoseproduktion durch Hemmung der Glukoneogenese. Dennoch bleibt auch die substilste Form der intensivierten Insulintherapie a priori unphysiologisch. Bei der durch den postprandialen Blutglukoseanstieg ausgelösten Insulinsekretion der E-Zellen gelangt das Insulin beim Stoffwechselgesunden über die Pfortader primär in die Leber und bringt dort die hepatische Glukoneogenese praktisch zum Erliegen. Nur ein Teil des Insulins gelangt in die peripheren Zielorgane (Muskulatur, Fettgewebe), um den postprandialen Blutglukoseanstieg zu regulieren. Bei der subkutanen Insulininjektion erreicht das Insulin dagegen auf dem Umweg über die Peripherie die Leber. Durch den langen Weg des Prandialinsulins zur Leber wird die hepatische Glukoseproduktion auch bei der intensivierten Insulintherapie postprandial nur unzureichend gedrosselt. Die oft sehr hohen Postprandialwerte sind daher durch die Addition von intestinaler Glukoseresorption und hepatischer Glukoneogenese verursacht. Um eine ausreichende Insulinwirkung in der Leber zu erzielen, muss daher im Vergleich zur physiologischen Insulinsekretion eine relative Überinsulinierung in Kauf genommen werden. ! Die Kunst der intensivierten Insulintherapie besteht einerseits in der aktuellen Anpassung der Prandialinsulindosis an die geplante Nahrungszufuhr, andererseits in der subtilen Regulation der hepatischen Glukoseproduktion durch eine ausreichende Basalinsulinsubstitution.
Im Gegensatz zur konventionellen Insulintherapie bestehen bei der differenzierten Prandial- und Basalinsulinsubstitution der intensivierten Insulintherapie bei Kindern und Jugendlichen etwa 70% der Tagesdosis aus Normalinsulin, etwa 30% aus Verzögerungsinsulin (. Abb. 11.6). Bei Erwachsenen beträgt das Verhältnis etwa 50/50%. Das von der physiologischen Insulinsekretion bei Stoffwechselgesunden abgeleitete Prinzip der differenzierten Prandial- und Basalinsulinsubstitution wurde zunächst mit Hilfe glukosegeregelter, rückgekoppelter Insulininfusionssysteme (Closed-loop-System) umgesetzt. Später wurden tragbare, programmierbare Insulininfusionspumpen (Open-loop-System) entwickelt, mit deren Hilfe die Prandialinsulindosis abgerufen und das Basalinsulin kontinuierlich appliziert werden konnte (CSII).
246
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Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung
Die Intensivierte konventionelle Insulintherapie (ICT) war wiederum eine Imitation der Insulinpumpentherapie (CSII). Beide Formen der intensivierten Insulintherapie, die CSII und die ICT, stellen, insbesondere seit Publikation der Ergebnisse des DCCT, die Methode der Wahl zur Insulintherapie von Patienten mit Typ-1-Diabetes dar. Auch Kinder und Jugendliche werden inzwischen fast ausschließlich mit einer der beiden Formen der intensivierten Insulintherapie behandelt. Besondere Stellung nimmt hierein die Behandlung von sehr jungen Kindern (Neonaten, Säuglinge, Kleinkinder) mit Diabetes. Aufgrund des sehr variablen und unberechnenbaren Tagesablaufs sowie der sehr kleinen Insulinmenge, die benötigt bzw. injiziert werden müssen, erweist die Insulinpumpentherapie als die geeigneteste Therapieform. Zusammenfassung Die intensivierte Insulintherapie imitiert die physiologische E-Zellsekretion. Sie muss daher als physiologische Insulinsubstitutionsmethode bezeichnet werden.
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Heutige Auffassungen zur Wahl der Insulinbehandlungsmethode. Die Einstellung zur Wahl der Insulinbehandlungsstrategie unmittelbar nach Manifestation des Typ-1-Diabetes hat sich in den letzten Jahren deutlich verändert. Richtig ist nach wie vor, dass grundsätzlich zwei Therapiemethoden angeboten und beschritten werden können, die konventionelle oder die intensivierte Insulintherapie. Wenn eine intensivierte Form gewählt wird, hat man zu entscheiden, ob das Insulin mit Spritzen oder Pumpen appliziert werden soll, d. h. ICT oder CSII. Die Entscheidung für die konventionelle Insulintherapie oder eine intensivierte Therapieform mit Spritzen bzw. Pumpen muss eingehend zwischen dem behandelnden Arzt und den Eltern und Kindern erörtert werden. Die Indikation für eine der Therapieformen sollte nicht allein von medizinischen, sondern auch von psychosozialen und pädagogischen Gesichtspunkten beeinflusst werden, d. h. es sollte geprüft werden, welche Voraussetzungen für eine erfolgreiche Umsetzung der einen oder der anderen Therapie vorliegen. Viele Gründe sprechen dafür, dass Kleinkinder, Kinder und Jugendliche von Anfang an, d. h. bereits unmittelbar nach Diabetesmanifestation, mit einer der beiden Formen der intensivierten Insulintherapie behandelt werden. Während der Umstellungsphase von konventioneller auf intensivierte Insulintherapie in den 1980er Jahren konnte eine Verbesserung der Qualität der Stoffwechseleinstellung nicht eindeutig nachgewiesen werden. Auch jüngere Studien bei Kindern und Jugendlichen zeigten nach Umstellung von 2 auf 4 Injektionen keine besseren Stoffwechselergebnisse. Die Umstellung vieler Jugendlicher der Hvidøre-Studie auf eine 4-Injektionen-Therapie erbrachte ebenfalls keine signi-
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11.4 · Wahl der Insulinsubstitutionsmethode
11
fikante Verbesserung der Stoffwechselkontrolle. Das hat unserer Meinung nach vor allem damit zu tun, dass eine 4-Injektionen-Therapie durchaus nicht immer den Kriterien einer differenzierten Prandial- und Basalinsulinsubstitution entspricht, d. h. der Imitation der physiologischen Insulinsekretion. Wenn bei einer 4-Injektionen-Therapie der Basalinsulinanteil mehr als 50% beträgt, wird keine intensivierte, sondern ein konventionelle Insulintherapie durchgeführt. Wenn Kinder und Jugendliche und ihre Eltern bereits unmittelbar nach Manifestation, d. h. in einer Phase, in der die Bereitschaft für die Umsetzung einer optimalen Diabetestherapie sehr groß ist, nur eine der beiden Formen der intensivierten Insulintherapie kennen lernen, sind die Voraussetzungen für eine langfristig gute Stoffwechseleinstellung sehr günstig. Die Stoffwechselergebnisse der Kinder und Jugendlichen der Diabetesambulanz am Kinderkrankenhaus auf der Bult konnten von Jahr zu Jahr deutlich verbessert werden (. Abb. 11.7). Das hat zweifellos sehr unterschiedliche Gründe (Intensivierung der ambulanten Betreuung und Schulung, Entwicklung von differenzierten Schulungsprogrammen für Kinder, Jugendliche und ihre Eltern usw.). Die wichtigste Ursache scheint jedoch der Umstand zu sein, dass die Zahl
Anteil der Patienten (%)
60
56 56
55 50 43 43 43 43 41 40 40 41 40 40 37 37 35 34 35 34
45 40 35 30 25
51 51 4847 47 48 47 47 44 44 4444 4444 43 44 44 43 42 42 41 41 36 36
1994 n = 518 1995 n = 527
34 34
29 29 25 25 23 23
25 25 23 23
21 19 21 19 1819 19 18 15 15 15 15 13 12 13 12
20 15
8 8
10 5 0 < 7,5 %
7,5 – 9,0 %
1996 n = 512 1997 n = 473 1998 n = 454 1999 n = 458 2000 n = 468 2001 n = 453 2002 n = 469 2003 n = 471 2004 n = 510 2005 n = 530
> 9,0 %
individueller Jahresmedian des HbA1c (Norm 5,0 ± 0,8 %) . Abb. 11.7 Die Veränderungen der Qualität der Stoffwechseleinstellung (HbA1c) bei Kindern und Jugendlichen der Diabetesambulanz am Kinderkrankenhaus auf der Bult Hannover im Zeitraum 1994–2005
248
Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung
. Abb. 11.8 Die Änderungen der verschiedenen Formen der Insulintherapie der Kinder und Jugendlichen der Diabetesambulanz am Kinderkrankenhaus auf der Bult Hannover in den letzten 20 Jahren (1986–2005) (n=530)
2 3 4
Anteil der Patienten in %
100
2
80 60 40 20 0 1986
1990 1994
1999 2003
2004
n = 339 n = 425 n = 521 n = 458 n = 471 n = 510
5
2005
n = 530
Konventionelle zwei Injektionenbehandlung Insulinpumpen Intensivierte Insulintherapie
6 7 8
9 10 11 12 13 14 15 16 17
der Kinder und Jugendlichen, die unmittelbar nach Manifestation mit einer der intensivierten Formen der Insulintherapie (bis 2000 ICT, seither auch CSII) behandelt wurden, von Jahr zu Jahr deutlich zugenommen hat. Mit nur wenigen Ausnahmen erhalten fast alle Kinder und Jugendlichen nach Manifestation des Diabetes eine intensivierte Insulintherapie (ICT bzw. CSII) (. Abb. 11.8). Zusammenfassung Heute sollten fast alle Säuglinge, Kleinkinder, Kinder und Jugendlichen unmittelbar nach Manifestation ihres Typ-1-Diabetes eine der beiden Formen der intensivierten Insulintherapie (ICT bzw. CSII) erhalten.
11.5
Durchführung der konventionellen Insulintherapie
Die konventionelle Insulintherapie wird heute nur noch selten vorübergehend während der Remissionsphase eingesetzt. Als Dauertherapie gilt sie als obsolet. Die einmalige Injektion eines Verzögerungsinsulins sollte nicht mehr durchgeführt werden.Bei einem Insulintagesbedarf zwischen 0,5 und 0,8 I.E./kg KG wird 2-mal täglich ein Verzögerungsinsulin, meist jedoch eine freie Mischung aus kurz und verzögert wirkendem Insulin injiziert. Das Verhältnis zwischen der morgendlichen und abendlichen Insulinmenge ist etwa 2:1. Die Eltern müssen in der Lage sein, zu entscheiden, wann welcher Insulinanteil erhöht oder erniedrigt werden muss und dass der Normalinsulinanteil flexibel an das aktuelle Ergebnis der Stoffwechselmessung angepasst werden sollte. Der Verzögerungsinsulinanteil kann relativ konstant gehalten werden. Das für den Patienten günstigste Verhältnis zwischen Normal- und Verzögerungsinsulin muss immer wieder neu ermittelt wird. Eine Insulinanpassung an die Nah-
11.6 · Durchführung der ICT
249
11
rungszufuhr ist nur mit Hilfe des relativ geringen Normalinsulinanteils möglich. Die Nahrungsmenge ist daher subtil an die vorgegebene Wirkung des Verzögerungsinsulins anzupassen. Das Dilemma des retrospektiven Prinzips der konventionellen Insulintherapie besteht darin, dass der Patient ständig hinter den Stoffwechselereignissen herhinkt. 11.6
Durchführung der intensivierten konventionellen Insulintherapie (ICT)
Das Vorbild der intensivierten Insulintherapie ist das physiologische Insulinsekretionsmuster bei Stoffwechselgesunden. Ein ständiger Basalinsulinspiegel ist notwendig, um die Glukoneogenese in der Leber zu regeln. Niedrige Insulinkonzentrationen führen zur Entkoppelung der hepatischen Glukoseproduktion (Hyperglykämie), hohe zu deren Hemmung (Hypoglykämie). Der Basalinsulinsekretion steht die prandiale Insulinausschüttung gegenüber, die während und nach der Nahrungsaufnahme erfolgt und die postprandiale Fluktuation der Blutglukosekonzentration in engen Grenzen hält. Bei der Imitation der physiologischen Insulinsekretion mit Hilfe der intensivierten Insulintherapie ist die Kenntnis der zirkadianen Rhythmen der Wirkung von Hormonen, v. a. des Insulins, von großer praktischer Bedeutung. Zirkadianrhythmus der Insulinwirkung Zirkadiane Rhythmen sind u. a. für die Sekretion von Hormonen beschrieben worden, die den Glukosestoffwechsel regulieren, d. h. sowohl für Insulin wie für die insulinantagonistischen Hormone Adrenalin, Noradrenalin, Glukagon und die Kortikoide. Die Sekretion von Wachstumshormon wird dagegen vom Schlafrhythmus beeinflusst, d. h. sie erfolgt normalerweise während der frühen Nachtstunden. Auch die Sensitivität der Zielzellen der Hormone, die den Glukosemetabolismus kontrollieren, ist zirkadianen Rhythmen unterworfen. Bei Insulin sind dies v. a. die Zielzellen in Leber, Muskulatur und Fettgewebe. Die Plasmaspiegel von Glukose und Aminosäuren unterliegen ebenfalls zirkadianen Rhythmen. Sie sind teils durch endogene Einflüsse (hepatische Glukoseproduktion), aber auch durch exogene Faktoren (Nahrungszufuhr) bedingt. Das Miteinander und Gegeneinander zirkadian wirksamer endogener und exogener Faktoren wird beim Stoffwechselgesunden durch die Feinabstimmung der endogenen Hormonsekretion ausbalanciert. Ergebnis dieser subtil ausgewogenen Glukoseregulation ist die Normoglykämie des Stoffwechselgesunden mit Werten zwischen 60 und 100 mg/dl. Beim Typ-1-Diabetes wird die täglich notwendige Insulinsubstitution durch die zirkadianen Änderungen der Insulinwirkung mit den entsprechenden Auswirkungen auf den Insulinbedarf sehr kompliziert, da die endogene Insulinsekretion, die sich ständig auf die zirkadianen Einflüsse der insulinantagonisti-
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Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung
schen Hormone einstellt und sie ausgleicht, nur annäherungsweise imitiert werden kann. Die zirkadianen Rhythmen der Sekretion und Wirkung der Hormone sind von Patient zu Patient sehr unterschiedlich ausgeprägt und können sich auch bei einem Patienten von einem Tag zum anderen ändern. Für die Praxis der Insulintherapie können nur grobe Anhaltspunkte für die individuell sehr unterschiedlichen Zirkadianrhythmen mitgeteilt werden. Bei jedem Patienten sind die individuellen zirkadianen Rhythmen der Insulinwirkung immer wieder neu empirisch zu ermitteln. In . Abb. 11.9 sind die Beziehungen zwischen Insulinwirkung, Insulinbedarf und Blutglukoseverhalten während der verschiedenen Tageszeiten schematisch dargestellt. Zusammenfassung Die zirkadianen Veränderungen der Insulinwirkung und des Insulinbedarfes sind mit Hilfe der konventionellen Insulintherapie schwierig auszubalancieren. Das morgens und abends injizierte Verzögerungsinsulin (z. B. NPH-Insulin) wirkt während der Phasen niedrigen Insulinbedarfes zu stark, während der Phasen hohen 6
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. Abb. 11.9 Schematische Darstellung des Zirkadianrhythmus der Insulinwirkung und des Insulinbedarfes mit den entsprechenden Veränderungen des Blutglukosespiegels
11.6 · Durchführung der ICT
251
11
Insulinbedarfes zu schwach. Die Folge können Hypoglykämien mittags und nachts sowie Hyperglykämien nachmittags und am frühen Morgen sein. Nur mit den intensivierten Methoden der Insulintherapie gelingt es einigermaßen, den zirkadianen Wechsel der Insulinwirkung durch die subtile Anpassung der Prandial- und Basalinsulindosis an den notwendigen Insulinbedarf auszugleichen.
Dawn- oder Somogyi-Phänomen? ! Morgenhyperglykämien sind bei Patienten mit Typ-1-Diabetes, v. a. bei Kindern und Jugendlichen, seit langem bekannt. Sie wurden zunächst als Ergebnis einer hormonellen Gegenregulation nach unbemerkten nächtlichen Hypoglykämien gedeutet.
Die seither als Somogyi-Phänomen bezeichnete posthypoglykämische Hyperglykämie wurde auch von Pädiatern beschrieben und vielfach nachgewiesen. Als Ursache für hohe morgendliche Nüchternblutglukosewerte wurden lange Zeit asymptomatische nächtliche Hypoglykämien angenommen. Das Somogyi-Phänomen gewann nicht nur bei Ärzten, sondern auch bei Patienten eine große Popularität. Die praktische Konsequenz war, dass auf Hyperglykämien häufig wegen der Annahme einer vorausgegangenen unbemerkten Hypoglykämie mit einer Reduzierung der Insulindosis reagiert wurde, mit noch ausgeprägteren Hyperglykämien als Folge. Gegenregulatorisch bedingte Hyperglykämien treten jedoch selten und wenn, nicht sehr ausgeprägt bei Patienten mit Typ-1-Diabetes auf, weil bei ihnen die Glukosegegenregulation gestört ist. Vor allem der erste und wichtigste Schritt der Gegenregulation beim Stoffwechselgesunden, das Sistieren der Insulinsekretion zur Entkoppelung der hepatischen Glukoseproduktion, entfällt beim Typ-1-Diabetes. Für die häufig auftretenden Morgenhyperglykämien musste daher eine andere pathophysiologische Erklärung gefunden werden. ! Untersuchungen mit glukosegeregelten Insulininfusionssystemen erbrachten den Beweis, dass der Anstieg der Blutglukosewerte in den frühen Morgenstunden auf eine passagere partielle Insulinresistenz zurückzuführen ist. Die durch eine Verminderung der Insulinwirkung bedingte Morgenhyperglykämie wurde als Dawn-Phänomen bezeichnet.
Die relative Insulinresistenz während der frühen Morgenstunden ist auf die nächtliche Sekretion von Wachstumshormon zurückzuführen, das nicht nur die Insulinsensitivität vermindert, sondern auch die hepatische Glukoseproduktion stimuliert. Wachstumshormon wird bei Typ-1-Diabetes vermehrt sezerniert. Es besteht eine direkte Beziehung zwischen der Wachstumshormonausschüttung
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Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung
und dem Anstieg des Insulinbedarfes während der Pubertät. Damit ist nicht nur der deutliche Anstieg des Insulintagesbedarfes bei Jugendlichen (>1,0 I.E./kg KG), sondern auch die häufig unzureichende Stoffwechseleinstellung erklärt. Die Rolle der Sexualhormone als Ursache für den erhöhten Insulinbedarf während der Pubertät bleibt dagegen unklar. ! Häufigkeit und Ausmaß des Dawn-Phänomens hängen ursächlich vom Ausmaß der nächtlichen Pulsamplitude der Wachstumshormonsekretion ab. Es tritt meist 3- bis 4-mal pro Woche auf und besonders ausgeprägt während der Pubertät. Die während der Pubertät erhöhten Wachstumshormonspiegel sind eine der Ursachen des gesteigerten Insulinbedarfs und der oft unzureichenden Insulinbehandlung von Jugendlichen.
Ermittlung der Prandial- und Korrekturinsulindosis ! Die Prandialinsulinsubstitution erfolgt vor den Hauptmahlzeiten (Frühstück, Mittagessen, Abendessen) durch die Injektion eines kurzwirkenden Insulins, d. h. eines Normalinsulins oder eines schnell wirkenden Insulinanalogons. Die Prandialinsulindosis muss in Abhängigkeit vom präprandialen Blutglukosewert korrigiert werden. Berechnung der Prandialinsulindosis. Die Prandialinsulindosis hängt von der
Menge der während einer Mahlzeit zugeführten Kohlenhydrate ab. Daher hat es sich als didaktisch sinnvoll erwiesen, die Prandialinsulindosis als Quotient »Insulin/KE« anzugeben [eine Kohlenhydrateinheit (KE) entspricht 10–12 g Kohlenhydraten]. Der Insulin-KE-Quotient liegt meist zwischen 1,5 und 2,0 I. E./KE. Er ist intra- und interindividuell unterschiedlich groß und muss daher vom Patienten ständig neu ermittelt werden. Wichtige Einflussgrößen sind 5 Alter, 5 Größe, 5 Gewicht, 5 Geschlecht, 5 Diabetesdauer, 5 Essgewohnheiten (z. B. Zusammensetzung der Mahlzeiten: schnell oder langsam resorbierbare Kohlenhydrate, Ballaststoff-, Eiweiß-, Fettgehalt), evtl. auch 5 Art des schnellwirkenden Insulinpräparates (Normalinsulin bzw. schnell wirkendes Insulinanalogon). Von besonderer Bedeutung ist, ob sich der Patient in der Remissionsphase befindet und noch eine Restsekretion von endogenem Insulin vorliegt. Ist das der Fall, kann der Insulin-KE-Quotient unter 1,0 I.E./KE liegen.
11.6 · Durchführung der ICT
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Auch die zirkadianen Veränderungen der Insulinwirksamkeit beeinflussen den Insulin-KE-Quotienten. Während der Zeit der Morgenhyperglykämie (Dawn-Phänomen) werden normalerweise deutlich mehr als 2 I.E./KE benötigt. Am späten Nachmittag liegt ebenfalls eine Hyperglykämieneigung vor (Dusk-Phänomen), sodass etwa 2 I.E./KE injiziert werden müssen. Am späten Vormittag und um die Mittagszeit sowie nach Mitternacht während der ersten Nachthälfte besteht eine ausgesprochene Hypoglykämieneigung. Während dieser Zeit sollte das Insulin daher sehr vorsichtig dosiert werden. Meist kommen die Patienten um die Mittagszeit mit 1,0–1,5 I.E./KE, um Mitternacht mit 0,5– 1,0 I. E./KE aus. Weitere Einflussfaktoren für die Größe des Insulin-KE-Quotienten sind der Spritz-Ess-Abstand, die Injektionsart, die Beschaffenheit des Injektionsortes und nicht zuletzt die Effizienz der Basalinsulinsubstitution. Der Spritz-Ess-Abstand sollte um so länger sein, je schneller die zugeführten Kohlenhydrate resorbiert werden. Die Variationsbreite beträgt etwa 10 min (langsame Resorption: Kohlenhydrate mit niedrigem glykämischen Index , ballaststoffreich, hoher Fett-Eiweiß-Gehalt) bis 40 min (schnelle Resorption: Kohlenhydrate mit hohem glykämischen Index, Fastfood). Der Spritz-EssAbstand richtet sich auch nach dem präprandialen Blutglukosewert: Bei hohen Blutglukosewerten (z. B. >250 mg/dl) sollte er verlängert, bei niedrigen (z. B. <100 mg/ dl) verkürzt werden. Üblicherweise sollte der Spritz-Ess-Abstand bei Normalinsulin 30 min betragen. Bei Verwendung schnell wirkender Insulinanaloga fällt der Spritz-Ess-Abstand fort. Die Patienten können unmittelbar nach der Insulininjektion mit der Mahlzeit beginnen oder sie spritzen erst während bzw. nach der Mahlzeit. Durch intramuskuläre Injektion wird die Insulinabsorption beschleunigt und damit die Normalinsulinwirkung verstärkt. Bei subkutaner Injektion hängt die Absorption von der Kapillardichte des Injektionsortes ab. So wird Insulin aus der Bauchhaut schneller absorbiert als aus dem Oberarm oder Oberschenkel. Durch Erwärmen und Massage der Injektionsstelle kann die Absorption durch die verbesserte Durchblutung beschleunigt werden. Berechnung der Korrekturinsulindosis. Die Insulindosis, die vor einer Mahlzeit
injiziert werden muss, hängt nicht nur von der geplanten Nahrungszufuhr ab, sondern auch vom aktuellen präprandialen Blutglukosewert. Die mit Hilfe des Insulin-KE-Quotienten errechnete Insulindosis muss daher korrigiert werden. Bei hohen Präprandialwerten muss Korrekturinsulin hinzugefügt, bei niedrigen abgezogen werden. Der Blutglukosespiegel wird bei Kindern und Jugendlichen durch 1 I.E. Normalinsulin um durchschnittlich 40 mg/dl gesenkt. Dieser Wert weist große individuelle Schwankungen auf und hängt u. a. vom Gewicht ab. So kann die Absen-
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Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung
kungsrate durch 1 I.E. Normalinsulin bei Jugendlichen nur 30 mg/dl betragen, bei Kleinkindern dagegen 90 mg/dl und mehr. Die Absenkungsrate nach Injektion von 1 I.E. Normalinsulin hängt jedoch wegen des Zirkadianrhythmus der Insulinwirkung auch vom Zeitpunkt der Insulininjektion ab. So kann sie in den frühen Morgenstunden nur 30 mg/dl betragen, mittags dagegen 60 mg/dl, abends 50 mg/dl und nachts sogar 90 mg/dl. Die Verminderung der Blutglukosekonzentration erfolgt bei subkutaner Injektion eines schnell wirkenden Insulinanalogons wesentlich schneller als bei Injektion von Normalinsulin. Korrektur des präprandialen Blutglukosewertes. Geht man z. B. morgens von einer
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Absenkungsrate von 40 mg/dl aus, so müssen 2 I.E. Normalinsulin injiziert werden, um den Blutglukosewert von 180 auf 100 mg/dl zu senken. Die mit Hilfe des Insulin-KE-Quotienten ermittelte Prandialinsulindosis muss um 2 I.E. Korrekturinsulin erhöht werden. Beträgt die Absenkungsrate z. B. mittags 80 mg/dl, ist nur 1 I.E. Korrekturinsulin zu spritzen, um der Blutglukosewert von 180 auf 100 mg/dl zu senken. Die aufgrund der geplanten Nahrungsmenge ermittelte Prandialinsulindosis muss nur um 1 I.E erhöht werden. Bei einem Präprandialwert von 80–120 mg/dl sollte nicht korrigiert werden. Es kann die mit Hilfe des Insulin-KE-Quotienten ermittelte Prandialinsulindosis injiziert werden. Liegt der Präprandialwert unter 80 mg/dl, so sollten 1 I.E. oder bei sehr niedrigen Werten 2 I.E. Korrekturinsulin von der ermittelten Prandialinsulindosis abgezogen werden. Sehr problematisch ist es, verbindliche Ratschläge darüber zu geben, bei welchen Blutzuckerwerten korrigiert und auf welchen Blutglukosewert abgesenkt werden sollte. Auch das hängt von vielen Faktoren ab: vom Alter des Kindes, von der Diabetesdauer, von der Tageszeit usw. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Einstellung der Kinder und Jugendlichen und ihrer Eltern gegenüber den metabolischen Therapiezielen und die individuell sehr unterschiedliche Angst vor Hypoglykämien. Die individuell ermittelten Absenkungsraten für den Blutglukosespiegel zur Ermittlung der Korrekturinsulindosis können nicht nur präprandial angewendet werden, sondern auch zwischen den Mahlzeiten und während der Nacht. Mit Hilfe der individuell und tageszeitlich unterschiedlichen Absenkungsraten können daher hohe Blutglukosewerte zu jeder Tages- und Nachtzeit korrigiert werden.
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! Grundlage für die Berechnung der Korrekturinsulindosis ist die Ermittlung der
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Absenkung des Insulinspiegels durch 1 I.E. Insulin (Normalinsulin bzw. schnell wirkendes Insulinanalogon). Die individuellen Richtwerte für die Ermittlung der Prandial- und Korrekturinsulindosis müssen immer wieder zwischen dem
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behandelnden Arzt, den Kindern und Jugendlichen und ihren Eltern besprochen werden.
Bei der Ermittlung der Prandialinsulindosis ist der Patient auf Erfahrungswerte angewiesen, die er in der täglichen Praxis einfach erwerben kann. So kann er feststellen, um wie viel mg/dl der Blutglukosespiegel nach Verzehr gleicher Testmengen (z. B. 1 KE) unterschiedlicher kohlenhydrathaltiger Nahrungsmittel (z. B. Traubenzucker, Nudeln, Brot) ansteigt. Er sammelt vielfältige Erfahrungen über die Blutglukosewirksamkeit der verschiedenen Nahrungsmittel und lernt dabei, dass die Prandialinsulindosis nicht nur von der Nahrungsmenge (Kohlenhydrataustauschtabellen), sondern auch von der Zusammensetzung und Art der kohlenhydrathaltigen Nahrungsmittel abhängt (glykämischer Index). Bei Verzehr von 1 KE Weißbrot steigt der Blutglukosewert z. B. um 80 mg/dl, während 1 KE Banane ihn nur um 50 mg/dl ansteigen lässt. Mit Hilfe zahlreicher Erfahrungswerte ermittelt der Patient seine individuellen Insulin-KE-Quotienten zur Berechnung der Prandialinsulindosis. Der Patient kann aber auch selbst ermitteln, um wie viel mg/dl sein Blutglukosewert morgens, mittags oder abends bzw. während der ersten oder zweiten Nachthälfte nach der Injektion von 1 I.E. Normalinsulin abgesenkt wird (Zirkadianrhythmus der Insulinwirkung). Mit Hilfe der unterschiedlichen Blutglukoseabsenkungsraten kann er die Insulindosis ermitteln, die für die Korrektur der Prandialinsulindosis zu einer bestimmten Tages- oder Nachtzeit notwendig ist. Nach Injektion von 1 I.E. Korrekturinsulin wird der Blutglukosewert z. B. morgens um 30 mg/dl, mittags um 50 mg/dl, abends um 40 mg/dl, spät vor dem Schlafen um 60 mg/dl und nachts um 1 Uhr um 80 mg/dl gesenkt. Zusammenfassung Die Kenntnis der individuell unterschiedlichen Raten des Anstiegs der Blutglukosekonzentration nach Verzehr von 1 KE und der Senkung der Blutglukosekonzentration nach Injektion von 1 I.E. Normalinsulin ist die Voraussetzung für die Ermittlung der Prandial- und Korrekturinsulindosis. In Abhängigkeit von der Höhe des präprandialen Blutglukosewertes muss der Prandialinsulindosis die Korrekturinsulindosis hinzugefügt oder von ihr abgezogen werden.
Ermittlung der Basalinsulindosis Die Injektion von Verzögerungsinsulin soll die basale Insulinsekretion zur Regulation der hepatischen Glukoseproduktion nachahmen. Der Tagesbedarf von Basalinsulin liegt bei stoffwechselgesunden Erwachsenen um 0,3 I.E./kg KG. Der tägliche Basalinsulinbedarf kann bei Kindern und Jugendlichen mit
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Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung
Typ-1-Diabetes im Hungerversuch (Fastentag) ermittelt werden. Er liegt bei Kleinkindern um 0,2 und bei Kindern um 0,3 I.E./ kg KG. Während der Pubertät steigt der basale Insulinbedarf auf höhere Werte. In . Tabelle 11.3 ist der mit der Glukose-Clamp-Technik ermittelte basale Insulintagesbedarf für Kinder und Jugendliche während der fünf Pubertätsstadien nach Tanner zusammengestellt. Zur Basalinsulinsubstituation werden heute NPH-Insuline und mittellang und langwirkende Insulinanaloga eingesetzt. Wegen seiner Wirkungsdauer von 16–17 h und seinem Wirkungsmaximum nach 5–7 h kann NPH-Insulin an den Zirkadianrhythmus der Insulinwirkung angepasst werden. Bei sehr niedrigem Insulinbedarf wird NPH-Insulin nur abends spät injiziert, häufiger jedoch morgens und spät abends. Bei erhöhtem Insulinbedarf am späten Nachmittag (Dusk-Phänomen) ist nicht selten auch mittags vor der zweiten Mahlzeit eine NPH-Insulininjektion notwendig. Abends zur dritten Hauptmahlzeit kann meist auf Basalinsulin verzichtet werden, da der Blutglukosewert spät abends vor dem Schlafen nicht zu niedrig sein sollte (>100 mg/dl). In einer randomisierten Crossover-Studie konnte gezeigt werden, dass die Substitution mit individuellen Mischungen von Normal- und NPHInsulin vor den Mahlzeiten und NPH-Insulin zur »Bettzeit« die HbA1c-Werte senkt und die Inzidenz von hypoglykämischen Episoden vermindert. Dasselbe gilt im Prinzip für das mittellang wirkende Insulinanalogon Detemir. Das mittelang wirksame Insulin Detemir (Levemir) muß wegen seiner Wirkdauer von etwa 12–16 h in der Regel zweimalig injiziert werden. Dabei kommen Schemata mit morgendlicher und abendlicher, mittäglicher und spätabendlicher (besonders bei Dawn-Phänomen) und morgendlicher und spätabendlicher Gabe zur Anwendung. Bei der Dosisfindung ist ein interindividuell sehr unterschiedliches Ansprechen auf auf Detemir zu beobachten. Im Vergleich mit
. Tabelle 11.3 Täglicher Basalinsulinbedarf in Abhängigkeit von den Pubertätsstadien nach Tanner. (Nach Dunger u. Edge 1995) Basalinsulindosis (I.E./kg KG/Tag)
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Tanner-Stadium
Mädchen
Jungen
Gesamt
1
0,21
0,29
0,29
2
0,29
0,29
0,29
3
0,37
–
0,32
4
0,40
–
0,40
5
0,33
0,36
0,35
KG Körpergewicht
11.6 · Durchführung der ICT
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dem früher erhältlichen Zink-Verzögerungsinsulin Semilente ergeben sich bei spätabendlicher Gabe Dosiserhöhungen von im Mittel 1,7-mal der ursprünglichen Zinkinsulindosis. Dabei wurden gute Nüchternblutzucker bei einzelnen Patienten auch bei dosisgleicher Umstellung beobachtet, während andere erst nach einer Verdopplung der Dosis gute Morgenwerte ohne nächtliche Unterzuckerungen aufwiesen. Bei Erwachsenen und auch in einigen pädiatrischen Zentren wird häufig das langwirkende Insulinanalogon Glargin als Basalinsulin eingesetzt. Wegen seiner langen Wirkungsdauer von 22 bis 24 h wurde das Glagin zunächst nur einmal am Tag injiziert. Inzwischen sind jedoch verschiedene Modifikationen seines Einsatzes entwickelt worden. Es wird frühmorgens und abends (18 Uhr), frühmorgens und spät abends (23 Uhr) aber auch mittags und spät abends injiziert. An den Zirkadianrhythmus der Insulinwirkung kann es wegen seiner sehr langen Wirkungsdauer nicht in gleicher Weise angepasst werden wie die NPHInsuline und das Detemir. Bei Verwendung der langwirksamen Insulinanaloga ist die Inzidenz schwerer Hypoglykämien geringer ist als bei Injektion von Normal- und NPH-Insulin. Wichtig ist, dass bei der Verwendung kurzwirkender Insulinanaloga als Prandialinsulin die Basalinsulindosis erhöht werden muss, da sie an der Deckung des Basalinsulinbedarfes wegen ihrer kurzen Wirkungsdauer weniger beteiligt sind als Normalinsulin. Umgekehrt muss bei Verwendung langwirkender Insulinanaloga als Basalinsulin die Prandialinsulindosis erhöht werden, da sie weniger an der Deckung des Prandialinsulinbedarfes beteiligt sind als NPH-Insulin. Die Trennung zwischen Prandial- und Basalinsulinwirkung ist daher bei der Verwendung kurz- und langwirkender Insulinanaloga präziser gewährleistet ist als bei der von Normal- und NPH-Insulin. Bei der Injektion von Normal- und NPH-Insulin sind beide Insuline durch die Überschneidung ihrer Wirkungsprofile an der Prandial- und an der Basalinsulinsubstitution beteiligt, d. h. ein Teil des Normalinsulins wirkt als Basalinsulin, ein Teil des Basalinsulins als Prandialinsulin. Die Substitution mit kurz- und langwirkenden Insulinanaloga erfasst dagegen genauer das reale Verhältnis zwischen Prandial- und Basalinsulinbedarf. Die Durchführung der ICT mit kurz- und langwirkenden Insulinanaloga kommt daher den Voraussetzungen und Möglichkeiten der CSII näher als die mit Normal- und NPH-Insulin. Zusammenfassung Der Zirkadianrhythmus der Insulinwirkung beeinflusst nicht nur die Berechnung des Prandial- und Korrekturinsulinbedarfes vor den Hauptmahlzeiten, sondern auch die des Basalinsulinbedarfes. Bei der Umsetzung der ICT sollten daher, individuell abgestimmt, Prandial- und Basalinsulin mehrfach am Tag injiziert werden. 6
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Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung
Insulinanaloga mit langer Wirkungsdauer (Glargin) können nicht wie z. B. NPHInsulin und das mittellang wirkende Insulinanalogon Detemir an den wechselnden Basalinsulinbedarf angeglichen werden. Trotzdem werden sie zunehmend häufig verwendet, da die Hypoglykämiegefahr geringer ist und vor allem eine exaktere Trennung zwischen Prandial- und Basalinsulinwirkung erkennbar ist, v. a. dann, wenn auch kurzwirkende Insulinanaloga als Prandialinsulin eingesetzt werden. Die Verwendung von kurz- und langwirkenden Insulinanaloga kommt den Voraussetzungen und Möglichkeiten der CSII näher als die Injektion von Normal- und NPH-Insulin.
Insulinpräparate für die ICT Für die Umsetzung der ICT stehen für die Prandrialinsulinsubstitution die Normalinsuline und die drei schnellwirkenden Insulinanaloga (Lispro, Aspart und Glulisine), für die Basalinsulinsubstitution die NPH-Insuline, das mittellang wirkende Insulinanalogon Detemir und das langwirkende Insulinanalogon Glargin zur Verfügung.. In . Tabelle 11.4 sind die wichtigsten Varianten der Kombination von Prandial- und Basalinsulin zusammengestellt. Welche Kombinationen haben sich bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes bewährt? Bei Säuglingen und Kleinkindern bis etwa zum 4. Lebensjahr sind Kombinationen mit einem schnellwirkendem Insulinanalogon geeignet, weil die Eltern nie genau wissen, wie viel von der angebotenen Mahlzeit wirklich gegessen wird. Es ist daher günstig, erst nach der Mahlzeit Prandialinsulin zu injizieren. Da man die NPH-Insuline sehr gut an den Zirkadianrhythmus der Basalinsulinwirkung anpassen kann, werden sie bei dieser Altersgruppe bevorzugt angewendet (Variante B1 oder B2). Erst bei Einstellungsproblemen kann man ein langwirkendes Insulinanalogon erproben (Variante C oder D). Bei Kleinkindern etwa ab vier Jahren und Schulkindern, aber auch bei Jugendlichen, die großen Wert auf Zwischenmahlzeiten (2. und 3. Frühstück in der Schule, Vespermahlzeit nachmittags, Spätmahlzeit abends vor dem Schlafen) legen, wird häufig Normalinsulin als Prandialinsulin und NPH-Insulin als Basalinsulin benutzt (Variante A1). Aber auch NPH-Insulin tagsüber und Detemir nachts als Basalinsuline sind sehr verbreitet (Variante A2). Patienten dieser Altersgruppe, die den Spritz-Ess-Abstand vermeiden wollen, können ein schnellwirkendes Insulinanalogon als Prandialinsulin injizieren (Variante B1 oder B2). Wenn Schwierigkeiten bei der Basalinsulinsubstitution auftreten, kann auch ein langwirkendes Insulinanalogon als Basalinsulin erprobt werden (Variante C oder D).
11.6 · Durchführung der ICT
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. Tabelle 11.4 Wichtigste Varianten der Kombination von Prandial- und Basalinsulin Variante A1
Prandialinsulin Basalinsulin
Normalinsulin NPH-Insulin tagsüber und nachts
Variante A2
Prandialinsulin Basalinsulin
Normalinsulin NPH-Insulin tagsüber und mittellang wirkendes Insulinanalogon (Detemir) nachts
Variante B1
Prandialinsulin Basalinsulin
Schnellwirkendes Insulinanalogon NPH-Insulin tagsüber und nachts
Variante B2
Prandialinsulin Basalinsulin
Schnellwirkendes Insulinanalogon NPH- Insulin tagsüber und mittellangwirkendes Insulinanalogon (Detemir) nachts
Variante C
Prandialinsulin Basalinsulin
Normalinsulin Lang- (Glargin) oder mittellangwirkendes (Detemir) Insulinanalogon tagsüber und nachts
Variante D
Prandialinsulin Basalinsulin
Schnellwirkendes Insulinanalogon Lang- (Glargin) oder mittellangwirkendes (Detemir) Insulinanalogon tagsüber und nachts
Je mehr die Jugendlichen auf Zwischenmahlzeiten verzichten und sich den Essgewohnheiten von Erwachsenen (3 Hauptmahlzeiten) annähern, desto besser eignet sich das langwirkende Insulinanalogon als Basalinsulin in Kombination mit Normalinsulin oder schnellwirkendem Insulinanalogon als Prandialinsulin (Variante C oder D). Dabei gibt es viele Patienten, die eine Normalinsulingabe morgens (Abdenkung von Frühstück und 1. Schulpause) mit schnellwirkendes Insulinanalogon zum Mittag oder Abendbrot kombiniern. Das gilt vor allem, wenn Jugendliche wie viele Erwachsene bereit sind, bei einer spontanen Zwischenmahlzeit Prandialinsulin zu injizieren. Bei der Wahl der Prandial-/Basalinsulin-Kombination für die ICT kommt es auf folgende Kriterien an: 5 Wahl des Prandialinsulins: – wenn der Spritz-Ess-Abstand vermieden werden soll: schnellwirkendes Insulinanalogon, – wenn eine der Hauptmahlzeit folgende Zwischenmahlzeit mit abgedeckt werden soll: Normalinsulin.
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Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung
5 Wahl des Basalinsulins: – wenn das Basalinsulin an den Zirkadianrhythmus angepasst werden soll:
NPH-Insulin tagsüber, Detemir nachts,
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– wenn die Zwischenmahlzeiten mit abgedeckt werden sollen, die zeitlich wei-
ter von der vorausgegangenen Hauptmahlzeit entfernt sind: NPH-Insulin, – wenn nur drei Hauptmahlzeiten eingenommen werden und auf Zwischen-
mahlzeiten verzichtet wird: langwirkendes Insulinanalogon (Glargine). Diese Grundregeln sind das Ergebnis eigener klinischer Erfahrungen. Sie können aufgrund der Erfahrungen des behandelnden Arztes und der Patienten selbstverständlich weitere Variationen aufweisen. Wie immer sie ausfallen, sollten sie jedoch ständig neu diskutiert und, wenn nötig, variiert werden. Zusammenfassung Die Kunst der Insulintherapie besteht darin, für jeden Patienten die Behandlungsform zu finden, die seinem individuellen Lebensrhythmus und seinen individuellen Lebensbedürfnissen entspricht und außerdem zu guten Stoffwechselergebnissen führt.
Richtwerte für die Durchführung der ICT In . Tabelle 11.5 sind Richtwerte für die Umsetzung der ICT zusammengestellt. Sie beruhen auf eigenen klinischen Erfahrungen und sollen als Orientierungshilfe dienen. Individuelle Abweichungen von diesen Erfahrungswerten müssen daher bei jedem Patienten immer wieder neu diskutiert und festgelegt werden. Der Insulintagesbedarf beträgt bei Kleinkindern und Kindern 0,8–1,0 I.E./kg KG während der Postremissionsphase. Bei Jugendlichen kann er während der Frühadoleszenz (Pubertät; 12–16 Jahre) auf 1,2, selten bis 1,5 I.E./kg KG ansteigen. Während der Spätadoleszenz (16–20 Jahre) nähert sich der Insulintagesbedarf nach und nach dem von Erwachsenen, der zwischen 0,6 und 0,7 I.E./kg KG liegt. Der Basalinsulintagesbedarf beträgt bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen 0,30–0,35, selten bis 0,4 I.E./kg KG. Die Prandialinsulindosis wird mit Hilfe des Insulin-KE-Quotienten ermittelt, der meist zwischen 1,0 und 2,5 liegt. Nachts während der Phase hoher Insulinsensitivität kann dieser jedoch bis auf 0,5 absinken, d. h. er hängt von der Diabetesdauer (Restsekretion) und vom Zirkadianrhythmus der Insulinwirkung ab. Die Prandialinsulindosis muss in Abhängigkeit vom präprandialen Blutglukosewert korrigiert werden. Bei niedrigen präprandialen Blutglukosewerten wird die Korrekturinsulindosis von der Prandialinsulindosis abgezogen, bei hohen wird sie ihr zugezählt.
11.7 · Durchführung der Insulinpumpentherapie (CSII)
261
11
. Tabelle 11.5 Richtwerte für die Durchführung der intensivierten konventionellen Insulintherapie (ICT) Insulintagesbedarf
Kinder Jugendliche Erwachsene
0,80–1,0 I.E./kg KG 1,2–0,8 I.E./kg KG 0,6–0,7 I.E./kg KG
Basalinsulintagesbedarf
Kinder Jugendliche Erwachsene
0,30–0,35 I.E./kg KG
Prandialinsulindosis
Morgens Mittags Abends Nachts
1,5–2,5 I.E./KE 1,0–1,5 I.E./KE 1,5–2,0 I.E./KE 0,5–1,0 I.E./KE
Blutglukoseabsenkungsraten nach 1 I.E. Normalinsulin
Morgens Mittags Abends Nachts
–20–30 mg/dl –40–50 mg/dl –30–40 mg/dl –60–80 mg/dl
Täglicher Kalorienbedarf
Kinder Jugendliche Erwachsene
45–70 kcal/kg KG 35–45 kcal/kg KG 25–35 kcal/kg KG
KG Körpergewicht.
Die Korrekturinsulindosis hängt von der Blutglukoseabsenkungsrate ab, d. h. davon, um wie viel die Blutglukosekonzentration nach Injektion von 1 I. E. Normalinsulin vermindert wird. Die Absenkungsrate wird durch das Alter des Patienten und ebenfalls durch den Zirkadianrhythmus der Insulinwirkung beeinflusst. Sie liegt zwischen 30 und 100 mg/dl, kann allerdings früh morgens weniger und spät abends mehr betragen. Der tägliche Kalorienbedarf beträgt bei Kindern 45–70 kcal/kg Körpergewicht, bei Jugendlichen 35–45 kcal/kg KG und bei Erwachsenen 25–35 kcal/ kg KG. 11.7
Durchführung der Insulinpumpentherapie (CSII)
! Die Durchführung einer intensivierten Insulintherapie mittels kontinuierlicher subkutaner Insulininfusionstherapie (CSII) kann in allen Altersstufen vorteilhaft gegenüber einer Therapie mit multiplen Injektionen (ICT) sein. Durch die stündlich programmierbare kontinuierliche Basalrate und die einfache zusätzliche Gabe
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Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung
von Bolusinsulin auf Knopfdruck kann der nahrungsabhängige Prandialinsulinbedarf und der nahrungsunabhängige Basalinsulinbedarf zeitgerecht substituiert werden.
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Seit mehr als 20 Jahren wird die Insulinpumpentherapie zur Behandlung von Patienten mit Typ-1-Diabetes eingesetzt. Sie gilt jetzt als die physiologisch optimale Methode zur Bereitstellung von Insulin mit der besten Stoff wechseleinstellung und den wenigsten hypoglykämischen Ereignissen. Diese überlegenen klinischen Vorteile gehen mit einer positiven Wirkung auf die Lebensqualität des Patienten einher. Die CSII hat in den letzten Jahren als eine mögliche Behandlungsform des insulinpflichtigen Diabetes mellitus auch bei Kindern und Jugendlichen in vielen Ländern deutlich zugenommen.
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Funktionsweise einer Insulinpumpe
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7 8
! Insulinpumpen, ob tragbar oder implantiert, arbeiten als offenes System, d. h. es existiert keine automatische Rückkopplung der Insulinabgabe an die aktuelle Blutglukosekonzentration. Dies bedeutet, dass die Insulinpumpenbehandlung anhand von Blutglukosekontrollen bzw. -selbstkontrollen gesteuert und überwacht werden muss.
9 Eine Insulinpumpe besteht im Wesentlichen aus den folgenden Teilen
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Gehäuse, Motor und Getriebe, Elektronik, die die Insulinabgabe des Motors steuert und überwacht, Gewindestange, die die Drehbewegung des Motors in eine Längsbewegung des Ampullenstopfens umwandelt, 5 mit Insulin gefüllte Ampulle oder Reservoir, 5 Katheter mit Stahl oder Kunststoffkanüle,. 5 Adapter, der die Ampulle in der Pumpe fixiert und in den der Katheter eingeschraubt wird
Das Insulin wird aus dem Reservoir über den Katheter dem Körper zugeführt. Den Insulinkatheter und die Insulinampulle wechselt der Patient selbstständig. Die ersten Erfahrungen mit einer Glukosesensor-gekoppelten Insulinpumpe liegen seit kurzem auch bei Kindern vor. Dabei werden kontinuierlich subcutan gemessene Glukosewerte in die Pumpe übertragen und zur Berechnung von Korrektur- und Mahlzeitenbolus herangezogen. Bei einer ersten Anwendung bei 15 Kindern über einen Zeitraum von 4 Wochen zeigte sich eine gute Akzeptanz dieses Systems durch die Familien.
11.7 · Durchführung der Insulinpumpentherapie (CSII)
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11
Häufigkeit der CSII bei Kindern Die CSII wurde in den letzten Jahren als mögliche Behandlungsform des Typ-1Diabetes bei Kindern und Jugendlichen immer mehr akzeptiert und daher auch eingesetzt. Nach den Zahlen der DPV-Wiss-Initiative kam es in Deutschland bei den in diesem System dokumentierten mehr als 16.000 pädiatrischen Diabetespatienten (<20 Jahre) zu einem nahezu exponentiellen Anstieg von 39 Pumpenpatienten im Jahr 1996 auf über 1500 im Jahr 2005. Ähnliche Entwicklungen sieht man auch in Amerika und anderen europäischen Ländern. Im Kinderkrankenhaus auf der Bult werden knapp die Hälfte der 550 Kinder und Jugendliche mit Insulinpumpentherapie behandelt. Nur neun Patienten beendeten im Zeitraum von 2001-2005 die Pumpentherapie aus persönlichen Gründen. Ergebnisse der CSII bei Kindern In der europäischen Pedpump Study Group haben sich mittlerweile 56 pädiatrische Pumpenzentren aus 16 Ländern zusammengeschlossen, um gemeinsam Daten von fast 1500 Kindern mit Insulinpumpentherapie auszuwerten. Bei der letzten Auswertung von über 1000 Kindern mit einem mittleren Alter von 12 Jahren und einer mittleren CSII-Therapiedauer von 2 Jahren wurde auch ein zentral gemessener HbA1c verglichen. Der HbA1c war dabei am Besten bei den Vorschul- (n=142; 7,5±0,9%) und Schulkindern (n=321; 7,7±1,0%) und erwartungsgemäß etwas höher bei Adoleszenten (n=578; 8,3±1,4%). Beim Auslesen des elektronischen Pumpenspeichers zeigte sich, dass die Kinder, die im Durchschnitt mehr als 7 tägliche Bolusgaben applizierten, einen signifikant besseren HbA1c – unabhängig von der Gesamtinsulindosis - hatten. Eine solche Häufigkeit von Bolusgaben lässt sich mit der Injektionstherapie in der Regel nicht umsetzen. Die Inzidenz schwerer Hypoglykämien und Ketoazidose war 6,6 und 6,3 Ereignissen pro 100 Patientenjahre für die Altersgruppe hingegen niedrig. Diese europäischen Ergebnisse belegen somit den Erfolg der Pumpentherapie für Kinder und Jugendliche eindrucksvoll und lassen für die Zukunft weitere Fortschritte erwarten. In einer Metaanalyse von 12 Studien wurden je 300 erwachsene Patienten mit Typ-1-Diabetes randomisiert, die entweder eine intensivierte Insulintherapie mit Mehrfachinjektionen oder mit Insulinpumpen durchführten. Dabei zeigte sich bei einer Beobachtungsdauer von 2,5–24 Monaten eine geringfügige, aber signifikante HbA1c-Verbesserung mit CSII von 0,5%. Von besonderer Bedeutung war neben der Senkung des HbA1c auch die in dieser Metaanalyse bestätigte Verminderung der Blutglukosevariabilität durch CSII. Wie in 7 Kap. 6 und 9 ausführlich dargestellt wurde, muss bei gleichem HbA1c-Wert von einem Einfluss der Blutglukoseschwankungen auf die Entwicklung von Folgeerkrankungen ausgegangen werden. In Analogie zu den Beobachtungen in der DCCT-Studie hat die CSII einen positiven Einfluss auf die langfristige Prognose des Typ-1Diabetes, der nicht nur von der durchschnittlichen Senkung des HbA1c-Wertes
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Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung
um 0,5% abhängt. Bislang liegt nur eine randomisierte Cross-over-Studie zum Vergleich von CSII und ICT bei israelischen Kindern vor. Während die Stoffwechselkontrolle und Hypoglykämierate in dieser Studie in beiden Therapiearmen vergleichbar war, zeigte sich bei den mit CSII behandelten Patienten ein besserer Gewichtsverlauf und eine signifikant höhere Therapiezufriedenheit. Kleinkinder im Vorschulalter scheinen wegen der besseren Steuerbarkeit der CSII durch die Betreuer von dieser Therapieform in besonderem Maße zu profitieren. Bei sehr jungen Patienten mit geringem Insulinbedarf ist die CSII wegen einer extremen Insulinsensitivität mit labiler Stoffwechsellage und häufigen nächtlichen Hypoglykämien eine wichtige Alternative zu anderen Therapieformen. Manche Gruppen setzen die Insulinpumpe mit Erfolg nur während der Nacht ein, während tagsüber eine intensivierte Insulintherapie mit Injektionen durchgeführt wird. Die nächtliche CSII führte zu besseren Blutglukosenüchternwerten und einem geringeren nächtlichen Hypoglykämierisiko. Grundsätzlich kann durch den Einsatz der CSII bei Jugendlichen eine erwünschte Gewichtsabnahme erreicht werden. Es bleibt jedoch das Risiko zu einer deutlichen Zunahme je nach Energiezufuhr und -verbrauch bestehen. ! Diese ermutigenden Ergebnisse mit der CSII konnten in Deutschland durch eigene Erfahrungen mit dem Einsatz von Insulinpumpen bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes bestätigt werden.
Indikationen und Voraussetzungen für die CSII bei Kindern und Jugendlichen ! Als Folge des wachsenden Interesses an der CSII wurde im April 2000 die Arbeitsgruppe »Insulinpumpentherapie im Kindes- und Jugendalter« (AG Pumpentherapie) unter dem Dach der Arbeitsgemeinschaft für Pädiatrische Diabetologie (AGPD) gegründet. Ziele der Arbeitsgruppe sind neben dem Erfahrungsaustausch und der Erfassung sowie Auswertung von Daten die Erarbeitung von Qualitätsstandards und Empfehlungen für die Therapie und Schulung.
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Erprobte Therapieziele und Indikationen für eine CSII im Kindes- und Jugendalter (nach Empfehlungen der AG Pumpentherapie) 5 Therapieziele – Vermeiden oder Verbessern eines schwer beeinflussbaren Dawn-/ DuskPhänomens – Vermeidung schwerer, nächtlicher und/oder rezidivierender, nicht verhaltensbedingter Hypoglykämien – Verbesserung einer labilen, unzureichenden Stoffwechseleinstellung und persistierenden Hyperglykämie 6
11.7 · Durchführung der Insulinpumpentherapie (CSII)
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– Flexibilität bei den Mahlzeiten (unvorhersehbares Ess- und Bewegungsverhalten) und bei unregelmäßigem Tagesablauf (Schule, Ausbildung) 5 Indikationen – Wenn nach Ausschöpfung aller zumutbaren Therapiemöglichkeiten keine befriedigende Stoffwechseleinstellung erreicht werden kann, u. a. Sonderfälle wie Insulinallergie, Lipoatrophien – Die streng normoglykämische Einstellung während der Schwangerschaft
! Es gibt heute keine spezifische Altersgruppe, bei der Gründe für oder gegen die CSII sprechen. Die CSII kann prinzipiell in jeder Altersgruppe zur Anwendung kommen, d. h. sowohl bei Jugendlichen, älteren und jüngeren Schulkindern als auch bei Kindern im Vorschulalter und bei Säuglingen.
Grundsätzlich würden die Autoren diese Therapieform z. B. bei allen Formen des neonatalen Diabetes mit substitutionsbedürftigem Insulinbedarf empfehlen. Wegen des sehr stark schwankenden Stoffwechsels bei Säuglingen und Kleinkindern sowie der großen Überwindung für die Eltern, die Insulininjektion mehrfach täglich bei ihren Kindern durchzuführen, gewinnt die CSII immer mehr an Bedeutung. Dies nicht zuletzt auch wegen der guten Stoffwechselergebnisse, die in dieser Altersgruppe nach Ende der Remissionsphase mit der CSII erzielt wurden. Dies gilt im Prinzip für alle Altersgruppen. Zunehmend stellt sich daher die Frage, ob bei Kindern und Jugendlichen nicht bereits unmittelbar nach Manifestation des Typ-1-Diabetes eine CSII eingesetzt werden sollte. Um die Indikation für eine CSII im Kindesalter zu stellen, ist allerdings eine langjährige diabetologische Therapieerfahrung erforderlich. Es muss immer wieder gefragt werden, ob der Patient selbst, seine Eltern oder aber das Diabetesteam die Pumpe wünscht. Mit illusionären Erwartungen an die CSII von Seiten des Patienten und der Familie muss schon vor Beginn der Pumpentherapie behutsam, aber sachlich relativierend umgegangen werden. Eine weitere sehr wichtige Voraussetzung ist das Beherrschen der Grundlagen der intensivierten Insulintherapie durch den Patienten selbst oder seine Eltern. Ohne eine verlässliche regelmäßige Blutglukoseselbstkontrolle (auch nachts) und Protokollierung und Beurteilung der Ergebnisse ist eine CSII nicht erfolgreich durchzuführen. Es muss die Bereitschaft für Blutglukosemessungen vor jeder Mahlzeit und vor dem Schlafengehen vorhanden sein. Auch nächtliche Blutglukosebestimmungen sollten mindestens 1- bis 2-mal pro Monat während der Schlafphase durchgeführt werden.
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Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung
Zusammenfassung Die CSII kannn grundsätzlich bei allen Kleinkindern, Kindern und Jugendlichen schon unmittelbar nach Manifestation des Diabetes erfolgreich zum Einsatz kommen. Allerdings dürfen keine unrealistisch große Hoffnungen hinsichtlich der Qualität der Stoffwechseleinstellung an sie gestellt wirden. Die CSII als »Ultima Ratio« aller therapeutischen Bemühungen bei Patienten anzusehen, die aus vielerlei Gründen als »uneinstellbar« gelten, ist sicher irreführend. Daher sollte auch die Indikation zur CSII bei psychischen oder sogar psychiatrischen Problemen (z. B. Essstörungen) besonders gründlich erwogen und verantwortungsvoll entschieden werden. Psychologische Faktoren spielen offensichtlich für den Erfolg einer CSII eine noch größere Rolle als bei der ICT.
Kontraindikationen und »Pumpenvertrag« Die Kontraindikationen für eine ICT unterscheiden sich bei Kindern und Jugendlichen kaum von denen bei Erwachsenen: 5 mangelhafte mentale Befähigung, 5 Unzuverlässigkeit, 5 fehlende Motivation, 5 depressive-suizidale Verhaltensweisen, 5 ein ungünstiges soziales Milieu, 5 Drogen- oder Alkoholprobleme. Die Verordnung einer CSII sollte in der Pädiatrie immer eine individuelle Entscheidung sein, die die Akzeptanz der Kinder und Eltern voraussetzt. Eine sehr wichtige Voraussetzung für die CSII ist das Beherrschen der ICT. Die Insulinpumpe ist ein technisches Gerät, das jederzeit ausfallen kann. Darum müssen die Patienten bzw. die Eltern zu jedem Zeitpunkt in der Lage sein, die Behandlung auf die ICT umzustellen. Auch wenn die Pumpe mehrere Tage lang abgelegt wird, muss sofort auf die ICT umgestellt werden können. Über die gegenseitigen Verpflichtungen bei CSII muss ein Einvernehmen zwischen dem Patienten, den Eltern, den Mitgliedern des Diabetesteams und dem behandelnden Arzt, hergestellt werden. Im Kinderkrankenhaus auf der Bult Hannover unterschreiben Arzt und Patient eine formelle Vereinbarung (. Abb. 11.10). In diesem »Pumpenvertrag« wird eine Probezeit mit der CSII vereinbart und die ständige Erreichbarkeit eines kompetenten Mitarbeiters des Diabetesteams zugesichert. Weiterhin werden die Umstände einer Kontaktaufnahme in Notfällen (z. B. bei einer ketoazidotischen Entgleisung) geregelt. Außerdem werden vereinbart:
11.7 · Durchführung der Insulinpumpentherapie (CSII)
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. Abb 11.10 Pumpenvereinbarung, die zwischen dem Patienten, seiner Familie und dem Arzt als Vertreter des Diabetes-Teams geschlossen wird
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Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung
5 individuelle Blutglukosekontrollen mit Vorgabe der Zahl und des Zeitpunktes
(mindestens 4 Messungen pro Tag; 3 vor den Hauptmahlzeiten und 1 vor dem Schlafengehen), 5 Erstellen von Blutglukosetagesprofilen (einmal pro Woche mit postprandialen Werten 2 h nach Bolusabruf sowie einer Nachtmessung gegen 2 Uhr alle 4 Wochen, anfangs alle 2 Wochen), 5 Notwendigkeit der Aufnahme von 1–2 KE, wenn ein nach 22 Uhr gemessener Blutglukose unter 100 mg/dl liegt. Weitere Inhalte sind die individualisierten Therapieziele (z. B. HbA1c <7,5%, Nüchternblutglukose: 80–100 mg/dl, mittlere Blutglukose: 80–160 mg/dl) und Hinweise auf die Möglichkeit einer Ketoazidose sowie deren Ursachen und die erforderlichen Maßnahmen zu ihrer Früherkennung und vorbeugenden Therapie. Zusammenfassung Die Insulinsubstitution mit modernen programmierbaren Pumpen (CSII) ist im Prinzip nicht schwieriger als eine ICT. Wegen der noch deutlicheren Trennung von Basal- und Prandialinsulinbedarf ist bei der CSII das Prinzip der differenzierten Prandial- und Basalinsulinsubstitution noch klarer erkennbar und darum auch einfacher umsetzbar. Ohne Zweifel können bei der CSII gleichmäßigere Insulinspiegel erreicht werden als mit der ICT. Die CSII kann daher mit Recht als die Therapieform bezeichnet werden, die physiologischen Insulinsekretion am nächsten kommt. Die CSII sollte daher nicht mehr als Ausnahmetherapie im Kindes- und Jugendalter angesehen werden. ICT und CSII haben sich bei Säuglingen, Kleinkindern, Kindern und Jugendlichen als gleichwertige Varianten der intensivierten Insulintherapie erwiesen, die heute unstrittig als die Therapie der Wahl bei Typ-1-Diabetes gilt.
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Kosten der CSII ! Das Problem der Kosten-Nutzen-Relation ist bei der CSII komplex, da die täglichen Behandlungskosten gegen die möglichen Einsparungen durch ein unter Umständen besseres Therapieergebnis aufgerechnet werden.
Bei einem Vergleich der Therapiekosten eines Tages mit einem Insulinbedarf von 40 I.E. pro Tag bei CSII und 50 I.E. pro Tag bei ICT wurden die laufenden Kosten einer ICT mit 6,22 Euro, die Kosten für eine CSII mit 11,72 bis 12,36 Euro pro Tag berechnet. Die laufenden Mehrkosten der CSII sind daher bei gleicher Anzahl von Blutglukosebestimmungen gegenüber der ICT mit 2.007,– bis 2.241,– Euro/Jahr anzusetzen, wobei die Katheter den größten Kostenfaktor
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ausmachen, denn die Kostenunterschiede zwischen den Pumpenmodellen sind in Deutschland bislang nicht wesentlich. Zusammenfassung Bei der CSII handelt es sich nach 25 Jahren Erfahrung um eine Therapie mit evidenzbasiertem Nutzen. Bei entsprechender Indikation (Typ-1-Diabetes im Kindesalter) sind die Mehrkosten für die CSII absolut gerechtfertigt. Der Einsatz der CSII darf daher keine Kostenfrage darstellen.
11.7.1 Praxis der Insulinpumpentherapie Bei der Durchführung der CSII müssen sehr viele theoretische und praktische Details beachtet werden. Zur Umstellung von ICT auf CSII sollten die Kinder und Jugendlichen stationär in eine Kinderklinik mit diabetologisch-qualifiziertem Personal aufgenommen, umgestellt und geschult werden. Auswahl der Insulinpumpe ! Die Wahl der jeweiligen Insulinpumpe hängt in erster Linie von der Erfahrung des behandelnden Arztes und der Mitarbeiter des Diabetesteams ab. Sie sollte aber grundsätzlich nach eingehender Beratung durch den Patienten und seine Familie erfolgen.
Gegenwärtig werden in Deutschland im Kindesalter Insulinpumpen der Firmen Medtronic (www.medtronic.ch/CH/de/patients/diabete/paradigm.html), Roche (www.accu-chek.de/infusion/de/content/accu_chek_produkte/infusions_systeme/spirit.html bzw. www.accu-chek.de/infusion/de/content/accu_chek_produkte/infusions_systeme/d_tronplus.html ), Smith Medical (www.cozmoinfo. com) und Animas (www.animascorp.com/products/pr_ir1250_1.shtml) eingesetzt (. Abb. 11.11 a-d). Wegen der für die Beratung außerordentlich wichtigen Auslesbarkeit des Pumpenspeichers während der Sprechstunde empfehlen die Autoren gegenwärtig nur Insulinpumpenmodelle, die einen Ausdruck der durchgeführten Insulintherapie mit einer übersichtlichen Darstellung der programmierten Basalraten, der Anzahl der täglichen Bolusgaben und der durchschnittlich verabreichten Basal- und Bolusinsulindosis ermöglichen. Für manche Patienten ist die Möglichkeit, übliche Penkartuschen mit LysPro-Insulin der Fa. Lilly ohne weiteres Aufziehen einzusetzen, ein Vorteil (z.B. D-Tron+, Accucheck Spirit). Für kleinere Kinder haben Modelle mit geringerer Größe Vorteile; allerdings gehen diese mit einer kleineren Reservoirgröße [z.B. von 176 I.E. U-100-Insulin (1.76 ml)] einher. Andere Funktionen wie die Alarmfunktion bei vergessenen
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. Abb. 11.11 Beispiele für Insulinpumpen: a Accu-Check spirit (Fa. Roche), b Cozmo (Fa. Smiths Medical), c Animas. (Fa. Animas), d Paradigm (Fa. Medtronic Minimed), bei dieser Pumpe werden kontinuierlich subcutan gemessene Glucosewerte direct über einen Transmitter an die Pumpe übertragen und können zur Berechnung einer Korrektur- oder Prandialdosis ohne wieter Eingabe verwendet wirden. Dieses System wird ca. Anfang 2007 kommerziell in Deutschland erhältlich sein
Bolusgaben (z.B. COZMO Insulinpumpe, Fa. Smith Medical), verschiedenene Formen der Bolusgabe (z.B. „verzögerter Bolus“, „dual-wave bolus“) sind bei einzelnen Pumpenmodellen vorhanden. Einige Pumpen haben Bolusberechnungsprogramme (z.B. „Bolus-Expert“, Fa. Medtronic). Mit Hilfe einer vom Patienten eingegebenen Kohlenhydratmenge macht die Pumpe aus dem übertragenen oder eingegebenen Blutgluko-
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sewert und den eingestellten Algorithmen zur Berechnung des Bolusinsulins einen Vorschlag für den kombinierten Mahlzeiten- und Korrekturbolus. Bei den neueren Modellen ist es möglich, individuell die Insulinwirkungskurven einzuprogrammieren, so dass eine Berücksichtigung des noch verbliebenen Insulins der vorangegangen Bolusgabe („Insulin an Bord“ oder „aktives Insulin“) möglich ist. Natürlich muss der Pumpenpatient bei der Verwendung eines Bolusberechnungs-Programms fähig sein, eine Fehlfunktion des Bolusberechnungs-Programms durch regelmäßige kritische selbständige Überprüfung der Bolusvorschläge des Programms zu erkennen. Während die Bolusberechnungsprogramme ohne eine flexible Einstellung der Insulinwirksamkeit in unseren Händen für die Päödiatrie in der Regel keinen Nutzen hatten, erlauben diese neueren Programme sehr nützliche Empfehlungen. Aussagekräftige Studien, ob damit eine Vereinfachung der Bolusgabe und eine Reduktion von Fehleingaben aufgrund von Rechenfehlern bei Kindern und Jugendlichen erreicht werden kann, stehen aus. Die heutigen Insulinpumpen verfügen über ein gutes Sicherheitssystem. Wenn ein Fehler auftritt, weist die Pumpe sofort darauf hin. Das erfolgt in Form von Alarmtönen und/oder einer Vibration. Die Töne werden zunehmend stärker, bis man darauf reagiert und den Alarm bestätigt. Viele unabhängige Sicherheitssysteme überwachen ständig alle ihre Funktionen. Aufgrund der guten Sicherheitssysteme kommt es heute nur sehr selten zu technischen Problemen mit der Insulinpumpe. Die Fa. Roche bietet ein ZweiPumpen-System an, d. h. der Patient erhält zwei Pumpen und kann jede Pumpe abwechselnd alle zwei Jahre zur Überprüfung einschicken. Bei der Fa. Medtronic erhält man eine zweite Pumpe, wenn man z. B. in den Urlaub fahren möchte oder die erste Pumpe defekt ist. Zusammenfassung Bislang sind den Autoren keine Gefährdungen von Kindern und Jugendlichen während der CSII durch einen technischen Defekt mit den Pumpen der neueren Generation bekannt geworden.
Pumpeninsuline und Insulinkonzentration In einer Insulinpumpe können zwei Sorten Insulin verwendet werden, Normalinsuline und schnellwirkende Insulinanaloga. Es gibt speziell für die Pumpe hergestellte Normalinsuline, z. B. das Insuman Infusat der Fa. Aventis und das Actrapid PP der Fa. Novo Nordisk. Bei den schnellwirkenden Insulinanaloga stehen zzt. das Insulin Lispro (Humalog, Fa. Lilly), das Insulin Aspart (NovoRapid, Fa. Novo Nordisk) und das Insulin Glulisin (Apidra, Fa. Aventis) zur Verfügung. Dabei haben die Insulinanaloga neben den bekannten Vorteilen des
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fehlenden Abstandes zwischen Bolusgabe und Essen auch die Möglichkeit der häufigeren und schnelleren Abgabe eines Korrekturbolus, ohne das eine Überlappung der Insulinwirkung zu befürchten ist. Auch Bolusgaben während oder nach dem Essen sind ggf. möglich. Demgegenüber ist bei Normalinsulin häufig ein Abstand zwischen Bolus und Essen nötig (15–30 min). Die Korrektur des Blutglukosewertes dauert länger und eine verzögerte Wirkung bei hohen Dosen macht die Gefahr der überlappenden Wirkung hintereinander gegebener Bolusdosen wahrscheinlicher. Ein Nachteil des Analoginsulins ist die raschere Entwicklung eines Insulinmangelzustandes (z. B. beim Schwimmen oder bei Katheterverschluss). Wenn die Pumpe mit einem Insulinanalogon gefüllt ist, kann sie höchstens 2 h lang abgelegt werden. Bei Normalinsulin wird wegen der längeren Wirkungsdauer mit einem Bolus auch eine Zwischenmahlzeit mit abgedeckt, sodass die Pumpe bis zu 4 h abgelegt werden kann. In einer Metaanalyse verschiedener Studien zum Vergleich von Normalinsulin und einem Insulinanalogon bei der CSII zeigte sich ein signifikanter Vorteil der schnellwirksamen Analoga. Da Stoffwechselschwankungen bei Kindern besonders ausgeprägt sind, verwenden die Autoren bei der CSII daher ausschließlich schnellwirkende Insulinanaloga. Es liegen wenige Einzelbeobachtungen einer Katheterobstruktion durch Insulinpräzipitation mit Insulin LysPro vor, die unter Insulin Aspart nicht beobachtet wurden. Da sonst jedoch keine grundsätzlichen systematischen Unterschiede zwischen Insulin LysPro und Aspart bekannt sind, setzen die Autoren beide kurzwirksamen Insulinanaloga in gleichem Umfang ein. Bei sehr niedriger Basalrate von z. B. 0,1 I.E./h ist es bei U-100-Konzentration möglich, dass der Katheter schneller verstopft als bei niedriger konzentriertem Insulin. Ein Okklusionsalarm tritt erst nach 2–4 I.E. maximal nach 8 I.E. auf. Das kann u. U. bei einer sehr niedrigen Basalrate mehrere Stunden dauern. Grundsätzlich kann mit Hilfe eines insulinfreien Mediums eine Insulinverdünnung hergestellt werden (7 Kap. 7). Da dieses Verfahren sehr aufwendig ist, verwenden die Autoren nur noch in Ausnahmefällen bei sehr geringem Insulinbedarf (<0,1 I.E./h) ein auf die Konzentration U 40 oder U 50 verdünntes Insulin. Auswahl der Insulinpumpenkatheter Von den Firmen wird eine Vielzahl von Katheterarten angeboten. Sie unterscheiden sich in der Länge des Katheters und der Kanüle, in der Abkoppelbarkeit und in der Beschaffenheit der Kanüle. Für Kinder und Jugendliche sind in erster Linie abkoppelbare Katheter (. Abb. 11.12a-d) geeignet. Die Fa. Medtronic bietet 60, 80 und 110 cm lange Katheter mit einer Kanülenlänge von 6, 8, 9 und 10 mm an. Es gibt Stahlkanülen mit und ohne Flügel sowie Kunststoffkanülen. Die Fa. Roche bietet Katheter mit 20–110 cm und Kanülen mit 6, 8, 10 und 12 mm Länge an. Auch hier gibt es Stahl- und Kunststoffkanülen. Es sind abkoppelbare- und nichtabkoppelbare Katheter erhältlich.
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. Abb. 11.12a–d Abkoppelbare Katheter zur Insulinpumpentherapie: Katheter Accu-Chek Rapid-D, Stahlkanüle (a); Katheter Accu-Chek TenderLink, Kunstoffkanüle (b); Katheter Minimed Quick-Set, Kunstoffkanüle (c); Katheter Minimed Easy Set, Stahlkanüle (d)
Die Kanülenlängen sind von großer praktischer Bedeutung. Kinder haben im Vergleich zu Erwachsenen wesentlich weniger Unterhautfettgewebe. Die Kanülenlänge beträgt daher in den meisten Fällen 6 oder 8 mm. Bei häufigen Katheterproblemen und unbefriedigendem Ergebnis der CSII sollte man bei älteren Kindern durchaus längere Katheterkanülen ausprobieren. In der Pädiatrie werden meist Kunststoffkanülen verwendet, da Kinder häufig Angst vor einer »Nadel im Bauch« haben. Allerdings scheinen bei Stahlkanülen die Katheterprobleme seltener zu sein. Auch die Katheterlänge ist zu beachten. Wenn die Kinder die Pumpe z. B. auf dem Rücken in einem speziellen Rucksack tragen möchten, muss der Katheter länger sein, als wenn sie die Pumpe am Gürtel tragen. Im Zweifelsfall sollten einfach verschiedene Längen ausprobiert werden. Der Katheter darf nie um die Pumpe gewickelt werden, wenn er zu lang ist. Der Katheter kann abknicken und beschädigt werden. Es sollte immer eine kürzere Schlauchlänge gewählt werden.
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Empfehlenswert ist es, eine Entlastungsschleife zu kleben, damit der Katheter nicht akzidentell herausgezogen werden kann. Die Katheter bestehen heute nicht mehr aus PVC-Materialien, sondern aus Polyethylen, Polyolefin und Polyuretan. Das Innenvolumen der Katheter hat im Gegensatz zu früher abgenommen. Ein 80 cm langer Schlauch nimmt ca. 8 I.E. U-100- bzw. 3 I.E. U-40-Insulin auf. Obwohl eine unveränderte Insulin-Pharmakokinetik bei konstanter subkutaner Katheterlage bis zu 4 Tagen beschrieben wurde, empfehlen die Autoren, den Katheter alle 1–3 Tage zu wechseln, um eine gute Insulinwirkung zu gewährleisten und Lipohypertrophien und Hautinfektionen zu vermeiden. Je nach Alter und persönlichen Vorlieben gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten, die Insulinpumpe auf mehr oder weniger diskrete Art und Weise zu tragen (. Abb. 11.13). Man sollte beim Beratungsgespräch über den Einsatz der CSII nicht unterschätzen, dass der beim Patienten vorliegende Insulinmangel durch das Tragen der Insulinpumpe demaskiert wird und als nun »sichtbarer Makel« empfunden werden kann. Besonders für Jugendliche ist daher die eingehende Erörterung der verschiedenen Möglichkeiten, wie die Pumpe diskret getragen werden kann, von großer praktischer Bedeutung. Es gibt eine große Auswahl von Pumpenzubehör, das durch die Pumpenhersteller, aber auch durch andere Firmen angeboten wird. Legen des Pumpenkatheters Beim Legen des Katheters ist Sauberkeit zur Vermeidung von Hautproblemen obligatorisch. Daher müssen die steril verpackten Katheter, Spritzampullen usw. mit sauberen Händen angefasst und auf einer sauberen Unterlage bereitgestellt werden. Als Kathetereinstichstellen kommen der Bauch, die Hüfte, in Einzelfällen auch der Oberschenkel in Frage. Man sollte vermeiden, die Querfalten am Bauch, die beim Bücken entstehen, oder andere mögliche Druckstellen (z. B. unter dem Gürtel) sowie Narben und lipohypertrophische bzw. entzündlich veränderte Hautbezirke zum Katheterlegen zu benutzen. Die Einstichstelle sollte mit Alkoholspray oder Alkoholtupfern gereinigt werden, wobei die Einwirkzeit von 1–2 min eingehalten und die Stelle nicht abgewischt oder trockengerieben werden sollte. Bei Kindern und Jugendlichen, die zu Hautinfektionen neigen, kann die Kanüle am oberen Ende (nicht jedoch an der Kanülenspitze) mit einer geringen Menge einer bakteriziden Salbe, z. B. Betaisodona, Braunovidon oder Frekacid, benetzt werden. Das wird jedoch nicht routinemäßig empfohlen. Wie bei der Injektionstherapie muss die Einstichstelle bei jedem Katheterwechsel gewechselt werden. Es sollten mindestens 1,5 cm oder 2 Finger breit Abstand zur letzten Einsstichstelle gelassen werden. Bei der CSII ist es besonders wichtig, die Injektionsstellen regelmäßig zu wechseln. Der Katheter bleibt lange Zeit in der Haut liegen und das gesamte Insulin fließt an eine Stelle in der
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. Abb. 11.13 Verschiedene Möglichkeiten, eine Pumpe zu tragen
Subkutis. Es wird daher empfohlen, den Katheter alle zwei Tage zu wechseln. Sind Lipohypertrophien vorhanden, sollten diese Areale für die CSII konseqent gemieden werden. Um Veränderungen der Haut zu vermeiden, ist die regelmäßige Inspektion der Injektionsstellen durch den Patienten (oder seine Eltern) sowie durch die Mitglieder des Diabetesteams unerlässlich.
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Der Katheter muss vollständig und luftblasenfrei mit Insulin gefüllt werden. Gelangt eine Luftblase aus der Ampulle in den Katheter, wird sie in Richtung Kanüle vorgeschoben. Während dieser Zeit, in der die Luftblase abgegeben wird, gelangt kein Insulin in die Subkutis, sodass die Blutglukose ansteigt. Luft im Katheter oder Insulinreservoir entsteht, wenn durch die Erwärmung kalter Flüssigkeit gelöste Luft »ausgast«. Es empfiehlt sich daher, die vorgefüllte Ampulle oder das Insulinfläschchen, aus dem die Ampulle gefüllt wird, immer vor dem Einsetzen in die Pumpe einige Stunden bis Tage bei Zimmertemperatur aufzubewahren. Das gefüllte Reservoir oder die Ampulle sollte vor dem Einsatz mindestens 15 min lang fest in einer Hand gehalten werden, damit rasch die richtige Temperatur erreicht wird. Das Insulin muss langsam in Leerampullen bzw. Reservoire aufgezogen werden. Eventuelle Luftblasen beim Katheterwechsel können durch senkrechtes Hinstellen der Insulinpumpe und Starten des Katheter-Füllprogramms entfernt werden. Der Katheter wird zusammen mit der Entlastungsschleife mit Hilfe einer transparenten Folie oder einem hautschonenden Pflaster auf der Haut fixiert. Praktisch sind Katheter mit selbsthaftender Rondelle. Bei ausgeprägter Reaktion auf das Katheterpflastermaterial kann versucht werden, zunächst eine hautverträgliche Folie (z. B. Tegaderm) oder Sprühpflaster auf der Haut zu fixieren, anschließend die Kanüle durch die Folie zu stecken und auf ihr zu befestigen. Bei Beginn der CSII oder bei ihrer Fortsetzung nach mehrstündiger Unterbrechung sollte nach Einstecken der Kanüle ein kleiner Bolus (z. B. 0,5 I.E.) abgegeben werden. Einige Patienten haben gute Erfahrungen damit gemacht, vor dem Einstechen der Kanüle einen kleinen Bolus (0,5–1,0 I.E.) abzurufen und die Kanüle während der Bolusabgabe unter die Haut zu stechen. Das hat einen doppelten Effekt. Zum einen vermeidet man, dass kleine Hautpartikel die Kanüle verstopfen, zum anderen wirkt das Insulin wie ein Schmiermittel und der Einstich ist angeblich sanfter. Eine Übersicht über Katheterprobleme und ihre Vermeidung zeigt . Tabelle 11.6.
14 Vorkommnisse, bei denen der Katheter sofort gewechselt werden sollte 15 16 17
5 Stetiges Jucken, Brennen oder Schmerzen an der Einstichstelle 5 Schwellung oder Rötung der Einstichstelle, Verhärtungen oder Knoten um die Einstichstelle 5 Insulin läuft außen am Katheter zurück (Rondelle bzw. Flügel sind feucht) 5 Risse oder Löcher im Katheter, die mit dem bloßen Auge selten sichtbar sind, aber sich durch die Feststellung von Feuchtigkeit äußern 5 Unerklärlichen Blutglukoseerhöhungen mit Verdacht auf verstopften Katheter (7 unten)
11.7 · Durchführung der Insulinpumpentherapie (CSII)
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. Tabelle 11.6 Katheterprobleme, Ursachen und Vermeidung (Nach Renner et al. 2002) Problem
Ursache
Empfehlung
Brennen bei der Bolusgabe oder Hautquaddeln an der Einstichstelle
Kanüle liegt zu flach
Kanüle unter einem größeren Winkel einstechen
Dumpfer oder brennender Schmerz bei Bolusgabe
Kanüle steckt im entzündlichen Gewebe zu lange an einer Stelle falsche Einstichstelle (Hosenbund, Hautfalte)
Einstichstelle regelmäßig wechseln, Kanüle täglich umstecken
Blut im Katheter
Sehr niedrige Basalrate Kanüle steckt in kleinem Blutgefäß Kanüle liegt zu tief
Problemlos, wenn keine Blutglukoseerhöhung, Insulin kann durch Proteasen inaktiviert werden, deshalb Katheter freispülen oder wechseln Einstichstelle wechseln
Mangelnde Insulinwirkung
Liegedauer der Kanüle zu lange Kanüle liegt an ungeeigneter Stelle
Kanüle täglich umstecken oder Katheter alle zwei Tage wechseln, ungeeignete Stellen meiden
Berechnung des Insulintagesbedarfes beim Übergang von ICT auf CSII ! Der Insulintagesbedarf der Pumpenbehandlung hängt vom Insulintagesbedarf der vorausgehenden ICT und der Qualität der Diabeteseinstellung unter der ICT ab. Wie bei der Injektionstherapie steigt der Insulinbedarf mit der Diabetesdauer an und ist am höchsten während der Pubertät.
Bei Verwendung von Normalinsulin als Pumpeninsulin zieht man bei Kindern mit guter Stoffwechseleinstellung und niedriger Hypoglykämieinzidenz unter vorausgegangener ICT etwa 10% der Insulindosis ab, bei häufigen Hypoglykämien bis zu 20%. Je höher die Insulindosis unter ICT war (in I.E./kg KG), desto ausgeprägter ist im Allgemeinen die prozentuale Verringerung der Gesamtdosis für die CSII. Nach unserer Erfahrung empfiehlt es sich, bei der Verwendung von Insulinanaloga die Insulindosis nicht zu reduzieren, sondern dosisgleich umzustellen. Allerdings sollten nachts regelmäßige Blutglukosemessungen durchgeführt werden.
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Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung
Festlegen der Basalrate Die Basalrate reguliert den nahrungsunabhängigen Insulinbedarf. Wie bei der ICT entfallen 30–40% der Insulintagesdosis auf die Basalrate. Die richtige Wahl der Basalratendosis erkennt man daran, dass jede Nahrungszufuhr (auch eine Zwischenmahlzeit!) einen Bolus erfordert. Die gesamte Basalrate wird entsprechend dem physiologischen zirkadianen Insulinbedarf in stündliche Basalraten aufgeteilt. Dabei ist die zirkadiane Verteilung der Basalrate über den Tag sehr stark vom Alter abhängig. Die maximale Basalrate liegt bei den präpubertären Kindern in den späten Abendstunden (zwischen 21 und 24 Uhr). Dagegen ist sie bei den pubertären Kindern in der Zeit von 3–9 Uhr und von 21–24 Uhr am höchsten (. Abb. 11.14). Manche Kinderdiabetologen programmieren bei kleinen Kindern, die nicht selbst die Pumpe bedienen können, die Prandialrate für Mahlzeiten, die zu gleichen Zeitpunkten eingenommen werden (z. B. das Frühstück im Kindergarten), in die Basalrate mit ein. Zur einfachen Programmierung gibt es eine Basalratenermittlungshilfe, den sog. Basalratenschieber. Er ist für die individuelle Errechnung des Basalinsulins entwickelt worden, für Kleinkinder, Kinder und Jugendliche in Abhängigkeit vom Körpergewicht (nach Klinkert und Holl, erhältlich durch die Fa. Roche), für Erwachsene in Abhängigkeit vom Insulinbedarf (. Tabelle 11.7). Das Körpergewicht bzw. die Insulindosis des Patienten werden auf dem Schieber eingestellt, sodass in einem Fenster die stündliche Basalrate abgelesen werden kann.
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. Abb. 11.14 Mittlere Basalraten bei 371 Kindern verschiedener Altersgruppen der Pedpumps-Studiengruppe
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Die Zwischenmahlzeit am Vormittag sollte anfangs wie bei der ICT beibehalten werden, später kann sie evtl. entfallen. Wenn zum Frühstück eine hohe Insulindosis erforderlich ist, sollte für die Zwischenmahlzeit am Vormittag eine relativ niedrige Insulindosis gewählt werden (z. B. 0,5 I.E. für 2 KE). Bis zur Dosisfindung der Tagesbasalrate sollte keine Zwischenmahlzeit am Nachmittag eingenommen werden. Bei der Korrektur der Basalrate wird die Dosis nicht erst in der Stunde verändert, in der eine Hypo- oder Hyperglykämie aufgetreten ist, sondern schon ca. 1–2 h vorher. Das ergibt sich aus den Wirkungsprofilen der verwendeten Insuline. Wie bei der subkutanen Insulininjektion kann man bei schnell wirkendem Insulinanalogon in der Pumpe von einem Wirkungsmaximum etwa 1 h nach Infusion und einem Wirkungsende nach 2 h ausgehen. Verwendet man Normalinsulin, so ist mit einem Wirkungsmaximum nach 2 h und einem Wirkungsende nach 4–6 h zu rechnen. Dementsprechend sollte die Korrektur der Basalrate zeitlich versetzt vorgenommen werden. Ebenso wichtig ist die Unterscheidung, ob die Hypo- bzw. Hyperglykämie durch Basal- oder Prandialinsulin ausgelöst wurde. Zur Überprüfung der Basalrate können Auslassversuche einzelner Mahlzeiten durchgeführt werden (Basalratentest). Ein ganztägiger Auslassversuch kann aufgrund der eintretenden Insulinresistenzentwicklung nicht empfohlen werden. Es ist daher ratsam, zunächst das Mittag- oder Abendessen und erst später das Frühstück wegzulassen. Die Autoren führen die Basalratentests an drei aufeinanderfolgenden Tagen durch. Es wird an jedem Tag eine Hauptmahlzeit und die darauf folgende Zwischenmahlzeit ausgelassen. In dieser Zeit ist es den Kindern nur erlaubt, kohlenhydratfreie Nahrungsmittel zu sich zu nehmen. Es sollte allerdings auf extrem fett- und eiweißhaltige Nahrungsmittel verzichtet werden. Die Veränderung der Basalrate wird gemeinsam mit den Patienten und evtl. den Eltern besprochen und erläutert. Anschließend erfolgt die praktische Umsetzung an der Pumpe. Auf diese Weise werden Kinder und Eltern von Anfang an an das selbständige Praktizieren der CSII herangeführt, damit sie später zu Hause Veränderungen selbstständig vornehmen können. Änderungen der Basalrate sollten nicht punktuell, d. h. nur für die Dauer einer Stunde, sondern über größere Zeitabschnitte programmiert werden. Sie sollten prozentual in Schritten von 10–20% bezogen auf die programmierte Basalrate im Zeitabschnitt erfolgen (sofern es nicht zu Entgleisungen gekommen ist). Der Insulinbedarf kann sich vorübergehend ändern. Das macht eine temporäre Änderung der Basalrate erforderlich.
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. Tabelle 11.7 Verteilung der Basalrate entsprechend des zirkadianen Insulinbedarfs bei Erwachsenen mit Typ-1-Diabetes nach Renner et al. (2002) Beispielhaft ist eine Verteilung einer üblichen Basalrate von 22 I.E./Tag (Raster) herausgehoben. Demnach erhält der Patient um 6: 00 mit 1.8 I.E./h die höchste und zwischen Mitternacht und 2: 00 morgens mit 0.5 I.E./h die geringste Basalrate
280 Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung
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. Tabelle 11.7 (Fortsetzung)
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Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung
! Ein erhöhter Insulinbedarf tritt auf: 5 bei Infekten, 5 bei anderen fieberhaften Erkrankungen, 5 bei verminderter körperlicher Aktivität (Bettlägrigkeit), 5 bei einigen Medikamenten (z. B. Kortikoide, orale Kontrazeptiva, Saluretika), 5 im Rahmen des Menstruationszyklus (wobei allerdings zu betonen ist, dass die prämenstruelle Insulinresistenz sehr unterschiedlich ausgeprägt sein kann). In diesen Fällen wird die Basalrate prozentual angehoben. Ein verminderter Insulinbedarf tritt auf: 5 bei erhöhter körperlicher Aktivität und beim Sport, 5 bei einigen Medikamenten (z. B. ACE-Hemmern, Salizylaten). In diesen Fällen wird die Basalrate prozentual vermindert.
Bei verschiedenen Pumpenmodellen kann die Basalrate für einige Stunden erhöht oder gesenkt werden, ohne dass die Basalrate umprogrammiert werden muss. Bei anderen Pumpenmodellen können alternative Basalraten, z. B. für Tage mit besonderer körperlicher Belastung (z. B. Fußballtraining), eingegeben werden. Nach der Einstellungsphase bzw. bei verändertem Lebensrhythmus kann sich die Insulinempfindlichkeit ändern. Deshalb sind engmaschige Blutglukosekontrollen auch nach der Einstellphase noch einige Wochen notwendig; ggf. muss die Basalrate geändert werden. Zusammenfassung Nächtliche Blutglukosekontrollen sind die unverzichtbare Voraussetzung für eine Änderung des Blutglukose-Nachtprofils. Es ist anzustreben, dass alle Werte möglichst über100 mg/dl liegen. Am Wichtigsten ist die Blutglukosemessung gegen 2 Uhr nachts. Während der stationären Einstellungsphase muss das Nachtprofil regelmäßig gemessen werden. Zu Hause sollte die 2-Uhr-Messung anfangs etwa alle 2, später alle 4 Wochen während der Schlafphase durchgeführt werden.
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Berechnung des Prandialinsulins Die Prandialinsulinboli sind wie bei der Injektionsbehandlung von der Tageszeit und den vorgesehenen KE abhängig. Wie bei der ICT (7 unten, . Abb. 11.18) wird auch für die CSII ein Anpassungsplan erstellt (. Abb. 11.14). Um das Bolusinsulin festzulegen, werden zunächst die Standard-Kohlenhydrateinheiten (KE) der üblichen Mahlzeiten und die Standarddosis Mahlzeiteninsulin unter ICT erfragt. Daraus wird der jeweilige Insulin-KE-Quotient errechnet. Die
11.7 · Durchführung der Insulinpumpentherapie (CSII)
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11
Kohlenhydrate werden auf 3 Hauptmahlzeiten und 3 Zwischenmahlzeiten verteilt. Es ist am Anfang günstig, eine »feste« KE-Verteilung zu haben, damit die Wirkung des Bolus- bzw. Mahlzeiteninsulins nicht durch Überschneidungen mit der des Insulins verfälscht wird, das bei zusätzlicher Nahrungsaufnahme injiziert werden muss. Später können die Kinder ihre KE-Mengen und deren Verteilung selbst festlegen. Im Allgemeinen ist der Insulin-KE-Quotient bei der ICT im Vergleich zur CSII frühmorgens deutlich größer, mittags vergleichbar und abends wieder größer. Das Insulin (bei Verwendung schnellwirkender Insulinanaloga) wird bei Blutglukosewerten <80 mg/dl direkt nach dem Essen, bei Werten zwischen 80 und 160 mg/dl direkt vor dem Essen und bei einem Wert >160 mg/dl 10 min vor dem Essen abgegeben. Bei sehr jungen Kindern ist es möglich, das Insulin generell nach dem Essen abzugeben, damit die richtige Prandialinsulindosis entsprechend der tatsächlich eingenommenen Kohlenhydratmenge herausgefunden werden kann. Bei einem richtigen Mahlzeitenbolus bleiben die physiologischen Blutglukoseschwankungen erhalten, d. h. die Blutglukosewerte liegen 2 h nach der Mahlzeit ca. 30 mg/dl über dem Ausgangswert und 4 h nach der Mahlzeit auf der Höhe des Ausgangswertes. ! Jede Haupt- und Zwischenmahlzeit erfordert einen Bolus – anderenfalls ist die Basalrate zu hoch.
Der von der Tageszeit abhängige Insulin-KE-Quotient ist bis zu einer Kohlenhydrataufnahme von ca. 5 KE konstant. Bei höheren KE-Mengen ist der Bolus etwas niedriger als der mit Hilfe des vorgegebenen Insulin-KE-Quotienten berechnete. Berechnung des Korrekturinsulins Für eine gute Einstellung ist es nötig, die Blutglukosewerte immer im normnahen Bereich (80–120 mg/dl) zu halten. Für jede Tageszeit wird daher der sog. Korrekturfaktor, entsprechend dem Zirkadianrhythmus, festgelegt. Der Korrekturfaktor bezeichnet das Ausmaß der Blutglukosesenkung nach Gabe von 1 I. E. Normalinsulin. Mit dem Korrekturbolus wird ein erhöhter Blutglukosewert korrigiert. Die Größe des Korrekturbolus ist von der Insulinempfindlichkeit und der vorgesehenen Blutglukosesenkung abhängig, d. h. der Differenz zwischen aktuellem Blutglukosewert und Blutglukosezielwert. Wie auch bei ICT wird als Zielwert tagsüber eine Blutglukosekonzentration von 100 mg/dl und nachts von 140 mg/dl angestrebt. Bei Kindern unter 6 Jahren sollten die Zielwerte etwas höher liegen, um die Hypoglykämiegefahr, die sie häufig selbstständig nicht erkennen, zu vermindern (7 auch Kap. 13).
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Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung
Die Blutglukose sollte nicht öfter als alle 2 h (bei Verwendung von Normalinsulin nicht öfter als alle 4 h) auf den Zielwert korrigiert werden, da es sonst zu Wirkungsüberschneidungen kommen kann. Für den Fall, dass 3 h nach Gabe eines Korrekturbolus die Blutglukosewerte nur unwesentlich niedriger liegen oder sogar noch weiter angestiegen sind, muss die nächste Korrektur mit einer Spritze oder mit einem Pen (mit Normalinsulin) durchgeführt werden. Der Katheter und/oder die Ampulle sind anschließend zu wechseln (7 unten bei Ketoazidoseprävention; . Abb. 11.16). Der Korrekturfaktor muss immer wieder überprüft und evtl. verändert werden. Bei langfristig guter Einstellung ist er z. B. erhöht, bei Gewichtszunahme und anderen Ursachen für eine relative Insulinresistenz ist er vermindert. Um die zirkadianen Einflüsse auf die Basalinsulindosis und den Prandial- bzw. Korrekturbolus einfach zu ermitteln, wurde für die CSII ein Protokollbogen entwickelt, der dem Prinzip des Zirkadianrhythmus der Insulinwirkung Rechnung trägt (. Abb. 11.15).
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9 10 11 12 13 14 15 16 17 . Abb. 11.15 Insulindosierungsbogen für die CSII im Kinderkrankenhaus auf der Bult, Hannover
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. Abb. 11.16 Verhalten bei Hyperglykämie: Einfaches Schema zur Ketoazidoseprävention bei Kindern und Jugendlichen. BG Blutglukosewert
Insulinpumpen-Schulungsprogramm für Kinder und Jugendliche Grundlage der Schulung sind die strukturierten Schulungsprogramme für Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes. Ergänzende Module im Sinne eines Insulinpumpen-Schulungsprogramms für Kinder und Jugendliche werden gegenwärtig von der AGPD entwickelt. Spezifische Inhalte der Insulinpumpen-Schulung 5 CSII
– – – – – –
Charakteristik, Indikationen und Vorzüge der CSII Technik und Handhabung der Insulinpumpe Vorbereiten, Füllen und Anlegen der Insulinpumpe Katheter und andere Verbrauchsmaterialien Anpassung der Insulindosis: Basalrate, Prandial- und Korrektur-bolus Hyperglykämie und Ketoazidose
5 Insulinpumpe und Alltag
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Eventuelle Änderungen der Prandialdosis und Basalrate Kindergarten, Schule, Sport, körperliche Aktivität Ablegen der Pumpe Urlaub und Reisen Erkrankungen, Krankenhausaufent-halte Bezug von Verbrauchsmaterialien, Teststreifen und Service (Reparaturen) Medizinische Ansprechpartner bei Schwierigkeiten mit der CSII
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Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung
Im Kinderkrankenhaus auf der Bult Hannover führt man gegenwärtig aus logistischen Gründen die Umstellung auf die CSII während eines etwa 5-tägigen stationären Aufenthaltes durch. Ergänzt wird das Programm durch eine 3-tägige ambulante Überprüfung der Einstellung mit dem Glukosesensor (CGMS, 7 Kap. 9). Die Schulungen finden mit zwei Patienten und deren Eltern statt. Die Kinder sollten möglichst im gleichen Alter sein. Sie werden am Montagmittag, meist mit einem Elternteil, aufgenommen. Dieser Termin hat sich bewährt, damit die Kinder und Eltern bis zum folgenden Wochenende die wichtigsten Insulinpumpenfunktionen und Regeln gelernt haben, um dann zu Hause praktische Erfahrungen zu sammeln. Nach einem gemeinsamen Mittagessen findet die erste Schulungsstunde statt. In der ersten Schulungseinheit wird ein allgemeiner Überblick über den Verlauf des Krankenhausaufenthaltes gegeben. Die Fastentage, der häusliche Test am Wochenende und die erforderlichen Maßnahmen nach der Entlassung werden besprochen. Anschließend berichten die Kinder, warum sie sich für die Pumpe entschieden haben und welche Verbesserungen sie sich davon versprechen. Die Diabetesberaterin gibt anschließend eine allgemeine Einführung in die CSII. Die Diabetesberaterin erläutert, 5 dass nur ein Insulin in der Pumpe ist, das die gesamte Zeit in einer gewissen Menge abgegeben wird, weiterhin 5 den Batteriebetrieb der Pumpe, 5 die Möglichkeiten des Tragens der Pumpe, 5 die Lage des Katheters, 5 den Katheterwechsel. Am Ende der Stunde erhalten die Kinder ihre Insulinpumpen und dürfen mit ihnen »herumspielen« und alles ausprobieren. Die Kinder und Eltern werden darauf hingewiesen, am nächsten Morgen nur Mahlzeiteninsulin aber kein Basalinsulin zu spritzen, da im Laufe des Vormittags die Pumpe angelegt wird. Das gleichzeitige Wirken des Basalinsulins am Morgen und der Basalrate der Pumpe könnte eine Hypoglykämie hervorrufen. In der zweiten Schulungseinheit wird zum ersten Mal der Katheter gelegt. Anschließend wird gemeinsam mit der Familie, die schon Erfahrungen mit der ICT gesammelt hat, die festgelegte Basalrate in die Pumpe einprogrammiert. Auch der Bolus für die Zwischenmahlzeit und eine evtl. Korrektur der Blutglukose wird gemeinsam besprochen und das Abkoppeln des Katheters gezeigt und geübt. Während der dritten Schulungseinheit wird der Katheter neu gelegt, um seine Handhabung zu üben. Die notwendigen Veränderungen der Basalrate werden eingegeben. Anschließend werden der neue Anpassungsplan und die Protokollführung besprochen. Es findet der erste Fastentag statt, d. h. das Abendessen
11.7 · Durchführung der Insulinpumpentherapie (CSII)
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und die Spätmahlzeit entfallen bzw. nur kohlenhydratfreie Nahrungsmittel sind erlaubt. Während der vierten Schulungseinheit wird wieder der Katheter gewechselt, die Basalrate geändert und der Fastentag besprochen. In dieser Stunde werden die Pumpenvereinbarung (. Abb. 11.10) und die Grundregeln der CSII mit den Kindern und Eltern besprochen. Auch das Vorgehen am Wochenende wird erörtert. Die Materialbestellungen werden vorbereitet und die Kinder suchen sich Taschen für die Pumpe aus. An diesem Tage entfällt das Mittag- und Nachmittagsessen. Während der fünften Schulungseinheit findet die Fastenzeit am Morgen statt. In dieser Stunde wird der Katheter nicht gewechselt, weil die Patienten es selbst zu Hause üben sollen. Die Basalraten werden geändert und die Materialien für zu Hause ausgegeben. Die Patienten werden am Wochenende bis Sonntagabend entlassen. In der sechsten Schulungseinheit werden das zurückliegende Wochenende besprochen und meist viele Fragen gestellt und beantwortet. Außerdem werden die Themen Hypoglykämie und Ketoazidose ausführlich erörtert. Besonders wird auf die Ursachen der Ketoazidose hingewiesen. Sondersituationen wie z. B. Krankheit, Kindergeburtstag und Sport stehen auf dem Programm. Es folgt ein wiederholter Wechsel des Katheters. Meist wird während der siebten Schulungseinheit die endgültige Entlassung vorbereitet. Ein Termin für die Anlage des Glukosesensors und ein Termin in der Diabetesambulanz (etwa zwei Wochen nach der initialen Schulungsphase) sind zu vereinbaren. Selbstverständlich haben die Eltern die Möglichkeit, rund um die Uhr einen kompetenten Ansprechpartner telefonisch zu erreichen. Prävention einer Ketoazidose bei CSII Bei der Insulinpumpenschulung und der weiteren ambulanten Betreuung von Patienten mit CSII kommt der Prävention der Ketoazidose eine besondere Bedeutung zu. Im Gegensatz zur ICT wird bei der CSII ausschließlich Normalbzw. kurzwirkendes Insulinanalogon verwendet, dagegen kein Verzögerungsinsulin. Ein Insulindepot befindet sich daher nicht in der Subkutis, sondern ausschließlich im Reservoir der Pumpe. Bei einer Unterbrechung der Insulinzufuhr durch die Pumpe kommt es sofort zu einem Insulinmangel. Bei der Verwendung von Insulinanaloga als Pumpeninsulin ist die Zeit bis zum Auftreten einer Ketoazidose noch kürzer als bei der von Normalinsulin (Reichel et al. 1998). Die Symptome der Ketoazidose bei CSII unterscheiden sich in einigen Aspekten von denen der normalen diabetischen Ketoazidose. Bei der Pumpentherapie entsteht eine Ketoazidose sehr oft nur wegen der Unterbrechung der Insulinzufuhr, also immer aus völliger Gesundheit heraus. Daher kommt es zu einem schnellen Wechsel von völligem Wohlbefinden zu ketoazidotischen Symptomen.
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Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung
Mögliche Ursachen einer Ketoazidose bei CSII 5 Gründe für die Unterbrechung der Insulinzufuhr – Herausziehen oder Herausrutschen der Kanüle – Leck im Kathetersystem – Katheterknick – Defekte Insulinampulle (z. B. Haarriss in der Glasampulle) – Undichte Verbindung zwischen Ampulle und Katheter – Ausfällung von Insulin im Katheter bzw. in der Kanüle 5 Erhöhter Insulinbedarf 5 Erkrankung (z. B. Infekte) 5 Medikamente (Kortikosteroide) 5 Verminderte Insulinwirkung 5 Entzündung an der Kathetereinstichstelle 5 Blutaustritt an der Kathetereinstichstelle 5 Zu lange Liegedauer des Katheters 5 Verwendung unwirksamen Insulins 5 Kanüle steckt in verhärtetem Gewebe
Besonders gefährdet in Bezug auf die Entwicklung einer Ketoazidose sind Patienten mit kurzer Diabetesdauer, geringer Insulinpumpenerfahrung, unregelmäßigen Blutglukoseselbstkontrollen und psychischen Problemen. Die mit Abstand wichtigste Ursache für das Auftreten einer Ketoazidose ist das langfristige Unterlassen der Blutglukoseselbstkontrolle. Die regelmäßige Durchführung der Blutzuckerkontrollen ist daher der sicherste Schutz vor dem Auftreten dieser lebensgefährlichen Stoffwechselentgleisung. Die Zeit zwischen auslösendem Faktor und ersten Symptomen kann unterschiedlich lange sein. Sie ist abhängig von folgenden Faktoren: 5 Höhe der Basalrate, 5 Tageszeit bei Beginn der Unterbrechung der Insulinzufuhr, 5 letzte Bolusgabe, 5 verwendete Insulinart.
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Ein wichtiger Aspekt zur Vermeidung einer Ketoazidose ist deren Thematisierung bei den Schulungen zur CSII. Ziel sollte sein, Symptome zu erkennen und die daraus notwendigen Handlungsschritte zu vermitteln. Hierfür wurde im Kinderkrankenhaus auf der Bult ein entsprechender Ketoazidoseplan entwickelt. Wenn ein Kind oder seine Eltern die speziellen Ketoazidosesymptome bemerken, sollte zunächst die Blutglukose gemessen werden. Liegt der Blutglukosewert über 250 mg/dl, muss unbedingt das Azeton im Urin oder im Blut
11.7 · Durchführung der Insulinpumpentherapie (CSII)
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11
getestet werden. Dann wird nach einem einfachen Schema Insulin injiziert (. Abb. 11.16). Manche Kinderdiabetologen empfehlen, die Insulinzufuhr im Rahmen der Schulung unter stationären Bedingungen zu unterbrechen, damit der Patient die Ketoazidoseentstehung unter Aufsicht am eigenen Körper erlebt. Dieses Vorgehen zur Ketoazidoseprävention ist jedoch umstritten. Wenn Azeton positiv ist, müssen die Patienten viel Flüssigkeit in Form von ungesüßten Getränken zu sich nehmen. Ist die Ursache der Entgleisung ein Magen-Darm-Infekt, so ist eine stationäre Aufnahme oft nicht zu umgehen. Kinder sind in einer solchen Situation meist nicht mehr in der Lage, ausreichend zu trinken. Wegen des Flüssigkeitsmangels entwickelt sich bei ihnen daher sehr schnell eine Ketoazidose. In diesem Fall muss zum frühest möglichen Zeitpunkt die intravenöse Flüssigkeitszufuhr erfolgen. Zusammenfassung Um den Patienten und den Eltern in schwierigen Situationen zur Seite zu stehen, ist es notwendig, eine 24-h-Rufbereitschaft durch erfahrene Kinderdiabetologen und Diabetesberater anzubieten. Es müssen kurzfristig Fragen beantwortet, Unklarheiten beseitigt und Ratschläge gegeben werden.
CSII und körperliche Aktivität Bei körperlicher Aktivität, z. B. Sport, steigt die Insulinempfindlichkeit der Muskulatur, sodass der Insulinbedarf geringer wird. Das hat sowohl Auswirkungen auf die Basal- als auch auf die Prandialrate des Insulins. Die Hinweise zum Verhalten vor Beginn der körperlichen Aktivität gleichen denen bei der ICT. So sollte der Blutglukoseausgangswert bei 150–180 mg/dl liegen. Bei Blutglukosewerten über 300 mg/dl darf keine körperliche Anstrengung erfolgen. Die Hyperglykämie kann auf einen fortgeschrittenen Insulinmangel hinweisen, der schon viele Stunden bestanden hat. Das ist sicher der Fall, wenn auch das Azeton im Urin positiv ist. Es besteht die Gefahr, dass die Blutglukosewerte noch weiter ansteigen und sich eine ketoazidotische Stoffwechselentgleisung entwickelt. Der Insulinbedarf beträgt bei mittlerer Belastung 50–70% des Insulingrundbedarfes (Basalrate), bei lang andauernder Belastung nur 25–50% des Grundbedarfes. Vor dem Sport sollte nach einer Blutglukosemessung die Basalrate gesenkt werden, wobei die Reduzierung bei Verwendung von Normalinsulin ca. 1 h vorher, bei kurzwirksamen Insulinanalogon direkt vor dem Sport erfolgen sollte. Alternativ oder zusätzlich sollte das Kind Kohlenhydrate zu sich nehmen. Ein evtl. notwendiger Mahlzeitenbolus sollte um etwa 30% gesenkt werden. Wegen des Auffülleffektes von Muskelglykogen und der dadurch verstärkten
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Gefahr von Hypoglykämien müssen die Basalratensenkung und der reduzierte Mahlzeitenbolus für einige Stunden beibehalten werden. Zur Vermeidung von Hypoglykämien ist generell die Zufuhr von Sport-KE wichtiger als die Insulindosisreduktion. Am besten werden beide Maßnahmen kombiniert. Für sportlich aktive Insulinpumpenträger wird im Allgemeinen die Dauer der Basalratensenkung auf 4–5 h oder länger programmiert. Bei regelmäßig wiederkehrenden Sporttagen empfiehlt sich die Programmierung einer Sport-Basalrate für diese Tage. Umgekehrt ist die Programmierung einer erhöhten Basalrate an Tagen geringer körperlicher Aktivität (z. B. faules Wochenende) sinnvoll. Umgang mit Zeitumstellung Bei Zeitverschiebungen stellt sich der Organismus und damit der zirkadiane Insulinbedarf erst nach einigen Tagen um. Bei geringen Zeitverschiebungen (bis zu 2 h) wird am Ankunftsort die Uhrzeit der Insulinpumpe auf die Ortszeit eingestellt. Bei Zeitverschiebungen zwischen 3 h und 4 h sollte am Ankunftsort die Uhr der Insulinpumpe zunächst um 2 h der Ortszeit angenähert werden. Erst 1–2 Tage später wird die Pumpe auf die Ortszeit eingestellt. Bei größeren Zeitverschiebungen (z.B. Transatlantikflüge) wird folgendes Vorgehen empfohlen: 5 Am ersten Tag wird am Urlaubsort die Basalrate unverändert belassen, 5 am 2. Tag wird die bisher niedrigste Basalrate (i. Allg. zwischen 23 und 2 Uhr) über 24 h programmiert; es erfolgen regelmäßige Blutglukosemessungen und (kleine) Boluskorrekturen, 5 am 3. Tag wird die alte Basalrate auf die Ortszeit umgestellt. Die Patienten müssen darauf hingewiesen werden, dass sie ihre bisher verwendete Basalrate vor der Umprogrammierung aufschreiben, wenn sie sie nicht in Form eines Basalraten-Verlaufbogens (. Abb. 11.17) mit sich führen. Vorübergehendes Ablegen der Pumpe Die Insulinpumpe kann jederzeit abgelegt werden. Die Dauer der Unterbrechung entscheidet darüber, ob diese Zeit allein mit schnellwirksamen Insulinanaloga, Normalinsulin oder auch zusätzlich mit Gabe von Verzögerungsinsulin überbrückt wird (ICT). Im Rahmen des Insulinpumpen-Schulungsprogramms erhält daher jeder Patient einen Plan für den pumpenfreien Tag. Ein kurzfristiges Ablegen erfolgt z. B. bei einem Saunabesuch, bei bestimmten Sportarten mit Körperkontakt (Gefahr des Herausrutschens des Katheters) oder bei Kampfsportarten (Gefahr der Beschädigung der Pumpe), evtl. beim Sexualverkehr und immer beim Schwimmen. Einige Kinder und Jugendliche wechseln daher während des Sommerurlaubs vorübergehend wieder zur ICT. Unerwartet geringe Probleme machen das übliche Herumtoben kleiner Kinder auf dem Spielplatz oder Fußballspiele von Jugendlichen. Je nach Dauer der
11.7 · Durchführung der Insulinpumpentherapie (CSII)
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. Abb. 11.17 Stoffwechseldokumentationsbogen für die CSII im Kinderkrankenhaus auf der Bult
Unterbrechung ist beim Wiederanlegen der Pumpe entweder kein zusätzliches Insulin erforderlich oder es wird auf die etwa 2-stündige oder längere Unterbrechung mit einem kleinen Bolus reagiert, falls nicht zuvor Insulin mit Spritze oder Pen zur Überbrückung injiziert worden ist. Besonderheiten der ambulanten Weiterbetreuung pädiatrischer Insulinpumpenpatienten Idealerweise sollten Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes unabhängig von der gewählten Therapieform wohnortnah von einem entsprechend ausgebildeten kinderdiabetologischen Team betreut werden. Da es sich bei der CSII um eine in der Pädiatrie noch relativ neue Therapieform handelt, ist dies bislang nicht flächendeckend möglich. Auch pädiatrische Reha-Einrichtungen bieten zunehmend Schulungen im Rahmen von Therapieumstellungen auf Insulinpumpen an. Anschließend werden die Patienten wohnortnah durch das vertraute Diabetesteam weiterbetreut. Die AG Pumpentherapie der AGPD verfolgt das Ziel, den Informationsaustausch und die Fortbildung zu dieser wichtigen Therapieform zu fördern, damit
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Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung
Kinder und Jugendliche, die für die CSII geeignet erscheinen, unabhängig von ihrem Wohnort möglichst kompetent behandelt und betreut werden (Heidtmann u. Holl 2003). Ein besonderer Aspekt der CSII ist die Möglichkeit, den Speicher aller Eingaben und Alarme der zurückliegenden Tage in einen Computer auszulesen. Anders als bei der Verwendung der üblichen »Patienten-Tagebücher« hat der Patient nicht länger die Möglichkeit, ohne weiteres selbst zu entscheiden, welche seiner therapeutischen Maßnahmen er mit dem Team und der Familie abstimmen möchte und welche nicht. In gewisser Weise entsteht dadurch eine Art gläsener Patient, da das betreuende Team Datum- und Uhrzeit und jede Eingabe oder jeden Stopp der Insulinpumpe genau verfolgen kann. Nicht unerwartet stellt sich dabei heraus, dass auch bei der CSII ein enger Zusammenhang zwischen regelmäßiger Insulingabe (gemessen an der Anzahl der täglichen Bolusgaben) und dem HbA1c-Wert besteht. Damit dieses neue Kontrollprinzip bei den regelmäßigen Besprechungen im Rahmen der Ambulanzbesuche wirklich vertrauensvoll genutzt werden kann, sollte darüber schon im Rahmen der Insulinpumpenschulung mit allen Beteiligten immer wieder ein Einvernehmen hergestellt werden. Zusammenfassung Die CSII ist eine wichtige Alternative zur ICT. Sie stellt eine unverzichtbare Therapieoption bei der Behandlung des Typ-1-Diabetes im Kindes- und Jugendalter dar. Die Entscheidung für eine CSII sollte immer individuell nach Abklärung der Therapieziele gemeinsam mit dem Patienten und seinen Eltern getroffen werden.
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Als Hilfe für die Umsetzung der intensivierten Insulintherapie (ICT) wurden 1995 im Kinderkrankenhaus auf der Bult Hannover für die Eltern und ihre Kinder zwei Bögen entwickelt, die sich in der Praxis sehr bewährt haben: ein Insulindosierungsbogen und ein Stoffwechselübungsbogen.
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Insulindosierungsbogen Der in . Abb. 11.18 dargestellte Insulindosierungsbogen enthält die aktuellen Richtwerte für die Umsetzung der ICT, die individuell für jedes Kind immer wieder neu festgelegt werden. Der Bogen wird gemeinsam vom Arzt, dem Kind oder Jugendlichen und seinen Eltern während der ambulanten Beratung besprochen und ausgefüllt. In diesen Bogen fließen das Wissen des Arztes und die aktuellen Erfahrungen der Familie ein. Wichtig ist, dass die Angaben im
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. Abb. 11.18 Insulindosierungsbogen
Insulindosierungsbogen immer wieder neu diskutiert und, wenn nötig, verändert werden. Wie wird der Insulindosierungsbogen ausgefüllt? Zunächst werden der Name des Kindes, sein Gewicht, der Arzt, mit dem der Bogen erörtert wird, und das aktuelle Datum eingetragen. Dann beginnen die Überlegungen zur Ermittlung der Mahlzeiten- bzw. Prandialinsulindosis sowie der Korrekturinsulin- und Basalinsulindosis für die vier verschiedenen Zeitpunkte des Tages und der Nacht (morgens, mittags, abends, spät). In die erste Reihe wird die KE-Verteilung für die drei Hauptmahlzeiten eingetragen. Wenn Zwischenmahlzeiten hinzukommen, werden die KE-Werte neben die der vorangehenden Hauptmahlzeiten geschrieben. Es sollte die KE-Verteilung eingetragen werden, die den üblichen Mahlzeiten des Kindes entspricht. Selbstverständlich sind Abweichungen nicht nur möglich, sondern sogar erwünscht, denn bei der ICT können wie bei der CSII Menge und Zeitpunkt der Mahlzeiten frei gewählt werden. In die zweite Reihe wird der Insulin-KE-Quotient eingetragen, der für den Verzehr einer KE injiziert werden muss: zunächst für die Injektionen vor den 3 Hauptmahlzeiten, morgens, mittags und abends, aber auch für die Zeit spät abends. Denn es kommt immer wieder vor, dass auch sehr spät wegen eines Festes oder einer Party eine größere Mahlzeit eingenommen wird.
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Die in der ersten und zweiten Reihe eingetragenen Werte werden miteinander multipliziert. Das Ergebnis wird in die dritte Reihe eingetragen. Es entspricht der Dosis des Mahlzeiten- bzw. Prandialinsulins. Kinder benötigen häufig kleine Zwischenmahlzeiten: morgens während der Schulzeit die Pausenbrote, auch nachmittags und kurz vor dem Schlafen. Im Gegensatz zu Erwachsenen oder älteren Jugendlichen ist es für Kinder nicht zumutbar, vor jeder Zwischenmahlzeit Prandialinsulin zu berechnen und zu injizieren. Die regelmäßigen Zwischenmahlzeiten werden, wenn sie zeitlich nicht zu weit von der Hauptmahlzeit entfernt sind, noch durch das Prandialinsulin abgedeckt, das zur vorausgegangenen Hauptmahlzeit injiziert wurde. Das für das 1. Schulbrot (um etwa 9.00 Uhr) notwendige Insulin wird daher bereits mit dem Prandialinsulin zum Frühstück gespritzt. Ebenso kann das Insulin für eine kleine Mahlzeit am Nachmittag bereits mit der Injektion zum Mittagessen gegeben werden. Zeitlich später liegende Zwischenmahlzeiten, z. B. das 2. Schulbrot (um etwa 11.00 Uhr), können durch das morgens injizierte Basalinsulin abgedeckt werden. Die nächsten Überlegungen gelten der Ermittlung der Korrekturinsulindosis. In die vierte Reihe wird eingetragen, um wie viel mg/dl der Blutglukosewert nach Injektion von 1 I.E. Normalinsulin gesenkt wird. Die Absenkungsrate des Blutglukosespiegels durch die Injektion von 1 I.E. Insulin weist morgens, mittags, abends und spät erhebliche Unterschiede auf, und ist auch individuell sehr verschieden (Abhängigkeit von Alter und Diabetesdauer). Um mit Hilfe der Absenkungsrate für den Blutglukosespiegel die richtige Korrekturinsulindosis zu ermitteln, sollte man wissen, welcher Blutglukosezielwert morgens, mittags, abends und spät angestrebt werden soll. Die gewünschten Blutglukosezielwerte werden daher in die fünfte Reihe eingetragen. Die letzte Reihe ist für das Basalinsulin vorgesehen. Eingetragen wird, wie viel Basalinsulin morgens, mittags, abends oder spät injiziert werden soll. In . Abb. 11.19 und 11.20 sind die Dosierungsbögen für zwei Beispielpatienten Lena und Marcel dargestellt. > Lena ist 11 Jahre alt. Sie hat seit einem Jahr Diabetes und weist noch eine deutliche Restsekretion von Insulin auf. Ihr Insulintagesbedarf beträgt 16 I.E. bei einem Körpergewicht von 34 kg. Der Insulintagesbedarf liegt unter 0,5 I.E./kg KG. Lena befindet sich noch in der Phase der partiellen temporären Remission. Berechnung des Prandialinsulins: Die KE-Verteilung wird mit 4/1/1/4/1/4/1 angenommen. Da sie noch eine Restsekretion von Insulin aufweist, benötigt sie nur wenig Insulin pro KE vor den Hauptmahlzeiten: morgens etwa 1.0, mittags 0,5 und abends 0,75 I.E. Lena weiß, dass die Insulinwirksamkeit abends spät und nachts besonders ausgeprägt ist. Darum rechnet sie spät mit nur 0,25 I.E./KE. Um die Dosis des Prandialinsulins zu berechnen, muss die KE-Menge, die dadurch abgedeckt werden soll, mit dem in die 2. Reihe eingetragenen Insulin-KE-
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. Abb. 11.19 Beispiel Lena (Insulindosierungsbogen)
. Abb. 11.20 Beispiel Marcel (Insulindosierungsbogen)
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Quotienten multipliziert werden. Es werden daher die 4 KE zum Frühstück und die 1 KE der ersten Zwischenmahlzeit (Schulbrot) mit 1.0 multipliziert und man erhält 5 I.E. Mahlzeiteninsulin. Bei der Berechnung des Prandialinsulins kommt man mittags auf 2,5 I.E. und abends abgerundet auf 3,5 I.E. Wenn mehr gegessen wird, muss entsprechend mehr Prandialinsulin berechnet und injiziert werden. Berechnung des Korrekturinsulins: Für die Berechnung der Korrekturinsulindosis muss man wissen, um wie viel mg/dl der Blutzucker gesenkt wird, wenn 1 I.E. Normalinsulin gespritzt wird. Die Glukoseabsenkung ist tageszeitlich sehr unterschiedlich: morgens beträgt sie bei Lena etwa 50 mg/dl, mittags 70 mg/dl, abends 60 mg/dl, spät abends vor dem Schlafen etwa 90 mg/dl. Um die richtige Dosis des Korrekturinsulins zu ermitteln, sollte man wissen, auf welchen Wert der Blutzuckerspiegel korrigiert werden sollte. Die Zielwerte sind ebenfalls tageszeitlich unterschiedlich zu bewerten. Morgens sollen sie möglichst nicht weniger als 100 mg/dl betragen. Darum fühlt sich Lena morgens bei einem Zielwert von 120 mg/dl sicher. Mittags vor dem Essen ist sie oft niedrig. Darum ist sie mit einem Zielwert von 100 mg/dl zufrieden. Gegen Abend steigt der Blutzuckerwert oft an. Darum wählt sie 110 mg/dl als Zielwert. Sehr vorsichtig muss man spät abends sein. Vor Beginn der Nacht fühlt sich Lena nur sicher, wenn ihr Zielwert um 130 mg/dl liegt. Sie und ihre Mutter haben etwas Angst vor nächtlichen Unterzuckerungen. Wenn Lenas Mutter hin und wieder nachts den Blutzucker kontrolliert, ist sie zufrieden, wenn er um 120 mg/dl liegt. Wenn die Blutglukosewerte spät abends oder nachts unter 100 mg/dl liegen, nimmt Lena eine Extra-KE zu sich. Nach ihren eigenen Erfahrungen braucht sie 1 KE bei Werten unter 100 mg/dl und 2 KE bei Werten unter 80. Wie viel Basalinsulin benötigt Lena? Da sie sich noch in der Remissionsphase befindet, benötigt sie morgens kein Basalinsulin. Spät abends injiziert sie 5 I.E. NPH-Verzögerungsinsulin. Das wird sich ändern, wenn die Restsekretion geringer wird und eines Tages ganz erlischt. Dann wird sie die Basalinsulindosis erhöhen und z. B. auch morgens und mittags Basalinsulin injizieren.
> Marcel ist 16 Jahre alt und hat schon seit 8 Jahren Diabetes. Sein Insulintagesbedarf 14 15 16 17
beträgt 63 I.E. bei einem Körpergewicht von 60 kg. Er benötigt daher etwas mehr als 1,0 I.E./kg KG. Marcel befindet sich seit langem in der Postremissionsphase. Berechnung der Prandialinsulindosis: Da er keine Restsekretion von Insulin aufweist, benötigt Marcel pro KE viel mehr Insulin als Lena: morgens 2,5, mittags 1,5, abends 2,0, spät abends nur 0,5 I.E/KE. Die KE-Verteilung beträgt 4/2/2/6/2/6/1. Die regelmäßigen Zwischenmahlzeiten werden in die Berechnung des Prandialinsulins der vorangehenden Hauptmahlzeit einbezogen. Morgens werden 15, mittags 12 und abends 14 I.E. Prandialinsulin injiziert. Berechnung des Korrekturinsulins: Bei der Injektion von 1 I.E. Normalinsulin wird der Blutglukosewert bei Marcel morgens um etwa 30 mg/dl, mittags um 50, abends um 40, spät abends um 70 mg/dl gesenkt.
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Früh morgens sollen die Blutzuckerwerte nicht unter 100 mg/dl liegen. Darum wird ein Blutglukosezielwert von 120 mg/dl eingetragen. Mittags ist Marcel mit Werten um 110 mg/dl zufrieden, abends korrigiert auf 110 mg/dl. Spät abends ist er vorsichtig. Er möchte ohne Angst vor einer nächtlichen Hypoglykämie schlafen. Sein Zielwert vor Beginn der Nacht beträgt daher 140 mg/dl. Wenn der Blutzuckerspiegel spät abends oder nachts unter 100 mg/dl liegt, isst Marcel etwas, um einer Hypoglykämie vorzubeugen: Bei Werten unter 100 mg/dl isst er 1 KE, unter 80 mg/dl 2 KE. Wie viel Basalinsulin injiziert Marcel? Morgens 6, mittags 4 und abends spät 12 I. E. Basalinsulin. Abends um 18 Uhr wird kein Basalinsulin injiziert, weil der Blutglukosewert spät abends vor Beginn der Nacht nicht zu niedrig liegen soll. Tagsüber wird NPH-Insulin, nachts Detemir als Basalinsulin verwendet.
Stoffwechselübungsbogen Bei dem in . Abb. 11.21 dargestellten Stoffwechselübungsbogen handelt es sich um einen sehr ausführlichen Protokollbogen, in den alle Behandlungsmaßnahmen und Stoffwechselergebnisse eines Tages eingetragen werden. Mit Hilfe des Übungsbogens soll überprüft werden, ob die im Insulindosierungsbogen vorgeschlagenen Richtwerte für die Dosierung des Mahlzeiten-, Korrektur- und Basalinsulins zu guten Blutglukosewerten im Alltag geführt haben. Der Übungsbogen soll nicht die sehr viel einfacheren Stoffwechselprotokollbögen für eine Woche oder einen Monat ersetzen. Wenn an einigen Tagen zwischen
. Abb. 11.21 Stoffwechselübungsbogen
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zwei Ambulanzbesuchen ein Übungsbogen ausgefüllt wird, stellt er eine große Hilfe für die Erörterung der individuellen Stoffwechselsituation des Patienten dar. Man kann dafür bestimmte Tage mit charakteristischen Vorkommnissen wählen, z. B. einen Schultag mit oder ohne Sport, einen Samstag mit Sportwettkampf oder einen Sonntag mit langem Ausschlafen. Die Kinder und Eltern, die mit dem Übungsbogen arbeiten, machen sehr bald die Erfahrung, dass sie durch diese Art des Trainings auf dem Gebiet der Insulinbehandlung sehr viel lernen können. Sie erkennen, ob etwas bei der Insulintherapie nicht stimmt, kommen typischen Fehlern auf die Spur und lernen, das individuelle Stoffwechselverhalten immer besser kennen. Wie wird der Stoffwechselübungsbogen ausgefüllt? Der Stoffwechselübungsbogen
ist ähnlich aufgebaut wie der Insulindosierungsbogen. Nebeneinander werden die verschiedenen Uhrzeiten eingetragen. Untereinander folgen die Berechnungen der Dosis des Mahlzeiteninsulins bzw. Prandialinsulins und des Korrekturinsulins. Auch die körperliche Aktivität kann in die Ermittlung der Insulindosis einbezogen werden. Ganz unten wird eingetragen, wie viel Prandial- und Korrekturinsulin bzw. Basalinsulin injiziert wird (. Abb. 11.22). In . Abb. 11.23 und 11.24 sind exemplarisch zwei Stoffwechselübungsbögen der beiden Beispielpatienten Lena und Marcel dargestellt.
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. Abb. 11.22 Erläuterungen zum Stoffwechselübungsbogen
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. Abb. 11.23 Beispiel Lena (Stoffwechselübungsbogen)
> Lena: Insulindosis morgens: Morgens um 7.00 Uhr isst Lena 4 KE, in der Schule um 9.00 Uhr und um 11.30 Uhr je eine weitere KE: um 7.00 und 9.00 Uhr also zusammen 5 KE. Daraus ergibt sich eine Prandialinsulindosis von 5 I.E. Die 1 KE in der zweiten großen Pause wird durch Insulin abgedeckt, das Lena noch selbst bildet. Der Blutglukosewert beträgt um 7.00 Uhr nur 80 mg/dl. Da Lenas Zielwert 120 mg/ dl beträgt und eine 1 I.E. Normalinsulin ihren Blutzuckerwert um etwa 50 mg/dl senkt, zieht sie von der Prandialinsulindosis 1 I.E. Korrekturinsulin ab. Sie injiziert daher morgens 4 Einheiten Normalinsulin (Prandialinsulin – Korrekturinsulin). Insulindosis mittags: Mittags hat sie großen Hunger. Darum isst sie 4 KE. Für den Nachmittag hat sie 1 KE eingeplant. Daraus ergeben sich 5 KE, für die sie 2,5 I. E. Prandialinsulin benötigt. Da der Blutglukosewert 160 mg/dl beträgt und damit 60 mg/dl über ihrem Zielwert von 100 mg/dl liegt, fügt sie dem Prandialinsulin 1 I. E. Korrekturinsulin hinzu. Endgültig injiziert sie 3,5 I.E. Normalinsulin. Insulindosis abends: Um 17.00 Uhr fühlt sich Lena etwas unterzuckert. Der Blutglukosewert beträgt nur 60 mg/dl. Damit er nicht weiter absinkt, isst sie zwei Extra-KE. Um 18.30 Uhr liegt der Blutzucker bei 160 mg/dl. Lena will 4 KE zum Abendbrot essen und vor dem Schlafen um 20.30 Uhr eine weitere KE, d. h. insgesamt 5 KE. Daraus ergeben sich abgerundet 3,5 I.E. Mahlzeiteninsulin. Den Blutglukosewert von 160 mg/dl korrigiert sie auf den Zielwert von 110 mg/dl mit 1 I.E. Korrekturinsulin. Sie injiziert daher vor dem Abendessen 4,5 I.E. Normalinsulin. Um 23.00 Uhr messen Lenas Eltern einen Blutglukosewert von 90 mg/dl. Das ist für die Nacht zu niedrig. Um einer nächtlichen Hypoglykämie vorzubeugen,
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lassen sie Lena darum 1 KE essen. Sie injizieren wie üblich 5 I.E. Basalinsulin. Sicherheitshalber kontrollieren die Eltern um 1.00 Uhr noch einmal den Blutzuckerwert. Er liegt bei 130 mg/dl.
> Marcel: Insulindosis morgens: Morgens um 7.00 Uhr isst Marcel 4 KE. Da er in der ersten großen Pause um 9.30 Uhr 2 KE essen will, injiziert er 15 I.E. Prandialinsulin. Sein Blutglukosewert ist mit 220 mg/dl hoch. Da die Blutglukoseabsenkungsrate zu dieser Zeit etwa 30 mg/dl beträgt, fügt er 3 I.E. Korrekturinsulin zum Prandialinsulin hinzu. Insgesamt injiziert er 18 I.E. Normalinsulin, außerdem 6 I.E. Verzögerungsinsulin als Basalinsulin. Gegen 11.00 Uhr ist er sehr hungrig, sein Blutglukosewert beträgt 70 mg/dl. Es wird Zeit, dass er seine 2 KE isst. Insulindosis mittags: Mittags beträgt der Blutzuckerwert 90 mg/dl. Marcel hat großen Hunger und isst mit großem Appetit seine 6 KE. Nachmittags plant er weitere 2 KE ein. Darum benötigt er für die 8 KE 12 I.E. Normalinsulin. Außerdem injiziert Marcel noch 4 I.E. Verzögerungsinsulin als Basalinsulin. Gegen 15.30 Uhr spürt Marcel Unterzuckerungszeichen. Sein Blutzuckerwert beträgt 50 mg/dl. Er trinkt 2 KE Cola, damit er sich schnell wieder besser fühlt. Um 16.00 Uhr misst er 110 mg/dl. Er isst er noch die geplanten 2 KE, damit sein Blutzuckerwert nicht wieder zu sehr absinkt. Insulindosis abends: Abends nimmt Marcel 6 KE zu sich. Für die Stunden zwischen 20.00 Uhr und 22.00 Uhr ist noch 1 KE eingeplant. Die KE von 20.30 Uhr
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. Abb. 11.24 Beispiel Marcel (Stoffwechselübungsbogen)
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nimmt er in die Berechnung Prandialinsulindosis hinein. 14 I.E Prandialinsulin werden vorgesehen. Da sein Blutzuckerwert um 18.00 Uhr 140 mg/dl beträgt, korrigiert er seine Dosis nicht. Er injiziert 14 I.E. Normalinsulin und kein Basalinsulin. Um 23.00 Uhr liegt der Blutzuckerwert bei 150 mg/dl. Marcel injiziert 12 I.E. Basalinsulin.
Sport bei Kindern und Jugendlichen mit Diabetes Sport spielt im Leben aller Kinder und Jugendlichen eine große Rolle. Darum sollen einige grundsätzliche Besonderheiten der Stoffwechseleinstellung im Zusammenhang mit ausgeprägter körperlicher Aktivität diskutiert werden. ! Die vielen Einflüsse beim Sport machen es sehr schwierig, verbindliche Regeln für die zusätzliche Nahrungszufuhr aufzustellen. Für jedes Kind müssen eigene Erfahrungswerte gesammelt werden. Dazu sind v. a. regelmäßige Blutglukosebestimmungen notwendig.
In . Abb. 11.25 und 11.26 ist ein Tag mit ausgeprägter körperlicher Aktivität dargestellt. > Melanie ist 9 Jahre alt. Sie verbringt den Tag mit ihrer Familie in einem Freizeitpark. Sie ist den ganzen Tag auf den Beinen. Morgens spritzt Melanies Mutter die Dosis des Basalinsulins wie immer. Das Prandialinsulin am Morgen bleibt auch
. Abb. 11.25 Beispiel Melanie (Insulindosierungsbogen)
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. Abb. 11.26 Beispiel Melanie (Stoffwechselübungsbogen)
gleich, weil die Fahrt zum Park etwa 2 h dauert. Melanie sitzt in dieser Zeit im Auto ohne sich zu bewegen. Bevor Melanie das erste Karussell ausprobiert, misst sie ihren Blutzuckerwert. Er liegt knapp über 120 mg/dl. Weil sich Melanie viel bewegen wird, isst sie noch 1 KE zusätzlich. Mittags ist Melanie durchgeschwitzt, sie hat viel getobt, ihr Blutzucker liegt bei 100 mg/dl. Zum Mittagessen spritzt die Mutter die übliche Dosis von 3 I. E. Normalinsulin, Melanie isst aber nicht wie sonst 3 KE und 1 KE nachmittags, sondern gleich 5 KE Spaghetti und später noch 1 KE. Der Nachmittag bleibt anstrengend. Gegen 15.00 Uhr hat Melanie Hunger. Es ist Zeit für die Nachmittagsmahlzeit (1 KE). Ihr Blutzuckerwert liegt bei 80 mg/dl. Melanie isst ein Eis mit fast 3 KE, weil sie auch noch während der nächsten Stunden die vielen Geräte auf dem Spielplatz ausprobieren will. Um 19.00 Uhr ist die Familie wieder zu Hause. Melanies Blutzuckerwert liegt bei 130 mg/dl. Sie hat starken Hunger. Zum Abendbrot nimmt sie 5 KE zu sich, etwas später noch 1 KE. Ihre Mutter hat zuvor das Normalinsulin reduziert und nur für 4 KE injiziert. Zur Spätspritze wird Melanie kaum wach, der Tag war sehr anstrengend. Der Blutzuckerwert liegt bei 150 mg/dl. Die Mutter spritzt statt 6 I. E. Basalinsulin zur Nacht nur 5, damit bei Melanie nachts keine verzögerte Hypoglykämie auftritt.
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Ein weiteres Beispiel für die Stoffwechselsituation bei körperlicher Anstrengung ist in . Abb. 11.27 und 11.28 dargestellt.
. Abb. 11.27 Beispiel Julia (Insulindosierungsbogen)
. Abb. 11.28 Beispiel Julia (Stoffwechselübungsbogen)
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> Julia ist 17 Jahre alt. Sie geht mit ihren Freundinnen auf eine Party. Gegen 22.30 Uhr treffen sie sich um loszufahren. Julias Blutzuckerwert liegt bei 140 mg/dl, zuletzt hat sie gegen 19.00 Uhr Prandialinsulin zum Abendessen und 2 I.E. Basalinsulin gespritzt. Um 23.00 Uhr sind sie in der Disko angekommen. Julia isst noch ein paar Chips (etwa 1 KE), bevor sie tanzt. Gegen 24 Uhr fällt Julia ein, dass es Zeit für ihr Basalinsulin zur Nacht ist. Wegen der körperlichen Anstrengung spritzt sie etwas weniger Verzögerungsinsulin als sonst, 7 statt 8 I.E., damit keine verzögerte Hypoglykämie auftritt. Nach weiteren 1 1/2 h ist sie durchgeschwitzt. Sie fühlt sich schlapp, sie weiß aber nicht, ob das an der Anstrengung liegt oder an ihrem Blutzuckerwert. Die Messung ergibt 58 mg/dl. Eine Hypoglykämie kündigt sich an. Sie trinkt ein Glas Cola (ca. 2 KE) und isst dann noch ein Stück Pizza (2 KE), das sie sich gekauft hat. Sie will weiter tanzen. Gegen 2.30 Uhr wird es ruhiger. Der Blutzuckerwert liegt bei 150 mg/dl. Die nächsten zwei Stunden wird nur noch wenig getanzt. Gegen 4.30 Uhr fahren Julia und ihre Freundinnen nach Hause. Der Blutzuckerwert liegt bei 160 mg/ dl. Julia kann beruhigt einschlafen. Obwohl Julia selbstständig für ihren Diabetes sorgt, hat sie mit ihrer Mutter besprochen, wie sie ihr helfen kann, wenn die Nacht sehr lang war. Morgens darf die Mutter darum nach Julia sehen und den Blutzuckerwert messen, wenn sie den Eindruck hat, dass er zu niedrig sein könnte. Für Julia ist es wichtig, dass sie das Basalinsulin am nächsten Tag nicht zu spät spritzt. Deshalb hat sie ihre Mutter gebeten, sie um 9.00 Uhr kurz zu wecken.
Akute Infektionen bei Kindern und Jugendlichen mit Diabetes Akute Infektionskrankheiten (Angina, Otitis media, akute Durchfallserkrankungen u. a.) beeinflussen ebenfalls die Stoffwechseleinstellung bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes. Darum sollen Verhaltensregeln bei Infekten und Beispiele vorgestellt werden. ! Folgende Behandlungsregeln haben sich bewährt: 5 Wenn sich das Kind während einer Krankheit wohl fühlt, sollte ihm erlaubt werden zu essen, was und so viel es sich wünscht. Die Prandialinsulindosis wird wie üblich an die aufgenommene Nahrungsmenge angepasst. Die Basalinsulindosis bleibt unverändert. Die Blutglukosewerte sollten dabei nicht zu hoch ansteigen und bei Bedarf durch Korrekturinsulin ausgeglichen werden. 5 Wenn sich das Kind während einer akuten Infektion krank fühlt, sollte die sonst übliche Dosis des Prandial- und Basalinsulins injiziert werden. Anschließend muss das Kind versuchen, die für die injizierte Insulindosis notwendige Nahrungsmenge zu sich zu nehmen. Hierfür sind kohlenhydrathaltige Getränke besser geeignet als feste Nahrung. Apfelsaft oder andere Obstsäfte, evtl. mit Mineralwasser verdünnt, Tee mit Traubenzucker, geriebener Apfel, geschlagene Banane, auch Cola sind Nahrungsmittel, die von den Kindern in dieser Situation am ehesten akzeptiert werden. Die Blutglukosewerte dürfen
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nicht zu stark absinken. Vorsicht vor Hypoglykämien! Es sollten eher höhere Werte, auch über 160 mg/dl akzeptiert werden.
In . Abb. 11.29 und 11.30 ist das Tagesbeispiel für eine nicht sehr ausgeprägte akute Infektion dargestellt. > Anke ist 9 Jahre alt. Sie hat einen kräftigen Schnupfen, etwas Kopfschmerzen, die Augen brennen, sie hat eine Bindehautentzündung. Die Temperatur beträgt 37,6°C. »Virusinfektion« sagt der Hausarzt. Anke liegt auf dem Sofa, hört ein bisschen Musik und fühlt sich eigentlich ganz wohl. Sie darf sich wünschen, was sie mittags essen will: Nudeln mit Tomatensauce. Vor dem Essen liegt der Blutglukosewert bei 150 mg/dl. Sie will aber nur 3 KE Nudeln essen, später vielleicht noch 1 KE Obst. Dafür benötigt sie 4 I.E. Prandialinsulin. Sie trinkt auch noch etwas Mineralwasser. Eine Stunde nach dem Essen beträgt der Blutzuckerwert 180 mg/ dl. Nicht schlecht, wenn man krank ist. Auch am Abend, während der Nacht und am folgenden Tag isst sie, was sie sich wünscht. Die Insulinanpassung funktioniert fast so gut wie immer. Dass auch mal Blutglukosewerte bis 240 mg/dl auftreten, stört weder Anke noch ihre Mutter, denn Anke hat ja einen Infekt.
. Abb. 11.29 Beispiel Anke (Insulindosierungsbogen)
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. Abb. 11.30 Beispiel Anke (Stoffwechselübungsbogen)
In . Abb. 11.31 und 11.32 ist das Tagesbeispiel für eine schwerere akute Infektion dargestellt. > Kai ist 9 Jahre. Es hat ihn ganz schön erwischt. Er liegt mit einer eitrigen Angina im Bett. Am Kieferwinkel rechts und links hat er schmerzhafte Schwellungen. Beim Schlucken tut alles weh. Das Fieber steigt auf Werte über 39°C. Nach einem Paracetamol-Zäpfchen sinkt es auf 38,2° C, aber 2 h später liegt die Temperatur wieder über 39°C. Er fühlt sich schlapp und müde, mag nichts hören und sehen und schläft viel. Der Hausarzt hat ihm ein Antibiotikum verordnet. Der Appetit ist gleich Null. Kai mag nur Trinken. Der Blutzuckerspiegel ist hoch, ständig Werte über 200 mg/dl. »Das liegt am Stress«, sagt seine Mutter, denn Kai isst nicht viel. Die Mutter injiziert morgens dieselbe Basalinsulindosis wie immer, 2 I.E. Wenn Kai gesund ist, erhält er zum Frühstück 3 KE, in der Schule um 9.00 Uhr noch 2 KE, um 11.00 Uhr weitere 2 KE. Jetzt versucht seine Mutter, ihm etwas weniger, nämlich insgesamt 5 KE in Form von Getränken anzubieten. Sie stellt ihm einen Krug mit einem Liter Apfelsaft hin und sagt, dass er bis mittags mindestens die Hälfte nach und nach in kleinen Portionen trinken solle. Ein halber Liter Apfelsaft entspricht etwa 5 KE. Das akzeptiert er. Die Mutter entscheidet, für 4 KE 8 I.E. Prandialinsulin zu injizieren, außerdem noch 2 I.E. Korrekturinsulin, weil Kais Blutzuckerwert so hoch ist. Insgesamt spritzt sie morgens 10 I.E. Normalinsulin. Alle 2 h messen sie den Blutzuckerwert. Er soll nicht zu stark absinken. Die Werte schwanken zwischen 180 und 250 mg/dl. Kai staunt, wie gut er und seine Mutter mit dem Diabetes trotz der eitrigen Angina über die Runden kommen.
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. Abb. 11.31 Beispiel Kai (Insulindosierungsbogen)
. Abb. 11.32 Beispiel Kai (Stoffwechselübungsbogen)
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Verhalten bei Neigung zu niedrigen Blutglukosewerten. Die Stoffwechselsituation
kann für Kinder mit Diabetes gefährlich werden, wenn im Rahmen einer akuten Infektionskrankheit keine Nahrung mehr aufgenommen wird, Übelkeit und Erbrechen auftreten und noch Durchfall hinzukommt. Das kann bei allen Formen akuter Infekte vorkommen, v. a. aber bei Darminfektionen, d. h. bei akuten Durchfallserkrankungen. Bei akuten Infektionen mit Fieber werden Stresshormone ausgeschüttet, die den Blutglukosespiegel ansteigen lassen und zu einer Erhöhung des Insulinbedarfes führen. Solange das Kind weiter Nahrung zu sich nimmt, muss damit gerechnet werden, dass die Blutzuckerwerte erhöht sind. Im Urin wird kein oder nur wenig Azeton ausgeschieden. Man sollte in dieser Situation dafür sorgen, dass kein Insulinmangel auftritt. Anders ist es, wenn als Folge von Erbrechen und Durchfall keine Nahrung mehr aufgenommen wird, da jetzt ein Kohlenhydratmangel auftreten kann. Der Blutglukosespiegel sinkt. Um den Energiemangel auszugleichen, werden Triglyzeride abgebaut. Eine Hyperketonämie ist die Folge. Im Urin wird zunehmend Azeton ausgeschieden. Es ist jetzt wichtig, nicht nur häufige Blutglukosemessungen durchzuführen, sondern den Urin auf Azeton zu untersuchen. Bei Kohlenhydratmangel werden niedrige Blutglukosewerte gemessen, im Urin wird reichlich Azeton nachgewiesen. Da nicht nur ein Kohlenhydratmangel besteht, sondern durch Erbrechen und Durchfall auch große Mengen an Flüssigkeit und Salz verloren gehen, sollte das Kind möglichst viel trinken. In kleinen Portionen muss reichlich Flüssigkeit angeboten werden, die das enthält, was das Kind dringend benötigt: Glukose und Salze. Am besten geeignet sind Elektrolyt-Glukose-Lösungen (z. B. Oralpädon oder GES 60). Aber auch Tee mit Traubenzucker (2 Teelöffel pro 100 ml) oder eine Mischung aus Mineralwasser ohne Kohlensäure und Apfelsaft (1:1), der noch Glukose (1 Teelöffel pro 100 ml) und eine Prise Salz zugesetzt wird, können angeboten werden. Der Blutzuckerwert muss stündlich gemessen werden. Jede Urinportion muss auf Azeton untersucht werden. Beim Absinken der Blutzuckerwerte muss glukosehaltige Flüssigkeit getrunken werden, vor allem, wenn das Prandialinsulin bereits injiziert wurde. Wenn weiter niedrige Blutzuckerwerte auftreten, muss die nächste Prandialinsulindosis erheblich reduziert werden, um 30%, nicht selten sogar um 50%. Das Basalinsulin wird unverändert gespritzt. Es ist falsch, kein Insulin zu spritzen. Die Folge wäre ein kombinierter Kohlenhydrat- und Insulinmangel. Dabei besteht die Gefahr, dass sich eine Ketoazidose entwickelt. Hinweise dafür sind plötzlich stark ansteigende Blutglukosewerte und der ausgeprägte Nachweis von Azeton im Urin. Die Exsikkosezeichen (trockene Haut und Schleimhäute, trockene, belegte Zunge, rissige Lippen, halo-
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nierte Augen) nehmen zu, die Atmung ist beschleunigt und vertieft (Azidoseatmung). Wenn das Erbrechen unstillbar bestehen bleibt, unverändert durchfällige Stühle auftreten und keine Flüssigkeit mehr aufgenommen wird, muss das Kind in die Klinik gebracht werden. Symptome, die eine Klinikaufnahme notwendig machen 5 Stationäre Aufnahme bei: – unstillbarem Erbrechen, – ausgeprägter Azetonurie, Azetongeruch aus dem Mund (wie faule Äpfel), – steigenden Blutglukosewerten (über 300 mg/dl), – unverändert durchfälligen Stühlen, – zunehmenden Exsikkosezeichen, – beschleunigter und vertiefter Atmung, – drastischer Verschlechterung des Allgemeinzustandes, – großer Unruhe und Aufgeregtheit, erst recht bei Bewusstseinstrübung (Lethargie) oder Bewusstlosigkeit (Koma), – heftigen Leibschmerzen, – heftigen Kopfschmerzen.
Bei Kleinkindern unter 2 Jahren sollte der Zeitpunkt zur Klinikaufnahme früher gewählt werden als bei Schulkindern oder Jugendlichen. Je kleiner und jünger die Kinder sind, desto schneller dekompensieren der Flüssigkeits-, Elektrolyt- , Säure-Basen-Haushalt und Glukosestoffwechsel. Die Eltern sollten sich nicht scheuen, frühzeitig in der Kinderklinik anzurufen und sich beraten zu lassen. Sie sollten auch nicht zögern, ihr Kind in die Klinik zu bringen, wenn sie sich unsicher fühlen. Das gilt ganz besonders für die Eltern mit Kindern kurz nach der Diabetesmanifestation. In . Abb. 11.33 und 11.34 ist ein Tagesbeispiel für die Stoffwechselsituation bei einer akuten Durchfallserkrankung mit mittelgradiger Dehydratation dargestellt. > Sarah ist 6 Jahre alt. Morgens beim Aufstehen ist ihr übel. Beim Zähneputzen tritt heftiges Erbrechen auf. Sie hat wenig Appetit und fühlt sich schlapp. »Ich glaube, du wirst krank«, sagt ihre Mutter. Bevor sie den Blutzucker bestimmen kann, tritt Durchfall auf. Sarah staunt über die Flüssigkeitsmenge, die sie durch den Stuhl verliert. »Da haben wir die Bescherung«, sagt ihre Mutter. Der Blutzucker beträgt 160 mg/dl. Sonst würde Sarah 6 I.E. Prandialinsulin und 2 I.E. Basalinsulin injizieren. Ihre Mutter ist vorsichtig, denn sie weiß nicht, ob nicht noch häufiger Erbrechen auftreten wird. Darum spritzt sie nur 4 I.E. Prandial- und 2 I.E. Basalinsulin. Zum
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. Abb. 11.33 Beispiel Sarah (Insulindosierungsbogen)
9 10 11 12 13 14 15 16 17 . Abb. 11.34 Beispiel Sarah (Stoffwechselübungsbogen)
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Frühstück versucht Sarah, 2 KE Toastbrot zu essen, dazu trinkt sie 1 KE Apfelschorle. Aber 20 min nach dem Essen muss sie erneut brechen. Ihre Mutter stellt ihr einen Krug mit Tee ans Bett. Pro 100 ml enthält er 2 Teelöffel Traubenzucker und eine Prise Salz, d. h. 100 ml entsprechen 1 KE. In kleinen Schlückchen versucht Sarah, nach und nach den Tee zu trinken, denn sie weiß, dass der Blutzucker nicht absinken darf. Stündlich bestimmt sie den Blutzuckerwert. Er liegt bis 12.00 Uhr zwischen 120 und 200 mg/dl. Mittags mag Sarah immer noch nichts essen, darum injiziert ihre Mutter statt der üblichen 4 I.E. Prandialinsulin nur 2 I.E. und 1 I.E. Korrekturinsulin. Sarah versucht, etwas Wasserkartoffelbrei zu essen, aber nach 20 min erbricht sie wieder. Die Vorsicht ihrer Mutter war berechtigt. Etwas ängstlich wird ihre Mutter, als der Blutzucker gegen 16.00 Uhr unter 100 mg/dl absinkt. Darum versucht Sarah weiter Tee mit Traubenzucker in kleinen Schlückchen zu trinken. Bis zum Abend schafft sie ¼ l. Die Übelkeit lässt nach. Auch abends injiziert die Mutter weniger Insulin als sonst. Statt 4 I.E. Prandialinsulin nur 3 I.E. Zum Abendessen behält Sarah sogar ein Scheibe Toastbrot bei sich. Außerdem schafft sie noch fast ¼ l Apfelschorle. Die Blutglukosewerte liegen zwischen 100 und 200 mg/dl. Abends spät injiziert Sarah statt 5 I.E. Basalinsulin nur 4 I.E. Ihre Mutter ist vorsichtig. Sie will keine nächtliche Hypoglykämie riskieren. Weil sie am Tag viel geschlafen hat, ist Sarah lange wach, erst um 23.30 Uhr schläft sie ein. Während des ganzen Tages hat sie insgesamt 4-mal gebrochen und 6-mal dünnflüssigen Stuhl ausgeschieden. Sie sieht blass und elend aus. Sie hat kein Fieber. Aber ihre Haut ist trocken, die Zunge belegt. Die Augen sind haloniert. Sie hat tagsüber nur wenig Urin gelassen. Azeton war immer positiv. Am nächsten Morgen beträgt der Blutzuckerwert 180 mg/dl. Sarah hat Durst, ihr ist nicht mehr übel. Zum Frühstück injiziert sie wieder die verminderte Insulindosis. Sarah nimmt 2 Scheiben Toastbrot zu sich. Sie trinkt viel Tee mit Traubenzucker. Erbrechen tritt nicht mehr auf. Es geht deutlich besser. Mittags isst sie Nudeln, zum Nachtisch geriebenen Apfel, nachmittags Banane. Die Blutzuckerwerte liegen etwas höher, bis 250 mg/dl. Im Urin wird nachmittags kein Azeton mehr nachgewiesen. Zwei Tage bleibt Sarah noch zu Hause, dann ist die Durchfallserkrankung überstanden und sie kann wieder in den Kindergarten gehen.
In . Abb. 11.35 und 11.36 ist das Beispiel eines schweren Verlaufs einer akuten Durchfallserkrankung (Salmonellose) dargestellt, aus der sich eine diabetische Ketoazidose entwickelt. > René ist 6 Jahre alt. Am Morgen wacht er mit Bauchschmerzen auf, ihm ist übel und er fühlt sich heiß an. Der Blutzucker beträgt 280 mg/dl, im Urin ist Azeton noch negativ. Er hat Fieber, 39,2°C. René muss heftig erbrechen, als er sich im Bett aufrichtet. Wenig später entleert er eine große Menge dünnflüssigen Stuhl. Seine Mutter kommt kaum zur Ruhe. Während sie in der Küche Tee zubereitet, muss René schon wieder brechen. Den Tee mit Traubenzucker, den seine Mutter
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. Abb. 12.35 Beispiel René (Insulindosierungsbogen)
9 10 11 12 13 14 15 16 17 . Abb. 12.36 Beispiel René (Stoffwechselübungsbogen)
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ihm anbietet, mag René kaum anrühren, so übel ist ihm. Wie viel Insulin sollen sie spritzen? Sonst erhält er 6 I.E. Prandialinsulin und isst normalerweise 3 KE und später 1 KE. An Essen ist jedoch nicht zu denken. Ob er den Tee bei sich behalten wird? Seine Mutter entscheidet sich, nur 2 I.E. Basalinsulin und 2 I.E. Normalinsulin als Korrektur zu spritzen. Sie hat Angst, dass eine Hypoglykämie auftreten könnte, wenn sie mehr injiziert und er nichts bei sich behält. Sie hat recht. Der Blutzuckerwert sinkt ab: Um 9.00 Uhr 180 mg/dl, um 11.00 Uhr 110 mg/dl. Immer wieder muss René erbrechen. Dünnflüssiger Stuhl wird entleert. Im Urin wird ab 10.00 Uhr viel Azeton ausgeschieden. Renés Haut ist trocken, die Lippen sind rissig. Mit großen Augen sieht er seine Mutter an. Sie telefoniert mit dem Hausarzt, der sagt, sie solle René lieber in die Klinik bringen. Die Gefahr sei groß, dass sich eine Ketoazidose entwickelt. René wird immer stiller, er wirkt sehr ernst, seine Atmung ist beschleunigt und vertieft. Obwohl er keine Flüssigkeit bei sich behält, steigt der Blutzucker mittags auf 320 mg/dl. Er hat keinen Urin mehr gelassen und riecht nach Azeton aus dem Mund. Am Nachmittag bringt ihn seine Mutter in die Klinik. René erhält sofort eine Tropfinfusion. Die Infusionslösung enthält alles, was er in dieser Situation braucht: Flüssigkeit, Elektrolyte, Glukose und Insulin (7 Kap. 13). Nach 12 h sieht er wieder besser aus. Zwei Tage lang erhält er eine Infusion, denn der Durchfall wird kaum weniger. Er leidet fast 2 Tage lang unter Bauchschmerzen. Das Fieber geht auch erst nach zwei Tagen zurück. Die Ärzte haben seine Stoffwechselsituation gut im Griff. Die Blutzuckerwerte liegen zwischen 120 mg/dl und 200 mg/dl. Im Stuhl sind Salmonellen nachgewiesen worden. Eine Woche bleibt René in der Klinik. René hat sehr schnell eine Ketoazidose entwickelt. Nicht nur der Insulin- und Kohlenhydratmangel, sondern auch der Flüssigkeits- und Salzverlust durch Erbrechen und Durchfall haben die schwere diabetische Stoffwechselentgleisung herbeigeführt.
Zusammenfassung Die Insulindosierungs- und Stoffwechselübungsbögen haben sich als wichtige Hilfe bei der Bewältigung schwieriger Stoffwechselsituationen bewährt. Mit ihrer Hilfe können die diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen eines Tages rekonstruiert und bei ambulanten Vorstellungen mit dem behandelnden Arzt erörtert werden
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Lokale Nebenwirkungen der Insulintherapie
)) Insulinallergie und Insulinresistenz sind heute sehr selten auftretende Nebenwirkungen der Insulintherapie bei Kindern und Jugendlichen. Die Necrobiosis lipoidica ist eine seltene, therapieresistente Hautveränderung, die nach jahrelanger Diabetesdauer auftreten kann. Lipodystrophien (Lipome und Lipoatrophien) sind nach Einführung der hochgereinigten Humaninsuline und der Insulinanaloga sehr selten geworden. Ausgeprägte Formen werden heute nicht mehr gesehen. Die »Limited Joint Mobility« (LJM), die früher als Cheiroarthropathie bezeichnet wurde, wird bei langfristig unzureichend behandelten Patienten beobachtet.
6 11.9.1 Insulinallergie und Insulinresistenz
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! Allergische Hautreaktionen im Bereich der Injektionsstellen können durch Insulin selbst ausgelöst werden, häufiger jedoch durch Depotstoffe (z. B. Zinkchlorid, Zinkazetat, Amino-quinurid-2-HCI (Surfen), Protaminsulfat), Konservierungsmittel (Kresol, Phenol, Methyl-4-hydroxybenzoat) und Desinfektions- und Reinigungsmittel, die der Säuberung der Haut oder der Spritzen und Kanülen dienen.
Moderne Trennverfahren haben ergeben, dass der Pankreasextrakt neben Insulin vom Sanger-Typ weitere unterschiedlich antigen wirkende Komponenten enthält (z.B. Proteine des exokrinen Pankreas, Proinsulin, Insulindimere, Intermediärinsuline, insulinähnliche Verbindungen, Amidoinsuline, Arginininsuline). Die Bemühungen der Industrie, möglichst hochgereinigte Insulinpräparate herzustellen, denen insulinähnliche Begleitproteine und exokrine Pankreasproteine fehlen, haben dazu geführt, dass die Häufigkeit allergischer Insulinreaktionen so sehr zurückgegangen ist, dass sie im klinischen Alltag keine Rolle mehr spielen. Die Immunogenität hängt auch von den Speziesunterschieden der Insuline ab (Rind, Schwein, Mensch). Da heute fast ausschließlich Humaninsulinpräparate oder Insulinanaloga verwendet werden, treten immunologische Nebenwirkungen praktisch nicht mehr auf. Schließlich kann die Applikationsweise der Injektion eine allergische Reaktion hervorrufen. Solange Insulinpräparate subkutan appliziert werden, muss daher prinzipiell mit lokalen Nebenwirkungen gerechnet werden. Die Immunantwort des Organismus auf das durch die Insulininjektion zugeführte Antigen erfolgt auf zwei Wegen: zum einen können streng antigenspezifisch determinierte Lymphozyten gebildet werden, zum anderen humorale, im Blut zirkulierende Antikörper, die den IgG- und IgE-Immunklassen angehören.
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Die durch zelluläre Abwehrmechanismen vermittelte lokale Reaktion benötigt bis zu ihrer vollen Ausprägung 24–36 h. Sie wird daher als Reaktion vom Spättyp bezeichnet. Die durch humorale Antikörper verursachte Reaktion kann dagegen bereits nach 30 min auftreten und ist als Reaktion vom Soforttyp gekennzeichnet. Lokale Reaktion vom Spättyp Etwa 24 h nach Insulininjektion tritt im Bereich der Injektionsstelle ein derbes, rotes, meist juckendes Infiltrat von 2–4 cm Durchmesser auf, das sich an den folgenden Tagen noch vergrößern kann. Es bleibt 4–5 Tage bestehen und verschwindet dann langsam wieder. Die Reaktion vom Spättyp wird nie sofort nach der ersten Insulininjektion beobachtet, sondern erst 1–2 Wochen nach Therapiebeginn. Ganz selten treten schwerere allergische Reaktionen auf (z.B. generalisierte Urtikaria, Quincke-Ödeme, Gelenkschwellungen, anaphylaktischer Schock). Lokale Reaktion vom Soforttyp Bei dieser Form der Insulinallergie sind die Hauterscheinungen bereits 30 min bis 2 h nach der Insulininjektion nachweisbar. Rötung und Infiltration der Haut sind die klinischen Zeichen. Auch bei der Sofortreaktion können die oben beschriebenen, schweren allergischen Reaktionen einschließlich eines anaphylaktischen Schocks auftreten. Als Arthus-Phänomen bezeichnet man allergische Reaktionen vom Soforttyp, bei denen Nekrosen im Bereich der Injektionsstelle entstehen. Lokale allergische Reaktionen vom Soforttyp werden häufig erst Jahre nach Beginn der Insulintherapie beobachtet. Therapie der Insulinallergie ! Die beiden allergischen Reaktionsformen bedürfen in den meisten Fällen keiner Behandlung, da sie trotz fortgesetzter Insulintherapie verschwinden.
Bleibt die Neigung, auf Insulininjektionen mit einer allergischen Hautreaktion zu antworten, bestehen, muss herausgefunden werden, ob andere Ursachen als das Insulinpräparat in Frage kommen. Die Insulininjektionstechnik, die verwendeten Desinfektions- und Reinigungsmittel sowie die Sauberkeit des Patienten müssen überprüft werden. Erst wenn sich herausstellt, dass nur das Insulin selbst Ursache der Allergie sein kann, ist es angebracht, mit Hilfe einer Intrakutantestung ein Insulinpräparat zu finden, bei dem keine Hautreaktionen auftreten. Die Intrakutantestung wird am Rücken vorgenommen. Sofort und 15, 30, 60 min sowie 6, 12 und 24 h nach intrakutaner Insulininjektion wird das Ergebnis des Testes abgelesen. Die Testdosis beträgt bei lokalen Reaktionen vom Spättyp jeweils 0,4 I.E. Insulin (0,1 ml einer 1:10 verdünnten Insulinlösung), bei
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Reaktionen vom Soforttyp wegen der Gefahr eines analphylaktischen Schocks jeweils nur 0,04 I.E. Insulin (0,1 ml einer 1:100 verdünnten Insulinlösung). Zusammenfassung Allergische Hautreaktionen nach Insulingabe sind bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes sehr selten geworden, da heute hochgereinigte Insulinpräparationen zur Verfügung stehen. Die allergischen Hauterscheinungen verschwinden meist nach wenigen Tagen ohne weitere therapeutische Maßnahmen. Nur extrem selten wird eine Intrakutantestung notwendig, um das Insulinpräparat zu finden, gegen das keine allergische Reaktion erfolgt.
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Insulinresistenz bei Typ-1-Diabetes Bei erwachsenen Patienten mit Typ-1-Diabetes wurde eine Insulinresistenz angenommen, wenn täglich mehr als 200 I.E. Insulin benötigt werden. Heute spricht man bereits von Insulinresistenz, wenn der Insulintagesbedarf an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen 100 I.E. überschreitet. Diese Definition kann nicht für Kinder uns Jugendliche gelten. Bei ihnen liegt eine Insulinresistenz vor, wenn täglich mehr als 2,5 I.E. Insulin pro kg Körpergewicht injiziert werden müssen. Eine Insulinresistenz tritt bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1Diabetes extrem selten auf. Wenn der Insulintagesbedarf bei einem Kind 1,5, bei einem Jugendlichen 2,0 I.E./kg KG überschreitet, sollte nach der Ursache der Überinsulinierung gefahndet werden. Eine durch Insulinantikörper bedingte verminderte Insulinansprechbarkeit spielt klinisch keine Rolle. Zahlreiche Untersuchungen der Konzentration und Avidität von Insulinantikörpern v. a. gegen Rinder- und Schweineinsulin zeigten, dass die Insulinwirksamkeit der verabreichten Insulinpräparate nicht beeinträchtig wurde. Als Ursachen für einen erhöhten Insulintagesbedarf kommen evtl. in Frage: 5 insulinantagonistische Hormone (z. B. Sexualhormone, Kortikoide, eher Wachstumshormon), 5 Ernährungsfehler, 5 Hyperlipoproteinämien, 5 Exsikkose und 5 akute und chronische Infekte.
16 Zusammenfassung 17
Am häufigsten liegt bei einem extrem hohen Insulintagesbedarf bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes eine iatrogen- oder patientenverursachte Überinsulinierung vor.
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11.9.2 Veränderungen der Haut und Subkutis Bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes, die eine zufriedenstellende Stoffwechseleinstellung aufweisen, ist die Prävalenz von Haut- und Schleimhautinfektionen nicht erhöht. Nur bei sehr schlechter Stoffwechseleinstellung können gehäuft Hautinfektionen mit pyogenen Keimen und Pilzen auftreten (z. B. Follikulitiden, Furunkel, Candidiasis, Intertrigo). Von diesen unspezifischen Hautinfektionen müssen diabetesspezifische Haut- und Unterhautveränderungen abgegrenzt werden (z. B. Necrobiosis lipoidica, Lipodystrophie). Necrobiosis lipoidica Unabhängig von der Dauer des Typ-1-Diabetes und der Qualität der Stoffwechseleinstellung treten bei Jugendlichen Läsionen der Haut auf, die als Necrobiosis lipoidica bezeichnet werden. Die Prävalenz wird mit 0,3% angegeben, Mädchen sind 4- bis 5-mal häufiger betroffen als Jungen. Die Ätiopathogenese ist vollkommen unklar. Bei der Necrobiosis lipoidica handelt es sich um eine atrophische Dermatitis, die meist im Bereich des Schienbeins auftritt, häufig auch beidseitig (. Abb. 11.37). Aus kleinen rundlichen, rötlich gefärbten Papeln entwickeln sich größere scharf begrenzte Plaques mit einem Durchmesser zwischen 2 und 6 cm. Das Zentrum der Plaques ist durchsichtig, sodass Fettgewebe gelblich durchscheint. Die Haut glänzt spiegelartig und ist von Teleangiektasien durchzogen.
. Abb. 11.37 Necrobiosis lipoidica bei einem 14 Jahre alten Mädchen mit Typ1-Diabetes (Schienbein)
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In etwa einem Drittel der Fälle kommt es zu Ulzerationen, meist durch Traumata oder mechanischen Manipulationen. Eine erfolgreiche spezifische Therapie dieser lästigen, kosmetisch unangenehmen Komplikation ist nicht bekannt. Wichtig ist der Schutz vor Traumatisierungen der betroffenen Hautareale. Lipodystrophien ! Immer wieder müssen die Kinder und Jugendlichen und ihre Eltern darauf hingewiesen werden, dass die Insulininjektionsstellen gewechselt werden müssen. Der Abstand der Injektionsstellen voneinander sollte mindestens 1,5–2,0 cm betragen.
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Nicht wenige Kinder injizieren mit Vorliebe in einen eng begrenzten Hautbezirk von 1–2 cm2. Ein solcher Bezirk wird im Laufe der Zeit weniger schmerzempfindlich. An Orten gehäufter Insulininjektionen können Veränderungen des subkutanen Fettgewebes auftreten, die als Lipodystrophien bezeichnet werden (. Abb. 11.38). Handelt es sich um Mehrbildungen des Fettgewebes, die als deutlich sichtbare Vorwölbungen imponieren, so werden sie Lipome oder Lipohypertrophien genannt. Bei Atrophien des Fettgewebes, die zu tiefen Mulden führen können, spricht man von Lipoatrophien. Die Genese der Lipodystrophien ist nicht bekannt. Lipodystrophien sind bei Jungen seltener als bei Mädchen, bei Erwachsenen seltener als bei Jugendlichen. Sie führen manchmal zu kosmetischen Problemen. Die Einführung hochgereinigter Humaninsulinpräparate hat die Häufigkeit und Ausprägung der Lipodystrophien deutlich vermindert. Trotzdem sollten die Injektionsstellen regelmäßig inspiziert werden, damit Lipodystrophien als Ursache verminderter Insulinabsorption und Insulinwirkung identifiziert werden können. Die durch Lipodystrophien verursachte Verminderung der Insulinwir-
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. Abb. 11.38 Lipodystrophie. a Lipom; b Lipoatrophie
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kung kann zu einer Insulinüberdosierung führen. Bei Injektion der erhöhten Insulindosis in lipodystrophiefreie Bezirke können schwere Hypoglykämien die Folge sein. Die Therapie der Lipodystrophien ist einfach. Sie besteht darin, dass auf andere Injektionsareale ausgewichen wird und die veränderten Stellen in Ruhe gelassen werden. Allerdings dauert es oft Monate, bis Lipome und Lipoatrophien vollständig verschwunden sind. 11.9.3 Veränderungen der Gelenke Die häufigste bei Typ-1- und Typ-2-Diabetes auftretende Gelenkveränderung ist die Cheiroarthropatie, die heute als »Limited Joint Mobility« (LJM) bezeichnet wird. Andere diabetesasssoziierte Gelenkerkrankungen kommen bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes praktisch nicht vor. LJM (Cheiroarthropathie) 1974 wurde erstmalig bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes die schmerzlose Einschränkung der Beweglichkeit in den Gelenken beschrieben, die zunächst als Cheiroarthropathie bezeichnet wurde. Dieser Begriff wird heute nicht mehr verwendet. Er ist durch die Bezeichnung »Limited Joint Mobility« ersetzt worden, da es sich nicht um Veränderungen der Gelenke, sondern des Weichteilmantels handelt und die Komplikation nicht nur auf die Handgelenke beschränkt ist. Ursächlich liegen der LJM Veränderungen der kollagenen Strukturen des Bindegewebes zu Grunde. Sie werden biochemisch auf die »Advanced Glycosylated Endproducts« (AGE) und die dadurch bedingten Quervernetzungen des Kollagens zurückgeführt. Zunächst kommt es zu einer Einschränkung der Beweglichkeit des Metakarpophalangeal- und proximalen Interphalangealgelenkes des kleinen Fingers. Die Veränderungen schreiten fort und können alle Fingergelenke, das Handgelenk, später auch die Ellenbogen- und Schultergelenke sowie die Hals- und Brustwirbelsäule betreffen. Die Unfähigkeit, die Hand in den Fingergelenken zu strecken, ist leicht zu prüfen (Bethaltung der Hände, Handabdruck mit Stempelfarbe; . Abb. 11.39). Die LJM manifestiert sich meist zwischen dem 10. und 20. Lebensjahr. Die Häufigkeitsangaben schwanken bei Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes zwischen 9 und 30% und hängen von der Diabetesdauer und Qualität der Stoffwechseleinstellung ab. Der Schweregrad der LJM korreliert direkt mit der Häufigkeit und dem Schweregrad mikrovaskulärer Folgeerkrankungen. Eine spezielle kausale Therapie gibt es nicht.
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. Abb. 11.39 »Limited Joint Mobility« (LJM; Cheiroarthropathie) bei einem 16 Jahre alten Jungen (Diabetesdauer 14 Jahre). a Handabdruck mit Stempelfarbe; b Bethaltung, maximal mögliche Streckung der Fingergelenke
Andere diabetesassoziierte Gelenkveränderungen Bei Erwachsenen mit Typ-1- und Typ-2-Diabetes sind differentialdiagnostisch andere diabetesassoziierte Gelenkerkrankungen abzugrenzen (Dupuytren-Kontraktur, Karpaltunnel-Syndrom, Flexor tenosynovitis, »Stiff Hand Syndrome«, Schulter-Hand-Syndrom), die bei den meisten Patienten nach jahrzehntelanger Diabetesdauer auftreten und zu einer Einschränkung der Lebensqualität führen können. Literatur AGPD (Arbeitsgemeinschaft für Pädiatrische Diabetologie; Heidtmann B, Ziegler R, Beyer P et al.) (2004) Statement: Insulinpumpentherapie (CSII) bei Kindern und Jugendlichen mit insulinpflichtigem Diabetes mellitus. Diabetes Stoffw 14: 62–63 DeWitt DE, Hirsch IB (2003) Outpatient insulin therapy in type 1 and type 2diabetes mellitus. JAMA 289: 2254–2264 Diabetes-Leitlinie DDG Pädiatrie (2004) Diagnostik, Therapie und Verlaufskontrolle des Diabetes mellitus im Kindes- und Jugendalter. Diabetes Stoffw 13: 37–47 Dunger DB, Edge JA (1995) Glucose homeostasis in the normal adolescent. In: Kelnar CJH (ed) Childhood and adolescent diabetes. Chapman & Hall, London, pp 31–45
Literatur
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Stationäre Behandlung nach Manifestation und während des weiteren Diabetesverlaufs )) Der Typ-1-Diabetes gehört zu den Erkrankungen, deren Diagnose wegen einer eindeutigen Symptomatologie keine Schwierigkeit bereitet. Man muss nur daran denken! Bei Kindern und Jugendlichen vergehen meist nur Tage bis 3–4 Wochen zwischen dem ersten Auftreten klinischer Symptome und der Diagnosestellung. Charakteristische Phasen bestimmen den Verlauf des Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen. Sie stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Ausmaß der Restsekretion von endogenem Insulin und der Frage, ob noch eine Teil- oder schon eine Vollsubstitution mit exogenem Insulin notwendig ist. Spätere Klinikaufenthalte sollten möglichst selten notwendig werden. Indikationen sind ernste Zweiterkrankungen, chirurgische Eingriffe oder psychiatrische Erkrankungen.
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Symptome bei Manifestation des Typ-1-Diabetes
)) Die Symptome, die bei Kindern und Jugendlichen während einer Diabetesmanifestation auftreten, sind zwar sehr eindeutig, aber individuell unterschiedlich. Der klinische Zustand und das Ausmaß der Stoffwechselentgleisung zum Zeitpunkt der Klinikaufnahme hängen u. a. davon ab, wie groß der Zeitraum zwischen dem Auftreten der ersten Symptome und der Diagnose des Diabetes ist. Nach ihrem Schweregrad kann eine leichte, eine mittelgradige und eine ausgeprägte Manifestationsform unterschieden werden.
10.1.1 Leichte Manifestationsform Die häufigsten Leitsymptome, die Arzt und Patienten daran denken lassen müssen, dass ein Diabetes vorliegt, sind starker Durst, vermehrtes Trinken und Urinlassen, Gewichtsabnahme, Abgeschlagenheit und Mattigkeit sowie Leistungs- und Konzentrationsschwäche. Auch eine Nykturie kann auftreten.
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Kapitel 10 · Stationäre Behandlung
Wegen der Polyurie fangen v. a. kleinere Kinder, die bereits trocken waren, wieder an einzunässen. In . Tabelle 10.1 sind die von Eltern zum Zeitpunkt der stationären Aufnahme berichteten Symptome und ihre prozentuale Häufigkeit zusammengestellt. Solange der Gewichts- bzw. Flüssigkeitsverlust nicht ausgeprägt ist, fühlen sich die Kinder nicht sehr krank. Sie können oft nicht verstehen, warum sie bei dieser milden Manifestationsform in die Kinderklinik aufgenommen werden. Obwohl eine Infusionsbehandlung nicht notwendig ist, sollte die Erstbehand-
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. Tabelle 10.1 Symptome bei Manifestation eines Typ-1-Diabetes (von Eltern berichtet) und ihre prozentuale Häufigkeit. (Nach Kapellen et al. 2001) Symptome
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Häufigkeit (%)
Polydipsie
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Polyurie
91
Gewichtsverlust
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Nykturie
28
Leistungsknick/Schlappheit
23
Sekundäre Enuresis
13
Infekt der oberen Luftwege
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Erbrechen/Übelkeit
10
Inappetenz
9
Bewusstseinsstörung/Koma
5
Neurologische Symptome: 5 Kopfschmerzen 5 Doppelbilder 5 Visusverlust
5
Bauchschmerzen
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Vaginitis/Balanitis
4
Atemprobleme
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Acetongeruch
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Sonstige: 5 Schluckbeschwerden 5 Wadenkrämpfe 5 Harnwegsinfektion
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Keine Symptome
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n=104.
10.1 · Symptome bei Manifestation des Typ-1-Diabetes
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lung wegen der notwendigen initialen Diabetesschulung grundsätzlich stationär durchgeführt werden. 10.1.2 Mittelgradige Manifestationsform Zu den Symptomen der leichten Manifestationsform treten bei mittelgradiger Manifestation die Zeichen der hypertonen Dehydratation. Charakteristische Exsikkosezeichen sind trockene Haut und Schleimhäute, belegte, trockene Zunge, rissige Lippen, eingesunkene, weiche Augäpfel und evtl. Stehenbleiben hochgehobener Hautfalten. Eine Azidose mit pH-Werten unter 7,3 liegt nicht vor. Der Gewichts- bzw. Flüssigkeitsverlust ist jedoch so ausgeprägt, dass eine i.v.-Rehydratationsbehandlung notwendig ist. 10.1.3 Ausgeprägte Manifestationsform Klinische Hinweise für das Vorliegen einer ausgeprägten diabetischen Stoffwechselentgleisung, die von einer leichten Ketoazidose bis zum Coma diabeticum reichen kann und immer durch eine sehr ausgeprägte Dehydratation gekennzeichnet ist, sind Acetongeruch der Ausatmungsluft und des Urins, Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen, abdominelle Beschwerden, Bewusstseinsstörung mit Unruhe und Angstzuständen, Kussmaul- bzw. Azidoseatmung, Bewusstseinstrübung bis Bewusstlosigkeit, evtl. generalisierte hirnorganische Anfälle. Bei dieser lebensbedrohlichen Manifestationsform ist keine Zeit zu verlieren! Die sofortige Aufnahme in einer Kinderklinik mit Intensivüberwachungs- und Behandlungsmöglichkeit ist dringend erforderlich. 10.1.4 Praktisches Vorgehen in Zweifelsfällen Wie geht man vor, wenn ein Kind im Rahmen eines Infektes oder einer Operation hohe Blutglukosewerte oder eine Glukosurie aufweist, aber keine Diabetestypische Anamnese vorliegt? Bei normalen oder evtl. »verdächtig« hohen Blutglukosewerten (nüchtern: Plasmaglukose >110 mg/dl, postprandiale Plasmaglukose >140 mg/dl) wird die Bestimmung der Plasmaglukosekonzentration im Labor, des HbA1c-Wertes, der diabetes-assoziierten-Autoantikörper (GADA, IA2A) sowie die Durchführung eines oralen Glukose-Toleranztests (oGTT) empfohlen. Die ISPAD Consensus Guidelines 2000 empfehlen die Durchführung des oGTT mit der oralen Glukosegabe von 1,75 g/kg Körpergwicht nüchtern nach normaler Kohlenhydrataufnahme an den vorangehenden Tagen. Die Kriterien für die Beurteilung des oGTT sind für Kinder, Jugendliche und Erwachsene gleich (. Tabelle 1.1). Wenn nicht gleich ein oGTT durchgeführt werden kann, wird ein Blutglukose-Tagesprofil (2-stündlich über eine Verweilkanüle) unter
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Kapitel 10 · Stationäre Behandlung
normaler, kohlenhydratreicher Kost gemessen. Werden pathologisch hohe Blutglukosewerte nachgewiesen, gilt das Vorliegen eines Diabetes mellitus als gesichert. Differentialdiagnostisch ist ein Typ-1-Diabetes von anderen Diabetesformen (z. B. Typ-2-Diabetes, MODY) bzw. sekundären Störungen der Kohlenhydrattoleranz (z.B. Medikamente, Endokrinopathien) oder einer akzidentellen Hyperglykämie im Rahmen einer Stressituation abzugrenzen. Wenn die diabetesspezifischen Autoantikörper positiv und der oGTT normal ausfällt, empfiehlt sich eine Wiedervorstellung des Patienten in 6–12 Monaten zur Wiederholung der Tests, denn das Risiko, einen insulinpflichtigen Diabetes zu entwickeln, ist relativ hoch. Wenn im oGTT pathologisch hohe Werte nachgewiesen werden, sind regelmäßige Kontrolluntersuchungen (alle 3–6 Monate) erforderlich. Für die häuslichen Tests durch die Eltern eignet sich der Glukosenachweis im Urin (Urinzuckerteststreifen: Diabur 5.000) besser als die Blutzuckerbestimmung, da diese bei Ungeübten häufig falsch-pathologische Werte anzeigt und damit Unsicherheit und Verwirrung auftreten können. Als weiteres Kriterium für das Vorliegen einer gestörten glykämischen Stoffwechsellage kann der HbA1c-Wert herangezogen werden. Ein HbA1c-Wert unterhalb der einfachen Standardabweichung des Mittelwertes des Normalkollektivs des Labors schließt einen Diabetes aus, während ein Wert oberhalb der doppelten Standardabweichung die Diagnose Diabetes mellitus wahrscheinlich macht. 10.2
Verlaufsphasen des Typ-1-Diabetes
)) Der klinische Verlauf des Typ-1-Diabetes ist bei Kindern und Jugendlichen durch 3 charakteristische Phasen gekennzeichnet, die als Initial-, Remissions- und Postremissionsphase bezeichnet werden. Die Dauer der Verlaufsphasen ist individuell sehr unterschiedlich.
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10.2.1 Initialphase
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Bei Manifestation des Typ-1-Diabetes ist der Insulinbedarf zunächst relativ hoch, und zwar umso höher, je länger der Diabetes bereits vorlag, ohne diagnostiziert zu werden. In Abhängigkeit vom Manifestationstyp liegt der Insulintagesbedarf bei Patienten mit ausgeprägter Dehydratation und Ketoazidose bzw. Coma diabeticum zwischen 1,5 und 2,5 I.E. pro kg Körpergewicht (KG), bei Kindern mit mittelgradiger Dehydratation ohne Ketoazidose zwischen 1,0 und 1,5 I.E. pro kg
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10.2 · Verlaufsphasen des Typ-1-Diabetes
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KG und bei der leichten Manifestationsform mit geringgradiger Dehydratation zwischen 0,5 und 1,0 I.E. pro kg KG. 10.2.2 Remissionsphase Bei etwa 90% der Patienten kann die Insulindosis einige Tage nach Beginn der Behandlung nach und nach reduziert werden. Der Patient kommt in die Remissionsphase, die durch eine unterschiedlich ausgeprägte Restsekretion von endogenem Insulin charakterisiert ist. Als »partielle temporäre Remission« wird die Phase bezeichnet, in der der Insulintagesbedarf definitionsgemäß weniger als 0,5 I.E. pro kg KG beträgt. Während dieser Zeit, die auch als »Flitterwochen« (Engl. »honeymoon period«) des Diabetes bezeichnet wird, ist eine sehr gute Stoffwechseleinstellung – meist ohne Glukosurie – ohne Schwierigkeiten zu erzielen. Eltern und Kinder lernen, mit der Erkrankung umzugehen. Die »partielle temporäre Remission« mit sehr niedrigem Insulintagesbedarf tritt nur bei etwa 30–60% der Kinder und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes auf und dauert 1–6 Monate, selten länger als ein Jahr. Bei Kleinkindern tritt die Remission seltener und kürzer auf. Die Restsekretion von Insulin lässt in der Folge immer mehr nach, sodass sie bei der Mehrzahl der Patienten schon nach 1–2 Jahren nicht mehr nachweisbar ist. Nach 2–4 Jahren ist sie in der Regel bei allen Kindern erloschen. Die Remissionsphase ist damit endgültig beendet. 10.2.3 Postremissionsphase Während der Postremissionsphase liegt der Insulintagesbedarf bei Kindern vor der Pubertät zwischen 0,8 und 1,0 I.E. pro kg KG, meist näher bei 1,0 I.E. pro kg KG. Wir sind der Auffassung, dass bei Kleinkindern und Kindern bis etwa 12 Jahren eine Tagesdosis von 1 I.E. pro kg KG nicht überschritten werden sollte. Wenn mehr Insulin injiziert wird, muss eine Überinsulinierung in Erwägung gezogen werden. Allerdings steigt der Insulintagesbedarf während der Pubertät deutlich an. Er liegt bei Mädchen zwischen 1,0 und 1,3 I.E. pro kg KG, bei Jungen zwischen 1,1 und 1,4 I.E. pro kg KG. Ursachen des steigenden Insulinbedarfs sind der Wachstums- und Entwicklungsprozess der Patienten. Insulinantagonistische Hormone wie Kortikoide, Wachstumshormon, Schilddrüsenhormon, Sexualhormone werden während dieser Altersphase in wechselnder Menge sezerniert und führen zu einer deutlichen Verminderung der Insulinwirksamkeit. Das ist auch einer der Gründe dafür, dass während der Pubertät, der Zeit der Sexualreife, eine zufrieden stellende Stoffwechseleinstellung oft sehr schwierig zu erzielen ist.
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Kapitel 10 · Stationäre Behandlung
Nach der Pubertät sinkt der Insulintagesbedarf bei Mädchen wieder auf Werte unter 1,0 I.E. pro kg KG, während er bei Jungen auf etwa 1,0 I.E. pro kg KG zurückgeht. Der endgültige Insulinbedarf des Erwachsenen, der bei etwa 0,6– 0,7 I.E. pro kg KG liegt, wird meist jenseits des 20. Lebensjahres erreicht. Zusammenfassung Die Kenntnis der charakteristischen, vom Alter des Patienten und von der Diabetesdauer abhängigen Veränderungen der Insulindosis ermöglichen zwar keine exakten Rückschlüsse auf den individuellen Insulinbedarf, lassen jedoch prognostische Aussagen zu. Besorgte Eltern können z. B. darauf hingewiesen werden, dass der labilen Stoffwechseleinstellung mit hohem Insulinbedarf während der Pubertät eine stabile Phase mit reduziertem Insulinbedarf folgt.
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10.3
Stationäre Behandlung nach Manifestation des Typ-1-Diabetes
)) Die Initialbehandlung von Kindern und Jugendlichen nach Manifestation eines Typ1-Diabetes erfolgt in Deutschland in der Regel stationär in einer Kinderklinik. Obwohl eine ambulante Erstbehandlung bei klinisch gutem Zustand eines Kindes möglich ist und dabei von etwa gleichen Kosten für das Gesundheitswesen auszugehen ist, sind die dafür erforderlichen ambulanten Strukturen in Deutschland gegenwärtig nicht vorhanden . Die stationäre Aufnahme nach Manifestation sollte nicht nur wegen der notwendigen initialen Stoffwechselersteinstellung, sondern v. a. wegen der initialen Schulung der Kinder und Jugendlichen und ihrer Eltern erfolgen. Dafür sind etwa 10–14 Tage erforderlich. Vom Zustand des Kindes hängt es ab, ob eine Initialtherapie mit oder ohne Infusionsbehandlung notwendig ist. Während des ersten Klinikaufenthaltes muss entschieden werden, ob das Kind eine konventionelle oder intensivierte Insulintherapie erhalten soll. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus sollte die Behandlung und Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes ambulant, gemeinsam durch den niedergelassenen Kinderarzt und die Mitarbeiter einer Diabetesambulanz, an einer Kinderklinik bzw. pädiatrisch-diabetologischen Schwerpunktpraxis durchgeführt werden.
10.3 · Stationäre Behandlung nach Manifestation
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10.3.1 Erste Maßnahmen nach Aufnahme Bei der klinischen Aufnahme eines Kindes mit Diabetesverdacht sollte auf folgende Besonderheiten geachtet werden, die leider immer wieder vergessen werden: Wichtige Maßnahmen nach Aufnahme 5 Anamnese: Typische Symptome wie Polyurie, Polydipsie, Gewichtsabnahme, Enuresis, aber auch Diabetes in der Familie und individuelle Ernährungsgewohnheiten erfragen 5 Aufnahmestatus: Nicht vergessen: Länge und Gewicht mit Perzentilen, Dehydratationsgrad, Pubertätsstadium und Blutdruck zu dokumentieren 5 Initiale Labordiagnostik unmittelbar nach Aufnahme: Blutglukose, Blutgasanalyse, Elektrolyte (cave: korrigiertes Na = gemessenes Na + 2 × ((BG– 100)/100), Harnstoff, Kreatinin, Blutbild mit Hämatokrit, HbA1c; Urinstatus mit Ketonkörper- und Glukosenachweis 5 Labordiagnostik nach Initialphase: GAD-Antikörper, IA2-Antikörper, Transaminasen, Cholesterin (HDL/LDL), Trigyceride, IgA, Screening auf assoziierte Erkrankungen, z. B. fT4, TSH, Anti-TPO/Anti-TG und TRAK-AK (Hashimoto-Thyreoiditis), Transglutaminase-Antikörper (Zöliakie)
Die Insulintherapie vermittelt bei Typ-1-Diabetes den lebensnotwendigen Ersatz des fehlenden körpereigenen Insulins. Sie ist daher lebenslang erforderlich. Ihr Erfolg hängt davon ab, inwieweit es gelingt, die physiologische Insulinsekretion zu imitieren. Das ist nur bei ausreichendem Wissen und praktischen Fertigkeiten der Familien erreichbar. Die Insulintherapie ist daher auch das zentrale Thema aller strukturierten Schulungsprogramme, die später ausführlich dargestellt werden. Während der initialen Behandlung und Schulung sollen die Kinder, Jugendlichen und ihre Eltern und auch andere Betreuungspersonen in die Lage versetzt werden, die Insulintherapie im Alltag sachgerecht und selbständig durchzuführen. Die Insulintherapie soll eine selbstbestimmte, flexible Lebensführung – einschließlich einer möglichst wenig durch den Diabetes eingeschränkten Ernährung – ermöglichen. Die verfügbaren Schulungsprogramme für Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes und ihre Eltern erwiesen sich im Rahmen einer initialen stationären Schulung als effektiv hinsichtlich Diabeteswissen, praktischer Therapiekompetenz, Diabetesakzeptanz, sozialer Integration, Stoffwechselparameter und Familienakzeptanz.
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Kapitel 10 · Stationäre Behandlung
10.3.2 Gespräche mit dem Arzt ! Erfahrungsgemäß ist für den Prozess der Krankheitsbewältigung, der unmittelbar nach Diagnosestellung beginnt, das erste Gespräch mit der Eröffnung der Diagnose »Diabetes mellitus« von erheblicher Bedeutung. Das erste Gespräch mit der Mitteilung der Diagnose beeinflusst den langfristigen Therapieverlauf und damit die gesamte Prognose des Diabetes.
Mit der Diagnose »Diabetes mellitus« sind viele, oft angstbesetzte Gefühle und Vorstellungen verbunden. Diese beziehen sich häufig auf vorangegangene Krankheitserfahrungen. Fast immer sind sie mit Schuldgefühlen belastet, die darauf beruhen, sich selbst bzw. das eigene Kind nicht vor einer solchen unheilbaren Erkrankung geschützt zu haben. Weiterhin bestehen aufgrund weit verbreiteter Fehlinformationen in der Bevölkerung bei vielen Patienten und ihren Eltern angstbesetzte Vorurteile gegenüber dieser chronischen Erkrankung. Ungenaue oder ausweichende Informationen, erst recht vordergründige Tröstungsversuche können sich negativ auswirken. Scheinbar nebensächliche Fehlinformationen können fest haften bleiben und das Verhalten der Kinder oder ihrer Eltern über lange Zeit beeinflussen. Eine langjährige Erfahrung im Umgang mit »Diabetes-Familien« ist für die Beratung und Information der Eltern unabdingbar. Die Diagnoseeröffnung sollte daher möglichst frühzeitig durch einen kinderdiabetologisch erfahrenen Arzt erfolgen. Die Inhalte des 1. Arztgespräches sind in der folgenden Übersicht zusammengestellt:
11 1. Arztgespräch 12 13 14 15 16 17
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Eingehen auf die emotionale Situation bei Diagnoseeröffnung Bestehende Vorerfahrungen (»Vorurteile«) über die Erkrankung Häufigkeit der Erkrankung (1 Kind auf 600) Theorien zur Ursache der Erkrankung (wichtig ist v. a. – als Entlastung von Schuldgefühlen – die differenzierte Erklärung der genetischen Komponente) Unterschied Typ-1-/Typ-2-Diabetes mit den daraus folgenden Konsequenzen für die Therapie Folgen des Insulinmangels mit Bezug auf die Symptomatik des Kindes Grundlagen der Therapie (lebenslange Therapie, remissionseinleitende Wirkung des Insulins) Ablauf während des stationären Aufenthalts Ansprechpartner (Arzt, Psychologe, Diabetesberaterin usw.) Auswirkungen auf die Lebensplanung (Gestaltung eines normalen Lebens möglich und notwendig)
10.3 · Stationäre Behandlung nach Manifestation
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Diese Inhalte werden nicht als Wissensvermittlung im Sinne einer Schulung angesprochen, sondern sollen den Eltern lediglich eine Orientierungshilfe geben. Dabei ist nicht abzusehen, welche Aspekte für die Eltern von Bedeutung sind. Erfahrungsgemäß behalten die Eltern nur das für sie momentan Wichtige in der Erinnerung und vergessen vieles andere. Alle Themen müssen daher später, im Rahmen der Schulung, noch einmal in Ruhe besprochen werden. Die Aufklärung des Kindes erfolgt in aller Regel getrennt von den Eltern. Das Gespräch orientiert sich inhaltlich am Alter und Reifegrad des Kindes. Im Vordergrund stehen konkret praktische Inhalte, die zum Verständnis der aktuellen Situation des Kindes beitragen. Bei älteren Kindern kann es auch gemeinsam mit den Eltern erfolgen. Allerdings sollte den Eltern auch Gelegenheit gegeben werden, ihre Ängste ohne die Anwesenheit ihres Kindes zu äußern. An einem der folgenden Tage ist ein weiteres ausführliches Gespräch mit den Eltern notwendig, in dem die Inhalte der Diagnoseeröffnung wiederholt werden und in dem auf die Fragen eingegangen werden kann, die in der Zwischenzeit aufgetreten sind. Die Inhalte dieses 2. Gesprächs sind in der folgenden Übersicht zusammengestellt: 2. Arztgespräch 5 Aufgreifen der Themen des Erstgesprächs: Anpassung an die Lebensführung, Diabetes soll nicht zum Lebensinhalt werden 5 Problem der »Overprotection« 5 Stoffwechsel: ohne Kontrolle ist keine Therapie möglich (Blutglukosemessung und Ketonkörperbestimmung, HbA1c) 5 Hypoglykämie und Gegenregulation (Glukagon) 5 Risiko für Folgeerkrankungen 5 Regelmäßige ambulante Vorstellungen 5 Kontrolluntersuchungen zur rechtzeitigen Erkennung anderer Risikofaktoren (Hyperlipidämie, Hypertonie) 5 Bei Fragen: Beruf, Partnerschaft, Lebenserwartung, Auftreten von psychischen Problemen 5 Neues aus der Forschung
Die eigentliche Schulung der Eltern und Patienten durch die Diabetesberaterinnen und Diätassistentinnen beginnt erst nach diesen beiden eingehenden Initialgesprächen mit dem Arzt. Im Verlauf des Klinikaufenthalts finden weitere Arztgespräche mit den Eltern statt, die die Schulungsgespräche ergänzen sollen. Im eingehenden Gespräch vor der Entlassung wird der Krankenhausaufenthalt noch einmal zusammenfassend erörtert. Unbeantwortete Fragen oder Unsicherheiten über die Behandlung des
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Kapitel 10 · Stationäre Behandlung
Diabetes und die Gestaltung des alltäglichen Lebens sollten beantwortet werden. Das Gespräch wird in der Regel mit dem Arzt, der Diabetesberaterin, den Eltern und Patienten gemeinsam geführt. In der folgenden Übersicht sind einige Themen des Abschlussgesprächs zusammengestellt: Abschlussgespräch 5 Ansprechen noch bestehender Ängste (z. B. Hypoglykämie, Ketoazidose) 5 Vereinbaren von Anhaltspunkten, die einen telefonischen Rückruf rechtfertigen z. B. 3 Tage erhöhter Blutzucker über 200 mg/dl, Hypoglykämie (Remissionsphase!), Ketonurie mit Blutzucker über 300 mg/dl, Unklarheit und Unsicherheit bei der Diabetestherapie 5 Besprechen der aktuellen Insulindosis und evtl. notwendiger Insulindosisanpassung 5 Häufigkeit von Stoffwechselkontrollen (4-mal täglich Blutzucker: morgens, mittags, abends und vor dem Schlafengehen sowie bei unklaren Situationen) und Interpretation der Ergebnisse 5 Vorstellungstermin in der Diabetesambulanz 5 Weitere offene Fragen
9 10.3.3 Initialtherapie ohne Infusionsbehandlung
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Mit der Insulinsubstitution wird vor der ersten Mahlzeit im Krankenhaus begonnen. Schon jetzt müssen die Weichen für die Insulinsubstitutionsmethode gestellt werden, die während der folgenden Zeit angewendet werden soll. Gemeinsam mit den Eltern sollten die heute möglichen Formen der Insulintherapie erörtert werden. Es geht darum, ob das Kind eine konventionelle Insulinbehandlung mit meist 2 täglichen Insulininjektionen oder eine intensivierte Insulintherapie mit meist 4 täglichen Insulinapplikationen oder eine Insulinpumpentherapie erhalten soll. Konventionelle Insulintherapie Bei Kleinkindern und Schulkindern unter 10 Jahren kann man davon ausgehen, dass wegen der zu erwartenden Remissionsphase eine gute Stoffwechseleinstellung mit sehr niedrigen Insulintagesdosen zu erwarten ist, die unter 0,5 I.E. pro kg KG liegen. Das entspricht einer Tagesdosis, die meist weit unter 15 I.E. liegt. Oft benötigen die Kinder täglich nur 4 oder 6 I.E., um Blutzuckerwerte unter 120 mg/dl bei Aglukosurie zu erreichen. Eine konventionelle Insulintherapie mit 2 Insulininjektionen pro Tag kann daher in dieser Altersphase versucht werden. Zweimal täglich, morgens vor dem ersten Frühstück und abends vor dem Abendessen, wird ein Verzögerungsinsu-
10.3 · Stationäre Behandlung nach Manifestation
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lin mit oder ohne Normalinsulinanteil injiziert. In Abhängigkeit von der Restsekretion liegt der Normalinsulinanteil zwischen 10 und 30%. Bei niedrigem exogenen Insulinbedarf steht die Basalinsulinsubstitution im Vordergrund. Der Normalinsulinanteil ist daher gering oder fehlt ganz, sodass evtl. ein langwirkendes Insulin-Analogon eingesetzt werden kann. Bei höherem Insulinbedarf ist ein größerer Normalinsulinanteil notwendig, um den Prandialinsulinbedarf abzudecken. Die Insulindosis hängt vom Alter des Kindes, von der Höhe der Blutglukosewerte und vom Ausmaß der Restsekretion ab. Die Stoffwechselreaktionen auf die erste Insulingabe fallen sehr unterschiedlich aus. Daher können verbindliche Angaben über die initiale Insulindosis nicht gegeben werden. Manche Kinder reagieren auf die erste Insulingabe sehr empfindlich mit schnellem und ausgeprägtem Abfall der Blutglukosekonzentration. Um eine Hypoglykämie zu vermeiden, ist es daher angebracht, die initiale Insulindosis nicht zu hoch zu wählen. Initial kann z. B. eine Einzeldosis gewählt werden, die zwischen 4 und 10 I.E. Normalinsulin liegt. Das entspricht etwa 0,2–0,3 I.E. pro kg KG. Die Tagesdosis beträgt bei Behandlungsbeginn während der Initialphase 0,5–1,0 I.E. pro kg KG. Vom weiteren Verlauf des Blutglukosespiegels hängt es ab, ob mehr oder weniger Insulin injiziert werden muss. Die Blutglukosekonzentration wird nach Klinikaufnahme zunächst in stündlichen Abständen gemessen, nach 3–6 h seltener. Wenn keine Komplikationen auftreten (z. B. Hypoglykämie), wird die Blutglukosekonzentration im Rhythmus des sog. Tagesprofils bestimmt. Der Zeitpunkt der Blutentnahmen und Glukosebestimmungen steht bei diesem Tagesprofil in konstanter Beziehung zur Insulingabe und Nahrungszufuhr. Der Insulinbedarf geht in charakteristischer Weise etwa 1–2 Wochen nach Beginn der Initialbehandlung zurück. Meist wird die Insulintherapie mit täglich 2 Injektionen fortgesetzt. Selten kann ein Kind wegen des sehr niedrigen Insulinbedarfs sogar von täglich 2 Injektionen auf 1 Injektion umgestellt werden. Das sollte jedoch immer nur als ein Versuch gewertet werden. Bei Anstieg der Blutglukosewerte und erneutem Auftreten einer Glukosurie muss das Kind wieder auf 2 tägliche Injektionen umgestellt werden. Es ist unstrittig, dass die Kinder nach Manifestation des Diabetes v. a wegen der notwendigen Initialschulung 1–2 Wochen in der Klinik bleiben. Aber auch aus medizinischen Gründen ist es sinnvoll in der Klinik abzuwarten, auf welchen Insulinbedarf sich die Stoffwechseleinstellung endgültig einpendelt. Eltern sind zu diesem frühen Zeitpunkt meist überfordert, die notwendige Reduzierung der Insulingaben eigenverantwortlich durchzuführen. In der letzten Zeit hat es sich als zunehmend sinnvoll erwiesen, auch Kleinkinder initial mit einer Insulinpumpe auszustatten. Das bedeutet, dass es für die Insulinpumpentherapie prinzipiell keine Altersgrenze mehr gibt.
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Kapitel 10 · Stationäre Behandlung
Intensivierte Insulintherapie Schulkinder ab 10 Jahren und Jugendliche benötigen von Anfang an höhere tägliche Insulindosen, auch dann, wenn sie in die Remissionsphase kommen. Daher ist es sinnvoll, sich bei ihnen bereits unmittelbar nach Diabetesmanifestation für eine intensivierte Form der Insulintherapie zu entscheiden. Viele Jahre hindurch wurde fast ausschließlich eine 4-Injektionen-Therapie durchgeführt (ICT). Inzwischen werden jedoch zunehmend häufiger Insulinpumpen bei Kindern und Jugendlichen eingesetzt (CSII). ! Heute stellt sich bei Kindern und Jugendlichen während der Initialphase nicht nur die Frage, ob eine konventionelle oder intensivierte Insulintherapie durchgeführt werden soll, sondern man muss sich auch entscheiden, ob die intensivierte Insulintherapie mit täglich 4 Injektionen oder mit einer Insulinpumpe erfolgen soll.
Wenn man sich für eine intensive Insulintherapie (ICT) entschieden hat, erhalten die Kinder bzw. Jugendlichen morgens, mittags und abends vor den Hauptmahlzeiten Normalinsulin als Prandialrate, abends spät ein Verzögerungsinsulin (z. B. NPH-Insulin) als Basalrate. Man kann auch Insulin-Analoga mit schnellem und langsamem Wirkungseintritt injizieren. Das Vorgehen bei intensivierter Insulintherapie mit Hilfe einer Insulinpumpe (CSII) ist im Prinzip sehr ähnlich. Die Prandialinsulingaben werden vom Patienten vor den Mahlzeiten abgerufen und die kontinuierliche Basalinsulinapplikation eingestellt. ! Die Entscheidung für eine der beiden Formen der intensivierten Insulintherapie hat nur Vorteile. Der Patient wird von vornherein nach dem Prinzip der differenzierten Prandial- und Basalinsulinsubstitution geschult. Er übt von Anfang an, die Insulindosis flexibel an die geplante Nahrungszufuhr anzupassen und begreift schnell die Notwendigkeit täglich mehrfacher Blutglukosebestimmungen. Er erkennt die vielen Variationsmöglichkeiten dieser Therapieform, und gewinnt in kurzer Zeit vielfältige praktische Erfahrungen mit Einsicht in seine individuellen Stoffwechselreaktionen. Er kann daher sein Leben sehr viel freier und variabler gestalten als ein Patient, der täglich nur 1- oder 2-mal Insulin injiziert, weil er eine konventionelle Insulintherapie durchführt.
10.3.4 Initialtherapie mit Infusionsbehandlung ! Nach unseren Erfahrungen wird bei etwa 50% der Kinder und Jugendlichen mit Manifestation eines Typ-1-Diabetes die Diagnose so spät gestellt, dass eine ausgeprägte Dehydratation auftritt, die mit einer i.v.-Infusion behandelt werden muss.
10.3 · Stationäre Behandlung nach Manifestation
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Wenn der pH-Wert mehr als 7,3 beträgt (bzw. der base excess über –8 liegt), liegt keine diabetische Ketoazidose vor. Sie tritt bei Manifestation seltener auf, etwa bei 20% der Kinder und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes. Das diagnostische und therapeutische Vorgehen bei diabetischer Ketoazidose wird später eingehend beschrieben. Bei den Patienten mit ausgeprägter Dehydratation ohne Azidose stehen starker Durst, vermehrtes Trinken und Urinlassen, Gewichtsabnahme, Abgeschlagenheit, Mattigkeit, Leistungs- und Konzentrationsschwäche im Vordergrund. Später treten Exsikkosezeichen wie trockene Haut und Schleimhäute, belegte trockene Zunge und halonierte Augen hinzu. Auch Übelkeit, Erbrechen, Sehstörungen und Kopfschmerzen können auftreten. Das Flüssigkeitsdefizit beträgt bei ausgeprägter Dehydratation ohne Ketoazidose etwa 30–50 ml pro kg KG. Die wichtigste Behandlungsmaßnahme ist neben der initialen Insulingabe eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr. Während der ersten 24 h werden das angenommene Flüssigkeitsdefizit von 30–50 ml pro kg KG und zusätzlich der Tagesbedarf des Patienten (Schulkinder: 60–80 ml pro kg KG; Jugendliche: 40– 60 ml pro kg KG) infundiert. Für die Infusionsbehandlung eignet sich am besten eine Lösung, die Natrium und Chlorid in dem für das Plasma und den Extrazellulärraum gültigen physiologischen Verhältnis aufweist, d. h. etwa 150 mÄq/l Na+ und 100 mÄq/l Cl-, wie in einer isotonen Ringer-Laktat-Lösung (z. B. Sterofundin). Ringer-LaktatLösungen werden von Kindern und Jugendlichen gut toleriert, da das Laktat schnell metabolisiert wird. Nicht so gut geeignet wie eine isotone Ringer-Laktat-Lösung ist eine isotone 0,9%ige NaCl-Lösung, da sie wegen des unphysiologisch hohen Chloridgehalts zu einer hyperchlorämischen Azidose führen kann. Streng abzuraten ist von der initialen Verwendung hypotoner Infusionslösungen (z. B. halbisotone 0,45%ige NaCl-Lösung). Immer wieder begegnet man dem Fehlschluss, dass eine hypertone Dehydratation, wie sie bei Diabetesmanifestation vorliegt, mit einer hypotonen Infusionslösung behandelt werden muss. Diese Therapie birgt die Gefahr in sich, dass durch ein Überangebot an »freiem Wasser« vermehrt Flüssigkeit vom Extra- in den Intrazellulärraum eindringt. Eine intrazelluläre Hirnschwellung kann die Folge sein, sodass hirnorganische Anfälle, Coma und irreversible Hirnschäden auftreten können. Bei Absinken der Blutglukosewerte unter 300 mg/dl wird auf eine halbisotone Ringer-Laktat-Lösung mit 5% Glukose (z. B. Sterofundin HG5) umgestellt. Mit dieser Infusionstherapie wird das Defizit an Natrium und Chlorid voll ersetzt. Die Behandlung des Kaliumdefizits beginnt, wenn die Diurese ausreichend in Gang gekommen ist. In 6 h werden etwa 1 ml einer 1,0 molaren KClLösung pro kg KG benötigt. Insgesamt sind 3–4 mÄq pro kg KG in 24 h notwendig. Bei höherer Kaliumsubstitution droht die Gefahr einer transitorischen
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Kapitel 10 · Stationäre Behandlung
Hyperkaliämie. Man muss besonders darauf hinweisen, dass eine einmolare Kaliumsalzlösung nie als Bolus infundiert werden darf. Bei der i.v.-Flüssigkeitsbehandlung wird heute fast ausschließlich das Prinzip der niedrig dosierten Insulininfusion angewendet, da eine maximale hypoglykämisierende Insulinaktivität im Plasma mit sehr niedrigen Insulindosen erreichbar ist. Es wird 0,1 I.E. Normalinsulin pro kg KG und Stunde infundiert, bis der Blutglukosewert 200 mg/dl erreicht. Dann wird die Insulininfusion mit 0,05 I.E. pro kg KG und Stunde fortgesetzt. Bei Blutglukosewerten unter 150 mg/dl wird die Insulindosis auf 0,025 I.E. pro kg KG und Stunde reduziert. Sie sollte auch bei Werten unter 100 mg/dl fortgesetzt werden. Die Insulininfusion wird im »Bypass« mit einer 50-ml-Perfusorspritze durchgeführt. Beispiel: Die Spritze wird mit 48 ml einer 0,9%igen NaCl-Lösung und 0,5 I.E. Normalinsulin pro kg KG gefüllt. Bei einer Insulininfusion von 0,1 I.E. pro kg KG und Stunde werden 10 ml pro Stunde infundiert, bei 0,05 I.E. 5 ml, bei 0,025 I.E. 2,5 ml (. Tabelle 10.2). Die Infusionsbehandlung bei ausgeprägter Dehydratation ohne Ketoazidose dauert in der Regel 12–24 h. Das weitere therapeutische Vorgehen entspricht dem bei leichter Dehydratation ohne Infusionsbehandlung. Eine gefürchtete Komplikation während der Insulininfusionsbehandlung ist die Entwicklung einer Hypoglykämie. Schon bei Erreichen eines Blutglukosespiegels von 300 mg/dl muss daher die Infusion mit glukosefreier Infusionslösung (z. B. Sterofundin) beendet und mit glukosehaltiger Lösung (z. B. Sterofundin HG5) fortgesetzt werden. Wenn allerdings auch bei Blutglukosewerten unter 100 mg/dl die Insulininfusion mit 0,025 I.E. pro kg KG fortgesetzt wird, könnte die Infusion mit 5%iger Glukoselösung nicht ausreichend sein, um eine Hypoglykämie sicher zu verhindern. Daher sollten bei Werten unter 100 mg/dl die Glukosekonzentration in der Infusionslösung erhöht und/oder Kohlenhydrate oral zugeführt werden. Da sich die Kinder nicht mehr sehr krank fühlen, kann zu diesem Zeitpunkt auch die erste Mahlzeit angeboten werden. Mit der Gabe von Tee mit Traubenzucker, geschlagener Banane, geriebenem Apfel oder anderen leicht verdaulichen Kohlenhydratnahrungsmitteln wird begonnen.
15 16
. Tabelle 10.2 Intravenöse Insulinsubstitution im »Bypass«
17
Blutglukose (mg/dl)
Insulindosis (I.E./kg KG/h)
Infusionsmenge (ml/h)
>200
0,1
10
150–200
0,05
5
<150
0,025
2,5
10.4 · Stationäre Behandlung im weiteren Verlauf
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Zusammenfassung Nach Manifestation eines Typ-1-Diabetes werden Kinder und Jugendliche 10–14 Tage lang in der Kinderklinik behandelt. Bei ausgeprägter Dehydration beginnt die Therapie mit einer 12- bis 24-stündigen Flüssigkeits- und Insulininfusion. Bei leichter Dehydratation wird sofort mit der s.c.-Insulinbehandlung begonnen. Bei Kindern unter 10 Jahren entscheidet man sich in der Regel für eine konventionelle Insulintherapie mit 2 täglichen Insulininjektionen. Heute wird sowohl bei Kleinkindern, Kindern und Jugendlichen zunehmend häufig sofort eine intensivierte Insulintherapie eingesetzt, entweder als 4-InjektionenTherapie (ICT) oder auch als Insulinpumpentherapie (CSII). Neben der Initialbehandlung erhalten Eltern und Kinder eine intensive Initialschulung, um nach Entlassung aus der Kinderklinik den Diabetes sachgerecht behandeln zu können.
10.4
Stationäre Behandlung während des weiteren Verlaufs des Typ-1-Diabetes
)) Eine der wichtigen Aufgaben der ambulanten Langzeitbehandlung von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes ist es, die Zahl der Klinikaufenthalte auf ein Mindestmaß zu reduzieren.
Indikationen zur Klinikaufnahme sind: 5 Manifestation des Typ-1-Diabetes 5 Umstellung der Insulinsubstitutionsmethode (z. B. von Injektions- auf Pumpentherapie) 5 Akute Stoffwechselentgleisungen (z. B. schwere Hypoglykämie mit Bewusstlosigkeit, diabetische Ketoazidose) 5 Chronische Stoffwechselentgleisungen (z. B. mangelnde Mitarbeit der Eltern oder des Patienten, Therapieverweigerung) 5 Akute nicht Diabetes-assoziierte Erkrankungen (z. B. Infekte der oberen Luftwege, Pneumonie, akute Durchfallerkrankung) 5 Chronische Diabetes-assoziierte Erkrankungen (z. B. Autoimmunthyreoiditis, Autoimmun-Polyendokrinopathie, Zöliakie) 5 Unfälle 5 Operationen (z. B. Appendektomie, Tonsillektomie, Herniotomie) 5 Psychiatrische Erkrankungen (z. B. Anorexia nervosa, Bulimie, Hypoglycaemia factitia)
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Kapitel 10 · Stationäre Behandlung
Akute, ausgeprägte Stoffwechselentgleisungen wie eine diabetische Ketoazidose oder auch eine mit Bewusstseinsverlust einhergehende schwere Hypoglykämie erfordern die sofortige Klinikeinweisung, da sie eine Infusionsbehandlung notwendig machen. Manchmal müssen Patienten zu einem späteren Zeitpunkt stationär aufgenommen werden, wenn eine Änderung des Therapieprinzips erfolgen soll, z. B. bei der Umstellung von einer 4-Injektionen-Therapie auf eine Insulinpumpentherapie. Die mangelnde Mitarbeit der Eltern oder des Kindes mit Therapieverweigerung kann zu einer chronischen Stoffwechselentgleisung führen, die eine Klinikaufnahme notwendig macht. Indikationen zur Klinikaufnahme können auch akute Erkrankungen, Unfälle oder chirurgische Eingriffe sein, die nichts mit dem Diabetes zu tun haben. Bei Diabetes-assoziierten chronischen Erkrankungen ist die stationäre Aufnahme zur Diagnostik und Therapie ebenfalls oft unumgänglich. Aber auch psychiatrische Erkrankungen, bei denen eine ambulante Psychotherapie wenig Aussicht auf Erfolg hat, können eine stationäre Aufnahme notwendig machen. 10.4.1 Akute nicht Diabetes-assoziierte Erkrankungen Eine schwere Bronchopneumonie oder eine Gastroenteritis mit ausgeprägter Dehydratation machen eine Klinikaufnahme wie bei jedem Kind notwendig. Aber auch Infektionen (z. B. Angina, Bronchitis, hochfieberhafte Virusinfekte), die bei stoffwechselgesunden Kindern zu Hause durch den niedergelassenen Arzt behandelt werden können, führen bei einem Kind mit Typ-1-Diabetes manchmal zu Stoffwechselentgleisungen, die in der Klinik behandelt werden müssen. Das hängt selbstverständlich sehr von der Sicherheit der Eltern ab, mit der sie die Krankheitssituation und die Konsequenzen für den Stoffwechsel meistern. Gut geschulte und erfahrene Eltern kommen oft auch mit schwierigen Situationen zurecht, während Eltern mit Wissensdefiziten oder nur kurzfristigen Erfahrungen mit dem Diabetes ihres Kindes eher bereit sind, ihr Kind stationär aufnehmen zu lassen. Nach Ankunft des Kindes in der Klinik verlaufen Diagnose und Therapie zweigleisig. Einerseits muss die Zweiterkrankung, die zur stationären Aufnahme geführt hat, diagnostiziert und behandelt werden, andererseits muss man sich möglichst schnell ein Bild von der aktuellen Stoffwechselsituation des Patienten machen. Nur selten liegen Hinweise für eine diabetische Ketoazidose mit hohen Blutglukosewerten, ausgeprägter Dehydratation und metabolischer Azidose vor. Häufiger sind Appetitlosigkeit, auch Erbrechen und Durchfall. Sehr wichtig sind anamnestische Angaben über Nahrungszufuhr, Flüssigkeitsverluste, Fieber und v. a. über die letzte Insulininjektion. Man erfährt z. B., dass das Kind Insulin in gewohnter Weise injiziert hat, die Nahrungszufuhr jedoch wegen Appetitlosigkeit und Erbrechen unzureichend war. Typisch sind niedrige Blutglukosewerte, ein Flüssigkeitsdefizit und eine Ketonurie als Folge ungenügender Kohlenhyd-
10.4 · Stationäre Behandlung im weiteren Verlauf
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ratzufuhr. Beispiele für die Behandlung dieser metabolischen Sondersituationen zu Hause durch die Eltern werden später dargestellt. In der Klinik besteht die Therapie in parenteraler Flüssigkeits-, Elektrolyt- und Glukosesubstitution. Wie bei der Rehydratationsbehandlung nach Manifestation ist eine halbisotone Ringer-Laktat-Lösung mit 5%igem Glukosezusatz (z. B. Sterofundin HG5) geeignet. Je nach Dehydratationszustand wird der Tagesbedarf infundiert (Schulkinder: 60–80 ml pro kg KG, Jugendliche: 40–60 ml pro kg KG), der durch das geschätzte Flüssigkeitsdefizit ergänzt werden muss. Eine Insulininfusion erfolgt im »Bypass« in Abhängigkeit vom Blutglukosespiegel (. Tabelle 10.2). Die Blutglukosebestimmung erfolgt stündlich. Nach 12–24 h kann die Infusionsbehandlung meist beendet werden. Schon vorher wird die orale Ernährung langsam aufgebaut. 10.4.2 Chronische Diabetes-assoziierte Erkrankungen ! Chronische Autoimmunerkrankungen, die mit einem Typ-1-Diabetes assoziiert sein können, sind die
5 Autoimmunthyreoiditis, die 5 Autoimmun-Polyendokrinopathie und die 5 Zöliakie. Die für die Diagnose dieser Erkrankungen notwendigen Untersuchungen können einen stationären Klinikaufenthalt notwendig machen. Wegen der Häufigkeit des gemeinsamen Auftretens von Autoimmunthyreoiditis bzw. Zöliakie mit einem Typ-1-Diabetes, halten wir regelmäßige Screening-Untersuchungen auf das Vorliegen dieser Erkrankungen für unumgänglich.
Da sie entweder ein langes symptomloses Intervall aufweisen oder häufig nie symptomatisch werden, ist dieses Vorgehen nicht unumstritten. Es gibt jedoch für beide Erkrankungen eine etablierte Therapie, und unbehandelt oder zu spät behandelt ergeben sich erhebliche Nachteile für die Entwicklung der Patienten. Daher sind die Screening-Untersuchungen unserer Meinung nach gerechtfertigt. Für die Autoimmunthyreoiditis liegt eine entsprechende Empfehlung der Arbeitsgemeinschaft Pädiatrische Diabetologie bereits vor. Autoimmunthyreoiditis Der Begriff Autoimmunthyreoiditis beschreibt Erkrankungen der Schilddrüse, die auf autoimmunologischer Basis zu einer Entzündung mit Zerstörung von Schilddrüsengewebe führen. Obwohl noch keine international akzeptierte Klassifizierung der Autoimmunerkrankungen der Schilddrüse existiert, wird die
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Hashimoto-Thyreoiditis als die Hauptform der chronischen Autoimmunthyreoiditis angesehen. Die chronische Autoimmunthyreoiditis hat 2 klinische Formen: die »strumatöse« Form, häufig auch als Hashimoto-Thyreoiditis bezeichnet, und die »atrophische« Form, die auch unter dem Begriff »atrophische« Thyreoiditis bekannt ist. Beide Formen sind durch die Anwesenheit von Autoantikörpern im Serum gekennzeichnet. Schilddrüsen-spezifische Autoantikörper sind gegen 5 Thyreoglobulin, dem Speicherprotein der Schilddrüsenhormone (Anti-TG), 5 Thyreoperoxidase, dem Enzym, das die Produktion der Schilddrüsenhormone reguliert (Anti-TPO), und den 5 Thyreotropin(TSH)-Rezeptor (TRAK) gerichtet. Beide Formen der Autoimmunthyreoiditis können mit einer Eu-, Hyper- oder Hypofunktion der Schilddrüse einhergehen. Sie unterscheiden sich nur in der Präsenz oder im Fehlen einer Vergrößerung der Schilddrüse (Struma). Man differenziert zwischen Hyperthyreotropinämie (erhöhtes TSH, aber normales T4) und klinischer manifester (erhöhtes TSH und erniedrigtes T4) Hypothyreose. Eine Überfunktion der Schilddrüse (Hyperthyreose: erniedrigtes TSH, erhöhtes T3 und T4) kann ebenso vorkommen, ist jedoch eher selten. Die Diagnose einer Autoimmunthyreoiditis erfolgt in mehreren Schritten (. Abb. 10.1).
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. Abb. 10.1 Flussdiagramm zur Diagnostik/Therapie einer Autoimmunthyreoiditis bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes mellitus
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Biochemische Schilddrüsendiagnostik. Zur Diagnostik einer Autoimmunthyreoiditis wird die Bestimmung der Schilddrüsen-spezifischen Autoantikörper AntiTG, Anti-TPO und TRAK im Serum mit Hilfe sehr sensitiver, kommerzieller radioimmunologischer oder ELISA-Verfahren eingesetzt. Schilddrüsensonographie. Der Einsatz der Schilddrüsensonographie bei der Dia-
gnostik einer Autoimmunthyreoiditis hat sich in den letzten Jahren zunehmend etabliert. Mit Hilfe dieser nichtinvasiven Untersuchung können einerseits das Volumen der Schilddrüse bzw. das Vorliegen einer Struma, andererseits Veränderungen der Echogenität, die auf eine Thyreoiditis hinweisen, beurteilt werden (. Abb. 10.2). Zur Bestimmung der Schilddrüsengröße im Kindes- und Jugendalter sollten alters- und geschlechtspezifische Referenzwerte herangezogen werden. Da die Schilddrüsengröße von der Jodsubstitution abhängig ist, sind Informationen über die Jodversorgung des Patienten- und Referenzkollektivs von Bedeutung. Häufigkeit der Autoimmunthyreoiditis bei Typ-1-Diabetes. Patienten mit Typ-1Diabetes weisen ein erhöhtes Risiko auf, eine Autoimmunthyreoiditis zu entwickeln. Die Prävalenz spezifischer Schilddrüsenantikörper bei Patienten mit Typ-1-Diabetes ist geographisch und methodenabhängig sehr unterschiedlich. Sie kann zwischen 3 und 50% schwanken. Eine klinisch manifeste Hypothyreose ist eher selten (1–3%). Bei Patienten mit einer Autoimmunthyreoiditis kann sich aus einer Hyperthyreotropinämie mit erhöhtem TSH und normalem T4 eine klinische Hypothyreose mit erhöhtem TSH und niedrigem T4 entwickeln. Im Allgemeinen ist die Progression einer subklinischen zu einer klinischen Hypothyreose langsam. Zentrumbezogene Studien bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes in Deutschland haben gezeigt, dass 10–15% dieser Patienten mindestens einen positiven Schilddrüsenantikörper aufweisen. Eine weitere Auswertung von Daten von 7.097 Kindern und Jugendlichen aus 118 pädiatrisch-diabetologischen Zentren in Deutschland und Österreich (Universitätskinderklinik Wien) zeigte, dass bei 21,6% dieser Patienten mindestens ein Antikörper (AntiTPO und/oder Anti-TG) signifikant erhöht war. Eine Schilddrüsen-Autoimmunität bei jungen Patienten mit Typ-1-Diabetes kann bereits bei der klinischen Manifestation des Diabetes oder aber erst im späteren Verlauf der Erkrankung festgestellt werden. Mädchen mit Diabetes haben signifikant häufiger positive Schilddrüsenantikörper als Jungen. Die Antikörper-Positivität steigt mit zunehmendem Alter der Patienten und ist bei den 15- bis 20-jährigen am höchsten. Mit Ausnahme von Kleinkindern bis zum Alter von 5 Jahren zeigen Patienten mit Diabetes häufiger positive Werte für Anti-TPO als für Anti-TG. Schilddrüsenantikörper-positive Kinder und
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. Abb. 10.2 Sonographie der Schilddrüse: a normale Schilddrüse; b bei Autoimmunthyreoiditis
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Jugendliche mit Typ-1-Diabetes wiesen höhere TSH-Werten auf als die ohne Schilddrüsen-Autoimmunität. Sehr hohe Anti-TPO-Werte sind prädiktiv für die spätere Entwicklung einer subklinischen Hypothyreose, sowohl bei Patienten mit Diabetes als auch in der Allgemeinbevölkerung. Die Koexistenz beider Antikörper (Anti-TPO und AntiTG) bei Patienten mit Typ-1-Diabetes stellt auch einen Risikofaktor in Bezug auf die Entwicklung einer subklinischen oder klinischen Hypothyreose dar. ! Die Ergebnisse mehrerer Studien zeigen, dass das Auftreten einer Autoimmunthyreoiditis mit Schilddrüsen-spezifischen Autoantikörpern bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes ein häufiges Phänomen ist. Bis heute gibt es allerdings keine einheitlichen Richtlinien für das diagnostische Prozedere zum Ausschluss einer Autoimmunthyreoiditis bei diesen Patienten. Die Untersuchung von Schilddrüsenantikörpern bzw. Schilddrüsenhormonen bei Patienten mit Typ-1-Diabetes erfolgt zum Teil in regelmäßigen jährlichen Abständen im Sinne eines Screenings oder aber nur bei klinischem Verdacht auf das Vorliegen einer Schilddrüsenerkrankung. Diagnostik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes. Das
Screening mit der Bestimmung von Schilddrüsenantikörpern (Anti-TPO und Anti-TG) weist eine hohe Sensitivität auf. Die Entscheidung zu einer therapeutischen Intervention kann aber nur aufgrund zusätzlicher Auffälligkeiten bei den sonographischen Untersuchungen bzw. biochemischen Tests getroffen werden. Eine Autoimmunthyreoiditis wird durch den Nachweis von Anti-TPO und/oder Anti-TG sowie die inhomogene und echoarme Struktur der Schilddrüse in der Sonographie mit oder ohne Vergrößerung (Struma) diagnostiziert. Eine Therapie mit L-Thyroxin (100 µg/m2) wird bei Hypothyreose oder Struma empfohlen. Bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes, die ein Hochrisiko-Kollektiv für die Entwicklung einer Autoimmunthyreoiditis darstellen, sollte die Bestimmung der Schilddrüsenantikörper (Anti-TPO, Anti-TG) bei Diabetesmanifestation und danach in 1- bis 2-jährlichen Abständen (z. B. im Rahmen der jährlichen Kontrolluntersuchungen) durchgeführt werden. Wenn einer der beiden Antikörper positiv ist, sind die Bestimmung der peripheren Schilddrüsenhormone T4 und TSH sowie die sonographische Darstellung der Schilddrüse indiziert. Autoimmun-Polyendokrinopathie-Syndrom (APS) Ein Typ-1-Diabetes kann auch Teil eines Autoimmun-PolyendokrinopathieSyndroms (APS) sein. Beim Typ I des APS besteht eine chronische mukokutane Candidiasis (ca. 75%), ein Hypoparathyreoidismus (ca. 90%) und eine primäre
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Nebennierenrindeninsuffizienz (60–100%). Ein Typ-1-Diabetes tritt in weniger als 5% der Fälle auf. Der Typ II des APS, der auch als Schmidt-Syndrom bezeichnet wird, ist definiert als das gemeinsame Vorkommen eines M. Addison (100%), einer Autoimmunthyreopathie (ca. 70%) und/oder eines Typ-1-Diabetes (30–50%). Relativ häufig tritt beim Typ II des APS eine primäre Gonadeninsuffizienz (25–50%) auf. Der Typ III des APS ist definiert als Assoziation einer Autoimmunthyreopathie mit einer oder mehreren Autoimmunerkrankungen mit Ausnahme eines M. Addison. Ein M. Addison kann beim Typ III allerdings zu einem späteren Zeitpunkt hinzukommen. Die Erkrankung muss dann als Typ II klassifiziert werden. Das APS Typ I, auch Autoimmun-Polyendokrinopathie-Candidiasis ektodermales Dystrophie-Syndrom (APECED) genannt, ist die erste Autoimmunerkrankung des Menschen, für die eine Mendel’sche Vererbung nachgewiesen wurde. Sie ist weltweit verbreitet, tritt aber besonders häufig in Finnland auf. Ursächlich ist eine Mutation im AIRE-1-Gen (Autoimmun-Regulator) auf Chromosom 21q22.3. Im Gegensatz zum APS Typ II weist das APECED-Syndrom keine Assoziation zum HLA-System auf. Zöliakie ! Die Zöliakie oder gluteninduzierte Enteropathie ist das wichtigste, mit den Symptomen einer globalen Malabsorption einhergehende Krankheitsbild im Kindesalter. Ursache ist die Intoleranz der Darmmukosa gegenüber Gluten, einer alkoholischen Fraktion der Klebereiweiße verschiedener Getreidesorten, insbesondere von Weizen und Roggen.
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Die ersten typischen Malabsorptionssymptome (pathologisch große, fötide riechende und breiige Stühle, chronischer Durchfall, Dystrophie mit Stillstand der Längen- und Gewichtsentwicklung sowie Abbau und Hypotonie der Muskulatur) treten typischerweise Wochen bis Monate nach Beginn der glutenhaltigen Beikostzufütterung im ersten Lebensjahr auf. Etwa ein Drittel der Patienten weist jedoch eine eher uncharakteristische Symptomatik auf. Diese Patienten zeigen nur wenige Symptome (z. B. isolierter Kleinwuchs, verzögerte Pubertät, Eisen- und/oder Folsäuremangelanämie). Man nennt diese Form auch oligosymptomatische, latente, »silente« Zöliakie. Die Diagnose der Zöliakie beruht auf dem Nachweis der typischen Veränderungen der Darmschleimhaut in der Dünndarmbiopsie. Pathoanatomisch finden sich als Folge des Immunprozesses verkürzte bis abgeflachte Zotten bzw. eine totale Zottenatrophie mit flacher, strukturloser Mukosa und hyperplastischen Krypten. Im Epithel dominiert eine lymphozytäre Infiltration. Der Prozess, der dem Krankheitsbild der Zöliakie zugrunde liegt, ist durch eine immunvermittelte Schädigung der Dünndarmschleimhaut gekennzeichnet,
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die durch Gliadine (Proteinbestandteile von Weizen, Roggen und Gerste) getriggert wird. Es gibt eine genetische Prädisposition zu dieser Erkrankung, die mit dem HLA-DQ2-Locus assoziiert ist. Die Therapie besteht im lebenslangen Verzicht auf alle glutenhaltigen Nahrungsmittel. Die Häufigkeit der Zöliakie wird in Europa je nach Region zwischen 1:300 und 1:6.500 geschätzt. Die höchsten Inzidenzraten wurden in Südschweden, Nordirland, Finnland und Italien registriert. In den letzten Jahren wurde festgestellt, dass Patienten mit Typ-1-Diabetes viel häufiger an Zöliakie erkranken als Stoffwechselgesunde. In den meisten jüngeren Studien ist die Häufigkeit der Zöliakie bei Patienten mit Typ-1-Diabetes etwa 5- bis 10-mal höher als in der Allgemeinbevölkerung. Die Angaben über die Zöliakie-Prävalenz bei Kindern mit Diabetes variieren geographisch sehr stark zwischen 1,0 und 10,4%. Da Patienten mit Typ-1-Diabetes und Zöliakie wenige oder sogar gar keine der klassischen klinischen Symptome wie Durchfälle, geblähtes Abdomen oder ausgeprägte Gewichtsreduktion aufweisen, wird die Häufigkeit der tatsächlichen Krankheitsfälle möglicherweise unterschätzt. Das häufige gemeinsame Vorkommen von Typ-1-Diabetes und Zöliakie wird auf eine gemeinsame genetische Basis zurückgeführt. Beide Erkrankungen sind eng mit dem HLA-System assoziiert. Mehr als 90% der Zöliakie-Patienten tragen die DQA1*0501-DQB1*02-Allele, meistens mit dem DR3-DQ2-, aber auch dem DR5-DQ2- oder DR7-DQ2-Haplotyp. Bei Patienten mit Typ-1-Diabetes kommen die DR4-DQ8- und DR3-DQ2-Haplotypen am häufigsten vor. Das Risiko, gleichzeitig an Diabetes und Zöliakie zu erkranken, scheint sehr stark mit dem DQ2-Haplotyp assoziiert zu sein. Es bleibt jedoch ungeklärt, ob diese Assoziation ein Parallelphänomen auf einer gemeinsamen genetischen Basis ist oder ob das Vorkommen einer der beiden Krankheiten prädisponierend für die andere ist und wenn ja, welche als erste auftritt. Zöliakie-Diagnostik. Wie beim Typ-1-Diabetes und der Autoimmunthyreoiditis ist auch die Zöliakie durch das Vorkommen der Zöliakie-spezifischen Autoantikörper im Serum gekennzeichnet. Die Bestimmung dieser Antikörper im Serum der Patienten hat in den letzten Jahren wesentlich zur Verbesserung der Zöliakie-Diagnostik beigetragen. Die Zöliakie-spezifischen Autoantikörper sind: 5 IgG- und IgA-Antikörper gegen Gliadin, 5 endomysiale IgA-Antikörper (EmA), 5 IgA- und IgG-Antikörper gegen Gewebstransglutaminase (tTG).
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Da meisten der o.g. Antikörper zur IgA-Klasse gehören, soll zunächst bei jedem Patienten ein IgA-Mangel ausgeschlossen werden, damit man die diagnostische Wertigkeit des Screenings entsprechend beurteilen kann. Die tTG wurde erst in den letzten Jahren entdeckt. Dabei handelt es sich um ein fakultativ intrazelluläres Enzym, das während einer mechanischen Belastung oder einer Infektion bzw. Verletzung freigesetzt wird und bislang als das einzige endomysiale Autoantigen der Zöliakie identifiziert wurde. Die tTG zeigt eine immunologische Kreuzreaktion mit Gliadin, das wiederum die Entstehung der Zöliakie triggert. Die endomysialen IgA-Antikörper (EmA) sind gegen extrazelluläre retikuläre Fasern des Endomysiums gerichtet, das die glatte Muskulatur umgibt. Die Bestimmung dieser Antikörper erfolgt mit einer semiquantitativen Immunfluoreszenz-Methode auf Schnitten von Affenösophagus oder humanem Nabelschnurgewebe. Die Methode setzt eine große Erfahrung des Untersuchers voraus. Die EmA-Bestimmung weist eine niedrigere Sensitivität bei Kindern vor dem 2. Lebensjahr auf. Später beträgt sie jedoch 90%, ihre Spezifität sogar 100%. Die Sensitivität der Gliadinantikörperbestimmungsmethoden (meist mittels ELISA) ist vom Alter der Patienten abhängig (75–93%) und nimmt mit zunehmenden Alter ab. IgA-Gliadinantikörper weisen eine höhere Spezifität auf als IgG-Gliadinantikörper. Die Bestimmungen von EmA- und IgA-Gliadinantikörpern wurden bislang als Screening-Verfahren für die Entdeckung einer Zöliakie eingesetzt. 1997 wurde die Gewebstransglutaminase (tTG) als das wichtigste endomysiale Antigen der Zöliakie identifiziert. Die IgA-Antikörper gegen tTG erwiesen sich als sehr sensitive und spezifische Prädiktoren für die Entwicklung der Erkrankung bei Erwachsenen. IgA-Antikörper gegen tTG werden mit ELISAMethoden gemessen. Zusammenfassung Die Antikörperbestimmung stellt die unverzichtbare erste Maßnahme des diagnostischen Vorgehens bei Zöliakie dar. Nach Ausschluss eines IgA-Mangels ist die Bestimmung der IgA-Antikörper gegen Gewebstransglutaminase, Endomysium und Gliadin die zuverlässigste Screening-Methode. Im Falle eines IgA-Mangels kann man die Bestimmung der IgG-Antikörper gegen Gliadin und tTG hinzuziehen. Bei positivem Antikörperbefund muss eine Dünndarmbiopsie durchgeführt werden, denn nach dem Consensus der Europäischen Gesellschaft für pädiatrische Gastroenterologie und Ernährung (ESPHGAN) kann die definitive Diagnose einer Zöliakie nur durch die Dünndarmbiopsie gestellt werden. Das wird auch durch neuere prospektive Untersuchungen belegt.
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Die Bedeutung der Diagnostik und Behandlung einer Zöliakie bei Typ-1-Diabetes.
Die Diskussion um die Notwendigkeit eines Screenings zur Frühdiagnose der Zöliakie bei Patienten mit Typ-1-Diabetes wird zurzeit sehr lebhaft geführt. In der neueren Literatur wird die Durchführung des Screenings befürwortet, da nur die diagnostizierte Zöliakie eine Behandlung zur Folge hat, die die klinische Symptomatik beseitigt, die glykämische Stoffwechsellage stabilisiert und das Auftreten Zöliakie-assoziierter Komplikationen verhindert. Eine unbehandelte Glutenunverträglichkeit geht mit dem erhöhten Risiko der Entwicklung maligner Erkrankungen einher, das gilt auch für Patienten mit Typ-1-Diabetes. Weiterhin besteht ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Infertilität, Osteopenie oder neurologischer Auffälligkeiten. Bei Patienten mit Typ-1-Diabetes kann eine unbehandelte Zöliakie zu erheblichen Blutglukoseschwankungen führen, die eine erfolgreiche Diabetestherapie erschweren. Das strikte Einhalten einer glutenfreien Kost führt zur Verbesserung der gastrointestinalen Symptome, des Wachstums der Kinder, der hämatologischen und biochemischen Abnormalitäten sowie der Normalisierung der Dünndarmschleimhaut-Architektur. Eine konsequente Zöliakietherapie wird bei Kindern und Jugendlichen häufig nicht durchgeführt. Bei Patienten mit klinischen Symptomen scheint die Compliance etwas höher zu sein als bei solchen ohne subjektive Beschwerden. Bei Patienten mit Typ-1-Diabetes und einer unbehandelten Zöliakie können erhebliche Blutglukoseschwankungen und vermehrte Hypoglykämien vorkommen. Bei Umstellung auf eine glutenfreie Kost konnte die Hypoglykämiefrequenz in den meisten untersuchten Kollektiven günstig beeinflusst werden. Die niedrige Compliance in diesem Kollektiv könnte eine Erklärung für den fehlenden Einfluss sein. Das strikte Einhalten einer glutenfreien Kost zusätzlich zu den Anforderungen der Diabetestherapie scheint ein besonders großes Problem für viele Jugendliche zu sein. 10.4.3 Chirurgische Eingriffe Operative Eingriffe, auch geringfügige (z. B. Zahnextraktionen, Adenotomien, Leistenbruchoperationen), die bei stoffwechselgesunden Kindern heute ambulant durchgeführt werden, machen bei Kindern mit Typ-1-Diabetes häufig eine stationäre Stoffwechselüberwachung und Behandlung notwendig. Wenn eine chirurgische Maßnahme notwendig ist, wird das Kind am Abend vor dem Eingriff stationär aufgenommen. Morgens vor der Operation wird mit der Infusionsbehandlung begonnen. Der für den Patienten notwendige Flüssigkeitsbedarf wird berechnet. Eine halbisotone Ringer-Laktat-Lösung mit 5%igem Glukosezusatz (z. B. Sterofundin HG5) wird infundiert. Während der Operationsvorbereitungen, während des chirurgischen Eingriffs und während der postoperativen Phase bis zum Erwachen des Patienten wird in halbstündigen
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Abständen die Blutglukosekonzentration gemessen. Zur schnellen Orientierung eignet sich die Bestimmung mit Hilfe eines Reflektometers oder Blutglukosesensors. Die Insulinsubstitution erfolgt bei operativen Eingriffen ebenfalls im »Bypass« als Infusion. Mit Hilfe dieses Therapiekonzepts lässt sich der Stoffwechsel meist sehr gut mit Glukosewerten zwischen 60 und 160 mg/dl ausbalancieren. 6–12 h nach der Operation kann meist wieder mit der oralen Nahrungszufuhr begonnen werden. 10.4.4 Psychiatrische Erkrankungen Psychische Fehlentwicklungen können meist ambulant behandelt werden. Psychiatrische Erkrankungen erfordern jedoch, wenn eine ambulante Psychotherapie keine Aussicht auf Erfolg hat oder bereits gescheitert ist, die stationäre Aufnahme in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Abteilung. Bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes ist es sehr wichtig, dass während dieser oft monatelangen psychiatrischen Behandlungsphasen die diabetologische Betreuung gewährleistet ist. Während des stationären Aufenthalts steht wegen der Priorität des psychotherapeutischen Prozesses der Diabetes meist im Hintergrund. Umso wichtiger ist es, dass bei evtl. auftretenden Stoffwechselentgleisungen ein erfahrenes Diabetesteam bereit steht, um sofort zu helfen. Die kinder- und jugendpsychiatrische Abteilung sollte daher möglichst einer Kinderklinik mit einem Behandlungszentrum für Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes angeschlossen sein. Zusammenfassung Krankenhausbehandlungen von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes sollten auf ein Mindestmaß reduziert werden. »Stationäre Neueinstellungen« gelten heute als obsolet. Unvermeidbare stationäre Behandlungen in einer Klinik sollten so kurz wie möglich sein.
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Methoden der Stoffwechselkontrolle )) Die Qualität der Stoffwechseleinstellung von Kindern und Jugendlichen muss ständig mit Hilfe verlässlicher Werte der Stoffwechselselbstkontrolle und objektiv messbarer Parameter der Stoffwechselkontrolle überprüft werden. Die sicherste Methode zur Erfassung der aktuellen Stoffwechselsituation ist die Blutglukosemessung. Die wichtigste Maßnahme zur Beurteilung der Effektivität der Diabetestherapie über einen längeren Zeitraum ist die Messung des HbA1c-Wertes. Die Stoffwechselkontrolle durch die HbA1c-Bestimmung erfolgt in der Regel alle 3 Monate in der Ambulanz oder der Klinik, während die Stoffwechselselbstkontrolle durch die Kinder, Jugendlichen und ihre Eltern zu Hause täglich mehrfach mit Hilfe von Blutglukosemessungen durchgeführt wird.
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Stoffwechselselbstkontrolle
! Der geeignetste Parameter zur Beurteilung der aktuellen diabetischen Stoffwechselsituation ist die Blutglukosekonzentration.
Ideal wäre es, wenn der Blutglukosespiegel mit einer einfachen Methode kontinuierlich gemessen werden könnte. Diesem Ziel ist die moderne Technologie in den letzten Jahren näher gekommen. Dabei haben sich die wesentlichen Grundzüge dieser Geräte in den letzten 30 Jahren nicht geändert. Die Entwicklung begann mit größeren, computergesteuerten Geräten (Biostator, Fa. Ames), die nicht nur die Fähigkeit besitzen, kontinuierlich die Blutglukosekonzentration zu messen, sondern auch ständig die Insulingabe an die Höhe des Blutglukosespiegels anzupassen. Die Geräte „übernehmen“ die Aufgabe der E-Zellen. Es handelt sich um glukosegesteuerte rückgekoppelte intravenöse Insulininfusionssysteme (künstliches Pankreas, »closed loop system«), die nach wie vor in Kliniken und Forschungslabors eingesetzt werden. Die Patienten müssen dabei meistens liegen, eine engmaschige ärztliche Überwachung ist notwendig. In Gegensatz zu diesem großen Geräten hat die Fa. Medtronic MiniMed ein kleines System entwickelt,welches bereits bei mehreren Patienten implantiert worden ist. Durch Kopplung eines zentralvenösen Langzeitglukosesensors mit einer implantierbaren Pumpe sind in Frankreich bereits mehrmonatige Ver-
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Kapitel 9 · Methoden der Stoffwechselkontrolle
suche durchgeführt worden (. Abb. 9.1). Ein Glukosesensor wird in den Vorhof des rechten Herzens platziert. Dort misst er für einen Zeitraum von bis zu 6 Monaten mit einer elektrochemischen Methode auf enzymatischer Basis die Glukosekonzentration. Die Ergebnisse werden mit einem Kabel kontinuierlich zu einer implantierten Insulinpumpe übermittelt. Die Insulinabgabe wird telemetrisch durch eine Fernbedienung gesteuert. Die Pumpe gibt das Insulin direkt in die Lebervene ab. Wegen des Wegfalls der zephalen Phase der Insulinsekretion gestaltet sich die Programmierung der Dosierungsalgorithmen nicht einfach. Auch wegen der
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. Abb. 9.1 Schematische Darstellung eines »closed loop Systems« mit dem »Long-Term Sensor System« der Fa. Medtronic
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Sicherheitsbedenken ist nicht mit einem breiten klinischen Einsatz dieser Systeme in naher Zukunft zu rechnen. In den letzten Jahren sind kleinere, weniger invasive und handlichere Geräte entwickelt worden, mit deren Hilfe die Glukosekonzentration kontinuierlich gemessen werden kann. In einer Reihe von Studien wurden sie erprobt, auch bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes. Die erhaltenen Daten vermitteln wichtige Einblicke in den Glukoseverlauf bei unterschiedlichen Therapieformen. Von der amerikanischen Zulassungsbehörde sind gegenwärtig die Geräte Guardian RT (Fa. Medtronic) und Dexcom STS (Fa. Dexcom) zugelassen, eine Zulassung des Geräts Freestyle Navigator (Fa. Abbott) steht kurz bevor. Diese Geräte erlauben erstmalig eine kontinuierliche Anzeige subkutan gemessener Glukosekonzentrationen, die in einer engen Korrelation mit den Blutzuckerwerten stehen und sind zudem mit Alarmen für Hypo- und Hyperglykämien sowie raschen Änderungen der Glukosekonzentration ausgestattet. Weniger ideal als die kontinuierliche Blutglukosebestimmung sind häufige Einzelmessungen der Blutglukose. Selbst wenn sie im Rahmen eines sog. Blutglukosetagesprofils 8- bis 12-mal in 24 h durchgeführt werden, liefern sie nur »Schnappschüsse« einer sich ständig ändernden Stoffwechselsituation. Trotzdem geben sie wertvolle Informationen über die aktuelle Stoffwechsellage, die der Patient benötigt, um die notwendige Insulindosis für sich zu ermitteln. Eine weitere, nachgeordnete Methode zur Überwachung des Stoffwechsels ist der Ketonkörpernachweis im Urin oder Blut, der allerdings nur in Sondersituationen notwendig ist. 9.1.1
Blutglukose-Einzelwertmessung
! Alle Eltern und Patienten müssen die Methode der Blutglukosebestimmung beherrschen. Sie allein vermittelt einen genauen Einblick in die aktuelle Stoffwechselsituation.
Ohne täglich mehrfache Blutglukosemessungen ist die Anwendung der subtilen Methoden der Insulinsubstitution (individuell angepasste Insulinmischungen, intensivierte Formen der Insulintherapie – ICT und CSII) undenkbar. Wichtig ist, dass die erhobenen Befunde protokolliert und von den Eltern und Patienten selbst so sicher beurteilt werden, dass sie daraus sachgerechte therapeutische Konsequenzen ziehen können. Ob und wieweit die aus den Stoffwechselmessungen gezogenen Schlüsse richtig und notwendig waren, wird anhand der Protokollaufzeichnungen mit dem behandelnden Arzt bei der ambulanten Vorstellung erörtert. Nur mit Hilfe der häuslichen Stoffwechselselbstkontrolle ist das für Kinder und Jugendliche erstrebenswerte Ziel zu erreichen, möglichst selten oder nie in die Klinik eingewiesen werden zu müssen.
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Kapitel 9 · Methoden der Stoffwechselkontrolle
Bei der Stoffwechselselbstkontrolle wird die Glukosekonzentration im Kapillarblut gemessen, das einer nicht bestimmbaren Mischung aus arteriellem und venösen Blut entspricht. Im arteriellen Blut liegen die Glukosekonzentrationen durchschnittlich 8% höher als im venösen Blut. ! Die von den Patienten gemessenen Kapillarblutwerte für Glukose liegen 10–15% niedriger als die entsprechenden Plasmawerte.
Im Folgenden sind die heute verfügbaren Blutglukosemessmethoden für die Stoffwechselselbstkontrolle zusammengestellt: 5 Messung eines Einzelwertes durch visuelle Auswertung von Teststreifen, 5 Messung eines Einzelwertes mit Reflektometern bzw. Blutglukosesensoren und 5 nichtinvasive Messung eines Einzelwertes. Teststreifenmethode ! Die Teststreifenmethode wird heute kaum noch angewendet. Sie ist weitgehend durch die Blutglukosemessgeräte verdrängt worden.
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Blutglukosemessgeräte Die Blutglukosekonzentration wird heute fast ausschließlich mit Messgeräten bestimmt, in die ein Teststreifen eingeschoben wird. Nach Auftragen oder Ansaugen von Blut kann der Blutglukosewert nach kurzer Zeit auf einer Digitalanzeige abgelesen werden. Grundsätzlich gibt es 2 Gerätetypen: Reflektometer und Blutglukosesensoren. Inzwischen wird eine Vielzahl von Messgeräten, augenblicklich mehr als 60, angeboten.
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Reflektometer. Die reflektometrische Messung des Blutglukosewertes erfolgt
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nach dem Prinzip der photometrischen Auswertung der bei der Glukoseoxidase-Peroxidase-Methode entstandenen Farbreaktion. Die Farbreaktionszone des Teststäbchens muss daher in das Photometer eingeschoben werden. Blutglukosesensoren. Blutglukosemessgeräte, die mit einem elektrochemischen Messsystem arbeiten, werden als Blutglukosesensoren bezeichnet. Die Elektroden enthalten einen Enzymkomplex mit Glukoseoxidase und dem Elektronentransmitter Ferrocen. Nach Auftragen des Blutstropfens auf den Testbezirk wird die Glukose in Glukonolakton umgewandelt. Die dabei frei werdenden Elektronen werden durch den Transmitter an die Elektrode geführt. Der vom Sensor gemessene Elektronenstrom, d. h. die Veränderung des elektrischen Widerstandes, wird zum Blutglukosewert umgerechnet. Die Handhabung der Geräte ist einfach. Die Sensor-Elektrode wird in das Gerät eingeführt und der Blutstropfen
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auf das Testfeld am Ende der Elektrode aufgetragen. Die Messung beginnt und ist nach wenigen Sekunden beendet. Der Blutglukosewert wird digital angezeigt. Wichtige Eigenschaften der Blutglukosemessgeräte 5 Die für die Messung notwendige Blutmenge sollte möglichst gering sein. Die meisten Geräte benötigen heute nur noch 1–4 µl. 5 Die Testdauer sollte möglichst kurz sein. Sie schwankt je nach Gerät zwischen 5 und 45 s. 5 Der Messbereich sollte möglichst groß sein (z. B. 20–600 mg/dl). 5 Die Speicherkapazität sollte ausreichend sein (z. B. 50–100 Werte). 5 Die Geräte sollten möglichst wenig störanfällig sein. Hitze und Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit sollten die Messergebnisse möglichst wenig beeinträchtigen. 5 Jedes Gerät sollte eine Fehleranzeige aufweisen. 5 Die Digitalanzeige sollte groß und deutlich und auch in Dunkelheit abzulesen sein.
Patienten, die gewohnt sind mit dem Computer zu arbeiten – dazu gehören heute viele Jugendliche – wünschen die Übertragung der Messergebnisse auf einen Computer. Darum bieten die meisten Hersteller von Blutglukosemessgeräten spezielle Datenmanagement-Systeme an. Trotz ständiger technischer Verbesserungen der Blutglukosemessgeräte bleiben eine Reihe von Einfluss- und Störfaktoren: Hämatokrit, Temperatur, Feuchtigkeit, Sauerstoffgehalt, hohe Triglyceridkonzentration, v. a. aber Folgen des unzureichenden Trainings der Patienten. Auch die Impräzision der Geräte ist nach wie vor hoch, da eine Standardisierung der inzwischen mehr als 60 Gerätetypen fehlt. Die erlaubten Abweichungen der Glukometer zu parallel durchgeführten Labormessungen wurden von der American Diabetes Association (ADA) von 15% auf 5% gesenkt. Kapillarblutentnahme ! Die Blutglukosebestimmungen können ohne Schwierigkeiten von Schulkindern, Jugendlichen und Eltern durchgeführt werden. Am unangenehmsten ist die Kapillarblutentnahme, an die sich jedoch, wie die Erfahrung zeigt, Schulkinder und Jugendliche so sehr gewöhnen, dass sie sie subjektiv kaum noch als Belastung empfinden. Durchführung. Zunächst wird die Fingerbeere seitlich, das Ohrläppchen oder
eine andere Entnahmestelle mit Wasser gereinigt. Alternative Blutentnahmestellen sind Daumenballen oder Unterarm. Die Haut im Bereich der Blutentnahme
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Kapitel 9 · Methoden der Stoffwechselkontrolle
sollte gut durchblutet sein, damit ein ausreichend großer Blutstropfen gewonnen wird. Die Durchblutung kann durch Reiben, Waschen mit warmem Wasser oder durch Heizungswärme verbessert werden. Durch einen Stich mit einer Lanzette wird frisches Kapillarblut gewonnen. Für den Einstich in die Haut sind Stechhilfen mit Einmallanzetten sehr gut geeignet, die meist in Zusammenhang mit den Blutglukosemessgeräten angeboten werden. Durch die Wahl einer individuell unterschiedlichen Einstichtiefe kann das Ausmaß der Hautverletzung bestimmt und der Einstichschmerz vermindert werden. Der Blutstropfen wird auf den Reflektorteststreifen aufgetragen. Bei den Sensorteststreifen (Sensorelektroden) wird das Blut kapillar angesaugt, bis die winzige Testkammer gefüllt ist. Wichtig ist, dass die Reaktionszone des Teststreifens vollständig bedeckt bzw. die Testkammer der Sensorelektrode vollständig gefüllt ist. Wenn das nicht der Fall ist, zeigen neue Geräte eine Fehlermeldung, ältere falsch-niedrige Werte an. ! Die Krankenkassen übernehmen die Kosten für die Blutglukoseteststreifen bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes. Auch die Kosten für Reflektometer, Blutglukosesensoren und Stechhilfen werden in der Regel (bei über 80% der Patienten) akzeptiert. Manchmal muss die Notwendigkeit vom behandelnden Arzt schriftlich begründet werden. Unstrittige Indikationen zur Anschaffung eines Blutglukosemessgerätes sind: die Notwendigkeit einer besonders straffen Stoffwechseleinstellung (z. B. Gravidität) oder die Anwendung einer Behandlungsmethode, die häufige Blutglukosebestimmungen erforderlich macht (intensivierte Formen der Insulintherapie: ICT, CSII).
9.1.2
Kontinuierliche und nichtinvasive Blutglukosemessung
! Eine kontinuierliche Blutglukosemessung kann dem Patienten Informationen über die gesamte Blutglukosefluktuation eines Tages vermitteln. Gleichzeitig gibt ein solches System zuverlässige Warnsignale für hypo- und hyperglykämische Blutglukosewerte ab.
Minimal-invasive und nichtinvasive Methoden Grundsätzlich muss man 2 unterschiedliche Typen von Glukosesensoren unterscheiden: 5 Geräte für die minimal-invasiven und 5 Geräte für die nichtinvasiven Methoden. Minimal-invasive Methoden bestimmen die Glukosekonzentration in der interstitiellen Flüssigkeit der Haut oder Subkutis. Dabei muss der Sensor entweder
9.1 · Stoffwechselselbstkontrolle
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direkt ins Gewebe platziert werden oder die Analyseflüssigkeit muss aus dem Körper zur Messung transferiert werden. Der Vorteil dieser minimal-invasiven Methode ist die Möglichkeit der spezifischen Glukosemessung und der Bestimmung der absoluten Konzentration. Die minimal-invasiven Methoden arbeiten einerseits mit Glukose-Elektroden (z. B. CGMS der Fa. Medtronic MiniMed), mit Mikrodialysemethoden (z. B. Glucoday der Fa. Menarini bzw. GlucOnline der Fa. Roche/Disetronic) oder mit transdermalen Methoden (z. B. GlucoWatch der Fa. Cygnus). Bei den nichtinvasiven Methoden werden üblicherweise optische Glukosesensoren verwendet. Das grundsätzliche Prinzip eines optischen Glukosesensors besteht darin, einen Lichtstrahl durch die intakte Haut zu senden und danach die Eigenschaften des reflektierten Lichtes zu analysieren. Dabei wird das reflektierte Licht einerseits durch direkte Interaktionen mit Glukose verändert (spektroskopische Ansätze) oder durch indirekte Effekte der Glukose, indem die physikalischen Eigenschaften der Haut verändert und dadurch die Lichtreflexe beeinflusst werden (sog. Scattering). Das Hauptproblem dieser nichtinvasiven optischen Methoden ist es, eine Spezifität der Glukosebestimmung mit ausreichender Präzision zu erzielen. Das Verhältnis von Blutglukose- und interstitieller Glukosekonzentration Angesichts der Risiken, einen Glukosesensor langfristig in das intravaskuläre Blutstromgebiet einzubringen, werden Glukosesensoren üblicherweise in den Intrazellulärraum bzw. in die interstitielle Flüssigkeit oder das intervaskuläre Kompartiment gelegt. Daher messen Glukosesensoren nicht den Blutglukosewert, sondern die Glukosekonzentration in der Flüssigkeit, in der der Sensor lokalisiert ist. So misst der minimal-invasive Glukosesensor die Glukosekonzentration der interstitiellen Flüssigkeit, während die nichtinvasiven Dialysemethoden bzw. die transdermalen Sensoren eine Mischung der Glukosekonzentration aus Intrazellulärraum, interstitieller Flüssigkeit und intervaskulärem Kompartiment bestimmt. Da 45% des Volumens der Haut aus interstitieller Flüssigkeit besteht und weniger als 5% des Volumens aus Blutgefäßen besteht, bewirken Änderungen der Blutglukose nur geringe Änderungen der Glukosekonzentration in der Haut oder dem Unterhautfettgewebe. Unter physiologischen Bedingungen gibt es einen raschen Austausch der Glukosemoleküle zwischen Blutplasma und interstitieller Flüssigkeit. Daher besteht eine enge Korrelation zwischen den beiden Glukosekonzentrationen. Allerdings besteht eine gewisse Zeitverzögerung zwischen den Veränderungen in den verschiedenen Kompartimenten. Diese physiologische Zeitverzögerung variiert zwischen wenigen Sekunden bis zu 15 Minuten. Das Ausmaß der Unterschiede hängt von den absoluten Glukosespiegeln, der Geschwindigkeit der Glukosekonzentrati-
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Kapitel 9 · Methoden der Stoffwechselkontrolle
onsänderung sowie der Richtung der Änderung ab. Zur Fehleinschätzung der tatsächlichen Blutglukosekonzentration trägt bei, dass es wahrscheinlich eine intra- wie auch eine interindividuelle Variabilität dieser Zeitverzögerung gibt und auch lokale Faktoren wie Körpertemperatur oder körperliche Bewegung das Ausmaß der Zeitverzögerung beeinflussen können. Besonderheiten der kontinuierlichen Glukosemessmethoden 5 Zeitverzögerung bis zum Erhalt des Ergebnisses der Messung:
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Grundsätzlich können 2 Gründe für eine Zeitverzögerung verantwortlich sein. Bei allen Methoden, bei denen die Probe erst gesammelt werden muss (z. B. GlucoWatch) oder die Probe erst zur Messeinheit transferiert werden muss (z. B. Mikrodialyse), kommt dieser Zeitraum zu der physiologischen Zeitverzögerung hinzu. Darüber addiert sich die Zeitverzögerung durch das Messverfahren selbst. 5 Messfrequenz:
Während ein idealer Glukosesensor kontinuierlich messen sollte, sind mit Rücksicht auf die Messmethodik und Probengewinnung bestimmte Messintervalle erforderlich. So wird z. B. bei der transdermalen Untersuchung mit der GlucoWatch-Methode nur alle 20 min ein Messwert angegeben. 5 Erreichen eines stabilen Signals nach Applikation des Glukosesensors:
Bei allen Typen der Glukosesensoren wird eine gewisse Zeit benötigt, bis ein stabiles Signal erhältlich ist. Der Äquilibrierungsprozess zwischen der Oberfläche des Sensors und dem umgebenden Milieu führt zu einer weiteren Zeitverzögerung. 5 Langfristige Stabilität des Sensorsignals und Kalibrierung:
Die meisten Glukosesensoren haben einen sog. Drift in ihrem Signal. So können z. B. Reaktionen der Glukose-Elektrode mit der Umgebung im Sinne einer Fremdkörperreaktion zu einer Änderung des Verhältnisses zwischen Sensorsignal und Glukosespiegel führen. Für eine gewisse Zeit lässt sich dieser Prozess durch eine Rekalibration ausgleichen, bis keine verlässlichen Ergebnisse mehr zu erhalten sind. Gerade hinsichtlich der Kalibrierung bieten diese Messmethoden auch für die Stoffwechselbewertung völlig neue Perspektiven. Gegenwärtig werden alle Veränderungen der Diabetestherapie durch die Ergebnisse der täglichen Blutzuckermessungen bestimmt. Sollte sich aber herausstellen, dass z. B. Änderungen der interstitiellen Glukosespiegel viel mehr für die Entwicklung von diabetischen Folgeerkrankungen verantwortlich sind, könnte sich dieses Bezugssystem in Zukunft ändern. Solange jedoch Untersuchungen fehlen, die diese Annahme beweisen, werden die in den verschiedenen Kompartimenten gewonnenen Sensorsignale über den Kalibrationsprozess in Blutglukosewerte umgerechnet.
9.1 · Stoffwechselselbstkontrolle
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Dazu müssen üblicherweise eine oder mehrere konventionelle kapilläre Blutglukosemessungen durchgeführt und in das Messsystem eingegeben werden. Dabei unterscheiden sich die Messsysteme in der Anzahl der notwendigen Blutglukosewerte für die primäre Kalibration und die Intervalle bzw. die Notwendigkeit einer Rekalibration. Keine der bislang verfügbaren Methoden der kontinuierlichen Messung kann daher vollständig auf die herkömmlichen Blutzuckermessgeräte verzichten. Dadurch gehen Fehler der Blutglukosemessung in die Genauigkeit der kontinuierlichen Messung ein. Beispiele für verschiedene Messsysteme CGMS und Guardian RT (Fa. Medtronic MiniMed). Das CGMS-System ist das bislang am häufigsten klinisch eingesetzte Messsystem zur kontinuierlichen Glukosemessung (. Abb. 9.2). Eine Glukoseelektrode wird in das Unterhautfettgewebe gelegt. An der Spitze der Elektrode ist ein glukosespezifisches Enzym, die Glukoseoxidase, lokalisiert. Die Elektrode misst Spannungsänderungen, die durch die enzymkatalysierte Produktion von Wasserstoffperoxid entstehen. Die registrierten Spannungsänderungen werden durch Kalibrierung mit Hilfe von 4 täglichen Blutglukosemessungen in Glukosekonzentrationen umgerechnet. Bei der Weiterentwicklung des Systems Guardian RT werden die Werte über einen Transmitter kabellos mittels Radiowellen an einen Monitor übertragen (. Abb. 9.3). Auf dem Monitor wird sowohl der berechnete Glukosewert, Trendanzeigen über die Änderung und die Profile für die letzten 3 oder 24 Stunden angezeigt. Der Monitor wird am Gürtel oder bei kleinen Kindern in einem Rucksack getragen, so dass die übliche tägliche körperliche Aktivität weitestge-
. Abb. 9.2 Komponenten des CGMS-Systems der Fa. Medtronic
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Kapitel 9 · Methoden der Stoffwechselkontrolle
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. Abb. 9.3 Die neueren Systeme mit kontinuierlicher Glukoseanzeige (Guardian RT und Dexcom STS)
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. Abb. 9.4 Praktisches Vorgehen zur Analyse der CGM-Daten. Die Glukoseprofile mehrerer Tage für bestimmte Zeitperioden können übereinander gelegt werden, um typische Muster von Glukosekonzentrationsverläufen zu erkennen
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hend möglich ist. Am Ende der Messperiode kann das Gerät in eine Basisstation (»Comstation«) gelegt werden und es erfolgt die Übertragung der Daten zum Computer. Dort können die Glukoseprofile mehrerer Tage übereinander gelegt und analysiert werden (. Abb. 9.4). DexCom STS (Fa Dexcom). Das System besteht aus einem drahtähnlichem Sensor, der vom Patienten direkt in das Unterhautfettgewebe plaziert wird. Die Daten
9.1 · Stoffwechselselbstkontrolle
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9
werden kabellos auf den STS Empfänger übertragen (. Abb. 9.3). Die Werte und Trends können durch Knopfdruck von den Patienten abgerufen werden; das System gibt Alarme bei hohen und niedrigen Blutzuckerwerten. Der Sensor muss genauso wie das Guardiansystem alle drei Tage gewechselt werden. Im März 2006 wurde es von der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA zugelassen. Es ist bisher nur in den USA erhältlich. GlucoWatch (Fa. Cygnus). Der transdermale Ansatz der GlucoWatch-Methode
basiert auf der sog. reversen Iontophorese. Dabei wird eine schwache Stromspannung an die Haut angelegt, wodurch interstitielle Flüssigkeit durch die Haut gesammelt wird. Dabei kann es zu leichten reversiblen Hautirritationen kommen. Zusammen mit der Flüssigkeit werden geringe Mengen von Glukose (ungefähr ein Tausendstel der Blutglukosekonzentration) transferiert. Nach einer 3-stündigen Äquilibrierungsperiode mit einer einzigen konventionellen Blutglukosemessung kann dieses System zurzeit 3 Glukosewerte pro Stunde während einer zwölfstündigen Messdauer angeben. Gegenwärtig ist das System nicht mehr erhältlich. Glucoday (Fa. Menarini). Das Glucoday-System der Fa. Menarini beruht auf
einer Mikrodialyse-Methode. Mikrodialyseverfahren imitieren die Funktion der Kapillaren. Ein semipermeabler Katheter wird dabei unter die Haut eingeführt. Durch Perfusion des Katheters mit isotoner glukosefreier Flüssigkeit wird ein Dialysat der interstitiellen Flüssigkeit gesammelt. Dieses Dialysat wird von einer peristaltischen Minipumpe zum Biosensor des Messgeräts gepumpt. Dort können in weniger als 2 min nach Probeentnahme am Display Glukosewerte abgelesen werden. Der Vorteil der Methode besteht darin, dass im Bereich des Messsensors keine Fremdkörperreaktion stattfindet, so dass kein wesentlicher Signaldrift auftritt. Nach einmaliger, 2 h nach der Insertion des Dialysekatheters durchgeführter Kalibrierung, kann ein bis zu 48-stündiges Glukose-Monitoring durchgeführt werden. GlucOnline (Fa. Roche). Ein ganz anderes Messprinzip verwendet der Sensor Glu-
cOnline. Wie bei dem System Glucoday benutzt das Gerät eine Mikrodialysemethode. Gemessen wird aber nicht eine elektrochemischen Reaktion, sondern die Viskositätsänderung der Messflüssigkeit. Sie besteht aus 2 Komponenten: aus Dextran und Concanavalin A (ConA), einem Lektin. ConA bindet die großen Dextranteilchen aneinander, so dass es zu einer engen Vernetzung kommt. Die Flüssigkeit ist deshalb zuerst relativ dickflüssig. Wenn aus dem interstitiellen Kompartiment Glukose in die Messflüssigkeit über eine semipermeable Membran diffundiert, bindet ConA nicht nur Dextran, sondern mit gleicher Anziehungskraft auch Glukose. Das Netz wird gelockert, die Messflüssigkeit flüssiger.
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Kapitel 9 · Methoden der Stoffwechselkontrolle
Die Viskositätsänderung der Messflüssigkeit kann man direkt messen. Sie erlaubt einen Rückschluss auf die Glukosekonzentration im Gewebe. Klinische Studien sind gegenwärtig in der Planungsphase. Erfahrungen bei Kindern liegen bislang nicht vor. ! Die nichtinvasiven Glukosesensoren (optische Glukosesensoren, Polarimetrie,
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Infrarotspektroskopie usw.) befinden sich noch in der präklinischen Studienphase. Es ist nicht voraussehbar, ob Geräte für den breiten klinischen Einsatz entwickelt werden können.
Klinische Interpretation der Ergebnisse Die Ergebnisse der kontinuierlichen Messungen bieten die Möglichkeit, komplementär zu HbA1c- und Blutglukosemessungen durch die Patienten eine Einschätzung der Stoffwechselschwankungen zu erhalten. Bereits während der Anfangszeiten der Blutglukosebestimmungen waren hierfür Messgrößen entwickelt worden. Der sog. MAGE-Wert (Mean Amplitude of Glycaemic Excursions) ist ein Maß für die Blutglukoseschwankungen eines Tages. Dabei wird der Absolutwert der Differenz zwischen dem höchsten und niedrigsten Blutzuckerwert einer Blutzuckerschwankung herangezogen. Alle Blutzuckerschwankungen, die über einer Standardabweichung der mittleren Blutglukose (MBG) einer 24-h-Periode liegen, werden zur Berechnung eines Mittelwerts herangezogen. Als Maß für die Blutzuckerschwankungen zwischen einzelnen Tagen wurde der MODD-Wert (Mean Of Daily Differences) entwickelt. Dabei werden über 200 Wertepaare von Blutglukosebestimmungen zur gleichen Tageszeit gebildet, und der Mittelwert des Absolutwertes der jeweiligen Differenzen berechnet. Für die Beratung bei intensivierter Insulintherapie kommt es besonders auf die Betrachtung bestimmter Zeitpunkte an (z. B. Postprandialwerte), die sich wegen eines flexiblen Tagesablaufs von Tag zu Tag ändern können. Als praktisches Vorgehen hat sich folgende Methodik bewährt: Schritt 1 — Betrachten der Nacht Entdecken von Hypo- dann Hyperglykämien Schritt 2 — Betrachten der prä-prandialen Periode Entdecken von Hypo- dann Hyperglykämien Schritt 3 — Betrachten der post-prandialen Periode Entdecken von Hypo- dann Hyperglykämien
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Dabei sind Schwankungen innerhalb des Blutglukose-Zielbereichs von hyperund hypoglykämischen Phasen zu unterscheiden. Dem trägt das Verfahren zur Berechnung der Fläche unter der Kurve (Area under the Curve, AUC) Rechnung. Bei den rasch fluktuierenden Glukosewerten kann die AUC als ein Maß für die pathologische Blutzuckerlast pro Zeiteinheit angesehen werden. Sie erlaubt den Vergleich verschiedener therapeutischer Verfahren, wie z. B. die Verwen-
9.1 · Stoffwechselselbstkontrolle
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9
dung von kurzwirkenden Insulin-Analoga oder Normalinsulin zur Regulation postprandialer Blutzuckererhöhungen. Wenn man die Gesamtfläche unter der Glukosekurve einer 3-tägigen Messung mit dem CGMS-System mit den HbA1cWerten der Kinder vergleicht, ergibt sich eine gute Übereinstimmung. Erfahrungen bei Kindern Der Einsatz der kontinuierlichen Messverfahren hat in mehreren pädiatrischen Studien die schwankenden Glukosewerte in den verschiedenen Altersgruppen belegt. Bei Vorschulkindern zeigten sich mit dem CGMS-System häufig langfristige nächtliche hypoglykämische Phasen, die mit der herkömmlichen Blutglukosebestimmung trotz nächtlicher Messung um 2 Uhr nicht erfasst wurden. Trotz regelmäßiger Blutglukosemessungen am Tage wird das Ausmaß der tatsächlichen Stoffwechselschwankungen meist unterschätzt. Die kontinuierliche Glukosemessung bietet daher eine wichtige neue Möglichkeit der Stoffwechselüberprüfung. Sie stellt gegenüber den Blutglukosetagesprofilen und der HbA1c-Bestimmung eine zusätzliche Information dar. Es ist zu hoffen, dass die Akzeptanz der Methoden bei Patienten und Kostenträgern mit der Verbesserung der technischen Voraussetzungen weiter zunehmen wird. Die kontinuierlichen oder nichtinvasiven Verfahren der Glukosemessung können die herkömmlichen Stoffwechselselbstkontrollen nicht ersetzen, erst recht nicht die Laboranalysen (HbA1c). Eine nichtinvasive, d. h. schmerzfreie Blutglukosebestimmungsmethode wäre v. a. für kleinere Kinder wünschenswert. Auch für die Erkennung nächtlicher Hypoglykämien wäre die Methode eine wichtige Hilfe. Allerdings müsste man sich auf die Messgenauigkeit der Geräte, v. a. im Hypoglykämiebereich, verlassen können. 9.1.3
Uringlukosemessung
Die Blutglukosebestimmung hat die Uringlukosemessung vollständig verdrängt. Trotzdem sollte die sehr viel preiswertere Methode zur Uringlukosemessung nicht ganz vergessen werden. In vielen Ländern der Erde muss sie aus Kostengründen nach wie vor verwendet werden. 9.1.4
Ketonkörpernachweis
! Häufigste Ursache für eine Hyperketonämie mit Ketonurie sind eine schlechte Stoffwechseleinstellung mit mangelnder Insulinsubstitution und/oder unzureichende Kalorien-, insbesondere Kohlenhydratzufuhr.
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Kapitel 9 · Methoden der Stoffwechselkontrolle
Bei bestimmten Stoffwechselsituationen (z. B. Infektionen, ausgeprägter Hyperglykämie, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Hunger, Fasten) sollte der Urin auf Ketonkörper untersucht werden. Bei mangelhaftem Glukoseangebot an die Zellen, z. B. aufgrund unzureichender Insulinsubstitution oder wegen eines nicht ausreichenden Nahrungsangebots, werden vermehrt Triglyceride gespalten. Dabei entstehen freie Fettsäuren, die teils oxidieren, teils in der Leber zu Ketonkörpern umgewandelt werden. Die Serumkonzentration der Ketonkörper E-Hydroxybuttersäure, Acetessigsäure und Aceton steigt an (Hyperketonämie bzw. Ketose). Die Ketonkörper werden im Urin in so großer Menge ausgeschieden, dass sie mit Hilfe einfacher Tests nachweisbar werden. Ketonkörper im Urin sind daher ein wichtiger Hinweis für eine schlechte Stoffwechseleinstellung. Für den Nachweis der beiden Ketonkörper Acetessigsäure und Aceton im Urin werden Schnelltests angeboten, die auf der Legal-Probe basieren, bei der die beiden Ketonkörper im alkalischen Milieu einen violetten Farbkomplex mit Nitroprussiat bilden. Die b-Hydroxybuttersäure wird nicht gemessen. Die Tests weisen eine praktische Empfindlichkeit von 5 mg/dl auf. Eine physiologische Ketonurie, bei der Werte bis 2 mg/dl auftreten können, wird durch die Tests nicht erfasst. Die Nitroprussid-Methode wird durch einige Faktoren gestört. Falsch-positive Werte werden bei ACE-Hemmern und bei Eigenfärbung des Urins nachgewiesen, falsch-negative bei stark saurem Urin oder bei unverschlossen aufbewahrten Teststreifen. Für den Ketonkörpernachweis im Urin sind die Teststreifen Ketostix (Bayer Vital) und Keturtest (Roche Diagnostics) verfügbar. Mit den Schnelltests KetoDiabur-Test 5000 (Roche Diagnostics) und Ketodiastix (Bayer Vital) können Glukose und Ketonkörper im Urin bestimmt werden. Die Urinteststreifen sind für die Abschätzung der Ketonkörperkonzentration im verdünnten Blut nicht geeignet, da die bei Ketose stark vermehrte E-Hydroxybuttersäure mit der Nitroprussid-Methode nicht nachgewiesen wird. Für die Diagnose und Überwachung der diabetischen Ketoazidose ist dagegen eine enzymatische Teststreifen-Methode mit E-Hydroxybutyrat-Dehydrogenase verfügbar (Medisense Precision Xtra E-Keton), die sich besonders für Patienten mit Insulinpumpentherapie eignet, damit Phasen eines Insulinmangels bei Katheterobstruktion rasch erkannt werden können. 9.1.5
Häufigkeit der Stoffwechselselbstkontrolle
Die Häufigkeit von Stoffwechselselbstkontrollen bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes hängt v. a. von der individuellen Eigenart des Patienten und seiner Familie, aber auch von der aktuellen Stoffwechselsituation, vom Verlauf des Diabetes und nicht zuletzt von der Methode der Insulintherapie ab.
9.1 · Stoffwechselselbstkontrolle
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9
! Jedes Mitglied des Diabetesteams muss wissen, dass die Kinder und ihre Eltern Individuen mit freier Entscheidung darüber sind, wie sie mit dem Diabetes umgehen. Man kann ihnen viele Ratschläge erteilen, wie sie allerdings damit umgehen, hängt allein von ihrer eigenen freien Entscheidung ab.
Wann sollte der Blutglukosewert bestimmt werden? Wichtig ist, dass Zeitpunkte gewählt werden, die in enger zeitlicher Beziehung zur Insulininjektion und zur Nahrungsaufnahme stehen. Die Kenntnis des Blutglukosewerts vor jeder der 3 Hauptmahlzeiten ist für die Berechnung der notwendigen Insulindosis wichtig, auch um evtl. die Mahlzeit in Abhängigkeit vom Blutzuckerwert zu modifizieren. Wenn man prüfen will, ob das Verhältnis zwischen Insulindosis und Nahrungszufuhr richtig gewählt war, kann der Blutglukosewert 1–1,5 h nach der Mahlzeit gemessen werden. Der Nüchternwert, unmittelbar nach dem Aufwachen morgens früh, der meist mit dem Wert vor der 1. Hauptmahlzeit übereinstimmt, ist wichtig, weil er u. U. wichtige Informationen über die abgelaufene Nacht (Hypoglykämie) oder das Ausmaß der häufigen Morgenhyperglykämie (Dawn-Phänomen) gibt. Auch der Spätwert zwischen 22 und 23 Uhr, d. h. bei vielen Patienten vor der Basalinsulininjektion für die Nacht, ist sehr informativ für die Wahl der Insulindosis bzw. für die Vermeidung einer Hypoglykämie. Schließlich gibt es Zeitpunkte für die Blutglukosebestimmung, die keinen unmittelbaren Bezug zu Insulininjektionen oder Mahlzeiten haben. Nachts zwischen 24 und 2 Uhr treten erfahrungsgemäß häufiger niedrige Blutzuckerwerte auf, in den frühen Morgenstunden zwischen 4 und 7 Uhr dagegen relativ hohe. Daher kann es notwendig sein, z. B. um 1 Uhr und/oder um 4 Uhr orientierend Blutglukose zu messen. In . Tabelle 9.1 sind exemplarisch mögliche Zeitpunkte für Blutglukosemessungen, Insulininjektionen und Mahlzeiten bei einer der intensivierten Formen der Insulintherapie zusammengestellt. Insgesamt sind 9 Blutzuckermessungen angegeben. Täglich ist das selbstverständlich unzumutbar. Der Patient muss selbst täglich neu entscheiden, wie oft und zu welchem Zeitpunkt er eine Blutglukosemessung durchführen will. Im Alltag reichen bei relativ stabiler Stoffwechseleinstellung in der Regel 4 Messungen in 24 h, an Tagen mit problematischer Stoffwechselsituation (Infekt, Sport usw.) kann häufiger getestet werden. Zusammenfassung In der Regel reichen 4 Blutglukosebestimmungen in 24 h. Die wichtigsten Zeitpunkte sind morgens, mittags und abends vor den 3 Hauptmahlzeiten und spät abends vor Beginn der Nacht. Bei besonderen Stoffwechselsituationen kann die Zahl der Messungen beliebig erhöht werden.
194
Kapitel 9 · Methoden der Stoffwechselkontrolle
2
. Tabelle 9.1 Mögliche Zeitpunkte für die Blutglukosebestimmung, die Insulininjektionen und die Hauptmahlzeiten
2
Zeit
Messen
7.15 Uhr 7.30 Uhr 8.00 Uhr
1. Blutzucker (Nüchternwert)
3 4
9.30 Uhr
2. Blutzucker 1,5 h nach der Mahlzeit
5
12.15 Uhr 12.30 Uhr 13.00 Uhr
3. Blutzucker vor der 2. Insulininjektion
14.30 Uhr
4. Blutzucker 1,5 h nach der Mahlzeit
17.45 Uhr 18.00 Uhr 18.30 Uhr
5. Blutzucker vor der dritten Insulininjektion
20.00 Uhr
6. Blutzucker 1,5 h nach der Mahlzeit
22.30 Uhr 22.35 Uhr
7. Blutzucker, Spätwert
1.00 Uhr
8. Blutzucker (1. Nachthälfte)
5.00 Uhr
9. Blutzucker (2. Nachthälfte)
6 7 8
9
Spritzen/Essen
1. Insulininjektion 1. Hauptmahlzeit
2. Insulininjektion 2. Hauptmahlzeit
3. Insulininjektion 3. Hauptmahlzeit
4. Insulininjektion
10 11 12 13
9.1.6
14
! Die Messergebnisse der Stoffwechselselbstkontrolle sind unverzichtbar, um die
15 16 17
Protokollierung der Ergebnisse der Stoffwechselselbstkontrolle
notwendige Insulindosis zu ermitteln und um sich ein Bild von der aktuellen Stoffwechselsituation zu machen. Sie sind aber auch eine wichtige Grundlage für die Beratung in der Diabetessprechstunde. Darum sollten sie regelmäßig dokumentiert, d. h. aufgezeichnet werden.
Für die Protokollierung der Ergebnisse der Stoffwechselselbstkontrolle sind verschiedene Protokollbogen und Protokollheftchen entwickelt worden. Die Firmen verschenken sie, in den Diabetesambulanzen werden sie verteilt und einige Eltern und Patienten entwerfen ihre eigenen Protokollbogen. Es gibt Protokollbogen für einen Tag, für eine Woche oder einen Monat (. Abb. 9.5).
9.1 · Stoffwechselselbstkontrolle
195
9
. Abb 9.5 Wochenprotokollbogen für die Stoffwechselselbstkontrole (Kinderkrankenhaus auf der Bult, Hannover)
Daten für den Protokollbogen 5 5 5 5 5 5
Wochentag und Datum Insulininjektionen (differenziert nach Normal- und Verzögerungsinsulin) Verteilung der Kohlenhydrateinheiten (KE) Blutglukosewerte Letzter HbA1c-Wert Platz für Bemerkungen
Für Eltern und Jugendliche, die sich besonders intensiv mit den Ergebnissen der Stoffwechselselbstkontrolle beschäftigen wollen, werden eine Reihe von Computerprogrammen angeboten. Die Blutglukosewerte können direkt vom Messgerät übernommen und mit Hilfe eines speziellen Datenmanagement-Systems ausgewertet werden. Man kann die graphischen Darstellungen und statistischen Auswertungen der Ergebnisse ausdrucken, betrachten und auch in der Diabetessprechstunde mit dem Arzt gemeinsam erörtern. Wenn nicht nur die Messwerte, sondern auch die Begleitumstände ihrer Entstehung (z. B. Insulin, Mahlzeiten, Sport, Infekt, Stress) miterfasst werden, können Stoffwechselprobleme, Schwächen der Stoffwechseleinstellung und krisenhafte Situationen schnell erkannt und problemlösend besprochen werden. Die Patienten sollten durch die Mög-
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2 2 3 4 5
Kapitel 9 · Methoden der Stoffwechselkontrolle
lichkeit der elektronischen Datenspeicherung und Analyse jedoch nicht dazu verführt werden, auf die täglichen handgeschriebenen Protokolle zu verzichten. Zusammenfassung Die handgeschriebenen Protokolle der Ergebnisse der Stoffwechselselbstkontrolle sind unverzichtbare Dokumente für eine individuelle Diabetestherapie. Sie sind wichtige Orientierungshilfen für die täglich neuen therapeutischen Entscheidungen der Patienten. Nur mit Hilfe dieser Protokolle kann eine kritische Analyse der individuellen täglichen Insulintherapie mit der Möglichkeit zur notwendigen Modifikation und Verbesserung erfolgen. Sie stehen daher im Mittelpunkt der Ambulanzgespräche zwischen den Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes, ihren Eltern und dem Arzt.
6 9.1.7
Beurteilung der Ergebnisse der Stoffwechselselbstkontrolle
7 ! Bei Menschen ohne Diabetes steigen die Blutglukosewerte praktisch nie über 8
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120 mg/dl an und sinken nie unter 60 mg/dl ab. Der mittlere Blutglukosewert liegt bei ihnen um etwa 80 mg/dl. Solche Werte sind bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes auch mit Hilfe einer sachgerechten Insulintherapie und Ernährung nicht zu erreichen.
In . Tabelle 9.2 sind Orientierungswerte für die Blutglukosekontrolle mit Bewertungsmaßstäben für Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes zusammengestellt. Sie folgen den Empfehlungen der ISPAD (2000) und sind den Statements der AGPD (2004) der Deutschen Diabetes-Gesellschaft (DDG) entnommen. Die Maßstäbe sind sehr streng und, wie die Erfahrung lehrt, in der täglichen Praxis oft schwierig zu erreichen. Darum müssen diese allgemeinen Orientierungsdaten selbstverständlich den individuellen Umständen des Kindes oder Jugendlichen angepasst werden. Es gehört sicher zu den schwierigsten Aufgaben der Diabetesberatung, praxisgerechte Ratschläge für die individuelle Bewertung der Daten der Blutglukosemessungen zu vermitteln. Zusammenfassung
16 17
Die Beurteilung der von den Patienten gemessenen Blutglukosewerte ist ein wichtiges Thema der Diabetesschulung. Blutglukosewerte unter 50 mg/dl sind immer als zu niedrig zu bezeichnen (Hypoglykämie), solche über 180 mg/dl gelten grundsätzlich als zu hoch. Ob die Blutzuckerwerte als zu hoch oder zu niedrig zu beurteilen sind, hängt jedoch auch davon ab, zu welcher Tages- oder Nachtzeit sie gemessen wurden bzw. in welcher Verlaufsphase des Diabetes sich der Patient befindet (Remissions- bzw. Postremissionsphase).
9
197
9.2 · Methoden der Stoffwechselkontrolle
. Tabelle 9.2 Blutglukoserichtwerte bei Kindern ohne und mit Typ-1-Diabetes. (Nach AGPD und ISPAD ) Ideal (stoffwechselgesund)
Optimal
Mäßig
Sehr schlecht (Maßnahmen erforderlich)
Präprandiale oder nüchtern BG mmol/l mg/dl
3,6–6,1 65–110
4–7 72–126
>8 >144
>9 >162
Postprandiale BG mmol/l mg/dl
4,4–7 79–126
5–11 90–198
11,1–14 200–252
>14 >252
Nächtliche BG mmol/l mg/dl
3,6–6 65–108
nicht <3,6 nicht <65
<3,6 oder >9 <65 oder >162
<3 oder >11 <54 oder >200
9.2
Methoden der Stoffwechselkontrolle
! Für die objektive Beurteilung der Qualität der Stoffwechseleinstellung eignen sich aufgrund ihrer Integrationszeiten die Bestimmungen des Fruktosamin- und des Glykohämoglobinwertes.
9.2.1
Glykohämoglobin
Die glykierten Hämoglobine HbA1a, HbA1b und HbA1c, sind die Produkte einer Reaktion von Hämoglobin A2 mit E-D-Glukose (HbA1c), Fruktose-1,6-diphosphat (HbA1a1) und Glukose-6-phosphat (HbA1a2). Sicher ist die Struktur von HbA1c geklärt. Die Bindung der E-D-Glukose-Moleküle an HbA2 findet an den freien Aminogruppen der terminalen Valinreste der E-Kette des Hämoglobins statt. Der Reaktionspartner von HbA1b ist nicht bekannt. Die Glykierung von HbA2 unter Bildung von HbA1 ist eine nichtenzymatische Kondensation, die in 2 Schritten verläuft. Der 1. Schritt ist die rasche und reversible Bildung eines Aldimins. Der 2., langsamere Schritt ist die Amadori-Umlagerung des Aldimins unter Entstehung der stabilen Ketoaminform, dem HbA1c. Die Bildungsgeschwindigkeit von Aldimin in den Erythrozyten ist abhängig von der Glukosekonzentration. Die Konzentration des stabilen HbA1c wird durch
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Kapitel 9 · Methoden der Stoffwechselkontrolle
kurzfristige Hyperglykämien nicht oder nur wenig verändert, d. h. kurzfristige Blutglukosespitzen werden nicht erfasst. ! Inzwischen ist eine große Zahl von Proteinen in unterschiedlichen Geweben nachgewiesen worden, die auf das erhöhte Angebot von Glukose bei Diabetes mit einer nichtenzymatischen Glykierung reagieren. Aus den Amadori-Produkten entstehen die sog. AGE-Produkte (Advanced Glykosylation End Products), die bei der Entstehung der diabetischen Mikroangiopathie eine ursächliche Rolle spielen.
Messung der Glykohämoglobine Zur Quantifizierung der glykierten Hämoglobine wurden bis heute mehr als 30 unterschiedliche chemische, immunologische, elektrophoretische und säulenchromatographische Methoden entwickelt. Durch die Verwendung verschiedener Methoden sind die Serumwerte für die Glykohämoglobine daher nur bedingt miteinander vergleichbar. ! Der heute für die Beurteilung der Stoffwechseleinstellung anerkannte Glykohämoglobin-Parameter ist der HbA1c-Wert, der etwa 80% des Gesamt-HbA1 ausmacht. Die Bestimmung des Gesamt-HbA1 im Rahmen der Betreuung von Patienten mit Diabetes gilt heute als obsolet und hat nur noch historische Bedeutung.
Als Referenzmethode für die Bestimmung des HbA1c-Wertes hat sich die HPLCKationenaustauschchromatographie bewährt. Der Referenzbereich des NGSP ( National Glycohemoglobin Standardization Program ), der auch als »clinical golden standard« für den HbA1c-Wert bezeichnet wird, wurde für Stoffwechselgesunde zwischen 4 und 6% festgelegt. In den letzten Jahren haben Immunassay-Methoden (DCA 2000, Tina-quant, RA-Systeme) v. a. in Diabetesambulanzen verbreitet Anwendung gefunden. Während die HPLC-Kationenaustauschchromatographie als Labormethode etwa 8 min in Anspruch nimmt aber nicht in Einzelproben durchgeführt werden kann, sind die Ergebnisse mit den Immunassay-Methoden in kürzerer Zeit (6 min) und bei Einzelproben verfügbar, so dass sie beim Patientengespräch bereits vorliegen (»point-of-care-testing«). Die Testergebnisse der Immunassays sind an die Standardwerte der NGSP angeglichen. Bei verkürzter Erythrozytenlebensdauer (normal 100–120 Tage; z. B. hämolytische Anämien, akuter Blutverlust) und bei erhöhter Vitamin-C- und Vitamin-E-Zufuhr sind die HbA1c-Werte erniedrigt. Die Nahrungsaufnahme hat keinen Einfluss auf die Glykohämoglobinbestimmung, sodass die Blutentnahme für den Test (kapillär oder venös) zu jeder Tageszeit vorgenommen werden kann. Fehlbestimmungen treten bei Hämoglobinopathien auf (pathologische Hämoglobine wie HbS und HbC, aber auch HbF – persistierend und andere Varianten). Auch bei ausgeprägter Niereninsuffizienz, hämolytischen Anämien,
9.2 · Methoden der Stoffwechselkontrolle
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9
chronischem Alkoholismus oder Medikamenten- (z. B. Salizylate) bzw. Drogenmissbrauch kann das Hämoglobin chemisch modifiziert werden und falsche Ergebnisse verursachen. Bei Extremwerten unter 4% bzw. über 15% sollte nach der Ursache gefahndet werden (z. B. Hämoglobinvarianten). Zusammenfassung Als Referenzmethode für die Messung des HbA1c-Wertes hat sich die HPLC-Kationenaustauschchromatographie bewährt. Der vom NGSP anerkannte Referenzbereich für Stoffwechselgesunde liegt zwischen 4 und 6%.
Beurteilung der HbA1c-Werte ! Wegen der mittleren Erythrozytenlebensdauer von 100–120 Tagen kennzeichnet der HbA1c-Wert die Qualität der Stoffwechseleinstellung während eines Zeitraums von etwa 6–8 Wochen. Messungen des HbA1c-Wertes sollten daher bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes mindestens einmal im Vierteljahr durchgeführt werden. Für die Bewertung von HbA1c-Werten bei Patienten mit Diabetes gibt es keine allgemein anerkannten Richtlinien.
Die HbA1c-Werte sind bei Patienten mit Diabetes im Gegensatz zu denen bei Stoffwechselgesunden nicht normal verteilt. Einige Autoren geben daher die Durchschnittswerte von Diabetikern nicht als Mittelwert, sondern als Median an. Beim Vergleich der HbA1c-Werte aus verschiedenen Laboratorien sind die folgenden Kriterien besonders zu beachten: 5 Bestimmungsmethode (z. B. HPLC-DIAMAT, DCA 2000), 5 Durchschnittswerte als Mittelwert mit Standardabweichung (z. B. von Stoffwechselgesunden) und 5 Durchschnittswerte als Median mit Perzentilen (z. B. von Patienten mit Diabetes). Das gilt nicht nur für die Beurteilung des individuellen HbA1c-Wertes eines Patienten, sondern auch für den Vergleich kollektiver HbA1c-Durchschnittswerte aus verschiedenen Diabeteszentren. Wegen der verschiedenen Methoden zur Messung des HbA1c, der unterschiedlichen Mittelwerte und Standardabweichungen bei Stoffwechselgesunden und der fehlenden Normalverteilung der Werte bei Patienten mit Diabetes kann es keine allgemein gültigen Richtlinien für die Bewertung des HbA1c-Wertes im Hinblick auf die Qualität der Stoffwechseleinstellung geben. Als Behandlungsziel, das als »therapeutisches Fenster« bezeichnet wird, werden HbA1c-Werte zwischen 7,0 und 7,5% angenommen, da sowohl das Risiko für das Auftreten diabetischer Folgeerkrankungen als auch das Risiko für die
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Kapitel 9 · Methoden der Stoffwechselkontrolle
Inzidenz schwerer Hypoglykämien innerhalb dieser therapeutischen Grenzen verantwortbar minimiert werden kann. Sehr verbreitet ist die Beurteilung von HbA1c-Werten gegenüber Patienten nach dem folgenden sehr einfachen Schema: Die Stoffwechseleinstellung ist 5 »gut« bei HbA1c-Werten kleiner/gleich 7,5%, 5 »befriedigend« bei HbA1c-Werten zwischen 7,5 und 9,0%, 5 »schlecht« bei HbA1c-Werten über 9,0%. Nach den Statements der AGPD und der Deutschen Diabetes-Gesellschaft (DDG) betragen die Normalwerte für Kinder und Jugendliche ohne Diabetes 4,0–6,1%. Die Stoffwechseleinstellung bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1Diabetes gilt als »optimal« bei HbA1c-Werten unter 7,5%, als »mäßig« bei Werten zwischen 7,5 und 9,0% und als »sehr schlecht« bei Werten über 9%. Differenzierte Antworten auf die Frage: »Wie hoch soll der HbA1c-Wert sein?« gibt die in . Tabelle 9.3 dargestellte Beurteilungsskala. Diese Bewertungskriterien sind zu empfehlen, weil sie nicht nur mit den heute gültigen metabolischen Auffassungen zur Vermeidung von Diabeteskomplikationen übereinstimmen, sondern auch auf die psychologische Situation der Kinder und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes und ihrer Eltern eingehen. 9.2.2
Fruktosamin
10 11 12
Auch Serumproteine werden wie das Hämoglobin in Abhängigkeit von Höhe und Dauer der Hyperglykämie irreversibel nichtenzymatisch glykoliert. Hauptbestandteil der Serumproteine ist das Albumin (60–70%). Daher wird für die Beurteilung von Messungen der glykolierten Serumproteine die Bildungs- und
13 14
. Tabelle 9.3 HbA1c-Werte bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes. (Nach Hanas 1998)
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HbA1c Normal (Hypoglykämie-Risiko)
<6%
Gute Stoffwechseleinstellung
6–7%
Akzeptable Stoffwechseleinstellung
7–8%
Verbesserung der Stoffwechseleinstellung notwendig
8–9%
Nichtakzeptable Stoffwechseleinstellung (hohes Risiko für Folgeerkrankungen)
>9%
HbA1c-Werte bei Gesunden
4–6%
9
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9.2 · Methoden der Stoffwechselkontrolle
Schwundkinetik des Serumalbumins zugrunde gelegt. Da die Halbwertszeit des Serumalbumins nur 18–20 Tage beträgt, kann der Serumspiegel des glykolierten Albumins als Parameter für die Qualität der Stoffwechseleinstellung über einen zurückliegenden Zeitraum von etwa 3 Wochen angesehen werden. Als geeignete Methode zur Messung glykolierter Serumproteine hat sich die Fruktosaminbestimmung erwiesen. Fruktosamine sind Ketoamine, die als Produkte der nichtenzymatischen Reaktion zwischen einem Zucker und einem Protein entstehen. Die Methode zur Fruktosaminbestimmung beruht auf der Reduktion von Nitroblau-Tetrazoliumchlorid, das als Formazanfarbstoff kolorimetrisch gemessen wird. In . Tabelle 9.4 sind die Referenzbereiche für Fruktosamin im Serum zusammengestellt. In der Regel werden für den Normalbereich bei Erwachsenen Werte zwischen 205 und 285 µmol/l angegeben. Altersabhängige Unterschiede sind gering. Zwischen Männern und Frauen bestehen keine Unterschiede. Fruktosaminwerte gelten nur für Patienten mit einer im Normbereich liegenden Serumproteinkonzentration. Bei pathologisch erhöhten oder erniedrigten Eiweißwerten (z. B. bei Dehydratation) muss der Fruktosaminwert auf einen einheitlichen Proteinwert von 7,2 mg/dl nach folgender Formel korrigiert werden: [Fruktosamin (µmol/l) : Gesamteiweiß (mg/dl)] × 7,2 (mg/dl). Für die Korrektur des Fruktosaminwertes muss daher die Serumeiweißkonzentration immer mitbestimmt werden. Der Fruktosaminwert wird heute vorwiegend zur Beurteilung des Behandlungserfolges nach einem kurzfristigen Klinik- oder Heimaufenthalt verwendet (z. B. nach Umstellung von ICT auf CSII). Bei der ambulanten Langzeitbetreu-
. Tabelle 9.4 Referenzbereiche des Fruktosamins im Serum bei Frauen und Männern. (Nach Henny u. Schiele 1990) Alter
n
Fruktosamin (µmol/l) Perzentile 2,5.
50.
97,5.
4–5 Jahre
42
190,5
220,0
257,5
6–10 Jahre
186
207,0
234,0
265,0
11–15 Jahre
236
209,5
240,0
273,0
16–19 Jahre
139
215,0
247,0
281,0
20–60 Jahre
492
201,5
238,0
275,5
202
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9 10
Kapitel 9 · Methoden der Stoffwechselkontrolle
ung von Patienten mit Diabetes hat die Fruktosaminbestimmung kaum praktische Bedeutung erlangt. Zusammenfassung Die Fruktosaminbestimmung hat sich im Gegensatz zur HbA1c-Bestimmung als Methode zur Beurteilung der Effektivität der ambulanten Langzeitbehandlung von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes nicht durchsetzen können.
9.2.3
Beziehungen zwischen HbA1c , Fruktosamin und mittlerem Blutglukosewert
1990 wurde ein sog. Glykierungsnomogramm vorgeschlagen (. Abb. 9.6). Grundlage dieses Nomogramms sind folgende rechnerischen Beziehungen zwischen HbA1c, Fruktosamin und dem mittleren Glukosewert im Kapillarblut (MBG): Fruktosamin (µmol/l) = 45 × HbA1c (%), MBG (mg/dl) = 33,3 x HbA1c (%) – 86. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Plasmawert für Glukose 10–15% höher als der im Kapillarblut gemessene MBG-Wert liegt. Mit Hilfe dieses Nomogramms kann Eltern und Patienten verdeutlicht werden, dass ein HbA1c-Wert von 5,0% einem mittleren Blutglukosewert von
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. Abb. 9.6 Glykierungsnomogramm. Beziehung zwischen HbA1c, Fruktosamin und mittlerem Blutglukosewert (MBG). (Nach Henrichs 1990)
9.2 · Methoden der Stoffwechselkontrolle
203
9
. Abb. 9.7 Beziehung zwischen HbA1c und mittlerem Blutglukosewert. (Nach Santiago 1993)
80,5 mg/dl entspricht. Bei HbA1c-Werten über 9% liegt der mittlere Blutglukosewert deutlich über 200 mg/dl. Man kann zur Darstellung dieses Zusammenhangs ein Diagramm der DCCT-Studie verwenden (. Abb. 9.7). Der MBG kann auch nach folgenden Formeln berechnet werden: MBG (mmol/l) = 2 × HbA1c (%) – 6, MBG (mg/dl) = 36,5 × HbA1c (%) – 105. Zusammenfassung Für die objektive Beurteilung der Qualität der Stoffwechseleinstellung von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes ist der HbA1c-Wert der wichtigste Parameter, da er am genauesten den mittleren Blutglukosewert (MBG) eines Zeitraums von 6–8 Wochen widerspiegelt.
Literatur Arbeitsgemeinschaft für Pädiatrische Diabetologie (AGPD 2004) Diagnostik, Therapie und Verlaufskontrolle des Diabetes mellitus im Kindes- und Jugendalter. In: Scherbaum WA (Hrsg) Evidenzbasierte Diabetes-Leitlinien DDG. Deutsche Diabetes Gesellschaft, Bochum
204
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Kapitel 9 · Methoden der Stoffwechselkontrolle
Dahl-Jørgensen K, Brinchmann-Hansen O, Bangstedt HJ, Hanssen K (1994) Blood glucose control and microvascular complications – what do we do now? Diabetologia 37: 1172–1177 Deiss D, Kordonouri O, Meyer K, Danne T (2001) Long hypoglycaemic periods detected by subcutaneous continuous glucose monitoring in toddlers and pre-school children with diabetes mellitus. Diabet Med 18: 337 Hanas R (1998) Insulin-dependent diabetes in children, adolescents and adults. Piara, Uddevalla, Sweden Heinemann L, Koschinsky T (2002) Continuous glucose monitoring: an overview of today’s technologies and their clinical applications. Int J Clin Pract (Suppl) 129: 75– 79 Henny J, Schiele F (1990) Altersabhängigkeit, Geschlechtsabhängigkeit und Referenzwerte von Serum-Frauctosamin bei Bestimmung mit einer neuen kolorimetrischen Methode. Wien Klein Wochenschr 102: 48 Henrichs HR (1990) Diagnostik der diabetischen metabolischen Situation mit Hilfe der Frauctosamin-(und HbA1c-)bestimmung. Der Glykierungsquotient Glyc-Qu, das Glykierungsnomogramm. Wien Klein Wochenschr 102: 164 Santiago (1993) Lessons from the Diabetes Control and Complications Trial. Diabetes 42: 1549–1554 Snieder H, Sawtell PA, Ross L, Walker J, Spector TD, Leslie RD (2001) HbA(1c) levels are genetically determined even in type 1 diabetes: evidence from healthy and diabetic twins. Diabetes 50: 2858–2863
481
A–D
Sachverzeichnis
A Absorption 132 ACE-Hemmer 108 Advanced Glycosylation Endproducts (AGE) 93 Akzelerator-Hypothese 37 Akzeptanz 458 Aldimin 197 Anti-CD3-Antikörper 53 APECED 225 Apoptose 39, 40 Arbeitsrecht 420 Aufbewahrung 132 Autoimmun-PolyendokrinopathieCandidiasis ektodermales DystrophieSyndrom (APECED) 225 Autoimmun-Polyendokrinopathie-Syndrom (APS) 225 Autoimmunthyreoiditis 221
B BABYDIAB-Studie 33, 48 BABYDIÄT-Studie 53 Ballaststoff 151, 153 Basalinsulinbedarf 161, 255 Basalinsulintagesbedarf 238 Basalrate 278, 280 Basalratentest 279 Berufsausbildung 408 Berufswahl 408 Binge Eating Disorder (BED) 471 Blutglukosemessgerät 182
Blutglukosemessung, kontinuierliche 184 Blutglukosevariabilität 263 Body-mass-Index (BMI) 152, 176, 371 BMI siehe Body-mass-Index Bombesin 58 Broteinheit (BE) 163 Bundeswehr 409
C CGMS 187 closed loop system 179 C-Peptid 79
D DAISY 33 Dawn-Phänomen 193, 251, 253 DCCT 92 DCCT-Studie 120 Dead in Bed Syndrome 365 Detemir 140, 142, 245, 256 DexCOM STS 188 Diabetes – neonatale 265 – mitochondrialer 382 – neonataler 383 Diabetes Control and Complications Trial (DCCT) 92 Diabetesambulanz 400, 404 Diabetesschulung 425 Diagnoseeröffnung 212, 426, 437 DIDMOAD-Syndrom 11, 382 Dimere 135
482
2 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
12 13 14 15 17 17 18
Sachverzeichnis
Disease Management Programm (DMP) 393, 394 Durchfall 308 Dusk-Phänomen 253 D-Zelle 58
E Eingriff, chirurgischer 229 Einheit, internationale 129 Eiweißaufnahme 108 Elternschulung 440 Erbrechen 308 Erbrisiko 24 Ergebnisqualität 399 Erkrankung, psychiatrische 230 Ernährungsfaktoren 34 Essstörung 466, 470
F Fibrose, zystische (CF) 9, 385 Flugreise 413 Folgeschulung 448 Fruktosamin 200 Führerschein 410
G GAD-Antikörper 45 Gastrin-Releasing Peptide, GRP 58 Gegenregulation 352, 355 Genetic imprinting 27 Gen-Locus 24 Gestationsdiabetes 2, 11 Glargin 140, 142, 245, 257 Glomerulosklerose 100 GLP-1 85 Glucagon-like Peptide-1 58 Glucoday 189 GlucOnline 189 GlucoWatch 189 Glukagon 80, 88, 351, 361 Glukokinase 60, 62
Glukoneogenese 70 Glukosehomöostase 82 Glukosetoleranz, gestörte (IGT) 2, 3 Glukosetoleranztest, intravenöser 44 Glukose-Toleranztest, oraler (oGTT) 207 Glukosetransporter 67 Glykämischer Index 171, 255 Glykogen 69 Glykolyse 68, 86 Guardian RT 187
H Halbwertzeit des Insulins 133 HbA1c-Wert 197 Hexamere 134 HLA-Gen 28 HLA-System 27 HOMA 80 Homeostasis Model Assessment (HOMA) 80 Humaninsulin 144 – biosynthetisches 129 – semisynthetisches 129 E-Hydroxybuttersäure 87 Hypertonie, arterielle 104 Hypoglykämie 88, 442, 457, 474 Hypoglykämieangst 366 Hypoglykämiewahrnehmung 354, 476
I i.v.-GTT 48 IDDM 1 28 IFG 2 IGT 2 Impfung 32 Indikation für eine CSII 264 Infusionsbehandlung 217 Initialschulung 439 Inselzellantikörper (ICA) 4, 44 Insulin – Halbwertzeit 133 – inhalatives 143
483
Sachverzeichnis
Insulin Aaspart 271 Insulin Glulisin 271 Insulin Lispro 271 Insulinallergie 314 Insulin-Analoga 136, 140, 144 Insulinautoantikörper (IAA) 4, 45 Insulinbedarf 208 Insulin-Clearance 64 Insulindegradation 65 Insulindosierungsbogen 292 Insulininjektionsstelle 236 Insulin-KE-Quotient 253, 282 Insulinkonzentration 78 Insulinmolekül 60 Insulinpumpenkatheter 272 Insulinpumpen-Schulungsprogramm 285 Insulinpumpentherapie (CSII) 246 Insulinresistenz 314 Insulinrezeptor 66, 75 Insulinsignaltransduktion 75 Insulintagesbedarf 239, 277 Insulintherapie – intensive (ICT) 216 – intensivierte 243 – konventionelle 214, 240 Insulinverdünnung 130 Inzidenz 13, 18
J Joule 150
K Kalorie (kcal) 150 Kalorienbedarf 152 Kapillarblut 202 Ketoazidose 287, 331 Ketogenese 72 Ketonkörper 192 Kindergarten 405 Kohlenhydrateinheit (KHE) 164 Kombinationsinsuline 139 Korrekturinsulin 283
D–N
Korrekturinsulindosis 253 Krise, zerebrale 331
L LADA 40 Laktatazidose 336 Laserkoagulation 99 Limited Joint Mobility (LJM) 319 Lipodystrophie 318
M M. Addison 225 Makroangiopathie 91, 92 Makulaödem 96 Mannitol 333 Maturity onset diabetes of the young (MODY) 377 MBG 202 Mikroalbuminurie 101 Mischbarkeit 144 MODY (Maturity-onset Diabetes of the Young) 7 MODY-Typen 11 Monomere 135
N Necrobiosis lipoidica 317 Nephropathie 91 Nephropathie 99 Neuropathie 91, 109 – autonome diabetische 115 NOD-Maus 38 Normalinsulin 137 Notfall-Set 361 NPH 245 NPH-Insulin 139, 144, 256 Nüchternglukose, gestörte (IFG) 2, 3
484
2
Sachverzeichnis
O oGTT 207
2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
12 13
P Pen 235 Pflegeversicherung 421 Plasmawert 202 Postremissionsphase 209 Posttransplantationsdiabetes 390 Potenz, mitogene 142 PP-Zelle 58 Prader-Labhart-Willi-Syndrom 11 Prandialinsulin 282 Prandialinsulinbedarf 239 Prä-Typ-1-Diabetes 43 Prävalenz 13, 18, 27 Proinsulin 60 Proteinbedarf 154 Proteinkinase C (PKC) 93 Proteinsynthese 74 Protokollbogen 195 Prozessqualität 397 Pubertät 124, 209 Pumpenvertrag 266
Q Qualitätssicherung 396
R
14 15 17 17 18
Remissionsphase 209 Retinopathie 91, 94
S Schilddrüsenantikörper 225 Schilddrüsensonographie 223 Schuldgefühl 454 Schule 406 Schwerbehindertengesetz 418 Serumnatrium, korrigiertes 336
Serumosmolalität 336 Somogyi-Phänomen 251 Sport 289, 301, 357, 416 Stiff-man-Syndrom 10 Stilldauer 34 Stoffwechselübungsbogen 297 Stress 87, 464 Strukturqualität 396 Sulfonylharnstoff 384 Süßstoff 169
T Tacrolimus 390 Tertiärprävention 52 TH1-Zelle 40 TH2-Zelle 40 Thalassämie 388 T-Lymphozyten 39, 46 TRIGR 35 TRIGR-Studie 52 Typ-1-Diabetes 13 Typ-2-Diabetes 18 Typ-A-Insulinresistenz 9 Tyrosinkinase 75 Tyrosinphosphatase-IA-2-Antikörper 46
U Ullrich-Turner-Syndrom 10 Umweltfaktoren 23, 31, 36 Uringlukosemessung 191 Urlaub 412
V Vasoaktives intestinales Peptid(VIP) 58 Verzögerungsinsulin 138 Virushepatitis C 388 Virusinfektion 32 Vitaminbedarf 157
Sachverzeichnis
W Weißkittel-Hypertonie 106 Wolfram-Syndrom 11, 382
Y Young-Score 111
Z Zeitumstellung 290 D-Zelle 58 E-Zelle 58 Zerebrale Krise bei Ketoazidose 331 Zirkadianrhythmus 249 Zöliakie 225 Zuckeraustauschstoff 169 Zystische Fibrose (CF) 385
485
O–Z